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Donauwörth
Deutsches Lesebuch
für
bayerische Mittelschulen
in fünf Bänden für die 1.—5. Klasse.
Herausgegeben
von den
Gymnasiallehrern Dr. A. Ipfelkofer, Dr. % SchmsuA
Dr. A. Weninger und % Flierle.
Wamberg 1898.
<£. C. Buchner Verlag
Rudolf Roch.
Deutsches Lesebuch
für
bayerische Mittelschulen.
Vierter Band.
Herausgegeben
von
Or. A. Weninger,
K. Gymnasiallehrer am Luitpoldgymuasium zu München.
Wamberg 1898.
<L. <£. Buchner Verlag
Rudolf Loch.
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Doncuwörth
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Schulbuchbibliothek
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Druck der Kgl. Universitatsdruckerei von H. Stiirtz in Wurzburg.
Inhaltsverzeichnis.
A. Prosa.
Nr. Überschrift. Verfasser. Seite Vgl. Nr.
I. Sage. Geschichte. Menschenleben.
1. Die vier alten Jahresfeste der Germanen I. H. Albers 1
2. Tue Siegfriedsage nach dem Nibelungen
liede A. C. F. Vilmar 4 54. 84.
3. Gudrun L. Uhland 15 55. 83.
4. Die olympischen Spiele .... E. Curtius 17 7. 20. 56. 88
5. Pompeji 21 57.
6. Die Germanen zur Römerzeit . . G. Freytag 24 58. 59.
7. Altdeutsche Kampfspiele .... G. Freytag 27 4. 20. 88.
8. Ein Heerding der Alamannen . . F. Dahn 29
9. Autharis Werbung um Theodelinde F. Bäßler 33
10. Karl der Große I. F. Schröder 35 11. 64.
11. Die Sage von Herzog Tassilo in Lorsch F. Bäßler 37 10. 64.
12. Heinrichs I. Bestrebungen zur Wehrhaft-
machung seines Volkes . . . O. Klopp 38 65. 66.
13. Ottos I. Wahl und Krönung . . W. v. Giesebrecht 41 67. 77.
14. Aus dem Klosterleben im 10. Jahr-
hundert G. Freytag 45
15. Friedrich Barbarossa F. v. Raumer 47 16. 73. 75.
16. Das Reichsfest in Main; (1184) . A. Richter 48 15. 20.
17. Herr Walther von der Vogelweide I. Wrchner 50 76. 77. 85.
18. Der Trifels F. Blaul 52
19. Veranlassung zu den Kreuzzügen . S. Klein 54
20. Ein Turnier im Beginne des 13. Jahr
Hunderts 59 CO 00 ö ca
21. Ritterliche Erziehung H. Masius 62
22. Die Schlacht bei Mühldorf . . . S. Riezler 64 79.
23. Eine deutsche Stadt im Mittelalter G. Freytag 68
24. Der Christ und der Muhammedaner
(Eine Erzählung) E. t>." Houwald 72
25. Das war für mich G. H. v. Schubert 80 114.
26. Der liebe Gott geht durch den Wald P. K. Rosegger 81 92.
27. Schillers Brief an seine Mutter beim
Tode des Vaters . . . . . . F. v. Schiller 88 113.
28. Eine Winternacht auf der Lokomotive M. M. v. Weber 90
29. Die erste Schlacht K. Tanera 96 122. 123.
VI
Nr. Überschrift. Verfasser. Seite Vgl. Nr.
II. llatur. Länder- und Völkerkunde.
30. Ein Sonnenaufgang G. Görres 99 95. 102.
31. Frühling 101 105. 106.
32. Letzter Herbstgang E. A. Roßmäßler 103 100. 108.
38. Der Hecht im Fischteiche H. Wagner 106
34. Eine Bienenzucht D. F. Strauß 109
35. Raupe, Puppe und Schmetterling . . K. Berthold 112
36. Von des Regenwurms ehrbarem Lebens-
Wandel 114
37. Die Mistel K. Ruß 116
38. Der Reis H. Wagner 118
39. Die Geschichte eines Torfmoors . . E. Budde 121
40. Koralleninseln R. Werner 123
41. Einfluß des Klimas auf die Menschheit O. Ule 125
42. Der Anblick von Konstantinopel . . A. F. Graf v. Schack 128 44. 47.
43. Ein Teifun in den chinesischen Gewässern R. Werner 129
44. Ausflug nach Tunis Therese, Prinzessin v. 133 42. 47.
Bayern
45. Auf dem Pik von Teneriffa.... F. v. Löher 187 112.
46. Der Nil und seine Überschwemmungen H. Masius 140
47. Die Stadt Sansibar Rust 142 42. 44.
48. Ein Tagemarsch in Ostafrika . . . K. v. Gravenreuth 145
49. Die deutsche Kolonie Kamerun . . A. Reichenow 148
50. Bei den Indianern Kanadas . . . E. v. Hesse-Wartegg 154 52. 90. 91.
51. Fahrt auf dem Marannon .... E. Pöppig 158
52. Auf Neu-Mecklenburg F. Hernsheim 160 50.
ß. Poesie.
I. Epische Dichtung.
53. *®ie Teilung der Erde F. v. Schiller 164
54. Kriem Hilde 165 2.
55. Gudruns Klage E. Geibel 165 8.
56. Griechische Spiele G. Pfizer 166 4.
57. Pompeji H. Lingg 166 5.
58. Der Römerturin M. Schlierbach 167 6.
(-Seydel)
59. Hermann und Flavus M. Greif 168 6.
60. Die wiedergesundnen Söhne . . . I. G. v. Herder 169
61. *Das Grab im Busento A. Graf v. Platen 170 62. 69.
62. Gotentreue 170 61. 69.
63. Harmosan 171 72.
64. Kaiser Karl und die Normannen . . M. Greif 171 10. 11.
65. Die Ungarnschlacht an der Ennsburg F. Beck 172 12. 66.
66. Deutsches Aufgebot (Aus einer Kantate) E. Geibel 173 12. 65.
67. Kaiser Otto I 175 18.
68. Eine alte Geschichte 176 122.
VII
Nr. Überschrift. Verfasser. Seite Vgl. Nr.
69. Kaiser Ottos 111. Leichenzug . . . L. Bauer 177 61. 62.
70. Kaiser Heinrich 11 177
71. Das Lied vom Kaisersohn und vom
getreuen Grafen F. Dahn 179 73.
72. Die Weiber von Winsperg . . . A. v. Chamisso 180 63.
73. Hartmann von Siebeneichen . . . Pocci und Görres 181 16. 71.
74. Der Schenk von Limburg .... L. Uhland 182
75. ^Friedrich Rotbart E. Geibel 183 15. 82.
76 Vogelweide I. G. Seidl 184 17. 85.
77. *Der Gras von Habsburg .... F v. Schiller 184 13. 78. 85.
78. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe . . I. Kerner 187 77.
79. Ludwig der Bayer und Friedrich der
Schöne 188 22.
80. Des Deutschritters Ave E. Geibel 188
81. Das Mahl zu Heidelberg .... G. Schwab 189
82. Zwei Berge Schwabens K. Gerok 191 15. 16. 75.
83. Normannischer Brauch L. Uhland 192 3.
84 Das Bahrrecht A. F. Graf v. Schack 197 2 (4).
85. *Der Sänger W. v. Goethe 198 17. 76. 77.
86. Der Trunk aus dem Stiesel . . . G. Pfarrius 198
87. Die Treuen M. Greif 199
88. Der Meisterschuß G. Kinkel 199 4. 7. 20.
89. Der Tod des Führers F. Freiligrath 201
90. *Der Wilde I. G. Seume 202 50. 91.
91. Die drei Indianer N. Lenau 203 50. 90.
92. Ratschluß Gottes F. Bonn 204 26.
93. Die Zeiten Pocci und Görres. 205
II. lyrische Dichtung.
94. Fang an mit Gott! F. X. Seidl 206
95. Früh morgens L. Bauer 206 30. 102.
96. Abendläuten 206 103.
97. Bei einen: Ungewitter K. Koch 207
98. Neujahrslied I. H- Voß 207
99. Ostern 208 31. 105. 106.
100. Allerseelentag L. Bauer 208 32. 108.
101 Sonntagsfrühe I. P. Hebel 209
102. Morgendämmerung M. Greif 210 30. 95.
103. Abendlandschaft M. Schlierbach 210 96.
(-Seydel)
104. Weihe der Nacht H. Zeise 210
105. Ein neuer Prophet G. Scheurlin 211 31. 99. 106.
106. Der Schwalben Heimkehr .... H. Zeise 212 31. 99. 105.
107. Sommernacht H Lingg 212
108. Boten des Herbstes M. Greif 212 32. 100.
109. Schneekampf 213
110. Der Bach P. Heyse 213
111. Wer zwecklos eine Blume pflückt . . H. Reder 213
112. Berglied 213 45.
(-Seydel)
118. Wenn Du noch eine Mutter hast . . W. Kaulisch 214 27.
114. Siehst Du ein Menschenleid . . . F. Bonn 214 25.
VIII
Nr. Überschrift Verfasser. Seite Vgl. Nr.
115. *Wanderlied I Kerner 215 116.
116 Abschied I. Frhr. v. Eichendorff 215 115.
117. Heimweh G- Ehr. Diessenbach 216
118. Bayerisches Volkslied F. Beck 216
119. * Bayrisch leben, bayrisch sterben . . F. Beck 216
120. Haus Wütelsbach L. Schandein 217
121. *Dem Vaterland R. Reinick 217
122. Kriegslied E. Geibel 218 29. 68. 123.
123. Deutsche Siege E. Geibel 218 29. 122.
124. ^Deutscher Trost E. M. Arndt 219
III. Spruchdichtung.
125ff.j Sprüche von F. Rückert, I. Schrott, F. L. Seidl u a. | 220 ff.|
Anm. Die mit * bezeichneten Numnrern werden zur Aufnahme in den Kanon
auswendig zu lernender Gedichte vorgeschlagen.
A. r o s st.
I. Zage. Geschichte. Menschenleben.
1. Die vier alten Jahresseste der Germanen.
Daß den einzelnen Göttern bestimmte Tage der Woche geheiligt waren
und sie an diesen besonders verehrt wurden, sehen wir bei Wodan, Thor
^Donars, Tyr sZiisi und Freia sFriggsi Es gab aber auch noch andere bestimmte
festliche Zeiten, in denen man sich der Verehrung der Götter insbesondere
befleißigte. Solche festliche Zeiten kehrten viermal im Jahre wieder, und ihre
Feier hing eng mit den vier Jahreszeiten zusammen.
Um die Zeit, wenn das Eis krachend auf den Strömen zerbarst; wenn milder
Regen die Erde aufweichte und sie zur Aufnahme neuer Saat und Hervorbringung
neuen Lebens empfänglich machte; wenn reinigende Gewitter anfingen, die Luft
zu erschüttern, oder der Sturmwind rauschend über die Berge dahinfuhr und die
Wolken zerspaltete; wenn dies alles geschah: dann sahen unsere Ahnen in
diesem Walten der Natur die Hand des mächtigen Thor. Sie sagten: „Thor
führt durch die Lüfte, und sein Barthaar, das im Winde flattert, erzeugt den
Sturm; sein Mantel sind die Wolken, geladen mit fruchtbarem Regen."
Sie glaubten, Thor kämpfe dann mit den gewaltigen Eisriesen, um sie aus
der Nähe der Menschen zu vertreiben, er werfe nach ihnen den Hammer Miölnir
und zerschmettere dabei die Felsen. So deutete man das Gewitter. Dann
rief Thor seine Schwester, die liebliche Göttin Ostara, die die Erdmutter
dem Odin geboren hatte, und sie brachte den schönen Frühling mit. Sie
war von ihrer Mutter über die Pflanzen und Pflänzchen gesetzt und mußte
darüber wachen, daß sie durch Morgensonne und Frühtau zum Hervorkeimen
gebracht wurden. Sie teilte sich mit ihrem Bruder in die Ehren des Früh-
lingsfestes, das nach ihr Osterfest benannt wurde. Es war ein rechtes
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Dd. IV. 1
5
10
15
20
Freudenfest, und die Berge und Höhen leuchteten wider von hellen Freuden-
25 feuern, die mit Eichen, dem Baume Thors, unterhalten wurden. Mit frischein
Erstlingsgrün geschmückte Böcke, Thors heilige Tiere, wurden nmhergeführt,
dann geschlachtet und, nachdem die Köpfe und die besten Stücke dem Gotte
geopfert waren, bei einem gemeinsamen Mahle verzehrt. Als später das
Christentum zu unsern Vorfahren kam, da ward dieses Frühlingsfest nicht
80 mehr dem heidnischen Thor gefeiert, sondern zum Andenken an die Auf-
erstehung des Heilands; den Namen Osterfest aber behielt es nach der alten
Göttin Ostara.
Wenn die zarten Keime, die die holde Frühlingsgöttin aus der Erde
hervorgelockt hatte, sich weiter entwickelten zu Blättern und Blüten, dann
35 begann die Herrschaft der Freia über die Natur. Sie war die Göttin
der Schönheit und legte nun die Schönheit in alle Blumen hinein. Sie
legte den Vögeln ihre prächtigen Lieder in die Kehle mtb hieß sie die schöne
Natur besingen. Der Gott der Dichtkunst, Braga, hatte zwar zuerst den
Vögeln die Gabe des Gesanges verliehen, aber Freia mußte jedes Jahr aufs
40 neue die Gesangeslust wecken. Unter allen Vögeln aber war die Nachtigall
der Freia am liebsten, sie mußte ihr die schönsten Lieder singen. Um die
Zeit, wenn die Rosen, die Lieblingsblnmen der Freia, voll aufgeblüht waren,
dann feierte man ihr das schöne Mittsommerfest. Neben der Freia ver-
ehrte man aber auch an diesem Feste den Tyr, und besonders bei den Sachsen,
45 die den Krieg von ihm gelernt hatten und ihn Saxnöt nannten, gestaltete
sich das Somnierfest zu einem rechten Kriegsfeste. Als die alten Deutschen
mit dem Christentum bekannt geworden waren, setzten sie an die Stelle des
Tyr Johannes den Täufer, den Vorläufer Christi, dessen Geburtstag
man in der christlichen Kirche an diesem Tage feierte, und nannten das Fest
50 Johannisfest. Diesem Johannes zu Ehren haben die Christen das Fest
lange gefeiert; später aber ist es abgeschafft worden, und heute heißt nur
noch ein Tag nach ihm. Dies ist der St. Johannistag, der am 24. Juni,
einige Tage nach Sommeranfang, gefeiert wird.
Das wichtigste und schönste aller Feste aber war das Her bst fest. Es
55 war zugleich Erntefest und wurde dem Allbeherrscher Odin oder Wodan zu
Ehren gefeiert, weshalb es in Deutschland auch Wodansfest hieß. Als Dank-
opfer für die glücklich heimgebrachte Ernte wurden dem Gotte ausgewählte
Pferde, Stiere und auch wohl Gänse dargebracht und die Köpfe in seinem
Haine befestigt; das übrige aber diente zur Ernte- und Opfermahlzeit. Aus
60 dem Blute, das in einer Rinne von dein Opferstein hinunterlief, weissagten die
Priester und Priesterinnen — welche letztere weise Frauen oder Alraunen ge-
nannt wurden — das Schicksal des künftigen Jahres. Solche Opfersteine, die
auch bloß Steintische genannt werden, kommen noch heute vielfach vor;
doch weiß man nicht genau, ob diese Steine Denkmäler, Grabstätten oder
65 bloße Opferblöcke sind. Ans den Feldern, die man abgeerntet hatte, ließ
man einige Früchte zurück und schenkte sie Wodan; denn man glaubte, er
brauche sie für sein Pferd. Auch an dem Herbstfeste zündete man überall
Freudenfeuer an; in dieselben warf man dann die besten Garben und sagte
dabei Gebete und weise Sprüche her. Das höchste Won allen Opfern
war das Menschenopfer. Es wurde nur ganz selten und dann nur dem 70
höchsten Gotte Wodan dargebracht. Man nahm dazu meistens Kriegs-
gefangene, aber auch Sklaven und Verbrecher. Solche Opfer wurden ganz
besonders beim Beginn eines Krieges dargebracht, und die weisen Frauen
weissagten aus dem Blute, ob der Krieg ein glücklicher werden würde. Auch
am Herbstfeste wurden zuweilen Menschenopfer dargebracht, wenn nämlich die 75
Ernte schlecht geraten war und infolge dessen Mangel und Not bevorstand.
Man glaubte dann, Wodan durch Menschenopfer zu versöhnen, damit er Not
und Elend abwende.
Wenn die Sonne gegen Ende des Jahres immer tiefer sank und in den
nördlichen Gegenden ganz zu verschwinden drohte, dann betete man um baldige 80
Rückkehr derselben, damit sie die Erde neu belebe durch ihr Licht und ihre
Wärme. Der Gott des Lichtes und der Wärme war aber Freyr, der Bruder
der Freia. Obgleich der böse Loki der eigentliche Feuergott war, so hatte Allvater
doch auch dem Freyr soviel Gewalt über das Feuer gegeben, daß er der Sonne,
die man als einen Feuersunken aus Muspelheim sdem Reiche des Lichtess ansah, 85
im Herbst und Winter immer neues Feuer zuführen konnte, damit ihr Licht
und ihre Wärme erhalten blieben. War nun endlich nach langem Harren
der kürzeste Tag gekommen, und hatte Freyr die Sonne bewogen, ihr
Licht und ihre Wärme zu vermehren, dann jubelte alles aus, und dem
Lichtgotte ward das große Winterfest gefeiert. Schon lange vor dem kür-90
zesten Tage beschäftigte man sich mit den Vorbereitungen zu dem Feste. Das
Opfertier war der schönste weiße Eber, den man finden konnte. Er ward
schon lange vorher gemästet und dann in der längsten Nacht geschlachtet und ver-
speist. Das Feuer, an dem er gebraten ward, mußte auf ganz eigentümliche
Weise angemacht werden. Am Nachmittage des kürzesten Tages mußten in 95
allen Wohnungen des Dorfes die Feuer gelöscht werden. Die Gemeinde zog
dann auf einen freien Platz, wo ein starker Eichenpfahl in die Erde getrieben
wurde. Auf diesen befestigte man ein großes, neues Rad mit neun Speichen,
die mit Stroh umwickelt waren. Nun wurde unter Gesang das Rad rasch
von Osten nach Westen auf dem Pfahle gedreht, bis es durch die Reibung in 100
Brand geriet. An dem brennenden Rade steckten dann die Teilnehmer am
Feste ihre mitgebrachten Fackeln in Brand, trugen das Feuer in ihre Häuser
und zündeten damit auf dem Herde ein neues Feuer an, das nun das ganze
Jahr hindurch brannte, am Tage in hellen Flammen, auf denen Speisen zu-
bereitet wurden, und des Nachts als glimmende Kohle unter der Asche. Die erste 105
Mahlzeit, die an dem neu gewonnenen Herdfeuer zubereitet wurde, war das
von dem Eber des Freyr gewonnene Opfermahl. Um das brennende Rad aber
häufte man Holz und Stroh, daß es zu einem hohen Freudenfeuer wurde.
Dieses Festseuer nannte man Rad- oder Julfeuer; denn in der nordischen
Sprache hieß das Rad Jul. Das ganze Fest hieß darum auch das Julfest. 110
Die Freude am Winterfeste war groß; denn jetzt ging man dem Frühling, der
schönsten Zeit des Jahres, entgegen. '.Als daher die christlichen Priester unsern
heidnischen Voreltern die frohe Botschaft von dem erschienenen Heilande brachten
und zur Erinnerung an dessen Geburt unser schönes Weihnachtsfest einführten,
115 das auf die Zeit des alten heidnischen Winterfestes fiel, da feierte man beide
zusammen. Jetzt hatte ja die Finsternis des Heidentums aufgehört, und das
Licht des Evangeliums war aufgegangen.
Noch manche Sitten und Gebräuche sind von diesen Festen unserer Vorfahren
übrig geblieben. Am Vorabend des 1. Mai oder am Johannisabend zünden die
120 jungen Leute eines Ortes noch heute auf Höhen lustige Feuer an und tanzen
um sie herum oder springen über dieselben. Das sind noch Erinnerungen an
die alten heidnischen Götterfeuer. Am Pfingstfeste schmückt man das Haus
mit dem ersten Maiengrün, mit Birkenreis. Die Birke, der Maienbaum, Mar-
der Baum der Frühlingsgöttin, und zu ihrer Ehre pflanzten unsere Vor-
125 fahren sie einst vor und in ihren Häusern auf, um ihre Freude auszudrücken,
daß der harte Winter jetzt vertrieben sei. Das heilige Tier der Ostara war
der Hase, und ihr Lieblingsopfer waren Eier. Am Osterfeste werden noch
heute buntbenialte Eier in Gras und Busch versteckt, und die Kinder suchen
sie. Es heißt, der Osterhase hat sie gelegt, und die Eier selbst heißen Oster-
1B0 eier oder im Elsaß Ostergackle. Auch die Oslerfladen, die man in einigen
Gegenden um Ostern ißt, sollen noch an den Opferkuchen der Göttin erinnern.
Das Herbstfest ist jetzt zum Erntefest geworden, und der Herbstschmaus, den
der Bauer seinem Gesinde gibt, in vielen Gegenden auch die Martinsgans,
erinnert noch an den Opferschmaus, den man einst zu Ehren Wodans um
135 diese Zeit genoß. Sogar der Weihnachtsbaum, den wir in der Christnacht
anzünden, stammt eigentlich von dem alten heidnischen Winterfeste her. Mitten
im Schnee des Winters bewahrte der Tannenbaum allein die grüne Farbe
des Sommers und zeigte dadurch, daß das Leben in der Natur nur schlief,
aber nicht erloschen war. Als ein Zeichen dieses schlummernden Lebens
140 stellte man den Tannenbaum in den Häusern auf, erleuchtete ihn durch Lichter
und umtanzte ihn zur Ehre Freyrs. Der Weihnachtsbaum mit seinen
strahlenden Lichtern hat sich bis heute erhalten, aber sein Glanz strahlt nicht
mehr zur Ehre einer heidnischen Gottheit, sondern zur Ehre des himmlischen
Vaters, der seinen Sohn in die Welt gesandt hat, um die Menschheit von
145 der Finsternis des Heidentums zu erlösen.
I. H. Albers. Lebensbilder aus der deutschen Götter- und Heldensage. 2. Aufl. S. 54 ff. ,
Anm. Z. 2/3: Dem Wodan war der 4. Tag der Woche heilig und hieß daher Odius-
oder Wodanstag (Mittwoch); dem Tyr, auch Zio oder Ziu (bayerisch Er), war der 3. Tag
geweiht, der Ziustag, woraus unser Dienstag geworden; nach Donar (Thor), dem Gotte
des Donners, führt noch heute der Donnerstag seinen Namen, wie der Freitag nach Odins-
Gemahlin Freia oder Frigg benannt ist.
2. Die Siegfriedsage nach dem Nibelungenliede.
1. Kriemhild und Siegfried.
Im Burgundenlande auf der alten Königsburg zu Worms an dem Rheine
wächst eine edle Königstochter nach des Vaters frühem Tode zur blühenden
Jungfrau heran, voll Liebreiz und Anmut. Leise, ahnungsreiche Träume
umschweben das sinnende Haupt der lieblichen Kriemhild in der stillen Ab»
geschiedenheit, in welcher sie, der edeln Zucht und Sitte ihrer Zeit gemäß, 5
ihre Kindheit und erste Jugend verlebt. Einen Falken, so zeigt ihr ein
Tranmgesicht, zieht sie auf und pflegt ihn als ihren Schützling manchen Tag
— da stürzen zwei Adler herab und erdrücken mit ihren Klauen das zarte
Tier vor ihren Augen. Schmerzlich bewegt erzählt die Erwachende den
Traum der lieben Mutter. „Der Falke," deutet diese das stille, süße und 10
bange Ahnen der Tochter, „der Falke ist ein edler Mann, dem deine
Zukunft bestimmt ist; wolle Gott ihn behüten, daß du nicht früh ihn ver-
lierst!"
Heiter in fröhlicher Jugend, stark in frischem Mannesmute und gewaltig
in kühner Kraft ist inzwischen Siegfried im Niederlande zu Santen am Rheine, 15
Siegmunds und Siegelindens Sohn, schon als Knabe zum Helden herange-
wachsen und schon durch manche Lande hingezogen, um freudig seines riesigen
Leibes wunderbare Stärke zu versuchen. Da hört er die Kunde von der
schönen Jungfrau zu Worms am Oberrhein, und der schönste und frischeste,
der freudigste und herrlichste der Heldenjünglinge seiner Zeit zieht aus der 20
Heimat mit seinen Mannen, um zu Worms zu werben um die schönste, an-
mutigste und züchtigste Jungfrau, die in allen Landen zu finden ist. Vor der
Königsburg zu Worms reiten die Fremden auf, Riesen gleich in männlicher Jugend-
kraft, in nie gesehenem, herrlichem Schmucke der Rüstungen und der Rosse.
Niemand kennt die vor dem Königssaal am Rheinufer haltenden Mannen, niemand 25
ihren Führer, den Jüngling von königlicher Gestalt. Da wird nach Hagen von
Tronei gesandt, dem alle fremden Lande kund sind; aber auch er hat diese
Helden noch niemals gesehen. „Fürsten oder Fürstenboten müssen es sein," sagt
er; „von wannen sie immer kommen, es sind hochgemute Helden." Bald aber
fügt er hinzu: „Ich habe zwar noch niemals Siegfried gesehen, aber ich muß 30
glauben, daß nur er es sein könne, der dort so herrlich einhergeht; es ist
Siegfried, der das Geschlecht der Nibelungen besiegte, der den unermeßlichen
Schatz an edelm Gesteine und rotem Golde dem finstern Geschlechte Schilbungs
und Nibelungs abgewann und Land und Leute der Besiegten in Besitz nahm,
der dem Zwerg Alberich die unsichtbar machende Tarnkappe im heißen Kampfe 35
entriß, derselbe Siegfried, der auch einen Linddrachen schlug und in dem
Blute sich badete, daß seine Haut wie Horn unverwundbar wurde. Solchen
Helden sollen wir freundlich empsahen, daß wir nicht des schnellen Recken
Haß auf uns laden mögen."
Siegfried wird herrlich empfangen, köstlich bewirtet; fröhliche Kampf- 40
spiele werden auf dem Hofe des Königspalastes gehalten. Kriemhild schauet
verstohlen durch das Fenster, und im Anschauen des starken Heldenjüng-
lings vergißt sie alle Kurzweile, alle Spiele mit den Gefährtinnen, alle
sinnigen Beschäftigungen der stillen Jungfraueneinsamkeit. Aber ein ganzes
Jahr weilt Siegfried am Hofe der Burgundenkönige, ehe er die, um 45
die er wirbt, nur einmal zu sehen bekommt. Er zieht aus als Kampfgenosse,
gleichsam als dienender Mann des Königs, mit dem Heere und den
Helden der Burgunden zu manchem Streite, zieht hin den weiten Weg vom
Rhein durch Hessenland tief hinein in die Sachsengaue, deren König Lintger
6
-
50 mit König Liutgast von Dänemark den Burgunden Krieg angekündigt hatte.
Im mörderischen Kampfe ist Siegfried der gewaltigste und siegreichste der
Helden; er besiegt und nimmt gefangen den Dänenkönig Liutgast, und vor
des Helden Übermacht ergibt sich Liutger mit seinen Sachsen.
Die Boten kommen vom Heere nach dem Rhein, den fröhlichen Sieg zu
55 verkünden, und einen derselben läßt man auch vor Kriemhild erscheinen, wissend
oder ahnend, daß auch ihr Herz nicht daheim zu Worms, daß es im Sachsenkriege
sei. „Nun sage mir liebe Botschaft!" sagt Kriemhild. „Ich gebe dir all mein
Gold und will dir, sagst du wahre Kunde, lebenslang hold sein." — „Niemand ist
herrlicher zu Ernst und Streit geritten, edle Königin, als der Gast aus
60 Niederland; den höchsten Streit, den ersten und den letzten, den hat die Sieg-
friedshand bestanden. Die Geiseln, die ihr werdet kommen sehen aus Sachsen
an den Rhein, die hat seine Heldenkraft bezwungen und hieher gesandt."
Zehn Mark Goldes und reiche Kleider heißt die Königsjungfrau dem will-
kommenen Boten geben für die Botschaft, die allen lieb, niemand aber
65 lieber war als der still erglühenden Jungfrau. Seitdem steht sie schweigsam
am engen Fenster des Königsbaues, hinausschauend auf den Heerweg, von
dannen die Sieger heimkehren sollten an den Rhein. Endlich erscheint das
siegesfrohe Ritterheer, und die Jungfrau sieht das fröhliche Getümmel vor
den Pforten der Burg, auf dem weiten Plan am Rheine, und unter den
70 vielen Helden ihn, den Helden aller Helden, geehrt, bewundert wie keinen.
Aber noch immer können seine Augen die Ersehnte nicht erspähen; züchtig und
still hält sie sich wie bisher in ihrer engen Kemnate sFrauengemachj.
Da wird endlich ein großes, heiteres Ritterspiel gehalten, und an dem fröh-
lichen Pfingstfeste ziehen von nah und fern die Höchsten und Besten, unter ihnen
75 allein zweiunddreißig Fürsten, zum Hofe der Burgundenkönige. Jetzt darf end-
lich auch an der Seite ihrer Mutter Ute im Geleite von hundert schwert-
tragenden Kämmerern und hundert geschmückten Edelfrauen und Fräulein
Kriemhild zum erstenmal öffentlich erscheinen, und sie geht auf wie das Morgen-
rot aus trüben Wolken, in mildem Schimmer der Jugend, der Schönheit
86 und der stillen Liebe, wie der Mond in mildem Schimmer neben den Sternen
durch die Wolken leuchtet. Da heißt nach höfischer Sitte Günther auf Gernots
Antrieb Siegfried herantreten, daß er ihre Schwester begrüße. Und der
Held tritt heran und neigt sich minniglich vor der Jungfrau Noch aber
wird kein Wort gewechselt, bis nach der Messe, mit der das Fest begann,
85 die Jungfrau dem Helden Dank sagt für seinen tapfern Beistand, den er
ihren Brüdern geleistet. „Das ist Euch zu Dienste geschehen, Frau Kriem-
hild", antwortet Siegfried. Und nun bleibt dieser zwölf Tage, die Dauer
des Ritterfestes über, in der Nähe des minniglichen Mägdleins. Dann
ziehen die fremden Gäste von dannen, auch Siegfried rüstet sich zur Heim-
90 fahrt; „denn er getraute sich nicht zu erwerben, wozu er hatte Mut (. h.
was er wünschte)." Doch leicht läßt er sich durch die Zureden des jungen
Giselher bestimmen, noch länger da zu verweilen, wo er am liebsten war,
und wo er täglich die schöne Kriemhild sah.
i
2. Brunhild.
Nun aber war eine Königin gesessen jenseit der See, herrlich in
wunderbarer Schönheit, aber auch herrlich in wunderbarer, fast unheim-95
licher Kraft. Mit Männern, die ihre Minne begehrten, warf sie die
Lanzen, schleuderte sie den Wurfstein und sprang dem geworfenen Steine
nach in kühnem Sprunge. Nur dem, der ohne Wanken in jedem dieser
drei Spiele sie besiegte, wollte sie sich ergeben; wer unterlag, verlor das
Haupt. Schon mancher Held war umsonst gefahren nach der Minne der 100
starken Kampfjungsrau Brunhild, um niemals wiederzukehren. Da be-
schließt der König Günther von Burgundenland, das Leben um ihre Minne
zu wagen, und fordert Siegfried auf, ihm bei der Werbung zu helfen.
Siegfried sagt es zu, wenn Günther ihm seine Schwester Kriemhild zum
Weibe geben wolle; Günther gelobt, dies zu thun, sobald Brunhild in sein 105
Land werde gekommen sein. Mit einem Eide wird dieser Bund bekräftigt
und das Schiff zur Abfahrt gerüstet; goldfarbene Schilde und reiche Gewände
werden an das Gestade getragen, und aus den Fenstern schauen die trüben
Augen minniglicher Kinder den Helden nach, die unter dem schwellenden
Segel am Ruder des Rheinschiffes sitzen; denn Siegfried, der kundige See- no
fahrer, führt selbst das Steuerruder, und Günther ergreift gleichfalls die
Ruderstange.
Nach zwölftügiger Fahrt kommen sie an vor dem Jsenstein, wo Brun-
hild herrscht. In fremder, unheimlicher Pracht ragen sechsnndachtzig Türme
an dem Seegestade empor, drei weite Paläste (Wohnhäuser) und einen großen 115
Herrensaal umschließend, alle von grünem Marmorstein erbaut. Nur Sieg-
fried allein ist dieses ferne Land, ist diese wunderbare Burg, ist die stolze
Bewohnerin und Herrin selbst bekannt. Und auch die hehre Maid kennt den
Helden, der sich ihr nahet, wohl, nur zu wohl. „Seid willkommen!" sagt sie,
ohne erst zu fragen, wer er sei; „seid willkommen, Herr Siegfried, hier in 120
meinem Lande! Was bedeutet Eure Reise? Das möcht'ich gern wissen." — „Da
steht," entgegnet Siegfried der Fragenden, „Günther, ein König bei dem
Rheine, der deine Minne zu erwerben begehrt; er ist mein Herr, ich sein
Mann; um deinetwillen kommen wir." Jetzt beginnen die Kampfspiele;
Günther aber, unfähig, gegen die dämonischen Kräfte der starken Jung-125
srau sich zu behaupten, wird von Siegfried vertreten. Dieser hüllt sich in
seine Tarnhant (den unsichtbar machenden Überwurf), um unsichtbar für
Günther die Kämpfe zu bestehen; Günther soll nur Scheinkämpfer sein. Der
Königin Brunhild trägt man ihren ungefügen Ger, mit dem sie zu allen
Zeiten zu schießen pflegte, mit schwerer Stange und breitem Eisen, das an 130
seinen drei Ecken grimmig schneidet, herbei, herbei auch in den Kampfkreis
einen ungeheuern, runden Wurfstein, an dem zwölf Helden zu tragen haben.
Sie windet die Ärmel auf an den weißen Armen, faßt den Schild, zuckt den
Ger aufwärts — da beginnt der Streit.
Günther, dem Siegfried gleich wie den andern unsichtbar ist, bebt vor i35
der schrecklichen und doch begehrten Gegnerin; da nahet ihm Siegfried, läßt
sich den Schild von Günther geben und heißt ihn nur die Gebärde des
8
Kampfes machen. Und wie freut sich Günther, als er Siegfrieds helfende
Nähe bemerkt! Jetzt schleudert die Walküre den Speer, und die Funken
140 fliegen wie vom Winde gewehte Flammen von dem Schilde des Gegners, in
welchen der Speer einschlägt; Siegfried wankt, aber bald steht er wieder fest
und schleudert mit noch wilderer Kraft den Speer nach der Jungfrau. Sie
fängt ihn mit dem Schilde, aber sie fällt. „Habe Dank für den Schuß!"
ruft die Gewaltige, sofort wieder aufspringend, „habe Dank, edler-
es Ritter Günther!" Und zornig, besiegt zu sein, eilt sie nach dem Steine,
ergreift ihn, schwingt ihn mit gewaltigem Arme, schleudert ihn weit hin und
springt dem geworfenen mit fliegendem Kriegssprunge nach und über ihn
hinaus, daß laut ihr Eisengewand erklingt. Aber der kühne, kräftige Sieg-
fried, langen und schnellen Leibes, faßt augenblicklich den Stein, schwingt
150 ihn und wirft ihn weit über die Kämpferin hinweg, und im Wurfe springt
er, den König noch dazu unter dem Arme tragend, mit übermenschlichen
Kräften den ungeheuern Sprung, weiter noch, als die Walküre gesprungen war.
Und diese wendet sich augenblicklich zu ihrem Heergefolge: „Magen und
Mannen, kommt heran, ihr sollt König Günther alle werden Unterthan!"
155 Es wird zur Heimfahrt gerüstet, und nachdem Siegfried erst noch sein
Nibelungenreich besucht, Mannen von dort aufgeboten und reiche Schätze
mitgenommen, fahren die Helden, Siegfried als Verkünder des gewonnenen
Sieges und der heinikommenden Königin des Landes voran, über die See
und rheinaufwärts nach Morins zurück. Das Ziel ist erreicht: wie Brunhild
160 mit Günther, so wird Kriemhild mit Siegfried verlobt; in des Helden Arme
wird gelegt das minnigliche Kind, und im Angesichte der Könige und der
zahlreichen Gefolgsherrn gibt und empfängt die Braut den ersten, den Ver-
lobungsknß.
Aber den Glücklichen gegenüber sitzt finstern Antlitzes das andere Paar,
165 Günther und Brunhild; Thränen fallen über die lichten Wangen der schönen,
hohen Brunhild. Erstaunt und besorgt, weil schlagenden Gewissens, fragt
Günther nach der Ursache der Thränen, und Brunhild gibt zur Antwort:
„Um Kriemhild, deine Schwester, weine ich, daß du sie nicht einem Könige,
sondern einem deiner Mannen gegeben und durch die Heirat mit einem Eigen-
170holden sVasallenj erniedrigt hast." — „Seid still, schöne Frau!" entgegnet
Günther. „Das will ich Euch zn anderer Zeit erzählen, warum ich Siegfried
meine Schwester gegeben habe; sie wird mit diesem Helden ein fröhliches
Leben führen."
3. Zwist der Frauen.
Der erste Schritt zur Erfüllung des bangen Traumes der schönen
175 Kriemhild, mit dem das Gedicht begann, ist geschehen: Brunhilds Eifer-
sucht ist erweckt. Noch aber schlummert das aus der Tiefe heraufbeschworene
Unheil.
Fröhlich zieht Siegfried mit der jungen Gemahlin in die Heimat zu
Siegmund und Siegelinde, dem lieben Elternpaar. Siegmund tritt dem
180 Sohne Krone und Reich, Gericht, Land und Leute ab, und zehn Jahre ge-
nießen die Glücklichen ihres Glückes in tiefem Frieden und seliger Ruhe,
9
Siegfried, der über das Niederland wie über das entferntere nordische Reich
der Nibelungen und über unermeßliche Schütze gebot, der reichste und mächtigste
der Könige, Kriemhild, die schönste, die glücklichste der Königinnen.
Allein in dem Herzen der starken Brunhild ist die brennende Glut auch 185
im Laufe der zehn Jahre nicht erloschen. „Wie?" fragt sie oft ihren Ge-
mahl, „wie? Darf Kriemhild so stolz gegen uns sich halten, daß sie in der
langen Reihe von Jahren auch nicht einmal zu unserm Hofe kommt? Ist
nicht Siegfried unser Gefolgsmann? Und zehn Jahre lang hat er uns keine
Dienste geleistet!" Begütigend erwidert Günther, wohl wissend, daß Sieg-190
frieds Anherkunft nur ihm selbst, dem Gedemütigten, zur Vollendung seiner
Demütigung, zur Offenbarung seiner Schmach gereichen werde: „Wie ver-
möchten wir sie hieher zu bringen in dieses Land? Sie wohnen uns zu
ferne; um diese weite Fahrt getraue ich mir nicht sie anzusprechen." Aber
Brunhild weiß die Saiten anzuschlagen, die in Günthers hochmütigem und 195
doch, wie das immer verbunden ist, zugleich schwachem Herzen widerklingen:
„Wenn auch eines Königs Mann noch so hehr und reich ist und in noch
so fernen Landen sitzt, was sein König und Herr ihm gebietet, das wird er
thun. Und wie gern sähe ich deine Schwester Kriemhild, mich ihrer sittigen
Zucht, ihrer süßen Anmut, ihrer holden Traulichkeit wie ehedem zu erfreuen, 200
als ich deine, sie Siegfrieds Gattin wurde!" Günther gibt nach und sendet
Boten an Siegfried, die ihn auf der Nibelungenburg im Lande zu Norwegen
treffen. Sie laden ihn zu einem fröhlichen, großen Feste, das am Sonnwend-
tage in der alten germanischen Festzeit am Hofe der Burgunden zu Worms
soll gefeiert werden. Siegfried geht zu Rate mit seinen Getreuen, diese sowie 205
der alte Vater König Siegmund stimmen dafür, die Einladung anzunehmen,
und mit großem Heergefolge von eintausend Edlen ziehen Siegfried und
Kriemhild in Begleitung des alten Siegmund (denn die Mutter Sieglinde ist
inzwischen gestorben) arglos und unbefangen, in der sichern Heiterkeit der
Unschuld nach Worms an dem Rheine. Reiche Gaben, rotes Gold und 210
strahlende Kleinodien werden mitgesührt, um die Milde, die Freigebigkeit
eines reichen Königs an dem Hofe der Burgunden zu bethätigen. Nur das
Kind wird zurückgelassen,' Siegfrieds und Kriemhilds Sohn; es sollte seinen
Barer und seine Mutter nimmer wiedersehen.
Glänzender Empfang wartet der Gäste zu Worms; mit ihnen strömen 215
zum Ritterspiel Tausende von Rittern von allen weiten Wegen ein in die
Thore der Königsstadt, in prächtigen Reitgewändern reiten die Könige mit
ihrem Gefolge durch die Gassen, und herrlich geschmückt sitzen edle Frauen
und schöne Mägdlein in den Fenstern. Posaunen-, Trumben- und Flötenhall
erfüllt die weite Rheinstadt, daß sie laut davon erhallet; aber in die lauten, 220
siißen Töne der Festfreude fällt mit schneidendem Gegensatze der gellende Ton
des eifersüchtigen Hasses, die heisern Stimmen des Zankes übertönen den
süßen Flötenklang und kündigen den Mordschrei an, der bald die Säle der
Burg und die Gassen der Stadt, der bald alle Lande erfüllen und noch nach
tausend Jahren in den Herzen der spätern Geschlechter erschütternd wider-225
hallen sollte.
10
H
Die beiden Königinnen, Kriemhild und Brunhild, sitzen zusammen wie
einst in den schönen Tagen vor zehn Jahren und denken dieser Tage,
Kriemhild in voller Befriedigung, im reichsten Genusse des damals nur ge-
230 hofften Glückes. „Ich habe einen Mann, der es verdiente, daß alle diese
Königreiche sein wären!" so wallt ihr treues, liebendes, argloses Herz über.
Das war der Funke, welcher einschlug. „Wie wäre das möglich?" entgegnet
finster Brunhild; „diese Reiche gehören Günther und werden ihm Unterthan
bleiben." Kriemhild, gleichsam versunken in das liebende Wohlgefallen an
235 dem herrlichen Gatten, überhört die Worte des aufsteigenden Grolls und fährt
noch unbefangener wo möglich als vorher fort: „Siehst du wohl, wie er
dort steht, wie er so herrlich vor den Helden hergeht wie der Mond vor den
Sternen? Darum ist mein Gemüt so fröhlich." Brunhild entgegnet, Günther
gebühre der Vorrang vor allen Königen, und Kriemhild antwortet, Siegfried
240 komme ihrem Bruder Günther doch wohl gleich. Da bricht endlich Brunhild
zornig aus: „Als dein Bruder mich zum Weibe gewann, hat Siegfried
selbst gesagt, daß er Günthers Dienstmann sei, und dafür halte ich ihn seit-
dem." Freundlich bittet Kriemhild, diese Rede zu lassen; ihre Brüder hätten
sie keinem Dienstmanne verlobt. „Ich lasse die Rede nicht," entgegnet Brunhild
245 trotzig.. „Dein Mann ist und bleibt uns Unterthan." Da bricht auch Kriem-
hilds gerechter Zorn aus: „Und Siegfried ist doch noch edler als Günther,
mein Bruder, und es wundert mich nur, daß er so lange Jahre euch weder
Zins uod) Dienst geleistet hat." — „Das werden wir sehen," antwortet Brunhild,
„ob man dich so ehren wird wie mich." — „Ja, wir werden es sehen," ruft
250Kriemhild, „ob ich nicht bei dem heutigen Kirchgänge den Vortritt vor dir
haben werde."
Die Königinnen gehen zur Kirche, nicht in freundlicher Gesellschaft wie
bisher, vielmehr jede abgesondert mit ihrem Gefolge edler Frauen. Brunhild
steht vor dem Münster und wartet auf Kriemhild. Als diese anlangt, gebietet
255 ihr Brunhild laut vor dem Volke, still zu stehen, und spricht: „Eine Eigen-
magd soll nicht vor der Königin hergehen." Da flammt zum erstenmal der
bittere Zorn des bis dahin arglosen, liebenden Weibes auf: „Du hättest sollen
stillschweigen; du bist von Siegfried geminnet und schmählich verlassen, auch
hat er dich bezwungen und gewonnen und nicht Günther, du selbst also hast
260 dich einem Eigenmann ergeben." Doch begütigend und das kaum ausgesprochene
schlimme Wort bereuend, setzt sie alsbald hinzu: „Du bist selbst schuld, daß
wir in diesen Streit geraten sind; mir ist es immer leid, glaube mir das auf
meine Treue! Zu treuer Herzensfrenndschaft bin ich immer wieder bereit."
Aber das Wort ist zu arg, Brunhild ist öffentlich bis auf den Tod beleidigt
265 — Siegfrieds Tod ist beschlossen. Der Arglose sieht den Streit nicht an
als den Anfang des bittern Kampfes auf Tod und Leben, dem er selbst unter-
liegen soll; eitler Ehre als ein rechter Held nicht begehrend, hat er sich nie
gerühmt der Thaten, die er vollbracht, am wenigsten des, was ihm gegen ein
Weib gelungen; eine gleiche Zurückhaltung und Mäßigung will er auch von
27Oden Frauen beobachtet wissen. „Sie haben sich vergessen," meint er, „und
daß mein Weib das deinige, Günther, betrübt hat, das ist mir ohne Maßen
11
leid; wir wollen von dem, was geschehen ist, schweigen; unsere Frauen sollen
schweigen wie wir!"
Aber Brunhild schweigt nicht, kann nicht schweigen. Jammernd in ohn-
mächtiger Wut sitzt sie einsam im Gemache; da findet sie Hagen und erfährt 275
von ihr noch genauer, wie schwer sie gekränkt sei. Seine Herrin und Königin
weint, gekränkt, bis in den Tod beleidigt von einem Manne — der Mann
muß sterben. Die Brüder der Beleidigerin, die drei Könige, und Ortwin
von Metz werden zur Beratung hinzugezogen, und nur der jüngste, Giselher,
hält die Sache als einen Frauenstreit für zu gering, als daß ein Held wie 280
Siegfried darum das Leben verlieren sollte; die übrigen, selbst der im Anfang
schwankende Günther, in welchem die Dankbarkeit gegen Siegfried doch noch
nicht ganz erloschen ist, stimmen auf Siegfrieds Tod. Es soll ein falsches
Kriegsgerücht verbreitet, das Heer aufgeboten und — da man voraussetzt,
daß Siegfried sich dieser Heerfahrt nicht entziehen werde — der Held auf diesem 285
Kriegszuge erschlagen werden. So wird die Mannentreue zur Untreue, aus
der edelsten Wurzel des deutschen Lebens schießt das giftigste Gewächs, der
Meuchelmord, hervor.
4. Siegfrieds Tod.
Die Heerfahrt ist in vollem Gange, Siegfried rüstet sich. Da begibt
sich der untreue, grimmige Hagen zu Kriemhild, um der Sitte gemäß von 290
ihr Abschied zu nehmen. Kriemhild hat den Streit schon halb vergessen; daß
sie den vor sich sehe, der sich als ewigen Feind ihres Gatten bekannt und
ihm den Tod geschworen hat, davon kommt auch nicht die leiseste Ahnung in
ihr noch immer argloses Herz. „Hagen, du bist mein Verwandter, ich die
deinige. Wem soll ich in dem Kriege, der bevorsteht, das Leben meines Sieg-295
fried besser anvertrauen als dir! Schützemir meinen lieben Mann, ich befehle
dir ihn auf deine Treue. Zwar ist er unverwundbar; aber als er sich im
Blute des Drachen badete, fiel ihm zwischen die Schulterblätter ein breites
Lindenblatt, so daß diese Stelle vom Blute des Drachen nicht getränkt wurde,
mithin verwundbar blieb. Kommen nun in dichten Flügen die Kriegsspeere 300
auf ihn angeflogen, so könnte doch einer diese Stelle treffen; darum decke du
ihn dann, Hagen, schütze ihn!"—„Wohl!" sagt der Tückische; „um das besser
zu können, nähet mir, königliche Frau, ein Zeichen auf diese Stelle seines
Gewandes, damit ich genau wisse, wie ich ihn zu schützen habe." Und die Arg-
lose, in zärtlicher Liebe für den Gatten Verlorene, nähet mit eigener Hand 305
aus feiner Seide ein Kreuz auf das Gewand ihres Gatten — sie nähet selbst
sein blutiges Todeszeichen. Tags darauf beginnt der Kriegszug, und Hagen
reitet nahe heran an Siegfried, um zu sehen, ob die Gattin in ihrer blinden,
grenzenlosen Liebe arglos genug gewesen sei, das Zeichen einzusetzen. Sieg-
sried trägt es wirklich, und nun ist die Heerfahrt nicht weiter nötig; Hagen 310
hat aus den Händen der Gattin das, was er will, mehr als er erwarten konnte.
Die Gefolgsmannschaft wird statt in den Krieg zu einer großen Jagd entboten.
Noch einmal sieht Siegfried seine treue Gattin, sie ihn — zum letztenmal.
Bange Ahnungen, schwere Träume beängstigen ihre Seele wie damals, als sie
zuerst in ihrer kaum zur Jungfrauenblüte emporgekeimten Kindheit von dem 315
Falken und dem Adler träumte. Jetzt hat sie zwei Berge auf Siegfried fallen
und ihn unter den stürzenden Bergestrümmern verschwinden sehen. Siegfried
tröstet sie: niemand trage Haß gegen ihn und könne Haß gegen ihn tragen;
allen habe er Gutes erwiesen, in kurzen Tagen komme er wieder. Was
320 sie fürchtet, wen sie fürchtet, weiß sie nicht — Hagen glaubt sie gewonnen zu
haben, den einzigen, vor dem ihr vielleicht bangt — aber sie scheidet mit dem
Worte: „Daß du von mir scheiden willst, das thut mir inniglich weh."
Die Jagd ist vollendet, die Helden und vorab Siegfried, der das meiste Wild
erlegt, sind von dem Rennen in der Sommerhitze müde und durstig; doch weder
325 Wein ist mehr vorhanden, noch der Rheinstrom in der Nähe, um aus ihm die er-
sehnte kühle Labung zu schöpfen. Aber Hagen weiß nahe im Walde einen Brunnen;
dahin, rät er, könne man ziehen. Man bricht auf, und schon hat man die
breite Linde im Gesicht, unter deren Wurzeln der kühle Quell entspringt, da
beginnt Hagen: „Man hat viel davon gesagt, daß dem schnellen Siegfried,
33O der Kriemhild Mann, niemand folgen könne im eiligen Laufe; wolle er uns
das doch sehen lassen!" — „Laßt uns," entgegnet Siegfried, „zur Wette laufen
nach dem Brunnen! Ich werde mein Jagdgewand, auch Schwert, Ger und Schild
behalten, legt ihr die Kleider ab!" — Es geschieht, der Wettlauf beginnt; wie
wilde Panther springen Hagen und Günther durch den Waldklee, aber Siegfried
335 ist weit zuerst zur Stelle. Ruhig legt er nun Schwert, Bogen und Köcher
ab, lehnt den Ger an der Linde Ast und setzt den Schild neben den Brunnen,
wartend, bis der König auch herangekommen sei, um ihn zuerst trinken zu
lassen. Diese ehrerbietige Sitte entgalt er mit dem Tode. (Leicht konnte er
getrunken haben, ehe Günther und Hagen herankamen, dann hätte er schon
340 wieder da gestanden, die Waffen in der Hand, und was jetzt geschah, war
unmöglich). Günther kommt heran und trinkt; nach ihm beugt sich auch Sieg-
fried zum Brunnen nieder. Da springt Hagen herzu, trägt im raschen Sprunge
die Waffen, die er erreichen kann, Schwert, Bogen und Köcher, abseits, den
Ger behält er selbst in der mörderischen Faust, und indem Siegfried noch die
345 letzten Züge an dem Brunnen einschlürft, schleudert Hagen den Ger, Siegfrieds
eigene Waffe, durch das Kreuz, das Siegfried im Rücken trägt, daß von dem
Herzblut des herrlichen Helden des Mörders Gewand überströmt wird. Wütend
springt der Todeswunde ans von dem Brunnen; zwischen den Schulterblättern
ragt die lange Gerstange aus seinem Leibe hervor. Er greift nach Bogen
350 und Schwert — er findet keine Waffe; da faßt er den Schild, der dicht neben
ihm liegt, und den Hagen nicht hat beiseite schaffen können, und stürzt auf
Hagen los. Grimmig schlägt er mit dem Schilde auf deu Mörder, daß die
Edelsteine, mit denen der Schild besetzt war, herausgesprengt werden, er schlügt
so furchtbar, daß Hagen zu Boden stürzt und der Schild zerbricht; der Wald
355 hallet wider von der Wucht der Schläge, welche die Hand des sterbenden
Helden auf das Haupt seines Mörders fallen läßt. Da erbleicht seine lichte
Farbe, die Füße wanken, die Stärke des Heldenleibes zerrinnt, der Tod hat
ihn gezeichnet. Kriemhilds Gatte fällt dahin in die Blumen, und in breiten
Strömen fließt das Herzblut aus der Todeswunde. Mit der letzten Kraft
360 wendet er sich zornig zu seinen Mördern: „Ihr Feiglinge, was helfen nun
13
meine Dienste, da ihr mich erschlagen habt? So also habt ihr meine Treue
gelohnt und schlimmes Leid an euern Blutsverwandten gethan."
Alle Ritter des Burgundengefolges eilen jetzt herbei zu der Mordstätte
und umstehen im Kreise den sterbenden Helden; manche Klage wird laut,
der Sterbende schweigt. Da läßt auch der Burgundenkönig einen Ton der 365
Klage um den Gefallenen vernehmen, und jetzt regt sich noch einmal das
bittere Leid des Lebens in der schon in den Todesschlummer versinkenden
Seele. „Das ist nicht not," spricht der Todeswunde, „daß der nach dem
Schaden weinet, der den Schaden gethan hat; es wäre besser unterblieben."
Der grimme Hagen aber höhnt die Klagenden und zugleich noch den schmählich 370
Ermordeten: „Ich weiß nicht, was ihr klagt; nun hat ja alles ein Ende, was
wir an Leid und Sorgen getragen haben; nun leben nur noch wenige, die
gegen uns aufzutreten wagen dürfen. Wohl mir, daß ich gegen diesen da
Rat geschasst!" Und noch einmal redet der Held mit sterbender Stimme zu
dem Mörder: „Ihr habt es leicht Euch rühmen; hätte ich Euern Mordsinn 375
erkannt, vor Euch hätte ich mich wohl schützen wollen. Mich jammert nichts
so sehr als Frau Kriemhild, mein Weib; und o weh, daß ich einen Sohn
habe, dem man nachsagen wird, daß seine nächsten Verwandten jemand durch
Mord erschlagen haben." Der Name der treuen Gattin ist über die Lippen
des Sterbenden gegangen, und um ihretwillen wendet er sich abermals und 380
zum letztenmal an seine Mörder, ihr die letzte Sorge, den letzten Gedanken,
den letzten Atemzug widmend. „Wollt Ihr," redet er Günther an, „edler
König, noch einmal in Euerm Leben gegen jemand Treue beweisen, so laßt
Euch meine liebe Traute befohlen sein, laßt es sie genießen, daß sie Eure
Schwester ist, sorgt für sie treulich, wie es Fürstensitte gebietet! Auf mich 385
warten lange mein Vater und meine Mannen." Weit umher sind die Wald-
blumen von dem Blute des Erschlagenen rot genetzt. Jetzt beginnt der Todes-
kamps; doch nicht lange ringt er, die Todeswunde ist zu schwer. Sieg-
fried ist tot. — Da heben die Herren den Leichnam des Helden, alter Sitte
und Ehre gemäß, auf einen goldroten Schild und tragen ihn gen Worms 390
an den Rhein. Manche reden davon, daß man sagen soll, Räuber hätten
ihn erschlagen, um den Schandfleck des Verwandtenmordes zu verhehlen.
„Ich will," ruft Hagen, „ihn selbst nach Worms bringen. Was kümmert es
mich, wenn Kriemhild erfährt, daß ich ihn erschlagen habe? Sie hat Brun-
hild so schwer gekränkt, nun acht' ich es geringe, sie mag weinen, so viel 395
sie will."
Und der entsetzliche Hagen läßt den Toten, so wie man in der Nacht
zu Worms angekommen ist, vor die Thüre des Hauses legen, in dem Kriem-
hild wohnt, wohl wissend, daß sie selbst gleich am frühen Morgen, wenn
sie ihrer Gewohnheit nach zur Mette geht, ihn da sinden werde. Furchtbar 400
gelingt die Frevelthat. Ein Kümmerer geht mit dem Lichte voran und sieht
den Leichnam. „Frau," sagt er, „stehet stille; da liegt vor dem Gaden
^Gemachs ein erschlagener Ritter." Ein lauter Schrei des Entsetzens ist Kriem-
hilds Antwort; sie weiß, wer da erschlagen liegt, ohne daß man es ihr ge-
sagt hat, und als sie den Erschlagenen sieht, so tief er vom Blute übergössen 405
14
ist — sie kennt wohl auch im bleichen Fackelschein die Heldengestalt und
die edeln, im Tod erstarrten Züge. „Du bist ermordet," ruft sie; „dein Schild
ist nicht zerhauen. Dem gilt es den Tod, der das gethan." Siegfrieds Mannen
und Siegfrieds Vater werden geweckt; lauter Jammer erfüllt weit und breit
410 die Säle und Höfe, und zur Rache scharen sich die Getreuen des erschlagenen
Helden. Kaum daß Kriemhild warnen und abwehren kann: es sei jetzt noch
nicht Zeit zur Rache, dereinst werde sie kommen.
Als der Tote auf der Bahre liegt, kommen die Könige, ihre Brüder, und
die Verwandten; auch Hagen tritt ohne Scheu hinzu. Kriemhild aber wartet an
415 der Bahre des Bahrrechts, einer Volkssitte und eines Volksglaubens, der noch
heute nicht ausgestorben ist: wenn der Mörder dem Gemordeten nahe trete oder
gar dessen Leichnam berühre, öffnen sich die Wunden, und das Blut fließe
von neuem. Und als Günther ihr eben einzureden sucht, fremde Mörder hätten
ihn erschlagen, da tritt Hagen heran, und die Wunden fließen. „Ich kenne
420 die Räuber wohl," ruft die Arme, „und Gott wird die That an ihnen rächen."
Der Leichnam ist eingesargt und wird zu Grabe getragen; Kriemhild folgt,
mit unnennbarem Jammer bis zum Tode ringend. Noch einmal aber begehrt
sie, das schöne Haupt des Geliebten zu sehen, und der köstliche Sarg, aus
Gold und Silber geschmiedet, wird aufgebrochen. Da führt man sie herbei,
425 und mit ihrer weißen Hand hebt sie noch einmal das Heldenhaupt empor
und drückt einen Kuß auf die bleichen Lippen. Man trägt sie von dannen.
Der edle Held wird begraben.
In tiefem Trauern weilt Kriemhild dreizehn Jahre zu Worms; über
drei Jahre nach Siegfrieds blutigem Tode würdigt sie ihren blutbefleckten
430 Bruder Günther keines Wortes, Hagen keines Blickes. Um die Schwester
wieder auszusöhnen, lassen die Brüder den unermeßlichen Schatz an rotem
Golde und edelm Gesteine, der im Nibelungenlande unter Alberichs Hut liegt
und von Siegfried an Kriemhild als Morgengabe gegeben worden war, den
Nibelungenhort, von dort herbeiführen; zwölf Wagen fahren vier Tage und
435 vier Nächte an den glänzenden Kleinodien, um sie aus dem hohlen Berge,
wo sie verwahrt sind, auf das Schiff zu bringen; sie langen an, werden
Kriemhild übergeben, und es kommt eine Sühne, doch nur zwischen ihr und
ihren Brüdern, nicht auch zwischen ihr und Hagen zu stände. Nun spendet
nach uralter Königssitte Kriemhild reichlich an Arme und Reiche von ihren
440 Schätzen; das Geben ist ihr ein Trost in ihrem Leide. Aber wiederum tritt
der grimme Hagen von Tronei ihr feindselig in den Weg; er fürchtet, sie möchte
durch ihre milde Freigebigkeit so viele zu ihrem Dienste gewinnen, daß es
der Herrschaft der Landeskönige selbst Schaden thun werde. Im Widerspruch
mit Günther und dessen Brüdern nimmt Hagen die Schlüssel und somit auch
445 den Schatz selbst weg. Gernot rät, das Gold in den Rhein zu senken, damit
es niemand angehöre. Zugleich schwören sich sämtliche Beteiligte zu, so lange
einer von ihnen lebe, niemand zu entdecken, wo der Schatz verborgen sei. Sv
versenkt Hagen den Nibelungenhort in den Rhein, und dort liegt er nach
der Sage des Volkes zwischen Worms und Lorsch bis aus den heutigen Tag.
A. C. F. Vilmar. Geschichte der deutschen Nationalliteratur. 1883!". S. 50 sf.
15
3. Gudrun.
Hettel, König zu Hegelingen, und seine Gemahlin Hilde von Irland
haben zwei Kinder, einen Knaben Ortwin und eine Tochter Gudrun. Als
diese in das Alter kommt, in dem Jünglinge das Schwert empfangen, ist sie
schöner, als je die Mutter war, und mächtige Fürsten werben um sie. Sieg-
fried von Morland, vergeblichen Dienstes müde, zieht drohend ab. Hartmut, 5
Sohn des Königs Ludwig von Normandie, sendet erst Boten nach ihr, denen
sie versagt wird; dann kommt er selbst unerkannt an Hettels Hof. Er ent-
deckt sich Gudrun; aber seine Schönheit hilft ihm nur soviel, daß die
Jungfrau ihn wegeilen heißt, wenn er vor ihrem Vater das Leben behalten
wolle. Auch Herwig von Seeland wird verschmäht, doch er sammelt seine 10
Mannen, zieht vor Hettels Burg und dringt kämpfend ein. Gudrun sieht
mit Lust und Leid, wie Herwig Feuer aus Helmen schlägt. Hettel selbst be-
dauert, daß ihm ein solcher Held nicht zum Freunde gegönnt war. Da wird
Friede gestiftet und Gudrun dem Helden anverlvbt; in einem Jahre soll er
sie heimführen. Als Siegfried von Morland solches erfahren, fällt er in Her-15
wigs Land ein; Hettel zieht dem künftigen Eidam zu Hilfe.
Während so das Land der Hegelinge von Helden entblößt ist, kommen
Hartmut und Ludwig von Normandie mit Schiffsmacht angefahren, brechen
die Burg und führen Gudrun mit ihren Jungfrauen hinweg. Die Königin
Hilde schickt Boten an Hettel und Herwig; diese machen^sogleich Frieden mit 20
Siegfried, und er selbst hilft ihnen die Räuber zur See verfolgen. Auf
einem Werder, dem Wülpensande, halten Hartmut und Ludwig Rast mit ihrer
Beute; dort werden sie von den Hegelingen erreicht. In furchtbarer Schlacht
fällt Hettel von Ludwigs Schwerte. In der Nacht schiffen die Normannen
mit den Jungfrauen weiter. Die Hegelinge kehren heim; durch großen Ver- 25
tust geschwächt, müssen sie die Rache verschieben, bis einst die verwaisten
Kinder schwertmäßig sind. In Normandie wird Gudrun freudig empfangen.
Sie soll nun mit Hartmut Krone tragen. Aber sie hält fest an Herwig und
wendet sich ab von dem, des Vater den ihrigen erschlagen. Gerlind, die
Mutter Hartmuts, hat zu der Werbung um Gudrun geraten; zürnend, daß 30
ihr schöner Sohn verschmäht worden, hat sie eifrig die Schiffreise gefördert;
jetzt verspricht sie ihm, der Jungfrau Hoffart zu brechen, indes er auf neue
Heerfahrten zieht. Gudruns edle Jungfrauen, die sonst Gold und Gestein
in Seide wirkten, müssen Garn winden und spinnen; sie selbst, die Königs-
tochter, muß den Ofen heizen, mit den Haaren den Staub abkehren, zuletzt in 85
Wind und Schnee am Strande Kleider waschen. Hildeburg von Portugal,
auch eines Königs Tochter, mit Gudrun gefangen, teilt freiwillig mit ihr
die Arbeit.
Dreizehn Jahre vergehen, da mahnt Frau Hilde die Helden, die
ihr gelobt, den Gemahl noch zu rächen und die Tochter wieder zu holen. 40
Sie rüsten ihre Scharen und Schiffe. Nach stürmischer Fahrt erreichen sie
die Küste von Normandie und landen unbemerkt an einem Walde. Herwig
und Ortwin, Gudruns Bruder, machen sich auf, nach ihr zu forschen und
*
— 16 —
das Land zu erkunden. Gndrun und Hildeburg waschen am Strande, da
Äschen sie einen schönen Vogel herschwimmen. Es ist ein Bote von Gott, der
ihnen mit menschlicher Stimme die nahe Ankunft der Freunde verkündet. Der
Vogel verschwindet, und die Jungfrauen, von der Botschaft sprechend, ver-
säumen sich im Waschen. Darüber werden sie abends von Gerlinden ge-
scholten. Am Morgen, als sie wieder zur Arbeit sollen, ist Schnee gefallen.
50 Umsonst bitten sie die Königin um Schuhe; barfuß müssen sie durch den
Schnee zum Strande waten. Unter dem Waschen blicken sie oft sehnlich über
die Flut hin. Sie gewahren zwei Männer in einer Barke. Ihrer Schmach
sich schämend, entweichen sie. Aber die beiden Männer, Herwig und Ort-
win, springen aus der Barke und rufen sie zurück. Vor Frost beben die
55 schönen Wäscherinnen, kalte Märzwinde haben ihnen die Haare zerweht. Die
Herren bieten ihre Mäntel dar, aber Gndrun weist es ab. Noch erkennen sie
einander nicht, obgleich die Herzen sich ahnen. Ortwin fragt nach den Fürsten
des Landes und nach der Königstochter, die vor Jahren hergeführt worden.
Die sei im Jammer gestorben, antwortet Gndrun. Da brechen die Thränen
60 aus der Männer Augen. Doch bald wird ihnen Trost und Wonne. Gndrun
und Herwig erkennen, eines an des andern Hand, die goldenen Ringe,
womit sie sich verlobt sind. Herwig schließt sie in seine Arme. Dann
scheiden die Männer Hilfe verkündend, ehe niorgen die Sonne scheine.
Gndrun wirft die Wäsche in die Flut; nicht mehr will sie Gerlind dienen,
65 seit zwei Könige sie geküßt und umfangen. Als sie zur Burg zurückkommt,
will Gerlind sie mit Dornen züchtigen. Gndrun aber erklärt: wenn ihr die
Strafe erlassen werde, wolle sie morgen Hartmuts werden. Freudig eilt
dieser herbei. Gndrun und ihre Jungfrauen werden herrlich gekleidet und
bewirtet. Die alte Königin allein fürchtet Unheil, als sie Gndrun nach drei-
70 zehn Jahren zum ersten Male lachen sieht. Reichen Lohn verheißt Gudrun
derjenigen ihrer Jungfrauen, die ihr den Morgen zuerst verkünden werde.
Beim Aufgang des Morgensterns steht eine Jungfrau am Fenster; mit dem
ersten Tagesschein und dem Glänzen des Wassers sieht sie das Gefild von
Waffen leuchten und das Meer voll Segel; eilig weckt sie Gudrun. Die
75 Hegelinge sind in der Nacht dahergefahren, die Kleider mit Blut zu röten,
die Gudrun weiß gewaschen. Wate bläst sein Horn, daß die Ecksteine fast
aus der Mauer fallen. In der Schlacht, die jetzt vor der Burg beginnt,
wird Ludwig von Herwig erschlagen, Hartmut gefangen mit achtzig Rittern;
die andern alle kommen um. Wate erstürmt die Burg und schont auch der
80 Kinder in der Wiege nicht, damit sie nicht zum Schaden erwachsen. Gerlind,
die sich zu Gudrun flüchtet, reißt er hinweg und schlägt ihr das Haupt
ab, so auch der jungen Herzogin Hergart, einst von Gudruns Gefolge, die
Hartmuts Schenken genommen und viel Hoffart getrieben. Ortrun aber,
Hartmuts Schwester, die Gundrun stets freundlich sich erwiesen, wird durch
85 deren Fürbitte gerettet. Das Land wird verheert, die Burgen gebrochen.
Nach solcher Vergeltung schiffen die Hegelinge sich wieder ein mit Gudrun
und mit großer Beute. Hartmut und Ortrun werden gefangen mitgeführt.
Horand und Morung bleiben in dem eroberten Lande zurück. Frau Hilde
17
empfängt in Freuden ihre Tochter; der lange Haß wird versöhnt durch Ver-
mählung Ortwins mit Ortrun und Hartmuts, dem sein Land wiedergegeben 90
wird, mit der treuen Hildeburg. Siegfried von Morland erhält Herwigs
Schwester. Herwig aber fuhrt Gudrun nach Seeland heim.
Ludwig Uhland. Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. 1865. I. B. S. 77 ff.
4. Die olympischen Spiele.
1. Als Terxes die Heere des Morgenlandes über den Hellespont geführt,
Thessalien eingenommen und das feste Thor des innern Griechenlandes, den
Seepaß der Thermopylen, sich durch Verrat geöffnet hatte, konnte er nicht
anders glauben, als daß nun jeder ernstliche Widerstand beseitigt wäre, und
daß die Hellenen der südlichen Landschaften in Zittern und Angst des über 5
sie hereinbrechenden Schicksals warteten. Da kamen Überläufer aus Arkadien
in das Lager, unstete Leute, die des Lebens Not hintrieb, wo es zu ver-
dienen gab. Man brachte sie vor den König, um sie auszufragen, was die
Hellenen machten. „Sie feiern das Fest der Olympien," war die unerwartete
Antwort; „sie schauen den Wettkämpfen und Wagenspielen zu;" und als man 10
sie weiter fragte, um welchen Preis jene Kämpfe gehalten würden, erwiderten
sie: „Um den Kranz vom Ölbaum." Da sprach einer der persischen Großen
ein Wort aus voll edler Weisheit, wenn es ihm auch als Feigheit ausgelegt
wurde: „Wehe, Mardonius, gegen was für Männer hast du uns geführt,
die nicht um Gold und Silber Wettkämpfe halten, sondern um Männer-15
tugend I"
Wo der Alpheios aus den engen Felsthälern Arkadiens in das niedrige
Küstenland von Elis eintritt, wird er von waldreichen Höhen eingefaßt, zwischen
denen er in breiten, vielgewundenen Strömungen hinfließt. Das nördliche
Ufergebirge nannten die Alten Olympos, ein Name, mit dem die ältesten 20
Einwohner die heiligen Gipfel des Landes bezeichneten. Eingeborene Pelasger
haben hier gewohnt und ihren Zeus verehrt als den Gott schreckender Natur-
macht und als den Urheber des Segens, welcher sie in der fruchtbaren Thal-
landschaft umgab. Die Sage nennt einen alten König des Landes Önomaos
und bezeichnet Pisa als die Hauptstadt seines Reiches. 25
Olympia war ursprünglich ein Tempelbezirk vor den Thoren Pisas.
Nach der Zerstörung der Stadt war die Landschaft weit und breit umher
nur in Dörfern bewohnt, die wohlhabendste und gepflegteste Gegend Griechen-
lands, voll von Ackerfluren, Wäldern und Gärten, welche das Kleinod des
Landes einhegten. Olympia selbst bestand aus zwei scharf gesonderten Teilen: 30
es lag entweder innerhalb oder außerhalb der Altis. In der Altis, dem
Tempelhofe des Zeus, befand sich nur, was den Göttern gehörte. Herakles
hatte den Raum mit seinen Schritten abgemessen; er hatte die hohe Um-
fassungsmauer gegründet, welche alles Unheilige von der Schwelle des Zeus
fern hielt. Diese Mauer zog sich aus der Abendseite am Kladeos entlang, 35
dem platanenreichen Nebenflüsse des Alpheios; sie erstreckte sich im Süden
oberhalb des Alpheiosbettes und schloß sich im Osten an das Stadium an.
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschule». Bd. IV. 2
18
Sie hatte verschiedene Pforten, aber nur ein Eingangsthor, dessen schimmernde
Säulenhalle die Stirnseite der Altis bezeichnete; nur hier durften die Fest-
40züge den Boden der Altis betreten. Trat man hinein, so hatte man gleich
zur rechten den heiligen Ölbaum, von dessen Zweigen ein Knabe, dem noch
beide Eltern am Leben sein mußten, mit goldenem Messer die Siegeskränze
abschnitt; darum hieß er der Baum der schönen Kränze. In seinem Gehege
hatte man den Nymphen einen Altar erbaut, um sie durch Opfer gnädig zu
45 erhalten, daß sie nicht ablassen möchten, mit frischem Taue das Gedeihen des
köstlichen Baumes zu pflegen. Es war ein wilder Ölbaum, dessen Blätter
sich durch ein tieferes Grün von dem zahmen Ölbaume unterscheiden. Jenseits
des Kranzbaumes erhob sich auf mächtigem Unterbaue der Tempel des Zeus,
die wichtigste und zugleich die sicherste Stelle innerhalb der Altis. Neben
50 dem Tempel des ersten der Götter erstreckte sich das Heiligtum des Heros
Pelops und das der Hera. Nach der Mitte vorliegend erhob sich der große
Zeusaltar auf einem mächtigen Unterbau zu einer Höhe von 6 m, so daß
der Opferrauch frei über die Häupter der Festversammlung fortziehen konnte.
An der nördlichen Seite trat der Hügel des Kronos vom olympischen Gebirge
55 mit seinem spitzen, von Pinien beschatteten Gipfel in die Altis vor. Auf
einer breit ausgemauerten Terrasse standen hier in einer Reihe die Schatz-
häuser zur Aufbewahrung der Weihgeschenke, deren letztes an das Stadium
grenzte. Dieses lehnte sich mit bent obern Ende an die waldigen Thal-
buchten an, war aber zum größern Teile künstlich aufgeschüttet; am süd-
60 lichen Ende stieß es mit dem Hippodrom im rechten Winkel zusammen. Letzterer
bestand aus zwei Teilen, der breit geebneten Rennbahn und der künstlichen
Anlage der Wagenstünde. An der nordwestlichen Seite lag außerhalb der
Altismauer, einer freien Wald- und Flußlandschaft benachbart, das Gymnasium
Olympias mit Wohnungen für die Athleten, mit sonnigen Ringplätzen und
65 schattigen Sünlengängen umher. Auf dem von Pinien beschatteten Gipfel des
Kronoshügels sah man zu seinen Füßen den ganzen von den herrlichsten Bild-
werken erfüllten Tempelhof, ein Labyrinth von Kunstwerken. Die dicht-
gedrängte Masse von Gebäuden, Altären, Statuengruppen, von Viergespannen
und Standbildern der Sieger, von Götterbildern, Dreifüßen und Weihgeschenken
70 aller Art wurde durch die von Herakles gepflanzten Bäume zu einem land-
schaftlichen Ganzen verbunden.
2. Olympia war ein ländlich stiller Ort, und die Waldeinsamkeit des
Alpheiosthales wurde nur durch die Schritte der Wanderer unterbrochen, die
des Weges zogen und am Zeusaltare ihr Gebet sprachen. Aber wie veränderte
75 sich alles, wenn das vierte Jahr, das Jahr der großen Olympien, herankam,
und wenn die heiligen Gesandten, „Zeus' des Kroniden Friedensboten, der
Jahreszeiten Herolde", von den Pforten der Altis auszogen und allen
Hellenen die ersehnte Kunde brachten: „Das Fest des Zeus ist wiederum
nahe, aller Streit soll ruhen, jeder Waffenlärm schweige! Frei mögen auf
80 allen Land- und Wasserstraßen die Pilger heranziehen zu der gastlichen
Schwelle des Zeus!" Alle Hellenen wurden eingeladen und ausgeschlossen
nur die Schuldbeladenen, oder die dem olympischen Zeus Ehrfurcht versagt,
19
ober bie sich an ber gemeinsamen Sache ber Hellenen versünbigt hatten,
wie einst ans bes Themistokles Antrag ber Syrakusanerkönig Hieron ans-
geschlossen würbe, weil er von bem Kampfe gegen Xerxes zurückgeblieben war. 85
Die eingelabenen Stabte schickten ihre angesehensten Männer als Gesanbt-
schaften nach Olympia, bie auf stattlichen Wagen, in Prachtgewänber gekleibet,
mit zahlreichem Gefolge zum Zeusfeste wallfahrteten unb im Namen ihrer
Stabte herrliche Opfer barbrachten. Die Stabte ber Kolonien benutzten bies
Fest, um sich mit bem Mutterlanbe in lebenbigem Zusammenhange zu er- 90
halten. Ihre Bürger eilten in ben von Stürmen selten beunruhigten Sommer-
monaten herbei, unb bas jonische Meer sowie bie breite Alpheiosmünbung
füllte sich mit ben bekränzten Festschiffen ber auf ben Küsten von Asien unb
Afrika, von Italien, Sieilien unb Gallien wohnenben Hellenen, unb bewun-
bentb musterte bas am Gestabe versammelte Volk bie auf fernen Weiben 95
gezogenen Rosse unb Maultiere, welche burch fremblänbische, bunkelfarbige
Sklaven ans ben Boben von Elis geführt würben.
Die Kampflustigen unter ben versammelten Hellenen mußten sich bei
ben Kampfrichtern melben; sie würben in Hinsicht ihres Ursprungs, ihres
Rufes, ihrer körperlichen Tüchtigkeit geprüft; sie mußten nachweisen, baß sie 100
zehn Monate lang in einem hellenischen Gymnasium bie Reihe hergebrachter
Übungen gewissenhaft vollenbet hatten, unb würben bann mit ben Kämpfern
gleicher Gattung unb Altersstufe zusammengeorbnet. Zum Schlüsse würben sie
vor ber Bilbsäule bes schwurhütenben Zeus, ber zum schreckenben Wahrzeichen
in jeber Hanb ben Blitzstrahl führte, geleitet, um einen Eib barauf zu leisten, los
baß sie im heiligen Wettkampfe sich keine Unreblichkeit unb keinen Frevel zu
Schulben kommen lassen wollten. Die Spiele unb Feste würben im Lause
ber Zeiten vielfach veränbert unb vergrößert, unb aus einem Festtage warb
allmählich eine Reihe von fünf Tagen, welche in bie Zeit bes Vollmonbs um
bie sommerliche Sonnenwenbe fielen. no
Den behenbesten Läufer zu sehen, füllten sich zuerst- mit Zuschauern bie
Stufensitze bes Stabiums; unb wenn bie Volksmenge beisammen war, bann
traten burch ben verbeckten Gang ber Westseite bie Kämpfergruppen herein,
von ben Kampfrichtern geführt, welche, burch Purpurgewänber ausgezeichnet,
auf ihrem Ehrensitze Platz nahmen. Der Herolb rief bie Kämpfer vor bie 115
Schranken; sie würben mit Namensaufruf bem Volke vorgestellt; wer einen
berselben seiner Sitten ober seiner Herkunft wegen für unwürbig hielt, um ben
Kranz bes Zeus zu kämpfen, ber konnte sich zur Anklage erheben, bie von ben
Richtern sofort erlebigt würbe. Dann traten bie Kämpfer an bie silberne,
bem Zeus heilige Losurne heran, unb einer nach bem anbern nahm, nachbem 120
er ein kurzes Gebet gesprochen hatte, eins ber Lose hervor, welche nach gleichen
Buchstaben bie Paare ober Gruppen bestimmten. So viele ber Gruppen ba
waren — benn es liefen immer vier miteinanber — so oft würbe ber Kampf
erneuert, unb ba einer Sieger bleiben mußte, so traten, bie in ben verschiebenen
Gruppen gesiegt hatten, zuletzt zum entscheibenben Preiskampfe zusammen. 125
Nach Art bes Wettlaufs würben auch bie anbern Wettkämpfe bes
Stabiums eingeleitet unb ausgeführt: ber Sprung, in welchem Schwungkraft
2*
20
der Glieder und Entschlossenheit sich bewährte, der Ringkampf, durch welchen
Männer wie Milon, der weise Schüler des Pythagoras, ihren Ruhm durch
130 alle Länder verbreiteten, ferner der rohere Faustkampf, der Wurf des Diskus
und des Speers, sowie die zusammengesetzten Kampfarten.
In allen den genannten Gattungen der gymnastischen Übungen bewährte
sich des Mannes eigene Kraft und Gewandtheit in freier Selbstthätigkeit. Ihnen
gegenüber standen die ritterlichen Spiele, wo man der Rosse Tüchtigkeit den Sieg
-135 verdankte. Wenn dieser Kampf dennoch alle andern überstrahlte, so war es nicht
sowohl die Rücksicht auf die Kunst des Wagenlenkers als vielmehr der Glanz
des Reichtums, die Pracht des Aufzuges, welche zu gunsten dieser Kampfart
entschieden. Hier zeigten sich nur die größern Staaten, und überall galt es
für eine Stufe hohen Erdenglücks, wenn es jemand vergönnt war, für den
140 Wettkampf Viergespanne aufziehen zu können. Nur die Reichsten traten hier
in die Schranken; die Könige von Syrakus und Kyrene sandten ihre Wagen-
lenker ; hochfahrenden Jünglingen, wie dem Alcibiades, erschien nur der Sieg
im Hippodrom als ein begehrenswürdiges Ziel.
Zu diesem herrlichsten der Schauspiele füllten sich am vierten Festtage
145 die langen Stufenreihen zu den Seiten der Rennbahn. Die Wagenstände
wurden verlost; vor jedem Wagenstande war ein Seil gezogen, hinter welchem
die Renner mlgeduldig den Boden stampften. Auf einem Altare in der Nähe
saß ein eherner Adler, welcher, in die Luft steigend, dem Volke den ersehnten
Anfang des Spiels verkündete. Gleichzeitig senkte sich ein Delphin herab,
150 der auf einem Querbalken lag, ein Sinnbild des reisigen Meergottes. Dies
war das Zeichen für die Reiter und Wagenlenker; denn unmittelbar darauf
wurden die Seile vor den Wagenständen fortgezogen. Nun tauchten die
Gespanne paarweise vom Hintergründe her vor den Augen des Volkes auf
und bildeten beim Beginne der Bahn eine prächtige, unaufhaltsam vorwärts
155 stürmende Wagenreihe. Es kam auf der breiten Bahn, welche ein Viergespann
mit ausgewachsenen Rossen zwölfmal durchmessen mußte, alles darauf an,
einerseits die kürzesten Fahrten zu machen und möglichst nahe an der Ziel-
säule mit dem links laufenden Pferde hernmzulenken, andrerseits aber dem auf
dieser Linie sich zusammenschiebenden Wagengedränge vorsichtig auszuweichen.
100 Oft siegte der mit Bedacht von dem Zielschafteseitab drängende Wagenlenker;
in einem Rennspiele scheiterten vierzig Wagen an dieser Klippe und ließen
dem allein übrigbleibenden einen leichten Sieg. Die Zuschauer verfolgten
mit Angst und Jubel die rasch sich vollendenden Ereignisse des ergreifenden
Schauspiels, bis sie mit lautem.Beifallsstürme den Glücklichen begrüßen
165 konnten, den des Herolds Stimme ausrief.
3. Angst und Qual war vergessen, und wie die Glut des Julitages sich
endlich in ersehnte Abendkühle verwandelte, so begann die Siegesfeier. Der
Sieger wurde von seinen Angehörigen und Landsleuten umringt, von den
anwesenden Hellenen begleitet; der festliche Zug bewegte sich vom Hippodrom und
170 Stadium nach dem Eingangsthore und zum Tempel des Zeus; denn hier zu
den Füßen des Gottes standen die Sessel der in seiner Vollmacht siegverleihen-
den Kampfrichter, hier stand der heilige Tisch, auf welchem die frischgeschnittenen
21
Kränze des Ölbaums lagen. Vor den Augen des Zeus wurde des Siegers
Haupt geschmückt, wurde die Palme in seine Hand gegeben. Ein Teil der
Festversammlung füllte die Hallen und Galerien des Tempels: heilige Hymnen, 175
sagt Pindar, strömten hernieder. Dann brachte der Sieger sein Dankopfer
am Altare des Zeus dar, und als hochbeglückter Gast des olympischen Gottes
wurde er mit seinen Siegesgenossen am Herde des Heiligtums bewirtet. Die
Masse des Volkes aber lagerte sich vor der Altis zwischen wohlversorgten
Meßbuden im Freien oder unter Zelten, und beim Lichte des Mondes er-180
schallte die ganze Flur von Siegesgesängen. Es war die lustige Nachfeier des
heißen Tages. Hier schlossen sich neue Freundschaften, hier begegneten sich alte
Gastfreunde, hier erzählte jeder von den Wundern seines Landes und seiner
Stadt. Alle griechischen Mundarten tönten durcheinander; hier wurde gekauft
und verkauft; es war das bunteste Treiben eines südlichen Jahrmarkts. 185
Aber nicht mit kurzem Freudenräusche war die Feier des Sieges beendet;
die Kunst fesselte sie in bleibenden Werken. Nicht sollte die Gestalt der Sieger
nach flüchtigem Eindrucke aus dem Gedächtnisfe der Hellenen wieder verschwinden.
Sie wurden im Erzgusse dargestellt, kommenden Geschlechtern zur Erinnerung
und zur Nacheiferung; wer dreimal gesiegt hatte, durfte in ganzer Größe 190
dargestellt werden. Diese Bildsäulen wurden wohl häufig vervielfältigt, um
auch in des Siegers Vaterstadt aufgestellt zu werden, sowie auch an die
Festfreude Olympias noch eine Nachfeier bei des Siegers Heimkehr sich an-
schloß. Man riß die Stadtmauern ein, um seinem Wagen Bahn zu machen;
ein unabsehlicher Zug schloß sich an, indem der Sieger im Purpurgewande 195
voranfuhr und die Festgenossen durch die Hauptstraßen zu dem Tempel der
stadthütenden Gottheit führte; ihr wurde das Opfer des Dankes dargebracht,
und der schönste Schmuck des Tages war das Lied eines gefeierten Sängers,
welches den Zug begleitete oder beim Mahle gesungen wurde.
Das war den Griechen Olympia. Darum saßen sie hier in heiterer 200
Feststimmung, während Leonidas an den Grenzen ihres Landes den Opfertod
starb; denn sie fühlten beim Anblick ihrer olympischen Sieger die freudigste
Siegeshoffnung; von Olympia zogen sie nach Salamis und Platäü.
Ernst Eurtius. Olympia. Ein Bortrag. 1852. S. 1 ff. (Gekürzt.)
Vgl. Ed. v. d. Launitz, Wandtafeln zur Veranschaulichung antiken Lebens u. antiker
Kunst: 23. Olympia.
5. Pompeji.
17. November 1840.
Einer der interessantesten Gegenstände, die man in Italien besehen kann,
ist die ausgegrabene Stadt Pompeji. Wie durch Zauber wird man aus der
Gegenwart in die ferne Vorzeit, aus dem neunzehnten in das erste Jahrhundert
der christlichen Zeitrechnung versetzt. Die Zeit, die Völkerwanderungen und
die Kunstliebhaber zerstörten die prachtvollsten und solidesten Bauten der Römer 5
und Griechen. Von den gewaltigsten Tempeln und Theatern sieht man heute
uieist nur noch einzelne Säulenschäfte und halbversunkene Gewölbe. Aber
Pompeji wurde durch ein plötzliches Naturereignis an einem Tage mitten im
22
dermaligen Leben seiner Bewohner überrascht und für fast zwei Jahrtausende
10 eingesargt. Die Erde selbst war das Museum, in dem nicht nur seine Kunst-
schätze, sondern die ganzen häuslichen Einrichtungen der Bevölkerung sicher
aufgehoben waren. Eine drei bis sieben Meter hohe Decke von Asche und
Bimssteinen sicherte alles dies vor Zerstörung, und zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts wußte man zwar, daß ein Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79
15 nach Christi Geburt Pompeji zerstört, nicht aber, wo diese Stadt gelegen
hatte. Einige beim Brunnengraben aufgefundene Inschriften bezeichneten zuerst
den Ort. Gegenwärtig ist etwa der vierte und jedenfalls der interessanteste
Teil der alten Stadt, auf dem Weinberge und Landhäuser sich ausbreiteten,
ans Tageslicht gezogen; denn ausgegraben sind: das Forum, zwei Theater,
20 die Straße der Handwerker und Kaufleute, der Cirkus vor dem Thore die
Straße der Gräber und die Häuser bekannter Männer, wie Ciceros, Diomedes',
Sallusts und so weiter.
Die Einwohner Pompejis waren im Augenblicke des Ausbruchs gerade
im Amphitheater versammelt, das mit seinen Marmorstufen und Löwenzwingern
25 vor unserm Blicke aufgedeckt steht. Wahrscheinlich hatte der größere Teil
Zeit, sich zu flüchten. Jedoch findet man auch einen großen Teil Verun-
glückter. An der Thüre des großen, schönen Hauses des Freigelassenen Diomedes
fand man das Skelett eines Mannes mit einem Schlüssel in der einen, einem
Beutel Geld in der andern Knochenhand. Im Tempel der Isis lag in den
30 untern Gewölben ein' Skelett mit einer Brechstange; der Mann hatte sich
durch zwei dicke Mauern durchgearbeitet. Ein weibliches Skelett hielt in
seinen Armen die Skelette zweier Kinder, die es gegen den Aschenregen hatte
schützen wollen.
Nichts überrascht beim Besuche dieses Epimenides der Städte so sehr als
35 die Frische der Farben, die zweitausend Jahre lang an diesen Kalkwänden
kleben. Fast alle Fußböden der größern Häuser sind mit den zierlichsten
Mosaiken bedeckt, und die Fontänen mit dem zerbrechlichen Schmuck von Kon-
chylien und Seemuscheln sehen aus, als ob sie eben fertig geworden. Man
staunt über die Richtigkeit der Zeichnung und den Glanz der Farben bei den
40 schwebenden Figuren auf rotem oder schwarzem Grund, welche die Wände
schmückten und meist Bezug auf die Bestimmung des Ortes hatten. Ein Pfeiler
im Hanse eines Tuchfabrikanten zeigt den ganzen Vorgang dieses Geschäftes, den
Webestuhl, das Krumpen [ober Dekatierens, das Waschen, endlich eine Schrauben-
presse, genau so, wie sie noch jetzt angewandt wird. In den Speisezimmern
45 findet man Obst-, Blumen- und Jagdstücke. Die Namen der Handwerker sowie
die der Straßen sind mit schöner Schrift, meist rot, an den Häusern ange-
schrieben, an einigen Stellen findet man scherzhafte Ausrufungen und gewisse
Figuren angemalt, wie man sie an unseren Mauern auch findet. Die Räder der
Wagen haben Geleise in das harte Lavapflaster gegraben, an einigen Stellen
50 liegen noch die Steine, die man legte, um bei Regenwetter trockenen Fußes von
einem Trottoir aufs andere über die Straße gelangen zu können. Man hat Brot,
Mehl, Oliven, Feigen, Bohnen, freilich verkohlt, Weinkrüge (spitze Amphoren,
wie sie heute noch im Orient gebräuchlich), zahllose Töpfergeschirre von der
zierlichsten Form und mit den bekannten Figuren auf schwarzem Grund, Koch-
öfen, Backherde, allerlei Handwerksgeräte, chirurgische Werkzeuge, Würfel, 55
Schachspiele, musikalische Instrumente, Küchengeschirre und Wagschalen ge-
funden, und alles unterscheidet sich von eben diesen jetzt gebräuchlichen Gegen-
ständen nur darin, daß es zierlicher und geschmackvoller gearbeitet ist.
Wenn man bedenkt, wie Pompeji doch nur eine Landstadt zweiter Ord-
nung war, so erstaunt man über die Menge von Bronze- und Marmorstatnen, 60
von Gemälden und Mosaiken, von Vasen und Geschmeide, die man aus der-
selben ausgegraben hat. Ganz besonders schön muß das Forum civile ge-
wesen sein, ein viereckiger Platz, ganz nach Vitruvs Verhältnissen geordnet.
Es ist genau ans den Gipfel des Berges von Castellamare und auf den Krater
des Vesuv gerichtet, der das Verderben über die Stadt ausgoß. Auf drei Seiten 65
stehen noch mehr als zweihundert Säulen dorischer Ordnung aufrecht. Sie
sind aus Tuffstein, mit Stuck überkleidet und rot oder gelb angemalt. Diese
Säulen bildeten einen fortlaufenden Portikus oder bedeckten Gang, aber die
schön geschnitzten Karniese sGesinstU sind eingestürzt. An der vierten Seite erhob
sich ein Tempel, in dem das kolossale Haupt eines Jupiter aufgefunden wurde. 70
Noch stehen zwölf prachtvolle, kannelierte Marmorsäulen des Peristyls aufrecht.
Die Kurie, die Basilika, die Tempel Merkurs und der Konkordia, das Pan-
theon stehen zunächst. Die vielen Standbilder, welche diesen Platz schmückten,
sind ins Museum nach Neapel abgeführt, sowie der größte Teil der Kunst-
schätze, Gemälde und Mosaiken. Allerdings würden diese Gegenstände jetzt 75
nur um so schneller zerstört werden, ließe man sie stehen. Aber man bedauert,
nicht wenigstens ein Haus auf römischem Fuße dort hergestellt zu finden,
wozu man das vollständigste Material hat.
Die Alten verwendeten weit mehr als wir auf ihre öffentlichen Gebäude
und verlangten weniger für ihre Häuslichkeit; alles ist da klein, aber zierlich 80
bis in die letzte Einzelheit. Die Zimmer, die den viereckigen Hof umgeben,
haben selten mehr als drei Meter im Gevierte und stehen unter sich in keiner
Verbindung.
Es scheint, daß die Pompejaner viel Verkehr mit den Ägyptern gehabt
haben. Dies beweisen ihre Skulpturen, ihre Papyrusrollen, der Jsistempel85
und die aufgefundenen Mumien. Könnte man doch einige derselben erwecken!
Nicht weniger wie wir ihre Stadt würden sie uns anstaunen, die wir in
Fracks und runden Hüten aus der Eisenbahn von Portici herbeikommen.
©Estf Helm ut h von Moltke. tAus einem Briefe.) Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten.
I8'i2. V. B. S. 24 ff.
Z. 17. Jetzt ist längst mehr als der dritte Teil der Stadt mit den Stadtmauern und
einer Vorstadt bloßgelegt, so daß man einen Gesamteindruck einer alten Römerstadt erhalten kann.
Z. 34. Der Seher Epimenides von Kreta ist einer Sage nach als Jüngling in einer
Höhle von einem Schlase überfallen worden, der 57 Jahre gedauert.
Vgl. Jos. Langl, Bilder zur Geschichte, Nr. 28: Pompeji; Nr. 29: Haus des
tragischen Poeten in Pompeji; ferner Launitz, Wandtafeln, Nr. 28: Römisches Haus; Nr. 11:
Togatus; Nr. 21: Römerin. lFurtwäng ler u. Urlich s, Denkmäler griech. u. röm. Skulptur
T. 19 u. 16.)
24
6. Die Germanen zur Römerzeit.
Die Söhne und Enkel des Angustus führten die römischen Feldzeichen
tief in die Waldschluchten des gefährlichen Landes der Germanen, ihre Flotten
fuhren in die Wasserstraßen, welche Nord- und Ostsee verbanden, ihre Legaten
schanzten Kastelle an deutschen Kriegspfaden, ihre Staatskunst hetzte Volk
5 gegen Volk, Häuptling gegen Häuptling. Mehr als einmal wurden römische
Legionen vernichtet, aber auch die Völker zwischen Rhein und Elbe wurden
zerrieben und verkleinert. Mit fast periodischer Regelmäßigkeit ward das
Männerblut auf deutschem Grunde vergossen, Weiber, Kinder und Herden in
die römischen Standlager getrieben, deutsche Söldnerscharen in römischen Dienst
10 genommen und für Erhaltung des Staates verbraucht. So gelang es dem
Schwert und Gold der Südländer durch fast hundert Jahre, nicht Germanien
zu beherrschen, aber wenigstens den Überschuß deutscher Kraft, der vorher
über die Grenzen geflutet hatte, im Lande selbst zu vernichten. Doch während
dieser unaufhörlichen Arbeit, die Bevölkerung des furchtbaren Landes zu ver-
15 dünnen, erlahmte die römische Kraft. Glückte es am Rheine, die Auswanderer
abzuwehren, so stießen sie an der Donau gegen die Grenzen. Nach den
Kriegen Mark Aurels wurde ihr Andrang übermächtig, von neuem begann
germanische Besiedelung des römischen Bodens, immer rücksichtsloser, immer
beengender.
20 Wohl ahnte der Römer seit den Cimbrerkriegen, daß Germanen die
Bezwinger des weltbeherrschenden Roms sein könnten. In den Berichten
über diesen ersten Einbruch ist Schreck, Grauen und widerwillige Bewunderung
zu fast poetischen Farben gemischt. Daß hier ein großartiges und sehr eigen-
tümliches Volkstum zum Kampf gegen die alternde antike Welt heranzog,
25 wurde allgemein empfunden. Und dies Gefühl der Scheu und des Schreckens
verloren die Römer seitdem nicht, wie oft sie auch über germanische Heere
siegten. Dieselbe unbestimmte Furcht lauerte hinter ihrer Freude, wenn sie
gefangene Fürsten der Deutschen im Triumph aufführten, wenn ihr Fuß auf
römischer Thürschwelle an einen berauschten deutschen Trabanten ihres Kaisers
30 stieß, wenn die deutschen Gefangenen im Amphitheater einander gegenseitig
niedermetzelten, wenn die kaiserliche Staatsknnst Germanenhäuptlinge bestach,
verderbte und mit Herrengewalt absetzte. Vier Jahrhunderte vergingen, in
denen der Germane dem Bürger der weltbeherrschenden Stadt alltäglich und
vertraut wurde. Immer aber haftete in den Seelen der Römer etwas von
35 dem überwältigenden Eindruck, den die Fremden zuerst in den Jahren des
Marius gemacht hatten. Nicht nur das Stadtvolk von Rom starrte nach
dem Geschlecht der fremden Riesen. In unablässiger Sorge hingen auch
die Blicke des römischen Staatsmannes an der Nordgrenze des Reiches: dort
zwischen einzelnen unfruchtbaren Siegen die größten Niederlagen, die ärgsten
40 Demütigungen, eine nie endende Gefahr von Menschen, welche überreich
hatten, was die besten der Römer schmerzlich an ihrem Volke vermißten.
Was dem Italiker auffiel, war zunächst die Naturgewalt des fremden
Volkes: die hohen Leiber, das blonde Haar, die weiße Haut mit dem milden
25
Rot der Wangen, der scharfe und trotzige Blick der blauen Augen. Mit
Wohlgefallen sah der Römer auf die kräftigen Züge des deutschen Antlitzes; 45
er fand nichts Nationales darin, was feinen Schönheitssinn abstieß, wie z. B.
die Ziegenaugen in den einförmigen Gesichtern der Perser. Daß germanische
Stattlichkeit auch von dem modischen Rom gewürdigt wurde, beweisen die
Versuche römischer Damen, sich ein deutsches Aussehen zu geben durch blonde
Perücken, deren Haar aus Deutschland zugeführt wurde, und durch Benutzung 50
der rötlich färbenden Haaröle und Seifen, womit die Krieger der Germanen
ihr langes Haar vor der Schlacht strählten. So schön erschien der jugend-
liche Leib der Deutschen dem Südländer, daß der neue Christenglaube den
Boten des Herrn, den Engeln und einigen Heiligen germanischen Typus
verlieh. Als der römische Stadtprüsekt, welcher später Papst Gregor 1.55
[590—604] wurde, auf dem Sklavenmarkt Knaben aus Angeln ausgestellt
sah, welche ein Händler eingeführt hatte, fragte er vor den blonden Locken,
den weißen Leibern und holden Kindergesichtern: „Woher sind sie zuge-
bracht?" — „Von der Insel Britannien; dort sehen die Menschen so aus."
Wieder fragte er: „Sind die Leute dort Christen oder Heiden?" Man 60
sagte ihm: „Sie sind Heiden." Da seufzte er tief und rief: „Wehe, daß der
Geist der Finsternis Menschen umfängt, die solch strahlendes Antlitz haben!
Lieblich sind die Locken ihrer Stirn, und doch entbehrt ihre Seele der ewigen
Huld. Wie heißt ihr Volk?" Man versetzte: „Sie werden Angeln ge-
nannt." Und er rief: „Mit gutem Fug; denn sie haben ein Engels-65
angesicht und sollten Miterben der Engel im Himmel sein." Darauf ging
er zum Papste, bat diesen, den Angeln einige Diener des Wortes zu senden,
und erbot sich selbst zu dem Werk.
Auch Sinn und Haltung der Deutschen flößten den verkehrenden Römern
Achtung ein: die Mannhaftigkeit, das Freiheitsgefühl, der Stolz. Die 70
Fremden galten für verständig und aufgeweckt, sie wußten in kluger Rede
Bescheid zu geben. Wenn deutsche Gesandte sich im Theater eigenmächtig
stuf die Ehrenplätze setzten, so gaben sie schnell dafür einen Grund an, der dem
Selbstgefiihl der Römer wohlthat. So oft der Germane mit dem Römer
handelte, trat der Gegensatz ihrer Naturen nicht zum Schaden des Deutschen 75
hervor. Gegeniiber dem eigennützigen und habgierigen Welschen, der scharf
daraus hielt, daß Leistung und Gegenleistung genau sei, nichts darunter und
darüber, legte der billige Sinn des Deutschen und sein freundliches Herz noch
eine Zugabe auf das zu Gewährende; er nahm und gab Geschenke als ein
hochsinniger Mann, dem nicht nur der Wert der Sache am Herzen liegt, 80
sondern auch die wohlwollende Meinung. Freilich sah der scharfe Blick des
Römers auch die Schwächen deutscher Natur, daß der Germane ein unmäßiger
Trinker war, und daß er auch bei nüchternem Mut waghalsig spielte wie ein
Trunkener. Aber bezeichnend ist doch, daß die Urteile der Römer und
spätern Griechen selten eine Abneigung gegen die gefährlichen Fremden ver-85
raten, häufig das Gegenteil.
Trotz alledem erweckten die deutschen Hünen Furcht; auch im ruhigen
Verkehr war ihrem Gemüte nicht zu trauen; denn sie waren leicht gereizt, ihr
26
gemächliches Behagen wurde unterbrochen durch plötzliche Ausbrüche wilder
90 Leidenschaft. Wenn sie einmal aufflammten, bedrohten sie mit Vernichtung, was
ihnen nahe kam, und diese deutsche Wut war schon im kaiserlichen Rom be-
rüchtigt, noch mehr im römischen Heere. Wenig beliebt war der Dienst gegen
die Germanen auch den kriegsharten Legionen; mehr als einmal weigerte ein
Heer den Zug gegen diese Barbaren; noch zur Zeit des Julian graute dem
95 Soldaten vor ihrem schrecklichen Schlachtgesang und unwiderstehlichen Ansturm;
denn auch im Kampf war der Germane weit anders als der Römer. Sich
vorsichtig decken, die Kraft sparen, unnützes Wagnis vermeiden, jede Gunst
des Bodens benutzen, den Rückzug offen halten, aus jedem Lager eine
Festung bilden — war römische Kriegskunst. Wild anstürmen, sich rücksichtslos
100 aussetzen, sorglos der Tapferkeit des einzelnen und dem Schreck, den man dem
Feinde einjagte, vertrauen — war deutsche Art. Der römische Soldat schützte
bei dem Kampf Haupt und Schultern mit Eisen, den Leib mit dem Leder-
wams. Der germanische Fußkämpfer warf vor der Schlacht seine Kleider
ab und kämpfte zuweilen nackt bis auf den Schurz über den Lenden, trotzig
105 mit bloßer Brust dem feindlichen Geschoß entgegendringend. Wenn andere Völker
einmal einen Sieg über römische Heere erfochten, so verdankten sie ihn strate-
gischer Kunst ihres Feldherrn oder ihrer leichten Beweglichkeit, ferntreffenden
Pfeilen und flüchtigen Rossen. Bei den Deutschen war die ganze Kraft bei
dem Fußvolk, gerade wie bei den Römern, und ihre Schlachtordnung und
HO Aufstellung war mangelhaft. Aber die Hauptsache verstanden sie wundergut;
sie rückten dem Gegner dicht auf den Leib, schmetterten schwere Wurfwaffen
auf seinen Schild und fuhren in mächtigem Sprunge nach, das Schwert in
die feindliche Brust stoßend. Ihnen war der Kampf wie ein Fest, sie
schmückten und banden dazu ihre lockigen Haare wie Mädchen, er war zu-
115 gleich eine religiöse Feier, mit Gesang zu ihrem Gott brachen sie in die
Feinde. Wohl wußte der Römer, daß ihre Dauer in der Schlacht nicht so
groß war als ihre Wucht, die riesigen Leiber schmolzen in der Hitze des
Kampfes, zumal im südlichen Lande.
Auch der römische Politiker bemerkte, daß etwas in dem Gemüt der
120 Germanen ihrem Gegner leicht machte, sie zu entzweien und zu verleiten.
Ihre Führer galten ihm zum Teil für verschlagene Männer, und sie wurden
zuweilen unberechenbar, weil in ihnen deutsche Wildheit aufflammte, jäher
Zorn und alles zerstörender Grimm, und weil sie einem phantastischen Zuge
ihres Gemütes unterworfen waren, den sie Treue nannten. Aber sie waren
125 auch von billigern Sinne, zum Vertrauen geneigt, durch kluge Gründe be-
stimmbar und der Schmeichelei zugänglich. Sie waren stolz; wer den An-
spruch erhob zu führen, ordnete sich schwer unter und vergaß im gekränkten
Selbstgefühl, was der Vorteil seines Volkes war. Ihr hochfahrender Geist
machte den Verkehr mit ihnen unbequem, aber er bot einem klugen Manne
130 doch in der Regel Gelegenheit, Einfluß zu gewinnen. Daneben freilich sah der
Römer auch die nationalen Vorzüge: Gehorsam der Kinder, Hingabe der
einzelnen an frei gewählte Verpflichtung, Frömmigkeit, feste Sitte und ge-
heiligten Rechtsbrauch in der Gemeinde, Teilnahme aller Freien an den poli-
tischen Interessen der Landschaft, trotz der Dürftigkeit des nordischen Haus-
halts eine Fülle von idealen Empfindungen, und was das Gefährlichste
war, innere Zustände und festgewurzelte Neigungen, welche diesen Kräftigen
den Zwang auflegten, sich erobernd auszubreiten.
Gustav Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Ges. Werke. 1*88. 17. 33.©. 48 ff.
Vgl. Jul. Lohmeyer, Wandbilder f. d. gesch. Unterricht: 7. Die Schlacht im Teuto-
burger Walde. — Ad. Lehmann, Kulturgeschichtl. Bilder: Germanisches Gehöfte.
7. Altdeutsche Kampsspiele (357 n. Chr.)
Ingo, der aus seinem Reiche vertriebene Sohn des Vandalenkönigs Ingbert, kommt,
nachdem er 357 mit den Alamannen unglücklich gegen den römischen Cäsar Julian bei
Straßburg gekämpft hat, als Flüchtling in die Grenzmark der Thüringer, wo er bei einem
Freunde seines verstorbenen Vaters, dem Fürsten Answald, gastliche Aufnahme findet.
Bei einer Festversammlung werden nach dem Mahle von den Jünglingen vor der Fürsten-
halle Kampfspiele veranstaltet, an denen auch Theoduls, ein Verwandter des Fürsten
Answald, und Ingo, der als Königssohn noch nicht bekannt ist, sich beteiligen.
Die Häupter des Volkes nahmen gewichtigen Platz auf den Sesseln
der Bühne und begannen ernstes Männergespräch, während der Schenk und
die Diener in langer Reihe einzogen. Diese trugen in Hvlzkannen den Früh-
trullk und behagliche Zukost: weiße, gewürzte Brotkuchen und Fleisch aus dem
Rauchfang.
Unterdessen rüsteten die Jungen ungeduldig auf dem Rasengrund vor
dem Hofe die Bahn zu kriegerischem Spiele. Die Knaben des Dorfes begannen
den Kampf, damit auch sie das Lob der Krieger erwarben; sie rannten nach
dem Ziele, sprangen über ein Roß und schossen mit deni Rohrpfeile nach der
Stange. Bald aber ergriff der Eifer die Jünglinge; sie warfen die Speere,
sie schlenderten den schweren Felsstein und sprangen ihm nach, und als Theo-
dulf in mächtigem Schwünge den schwersten Stein geworfen und den wei-
testen Sprung gethan, klafterweit über die andern hinaus, da erscholl lautes
Jauchzen bis zur Halle. Und die Alten und Weisen des Volkes behielt es
nicht länger auf ihren Sitzen, auch sie eilten zur Schau auf den Rasen. Groß
wurde der Ring der Zuschauer, die Weiber des Dorfes standen in ihrem Fest-
schmuck, gesondert die Männer, und im Umkreis klang immer lauter der Zuruf
und das Lob der Sieger.
Unter den Schauenden stand Ingo und achtete schweigend ans die be-
hende Kraft. Da trat zu ihm Jsanbart, ein alter Häuptling des Gaues,
betrachtete ihn prüfend und begann feierlich, so daß die Rede der andern
verstummte: „Auch in deinem Volke, Fremdling, woher du auch stammst, übt
sich wohl der junge Krieger in Sprung und Waffen? An deinem Auge und
Arme sehe ich, daß du des Spiels nicht ganz unkundig bist; vielleicht gefällt
dir's, unsern jungen Männern zu zeigen, was in deiner Heimat Brauch ist,
wenn du auch nicht die Kunst eines Häuptlings verstehst. Bist du aus dem
Ostlande, wie ich vernehme, so vermagst du wenigstens die Holzkeule zu
schwingen; auch dieser Wurf erweist die Kraft des Mannes, obgleich meine
Landgenossen ihn wenig üben. In der Halle sah ich über dem Sitz des
Wirtes ein solches Holz." Ingo antwortete dem ehrbaren Greise: „Wenn
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mir's der Fürst gestattet und die Häupter des Volkes, so will ich versuchen,
was ich ehedem gelernt."
Der Fürst winkte, einer ans dem Gefolge sprang nach den: Hofe und
trug eine Waffe aus Eichenholz herzu, vom Griffe nach rückwärts gekrümmt,
3b vorn mit scharfer Schneide. Die Keule ging von Hand zu Hand, lachend
wogen die Männer das leichte Werkzeug. „Eine Waffe, dieser ähnlich, trügt
unser Sauhirt, um Wölfe zu schlagen," rief Theodulf verächtlich; aber Jsan-
bart der Greis entgegnete strafend: „Du sprichst thöricht; ich sah von solchem
Holz, nicht so schwer als dies, einen Schädel brechen wie einen Thonkrug."
40 Und er legte die Keule dem Wirt in die Hand.
„Wer jemals in den Ostmarken über eine Walstatt geritten ist," sprach
der Fürst, „der kennt die Wunden, welche dieser Knorren schlägt. Doch von
alten Kriegern habe ich gehört, daß ein Geheimnis in dem Holze liegt, und
daß man schwer des Wurfes mächtig wird; denn tückisch soll es dem Unvor-
4b sichtigen das eigene Haupt treffen. Nicht unwert ist dieses Holz der Hand
eines Edlen; denn es war vorzeiten eines Königs Waffe, und mein Vater
brachte sie aus der Fremde heim."
„Dann soll sie ihre Kunst dem Sohne erweisen," rief Ingo freudig
und faßte darnach. Mit kurzem Armschwung warf er die Keule, sie flog
50 in krausem Bogen durch die Luft; doch als alle meinten, daß sie zu Boden
schlagen würde, fuhr sie, wie durch eine Schnur gezogen, wieder nach dem
Manne zurück; er packte sie in der Luft am Griffe und warf sie wieder
hierhin und dahin, immer schneller, und immer kehrte sie gehorsam vom
Schwünge in seine Hand. So mühelos und lustig schien das Spiel mit dem
55 Eichenkloben, daß die Zuschauer näher traten und lautes Gelächter durch den
Kreis ging.
„Das ist ein Gaukelspiel des fahrenden Mannes!" rief Theodulf ver-
achtend. „Es ist eines Mannes Handwehr," versetzte der Fremde entgegen;
„schwerlich ist dein Schädel fester als diese Eisenkappe." Er sprach zu Wolf steinen:
60 dienenden Begleiters, und dieser legte in Weite eines Speerwurfs einen alten
Eisenhelm auf einen Pfahl. Der Fremde maß das Ziel, wog die Waffe in
schwingender Hand, warf sie in: Bogen nach den: Helme und sprang in gewaltigen:
Satze nach. Laut krachte das berstende Metall, und doch fuhr die Keule wieder
zurück, und wieder packte sie Ingo mit starker Hand und hielt sie hoch. Ein
65 Ruf des Erstaunens scholl in den: Ringe, ein Hanfe sammelte sich neugierig
um den zerschlagenen Helm.
„Wohlan," begann Theodulf herablassend, „hast du uns deine Gewohn-
heit gezeigt, so versuch es auch mit unsern: Brauch! Führt den Springern
die Rosse heran!"
70 Zuerst wurden zwei Rosse nebeneinander gestellt, Kopf an Kopf und
Schweif an Schweif. Die Springer traten zurück und schwangen sich mit
kurzen: Anlaufe hinüber. Fast allen glückte der Sprung, aber bei drei
Rossen gelang er nur einer kleinen Zahl, und über vier sprang Theodulf
allein, und als er hinter den Rossen zun: Haufen der andern zurücktrat, sah
75 er herausfordernd den Fremden an und winkte mit der Hand zur Folge.
29
Der Fremde neigte das Haupt ein wenig und that denselben Sprung so sicher,
daß das Feld vom Beifalle widerhallte. Da rief Theodulf das fünfte Roß
heran zum schweren Sprung; nur selten vollbrachte ihn einer der Behendesten.
Aber der Thüring war gereizt und entschlossen, das Äußerste zu thun. Er
selbst ordnete die Pferde anders, daß der Schimmel als fünfter stand, dann 80
sah er um sich, empfing den Zuruf seiner Freunde und wagte den mächtigen
Sprung. Und er kam hinüber, nur daß er beim Niedertauchen mit seinem
Rücken den Schimmel streifte. Aber während er vortrat und sich über das
Jauchzen des Volkes freute, tönte noch lauterer Zuruf hinter ihm, und um-
gewandt sah er den Frenlden, der diesmal schnell und mühelos in seinem 85
Rücken den Sprung vollbrachte. Der Thüring erblich vor Zorn, er ging
schweigend an seinen Platz und mühte sich vergebens, den Neid herabzu-
drücken, der ihm aus den Äugen brach. Die Alten aber traten zu dem Frem-
den und rühmten seine Kunst, und der alte Häuptling begann: „Ich erkenne,
Fremder, wenn mich nicht deine Gebärde täuscht, du bist nicht unkundig des 90
Schwunges auch über sechs Rosse, den sie Königssprung nennen, und der
nicht in jedem Menschenalter einem Helden gelingt. Ich sah ihn einmal,
da ich jung war, mein Volk niemals." Und er rief laut: „Führt das sechste
Roß heran!" Da erhob sich im Kreise Gemurmel, und die Entfernten
drängten näher herzu, während die Jünglinge eilten, das Roß zu stellen. 95
Neben Ingo aber trat die Fürstin; sie war bekümmert um die Niederlage ihres
Verwandten und sprach leise zu dem Gaste: „Erwäge, Held, leicht trifft der Pfeil
des Jägers den Auerhahn, wenn er, die Flügel breitend, seine Stimme erhebt."
Aber Ingo sah auf Irmgard i bie Tochter Answaldsj, welche in froher Erwar-
tung hinter der Mutter stand und ihn freundlich anlachte, und er antwortete 100
mit heißen Wangen: „Zürne mir nicht, Herrin! Ich bin gefordert, nicht habe
ich mich in den Kampf gedrängt; ungern entsagt der Mann der angebotenen
Ehre." Er trat rückwärts zum Sprunge, hob sich gewaltig in die Luft und
vollbrachte den Schwung, daß alles Volk jauchzte. Und da er zurückkehrte,
achtete er nicht auf die unwillige Miene der Fürstin; er freute sich, daß ihm 105
die Kunst gelungen war, und daß Irmgards Angesicht rosig erglänzte. Lange
wogten die Zuschauer durcheinander, sprachen über die Kühnheit des Fremd-
lings und rühmten ihn, bis dem Wettkampfe der Männer andere Ziele ge-
setzt wurden. Ingo stand fortan still neben den Häuptlingen, und niemand
forderte ihn zu neuem Streit. 110
Gustav Frey tag. Die Ahnen. I. Abtlg. Ingo nnd Ingraba». Ges. W. 1887. 8. B. S. 26 ff.
8. Ein Heerding der Alamannen (378 n. Chr.).
Den Helm auf dem Haupte und vollgerüstet trat der Herzog Hariowald
aus seinem Zelte und winkte einem der Fronboten, welche stets seines
Gebotes warteten. Der ergriff das lange, gekrümmte Horn des Auerstiers,
das an einem Zeltpfosten bereit hing, und stieß dreimal darein. Ein weithin
dröhnender Ruf erscholl. Alsbald eilten die übrigen Fronboten, weiße Eschen- 5
stäbe in den Händen, mit kleinern Hörnern, welche sie an Riemen über der
30
Schulter trugen, nach allen Richtungen von der Kuppe des Weihberges nieder,
durch alle Stockwerke der Ringwälle hinab bis an die äußerstell Verhacke
hin den Ruf des Herzogs tragend.
10 Da strömten von allen Seiten die Heermänner in ihren Waffen herbei
und stiegen eilfertig die Berghänge hinan; nur die unerläßlichen Wachen
blieben zrun Schutz der Sumpffurten, der Verhacke, der schmalen Zugänge
der Ringwälle zurück. Alles drang bergaufwärts und brauste, sowie die Kuppe
erstiegen war, zusammen gegen eine mächtige Esche, welche von dem Scheitel
15 der höchsten Bergspitze ihre Wipfel in die Wolken hob. Hart an ihrem Stamm
lvar eine Art von Richterstuhl gefügt aus großen Felsplatten: eine längliche
lehnte im Rücken gegen den Baum, eine ebenso lange, wagrecht über zwei
in die Erde gerammte Kniesteine gelegt, bildete den Sitz; mehrere Steinstufen
führten zu dem Hochsitz empor.
20 Noch hatte sich der Herzog nicht niedergelassen; vielmehr stand er auf-
recht auf der wagrechten Platte und musterte, den Speer in der Rechten, das
von allen Seiten herauf- und heranflutende Heervolk. Ein gewaltiger, läng-
licher, fast mannshoher Schild, rot, mit eingeritzten schwarzen Runen, hing
an einem Zweig der Esche ihm über dem Haupt.
25 Die ganze Hochfläche der Kuppe rings um den Baum war umfriedet
und umhegt von „Schnüren und Stäben", das heißt von Haselstäben und
Speeren, welche — letztere die ehernen Spitzen nach oben gekehrt — in Ab-
ständen von je sieben Fuß in die Erde gestoßen und untereinander verbunden
waren durch fast handbreite, um die Mitte der Stäbe geknotete Linnenbänder,
30 deren rote Farbe den Blutbann des Volksgerichts verkündete.
Nachdem sich das Gewoge der in den Kreis Drängenden, die lauten
Stimmen, das Klirren der Waffen ein wenig beschwichtiget hatte, hob der
Herzog den Speer und schlug damit auf den erzbeschlagenen Schild drei
feierlich gemessene Streiche. Da ward augenblicks tiefe Stille. „Das Heer-
35 ding ist geöffnet!" sprach Hariowald und ließ sich langsam nieder, im Sitzen
den einen Fuß über den andern schlagend. Er warf den dunkelblauen, langen,
weitfaltigen Mantel, der auf der linken Schulter von einer Spange zusammen-
gehalten war, nach rückwärts, lehnte den Speer wie einen langen Stab iiber
die rechte Schulter und sprach, die linke Hand mit ausgebreiteten Fingern
40 hebend, langsam:
„Ich, der Richter, ich frage um Recht! Ich frage die Freien:
Ist hier Stätte und Stunde, zu hegen und halten
gerechtes Gericht über edler Alamannen,
der Söhne des Sieges, Haus und Habe,
45 Vieh und Fahrnis, Eigen und Erbe,
Frieden und Freiheit, Leib und Leben?
Weiset, ihr Wissenden, der» Richter das Recht!"
Da traten vor zwei betagte Männer, zogen die Schwerter, hoben sie
gen Himmel und sprachen in langen Absätzen, daß Wort des einen mit Wort
50 des andern stets zusammenklang:
31
„Wir weisen, das mahl wir wissen.
JJVl UUV lui'ljl iUl
dir, Richter, das Recht:
unter der alten
Esche der Ahnen,
Dies ist Stätte und Stunde
in Wodans Weihtum
für gerechtes Gericht.
Ans eroberter und ererbter
über Vieh und Fahrnis,
Eigen und Erbe,
DO
altalamannischer Erde,
bei der siegenden Sonne,
der klimmenden, klaren.
Frieden und Freiheit,
Leib und Leben
richten wir Recht
schimmerndem Schein,
und finden, wir Freien,
echtes Urteil."
60
Beide traten zurück in den Ring. Der Herzog aber sprach: „Ehe wir
ziehen zum Kampf gegen den Landfeind — und bald, bald brechen wir ans —"
da brach brausender Jubel und Wassenlärm aus, den der Alte erst ver-
rauschen ließ, dann fuhr er fort — „muß das Heerding über Rechtsklagen Ur-
teil finden und Friedrechtshandlungen bezeugen. Zuerst über Fiskulf, den 65
Fischer aus Rohrmoos, der Schilfrodung. Wo ist der Bereder?" Adalv
trat zögernd vor. „Hier ich, Adalo, Adalgers Sohn." — „Tritt zur rechten!
Wo ist der Wehrer?" — „Hier!" sprach ein Mann in schlichtem, unschein-
barem Gewand; ein altes Fischernetz trug er statt des Gürtels; traurig den
Kopf hängend, trat er vor und schlug die Augen nieder. „Auf was geht 70
deine Klage?" fragte der Richter. — „Heerbannbruch!" — „Das geht an Haut
und Haar und Hals. Weiset mir das Recht! Mag Adalo, Adalgers Sohn,
hier solchen Klagrnf heben?" Einer der beiden Alten trat wieder vor und
sprach: „Das Heerding kennt Adalo, den Edeling, als freien, ungescholtenen
Mann, sein Odalgut sfreies Gut! liegt im Linzgan; es würde jeden Anspruch 75
wegen falscher Klage decken; er mag klagen auch um Haut und Haar und
Hals."
Auf einen Wink des Richters begann der Edeling: „Ungern erheb' ich
die Klage, wider Wunsch und Willen, doch heischt es mein Heereid. Denn
da ich den Befehl übernahm über die Hundertschaften vom Westsee, mußte 80
ich in des Herzogs Hand schwören, jeden Bruch seiner Banngebote, der da
geschähe in meiner Schar, zu rügen vor dem nächsten Heerding. So muß
ich bereden; denn ich scheue den schweren Schwur. — Ihr wißt alle, bei
seinem Blutbann hatte der Herzog verboten, daß auf den Kähnen, in welchen
die Landfliichtigen zuerst im Schilf des Westsees verborgen lagen, bei Tag 85
oder Nacht irgend ein Feuer entzündet werde; entdeckten die Walen, am
Seeufer voriiberziehend, durch Rauch oder Flamme, daß Leben in dem weiten
Schilfwald lebte, so konnte alles dort verborgene Volk verloren sein.
Nochmals wiederholte ich, da ich aufbrach, das Verbot des Herzogs allen
meinen Leuten; Fiskulf stand dabei an meiner Schildseite. Und doch hat 90
er auf dem Hechtstein, der aus dem Röhricht ragt, Feuer angemacht, während
die Feinde am Ufer hinzogen. Zwar war es Tag, aber der Rauch war
sichtbar. Schon machte die nächste Kohorte Halt und schickte sich an, dem Feuer
nachzuspüren, das ich mit Mühe rasch genug verlöschte, ihren Verdacht ein-
zuschläfern. Ich muß nun Fiskulf dieses Bannbruchs zeihen." 95
Der Klüger schwieg und that einen Schritt zurück. Ein Murren des
Unwillens lief durch die Reihen, von manchem lauten Ruf des Zornes, des
Vorwurfs durchbrochen. „Schweigt alle! Stille im Ring!" rief der Herzog
von feinem hohen Steinstuhl herab, den Speer erhebend, „bis ich euer Urteil
100 heische. Scheltwort verbiet' ich, Friede gebiet' ich! Du, Beredeter, was
setzest du gegen die Klage: Bestreitung oder Gestehung?" — „Gestehung," ant-
wortete der Gefragte traurig; „es ist, wie der Edeling sagte." — „Du kanntest
den Bann?" — „Ich kannte ihn." — „Du brachest den Bann?" — „Ich brach
ihn. Ach, ich schäme mich so stark! Aus Hunger geschah's, aber nicht,
105 meinen Hunger zu stillen. Viele Nächte schon lagen wir versteckt in dem
Schilfwald; verzehrt war der Vorrat von getrockneten Fischen, den ich in
dem Kahne mitgenommen hatte. Ich bezwang meinen Hunger und kaute das
jung aufgeschossene Schilf. Für mich, wahrlich, hätt' ich's nicht gethan! Aber
mein Bub', der mit mir war, erst kurz ist er von dem elbischen Fieber ge-
iiOnesen, das in dem Rohrmoos haust — er ist erst sieben Jahr — das Kind
weinte so bitterlich vor Hunger und bat und bat: „Vater, Vater, gib mir
zu essen!" Das zerschnitt mir das Herz! Ich speerte einen starken Hecht,
der nah dem Steine sich sonnte, ich zerschnitt ihn, ich wollte ihn dem Knaben
zu essen geben, ungekocht! Aber der Ekel würgte ihn, er weinte nun nur
115 noch still, er bat nicht mehr! Da rieb ich Feuer aus zwei trockenen Höl-
zern und briet den Fisch ans der Platte des Steins und gab dem Kind zu
essen. Und ich aß anch selbst."
„Ich mußte rügen," sprach Adalo; „aber ich bitte das Heerding, keine
Strafe zu sprechen über den Mann. Ist doch um der That willen kein
120 Schade geschehen! Ein Vater —" „Schweig, Kläger!" unterbrach ihn der
Richter; „du hast gerügt, er hat gestanden; du hast hier nichts mehr zu
thun als das Urteil zu vernehmen. Ich frage: Was steht auf Heerbann-
bruch, wann der Feind im Lande haust? — Wie? Ihr schweigt? — Das
ganze Volk konnte der Ungehorsam verderben? Wie? Ihr weigert mir, das
125 Recht zu weisen?" fuhr der Alte grimmig fort. „Oder solltet ihr Graubärte
nicht mehr wissen, was schon die Knaben lernen? — Gebt Bescheid, weiset
mir das Recht" — und drohend stand er ans — „oder ich reiße den Ding-
schild von der Esche und klage den Göttern: Die Alamannen haben
ihres Volksrechts vergessen! Was steht auf Heerverrat und Heerbannbruch?"
130— „Der Tod!" scholl es jetzt mit vielen Stimmen. „Ich wußte es," sagte
der Fischer schlicht; „lebt wohl, Landsleute! Sieg und Heil wünsch' ich euch."
Aber der Herzog fragte weiter: „Welches Todes muß er sterben? durch
Weidenwiede? durch Wasserwoge? durch rotritzendes Messer? oder durch rot-
brennendes Reisig?"
135 Da trat einer der beiden Alten wieder vor und sprach: „Er hat durch
die That Ziu, den Kriegsgvtt, gekränkt und Wodan, den Siegsender. Ziu
heischt Blick auf dem Opferstein, Wodan will ihn wehen wissen im Winde.
Wodan ist der größere Gott und Zins Vater; es weicht der niedere, es
weicht dem Vater der Sohn; Wodans Recht geht vor; der Bannbrecher ist
140 Wodan geweiht, er wird gehängt am Weidenstrang unter dem Kinn, das
33
Antlitz gen Mitternacht, an dürrer Eibe — ein Wolf ihm zur rechten und
ein Wolf ihm zur linken, des friedlosen, rechtlosen Rechtsbrechers ältestes
Abbild." — „Er ist Wodan geweiht," wiederholte der Richter feierlich, „wenn
Wodan ihn will! Fragen wir den Gott!"
Mit Staunen blickten alle, mit leiser Hoffnung der Verurteilte zu dem
Alten auf, der nun fortfuhr: „Schimpflich und fchandvoll ist es dem Manne,
zu schaukeln zwischen den Zweigen, zwischen Himmel und Hügel. Und er
war wacker bisher, nur gegen seines Kindes Weinen war er zu weich.
Nutzlos seinem Volke stirbt er, hängt er da hoch am Holze. Wohlan, fragen
wir Wodan, ob er vielleicht ihm vergibt! Wolltet doch ihr alle, wie
der Kläger selbst, zuerst die That ungestraft lassen! Das ging nicht an.
Dem Hohen muß sein Recht dargeboten werden, aber — vielleicht will er
es nicht nehmen. Ich rate: Fiskulf soll eine That wagen, in der er zu
seines Volkes Heil fällt, unmeidbar fällt, wenn nicht etwa Wodan selbst sich
seiner erbarmt und ihn rettend davonträgt in dem weithin wallenden Mantel."
„Sprich, rede, was darf ich thun?" rief der Mann mit leuchtenden
Augen. „Alles, alles, gern will ich den Speertod sterben, nur nicht den
Strang der Schmach!" — „Du sollst zuerst vor allen andern auf das stolzeste
Schiff des Römerführers springen und — du verstehst dich ja so gut darauf,
die Flamme zu wecken — Feuer werfen in seine Segel." — „Ja, ja! Das soll
er! Heil dem Herzog!" riefen da Tausende. Der Fischer aber sprang hart
an den Stuhl des Richters, hob beide Hände zu ihm auf und rief: „Dank
dir, Herzog I Ja, du kennst Wodans wahren Willen I Das größte Schiff
der Römer, das Feldherrnschiff in Arbor sjetzt Arbon am Bodensee), nicht? —
Wohlan! Ich weiß noch nicht, wie ich an das Schiff gelangen werde da
drüben; aber ich sterbe, oder ich vollbring's." Da sprach der Herzog: „Das
ist meine Sorge. Du sollst nicht zu jenem Schiff kommen, Wodan wird das
Schiff zu dir führen; dann thu, wie ich dir sage!" — „Gern, gern! O gebt
mir meine Waffen wieder!"
Auf einen Wink des Richters gaben Fronboten ihm seinen Speer und
seinen Schild, die mit F gezeichnet auf der Stufe beisammenlagen, zurück,
und er trat nun in den Ring der Heergenossen, von denen mancher sich nicht
scheute, ihm die Hand zu reichen.
Felix Dahn. Bissula. Historischer Roman aus der Völkerwanderung. 1884». S. 398 ff.
9. Autharis Werbung um Theodelinde (588 n. Chr.).
Die Langobarden waren zehn Jahre lang ohne König gewesen und
nur von ihren Herzogen regiert worden. Danach fanden sie es besser, einem
zu gehorchen als der Willkür vieler, und machten nach gemeinsamem Beschlusse
den Authari, den Sohn Klephs, zu ihrem Oberhaupte (im Jahre 584). Sie
gaben ihm den Beinamen Flavins, wie die beiden trefflichsten Kaiser des
römischen Reiches, Vespasianus und Titus, geheißen hatten, und er zeigte
bald, wie würdig er dieses Namens sei. Denn wunderbar in der That war
es unter seiner Herrschaft im Reiche der Langobarden: keine Gewaltthätigkeit
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Bd. IV. 3
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wurde verübt, keine geheimen Anschläge wurden gemacht, niemand wurde nn-
10 gerechterweise zu Frondiensten gezwungen, niemand plünderte, Diebstahl und
Räubereien fielen nicht vor, so daß jedermann, wie ihm gefiel, ohne Furcht
und Sorge leben konnte. Nach einiger Zeit schickte der König Flavins Au-
thari Gesandte nach Bayern und ließ durch sie um die Tochter des Herzogs
Garibald für sich werben. Garibald nahm sie freundlich aus und versprach, dem
15 Authari seine Tochter Theodelinde zu geben. Als die Gesandten mit dieser
Nachricht zu Authari zurückkamen, ergriff ihn das Verlangen, seine Braut
mit eigenen Augen zu sehen. Er erlas sich unter seinen Langobarden wenige,
aber rüstige Leute, gab ihnen einen ihm ganz treu ergebenen Mann zum
Führer und zog mit ihnen alsbald gen Bayern.
20 Als sie der Sitte gemäß vor den Herzog Garibald geführt worden waren und
jener, der das Haupt der mit Authari gekommenen Gesandten vorstellte, nach
der Begrüßung die gebräuchliche Anrede gethan hatte, trat Authari, der
von Person niemand am Hofe bekannt war, auf den Herzog zu und sprach:
„Mein Gebieter, der König Authari, hat mich eigens darum hergesandt, damit
25 ich Eure Tochter, seine Braut, die unsere künftige Herrin ist, sehen soll, auf
daß ich meinem Herrn Sicheres berichten könne, wie ihre Gestalt ist."
Wie das der Herzog hörte, so ließ er seine Tochter herbeiholen, und als
nun Authari sie schweigend angeschaut hatte, wie schön sie war, und sie ihm
in allem wohlgefiel, sprach er zum Herzoge: „Da uns die Gestalt Eurer
30 Tochter wohlgefällt und wir sie darum zu unserer Königin wünschen, so
möchten wir, falls es Eurer Herrlichkeit beliebt, einen Becher Weins aus
ihrer Hand entgegennehmen, wie sie ihn später bei den Gastmählern des Königs
uns reichen wird." Der Herzog willigte ein, daß es so geschehe, und Theode-
linde reichte den Becher zuerst jenem, der das Haupt zu sein schien, und
35 hierauf dem Authari, von dem sie nicht wußte, daß es ihr Bräutigam sei.
Als dieser getrunken hatte und ihr nun den Becher zurückgab, berührte er,
ohne daß es jemand bemerkte, ihre Hand mit dem Finger und strich ihr mit
seiner Rechten von der Stirn über die Wangen herab.
Ganz beschämt erzählte das Theodelinde ihrer Amme. Da sagte diese
40 zu ihr: „Wenn dieser Mann nicht der König selbst und dein Bräutigam
wäre, so hätte er auf keinen Fall dich zu berühren gewagt. Laß uns einst-
weilen stille sein, damit dein Vater nichts davon erfahre; denn wahrlich,
es ist ein Mann, der es wohl verdiente, König zu sein und dein Gemahl zu
werden!" Es blühte aber damals Authari in jugendlichem Mannesalter,
45 war von edler Gestalt, hellgelocktem Haare, rötlichem und schönem Antlitz.
Bald darauf machten die Longobarden sich mit königlichem Geleite wieder
auf den Heimweg. Als nun Authari in die Nähe der Grenze von Italien ge-
kommen war und die Bayern, die ihm das Geleit gaben, noch um sich hatte,
erhob er sich auf seinem Rosse, so hoch er konnte, und warf mit aller Macht
50 die Streitaxt, die er in der Hand trug, in einen nahe stehenden Baum, ließ
sie darin stecken und sprach die Worte: „Solche Streiche führt Authari!" Wie
er das gesprochen, da erkannten die Bayern, die ihm das Geleit gaben, daß
er der König Authari selber sei.
Als nun nach einiger Zeit Garibald durch feindlichen Einfall der Franken
in Not kam, floh Theodelinde mit ihrem Bruder Gnndoald nach Italien und
ließ ihrem Verlobten ihre Ankunft melden. Der ging ihr sogleich in statt-
lichem Aufzuge zur Hochzeit entgegen und traf sie auf dem Sardisfeld ober-
halb Verona, wo am fünfzehnten Tage des Wonnemonats unter allgemeinem
Jubel die Hochzeit gehalten wurde.
Ferdinand Bäßler. Sagen ans der Geschichte des deutschen Volkes. 18752. S. 50 ff.
10. Karl der Große.
Karl der Große war — nach dem Bilde, welches fein vertranter Ge-
heimfchreiber Einhard in feiner Biographie von ihm entworfen hat — von
großem, starkem Körperbau und zeichnete sich durch seinen hohen Wuchs
ans, welcher jedoch das rechte Maß nicht überschritt; denn feine Länge betrug
bekanntlich sieben seiner Füße. Sein Hinterhaupt war rund. Er hatte große,
feurige Angen, eine etwas große Nase, schönes Silberhaar und ein lächelndes,
heiteres Angesicht. War er zornig, so hatte sein Blick etwas Durchbohrendes,
Schreckliches. So zeichnete sich seine Gestalt, mochte er stehen oder sitzen,
durch ungemeine Würde ans, und obgleich fein fetter und kurzer Nacken und
fein starker Unterleib etwas auffielen, so wurden sie doch durch das Ebenmaß
der übrigen Glieder ausgeglichen. Er schritt fest einher, seine ganze körper-
liche Haltung war männlich. Seine Stimme war hell und seiner Körpergröße
weniger angemessen. Er erfreute sich einer guten Gesundheit, nur daß er
vier Jahre vor seinem Tode häufig an Fiebern litt und zuletzt auch an einem
Fuße lahm wurde. Der kaiserliche Ornat, den er trug, wiirde durch sein
Gelvicht einen Mann der heutigen Zeit zu Boden drücken. Bei einer solchen
Körpergröße und Kraft erscheint es Übrigens nicht eben zu märchenhaft, wenn
erzählt wird, daß er einen Sarazenen mit einem Schwerthiebe spaltete oder
Hufeisen zerknickte; that dies letztere doch auch August der Starke von Sachsen
(1694——1733], wie vielfach berichtet wird!
Über Karls Lebensweise berichtet Einhard, daß er selbst in der letzten
Zeit der Fieberanfälle mehr nach eigenem Ermessen handelte, als daß er die
Ratschläge der Ärzte befolgte, die er überhaupt nicht sehr leiden mochte,
da sie ihm statt des gebratenen Fleisches, das er gewöhnlich aß, gekochtes
anempfahlen. Er ritt und jagte häufig, wie es bei den Franken Sitte
war; denn „keine Nation," sagt Einhard, „findet sich ans Erden, welche in
diesen Künsten es den Franken gleichznthnn vermöchte." Auch bediente er
sich gern der natürlichen warmen Bäder und übte seinen Körper häufig durch
Schwimmen, worauf er sich so gut verstand, daß es ihm keiner zuvorthun
konnte. Ans diesem Grunde erbaute er auch zu Aachen sdem altberühmten
Badeortes einen Palast und residierte daselbst die letzten Jahre seines Lebens
bis an seinen Tod ununterbrochen. Er lud nicht nur seine Söhne, sondern
auch seine Großen und Freunde, ja wohl manchmal sogar seine Trabanten
und seine Leibwache znm Bade ein, so daß dann hundert und mehr noch zu-
sammen mit ihm badeten.
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Er kleidete sich nach väterlicher Sitte, d. h. fränkisch, und trug un-
mittelbar auf dem Körper ein leinenes Kamisol sWamss und leinene Beinkleider,
darüber einen Rock mit einer seidenen Einfassung und dazu Strümpfe. Die
Beine gürtete er mit Binden, und die Füße schützte er durch Schuhe. Im
40 Winter verwahrte seine Brust und Schultern ein Panzer von Fischotter- und
Marderfellen. Darüber warf er einen venetianischen Mantel. Stets trug
er ein Schwert an seiner Seite, welches einen goldenen oder silbernen Knopf
und ein ebensolches Wehrgehenk hatte. Bisweilen bediente er sich auch
eines mit Edelsteinen besetzten Schwertes; doch that er dies nur bei besonders
45 feierlichen Veranlassungen, oder wenn fremde Gesandte an seinen Hof kamen.
Ausländische Kleidung, und wenn sie noch so schön war, mochte er nicht
leiden und zog nie eine solche an, ausgenommen daß er einmal zu Rom
auf Bitten des Papstes Hadrian und wiederum auf die Leos in einer langen
Tunika sdem römischen Untergewandes und einem griechischen Oberkleide und
50 auch mit Schuhen, nach römischer Sitte gemacht, erschien. Bei Festlichkeiten
aber trug er ein golddurchwirktes Kleid und mit Edelsteinen besetzte Schuhe;
eine goldene Schnalle befestigte seinen Mantel, und sein Haupt war mit einer
goldenen, mit Edelsteinen verzierten Krone geschmückt. Für gewöhnlich unter-
schied sich sein Anzug wenig von der schlichten Kleidung eines seiner Unterthanen.
55 In Speise und Trank war er mäßig, indem er die Trunkenheit an
jedem andern, um so mehr an sich selbst und den Seinen verabscheute.
Wenn einer betrunken war, mußte er so lange Wasser trinken, bis er wieder
nüchtern wurde, und vor Gericht durfte kein Betrunkener erscheinen; Richter,
Zeugen und Schwörende — so verordnete er — sollen nüchtern sein. —
60 Einhard fährt fort: Das Fasten konnte er, wie er klagte, nicht gut ver-
tragen, sondern es schadete seinem Körper. Selten schmauste er und vorzugs-
weise nur bei Festen, dann aber in großer Gesellschaft. Auf seine Tafel
kamen täglich nur vier Schüsseln außer dem Braten, den die Jäger auf
den Spießen brachten, und den er lieber aß als alles andere. Während der
65 Tafel liebte er Kurzweil oder ließ sich etwas vorlesen. Namentlich ließ er sich
aus der Geschichte die Begebenheiten alter Zeit vorlesen. Auch die Bücher des
heiligen Augustin, insbesondere die „von dem Staate Gottes" (de civitate
dei), liebte er sehr. Wein und Getränke überhaupt genoß er so mäßig,
daß er über Tafel selten mehr als dreimal trank. Wenn es Früchte gab,
70 dann genoß er zum Nachtische etwas davon, trank noch einmal, legte dann
seine Kleidung und Schuhe wie zur Nachtzeit ab und ruhte zwei bis drei
Stunden. Sein nächtlicher Schlaf war nicht fest; er erwachte vier- bis fünf-
mal und stand auch aus dem Bette auf. Während er sich ankleidete, empfing
er nicht nur seine Freunde, sondern er ließ auch, wenn der Pfalzgraf be-
75 richtete, daß es einen Streit gebe, welcher ohne seinen Befehl nicht ge-
schlichtet werden könne, die Streitenden sogleich hereinführen und sprach
dann, wie wenn er auf dem Richterstuhle säße, das Urteil. Nicht allein
dergleichen Dinge aber, sondern alles, was an dem Tage sonst vorgenommen
werden sollte oder irgend einem seiner Diener aufzutragen war, machte er
80 während jener Zeit ab.
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Er besaß eine überströmende Beredsamkeit und vermochte alle seine Ge-
danken aufs klarste und deutlichste auszudrücken. Nicht allein aber verstand
er seine Muttersprache zu reden, sondern er hatte auch fremde erlernt, von
denen er die lateinische so sprach, daß er sich ihrer ebenso gut bedienen konnte
wie seiner Muttersprache; die griechische jedoch verstand er besser, als daß er
sie reden konnte. Er war so gewandt im Ausdrucke, daß er sogar als Lehrer-
auftreten konnte.
Künste und Wissenschaften pflegte er sorgsam, hielt die Lehrer derselben
hoch und verlieh ihnen große Ehren. In der Grammatik unterwies ihn der
Diakonus Peter von Pisa, ein Greis. In den übrigen Wissenschaften hatte
er den Albin, auch Alkuin genannt, einen Diakonus aus England von säch-
sischer Abkunft, einen ungemein unterrichteten Mann, zum Lehrer; auch
Rhetorik und Dialektik hörte er bei ihm, vorzüglich aber verwandte er viel
Zeit und Mühe darauf, von ihm sich in der Astronomie unterweisen zu lassen.
Er lernte die Rechenkunst, und mit großem Scharfsinne berechnete er den
Lauf der Sterne. Auch mit der Schreibekunst versuchte er es und hatte zu
diesem Zwecke unter seinem Kopfkissen stets eine Tafel und Bücher, um, wenn
er Zeit hatte, seine Hand in dem Malen der Buchstaben zu üben; aber diese
sehr spät angefangene Arbeit ging ihm schlecht von statten.
An der christlichen Religion, in welche er von Jugend auf eingeweiht
war, hing er mit der innigsten Frömmigkeit und baute deshalb zu Aachen
den ausgezeichnet schönen Dom, den er mit Gold und Silber und mit ganz
aus Erz verfertigten Gittern und Thüren schmückte. Da er die Säulen und
den Marmor zu seinem Aufbau in seinem Reiche nirgends haben konnte, ließ
er sie von Rom und Ravenna kommen. Die Kirche besuchte er früh und
abends, ja sogar bei Nacht, und zur Zeit des Meßopfers regelmäßig, wenn
es nur irgend seine Gesundheit gestattete, und trug die größte Sorge dafür,
daß alle kirchlichen Handlungen mit dem größten Anstande verrichtet wurden.
Johann Friedrich Schröder. Geschichte Karls des Großen. 1850. S. 154 ff.
Vgl. Jul. Lohmeyer, Wandbilder für den geschichtl. Unterricht: Karl der Große
empfängt eure maurische Gesandtschaft.
11. Die Sage von Herzog Tassilo in Lorsch.
Es geschah, daß Kaiser Karl der Große zu streiten kam nüt Tassilo,
dem männlichen Bayernherzog, der sein ganz naher Verwandter war. Und
da der Herzog großes Unrecht auf Anreizung der Widersacher Karls verübt
hatte, so ließ Karl ihm eine entsetzliche Strafe zu teil werden. Er ließ den
Agilolfinger blenden, was dadurch geschah, daß dieser gezwungen ward, auf
einen seinen Angen nahe gebrachten, im Feuer glühend gemachten Schild
zu sehen, bis ihm das Licht der Augen dunkel ward und gar verging. Sein
langes Haar wurde vor dem Throne ihm abgeschnitten, und er zum Mönch
geschoren. Dann sollte er nach des Kaisers Gebot eingethall werden in ein
Kloster, damit er büße und bete sein Leben lang.
Darauf nach langen Jahren begab es sich, daß einstmals Kaiser Karl
gen Lauresheim, das ist Lorsch ;unweit Worms!, in das Kloster kam. Er
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hatte den Herzog Tassilo längst vergessen. Als er sich nun gedrungen fühlte,
zur Nachtzeit im Münster daselbst zu beten, da nahm er mit Staunen wahr,
15 wie ein Mönch durch den Kreuzgang unsichern Trittes wandelte. Derselbe war
blind; ihm zur Seite aber ging ein lichtumflossener Bote Gottes, der ihn
leitete. Des Greises Züge kamen dem Kaiser bekannt vor; doch konnte er sich
seines Namens nicht entsinnen. Und der Mönch ward von Altar zu Altar ge-
leitet und betete an jedem und schritt dann mit seinem überirdischen Führer
20 still zurück. Darauf entbot der Kaiser am andern Morgen den Abt des Klosters
Lorsch zu sich und fragte ihn, welchen Mönch er im Kloster habe, dem ein
Engel diene. Der Abt erstaunte und wußte nichts zu sagen, folgte aber des
Kaisers Gebot, in nächster Nacht mit ihm des Mönchs zu harren.
Da geschah es ganz so wie in der vorigen Nacht, daß der blinde Mönch
25 wieder kam und der Engel ihn geleitete. Und der Kaiser, gefolgt von dem Abte,
ging, als der Mönch gebetet hatte, dem Mönche und dessen Führer nach, und sie
trafen den Mönch allein in seiner Zelle. Der Abt kannte den Mönch aber nur
unter seinem Klosternamen und wußte nichts weiter von ihm. Nun sprach
der Abt ihn an, zu sagen, was er vordem in dem weltlichen Leben gewesen,
3Ound nichts zu verhehlen und zu verschweigen; denn sein Herr und Kaiser
sei es, der vor ihm stehe. Da sank der blinde Mönch zu des Kaisers Fiißen
nieder und sprach: „O Herr! Viel habe ich gegen dich gesündigt, und meine
Buße währet für und für. Tassilo war ich vordem geheißen." Da hob
ihn der Kaiser gnädiglich auf und sprach: „Schwer hast du gebüßt und härter,
35 als mir lieb ist; all deine Schuld sei dir vergeben!" Da küßte der blinde
Greis des Kaisers Hand und sank zur Erde und verschied. Im Kloster
Lorsch ruht sein Staub.
Ferdinand Bäßler. Sagen aus der Geschichte des deutsche» Volkes. 18752. S. ¡¡00 ff.
12. Heinrichs 1. Bestrebungen zur Wehrhaftmachung seines Volkes.
Jahr auf Jahr wiederholten sich [im Anfange des 10. Jahrhunderts
die Einfälle der Ungarn, und Deutschland seufzte schwer unter der Last ihrer
Verwüstungen. Auch unter Heinrichs Führung wurden die Deutschen von ihnen
geschlagen und zwar so sehr, daß eine der Chroniken des sächsischen Königs-
5 geschlechtes sagt, sie wolle nicht durch Wiedererzählung des Unglücks dasselbe
erneuen.
Als die Ungarn 924 auch wieder ins Sachsenland vordrangen, war
Heinrich in der Burg Werla nicht weit von Goslar; einige aber meinen,
daß Goslar selber damals Werla geheißen habe. Dort hielt der König sich
10 in der Burg; denn die Ungarn waren zu unvermutet gekommen, und sein
Heer war zu klein und des Kampfes zu wenig erfahren, als daß er eine
offene Feldschlacht gegen die Ungarn hätte wagen dürfen. Zufällig aber traf
es sich, daß in einem Scharmützel ein Fürst der Ungarn gefangen und zu
König Heinrich geführt wurde. Diesen Anführer hatten die Ungarn so lieb,
15 daß sie als sein Lösegeld eine schwere Last Goldes und Silbers boten; aber
nicht um Gold und Silber war es Heinrich zu thun, sondern um den Frieden,
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und nach langen Zwischenreden kamen sie überein, daß für die Herausgabe
des Gefangenen auf neun Jahre Waffenstillstand fein sollte.
Als nun so das Gemüt des Königs der nächsten Sorge entlastet war,
sann er nach, wie er diese Muße recht anwendete und sowohl das Reich be-
festigte als auch kriegerischen Mut und Zucht im Reichsheere wieder neu belebte.
Zuerst baute er Städte. Zwar gab es Städte im deutschen Lande den Rhein-
strom entlang am linken Ufer, wo schon die Römer befestigte Lager gehabt
hatten; auch in Sachsen waren schon einige Orte befestigt, wie die Eres-
burg, Paderborn, Soest, Magdeburg und einige andere, bei denen teils um
ihrer alten, angesehenen Kirchen willen, teils wegen der königlichen Pfalzen
die Menschen zusammenkamen; aber ihrer waren nicht viele, und am wenigsten
reichten sie gegen die Ungarn aus, die wie ein Sturmwind von Südosten
kamen und gingen. Was nun bis dahin wie zufällig geschehen war, daß sich
hier ein Ort und da ein Ort mehr erweiterte und dann befestigt wurde, das
wollte Heinrich nach festen Grundsätzen ausführen. So erbaute er Merseburg
und umgab es mit Mauern von Stein; ja, er errichtete dort eine steinerne
Domkirche, die alle Menschen anstaunten, weil man damals noch sehr wenig
Mauern von Stein hatte. Dann gefiel dem König ein Berg an der Elbe,
den ein Bach umschlängelte; er ließ den Wald ausroden, legte eine Burg
auf der Krone des Hügels an und nannte sie nach dem vorüberfließenden
Bache Meißen. Auch Ulm und Frankfurt gründete er und so noch viele
andere Städte oder vielmehr zuerst nur Burgen, die mit Wall und Graben
umgeben waren. Die Bewohner einer solchen Burg und ihre Schutzbefohlenen
wurden nach und nach Bürger genannt.
Aber die Deutschen ließen sich ungern in die Städte einschließen; denn
diese kamen ihnen vor wie Gefängnisse, und lieber weilten sie draußen frei
und ungehemmt im offenen Laude. Darum verorduete Heiurich, daß unter je
neun freigeborenen und also wehrhaften Männern einer in die Stadt ziehen
sollte. Nur der freigeborene Mann hatte erbeigenen Grundbesitz, der große
Haufe aber, der das Land baute für jene, war nicht frei; zwischen dem Freien
und dem Edlen war einst kein großer Unterschied. Unter jenem neunten Teile
der Bevölkerung aber sind die Unfreien nicht mitgerechnet; denn diese zogen
nach und nach in größern Haufen in die Städte. Bon jenen Freien oder
Adligen, die in die Städte zogen, kamen dann die Patrizier her oder die Ge-
schlechter, wie man sie auch nannte, die bis ins dreizehnte Jahrhundert hinein
allein die Regierung in Händen hatten, bis dann die ehemals Unfreien,
aus denen die Handwerker in den Städten erwuchsen, von den Geschlechtern
Anteil an der Verwaltung der gemeinsamen Stadt forderten und erlangten.
Als Heinrich die Städte gründete, kannte man die Handwerke noch nicht als
die Beschäftigungen einzelner Männer, sondern auf den Gütern und Höfen
der Adligen und Freien mußten die Unfreien arbeiten, ein jeder nach seinem
Geschick oder dem Willen seines Herrn. Diejenigen aber, welche in die Städte
gelangten, teilten sich in die Arbeit; ein jeder vervollkommnete sich in seinem
besondern Fache, und daraus erwuchs zuerst das einzelne Handwerk. Und als
die Menschen von gleicher Beschäftigung sich verbanden zu Gesellschaften, wie
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sich die Kaufleute einer Stadt schon längst, selbst schon unter Karl dem
Großen, verbunden hatten, erstanden die Zünfte, die Innungen, die Gilden,
die im Mittelalter so kräftig und so segensreich wirkten. Diese frühern Leib-
65 eigenen gelangten in die Städte teils durch Vergünstigung der Bischöfe und
Äbte sowie auch weltlicher Herren, welche die Geschicklichkeit ihrer Leute
fördern wollten, teils auch durch Flucht von den Gütern der Edlen. Darum
wirkten die Städte mittelbar mildernd ein auf die Behandlung der Leib-
eigenen, die sich ihren Herren durch die Flucht entziehen konnten. Der König
70 Heinrich aber fand ein vortreffliches Mittel, alle diese Menschen an die Städte
zu knüpfen und allen Ursache zu geben, häufig dahin zu kommen; denn er
verordnete, daß alle Versammlungen und Gerichte und Märkte und Gelage
in den Städten gehalten werden sollten. Alle aber, die in der Stadt waren,
mußten unablässig an den Mauern und Befestigungen derselben arbeiten, da-
75 mit im Frieden eine sichere Zuflucht bereitet würde gegen die nahende Gefahr
des Krieges. Auch Lebensmittel wurden in diesen Städten aufgehäuft, damit
zur Zeit der Not für alle Flüchtlinge genug da sei. Also gewährte der
Gedanke des weisen Königs Schutz gegen die Gefahr und ward der Keim
einer Zukunft, die der Urheber selber nicht ahnte; denn die deutschen Städte
80 des Mittelalters sind für menschliche Bildung und Gesittung die schönste Seite
desselben.
Aber der weise Herrscher wollte die Seinen nicht bloß anleiten zur
Verteidigung hinter Wällen und Mauern, sondern auch in offener Feldschlacht
sollten sie den Feinden sich gegenüberstellen. Dazu fehlten den Deutschen die
85 Reiter. Zwar zu den Zeiten Karls des Großen war das fränkische Reich
mächtig an eisengepanzerten Reitern, wie es uns ein Mönch von St. Gallen
erzählt; aber die innern Kämpfe unter den nachfolgenden Karolingern hatten viele
wehrhafte Männer hinweggerafft. Zu Heinrichs Zeiten kämpften die Deutschen
fast nur zu Fuß, und wenige besaßen Helm und Panzer. Schwerbewaffnete
90 trugen damals wie auch nachher eiserne Helme auf dem Haupte, die Brust war
umkleidet mit einem Wams, d. h. einem dichten leinenen oder hänfenen oder
aus anderm Stoffe zusammengenähten Kleidungsstücke, und darüber legte
man einen eisernen Panzer oder ein Panzerhemd an, das, aus eisernen, dicht
schließenden Ringen zusammengesetzt, Pfeilschüssen undurchdringlich war. Ein
95 also Bewaffneter zu Roß zerstreute leicht hundert unbewaffnete Menschen.
Solche Schwerbewaffnete saßen nämlich auf hohen, starken Rossen, und auch
diese waren wieder belegt mit einer Panzerdecke, aus eisernen Ringen zu-
sammengefügt. Dann hatteil die Reiter auch noch eiserne Beinschienen und
Stiefel und Handschuhe, fast ganz aus Eisen bestehend. Der Schild hing für
100 gewöhnlich an einem Riemen vom Halse nieder, die Lanze trug der Ritter
in der Hand, konnte sie aber auch am Sattel befestigen, daß sie gerade
aufstand.
Heinrich ermutigte nun die Seinen, sich wieder auf solche Weise aus-
zurüsten. Er ordnete aber an, daß nur der älteste der Söhne eines Vaters
105 beim Heere sein müsse, und darum sprach er auch nur dem ältesten beim Tode
des Vaters das Heergewüte, d. i. die Kriegskleidung zu. Darum erließ er
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aber nicht den andern Söhnen den Kriegsdienst auf alle Fälle, sondern gebot
vielmehr allen die Übung der Waffen.
Viele glauben, daß er die Turniere eingeführt habe, das ist die Art
der Kriegsspiele, in denen auf einem bestimmten, von Schranken rings um-HO
schlossenen Platze je zwei wohlbewaffnete Ritter mit eingelegter Lanze auf-
einander rannten und also ihre Kraft und Übung zu gleicher Zeit erprobten.
Wenn aber auch Heinrich durch das Anfeuern der Deutschen zum Reiterdienste
die Grundlage des Ritterwesens ebenso gelegt hat wie die des mittelalterlichen
Städtewesens, so ist doch nicht wahrscheinlich, daß gleich anfangs die Turniere 115
ganz so gehalten worden sind, wie sie sich in und nach den Kreuzzügen
ausgebildet haben. Die Bedeutung des Wortes „turnieren" ist ursprünglich
drehen und mag wohl bald auf die Übung angewendet worden sein, das Pferd
im Kreise herumzuwerfen.
Also machte der König Heinrich sein Volk wehrhaft. Aber bevor es mit 120
den Ungarn zum Kampfe kam, wollte er die Deutschen üben gegen einen ähn-
lichen Feind, das waren die Slaven im Osten Deutschlands zwischen Elbe und
Oder. O. Klopp. Geschichten und Charaklerzüge der deutschen Kaiserzeit. 1852. S. 7b ff.
Vgl. Lohmeyer, Wandbilder: Heinrich I. geht über das Eis der Havel zum Sturm
auf Brandenburg (928).
13. Ottos 1. Wahl und Krönung (936 n. Chr.).
1. „König Heinrich I., der erste Sachse auf dem deutschen Throne, war,"
so sagt ein Geschichtschreiber jener Zeit, „der größte König Europas zu seiner
Zeit, an geistigen und körperlichen Gaben keinem andern nachstehend; aber er
hinterließ einen Sohn, größer als er, und diesem Sohn hinterließ er ein
großes, weites Reich, das er nicht von seinen Vätern ererbt, sondern selbst 5
gegründet und allein Gottes Gnade zu danken hatte."
Als Heinrich nicht mehr war, da versammelten sich alsbald die Franken
und Sachsen zur Wahl des neuen Königs; denn waren früher die Franken
allein der herrschende Stamm im Reiche gewesen, so teilten sie jetzt die Macht
mit den Sachsen. Auf der Vereinigung dieser beiden Stämme beruhte die 10
Gewalt, die Heinrich begründet hatte; Sachsen und Frankeil bildeten gleich-
sam den Kern des Reiches, welchen die andern deutschen Länder, Schwaben,
Bayern und Lothringen, noch in loserm Zusammenhange umschlossen.
Hatte auch Heinrich schon Otto, seinen ältesten Sohn, als seinen der-
einstigen Nachfolger bezeichnet und die Zustimmung der Fürsten zu dessen 15
Wahl gewonnen, so war doch die Wahlhandlung selbst dadurch keineswegs
beseitigt, und schon mochten hie und da sich Zweifel regen, ob es geraten
sei, nach dem Willen des Vaters Otto auf den Thron zu erheben. Manche
legten Gewicht darauf, daß Heinrich, der zweite Sohn, erst nach seines
Vaters Thronbesteigung geboren war, während Otto, der vorher das Licht 20
der Welt erblickt hatte, nur zum Herzog von Sachsen bestimmt schien.
Der junge Heinrich selbst soll, als ihm Otto auf dem Reichstage zu Erfurt
durch die Wahl des Vaters vorgezogen wurde, erbittert und voll kindischen
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Trotzes die Worte gesprochen haben: „Edleres Blut rinnt in meinen Adern."
25 So gewiß auch Mathilde den letzten Willen ihres Gemahls ehrte und die
Pflicht der Mutter, den Frieden zwischen ihren Söhnen zu erhalten, nie ans
den Augen ließ, so gewiß hing doch ihr ganzes Herz an Heinrich, in dem
sie das Ebenbild des Vaters erblickte. Keiner der Jünglinge im Sachsenlande
kam ihm, der eben damals zu den Jahren der Mannbarkeit heranreifte, an
30 Schönheit gleich; mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit führte er die
Waffen, unermüdlich war er bei Mühen und Anstrengungen, und obwohl er
heißblütig und voll brennenden Ehrgeizes war, schien er in allem bedachtsam.
Wenn ein strenger Ernst, ein finsterer Zug schon von früher Jugend an seine
Stirn umdüsterte, so wußte man, daß er auch das vom Vater geerbt hatte,
35 dem nimmer ein leichtfertig Wort entflohen war, der selbst beim Spiele seine
gebietende Haltung niemals verloren hatte. Leicht gewann sich so Heinrich
wie einst sein Vater die Herzen der Menschen, und besonders sah man im
Sachsenlande gern auf den fürstlichen Jüngling, während sein älterer Bruder
nicht gleicher Gunst sich erfreute.
40 Denn in Otto regte sich ein anderer Geist, den die meisten für Stolz
lmb Hoffart hielten, und den selbst die Mutter lange nicht zu fassen ver-
mochte. Er zählte erst vierundzwanzig Jahre; doch ahnte man in ihm schon
den Mann, dem ein festes Regiment Bedürfnis war, der Ergebenheit und
Gehorsam unweigerlich verlangte, und der den Thron um mehr als eine
45 Stufe zu erhöhen gedachte. Mit Selbstgefühl trat er auf, sein Blick schweifte
hoch und weit, und hellstrahlende Tugenden konnte niemand in ihm ver-
kennen; vor allem mußte unerschütterliches Gottvertrauen, felsenfeste Treue
gegen seine Freunde und Großmut gegen gedemütigte Feinde jedermann an
ihm rühmen. Man sah ihn oft heiter und freundlich erscheinen. Er ergötzte
50 sich gern aus der Falkenjagd; da hörte man ihn wohl auf abgelegenen Pfaden
die lieblichsten Weisen singen. Offen trat er jedem entgegen, niemand zeigte
sich weniger mißtrauisch als er. Und doch erweckte seine Nähe mehr Bangig-
keit als Vertrauen. Brauste er in Leidenschaft ans, so war sein Zorn schreck-
lich, und selbst die ihm zunächst standen, haben ihn oft hart genug empfunden.
55 Mit Heinrich hatte er von frühester Kindheit an in Hader gelebt; nie wollten
die beiden ein und dasselbe. Die Sachsen, in denen das Gefühl für unbe-
schränkte Freiheit noch so lebendig war, fürchteten diesen Otto mehr, als sie
ihn liebten.
Wie so Neigung und Stimmung auch wechseln mochten, als es zur Wahl
60 kam, blieb man doch dem dem König Heinrich gegebenen Versprechen getreu,
und ohne Widerspruch wurde Otto von den Franken und Sachsen zum
König erwählt. Aber Diese Wahl, die in gleicher Weise erfolgte wie einst
die Wahl König Heinrichs, schien schon nicht mehr ganz den Verhältnissen
des Reiches zu entsprechen, und wohl Otto selbst verlangte nach einer voll-
65ständigern Anerkennung seiner königlichen Stellung. Man bestimmte daher:
zu Aachen, in der alten Kaiserburg Karls des Großen, hätten die Herzoge,
Grafen und die vornehmsten Reichsvasallen aus allen deutschen Ländern sich
zu versammeln, um die getroffene Wahl allgemein anzuerkennen und dem
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neuen Könige zn huldigen, der dann nach altem Branche gesalbt und gekrönt
werden sollte. ' 70
2. Und so geschah es am 8. August des Jahres 936. In der Säulen-
halle, welche die Kaiserpfalz mit dem Münster verband — beide hatte Karl
der Große erbauen und Marmor und Säulen dazu ans Rom und Ravenna
herbeischaffen lassen — stand der Marmorstnhl Karls des Großen, der Erz-
thron des Reichs. Hier versammelten sich die Großen ans allen deutschen 75
Landen, erhoben Otto ans den Thron und gelobten ihm unter Handschlag
Treue auf immerdar und Beistand gegen all seine Widersacher. So huldigten
sie ihm nach alter Sitte ans fränkischer Erde als Karls des Großen Nach-
folger und König der Franken. Deshalb hatte Otto auch sein weites säch-
sisches Kleid mit dem knappen fränkischen Gewände vertauscht. Nur als Franke 80
und auf fränkischem Boden, meinte man damals und hat man noch lange
nachher gemeint, könne der neue König die Krone empfangen; der König,
hieß es, hat fränkisches Recht, sobald er gekoren ist, von welchem Stamm er
auch geboren sein mag.
Nach der Huldigung begab sich Otto, von den Herzogen, Grafen und 85
Herren begleitet, in feierlichem Zuge zum Münster. Wer nach Aachen kommt,
wird diese Kirche noch heute dort sehen. In der Gestalt eines Achtecks steigt-
sie zu mächtiger Höhe empor, und oben umkreist sie ein zwiefacher Umgang
von Arkaden, die mit Säulen geziert sind; in der Mitte aber auf dem Boden
ist die Stelle bezeichnet, wo Kaiser Karl das Grab gefunden. Die Gänge 90
oben erfüllte damals dichtgedrängt das Volk, das von weit und breit zum
großen Feste herbeigeströmt war. In dem untern Raume aber erwartete
der Erzbischof von Mainz, der sich erst nach langem Hader mit den
Erzbischöfen von Köln und Trier das Recht der Krönung erstritten hatte,
mit allen Erzbischöfen, Bischöfen und Priestern, die sich eingestellt hatten, 95
den jungen König. Als dieser an der Pforte erschien, schritt er ihm entgegen,
den Krummstab in der Rechten, und führte ihn mit der Linken bis in die
Mitte des Münsters, wo Kaiser Karls Grabstein liegt und Otto von allen
Seiten erblickt werden konnte. Hier wandte er sich um und rief laut zu dem
Volke: „Sehet, ich führe euch Otto zu, den Gott zn euenu König erwählt, 100
König Heinrich bestimmt und alle Fürsten erhoben haben! Gefällt euch solche
Wahl, so hebt eure Rechte zum Himmel!" Alle erhoben die Hände, und
donnernd hallte es in die Runde: „Heil und Segen dem neuen Herrscher!"
Darauf schritt der Erzbischof mit Otto bis zum Altare vor, wo Schwert
und Wehrgehenk, Mantel und Spangen, Seepter, Stab und Diadem, tue 105
Zeichen der königlichen Würde, bereit lagen. Zuerst nahm er Schwert und
Wehrgehenk und sprach zum Könige gewendet: „Nimm hin dies Schwert
und triff damit alle Feinde des Herrn, Heiden und schlechte Christen; denn
darum hat dir Gottes Wille alle Gewalt über das Reich der Franken ver-
liehen, daß die ganze Christenheit sichern Frieden gewinne." Dann ergriff HO
er den Mantel mit den Spangen und legte ihm denselben an mit folgenden
Worten: „Die Säume dieses Gewandes, die bis zur Erde herabwallen,
sollen dich mahnen, auszuharren im Eifer für den Glauben und in der Sorge
44
für den Frieden bis an das Ende." Und als er ihm Scepter und Stab
115 überreichte, sprach er: „An diesen Zeichen lerne, daß du väterlich züchtigen
sollst, die dir untergeben sind! Vor allem aber," fuhr er fort, „strecke deine
Hand aus voll Barmherzigkeit gegen die Diener Gottes wie gegen die Witwen
und Waisen, und nimmer versiege auf deinem Haupte das Öl des Erbarmens,
auf daß du hier und dort die unvergängliche Krone zum Lohne empfangest!"
120 Mit diesen Worten nahm er das Ölhorn, salbte ihn mit dem heiligen Öle,
das die Kirche als ein Zeichen der Barmherzigkeit ansieht, und setzte ihm
unter Beihilfe des Erzbischofs von Köln das goldene Diadem auf das Haupt.
Als so die Krönung vollbracht war, stieg Otto, schon im Glanze der
Krone, zu dem Throne empor, der zwischen zwei Marmorsäulen von wunder-
125 barer Schönheit erhöht war, von wo er das ganze versammelte Volk über-
blickte und von allen gesehen wurde. Hier blieb er, während die Messe ge-
halten wurde; dann stieg er vom Throne herab und kehrte zur Pfalz Karls
des Großen zurück.
In der Pfalz war inzwischen an marmorner Tafel das Königsmahl
130 in auserlesener Pracht bereitet. Mit den Bischöfen und Herren setzte sich der
neue König zu Tische, und es dienten ihm beim Krönungsmahle die Herzoge
der deutschen Länder. So ist es damals zuerst geschehen und oft dann in
der Folge. Es war ein Zeichen, daß die Herzoge der einzelnen Länder den
König, der über das ganze Volk gesetzt war, als ihren Herrn erkannten, daß
135 sie nichts anderes sein sollten und wollten als die ersten seines Gefolges;
denn wie an dem Hofhält der deutschen Fürsten von alters her die mächtigsten
und angesehensten unter den Gefolgsgenossen als Mundschenk, Kämmerer,
Truchseß und Marschall die Person der Fürsten umgaben und ihrer warteten,
so leistete damals der Lothringerherzog Giselbert, in dessen Gebiet Aachen
140 lag, die Dienste des Kümmerers und ordnete die ganze Feier, der Franken-
herzog Eberhard sorgte als Truchseß für die Tafel, der Schwabenherzog
Hermann stand als oberster Mundschenk den Schenken vor, und Arnulf von
Bayern nahm für die Ritter und ihre Pferde als Marschall Bedacht, wie er
auch die Stellen bezeichnet hatte, wo man lagern und die Zelte aufschlagen
145 konnte; denn die alte Kaiserstadt reichte nicht aus, die Zahl aller der Herren,
die nach Aachen geritten waren, in sich zu fassen. Als die Festlichkeiten
beendet waren, lohnte Otto einem jeden der Großen mit reichlicher Gunst
und großen Geschenken, und froh kehrten alle in die Heimat zurück.
Ein solches Fest hatten die deutschen Völker nie bisher gesehen, und nie
150 ist eine Krönungsfeier von gleicher Bedeutung wieder begangen worden. Sie
gab- dem Baue, den König Heinrichs Thaten begründet hatten, die Weihe.
Die Vereinigung aller deutschen Stämme unter ein Haupt fand hier ihren
öffentlichen Ausdruck; man beging gleichsam das Fest der Gründung des
deutschen Reichs.
Wilhelm von Giesebrecht. Geschichte der deutschen Kaiserzeit. B. I. 1873'. S. 241 ff.
Vgl. Lohmeyer, Wandbilder: Otto der Große in der Ungarnschlacht auf dem
Lechfelde.
45
14, Aus dem Klosterleben im 10. Jahrhundert.
Wollte ein deutscher Landesherr ein Kloster gründen, so verständigte er
sich mit den Mönchen eines bestehenden Mntterklosters. Dann wurde der
Platz sorgfältig überlegt — vielleicht war es ein alter Tummelplatz heid-
nischer Dämonen in tiefem Walde, wie bei Gandersheim, oder eine günstige
Kulturstelle, wie bei der zweiten Anlage (822) von Corvey sin Westfalen an 5
der Weser), der Tochter des französischen Klosters Corbie sin der Picardie)
— Ackerscholle, Quell und Teich, das Gestein und das Sonnenlicht auf
Wald und Hügel, die Straße, der Ausblick in das Land und die Nach-
barschaft wurden sorglich erwogen, Brüder wurden als Späher ausgesandt,
bei den Frommen der Umgegend ward Kunde eingeholt, dann erst wurde eine 10
Gesellschaft der Brüder abgesandt zur Gründung des Klosters. Die Gesandten
begingen Flur und Thal, daraus knieten sie nieder, beteten und sangen die
Psalmen, welche zu diesem Officium gehörten, warfen die Richtschnur, steckten
die Pflöcke und maßen den Grund der Kirche, dazu die Wohnungen der.
Brüder. Schnell wurden vorläufige Hütten gebaut, und der Bischof ward 15
geladen, die Stätte zu weihen; an die Stelle, wo der Altar sich erheben
sollte, wurde die heilige Kreuzfahne gesteckt, von dort die geweihte Umfriedung
mit einem Namen begabt. An demselben Tage begann der Bau; die Mönche
arbeiteten mit den Landleuten um die Wette an Balken und Steinen. Waren
die nötigsten Gebäude aufgerichtet, dann siedelten die Brüder aus dem Mutter- 20
kloster über mit allem Hausrat, Männer, Greise und Knaben; sie begingen
unter dem Notdach die erste Messe. Stand die Kirche vollendet, dann führte
der Abt des neuen Klosters eine größere Anzahl der Brüder herzu.
Durch Spenden der Gönner mehrte sich allmählich das Eigentum des
Klosters; seine Ackerstücke und Hufen lagen vielleicht über einen großen Teil 25
Deutschlands verstreut, die Bebauung der naheliegenden Besitzungen wurde
vom Kloster aus geleitet, und die Klöster waren deshalb auch Wirtschaften
im großen Stile.
Das Kloster selbst bildete eine kleine Stadt. Mittelpunkt war die Kirche
des Heiligen; an diese lehnten sich, durch besondere Umfriedung eingehegt, die 30
Gebäude der Klausur: Schlaf- und Vorratsräume der Brüder, ihre Bibliothek,
ihr Arbeitshaus, die innere Schule, der ansehnliche Speise- und Beratungs-
raum mit Kreuzgang. Außerhalb der verbotenen Räume aber lag eine ganze
Welt von verschiedenartiger Thätigkeit eng zusammengeschachtell in niedrigen
Gebäuden, welche oft nach antiker Weise kleine Hofräume umschlossen. Dort 35
war die stattliche Abtswohnung als Palast mit eigener Wirtschaft und Küche,
dann die Außenschule, Gasthäuser für reisende Brüder, für Vornehme und für
gewöhnliche Leute, ferner Krankenhäuser, dabei die Wohnung und Apotheke des
Bruder Arztes, dann Werkstätten der Handwerker und Künstler, der Goldschmiede,
Schwertfeger, Sattler u. s. w., sämtlich kleine Arbeitsrüume mit Schlafzellen 40
daneben, endlich die Gebäude einer großen Landwirtschaft: Viehställe, Knecht-
wohnungen, Scheuern, Brauerei, Vorratsräume, Hühner- und Geflügelhöfe
und Gärten für Blumen und Arzneikräuter und für Gemüse als die gewöhn-
46
liche Kost der Mönche, zuletzt der Kirchhof als Obstgarten. Die Gebäude
45 und einzelnen Anlagen waren durch kleine Gassen und Stege, durch Hecken
oder Mauern geschieden, und dieser ganze Wabenbau der geistlichen Bienen war
nach außen eine viereckige, abgeschlossene Anlage, mit Pfahlwerk und Graben,
später auch mit Mauern und Türmen kastellartig umschanzt. In dieser Kloster-
stadt waren die Mönche nur die kleine Minderzahl; aber auch Dienstleute,
50 Arbeiter, Schüler, Knechte und Gäste mußten sich der strengen Ordnung
fügen, welche auch außerhalb der Klausur galt. In der Nähe endlich lag das
Dorf mit pflichtigen Landleuten und darin andere Handwerker und Diener des
Klosters, und unweit die Burg eines reisigen Dienstmanns, welchem der
nächste kriegerische Dienst und Schutz seiner Patrone oblag. Er war vor-
55 nehmen Brüdern verwandt und ohne Zweifel einer der wohlhabendsten Land-
genossen.
Nächst den Meiereien des Königs waren die Klostergüter damals am
sorgfältigsten bewirtschaftet. In den Gärten der Mönche hat die deutsche Sonne
■ zuerst den Pfirsichen und Aprikosen rote Bäckchen gemalt, die weiße Lilie und
60 die volle Rose der Römer wurden hier zuerst bewundert und in beit lateinischen
Versen zum Schmuck himmlischer Schönheit verwandt. Trotz der strengen
Regel verstanden die Brüder auch, für die seltenen Tage eines Konvivinms
und für den Tisch ihres Abtes gute Dinge zu bereiten; Kochkunst und Pflege
des Weines wurden mit derselben peinlichen Sorgfalt geübt, welche alle
65 Thätigkeit der alten Klöster bezeichnet. Aber auch höherer Künstlerbegabnng
bot die heilige Genossenschaft den sichersten Schutz. Maler und Baukünstler
erlangten am leichtesten als Mönche Ruf; sie wurden zur Ausübung ihrer
Kunst auch aus dem Kloster versendet und arbeiteten bei Bischöfen und in
Fürstenhäusern zu Ehren ihres Heiligen.
70 Die segensreichste Thätigkeit aber entfalteten die Benediktiner durch die
Errichtung von Klosterschulen. Die Schule war stets eine zwiefache, eine innere
und äußere. In der äußern wurden die Söhne der Edlen und Freien aus der
Umgegend in einer Kostanstalt unter strenger Zucht gehalten; die Schüler der
innern trugen die dunkle Mönchskutte und lebten in der Klausur und unter dem
75 Zwange der Klosterregel. Der weltliche Unterricht war Lesen, Schreiben und
Rechnen, vor allem Latein; ein tüchtiger Lehrer hielt daraus, daß nicht nur
in den Lehrstunden, sondern auch sonst von den ältern Schülern nur Latein
gesprochen wurde. Das scheidende Altertum hatte seine zusammengeschrumpfte
Schulweisheit in Lehrbüchern überliefert, welche das Material derselben in
80 sieben „freien Künsten" zusammenschlossen: Graminatik, Rhetorik, Dialektik,
dann Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie. Dieser römische Lehrgang
dauerte durch das ganze Mittelalter; nur die Musik erhielt neue Gesetze in
volkstümlicher Entfaltung. Außerdem wurde noch manches andere gelehrt,
das aus unsern Schulen geschwunden ist. Die Schüler lernten durch schnelles
85 Zusammenlegen und Beugen der Finger Buchstaben, Worte und Zahlen in
Zeichen ausdrücken. Als Verstandesübnngen waren Rechenaufgaben und Rätsel-
fragen beliebt, welche noch heute unser Volk unterhalten. Streng war die
47
Schulzucht; viele Streiche wurden ausgeteilt, bisweilen die Fehler aufgeschrieben
und zusammen am schweren Streichtage auf die Rücken gemessen.
Viele Mühe ward auf lateinische Verse verwandt; sie leicht und schön, 90
wie der Zeitgeschmack war, zu verfertigen, galt für die rühmlichste weltliche
Leistung des Gelehrten. Wie die letzten römischen Dichter unter Franken
und Goten lateinische Lobgedichte auf ihre Gönner gemacht hatten, feierten
jetzt auch fromme Mönche die Beschützer ihres Klosters durch Gedichte in
Hexametern oder Distichen. Die Verse waren ein feines Mittel, sich Vor-95
nehmen zu empfehlen, von diesen Geschenke und unter den Brüdern Ansehen
zu erwerben.
Zu den Pflichten der Benediktiner gehörte das Abschreiben alter Hand-
schriften, und wir haben Ursache, mit innigem Danke auf diese emsige
Thätigkeit zu blicken; denn ihr verdanken wir fast unsere gesamte Kunde des 100
Altertums. In seiner Klosterzelle saß der Schönschreiber der Abtei, glättete
und linierte sein Pergament, schrieb unermüdlich die Worte nach, die er nicht
immer verstand, malte die Anfangsbuchstaben sauber aus mit Rot, Blau,
Grün und Gold, zog mit Genuß seine Arabesken und schrieb vergntigt einen
frommen Wunsch oder einen kleinen Klosterscherz an das Ende der Abschrift. 105
Wer schön zu schreiben und die Anfangsbuchstaben zu malen verinochte, wurde
sehr bewundert. Noch als neunzigjähriger Mann mit zitternder Hand und
halb blind schrieb der Bayer Wikterb, Abt von Tours, an seiner letzten
Handschrift-, und solcher Fleiß war nicht selten. Die Pflicht zu schreiben
schuf dem Kloster eine Bibliothek; außerdem halfen dazu Käufe und Geschenke HO
wohlhabender Brüder und vornehmer Gönner. Die Klöster waren stolz auf
ihre Handschriften, zumal auf die schön geschriebenen; sie wurden als viel be-
gehrter Schatz sorgfältig gehütet und ungern verliehen.
Gustav Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Ges. W. B. XVII. 1888. <3.356 ff. (Gekürzt.)
Bgl. Ad. Lehmann, Kulturgeschichtliche Bilder, Nr. 9: Im Klosterhofe.
15. Friedrich Barbarvssa.
Friedrich war mittlerer Größe und wohlgebaut, seine Haare blond,
kurz abgeschnitten ititb nur ans der Stirn gekräuselt, feine Haut weiß, seine
Wangen rot und sein Bart rötlich, weshalb ihn die Italiener Barbarossa
(Rotbart) nannten. Er hatte schöne Zähne, feine Lippen, blaue Augen, einen
heitern, aber durchdringenden und der innern Kraft sich gleichsam bewußten 5
Blick. Sein Gang war fest, die Stimme rein, der Anstand männlich und
würdevoll, die Kleidung weder gesucht noch nachlässig. Keinem stand er auf
der Jagd und in Leibesübungen nach, keinem an Heiterkeit bei Festen; nie
aber durfte der Aufwand in übermäßige Pracht, nie die gesellige Lust in
Völlerei ausarten. 10
Seine Kenntnisse konnten in jener Zeit und bei der mehr weltlichen
Richtung seines Lebens nicht umfassend sein; doch verstand er lateinisch
und las gern und fleißig die römischen Schriftsteller. Ungeachtet großen
Feldherrntalents sah er im Kriege immer nur ein Mittel für den höhern
Zweck, den Frieden. Furchtbar und streng zeigte er sich gegen Wider-15
48
strebende, versöhnlich gegen Reuige, herablassend gegen die Seinen; doch ver-
lor er weder in der Freude noch im Schmerze jemals Würde und Haltung.
Selten trog ihn sein Urteil, fast nie sein Gedächtnis. Gern hörte er Rat;
die Entscheidung aber kam, wie es dem Herrscher gebührt, stets von ihm
20 selbst. Andacht an heiliger Stätte, Ehrfurcht gegen Geistliche als Verkünder
des göttlichen Wortes möchte man Eigenschaften des Zeitalters überhaupt
nennen.
Rücksichtslos die Gesetze zu vollziehen, hielt er für die erste Pflicht
des Fürsten; ihnen unbedingt zu gehorchen, für die erste des Unterthans.
25 Überall stärkte er seinen Willen und seine Kraft dadurch, daß er nur das
unternahm, was nach seiner Überzeugung dem Rechte und den Gesetzen gemäß
war, und daß er auf große Vorbilder früherer Zeiten mit der Begeisterung
hinblickte, welche selbst ein Zeichen der Tüchtigkeit ist. Insbesondere hatte er
Karl den Großen zum Muster genommen und erklärte, ihm nachstrebend müsse
30 man das Recht der Kirche, das Wohl des Staates, die Unverletzlichkeit der
Gesetze im ganzen Reiche zu gründen und herzustellen suchen. Aber selbst in
spätern Jahren, wo er dem würdigen, ihm verwandten Geschichtschreiber
Otto von Freising Nachrichten über seine wahrlich nicht unbedeutenden
Thaten mitteilte, fügte er, von eitler Selbstliebe kleiner Seelen weit entfernt,
35 fast wehmütig hinzu: „Im Vergleiche mit dem, was jene herrlichen Männer
der Vorzeit leisteten, sind dies viel mehr Schatten als Thaten."
Friedrich von Raumer. Geschichte der Hohenstaufen. B. II. 18412. S. 5 ff.
Vgl. Lohmeyer, Wandbilder: Kaiser Friedrich der Rotbart und die Mailänder.
(H. Luchs, Kulturhistorische Wandtafeln, Nr. 15.)
16. Das Reichssest in Mainz (1184).
Der Abt Arnold von Lübeck und einige andere gleichzeitige Geschichtschreiber, deren
Angaben im folgenden in Arnolds Bericht verwoben sind, erzählen von dem glänzenden
Feste, das Kaiser Friedrich I. zu Pfingsten des Jahres 1184 in Mainz veranstaltete, als
seine beiden Söhne Heinrich und Friedrich dort den Ritterschlag erhalten sollten:
Im Jahre 1184 um Pfingsten hielt Kaiser Friedrich einen sehr
berühmten Hoftag zu Mainz. Dahin kamen alle Würdenträger, Beamten
und Fürsten, dahin die Erzbischöfe und alle Großen und Edlen, welche dem
Kaiser zu gefallen wetteiferten. In der Ebene, welche sich in der Nähe von
5 Mainz zwischen Rhein und Main ausbreitet, erstand eine leichtgebaute, aber
glänzende und prächtige Stadt zur Aufnahme der von stattlichem Gefolge be-
gleiteten Fürsten und Großen.
In der Mitte der kunstreich erstandenen Zeltstadt erhob sich in reich-
geschmücktem Holzbau der für den Kaiser selbst bestimmte Palast und mit ihm
10 in Verbindung stehend eine mächtige Kirche. Um diesen Mittelpunkt breiteten
sich in weitem Kreise die Zelte aus, welche die einzelnen Fürsten für sich
herrichten ließen. Zahllose, in den verschiedensten Farben erglänzende Zelte
bedeckten die weite Ebene, auf ihren Spitzen mit Fahnen und Bannern
mannigfach geschmückt.
15 Mehr noch staunte man die Vorräte von Lebensmitteln an, welche auf
des Kaisers Befehl von allen Seiten her, zu Lande und zu Wasser, rhein-
49
aufwärts und rheinabwärts herbeigebracht wurden. Eine ganze Flotte von
Schiffen lag längs des Rheinufers, welche unerschöpfliche Massen Weins
aus der weinreichen Landschaft herbeigeführt hatten. Und nicht anders
war es mit Getreide, Brot, Schlachtvieh und Geflügel. Damit mau aber
von dem unbeschreiblichen Aufwands sich einen Begriff machen kann, will
ich nur eins der geringsten Dinge anführen, um davon auf die größern
schließen zu lassen. Es waren dort zwei große Häuser errichtet, in welchen
sich große Räume befanden, die durchweg mit Querstangen versehen waren.
Diese Häuser waren von unten bis oben mit Hähnen und Hennen angefüllt,
so daß kein Blick durch sie hindurchzudringen vermochte, zur größten Ver-
wunderung vieler, welche kaum geglaubt hatten, daß soviel Hühner überhaupt
vorhanden wären. Wohl bedurfte man so gewaltiger Vorräte; denn drei
Tage lang sollte die Masse der Fürsten und Edlen, der Einheimischen und
Fremden als Gäste des Kaisers bewirtet werden. Und welche Menschenmassen
waren außer den geladenen Gästen noch zu erwarten! Fahrende Sänger
und Dichter, Spielleute und Gaukler wurden durch die Festlichkeiten aus
weiter Ferne herbeigelockt, in der Hoffnung, von der Freigebigkeit des Kaisers
und der Fürsten reichen Gewinn zu haben. Auf siebzigtausend schätzte man
die Zahl der Ritter und Krieger, und dazu kam noch das Heer der Geist-
lichen und der Leute niedern Standes.
Am ersten Pfingstfeiertage schritt Kaiser Friedrich mit seiner Gemahlin
Beatrix im Schinucke des kaiserlichen Stirnreifs in feierlicher Prozession und
geleitet von einem glänzenden Gefolge zu der in der Mitte des Lagers er-
richteten Kirche. Mit der königlichen Krone auf dem Haupte folgte ihnen
König Heinrich. In ebenso stattlicher Prozession verließen sie auch nach der
Messe die Kirche. Glänzende Gastmähler schloffen den ersten Festtag, bei
welchen den Dienst des Mundschenken und des Truchsessen, des Marschalls
und des Kämmerers die Fürsten des Reichs in eigener Person beim Kaiser
versahen.
Am folgenden Tage fanden nach der Frühmesse glänzende Ritterspiele
und Waffenübungen statt, bei welchen des Kaisers Söhne, König Heinrich und
Herzog Friedrich von Schwaben, ihre Gewandtheit in der Führung der
Waffen bewiesen. Bei 20 000 Ritter wetteiferten da nicht bloß in allen ritter-
lichen Künsten, sondern auch in Kostbarkeit der Rüstung, Glanz der Waffen
und in Schönheit der Rosse. Kaiser Friedrich selbst erschien in ihrer Mitte
und nahm an ihren Kämpfen teil. Als das glänzende Schauspiel beendet war,
wurden des Kaisers Söhne feierlich mit dem Schwerte umgürtet und zu
Rittern geschlagen. Und zur Feier des frohen Ereignisses ließen sie dann den
in Scharen zusammengeströmten Dienstmannen, Sängern, Gauklern und armen
Leuten Gold und Silber, Pferde, Gewänder und andere Gaben austeilen.
Unter ähnlichen Festlichkeiten verlief der dritte Tag; doch wurde an
diesem die Freude durch einen traurigen Zwischenfall einigermaßen getrübt.
Gegen Abend erhob sich plötzlich ein heftiger Sturmwind, welcher die inmitten
des Lagers errichtete hölzerne Kirche, eine Anzahl anderer Gebäude und eine
Menge vor: Zelten niederriß. Fünfzehn Menschen büßten dabei das Leben ein.
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Bd. IV. 4
20
25
30
35
40
45
50
55
60
50
Am vierten Tage begann sich die Menge nach allen Seiten hin zu
zerstreuen, und mit der Kunde von der Herrlichkeit zu Mainz erfüllte
zugleich der Ruhm des Kaisers Friedrich nicht nur das ganze Deutschland,
65 sondern auch die angrenzenden Länder, und Dichter und Sänger priesen
wetteifernd die Wonne des Mainzer Festes und den Ruhm des Kaisers und
seiner Söhne. Albert Richter. Quellenbuch. 1893». S. 88 ff.
17. Herr Walther von der Vvgelweide.
Vor mehr denn siebenhundert Jahren lebte, lvie's die Gelehrten so ziem-
lich sicher herausgebracht haben, auf einer überaus lieblichen Allhöhe am linken
Eisackufer in einer kleinen Ritterburg, welche zur Vogelweide hieß, ein Knabe,
dem das Glück hold und abhold war, je nachdem.
5 In seiner Wiege lag nämlich die bittere Armut und wuchs mit ihm
heran und verließ ihn nicht, solallge er lebte. Sie trieb ihn früh in die
weite Welt hinaus und durch aller Herren Länder, sie plagte ihn grausam
mit Hunger und Durst, Hitze und Külte, ja, sie zwang ihn mehrmals, sich des
Leibes Notdurft, Nahrung und Kleidung, geradezu zu erbetteln.
10 Das war nun allerdings sehr traurig, und der arme Walther wäre lvohl
elendiglich verkommen, hätte ihm nicht der milde Gott, der alles ausgleicht,
als Ersatz eine Gabe geschenkt, die millionenmal iilehr wert ist als all der
irdische Tand: ein fröhliches Herz, einen hellen Blick für alle Erscheinungen
in Natur und Menschenleben, einen durchdringenden Verstand, eine allgewaltige
15 Liebe zu allem Edeln und die Zaubermacht, in süßen Liedern sein eigen Lieben
und Leiden zu offenbaren und aller Menschen Herzen zu gewinnen.
Das war sein Schatz, den der Knabe schon im kindlichen Spiele und
Singsang zeigte, und so erkannten die benachbarten Ritter, die nicht nur das
Schwert, sondern auch beit Fidelbogen zu führen wußten, gar bald, daß der
20 junge Vogelweider einmal mit Sang die Welt erobern würde; ja einer, der
bei Seben ob dem Städtlein Klausen seinen Stammsitz hatte und zu Wien
etwas galt, brachte es durch sein Fürwort sogar dahin, daß der wonnigliche
Jüngling am wonniglichen Hofe der Babenberger Aufnahme und eine zweite
Heimat fand.
25 Hei, war das ein schönes Leben! Am Wiener Hofe standen damals
die Sänger in hohen Ehren. Ihre Lieder ernteten goldenen Lohn, und die
edle Herzogin selbst hielt es nicht unter ihrer Würde, den Worten der Dichter
zu lauschen und sie mit freundlichen Blicken und Ehrenkränzlein überselig zu
machen.
30 Da war es denn kein Wunder, daß unser Walther im Übermaße des
ersten Jugendglückes des Frühlings Pracht und Lieblichkeit, der Frauen Schön-
heit und Tugend besang; aber ein Wunder war es schier, daß er bald seinen
Lehrmeister, Reinmar den Alten, soweit übertraf, wie die Sonne den Mond,
so daß ihn seine Zeitgenossen neidlos die Leitefrau des Nachtigallenheeres,
35 das heißt den ersten und besten aller Sänger nannten.
Doch mit dem Ende des 12. Jahrhunderts erlosch auch der Stern seines
51
Glückes. Er verließ den Wiener Hof, um nach Sängergewohnheit ein freies
Wanderleben zu führen und in den Burgen der Fürsten für süßen Sang
reiche Miete jLohnj zu erlangen.
Die Enttäuschung sollte nicht ausbleiben. Es war nämlich damals eine 40
gar üble Zeit im deutschen Reiche, wenig geeignet zu Frühlingslust und
Frauenpreis, und Kisten und Kasten, die standen meist unversperrt und zeigten
den blanken Boden. Zwei Kaiser waren auf einmal erstanden, Philipp und
Otto, und so wußte keiner, an wen er sich zu halten habe, und wer eigent-
lich der rechte und echte Kaiser sei. Die Folge war ein grenelvoller Bürger- 45
krieg, in dem der Vater gegen den eigenen Sohn, der Bruder gegen den Bruder
kämpfte, die allgemeine Unsicherheit immer mehr zunahm und das Recht zum
Tode wund darniederlag.
Aber gerade diese trostlosen Zustünde reiften den Jüngling zum Manne,
wie denn überhaupt alle Prüfungen des Lebens das Gute haben, daß sie 50
Charaktere bilden. Walther hielt es für seine Pflicht, in des Reiches ernster
Lage den Wonnen der Jugend zu entsagen, dem angestammten Herrscherhause
treu zu bleiben und mit seiner Kunst für Philipp einzustehen. In gewaltigen
Dichtungen, die man Sprüche nennt, hielt er seinem Volke einen Spiegel vor
die Augen, in dem es seine Fehler und Verirrungen erkennen mußte. Diese 55
Sprüche waren zündenden Blitzen gleich, die alles trafen, was schlecht und
schadhaft war; sie waren aber auch laut widerhallende Donner, vor denen seine
Feinde erbebten.
So stand er auf Philipps, so stand er nach dessen frühem Tode auf
des jetzt allgemein anerkannten Ottos Seite, und so hatte der folgende Kaiser 60
Friedrich an ihm einen allzeit getreuen, aufrichtigen Ratgeber, der immer für
Wahrheit und Recht mannhaft in die Schranken trat, die Deutschen zur
Einigkeit aufforderte und selbst dem geliebten Herrscher gegenüber, wenn's
notig war, kein Blatt vor den Mund nahm.
Aber wenn es der in ganz Deutschland geachtete Sänger auch bis zum 65
Erzieher des Kaisersohnes brachte, die Gefährtin seiner Kindheit, die Not,
wich keinen Schritt von seiner Seite, ja, sie zwang ihn selbst in alten Tagen,
wo sich jeder nach einer Heimstätte sehnt, zu wiederholten Zügen von der
Elbe bis an den Rhein und weit hinab bis ins Ungarland.
In diesen vielfachen Beschwerden seines unsteten Wanderlebens fand er 70
einzig und allein Trost im gläubig vertrauenden Aufblick zu Gott, dein Tröster
aller Mühseligen und Beladenen; denn Walther war ein frommer Christ, und
manch ein süßes Gotteslied, manch tief gefühltes Gebet entströmte seinem
Goldmunde. Ja, als er durch des Kaisers Gnade bei Würzburg ein kleines
Lehen erhielt, ließ ihn die Gottesminne nicht ruhen noch rasten. Vor seinem 75
Ende noch wollte er die gesegnete Stätte mit eigenen Augen schauen, wo
Gottes Sohn auf Erden ging und alle Welt das Heil empfing. Er schloß
sich einem Kreuzheere an, pilgerte zerknirschten Herzens in das Land der
Gnade und küßte den heiligen Boden, welchen das Blut des Erlösers be-
taut hatte. 80
Auf diesem Zuge erblickte er auch seine irdische Heimat am rauschenden
52
Eisack zum letztenmal. Als Jüngling in wallenden Locken hatte er sie ver-
lassen, als silberhaariger Greis stieg er durch düstere Kastanienwälder und
liebliche Bergwiesen zum väterlichen Rittersitze hinauf, um den Schauplatz
85 seiner Jugendfreuden einmal noch mit wehmütigem Lächeln zu überblicken
und den Gespielen seiner Kindheit einmal noch die Hand zu drücken; aber
mit Thränen im Auge stieg er wieder zu Thal. Denn wie hatte sich alles
geändert! Wald Und Feld hatten ihre Plätze vertauscht, die besten Freunde
starrten ihn grußlos an, und die er als blühende Jünglinge und Jung-
vo frauen zurückgelassen hatte, die wankten am Stabe zitternd an ihm vorbei.
Nur das Wasser floß wie einst, ein Bild der Ewigkeit, der sich auch sein
Haupt zuneigte.
In Würzburg schloß der Sänger des linden Frühlings und der reinen
Minne, der glühende Freund seines deutschen Vaterlandes, der fromme,
95 gläubige Christ seine müden Augen; doch bevor sie brachen, gedachte er noch-
mals des Vogelweiderhofes jenseits des Brenners. Da packte den sterbenden
Sohn der Berge noch einmal das Heimweh mit all seiner rätselhaften Macht,
und sein letzter Wunsch war: „Gebet den süßen Vögelein, von denen ich im
Schatten des Waldes das Singen gelernt habe, gute Weide an meinem
100 Grabe!"
Und so geschaht. Lange Jahre fanden die Vögelein an Walthers
Grab schmackhafte Körnlein und frischen Trunk, von milder Hand gespendet,
bis der edle Walther selbst vergessen wurde, wie das in langen Jahrhunderten
wohl geschehen kann.
105 Aber die Gelehrten vergaßen seiner doch nicht ganz. Walthers Dich,
tungen waren ein zu beredtes Zeugnis seiner geistigen Größe, und so forschten
die unermüdlichen Männer so lange nach, bis sie das herausbrachten, was
ich dem Leser soeben erzählt habe.
Joseph Wichner. Aus der Mappe eines Volksfreundes. 1895*. S. 266 ff.
Vgl. Lehmann, Kulturgeschichtliche Bilder, Nr. 3: Im Rittersaale. — Luchs,
Kulturhist. Wandtafeln, Nr. 16.
18. Der Trifels.
An dem Trifels besitzt Rheinbayern ein historisches Kleinod; denn
Europa hat kaum ein Bergschloß, welches diesem den Rang streitig machen
könnte in Ansehung des Reichtums seiner Geschichte. Hier bewegte sich einst
das großartigste Leben, sowohl was menschliche Kraft und Pracht, als was
5 menschliches Elend betrifft. Könige haben hier geherrscht, Könige hier im
dunkeln Kerker geschmachtet.
Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Gründer des Domes zu Speyer,
Konrad II., auch der Erbauer dieser Feste, die als Reichsfeste den Paß nach
Lothringen beherrschen sollte. Urkundlich wird sie 1113 zum erstenmal ge-
10 nannt. Friedrich Barbarossa vergrößerte sie, und bis auf Rudolf von Habs-
burg herab blieb sie zugleich Schatzkammer und Staatsgefängnis.
Bei der fast gänzlichen Zerstörung dieses herrlichen Schlosses scheint die
Vorsehung auf wunderbare Weise dafür gesorgt zu haben, daß die beiden merk-
— 53 -
würdigsten Teile des Gebäudes, das tiefe Verlies und die Kapelle, in welcher
einst die Reichskleinodien aufbewahrt wurden, in ihrer urspriinglichen Gestalt
erhalten blieben. Sie sind dicht nebeneinander wie Schatten und Licht, wie
Glanz und Elend im Leben. Der massive, turmartige Bau, welcher einsam in-
mitten dieser Trümmer emporragt, schloß das Höchste in sich, was in jenen Tagen
ein Mensch auf Erden zu erringen vermochte: Krone, Scepter und Apfel des
deutschen Reiches, das Schwert Karls des Großen und viele andere Kostbarkeiten
in Gold, edeln Gesteinen und hochgeehrten Reliquien. Man kann sagen:
an dem Besitze dieses Turmes hing einst der Besitz des höchsten Thrones
der Erde. Auf den beiden engen, dunkeln Treppen stiegen einst die erlauchten
Salier und die herrlichen Hohenstaufen zu der Kapelle empor, wo die Mönche
des nahen Klosters Eußersthal über die Insignien des Reiches wachten und
für das Wohl des Reiches und seines gekrönten Hauptes beteten. In dieser
Kapelle hatte einst Heinrich, des zweiten Friedrich Sohn, seinem Vater den
Eid als Reichsverweser geleistet, als dieser seinen Zug zum heiligen Grabe
unternahm, den Eid, dessen schändlichen Bruch er mit lebenslänglicher Ge-
fangenschaft büßen sollte. Und über dieser Kapelle befand sich wohl die hoch-
berühmte Kaiserstube, jener Marmorsaal, den der Rotbart mit wunderbarer
Pracht ausgestattet, und von dem die Kaiser in einen der schönsten Teile
ihres weiten Reiches hinausschauten.
Was nun? — Der Nordwind pfeift durch die offenen Pforten und
peitscht den Regen und das falbe Laub des Herbstes in die öden Hallen;
die Eidechse huscht über die Stufen der Treppen, und die Sonne wirft nur
einmal des Tages durch das enge Fenster gegen Osten einen Strahl in die
düstere, feste Kapelle, um die unbedeutenden Namen derer zu beleuchten,
welche künftigen Wanderern die interessante Nachricht geben wollen, daß auch
sie diese Stelle betreten.
Unmittelbar neben diesem Turme ist das Burgverlies. Vier vier-
eckige Öffnungen lassen von oben hinab in seine Tiefe blicken und bilden
Thüren und Fenster zugleich. Wahrscheinlich war es noch überbaut und
denen, die darin schmachteten, kein Blick zum Himmel und zum Lichte frei-
gelassen. Es werden wohl nicht alle Gefangenen, von denen die Geschichte
der Feste erzählt, stets in diesem unterirdischen Turme gelegen sein; aber doch
mag seine Schauer ein jeder derselben auf kürzere oder längere Zeit empfunden
haben. Und dieser Gefangenen waren nicht wenige. Besonders hatte Kaiser
Heinrich VI. die Kerker auf Trifels bevölkert. Da saßen viele der meute-
rischen Großen Italiens; die Krone aller Gefangenen aber war Albions
ritterlicher Held Richard Löwenherz. Der hat vor allen andern dem Trifels
seine romantische Bedeutung gegeben. Richard, die Blume des Rittertums
seiner Zeit, der abenteuerliche Held, der vor den Mauern Joppes den Ruhm
des Sultans Saladin verdunkelte, Richard, von dem die alten Lieder und
Mären unerschöpflich singen und sagen wie von einem Arthur und Roland,
saß hier gefangen, um in seinem thaten- und gefahrreichen Leben alles zu
vereinen, was das Rittertum Mühseliges, Abenteuerliches und Romantisches
hatte. Wie Löwenherz durch seinen unwürdigen Nebenbuhler, den Herzog
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Leopold von Österreich, gefangen worden, als er, durch einen Seesturin an
60 Dalmatiens Küste verschlagen, im Pilgerkleide durch des Herzogs Lande
zog und in einer armen Hütte übernachtete, das ist bekannt. Kaiser Heinrich VI.
forderte ihn dem Herzoge ab; aber statt ihn frei zu lassen, schleppte er ihn
von dem Schlosse Dürrenstein (Thürnstein) an der Donau gefangen mit sich
durch das Reich und setzte ihn zuletzt ans Trifels fest, um ein hohes Löse-
65 gelb von England zu erpressen.
Richard soll sogar eine Zeitlang die Schrecken des Verlieses verspürt
haben; wenigstens will es die Sage so, welche die an sich schon poetische
Geschichte mit ihrem duftigen Gewände noch romantischer bekleidet. Sie weiß
nichts davon, daß der König auf einem Reichstage gegen schweres Lösegeld
70 freigelassen worden. Sie läßt ihn dem Kerker auf eine Weise entrinnen, wie sie
eines ritterlichen Helden würdiger war. Blondel nämlich, sein treu ergebener
Sänger, mit dem der König in der Heimat selbst die Kunst des Minnesangs ge-
pflogen, zieht aus mit einigen Getreuen, um seinen Herrn zu suchen und aus der
Haft zu befreien, sei's mit List, sei's durch Gewalt. Vor allen Burgen der
75 Edlen läßt er seinen Gesang und sein Saitenspiel erschallen und forscht lange
vergeblich nach dem geliebten Herrn. Da führt ihn der Zufall in dies
waldige Thal vor den Sonnenberg, auf welchem der Trifels thront. Er
hört, daß für ihn kein Einlaß zu hoffen sei, schleicht des Nachts um die
Mauern und singt Lieder, die er einst in England mit seinem Könige gesungen.
80 Richard hört ihn in seinem Kerker, antwortet ihm mit demselben Liede, der
glückliche Minstrel jSpielmann, Sängers befreit ihn mit seiner Handvoll Leute
in der Nacht, und der König zieht mit seinem ungebeugten Geiste ohne Ge-
fährde bis ans Meer und in sein Jnselreich. Das ist echtes Gepräge der
Sage; fünfzig Männer, die den Trifels stürmen — das klingt gewaltig wie
85 die alte Zeit.
Friedrich Blaut. Träume und Schäume vom Rhein. (In Reisebildern aus der Rheinpfalz.) 1882°. S. 225 ff.
19. Veranlassung zu den Kreuzzügen.
1. Seitdem Konstantin der Große die Kirche des heiligen Grabes erbaut
hatte, war die fromme Sitte, nach den heiligen Orten zu wallfahrten, wo
der Sohn Gottes sein großes Erlösungswerk vollbracht, eine immer allgemeinere
geworden. Das beseligende Gefühl, das den Pilger erfüllte, wenn sein Fuß
5 die Stätte betrat, auf welcher der Gottmensch gewandelt, die Andacht, mit
welcher seine Seele am Grabe des Heilandes in inbrünstigem Gebete sich
zum Throne Gottes emporschwang, ein Bad im Jordan, dessen Wasser durch
die Taufe Jesu geheiligt war, und die erhöhte Achtung, die ihm nach seiner
Rückkehr in die Heimat gezollt wurde, waren ein reichlicher Lohn für die Ge-
10 fahren und Mühseligkeiten der weiten Reise. Auch die mit der Abreise wie
mit der Wiederkehr des Pilgers verbundenen Gebräuche waren geeignet, den
Eifer für die Wallfahrten nach dem heiligen Lande zu erhöhen. Unter feier-
lichen' Zeremonien überreichte ihm der Priester in Gegenwart der ganzen
Gemeinde das Pilgerhemd mit dem Kreuze, die Pilgerschärpe, an welcher die
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Pilgertasche hing, und den Pilgerstab, den er durch Gebete geweiht hatte,
und nachdem er ihn eingesegnet, begleitete ihn die ganze Gemeinde in feier-
licher Prozession bis zur nächsten Pfarrei. Bei seiner Rückkehr fand eine öffent-
liche Danksagung statt, wobei er dem Priester einen Palmzweig aus dem
heiligen Lande zur Aufstellung auf dem Altare der Kirche überreichte.
Solange die griechischen Kaiser im Besitze Jerusalems waren, fanden
die abendländischen Pilger dort die freundlichste Aufnahme. Selbst die Araber,
in deren Augen Jerusalem gleichfalls ein heiliger Ort war, behandelten sie
anfangs mit schonender Rücksicht: sie gestatteten ihnen gegen Entrichtung einer
Abgabe den ungestörten Besuch der Stadt, und die in Jerusalem lebenden
Christen genossen unter einem Patriarchen freie Religionsübung. Ungünstiger
gestalteten sich die Verhältnisse für die christlichen Pilger wie für die morgen-
ländischen Christen überhaupt, nachdem die Fatimiden seine arabische Dynasties in
den Besitz Jerusalems gekommen; besonders zeichnete sich der Kalif Hakim als
ein eifriger Verfolger der Christen aus. Er ließ die Auferstehungskirche und viele
andere christliche Kirchen im Morgenlande zerstören, gestattete jedoch später aus
Furcht vor der Rache der abendländischen Christen den Wiederaufbau der-
selben. Trauriger noch wurde die Lage der Christen im Morgenlande, als
im Jahre 1076 Palästina von den Seldschucken, einem rohen Türken-
stamme, erobert worden, der, nachdem er unter seinem Emir Seldschuck zu
dem Islam übergetreten, aus den Gegenden von Buchara erobernd durch
Vorderasien gedrungen war.
Die Türken, die kein anderes Recht kannten als das des Stärkern,
bedrückten und mißhandelten die Christen in Jerusalem und den übrigen
Städten auf jede Weise. Sie drangen in die Kirchen, setzten die Christen
während des Gottesdienstes durch den wildesten Lärm in Schrecken, erstiegen
die Altäre, traten die geweihten Gefäße mit Füßen, zerschlugen die Bilder
und Marmorsäulen und mißhandelten die Priester. In Jerusalem wurde selbst
der Patriarch bei dem Barte und den Haupthaaren von seinem Sitze herab-
gerissen und ins Gefängnis geworfen, damit die Christen ihn mit großen
Summen wieder lösen sollten. In der gleichen Weise sahen sich die christ-
lichen Pilger, die gerade zu jener Zeit sich zahlreicher denn je in dem heiligen
Lande einfanden, den größten Bedrängnissen und Mißhandlungen ausgesetzt.
Oft lagen Tausende von ihnen, die schon auf der Reise ihrer Habe beraubt
worden und daher das mit unerbittlicher Strenge geforderte Eingangsgeld
nicht entrichten konnten, von Anstrengungen erschöpft vor den Thoren der
Stadt und kamen durch Hunger und Blöße um. Diejenigen aber, die end-
lich in die Stadt eingelassen worden, fielen den verarmten Christen Jerusalems
zur Last; denn die Hospitäler reichten nicht hin, um die große Menge der
Pilger zu beherbergen und zu unterhalten.
2. Diese schwere Bedrängnis der Christen erregte das tiefste Mitgefühl
eines frommen Mannes, Peters von Amiens, der im Jahre 1094 eine Wall-
fahrt nach Jerusalem gemacht und seitdem als Einsiedler in der Nähe der
Stadt lebte. Voll heiliger Entrüstung begab er sich zu dem Patriarchen
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Simeon und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er es so ruhig ansehe, wie
60 die heiligsten Stätten von den Türken entweiht, die Gaben der frommen
Christen geraubt und die Pilger mißhandelt würden. Der fromme Patriarch
wies ihn auf die Ohnmacht des griechischen Kaisers hin, bei welcher die
morgenländische Kirche verzweifeln müßte, wenn die Christen des Abendlandes
sich nicht ihrer Not erbarmten und ihre Schmach an den Türken rächten.
65 Bereitwillig ging Peter auf den Antrag des Patriarchen ein, mit Briefen
von ihm an den Papst und die abendländischen Fürsten versehen, als Send-
bote der Kirche von Jerusalem in dem Abendlande für die Befreiung des
heiligen Grabes zu wirken.
Die Nacht vor seiner Abreise brachte Peter, in inbrünstige Gebete ver-
70 funken, in der Kirche der Auferstehung zu, und als er, von den Anstrengungen
der Andacht erschöpft, in tiefen Schlaf gesunken war, sah er im Traume
Christus und vernahm aus dem Munde des Heilandes die Worte: „Stehe
auf, Peter, und verrichte mit Mut, was du übernommen hast. Ich werde
mit dir sein; denn es ist Zeit, daß mein heiliger Ort von den Türken ge-
75 reinigt und meinen Dienern geholfen werde." Durch diese himmlische Er-
scheinung gestärkt, trat er am folgenden Morgen die Reise in die Heimat an.
In Antiochia fand er ein Schiff zum Absegeln nach Apulien bereit und stieg
nach einer glücklichen Fahrt zu Bari sin Uuteritalieisi ans Land.
Von dort eilte er nach Rom zum Papste Urban II., überreichte ihm
80 den Brief des Patriarchen und unterstützte dessen Anliegen durch eine er-
greifende Schilderung der Leiden, welche die Mutter aller Kirchen von ihren
Tyrannen zu erdulden habe. Obgleich selbst schwer bedroht durch die An-
hänger seines Gegenpapstes, entwarf Urban dennoch den großen Plan, die
abendländische Christenheit zum Kampfe gegen das Morgenland auszurufen.
85 Er zollte dem Eifer des frommen Einsiedlers das gebührende Lob und be-
vollmächtigte ihn, als sein Gesandter den Völkern des Abendlandes das Kreuz
zu predigen gegen die Bedränger des heiligen Landes und der morgen-
ländischen Christen.
Peter von Amiens durchzog hierauf, auf einem Maulesel reitend, im
90 Mvnchsgewande und barfuß, mit dem Kruzifix in der Hand, ganz Frankreich
und Italien und predigte in Städten und Dörfern über die Grausamkeit der
Ungläubigen, über die Schmach, die den heiligen Stätten widerfahre, und
über die Pflicht der Christen, solchen Frevel nicht länger zu dulden. Der
nie versiegende Strom seiner hinreißenden Beredsamkeit und das Feuer der
95 Begeisterung, das aus seinen tiefliegenden Augen leuchtete, drangen in die
Herzen seiner Zuhörer; sein Eifer für die Religion und sein strenges Leben
flößten allen Bewunderung und Ehrfurcht ein, und überall wurde er als ein
Bote Gottes betrachtet und als ein Heiliger verehrt. Seine Erscheinung rief
in dem ganzen Abendlande eine gewaltige Bewegung hervor, und eine glühende
100 Begeisterung für die Befreiung des heiligen Landes durchdrang alle Stände
und Schichten der Gesellschaft. Keiner wollte zurückbleiben; um in den heiligen
Krieg zu ziehen, suchten selbst Greise die längst verrosteten Waffen hervor,
und Kinder übten sich, die Lanze zu tragen.
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3. Hocherfreut über den seine Erwartungen übersteigenden Erfolg der Wirk-
samkeit des frommen Einsiedlers, schrieb Urban eine Kirchenversammlung nach 105
Piacenza aus, die so zahlreich besucht war, daß keine Kirche Raum für die-
selbe bot und die Sitzungen unter freiem Himmel gehalten werden mußten.
Vor viertausend Geistlichen und dreißigtausend Laien brachte der Papst in
feuriger Rede die ganze Angelegenheit zur Sprache, die bereits alle Gemüter
bewegte, und als hierauf auch Gesandte des griechischen Kaisers Alexius er-110
schienen und um Hilfe gegen die furchtbare Macht der Türken baten, die ihre
schmachvolle Herrschaft bereits bis in die Nähe der byzantinischen Hauptstadt
ausgedehnt hatten, legten viele der Versammelten das Gelübde ab, ans den
ersten Ruf des Papstes auszuziehen zum Kampfe für die Sache Gottes.
Urban zog hierauf über die Alpen nach Frankreich, um in dem Lande, 115
das von jeher den größten Eifer für das heilige Land an den Tag gelegt,
das große Werk zur Entscheidung zu bringen. Nachdem auf verschiedenen
Provinzialversammlungen die Geistlichkeit vorbereitet worden, schrieb er auf den
achten Tag nach dem Feste des heiligen Martinus [1095] ein allgemeines Konzil
nach Clermont in der Auvergne aus. Hier strömte eine solche Anzahl von 120
Geistlichen und Laien aus dem ganzen Lande zusammen, daß die weite Ebene,
auf welcher die Versammlung abgehalten wurde, mit Bischöfen, Äbten, Fürsten,
Rittern und Herren und einer unabsehbaren Volksschar bedeckt war. In be-
geisterter Rede schilderte der Papst die Not der Christen im heiligen Lande
und die Schmach der Entweihung ihrer Heiligtümer, erinnerte an den großen 125
Karl und an alle jene christlichen Helden der Vergangenheit, die das Schwert
getragen für die Herrschaft des Kreuzes, und ermahnte die Versammelten, die
Waffen, die sie bisher zur Schmach des Rittertums in sträflichem Bruderkampfe
geführt, fortan zur Ehre des christlichen Namens und zur Erlangung eines ewigen
Lohnes gegen die Feinde des Kreuzes zu wenden und Ritter Christi zu werden 130
im Kampfe für die Befreiung der morgenländischen Kirche. Ein tausend-
stimmiger Ruf der Zustimmung, gewaltig dahinbrausend wie der weithin-
schallende Donner der Meeresbrandung, gab Zeugnis von dem überwältigen-
den Eindruck, den Urbans Rede hervorgebracht. „Gott will es!" ertönte es
in den verschiedenen Mundarten durch die unabsehbare Ebene. Nachdem bie 185
Ruhe hergestellt worden, fuhr der Papst fort: „Möge dies Wort euer Feld-
geschrei sein in jeder Gefahr und das Kreuz euer Zeichen zur Kraft und zur
Demut!" und verhieß Ablaß allen, die sich mit dem Kreuze bezeichnen, und
Sündenvergebung allen, die im Kampfe fallen würden. Da trat zuerst der
Bischof Ademar von Puy. der das heilige Land bereits besucht hatte, zu dem 140
Papste heran und bat, vor ihm niederknieend, um die Erlaubnis, in den
heiligen Krieg zu ziehen, und um seinen Segen. Als er beides erhalten,
folgte der größte Teil der anwesenden Geistlichen und Laien seinem Beispiele.
Alle hefteten nach alter Pilgersitte und als Zeichen der gemeinsamen Unter-
nehmung ein rotes Kreuz auf die rechte Schulter. Hierauf legte einer der 145
Kardinäle, welche den Papst begleiteten, im Namen aller Pilger das Sünden-
bekenntnis ab, und der Papst erteilte die Absolution. Ehe das Konzil ent-
lassen wurde, machte der Papst bekannt, daß die Kirche die Güter der
58
Kreuzfahrer in ihren Schutz nehme, verkündete einen allgemeinen Frieden unter
150 den Christen und befahl den Geistlichen, in ihren Gemeinden auch fernerhin
das Kreuz zu predigen.
4. Nach dem Schluffe der Kircheuversammlung bereiste Urban persönlich
die verschiedenen Gegenden Frankreichs und ermahnte auf das eindringlichste
und mit dem glänzendsten Erfolge zur Beteilignng an dem beschlossenen Zuge.
155 In gleicher Weise verbreiteten die heimgekehrten Bischöfe und Laien, die zu
Clermont das Kreuz genommen, in ihrer Heimat die empfangene Begeisterung.
Städte und Dörfer verwandelten sich in Lager und Übungsplätze; der Bauer
verließ den Pflug, der Schäfer die Herde, der Mönch seine Zelle; Räuber
und Mörder kamen ans ihrem Verstecke, um im heiligen Kriege ihre Verbrechen
I60zu sühnen und ein neues Leben zu beginnen. Aller Streit war zu Ende;
Fehden und Gewaltthätigkeiten hörten auf. Man sah Wunder und Zeichen
ani Himmel: Kreuze und Schwerter, Ritter, die in den Wolken kämpften,
Engel, die zum Aufbruch mahnten. Ein feuriger Weg, so heißt es, ging
durch die dunkle Bläue nach Morgen hin, und bald darauf erschien der halbe
165 Himmel glutrot. Ja, es ging die Sage, Karl der Große sei aus seinem Grabe
gestiegen, um die heiligen Streiter anzuführen. Weit über die Grenzen Frank-
reichs hinaus ergoß sich der Strom der Begeisterung; auch England, Schott-
land und Skandinavien sandten Streiter für den großen Zweck. Geringer
war die Teilnahme bei den Deutschen, da dieselben, ohnehin minder heißblütig
170 als die Franzosen' und Normannen, damals durch die innern Zerwürfnisse
und den Kirchenstreit zu sehr in Anspruch genommen waren.
Beinahe zwei volle Jahrhunderte hat die große und allgemeine Bewegung
gedauert, zu welcher durch das Konzil von Clermont der unmittelbare Anstoß
gegeben worden. Aus allen Ländern des Westens zogen Kriegsheere auf
175 Kriegsheere nach dem Morgenlande; man schützte ihre Zahl auf nahezu sieben
Millionen Menschen. Zu dem hohen, idealen Beweggründe, der die Kreuz-
fahrer nach dem heiligen Lande führte, gesellten sich auch weltliche Triebfedern;
denn wie den Kämpfern für die Befreiung des heiligen Landes ein himmlischer
Lohn winkte, so waren ihnen auch irdische Vorteile in Aussicht gestellt:
180 Schuldner, die das Kreuz nahmen, waren bis zur Heimkehr von allen Zinsen
befreit; zinspflichtige Hörige oder leibeigene Bauern wurden frei, sobald das
Kreuz ihre Schulter bedecke. Viele trieb auch Beutelust und Wandersucht
oder der Hang zu Abenteuern unter die Fahne des Kreuzes, während andere
in den Kreuzzügen eine erwünschte Gelegenheit fanden, eingegangenen Ver-
185 pflichtungen zu entgehen oder beengenden Verhältnissen zu entrinnen, die ihnen
die Heimat verleideten, und in fremdem Lande das Glück zu suchen, das sie
im eigenen nicht fanden. Dennoch ist die Geschichte der Kreuzzüge reich an
erhebenden Beispielen echter Frömmigkeit, todesmutiger Begeisterung für die
Sache des Glaubens und wahrhaft christlichen Heldensinns.
S. Klein. Charakterbilder aus der Weltgeschichte. Das Mittelalter. 1877. S. 266 ff.
Vgl. Ad. Lehmann, Geograph. Charakterbilder, Nr. 19: Jerusalem.
59
20 Ein Turnier im Beginne des 13. Jahrhunderts.
Eine halbe Wegstunde von Erfurt waren auf großer Wiese die starken
Pfähle der Turnierschranken errichtet und durch Querriegel verbunden, mit
zwei Eingängen auf den entgegengesetzten Seiten. Der freie Raum rings-
umher stieg allmählich zu den bewaldeten Höhen. Dort standen unter den
ersten Bäumen die buntfarbigen Zelte der Kämpfenden; wo ein Edler sich
gelagert hatte, wehte ein Banner mit seinen Farben und Wappenzeichen, bei
jedem Zelte stampften Rennpferde und drängten sich buntgekleidete Knechte,
Spielleute und neugierige Zuschauer. Dazwischen hatten die Erfurter Buden
und Tische aufgestellt, in denen sie Speise und Trank feilboten; hie und da
war in Hvlzhütten ein Herd errichtet mit dem Blasebalg, und die Schmiede
warteten mit ihren Hämmern am Amboß, um Schäden an Riemzeng und
Rüstungen zu bessern. Zwischen dem Waldesrand und den Schranken trieben
sich Städter und Dorfleute umher zu Fuß und zu Roß, viele waren aus
großer Entfernung aufgebrochen und hatten die Nacht bei Bekannten in der
Nähe oder gar im Freien am flammenden Feuer zugebracht. Lange vor
Beginn des Festes schallte der Lärm zum Himmel; die Sänger, welche die
Fahrt begleitet hatten, sangen von den Thaten ihrer Helden, die Geiger
spielten lustige Reigen, Rosse wieherten, die Verkäufer luden schreiend zu
ihren Buden, die Menge schwatzte und lachte. Um jeden, der Bescheid wußte,
sammelte sich ein Haufe Neugieriger, der sich die Wappen und Namen der
Ritter erklären ließ und seine Vermutungen über das Glück der einzelnen
austauschte.
Während Herr Godwin (der Kämmerer des Edlen Ivo von Jngers-
leben) mit seinen Knechten in den Schranken umherritt, dieselben von
Knaben und von vorwitzigem Volke frei zu halten, standen die fahrenden
Leute, welche als Turniergehilsen der Kämpfer in Sold genommen waren,
in großen Haufen unweit der Eingänge; denn als Helfer der Knappen
mußten sie sich in das Gewühl der Männer und Rosse werfen, um Ge-
worfene zu retten, Speertrümmer aus dem Wege zu räumen, Speere
aufzuheben, kleine Schäden an der Rüstung zu bessern; und sie thaten dies
nicht stillschweigend, sondern mit Geschrei. Die Übung half ihnen; aalgleich
wußten sie sich zwischen den Reitern und unter den Rossen durchzuwinden;
wenn aber einer von ihnen getreten oder verwundet wurde, hatte er den
Schaden und geringen Dank.
Unterdes trugen in Erfurt die Knappen der Ritter, welche an dem
Turnier teilnehmen wollten, die Schilde anmeldend nach der Herberge, in welcher
der alte Graf von Orlamünde als erwählter Turnierrichter saß. Durch ihn
wurden die Kämpfer in zwei Parteien geteilt und nach ihrem Wunsche ent-
weder Herrn Henner oder einem Dienstmann der Grafen von Gleichen zuge-
wiesen; denn Markwart von Gleichen hatte die Führung der Gegner über-
nommen, und alle, welche dem Herrn Ivo abgeneigt waren oder ihre Kraft
gegen die Herausforderer versuchen wollten, sammelten sich unter seinem
Banner. Die Mehrzahl der Kämpfer aber ging zur Messe und that heim-
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liche Gelübde für einen guten Ausgang; denn der Kampf im Turnier bedrohte
45 mit weit größerer Gefahr als das Speerrennen der einzelnen. Wer in die
Hände der Gegner fiel oder gar vom Roß geschleudert wurde, der hatte
schlechte Behandlung und Schaden an Leben und Gliedern zu besorgen.
Lange harrten die Zuschauer auf dem Rennplätze; endlich klangen die
Posaunen, und vier Scharen Geharnischter sprengten mit geschlossenen Helmen
50 auf der Straße heran, jede gefolgt von ihren Knappen.
Die Kämpfer im Helme hielten, von den Marschällen geführt, durch die
beiden Thore ihren Einritt. Es waren im ganzen etwa 80 Speere, welche
sich so aufstellten, daß die Herausforderer den Osten und Süden, die Gegner
den Norden und Westen des umhegten Raumes erhielten. Die gegenüber-
55 stehenden Haufen hatten abwechselnd gegen einander zu reiten. Wer den
Speer verstochen hatte, oder wer sich an die Schranken drängen ließ, galt
für wehrlos und durfte nach Turnierrecht durch Schläge gezwungen werden,
den Helm abzubinden und sich gefangen zu geben. Roß und Rüstung ver-
fielen dem Sieger.
60 Die vier Scharen ordneten sich, jede in zwei Glieder, die Partei Ivos
kenntlich durch einen weißen Schleier, die Gegner durch ein Tannenreis an
den Helmen. Als die Herren so hielten und die Rosse schnoben und stampften,
da dachten die Zuschauer mit Stolz daran, daß sie die Blüte ihres Adels und
der waffentüchtigen Helden vor sich sahen, im Heergewande, in ihrem schönsten
65 Kriegerschmuck, die großen Helme zum Teil bemalt mit den Wappenfarben, bei
manchen Edlen gekrönt durch einen Aufsatz, der ein geschnitztes Wappentier
wies, einen Fächer, einen Mohrenkopf, oder was sonst den Herren als Zierat
gefiel. Die Holzschilde, mit schwarzem, grauem oder weißem Pelzwerk über-
zogen und zuweilen mit den Wappenzeichen versehen, die langen Gewänder
70 über Rüstung und Roß von farbigem Stofs, mit Bildern geschmückt, waren
den Leuten ein prachtvoller Anblick.
Posaunen und Pfeifen erklangen, das Kampfspiel begann. Ivo ritt mit
seinem Haufen in schnellstem Laufe gegen die Schar des Grafen Markwart von
Gleichen, die ihm entgegensprengte, um den Anprall nicht stehenden Fußes
75 zu erwarten. Laut krachten die Speere des ersten Gliedes in jeder Schar.
Die Trümmer sanken zu Boden, und im Nu fuhr das zweite Glied durch
die Zwischenräume des ersten in den Vorkampf, damit die speerlosen Genossen
Zeit erhielten, von den Knappen, welche sich in das Gewühl stürzten, neue
Speere zu empfangen. Mit diesen Waffen drängte, wer von der ersten Reihe
80 freie Hand behielt, wieder den Genossen nach, um die Reihen der Gegner zu
durchbrechen und die Hintersten des feindlichen Haufens an die Schranken
zu drücken. Ein wildes Getümmel erhob sich, von allen Seiten tönte der
Schlachtruf und das Geschrei nach Speeren, und an der einen Seite des
Kampfplatzes wogte ein unsägliches, wirres Durcheinander von Rossen und
85 Menschenleibern. Auch die Zuschauer schrieen und jauchzten in wilder Auf-
regung, bis sich die beiden kämpfenden Scharen nach den entgegengesetzten
Seiten der Schranken auseinanderzogen, während ihre Gefangenen von den
Knappen gewaltsam aus der Umfriedung gezerrt wurden.
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Jetzt sprangen die fahrenden Leute in den Rennplatz und säuberten ihn
von dem gebrochenen Holze und den gestürzten Rossen, die sich nicht auf-90
zurichten vermochten. Wieder rief die Posaune. Die beiden andern Scharen,
welche gegenüber hielten, rannten ebenso wie die ersten zusammen; unterdes
zogen sich die Kämpfer des ersten Rennens hinter ihnen auf beit frühern
Stand. In solcher Weise wurde viermal gerannt, damit jede der Scharen
ihren langen Anlauf erhielt. Dann erhob sich nach einer Pause, in welcher 95
nur einzelne gegeneinander ritten, ein allgemeiner Kampf der beiden Parteien.
Die Zahl der Streitenden war kleiner geworden, aber der Eifer gestiegen;
die Reihenfolge im Abritt war nicht mehr zu bewahren, auch der Zusammen-
halt der Scharen wurde gelockert, von allen Seiten stießen die Wilden nach
der Mitte und suchten sich die Gegner, welche ihnen am leidigsten waren. ioo
Immer schärfer gellten die Rufe der Kämpfenden, die Pfeifen und Posaunen
schrieen dazwischen, und gleich dem Gebrüll empörter Meereswogen tönte
Zuruf, Jubelgeschrei und Klage der Schauenden um das sinnbethörende
Schauspiel.
Unterdes blieben die Führer im dichten Kampfgewühle; denn um beide 105
scharten sich am engsten die Genossen, weil die Ehre der Partei daran hing,
daß ihr Vorkämpfer nicht gefangen wurde. „Gebt Raum!" rief Ivo, den
zugereichten Speer einlegend, „jetzt bring ich's zum Ende!" und er fuhr mit
so gewaltigem Roßsprunge auf Herrn Markwart zu, daß diesem das Tier auf
das Hinterteil gesetzt wurde und mit dem Reiter zu Boden rollte. Hilflos lio
lag der Graf unter dem Rosse, und um ihn begann das Stoßen und Zerren,
so daß die Zuschauer in dem tollen Gewirr nichts deutlich erkannten, nur einen
Strudel von Helmen und Roßhäuptern, der sich kreisend um den unsicht-
baren Mittelpunkt bewegte.
Da gab der Kampfrichter den Bläsern ein Zeichen, das Ende auszu-115
rufen. Wer nach dem letzten Posaunenton noch weiter kämpfte, verlor seine .
Rüstung; darum schwand allmählich das Getöse, die Kämpfer banden ihre
Helme ab und suchten ihre Stelle in den geminderten Haufen. Ivo aber
sprengte mit entblößtem Haupte in die Mitte des Raumes, rief den Teil-
nehmern am Turniere seinen Dank aus und zog dann langsam mit seiner 1,20
Schar in den Schranken umher, während der Beifallsruf der Zuschauer wie
Donner erklang. Die Gefangenen entließ er, soweit er Macht über sie hatte,
ohne Lösegeld.
Es war ein kleines, aber ruhmvolles Turnier. Die Gegner Ivos hatten
den größern Verlust an geworfenen Helden wie an zerbrochenen Rippen, und 125
die Erfurter rühmten als besondern Zufall, daß kaum zwei gefährlich ver-
wundet waren. Nur die Beutelustigen grollten dem Sieger, weil er das
Waffenspiel allein auf Speere und nicht auch auf die stumpfen Schwerter
eingerichtet hatte, welche sonst nach dem Speerkampfe geschwungen wurden
und reichlicher zu Gefangenen verhalfen. 130
Gustav Freytag. Die Ahnen. IN. Ges. W. B. X. 1887. S. 92 ff.
Vgl. Lehmann, Kulturgeschichtliche Bilder, Nr. 4: Turnier.
62
21. Ritterliche Erziehung.
Der Sohn des Ritters blieb bis zum siebenten Jahre unter Obhut der
Mutter und ihrer Edelfraueu. Sie lehrten ihn die ersten Gebete und Gebote
der Religion und suchten seinen Sinn insbesondere für Barmherzigkeit und
Milde zu öffnen, welche dem Ritter um so weniger fehlen sollten, je mehr
5 ihn Reichtum, Macht ltitb Ruhm verhärten konnten. Im übrigen war es
eben noch die fröhliche Zeit des Spiels. Mit dem siebenten Jahre aber be-
gann allmählich der strenge Ernst der Zucht. Der Knabe trat wohl unter
die Aufsicht eines besonders bestellten „Meisters", wie er schlechthin genannt
zu werden Pflegte, und dieser sparte erforderlichen Falls selbst die Schläge
10 nicht, wenn er auch von Anfang cm und lieber das keimende Gefühl der
Ehre anrief.
Wie der künftige Mönch nirgends anders als im Kloster erzogen werden
konnte, so verließ auch der Edelknabe das elterliche Haus, um draußen in der
Fremde unter fremder Hand zu erwachsen; denn nur einer solchen schien der
15 rechte Nachdruck der Zucht und die wahrhaft bildende Kraft innezuwohnen,
und nur der, glaubte man, könne dereinst Herr sein, der zuvor dienen gelernt
habe. Daher wird der Knabe, wie hoch ihn seine Geburt immer gestellt,
einem andern Ritter übergeben, noch häufiger an den Hof eines Fürsten gethan,
um da gemeinsam mit seinesgleichen in alledem Unterweisung zu empfangen,
20 was den Grund ritterlicher Tugend, Kunst und Ehre ausmacht. Ins-
besondere jedoch hat der „Bube", wie der Ritterknabe auf dieser Stufe heißt,
sich der „Höfischheit" zu befleißigen, da ohne sie der Ritter seines Namens
nicht wiirdig ist. Diese aber konnte nicht sicherer erlernt werden als im Um-
gänge mit den Frauen, den Hüterinnen alles Schönen und Edeln. Der
25 Burgsaal war gleichsam eine Hochschule der Edelknaben, indem dort auch
von Frauenmund Kamps und Minne gepriesen wurde, und in eben diesen:
Sinne widmete denn der jugendliche Schützling seiner Herrin eine nie er-
müdende Ergebenheit. Er begleitete sie auf ihren Gängen und auf der Jagd,
er wartete ihrer bei Tisch und lauschte achtsam ihren Gesprächen und Wei-
30 jungen.
Aber diesen Spielen der „Höfischheit" gegenüber fehlte es ebensowenig
an ernster Mahnung und an strenger Arbeit; denn nicht bloß, daß, wie
erwähnt, den Knaben noch ein besonderer Meister vorgesetzt wurde, auch weise
Männer, Geistliche und fahrende Sänger erscheinen als Lehrer und Bildner
35 derselben. Daher blieb denn zuvörderst eine tiefere Begründung der Sittlich-
keit und Frömmigkeit gewiß nicht verabsäumt. Was dagegen das eigentliche
Wissen anlangt, so mochte man meistens für genügend halten, wenn diese
Knaben außer der Kenntnis der heiligen Geschichte noch einen Schatz von
Sagen und andern Überlieferungen innehatten; es kamen etwa Lesen und
40 Schreiben und in einzelnen Fällen die Erlernung einer fremden Sprache,
namentlich der französischen, hinzu, die bereits als die Sprache feiner Bildung
anerkannt und meist von Franzosen selbst gelehrt wurde. Erwägt man weiter.
63
daß auch wohl gewisse kosmographische und Rechtskenntnisse überliefert wurden,
und daß die Kunst des Gesanges und des Saitenspiels jederzeit Pflege fand,
so begreift sich, wie es allewege galt, sich ernstlich zu mühen. 45
Endlich aber nahinen eine wichtige, ja die wichtigste Stelle die Leibes-
und Waffenübungen ein, wenn schon jede schwerere und gefahrvollere, wie
die Führung des Schwertes, reifern Jahren aufbehalten blieb. Der Edel-
knabe lernte vor allem reiten, schwimmen und springen, er schoß mit Bolzen
und Pfeil, schwang Schild und Speer und ward dann in die Kunst des 50
Weidwerks eingeführt, so daß er selbst den Reiher zu beizen und den Hirsch
wenn auch nicht zn füllen, doch regelrecht zu zerwirken und zu zerlegen vermochte.
Auf diese erste, leichtere Lernzeit folgte im vierzehnten Jahre, zuweilen
später, die zweite, schwerere: der Edelknabe ward zum Knappen erhoben.
Eine feierliche Wappnung und andere Bräuche deuteten bezeichnend auf die 55
neuen Rechte und Pflichten. Nun nahmen die kriegerischen Übungen den
Charakter des vollen Ernstes an, und die damit verbundene Gymnastik steigerte
sich zu einer Gewandtheit und Kühnheit, welche heutzutage nur an sogenannten
gymnastischen Künstlern gesehen wird. Zugleich eignete sich der Junker jene
ritterliche Waffensitte an, der das Turnier eben nur als Wettspiel und zwar 60
als ein Wettspiel unter Gleich- und Edelgeborenen galt. Er mußte die Streit-
begier zügeln lernen, mußte jeden Vorteil verachten, den der bloße Zufall
bot, mußte allen Groll aufgeben, sobald der Sieg entschieden hatte, und eben
diese Gesinnung sollte sich nicht weniger im wirklichen Kampfe bewähren und
ihn adeln. An dem letztern hatten die Knappen zwar in der Regel noch 65
nicht teilzunehmen; aber da sie die- Schildträger der Ritter und Fürsten waren,
so begleiteten sie diese auch auf den mannigfachen Fehdezügen. Ihr Platz war
hinter der Schlachtreihe, und sie mußten in jedem Augenblicke bereit sein, dem
Verwundeten oder Fallenden zu Hilfe zu eilen, einen Hinterhalt abzuwehren
u. dgl. Auf solche Weise lernten die Knappen mit Mut und Geistesgegen-70
wart der Gefahr begegnen; ganz besonders aber bildete sich so in dem Jüng-
linge jener Geist der Mannentreue, der in Leben und Dichtung der Ritterzeit
oft so rührend und selbst großartig hervortritt und die eigentliche sittliche
Grundlage des Lehensverhältnisses ausmacht.
Mit diesen gefahrvollen Ehrendiensten gingen andere minder kriegerische 75
Hand in Hand; dahin gehörte die Aufsicht über Meute, Rüstkammer, Marslall,
Keller, Küche, Tafel u. s. w., Dienste, denen sich auch der fürstlich geborene
Knappe nicht entzog, wie denn die Hofämter des Mundschenken, des Truch-
sessen, des Jägermeisters noch heute eine hohe Würde bezeichnen.
Es bedarf kaum der besondern Erwähnung, daß mit dem allen eine 80
edle Geistes- und Gemütsbildung Hand in Hand ging. Die Pflege der Kunst
füllte die stillern Tage, und der ritterliche Herr hielt sich dem jugendlichen
Vertrauen seines Dieners gegenüber verbunden, ihn ans jede Weise in rechtem
Sinn und in rechter Sitte zu bestärken. Gott zu minnen inniglich und reine,
romme Frauen, von Treue und Ehre nie zu lassen, der Kargheit feind Milde 85
und Freigebigkeit zu üben wie gegen den Gast und den Armen, so gegen den
64
Sänger, der wandernd in den Hallen der Burg erscheint, bescheiden zu schweigen
und bescheiden zu reden und in nichts die „Maße" zu verleugnen: das war
es, was er in Wort und That dem Jünglinge als unverletzliche Pflicht vor
90 die Seele stellte.
Hatte der Knappe sich mit allen Künsten des Kampfes vertraut gemacht
und sich edel und wert gezeigt, so wurde er endlich in die Zahl der Ritter
aufgenommen. Diese Würde erst gesellte ihn als einen Ebenbürtigen der
großen Waffengenossenschaft germanischer und romanischer Zunge; ihrer teil-
95 haft zu werden, erstrebten deshalb alle, auch Könige und Kaiser; wir lesen sogar,
daß vornehme Sarazenen dieselbe von christlichen Herrschern — Richard
Löwenherz, Friedrich II. — erbitten und erhalten. Als das eigentliche Stufen-
jahr des Ritters galt das beendigte zwanzigste, doch nicht ohne vielfache
Ausnahmen; denn das altgermanische Recht hatte die Wehrhaftmachung
1O0 bereits an das fünfzehnte Jahr geknüpft. Mit ihm ward ehedem der Deutsche
waffenfähig und mündig; daher empfingen denn namentlich Fürsten auch
später noch häufig in diesem frühen Alter die Ritterweihe.
Die Verleihung dieser Würde erfolgte bald in schlichterer, bald in be-
deutsamerer Weise, nicht selten unmittelbar vor einer Schlacht. Andererseits
105 mochte es geschehen, daß selbst Damen, Fürstinnen sie vollzogen, während
wiederum auch auf eine gewisse religiöse Weihe gehalten ward. Denn die
„Schwertleite" (Anlegung des Ritterschwertes) sollte im Grunde die Berufung
zum Gottesstreiter versinnbilden. Deshalb legte — nach französischem Brauch
— der Knappe das weiße Gewand an, wie einst die Täuflinge, und nach-
tl'vdem er mit Fasten, nächtlichen Wachen und Gebet sich bereitet und das frei
wallende Stirnhaar hatte scheren lassen, nahm er am Morgen des festlichen
Tages das Sakrament, und nun erst, unter frommen Anrufungen und Ge-
lübden, empfing er knieend aus der Hand eines bewährten Ritters den Ritter-
schlag, d. h. er wurde dreimal, im Namen Gottes, der Jungfrau und eines
115 Heiligen, mit dem Schwerte berührt, erhielt auch wohl noch einen leichten
Backenstreich als den letzten, den er hinnehmen dürfe, und ward dann mit
dem vom Priester geweihten Schwerte umgürtet. Zugleich führte man ihm
ein Pferd vor, damit er in dem nun folgenden Turniere seinen Strauß bestehe.
Jene Gelübde aber, wie verschieden sie in den verschiedenen Ländern und
120 Landschaften lauten mochten, verpflichteten ihn im wesentlichen zum Kampfe
für den Glauben und die Kirche, zum Schutz der Witwen, Waisen und aller
Unterdrückten, zum treuen Dienst gegen Herren und Frauen und zur Wahrung
ritterlicher Ehre. „Gott meine Seele, mein Leben dem König, mein Herz
den Damen, die Ehre für mich!" dieser Wahlspruch der französischen Ritter
125 war der des Rittertums überhaupt.
Herm. Masius. — K. ?t. Schmids Geschichte der Erziehung. Bd. II. 1. Abteilung. 1892. S. 268 ff.
22. Die Schlacht bei Mühldorf (1322).
Acht Jahre lang hatte sich seit der unseligen Doppelwahl der Kampf
zwischen den Gegenkönigen Ludwig von Bayern und Friedrich von Österreich
65
hingezogen; mehrmals waren sich ihre Heere gegenüber gelegen, ohne daß es
zu einer Entscheidung gekommen wäre.
Endlich im Jahre 1322 sollte diese herbeigeführt werden. Da die Lage 5
für die Partei des Habsburgers besonders günstig geworden war, schritten
die beiden Brüder Friedrich und Leopold im Herbste 1322 zu einem neuen
Angriffe auf Bayern, und zwar beschlossen sie ähnlich wie schon früher einmal
getrennt zu marschieren und vereint zu schlagen: Leopold rüstete wieder in den
schwäbischen, Friedrich in den österreichischen Landen. König Karl von Ungarn 10
sandte 4—5000 Ungarn und heidnische Kumanen idie, einem türkischen Stamme
angehörig, in Ungarn sich angesiedelt hattenj ain linken Donauufer herauf,
während die Österreicher am rechten vorrückten, beide Heerhaufen unter Ver-
übung entsetzlicher Greuel. Nachdem Friedrich Passan besucht und die
Kirchenfürsten von Salzburg, Passau und Lavant in Kärnten ihre Truppen 15
mit ihm vereinigt hatten, drang das gesamte Heer durch niederbayerisches Ge-
biet bis Mühldorf und besetzte diese Stadt.
Doch auch dem Wittelsbacher war in den letzten Jahren manche Ver-
stärkung geglückt, indem er zu seinen alten Bundesgenossen einige neue Ver-
bündete gewonnen hatte. Diesmal fest entschlossen, eine Entscheidung herbei-20
zuführen, lagerte Ludwig am 23. September bei Anzing, nördlich von Win-
höring. Noch am 27. empfing er neuen Zuzug. Daß man unter seinem
Banner gegen Heiden kämpfen, also bequem in der Nähe ein Verdienst er-
werben konnte, das sonst mit großen Beschwerden und Kosten in der Fremde
zu suchen war, führte ihm manchen Streiter zu. Über die Stärke der beiden 25
Heere gehen die Angaben zu weit auseinander, als daß man darauf Gewicht
legen könnte; indessen scheint ziemlich sicher, daß Ludwigs Heer an Zahl
wenig überlegen war. Um so jämmerlicher war es um die wittelsbachische
Kriegskasse bestellt.
Friedrich war von Mühldorf in westlicher Richtung gegen Dornberg 30
und Ampfing in das Gefilde zwischen Inn und Isen vorgerückt. Vielleicht
beabsichtigte er, diese Bewegung fortzusetzen, um die Vereinigung mit seinem
Bruder anzubahnen, den er durch ansgesandte Boten zur Eile mahnen ließ.
Aber schon war Ludwigs Stellung am linken Ufer der Isen derart, daß er
sich jederzeit zwischen Friedrich und seines Bruders Anzugslinie schieben 35
konnte. Leopold aber stand um die Zeit der Schlacht erst bei Alling, vier
Stunden westlich von München, drei starke Tagemärsche von Friedrich ent-
fernt. Daß dieser über Mühldorf einbrechen würde, war doch wohl unter
den Brüdern schon vorher vereinbart. Statt nun unaufhaltsam in dieser
Richtung vorzudringen, wartete Leopold erst die Rückkehr eines Boten ab, 40
den er vorausgesandt, um nähere Nachrichten von Friedrich einzuholen. So-
wohl dieser aber als auch Friedrichs Bote wurden von fürstenfeldischen
Klosterleuten aufgefangen. Es ist wohl behauptet worden, dieser Zwischenfall
habe die Schlacht entschieden; aber es ist anzunehmen, daß Leopold, der sich
in Schwaben zu lange mit Verwiistung der montfortischen Lande aufgehalten 45
hatte, auch ohne ihn zu spät gekommen wäre.
Für die Bayern enthielt die Sachlage auf alle Fälle die unverkennbare
Teutsches Lesebuch für bnyer. Mittelschulen. B. IV. 5
Aufforderung, den Kampf sobald als' möglich zu eröffnen. König Johann
von Böhmen, der zu Ludwigs Heere gestoßen war, drang darauf, gleich am
50 folgenden Tage zu schlagen, der durch das Fest des böhmischen Schutzpatrons,
des heiligen Wenzel, ausgezeichnet war. So wurde denn von Ludwig die
Schlacht auf diesen Tag, den 28. September, angesagt und vom Gegner auch
angenommen. Wohl hatten Friedrich erfahrene Kriegsleute, fein Marschall
Dietrich von Pilichsdorf, die Brüder Ulrich und Heinrich von Waldsee, auch
55 der Salzburger Erzbischof davon abgeraten. Aber so wenig wie Ludwig war
der Habsburger ein Mann nüchterner Berechnung, den Gefühl und Stim-
mung des Augenblicks nicht beirren. Er meinte, nachdem der Streit um das
Reich schon foviele Witwen und Waisen gemacht, diirfe nun die Entschei-
dung, sie falle wie immer, nicht länger aufgeschoben werden. Noch in der
60 Nacht ritt er mit seinem Marschall Dietrich von Pilichsdorf im Lager umher,
seine Krieger ermunternd.
Als der Morgen graute, vollzog Ludwig den Übergang über die Isen,
den ihm tags vorher feindliche Bogenschützen verwehrt hatten, und stand nun
dem Feinde unmittelbar gegenüber. Die Flur, welche zum Schlachtselde
65 werden sollte, dehnt sich zwischen: Neufahrn, Mettenheim, Lochheim und dem
Mühldorfer Hart s—Walch. Sie hieß die Feh- oder Gickelfeh- d. h. bunte Wiese,
ein Name, der später nicht mehr verstanden und in Fechtwiese verdorben ward.
Nach dieser Wiese, nach Dornberg, Ampfing oder Mühldorf benannten die
Zeitgenossen die Schlacht. In beiden Lagern hörte man, wie vor einer Schlacht
70 üblich war, die Messe, nahm das Abendmahl und erteilte Ritterschläge.
Friedrichs Heer war ohne die Ungarn, über deren Ausstellung man
nicht sicher unterrichtet ist, in vier Abteilungen geordnet. Die erste, wo das
Bankier von Steiermark wehte, führten die Brüder von Waldsee, die zweite
Friedrich selbst, und hier flatterte das Reichsbanner in der Hand des Elsässers
75 von Geroldseck. Die dritte mit dem Banner von Österreich, das getragen wurde
von dem Marschall von Pilichsdorf, leitete Friedrichs Bruder, Herzog Heinrich, der
erst vor kurzem ans Italien zurückgekehrt war. Die vierte Abteilung bildeten
die Salzburger, wohl auch Passauer und Lavanter. Die drei Kirchenfürsten
selbst aber nahmen am Kampfe nicht teil, sondern warteten nach dem Rate
80 des Erzbischofs von Salzburg in Mühldorf die Entscheidung ab. Auf der
andern Seite hatte Ludwig das Reichsbanner seinem treuen Konrad von
Schlüsselberg anvertraut. Er selbst in blauem Waffenrock mit weißen Kreuzen
(oder etwa Ranten), ohne Abzeichen der königlichen Würde, hielt mit elf
gleichgekleideten Begleitern auf leichtem Pferde etwas abseits, um die
85 Schlacht zu leiten. Die Erinnerung an König Adolfs Tod bei Göllheim,
an Ottokars Ende auf dem Marchfelde mochte ihn lehren, daß es dem Könige
nicht zieme, Schwertschläge auszuteilen und zu empfangen.
Nun stießen die Heere aneinander unter Kriegsgeschrei und Trvmpeten-
geschmetter. Die Böhmen unter ihrem Könige eröffneten den blutigen Reigen,
90 wurden aber von den Österreichern und Steirern zurückgeschlagen. Um Mittag
waren angeblich fünfhundert ihrer besten Krieger aus dem Sattel geworfen.
67
König Johann selbst lag bereits vor dem Rosse des Pilichsdorfers, aber ein
österreichischer Ritter soll ihm verräterisch aufgeholfen haben.
Es war die letzte, ohne Anwendung von Feuerwaffen geschlagene, große
Ritterschlacht ans deutschem Boden; aber schon bemerkt man als Vorboten 95
einer neuen Kriegsepoche ein gewisses Übergewicht des Fußvolkes. Die Bayern
wenigstens verstärkten dasselbe, indem sie ihre Reiter absitzen ließen; auch
soll das niederbayerische Fußvolk gleich dem österreichischen bei Göllheim
besonders auf das Niederstechen der Pferde ausgegangen sein. Der Kampf
stand, als im Rücken der Bayern eine neue Reiterschar auftauchte. Hielten 100
die Österreicher dieselbe anfangs für die ersehnten Truppen Leopolds, so
wurden sie sogleich bitter enttäuscht. Es war der Burggraf Friedrich von
Nürnberg, der auf den Höhen jenseit der Isen im Hinterhalte gelegen und
nun zur rechten Zeit mit der frischen Kraft seiner Reiter eingriff, ein Kriegs-
mittel, das von Ludwig mit dem besten Erfolge auch bei Gammelsdorf an-105
gewendet worden war. Wie damals, wenn auch nicht so frühzeitig, ergriffen
die Ungarn und Kumanen, deren oberster Anführer gefallen sein soll, zuerst
die Flucht. Und wie damals, nur der Größe der Heere und des Kampf-
preises entsprechend noch weit ruhmvoller, war auch heute der Ansgang der
Schlacht, die der bayerisch-österreichische Stamm, zum großen Teile nur unter 110
sich, um das Schicksal des Reiches schlug.
Nach achtstündigem Ringen, und nachdem Tausende von Gefallenen die
Walstatt bedeckten, ergaben sich fast alle noch lebenden österreichischen Ritter,
nach übereinstimmenden Angaben aus verschiedenen Lagern dreizehn- bis vier-
zehnhnndert, unter ihnen auch Herzog Heinrich und zuletzt mit dein Marschall 115
von Pilichsdorf, der die bayerische Hast schon nach Gammelsdorf gekostet,
der Gegenkönig selbst Mit glänzender Tapferkeit hatte Friedrich gefochten,
so daß man von ihm rühmte, nie sei ein besserer Ritter, ein kühnerer Mann
im Kampfe gelvesen. Nun streckte er die Waffen vor einem Dienstmanne des
Nürnberger Burggrafen, Eberhard von Mosbach, der ihn seinem Herrn zuführte. 120
Es war um die Vesperstunde, als der Gefangene vor Ludwig gebracht
ward, der ihn, unter einem Baume stehend, in der guten Laune des Siegers
mit dem Zuruf empfing: „Vetter, wir sehen Euch gerne!" Wohl mochten beide
gedenken, daß am Michaelstage [29. Sept. vor fünfzig Jahren ihr gemeinsamer
Großvater Rudolf zum Könige gewählt worden war. Friedrich wurde zunächst 125
auf die Burg Dornberg, nach Beschluß eines am folgenden Tage gehaltenen
Kriegsrates aber nach der Burg Trausnitz an der Naab gebracht, wo ihn
der nordgauische Vitztum Weiglin unter seine Obhut nahm. Da man von
Leopold noch nichts erfahren, zog Ludwig tags darauf gegen die Sitte, welche
dreitägige Behauptung des Schlachtfeldes verlangte, vorsichtig auf den ver- ino
lassenen Lagerplatz bei Anzing zurück. Leopold aber fühlte sich zu schwach,
für sich allein mit Ludwig noch anzubinden, und trat sengend und brennend
den Rückmarsch nach Schwaben an.
Endlich waren die Würfel gefallen und so gefallen, wie es der Sieg
von Gammelsdorf Ludwigs Anhänger hoffen ließ. Nach unvergleichlich 125
raschem Aufschwung mußten nun die Habsburger für längere Zeit auf die
5*
68
Führerrolle im Reiche verzichten. Erwägt man überdies, daß nun jahrzehnte-
lang in Deutschland keine große Schlacht mehr geschlagen wurde, so begreift
man, wie tief der Mit- und Nachwelt die Erinnerung an diese sich eingeprägt
140 hat. Kaum ein Ereignis der bayerischen Geschichte ist so volkstümlich, keines
so von Sagen umsponnen worden.
Siegmund Riezler. Geschichte Bayerns. B. II. 1880. S. 332 ff. (Gekürzt.)
Vgl. Lohmeyer, Wandbilder: Die Gefangennahme Friedrichs des Schönen in der
Schlacht bei Mühldorf.
33. Eine deutsche Stadt im Mittelalter.
1. Wie wenig ein Tag, der ruhig verläuft, in dem Leben einer Stadt
im Mittelalter bedeutet, uns, den späten Nachkommen, gewährt er doch
manchen lehrreichen Eindruck, welcher vielleicht dazu hilft, das Fremdartige
jener Zeit zu verstehen.
5 Noch liegt die Stadt um 1300 zwischen Wald und Wasser, von Holz, Teich,
Bruch sSumpflandj und Heide umgeben. Aus der Heide führt die Straße durch
die Landwehr, einen Wall mit Graben, der die Flur und ihre Gemarkung
in weitem Kreise umzieht; der Wall ist mit Dornengebüsch und Hecken besetzt,
die Feinde abzuhalten. Über die Baumgipfel des Waldes und ans den be-
10 nachbarten Höhen ragen einzelne Warttürme, schmucklose Steinbauten, zuweilen
mit hochgelegener Thüre, die nur durch eine Leiter zugänglich wird, oben mit
Umgang oder Plattform. Hinter der Landwehr zeigt sich die Stadt, die
Morgensonne glänzt von der hohen Kuppel der Stadtkirche, von dem riesigen
Holzgerüste des neuen Doms, an welchem gerade gebaut wird, und von vielen
15 großen und kleinen Türmen der Stadt. Diese stehen, aus der Ferne betrachtet,
dicht gedrängt nicht nur an Kirchen und Rathaus, auch zwischen den Häusern
als Überreste alter Befestigung oder an einer Binnenmauer, welche die alte
Stadt von einem neuern Teile scheidet; dann hat die innere Mauer auch
Thore, die bei Nacht zu großer Belästigung der Bürger noch geschlossen
20 werden. Sehr groß ist die Zahl der Mauertürme, und die Menge wird noch ver-
mehrt. München hatte damals gegen einhundert, Frankfurt zwischen sechzig und
siebzig, kaum irgend eine menschenreiche Stadt weniger. Diese Türme, quadratisch
oder rund gebaut, von ungleicher Höhe und Dicke, sind bei einer reichen Stadt
mit Schiefer oder Ziegeln gedeckt, vielleicht mit metallenen Knäufen versehen,
25 welche im Sonnenlichte wie Silber glänzen, mit kleinen Fahnen darauf und hie
und da einem vergoldeten Kreuze. Auch Erker springen aus der Mauer vor nach
dem Stadtgraben; sie sind zum Teil heizbar, zierlich gedeckt und mit metallenen
Kugeln geschmückt.
Sv wird die alte Stadt gewaltig dem Anblick, und der Buschreiter,
30 welcher von seinem Klepper auf den ungeheuern Steinkasten schaut, denkt
begehrlich bei blinkenden Kreuzen und Knöpfen an die tausend herrlichen
Dinge, welche die Stadtmauer seinem Wunsche vorenthält. Aber zwischen
ihm und der Stadt steht auf einer Anhöhe der Rabenstein, und schwarzq
Vögel fliegen dort um formlose Bündel an dem hohen Stadtgalgen. Beim
35 Hochgericht vorbei führt der Weg durch Äcker, Weiden und Gemüsegärten;
noch außerhalb der Mauern sind Menschenwohnungen, hier ein Ackerhvf mit
69
Steinhaus, Stall und Scheuer, wahrscheinlich Landbesitz eines Geschlechtes,
auch er mit Mauer, Graben und Zugbrücke umgeben. Auf luftigen Stellen
drehen nahe der Mauer Windmühlen ihre Flügel; wo ein Bach durch Wiesen
läuft, klappern die Rüder der Wassermühlen. Liegt die Stadt an einem größern 40
Flusse, dann sind Schiffsmühlen mit gewaltigen Radschaufeln gebaut, im
Schutze der Mauern und Türme, damit die Stadt in einer Notzeit nicht des
Brotes entbehre. Und führt außerhalb der Mauer eine Brücke über den
Fluß, so hat sie unten schwache Eisböcke zum Schutz und bildet oben einen
gedeckten Gang, mit Türmen an beiden Ufern; in der Mitte der Spannung 45
steht wohl das Bild des Schutzheiligen mit Kruzifix und einem Opferstock,
in welchen der Biirger, stolz auf seine stattliche Brücke, freiwillig einlegt,
damit der Stadt die Erhaltung der Brücke leichter werde.
Doppelt sind alle größern Thore; um das Außenthor steht ein festes
Werk, ein dicker Turm, dahinter liegt die Brücke über dem breiten Stadtgraben, 50
in welchem der Rat Fische hält trotz des Schlammes.
Wer am Morgen die Stadt betritt, der begegnet sicher zuerst dem Stadt-
vieh; denn auch in den großen Reichsstädten treibt der Bürger Landbau
auf Wiesen, Weiden, Äckern, Weinbergen der Stadtflur; die meisten Häuser,
auch vornehme, haben in engem Hofraume Viehställe und Schuppen. Der 55
Schlag des Dreschflegels wird noch 1350 in Nürnberg, Augsburg, Ulm nahe
an dem Rathause gehört. Unweit der Stadtmauern stehen Scheuern und
Stadel, jedes Haus hat seinen Getreideboden und häufig einen Kelterraum;
denn der Weinbau wird damals, wie bekannt, in fast ganz Deutschland ver-
sucht, nicht nur in Thüringen, auch in der Mark und in Pommern, ja sogar 60
in dem neuen Ordenslande Preußen. Begeht die Stadt frohe Weinlese, dann
rücken Bewaffnete in das Feld, damit die schwärmenden Städter vor einem
Überfalle sicher sind. Von außen sieht die Stadt aus wie der prächtige Stein-
palast eines Riesenkönigs, von dem kleinen Platze am Binnenthore wie ein
großes Dorf, trotz der höhern Häuser. In den Gassen der Stadt traben 65
die Kühe, ein Schäfer führt mit seinem Hunde die Schafherde auf die nahen
Höhen, auch im Stadtwalde weidet das Vieh; aber das wird gerade in diesem
Jahrhundert als schädlich für das Holz erkannt und hie und da verboten,
ja kluge Städte säen sogar Wald an, z. B. Nürnberg im Jahre 1368 mehrere
hundert Morgen. Große Flüge von Tauben heben sich ans den Gassen; sie 70
sind Lieblinge der Bürger, seltene Arten werden gesucht, einer sucht sie dem
andern abzufangen, und der Rat hat zu schlichten. Noch mehr Mühe machen
dem Rate die Borstentiere und ihr Schmutz; denn die Schweine fahren durch
die Hausthüren in die Häuser und suchen auf dem Wege ihre unsaubere
Nahrung. Der Rat verbietet zuweilen, Schweineställe an der Straße zu bauen, 75
so 1421 in Frankfurt; auch im reichen Ulm laufen die Schweine übel-
riechend aus den Straßen umher bis 1410, wo ihnen dies Recht auf die
Mittagsstunde von 11—12 beschränkt wird. In den Flußarmen, welche durch
die Stadt führen, hat das Vieh seine Schwemmen, dort brüllt und grunzt
es und verengt den Weg für Menschen und Karren. 80
Die Hauptstraßen der Stadt sind hie und da gepflastert, längs der
70
Häuser besondere Steinwege, und vornehme Städte, wie Aachen, Nürnberg,
Ulm, halten städtische Pflasterer und lassen sich die Straßenbesserung etwas
kosten. Aber nicht überall war man so weit, in Frankfurt wurden die Haupt-
85straßen bis 1399 nur durch Holzwellen, Sand und kleine Steine gebessert;
doch muß der Weg oft schwierig gewesen sein; denn es gab für die Domherren
eine gesetzliche Entschuldigung, beim Konvent zu fehlen, wenn der Straßen-
schmutz arg war. Wurde auf einem Platze der Stadt ein Fest gefeiert, ein
Stechen oder Schauspiel, dann wurde der Platz mit Stroh belegt; das-
90 selbe durfte jeder Bürger vor seinem Hanse thun. Wer bei schlechtem
Wetter ausging, fuhr in schwere Holzschuhe; von den Ratsherren wurde ge-
fordert, daß sie diese vor der Sitzung auszogen.
Auf den Straßen sind die Brunnen häufig; es sind einfache Ziehbrunnen
mit Rolle, Kette und Doppeleimer: wird der eine heraufgewunden, so fährt
95 der andere zur Tiefe. Wo gutes Wasser fehlt, sind die Städte seit ältesten
Zeiten bemüht gewesen, reine Quellen und Bäche in die Stadt zu leiten.
2. Die Stadt hat ihren Markttag. Am Rathause ist die rote Fahne
ansgesteckt; solange sie hängt, haben die fremden Verkäufer das Marktrecht.
Zu allen Thoren ziehen die Landleute der Umgegend herein, auch die Land-
lOObäcker und Metzger, welche heute an besondern Plätzen feilhalten dürfen.
Auf Stünden, Tischen, in Krambuden und den Stadtbänken sind die Waren
ausgelegt. Das kleine Handwerk der Stadt zeigt heute im Gewühl der Fremden
und Einheimischen, was der Fleiß des Bürgers in der Woche geschaffen.
Jeder ältere Handwerksmann wußte damals, daß sein Handwerk seit
105 Menschengedenken große Veränderungen erfahren hatte. Überall größere Kunst und
Reichlichkeit des Lebens, neue Handwerke waren entstanden, unaufhörlich änderte
die Mode. Aus dem Handwerke der Eisenschmiede waren wohl zwölf jüngere
gekommen, vom Sarwürker, der die Kettenpanzer verfertigte, bis zum Nestel-
(Hestel-)macher. Die Riemer, Sattler und Beutler hatten sich getrennt, und die
110 Beutler verfertigten Handschuhe und zierliche Ledertaschen für die Frauen
und parfümierten sie mit Ambra seiner wohlriechenden Masses. Die Glaser,
sonst geringe Werkleute, waren hoch heraufgekommen; sie verstanden durch-
sichtiges Glas in den schönsten Farben zu verfertigen, sie setzten diese
Stücke kunstvoll in Blei zu Bildern zusammen, malten Gesichter und Haare,
115 schattierten die Gewänder mit dunkler Farbe und schliffen helle Stellen aus.
Die Schneider, eine sehr wichtige und ansehnliche Innung, waren zumeist
durch die Mode geplagt; schon damals war Klage, daß ein Meister, der
im vorigen Jahre noch zur Zufriedenheit gearbeitet hatte, jetzt gar nichts
mehr galt, weil er die Kunst der neumodischen gerissenen und geschlitzten
120 Kleider nicht verstand. Sogar die Schuster waren sehr kunstreich geworden;
ihr Handwerk war schwierig, sie hatten Schnabelschnhe zu nähen von buntem
Leder, deren Spitzen sich zuerst etwas in die Höhe erhoben und dann wie
der Kamm eines Truthahns hinabhingen: es war Rittertracht. Der Rat
wollte für die Bürger nur geringe Länge der Schnäbel zulassen; aber das
125 war vergeblich, die Zierlichkeit war nicht aufzuhalten. Auch die Schuster
hatten sich geteilt: wer moderne Schuharbeit von buntem Leder verfertigte.
71
nannte sich — doch nicht überall, aber z. B. in Bremen-Korduaner; die andern
hießen schwarze Schuhmacher. Sie hatten wieder die Altbüßer [— Flickers
non sich ausgeschlossen, diese saßen als kleine Leute in besondern Ständen bei
ihrer Bastelarbeit s— Flickarbeit^.
Daß die Handwerker sich stolz in ihrer Kunst fühlten, sah man schon
auf der Straße an den Häusern, wo die Jnnungsstuben waren; denn sie
hatten wie die Geschlechter ein schönes Wappen daran gemalt. Das hatten
sie sich selbst gesetzt nach alter Überlieferung, vor andern die Schmiede, welche
Hammer und Zange in einem Schilde führten nach dem Sageuhelden ihres
Handwerks, dem Witege, dem Sohne Wielands des Schmiedes, oder es war
ihnen neulich gar von einem deutschen Könige verliehen worden, weil sie ihm
tapfer beigestanden hatten. So sahen die Weißbäcker freudig auf ihre gekrönte
Brezel; denn sie wurde von zwei schreitenden Löwen gehalten, welche in den
andern Pranken ein Schwert hielten, und war ihnen von Kaiser Karl IV.
wegen ihres Löwenmuts zugeteilt worden.
An dem Stadtthore ist Aufenthalt und Gedränge; denn jeder Wagen,
der den engen Durchgang passieren soll, wird von den Thorhütern sorglich
beschaut wegen der Waren, und daß keine Arglist eingefahren werde. Der
Fuhrmann zahlt einen Thorzoll und eine Abgabe von den Waren; die Lebens-
mittel aber, welche die Stadt nicht entbehren kann, werden zum Teil
frei eingeführt, auch einzelne Rohstoffe, welche eine begünstigte Innung für
ihre Arbeit bedarf. Den Karren der Landleute folgen große Frachtwagen.
Ihr Inhalt ist unter einer Leinwanddecke verborgen, ist ein wertvolles Kauf-
mannsgut, eine schwere Ladung; denn viele Pferde waren nötig, um die
Wagen auf den schlechten Wegen fortzuschaffen. Bewaffnete Reiter des nächsten
Landesherrn haben der Karawane das Geleit bis an die Stadtmark gegeben.
Sorgenvoll hat der Eigentümer die Ankunft erwartet, er ist mit seinen Knechten
hinausgeritten an die Landwehr, dort hat er das Geleit empfangen und zieht
jetzt freudig bei den Wagen ein mit Trabanten der Stadt und seinen Knechten.
Der Zug windet sich mühsam durch die Straßen bis zu der Ratswage, wo
die Waren genwgen werden und ihre Steuer entrichten. Es ist gute Teil-
nahme in der Bürgerschaft und am Rathause bemerkbar, und der Kaufmann
wird viel beglückwünscht; denn obgleich dieser Kaufherr seine Feinde hat
und der Handwerker wenig Untugenden christlicher Menschen so sehr haßt
als den Hochmut seiner Geschlechter, so ist glückliches Einbringen einer wert-
vollen Ladung in die Stadtthore doch ein ebenso freudiges Ereignis als die
Heimkehr eines Schiffes aus dem Nordmeer. Der Rat hatte mehrmals Boten
abgefertigt und Briefe darum geschrieben, und die Bürgerschaft dachte, daß
gesichertes Gut der ganzen Stadt zur Ehre gereichte, verlorenes Gut aber mit
Gefahr jedes einzelnen gerochen werden mußte. Es gab deshalb in der Nähe
der Ratswage manchen Freudentrunk.
Durch die Marktleute und Buden reitet ein edler Herr aus der Um-
gegend mit seinem Gefolge ein, auch Frauen zu Pferde darunter. Er hat
einen Reiter vorausgeschickt, dem Rate seine Ankunft zu melden; jetzt steigt
er vor ansehnlicher Herberge ab, in welcher die Fremden vom Adel und
130
135
140
145
150
155
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165
170
72
Ritterstande einzukehren pflegen — sie gilt der Stadt nicht für die beste, und
der Wirt, ein reicher Mann, gilt keineswegs für sicher; die Aufnahme in den
Rat ist ihm versagt. Kurz darauf schreiten zwei Beamte des Rats würdig
175 die Ratstreppe herab durch die Menge, von Dienern begleitet, welche den
Willkomm tragen, die Weinspende, womit die Stadt den Fremden begrüßt.
So knarren die Wagen und handeln die Menschen, bis die Marktfahne
am Rathause abgenommen wird oder ein Glöcklein den Markt ausläutet. Da
ziehen ans allen Straßen die Karren und Menschen zu den Thoren hinaus;
180 Stadt und Land haben ihren Bedarf ausgetauscht, die Sonne hat freund-
lich geschienen, der Handwerksmann hat manches Geldstück in seinen Kasten
hinter das kupferne Zahlbrett geschoben, auch der Rat ist zufrieden: es
ist nur einer tödlich verwundet, dagegen einige Marktdiebe gefangen
worden, schlechtes Volk, das hier und dort daheim ist; der Nachrichter wird
185 keine große Arbeit haben.
Gustav Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Ges. W. B. XVIII. 1888. S. 120 ff.
Vgl. Lehmann, Kulturgeschichtliche Bilder, Nr. 7: Inneres einer Stadt im 15. Jahrh.
24. Der Christ und der Muhammedaner.
Eine Erzählung.
1. Zwei Brüder, Wolfgang und Raimund, beide in Deutschland ge-
boren und erzogen, schifften sich einst nach Malta ein. Der Vater hatte früh
schon den jüngsten in die Ordensliste der Malteserritter eintragen lassen,
und des Jünglings schwärmerischer Sinn zog ihn unwiderstehlich selbst nach
5 dieser Insel, um dort dem Orden als wirklicher Ritter zu dienen. Wolsgang
liebte den Bruder zu innig, als daß er sich von ihm hätte trennen mögen.
Er verkaufte seine Besitzungen, nahm sein bedeutendes Vermögen zusammen,
begleitete seinen Raimund nach Malta und kaufte dort schöne Ländereien
an. Hier wurde er ein glücklicher Gatte und Vater und erschuf, während
10 der Bruder im Dienste des Ordens oft gegen die Korsaren zur See focht,
mit frommem, häuslichem Sinne sich ein kleines Paradies.
Aus den gefahrvollen Kämpfen zurückkehrend, fand Raimund hier immer
Ruhe und Erholung, und wenn er nun von den iiberstandenen Gefahren er-
zählte, sich der erkämpften Siege erfreute und nicht unterließ, seinen Haß
15 gegen die Ungläubigen laut auszusprechen und einen ewigen Krieg gegen sie
zu geloben, dann suchte ihn oft der sanftere Wolfgang zu überzeugen, daß
man wohl auch andere Waffen gegen sie gebrauchen müsse als das bloße
Schwert.
So hatten sie viele Jahre schon auf Malta gelebt, als der Orden einen
20 Hauptschlag gegen die Korsaren, die ihm kürzlich mehrere Schisse genommen,
auszuführen beschloß. Auch Raimund ging mit in diesen Kampf, er kehrte
aber nicht wieder zurück. Die christlichen Ritter erfochten zwar große Vor-
teile, verloren jedoch auch manches, wozu denn besonders das Schiss gehörte,
auf welchem Raimund gefochten. Augenzeugen, welche den Händen der
25 enternden Seeräuber ans einem kleinen Boote glücklich entkommen waren, be-
73
haupteten, daß jenes Schiff erst nach dein Verluste aller darauf fechtenden
Ritter genommen worden sei, und daß auch Raimund gefallen wäre.
Heiß und innig beweinte Wolfgang den geliebten Bruder. Dieser aber
war nicht tot; es wartete ein härteres Schicksal auf ihn. Die Seeräuber be-
merkten kaum das noch zögernde Leben in dem schwer verwundeten Ritter, 30
als sie es sorgfältig zu erhalten und ihn zu heilen suchten, um ihn auf dem
Sklavenmarkte zu Algier mit frechem Hohne zum Verkaufe auszustellen. Seine
hohe, kräftige Gestalt zog viele Käufer an, man freute sich, einen der furcht-
baren Ritter als Sklaven quälen zu können; aber der Korsar forderte einen
zu hohen Preis , und Raimund mußte manche schrecklich lange Stunde auf 35
feinen Verkauf warten. Endlich erschien ein junger, vornehmer Türke mit
Namen Cid Muley, besah und prüfte den Gliederbau des Ungliicklichen, wie
man ein Zugtier vor dem Kaufe zu untersuchen pflegt, und bezahlte endlich
die geforderte große Summe.
„Du sollst mir tüchtig arbeiten müssen, Christensklave," sprach er, „auf 40
daß ich nicht umsonst für dich eine solche Summe ausgegeben!"
Er hielt sein schreckliches Versprechen. Raimund ward der Willkür
unbarmherziger Aufseher übergeben und von diesen auf das grausamste zu
den schwersten Arbeiten getrieben. Wer kann feine Lage beschreiben, wer
vermag zil schildern, was bei dieser unwürdigen Behandlung in feinem kräftigen, 45
edeln Gemüte vorging? Mehrere seiner Mitsklaven wurden durch ein be-
deutendes Lösegeld wieder in Freiheit gesetzt. Nur er hatte keine Hoffnung
dazu; denn nach des Ordens strengen Gesetzen durfte keines Ritters Freiheit
jemals durch Lösegeld wieder erkauft werden. Zwar hatte er fest beschlossen,
mit Ergebung in den Willen der Vorsehung sein schweres Schicksal zu tragen 50
und den Übermut und die Grausamkeit seiner Feinde mit Verachtung zu ver-
gelten; allein Mut und Kräfte erlagen doch endlich. Bei einer Gelegenheit,
wo der stolze Cid Muley, den feine Sklaven nur selten zu Gesicht bekamen,
einstmals bei ihrer Arbeit gegenwärtig war, warf er sich in Verzweiflung vor
ihm nieder und bat ihn um den Tod. 55
„Den Tod nicht!" entgegnete Muley. „Dafür hab' ich dich zu teuer
bezahlt. Aber ich weiß, man kann sich ans dich verlassen; selbst meine Auf-
seher loben dich unter den Sklaven. In voriger Nacht hat sich einer meiner
Gärtner selbst entleibt; ich kam hieher, um seine Stelle durch einen andern
von euch zu ersetzen, und meine Wahl ist auf dich gefallen." 60
Raimund mußte gehorchen und sich glücklich preisen, daß er nicht mehr
in dem elenden, stallartigen Behältnisse der übrigen Sklaven feine Nächte
zubringen, nicht mehr unter den Peitschenhieben unmenschlicher Aufseher seine
schweren Arbeiten verrichten durfte; denn diejenigen Sklaven, welche die Gärten
des Gebieters bestellten, standen unter seiner unmittelbaren Aufsicht und 65
wurden besser gehalten als die übrigen.
Muley, ein eifriger Muhammedaner und kluger Mann, nahm hier oft
Gelegenheit, sich mit diesen Sklaven in ein Gespräch einzulassen. Es lag
ihin daran, sie durch alle Künste der Überredung wie auch durch Drohungen
und Versprechungen zum Übertritte zur muhammedanischen Religion zu be-70
74
wegen. Bei einigen, zu schwach und zu sinnlich, um in frommer Ergebung
das Joch der Sklaverei zur Ehre ihrer Religion zu tragen, war es ihm ge-
lungen. Mit sündlicher Verleugnung ihres heiligen Glaubens hatten sie sich
eine elende Freiheit erkauft und waren, weil sie als Renegaten ^Abtrünniges
75 jeder Christenpflicht überhoben zu sein glaubten, dem Beispiele ihrer neuen
Glaubensgenossen folgend, durch manches unerlaubte Mittel zu großen Reich-
tümern gelangt. Bei Raimund hingegen blieb jeder Versuch vergeblich.
„Ich bin ein christlicher Ritter," antwortete er, „und das werde ich
auch als Sklave noch bleiben bis in den Tod. Ihr habt mir das Kreuz
80 von der Brust genommen, aber aus dem Herzen könnt ihr mir es nimmer
reißen. Nicht die Kraft deiner Beredsamkeit, nicht das Gewicht eurer
Glaubenslehre, nein, einzig nur eure Grausamkeit, nur die blutige Geißel
eurer Sklavenvögte brachte jene schwachen, in Leiden ungeübten Christen
zur äußerlichen Verleugnung ihres Glaubens. Aber an dem Felsen im
85 Meere des Lebens, an dem wahren Christen, scheitern alle eure furchtbaren
Versuche. Und zweifelst du vielleicht noch an der Wahrheit meiner Worte?
Wohlan, ich stelle mich dir zur Probe!"
Muley wendete sich erzürnt, jedoch auch beschämt von ihm ab; denn
er verkannte das Heldenmütige seiner Denkart nicht und gestand sich wohl,
90 daß er kaum selbst diese Prüfung bestehen möchte. Dabei gewann er nach
und nach eine hohe Achtung für Raimund, der treu und gewissenhaft seine
Pflicht erfüllte, obgleich er sowohl des Gebieters Strenge wie auch seine
Freundlichkeit mit Verachtung vergalt und auch im Sklavenkittel der stolze,
unbeugsame Ritter blieb.
95 So verstrichen mehrere traurige Jahre, in denen Raimund sein Schick-
sal als Mann und Christ ertrug. Aber unter den übrigen Sklaven schlichen
die Gespenster der Rache und des Verrats umher und reizten sie zur Em-
pörung. Einer ihrer Aufseher, ein harter, gewissenloser Mensch, war ein
Renegat. Wie er sich leichtsinnig vom Christentum losgesagt, so war ihm
l0O auch kein anderes Verhältnis mehr heilig. Er fand unter den Sklaven mehrere
seines Volkes aus ihm bekannten reichen Familien, gab ihren geheimen Ver-
sprechungen Gehör und ließ sich mit achten derselben in eine Verschwörung
ein, welche den Tod des Cid Muley, den Raub seiner großen Kostbarkeiten
und ihre Flucht auf einem bereit stehenden Fahrzeuge zur Absicht hatte.
105 Raimund befand sich eines Abends in einem entlegenen Teile des
Gartens und begoß hier seine schönen Blumen, die stillen Vertrauten seines
Grams. Nicht fern von ihm stand hinter einer dichten Feigenhecke, von
üppig gewachsenen Maulbeer- und Orangenbäumen umgeben, ein schönes
Gartenhaus, der einsame Lieblingsaufeuthalt seines Herrn. Er dachte eben
110 voll Sehnsucht an seine Heimat zurück, an den geliebten Bruder und dessen
freundliche Kinder, die jetzt wohl schöner noch aufblühen möchten als diese
Blumen; da vernahm er von dem Gartenhause her ein lautes Getöse und
ängstliches Wimmern. Rasch durchbrach er die dichte Hecke und eilte dem
Orte zu. Im Gartenhause lag Muley überwältigt am Boden. Die Ver-
<0
schworenen hielten ihn fest, wahrend der Renegat ihm auf der Brust kniete 115
und ihn mit einer Schnur zu erdrosseln bemüht war.
„Halt ein, Verräter!" rief Raimund und schmetterte mit seinem schweren
Grabscheit den Renegaten zu Boden. Furchtbar, mit flammensprühenden
Blicken stand der christliche Ritter da, und mit den Worten: „Fort, ihr Ver-
wegenen! Durch Mord und Verrat darf kein Christ seine Freiheit erkaufen!" 120
trieb er die erschrockenen, noch unbewaffneten Empörer zur Thüre hinaus.
Muley hatte sich indes wieder erholt. Man hatte ihn im Schlummer
überfallen. Er sah Raimunds heldenmütige That, hörte den blutenden, hart
getroffenen Renegaten im Todeskampfe neben sich röcheln und überschaute
leicht das Ganze. Zitternd richtete er sich vom Boden auf und sank mit den 125
Worten: „O du großmütiger Retter meines Lebens!" an seines Sklaven
Brust. Dieser wies aber jeden Dank, jede Belohnung stolz und kalt von sich
ab. „Ich würde im offenen Kampfe dich gern erlegt haben," sprach er
ernst; „allein gegen Verrat und Meuchelmord schützt der christliche Ritter
selbst den Feind." 130
Muley war von Raimunds edeln, großherzigen Gesinnungen tief er-
griffen ; er führte ihn in seinen Palast, und während er den Aufrührern eine
furchtbare Rache schwor, draug er mit rühreuder Innigkeit in seinen Retter,
daß er bei ihm bleiben, alles mit ihm teilen und ein Muhammedaner werden
möchte. Er zeigte ihm alle seine unermeßlichen Reichtümer, seine schönen Be-135
sitzungen, er schilderte ihm mit glühenden Farben das reizende Leben, welches
er ihm bereiten wolle. Aber Raimund entgegnete ernst und mild: „Du
würdest mich gewiß nicht mehr achten und mir nicht mehr trauen, wenn
ich deine Wünsche erfüllte. Sieh, über jenen Renegaten, den ich als deinen
Mörder erschlug, glaubtest du schon gesiegt zu habeu; allem du hast beinahe 140
durch den Verlust deines Lebens erfahren, daß dem, welcher das Heiligste
verleugnen konnte, auch alles andere nichts mehr gilt."
Als aber Muley beschämt und traurig vor ihm stand, weil er jeden
ihm gebotenen Dank zurückwies; als er ihn beschwor, nun selbst zu fordern,
und bei dem Namen des Propheten jede Forderung zu erfüllen versprach: 145
da bat Raimund endlich um Gnade und Freiheit für jene unglücklichen
Verschworenen, deren Martertod schon beschlossen war. Der Türke zögerte
finster, aber er hatte bei dem Namen des Propheten geschworen. Er wollte
an Großmut seinem Sklaven nicht nachstehen und antwortete: „Wohlan, so
nimm das Leben jener Elenden von mir als ein Geschenk und schalte 150
damit nach Gefallen! Du selbst aber darfst nicht mehr mein Sklave
bleiben; was du zu stolz bist vou mir zu fordern, will ich dir nun frei-
willig schenken, deine Freiheit. Nimm dir von meinen Schätzen, soviel dir
gelüstet, ziehe heim in dein Vaterland und gedenke an den dankbaren Cid
Muley!" 155
Raimund empfing freudig das Geschenk seiner Freiheit; aber alle
übrigen ihm dargebotenen Schätze verschmähend, nahm er nur sein Sklaven-
kleid als Andenken jener traurigen Jahre und schiffte sich in Begleitung der
J
acht Freigelassenen, denen sein Heldensinn ein Verbrechen erspart und die
160 Freiheit errungen hatte, nach Malta ein.
2. Wolfgang lebte indes ruhig und glücklich im Kreise seiner zahlreichen
Familie. Das Andenken an den geliebten Bruder verließ ihn nie; in tiefer
Wehmut erzählte er oft den Seinigen von der festen, brüderlichen Freund-
schaft, von der ungestörten Einigkeit ihres thätigen Lebens und gab sich der
165 seligsten Rührung hin, wenn seine Söhne sich bei der Erzählung des Vaters
still die Hände reichten, als gelobten sie sich einen gleichen Bruderbund.
Wer beschreibt das Fest des Wiedersehens, als der tot geglaubte Raimund
in diesen Kreis lebend eintrat, als die alt gewordenen Brüder sich mit
ihrer jung gebliebenen Liebe wieder in den Armen lagen, die zu Jünglingen
170 und Jungfrauen aufgeblühten Kinder den Wiederauferstandenen jauchzend um-
fingen und das Entzücken endlich keine Worte mehr hatte, sondern nur
Thränen!
Raimund mußte seine Schicksale erzählen. Als er geendet, reichte ihm
der Bruder die Hand und sprach: „Selig sind, die an dem Herrn festhalten!
175Die Tugend eines Christen ist doch siegreicher als sein Schwert." Und die
Mutter und die Kinder falteten still die Hände und sprachen: „Amen!"
Des Ritters Rückkehr machte großes Aufsehen; jene acht unglücklichen,
durch seinen Edelmut in Freiheit gesetzten Christensklaven unterließen nicht,
den ganzen Vorgang zu berichten und ihren Retter zu preisen. Der Orden
180 selbst gewann eine hohe Achtung vor ihm und erteilte ihm bald die höchsten
Ehrenstellen.
So begann denn nun wieder das alte glückliche Leben der beiden Brüder,
so zog die Zeit unter froher Thätigkeit, Liebe und Frömmigkeit unbemerkt
dahin, so tvurden die Brüder ein paar heitere, kräftige Greise und wiegten
185 Wolfgangs freundliche Enkel auf ihren Knieen.
Die Ritter setzten indes den Kampf gegen die Ungläubigen fort.
Raimunds hohes Ordensamt hielt ihn jedoch unmittelbar davon zurück und
auf Malta fest. Man begann wieder neue Rüstungen; denn die Sarazenen
hatten den Christen großen Verlust zugefügt, und diese glühten, eine recht
190 empfindliche Rache an dem Feinde zu nehmen. Es gelang auch. Die Ritter
kehrten siegreich zurück und führten zwei feindliche Schiffe mit vielen ge-
fangenen Sarazenen in den Hafen von Malta ein.
Um seinen Triumph vollständig zu feiern, ließ der Großmeister unter
dem Zujauchzen des Volkes die gefesselten Gefangenen durch die Straßen bis
195 in den Vorhof seines Palastes führen. Hier waren alle Ritter versammelt,
über das Schicksal der Unglücklichen zu entscheiden. Raimund, jetzt Komtur
des Ordens, stand an der Seite des Großmeisters und ließ gedankenvoll seine
Augen auf den Gefangenen ruhen; denn ihm trat der Augenblick vor die
Seele, in welchem er in gleicher Lage einst auf dem Markte zu Algier ge-
200 standen hatte.
Da begegneten seine Blicke plötzlich bekannten Zügen, und er täuschte
sich nicht '— Cid Muley war unter den Gefangenen. Der stolze, kühne
Mann stand von der Last seines Schicksals niedergebeugt und wagte nicht.
vom Boden aufzuschauen. Raimund zog den Großmeister hastig auf die Seite
und ließ nach einer kurzen Verständigung seinen Bruder herbeirufen, welcher, 205
nachdem auch er von allem unterrichtet war, den gefangenen Cid Muley um
einen hohen Preis vom Orden als Sklaven erhandelte.
„Kaufe mich nicht!" sprach dieser; „du wirst an mir weder einen arbeit-
samen noch gehorsamen Sklaven finden; denn ich bin zu vornehm, um beides
kennen gelernt zu haben!" 210
„Du wirst es aber lernen!" entgegnete Wolfgang. „Wir Christen haben
vielleicht noch kräftigere Mittel in Händen, unsere Sklaven zu bezwingen,
als ihr!"
Sie langten in Wolfgangs Landsitz an. Man brachte den Türken in
ein bequemes Gemach, nahm ihm hier seine Fesseln ab und war bemüht, 215
ihn mit Speise zu erquicken und seine schlecht besorgten Wunden, die er im
Seegefechte erhalten, zu verbinden. Wolfgangs kleine Enkel brachten ihm
Früchte und Blumen, sahen ihn mit den frommen, himmelblauen Augen oft
so mitleidig an und hätten ihn so gern gefragt, was ihm fehle, wenn der
Mann nur nicht so finster vor sich hingeblickt hätte. 220
Nachdem mehrere Tage verflossen, trat Wolfgang eines Morgens zu
ihm in das Zimmer. „Du hast dich nun wieder erholt," sprach er, „deine
Wunden sind geheilt; so folge mir denn, wir wollen an die Arbeit gehen!"
Düster schweigend gehorchte Muley. Der Gebieter führte ihn in seine
reizenden Anlagen, wo sie bereits eine Menge Arbeiter beschäftigt fanden. 225
Doch hier war kein in Ketten geschmiedeter Sklave, hier schwang kein un-
menschlicher Vogt die Peitsche; Frohsinn und Fleiß waren die Aufseher, und
statt der Seufzer und Jammertöne, an welche Muleys Ohr gewöhnt war,
hörte man nur Scherz und fröhliche Lieder.
„Willst du mir nicht jene Weinranken aufbinden und die reifen Trauben 230
abnehmen helfen?" sagte Wolfgang liebreich zu Muley. Dieser trat rasch
hinzu, als könne er so freundlich erbetene Hilfe nicht abschlagen, und arbeitete
emsig mit.
Als die glühend heißen Stunden des Mittags kamen, führte ihn Wolf-
gang auf sein kühles Zimmer zurück, sendete ihm erquickende Speisen und 235
erlaubte ihm, einige Stunden zu ruhen. Dann holte er ihn wieder zur Arbeit
ab, wußte ihn aufs neue zu beschäftigen und in williger Thätigkeit zu er-
halten, bis der Abend kam.
„Du hast mir heute treulich in meiner Arbeit beigestanden, so magst
du denn auch meine Erholungen mit mir teilen!" sprach Wolfgang und führte240
den Muhammedaner in eine große, schattige Laube, von wo aus sie die freie
Aussicht auf das Meer hatten. Hier setzten sie sich auf eine weiche Ruhe-
bank, und während sie das große Schauspiel der ins Meer untergehenden
Sonne genossen, befragte Wolsgang seinen Gefangenen, was ihn, einen so
vornehmen Mann, denn zu Schisie getrieben habe, und was der Grund der 245
Gefangennehmung gewesen sei. Dieser zögerte nicht, mit finsterm Unmut
und dem Aufflammen eines nicht zu verbergenden Zornes ihm zu erzählen,
wie er sich eingeschifft, um mehreren ihm entflohenen Christensklaven nach-
zusetzen, und wie er, als er sie fast erreicht, den feindlichen Rittern in die
250 Hände gefallen sei. Er brach hierbei in die bittersten Klagen iiber die Treu-
losigkeit der Christen und über sein hartes Schicksal aus.
„Armer Mann," sprach Wolfgang, „du hattest wohl niemand, der dir
mit Liebe und Treue anhing? Kein Herz wartet in Sehnsucht daheim auf
dich; denn deinen Sklaven ist der Verlust ihres Tyrannen ein lang er-
255sehntes Fest."
Muley schwieg finster.
„Sieh," fuhr Wolsgang fort, „hier lebt alles in Freiheit, alles in
froher, selbstgewählter Thätigkeit, alles in treuer Liebe!"
Sie wurden unterbrochen; des Greises Töchter und Schwiegertöchter
260 kamen mit ihren Kindern herbei. Sie wußten, daß der Großvater an diesem
Lieblingsplätzchen gern den Sonnenuntergang abwarte, und eilten, ihn nun
hier aufzusuchen. Welch ein frohes Gewühl lieblicher Gestalten umgab bald
den Großvater! Die jungen, schönen Frauen reichten ihm ihre Kinder
hin, die auch schon ihre Ärmchen lächelnd ihm entgegenstreckten, während die
265 andern Kinder jubelnd von allen Seiten an ihm heraufkletterten und jedes
auf dem Schoße oder an der Brust des liebreichen Alten ruhen wollte.
Der heitere, kräftige Greis mit silberweißem Barte und Haare glich hier
einem von Engeln umgebenen Heiligen. Cid Muley konnte seine Blicke nicht
abwenden von diesem Himmelsbilde häuslicher Liebe und Glückseligkeit. Ein
270 nie geahntes Gefühl durchzog seine Brust, und halb träumend folgte er der
Familie in das Wohnhaus, wo die jungen Männer von der Arbeit eben
zurückkehrten und die alte, freundliche Großmutter das Nachtmahl bereitete.
Er stand tief ergriffen, als der Greis im andächtigen Kreise der Seinigen
endlich das Abendgebet verrichtete, und er legte sich mit einer nie gefühlten
275 Ruhe der Seele schlafen.
So verstrich ein Tag dem andern gleich. Sie waren alle mit Arbeit
und häuslicher Freude erfüllt. Wolfgang vermied geflissentlich den Schein,
den Muhammedaner bekehren zu wollen; denn erleben sollte er erst mit ihnen
die christliche Religion, das Heil erst empfinden lernen, das in der Befolgung
280 ihrer Lehren beruht, und so in der Sehnsucht nach ihr erst reifen zur Aus-
nahme in den christlichen Bund.
Der alte, fromme Komtur Raimund hatte seinem Bruder diesen Weg
vorgeschrieben und kam oft, nach dem Gelingen zu fragen. Doch ließ er sich
niemals vor Muley sehen; denn dieser sollte ihn jetzt noch nicht wieder erkennen.
285 Muleys finsterer Gram verschwand nach und nach, und die Sehnsucht
nach seiner Heimat machte endlich der Liebe zu Wolfgangs Familie Platz.
Er konnte nicht mehr ohne die Kinder sein, die so innig an ihm hingen;
er freute sich, wenn der Morgen kam, mit den Eltern an die Arbeit zu gehen,
das Mahl in froher Unterhaltung mit ihnen zu teilen und am Abend Wolf-
290 gangs ernsten Gesprächen über Menschenwert lind Bestimmung, über Tugend
und Religion zuzuhören. Langsam, aber endlich doch fielen ihm die Schuppen
79
von den Augen, und die Strahlen der christlichen Lehre fingen an, sein Herz
zu erwärmen und zu erfreuen.
Einst belauschte ihn Wolfgang, wie er in einer Laube unter den Kindern
saß und ihm das älteste Mädchen ein einfaches Kruzifix von Ebenholz zeigte, 295
welches sie an ihrem Geburtstage heute von der Großmutter zum Geschenke
erhalten hatte. „Aber du armer Mann," sprach das Kind, „du kennst den Heiland
wohl noch nicht, der hier ans Kreuz geschlagen ist? Ich will dir von ihm
erzählen!" Und hiermit begann das Kind seine einfach rührende Geschichte, in
welche die übrigen Geschwister manchen schönen, gehaltvollen Spruch mit ein- 300
flochten, den Christus gesagt hatte, und den sie auswendig konnten.
Muley hörte sehr bewegt zu. Er ließ sich willig erzählen, was er
schon wußte; denn aus dem Munde der Kinder klang es ihm viel rührender
und zog viel tröstlicher in sein Herz.
„Und nun sieh dir den lieben gekreuzigten Heiland nur recht innig an," 305
fuhr das Kind fort, „wie selbst der Tod sein freundlich Antlitz nicht hat ver-
stellen können, und küsse das liebe Bild einmal recht herzlich! Denn seit du
uns so lieb hast, denk' ich immer, du seist auch wohl schon ein Christ; denn
Jesus sagt ja: Daran soll man erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so
ihr Liebe untereinander habet!" 310
„Und vor allem liebte er auch die Kinder," fiel ein Knabe ein, „und
sagte sogar einmal zu seinen Jüngern: Lasset die Kindlein zu mir kommen
und wehret ihnen nicht; denn ihrer ist das Himmelreich!"
„Ja," rief Muley, durch diese kindliche Einfalt auf das tiefste erschiittert,
„ja, in enerm reinen Herzen wohnt der Friede Gottes! — O du großer, 315
heiliger Mann, laß ihn auch in meine Brust einziehen!" Und hiermit ergriff
er das Kruzifix, welches ihm das Kind noch hinhielt, und drückte weinend sein
Gesicht darauf.
Da trat Wolfgang ans ihn zu und sprach, als habe er von ihrer Unter-
redung nichts vernommen: „Du bist nun ein Jahr bei mir. Ich habe dir 320
zeigen wollen, wie wir nach den Vorschriften unserer Religion unsere Feinde
behandeln. Du hast das Leben und Wirken einer christlichen Familie gesehen;
jetzt bist du frei, du kannst in deine Heimat zurückkehren, wenn es dir gefüllt!"
Muley schwieg betroffen und starrte auf das Kruzifix in seiner Hand.
Aber die Kinder hingen sich an ihn und riefen: „Nein, du sollst uns nicht 825
wieder verlassen! Du sollst bei uns bleiben; denn dort hat dich doch niemand
so lieb als wir."
Da stürzte er weinend in die Arme des Greises und rief: „Ja, behaltet
mich hier! Stoßt mich nicht wieder hinaus in die leere, lieblose Welt! Ich
will ein Christ werden, wie du es bist!" 330
Und vor ihnen stand der alte Komtur Raimund. „Muley!" rief er, die
Arme ausbreitend — da erkannte dieser ihn wieder, und sie hielten sich lange,
lange sprachlos umfaßt, und nur die Herzen schlugen laut aneinander.
„Du bist mein Schutzgeist," sprach Muley; „du hast mir einst das Leben,
jetzt aber die Seele gerettet."
335
80
Der fromme Komtur schüttelte aber sanft das Haupt und antwortete:
„Nicht ich; der Herr nur ist mächtig in den Schwachen, und Christus allein
ist die Wahrheit und das Leben."
Ernst von Houwald. Buch für Kinder gebildeter Stände. Sännt. Werke. B.IV. 1851. S. 207 ff.
25. Das war für mich.
In manchen großen Städten, namentlich von Italien, doch auch hin und
wieder von Deutschland, gab es gesellschaftliche Verbindungen von guten,
frommen Leuten, die sich's zum Geschäfte machten, arme Notleidende und Kranke
aufzusuchen und diesen ihr Elend auf alle Weise zu lindern. Die Männer
5 und Frauen, welche zu jenen Verbindungen gehörten, waren zum Teil Leute
von sehr hohen, gebildeten Stünden; aber in der Hülle ihrer Ordenskleider
sahen sie alle einander gleich. Der alltägliche Stand ward da vergessen über
dem festtüglichern Berufe, der Leidenden sich zu erbarmen.
Einmal hat es in der großen, schönen Kaiserstadt Wien sich zugetragen,
10 daß ein Bruder von solch einem barmherzigen Orden in das Zimmer eines
vornehmen Kaffeehauses hineintrat, in welchem mehrere ansehnliche, reiche
Leute um einen Tisch saßen. Man konnte es dem Manne in seiner Ordens-
tracht nicht ansehen, wer er im Gewände des gewöhnlichen Lebens sei; daß er
aber von wahrhaft hoher Bildung war, bewies bald nachher sein Benehmen,
15 und wenn er, ehe er diese Kutte anzog, wie einige sagen, ein Offizier von
hohem Range war, dann muß er in dem pünktlichen Gehorsame einer höhern,
göttlichen Art ebenso wohl und tüchtig eingeübt gewesen sein als in den
Pflichten und Exercitien eines weltlichen Militärsmannes.
Der Ordensbruder, von welchem wir hier sprechen, näherte sich dem
20 einen der Gäste, welche dort am Tische des vornehmen Kaffeehauses beisammen
saßen; er klapperte ein wenig mit seiner eisernen Almosenbüchse und sprach
einige Worte, die wohl manchen gerührt hätten; der stumme Gast aber that,
als sähe und hörte er nichts von dem allen. So trat er zum zweiten, zum
dritten; keiner hörte auf ihn, nur der vierte fuhr mit der zornigen Antwort
25 heraus: „Siehst du denn nicht, daß wir hier gerade sehr beschäftigt sind?"
Beschäftigt auf ihre Weise waren die Leute allerdings; sie spielten
Karten und zwar so hoch, daß alle ihre Gedanken an Gewinn und Verlust
hingen. Der Ordensbruder wartete deshalb ein Weilchen, und da der vierte
ihm doch wenigstens eine Antwort gegeben hatte, versuchte ev^bei diesem sein
30 Glück von neuem. Als soeben das Spiel beendet war, klapperte er wieder
mit der Büchse und bat im Namen seiner Kranken und Hilfsbedürftigen um
eine Gabe. Der vierte aber, verdrießlich über sein so eben verlorenes Spiel,
wendete sich herum und gab dem Sammler mit den Worten: „Da hast du
etwas, du Unverschämter!" eine sehr derbe Ohrfeige.
35 Was that nun wohl der Ordensbruder? Regte sich bei ihm nicht in
ganzer Kraft der Geist jenes Standes, dem er sonst im gewöhnlichen Leben
angehörte, und dessen äußerliche Züge jetzt, vielleicht nur auf etliche Stunden,
durch das Gewand des Ordens und durch die Maske des Bartes verhüllt
waren? Wie? Durfte er eine solche niederträchtige, rohe Behandlung unge-
81
ahndet lassen?. War nicht die Ehre seines Standes auf eine Weise gekränkt, 40
welche blutige Rache erforderte?
Wirklich schien es auf einige Augenblicke, als ob in dem hart Beleidigten
dergleichen Gedanken aufstiegen: seine Stirn, von der Rote des Zornes über-
gössen, umwölkte sich; sein Arm zuckte. Aber der Mann war an militärischen
Gehorsam gewöhnt; in jenen Augenblicken der natürlichen Aufwallung ver-45
nahm er das Kommandowort eines Herrn in seinem Herzen, vor dessen
Augen nur die Ehre, die vor Gott gilt, geachtet ist, die Ehre aber vor
Menschen als ein Nichts erscheinet. Er gehorcht dem Kommando; er faßt
sich. Hoch emporgerichtet steht er vor seinem Beleidiger da, und mit einem
Tone der Stimme, welcher auch dem rohesten Herzen eine unwillkürliche Ach- 50
tung gebietet, spricht er: „Das war für mich; jetzt aber, mein Herr, geben
Sie mir auch etwas für meine hungernden Armen und Kranken, welche noch
heute mit Nahrung und Erquickungen versorgt werden müssen."
Einer solchen Macht des hohen Selbstbewußtseins und guten Gewissens
gegenüber wird es dem rohen Beleidiger ganz sonderbar zu Mute; er wirft 55
die Karte hin, springt von seinem Stuhle ans, umarmt den Almosensammler
und gibt — denn die Lust am Spiele war ihm vergangen — all das Geld, das
er eben bei sich führte, zur Linderung der fremden Not hin. Auch die andern
Gäste am Spieltische wie im Zimmer, großenteils reiche und vornehme Müßig-
gänger, reichten dem hochherzigen Empfänger der Ohrfeige ungewöhnlich an-60
sehnliche Gaben für seine Kranken dar. Er selber aber, der Alnwsensammler,
ging herzlich dankend seines Weges mit einer Thräne im Auge, welche ihm
nicht der Unmut oder der Schmerz über die erduldete Mißhandlung, sondern
die Freude über den Sieg jener Liebe ausgepreßt hatte, welche dem Menschen
schon das Sein auf der Erde zu einem Vorhofe des Himmels macht. 65
Gotthitf Heinrich von Schubert. Erzählungen. B. in. i84i. S. 383 ff.
26. Der liebe Gott geht durch den Wald.
1. „Der liebe Gott geht durch den Wald" — so singt ein altes Lied;
aber eine alte Erfahrung zeigt, daß er im Walde nicht jedem begegnet. Die
Rehe und Hirsche vielleicht sehen ihn, fürchten ihn aber nicht — er geht ohne
Büchse um. Der Pecher-Lenz, im Walde geboren und den Wald seit vierzig
Jahren durchstreichend, ist, wie er meint, dem lieben himmlischen Waldgänger 5
noch nicht ein einziges Mal begegnet, wohl aber manchem, vor dem er
fluchend ausgerufen: „Das ist des Teufels!" oder „Hol's der Teufel!"
Und doch, auch der Lenz hat's erfahren: „Der liebe Gott geht durch den
Wald."
Sein — des Pechers — Haus steht tief im Walde; alles um das-10
selbe strebt in wilden Büschen und hohen Stämmen himmelwärts, und ans
den Wipfeln klingt die Lust, nur das Haus kriecht auf dem Sande, und
seine Kammern sind düster. Bis ins dreißigste Jahr war der Lenz ein armer
Pechersbursche gewesen; dann nahm er sich ein Weib und war nun der arme
Pechersmann geheißen. So groß war der Unterschied. 15
Deutsches Lesebuch für daher. Mitttlschnlen. Bd. IV.
6
82
Seinem Vater ist's nicht viel besser ergangen. Der ist Waldhüter ge-
wesen, aber von dem hochgelobten Walde war nur das Bitterste sein eigen —
das Pech (Harz). Doch ließ sich's dabei leben; die Pecher, wohlgemerkt die
ledigen, pfeifen beim Baumschaben heitere Liedchen, und die Terpentiner haben
20 mitunter so schlecht nicht gezahlt. Das Handwerk ernährt seinen Mann,
aber nur den Mann, nicht etwa auch noch Frau und Kinder.
Und doch geht beim Pecher-Lenz das ganze Glauben, Lieben und
Hoffen aus Weib und Kind. Er selber ist soviel als Bettelmann. Wenn er
im Walde ein grünes Reis auf seinen Hut steckt, es ist fremdes Gut; die
25 Hütte, in der er wohnt, steht auf dem Boden des Herrn Gallheim und ist
gebaut ans dem Holze des Herrn Gallheim — nur Weib und Kind sind sein
eigen.
Gallheim ist ein flinker Jäger und fröhlicher Lebemann. Er kränkte
einmal durch einen Scherz den biedern Pecher; der hat dein Gutsherrn
30 darüber etwas Grobes gesagt. Grobsein aber ist nichts für einen armen
Teufel; der muß allemal Süßwurzeln kauen, wenn er mit dem „gnädigen
Herrn" spricht.
Nun, der Lenz hat eben gethan, wie er gethan hat, und so ist ihm
eines Tages ein großer Brief ins Haus gekommen. Der Lenz kann nicht
35 lesen, aber sein Weib hat die unselige Kunst gelernt. Er knittert mit Mühe
das feine Zeug auseinander; das Blatt bleibt kleben an seinen harzigen Fin-
gern: „Weib, geh, schau, was da drauf steht!" Drauf stand solches:
„An Lorenz Hackbreter im Kesselwald. Demselben diene zur Kenntnis,
daß von nun ab forstwirtschaftlicher Rücksichten wegen das Pechschnben nicht
40 mehr gestattet ist. Dawiderhandelnde verfallen der Strenge des Gesetzes.
Der Oberförster
im Auftrage des Herrn von Gallheim, Gutsbesitzers."
So hatte das junge Weib gelesen. „Nun?" sagte der Lenz, „uub sonst
nichts mehr? Der paar Worte wegen das sündhaft viele Papier?" Er
45 steckte die Hände in die Hosentaschen, ging in den Wald und brummte.
„Nicht mehr gestattet! Forstwirtschaftlicher Rücksichten wegen oder wie das
Zeug heißt! Nun ja, die Sach' muß einen Namen haben! Allfort hab' ich
achtgegeben auf den Stamm; dieser schöne Wald, wie er heute dasteht, unter
der Pechschabe ist er aufgewachsen. Und jetzt ans einmal ist's ein Verderben!
50 Was heb' ich jetzt an?"
Gelernt hat er nichts. Wurzeln- und Kräutergraben ist noch das einzige;
aber wenn er des Abends heimkehrt von seinen gefährlichen Gängen und
Klettereien in den Felswänden, ist er trotzig und launisch, und unwirsch stößt
er sein Kind, das herzige Magdale, von sich, wenn es wie sonst zu ihm
55 herankommt und in süßer Kindlichkeit fragt, was das Reh mache draußen
im Walde.
Das Reh draußen im Walde.! Das bringt den Lenz auf neue Ge-
danken. Und eines Tages nimmt er den alten Kngelstutzen aus dem modern-
83
den Schranke hervor, schleicht damit hinaus, stellt sich an, und siehe, Harm,
los kommt ein prachtvoller Hirsch mit hohem Geweihe herangeschritten. Der 60
Mann fährt mit dem Gewehre zur Wange — da sieht er in den Schaft ein-
gegraben das Herz, ans dem ein Kreuz wächst. Das ist das liebe, traute,
alte Zeichen, welches sein Vater so gern in Stab und Stiel seiner Werk-
zeuge eingegraben hatte. Ein Kreuz — der Vater ist auch blutarm gewesen;
ein Herz — er ist ehrlich geblieben. Das Gewehr entsinkt der Hand des 65
Mannes, und der Hirsch läuft flink über die Matte hin. Ein Herz und ein
Kreuz! Er hat Weib und Kind und wird sie mit Kräuter- und Wurzelgraben
in Gottes Namen ernähren.
Was geschah? Die Hirten thaten sich zusammen und verklagten den
Wurzelstecher, daß er den Grasboden verwüste. So wurde ihm auch dieses 70
untersagt, und er ging verloren in den Wäldern umher und wußte nicht, was
beginnen.
Ihr fragt, ob ihm nicht doch der liebe Gott begegnet sei mit einem
guten Gedanken? Was helfen gute Gedanken dem, der sie nicht ausführen
kann! Wohl aber ein anderer Geist trat ihn bisweilen an, der flüsterte: 75
„Lenz, bist ein Mensch, hast ein Recht an die Welt, hast die Pflicht der Er-
haltung gegen die Deinen, aber keine gegen Gallheim, keine gegen die reichen
Bauernhöfe draußen, keine gegen den Wanderer, der durch den Wald zieht."
— „Hinweg!" rief der Mann in solchen Augenblicken und schlug mit der Faust
in die Luft hinein. „Ein ehrlicher Mann will ich bleiben! Das will ich sehen, 80
ob ich's nicht durchsetz'!"
Magdale gedieh. Sie war nun sieben Jahre alt, war fleißig und brav,
und als Weihnacht herankam, hoffte sie auf eine gütige Gabe vom Christ-
kind; Vater und Mutter aber lächelten bitter. Das Chrinkind kommt nicht
immer zu den braven, es kommt lieber zu den reichen Leuten. Der Lenz 85
hatte an dem Tage draußen beim Klausenwirt wohl eine Semmel und etliche
Äpfel erstanden, um dainit die Ehre des heiligen Christ zu retten. Aber auch
ein Tannenbüumchen soll dazu sein und Lichtlein dran. So war's früher
stets gewesen, lind so wurde es von dem geliebten Kindesherzen erwartet.
Der Lenz ist denselben Tag über wieder nicht daheim. Er streift im 90
Walde herum. Der Boden ist steinhart gefroren, das Moos knistert unter
den Füßen, die Äste hängen, von Eisnadeln des Nebelfrostes belastet, tief
herab. Der Lenz wandelt zwischen den ungezählten Bäumen des Waldes.
Vor manchem jungen Tannenwipselchen bleibt er stehen. „Es wäre schon
das rechte," murmelt er, „aber — darf ich denn? — Ich dürfte freilich nicht, 95
aber heute schickt mich das Christkind, das diesen Wald ja so reich und hoch
hat wachsen lassen. Mein seliger Vater hat viel tausend Bäumlein gepflanzt
und gehütet; so kann's doch nicht gefehlt sein, wenn ich mir ein einzig Stämm-
chen davon heimtrage für mein Magdale!"
Mit Hast führt er nach seinem Taschenmesser, ein kräftiger Schnitt, ioo
und eine zarte Tannenkrone ist geknickt. In diesem Augenblicke gellt ein
derber Fluch. Zwei Männer, mit Jagdgewehren bewaffnet, stehen vor dem
Lenz: Gallheim und sein Förster. „Haben wir dich endlich, du Waldfrevler I"
6*
84
rief der Förster. „Schon seit langem werden von boshafter Hand in unsern
105 Wäldern Bäume geknickt. Dieser Lump da thut's!" — „Ho ho," brummte der Lenz,
„nicht not, daß ihr mich so anknurrt! Ich bin kein Lump, ihr Herren!" — „Was
denn?" sagte Gallheim. — „In böser Absicht hab' ich mein Lebtag kein Zweiglein
vom Ast gebrochen." — „So? Und dieser Wipfel, der weder einen Spatenstiel,
noch ein Stück Brennholz gibt?" — „Zu Gnaden, Herr - fürs Kind daheim
110 ein Christbäume!." — „Die Ausrede ist nicht übel," lachte Gallheim; „aber
einen ertappten Dieb und Waldfrevler läßt man nicht laufen. Förster, nehmt mir
den Lungerer fest; die sichere Kammer wird ihm über die Festtage wohl bekommen."
Der Lenz zerstampfte den Moosboden In seinem Herzen kochte Trotz
und Wut. Einerseits sah er's, er war ein Dieb; andererseits fühlte er's, es
115 geschah ihm Unrecht. Kein bitteres Wort verlor er mehr. Finster grub er
seinen Blick in den Boden und ließ sich fesseln und davonführen. Und das
Tannenbüumchen blieb liegen auf dem frosterstarrten Boden, niib statt der
lieblichen Christlichter glitzerten Eiskörner an den Zweigen.
2. Da hat sich an jenem Tage etwas zugetragen, das ganz so aussah,
120 als hätte sich das Christkind für den armen Wäldler ins Mittel legen wollen,
das liebe Christkind, welches den Reichen wohl glänzende Gaben bescheren
mag, es sonst aber doch lieber mit den Armen hält.
Im Arrest hatten seit langem schon die Spinnen ihre Webstühle auf-
gerichtet. An diesem Weihnachtsabend nun wurden sie durch den Pecher-Lenz
125 ein wenig zerstört. Der Lenz zerriß sich seinen Bart vor Schmerz und Wut.
Er dachte an sein schutzloses Heim, in welchem ihn heute die Seinen ver-
geblich erwarten würden: das Weib in Furcht und Angst, in Verzweiflung,
das Kind schluchzend, bis es einschläft — das ist ihre Weihnacht! Und er,
der Lenz, der sich gehütet hat sein Leben lang, daß er ein ehrlicher Mann
130 verbleibe, sitzt jetzt im Gefängnis, wo vor ihm der Räuber saß, wo nach
ihm der Strolch sitzen wird. Das ist seine Weihnacht!
Zornig ob des Waldfrevlers und befriedigt zugleich, denselben erwischt
zu haben, kehrte Gallheim in sein Herrenhaus zurück. Tort aber war Wirrnis
und Jammer. Theobald, der zehnjährige Sohn des Herrn, war wie ge-
I35wöhnlich am Nachmittage auf seinem Schimmel ausgeritten. Das Haus
stammte aus dem sechzehnten Jahrhundert und besaß eine Waffenkammer, in
welcher sich mancherlei Rüstzeug befand. Nun war es heute dem Knaben
eingefallen, derlei vom Reitknechte glätten und putzen zu lassen, daß es glänzte,
und an sich zu hängen. So war er mit Blechwams und Helm und Schwert
140 ausgezogen. Ein junger Ritter, dachte er an die Turniere und an die Burg-
fräulein, die er begehren und erstreiten wollte — und das feurige Roß trabte
hinaus in den finstern Wald.
Die übliche Reitstunde ging vorüber — Theobald kehrte nicht zurück.
Es begann zu schneien, es begann zu dämmern — er kehrte nicht zurück.
145 Als der Hauswart im Hofe die Laternen anzündete, rannte der Schimmel
schnaubend und mit hochfliegender Mähne zum Thore herein. Aber ans dem
Rosse saß kein Reiter. Jetzt ging das Entsetzen an. Die Mutter fiel in
Ohnmacht; der Vater schoß planlos umher und war blaß wie die Mauer
85
seines Hauses. Die Dienerschaft stob verwirrt durcheinander; das Gesinde
jammerte über den „lieben, guten, jungen, gnädigen Herrn". Die Knechte 150
sprengten auf Pferden zum Thore hinaus; der Wächter läutete in seiner Kopf-
losigkeit die Sturmglocke.
Die Frau des Hauses war die erste, welche wieder zur Besinnung kam.
Sie eilte in den Schnee und in die Nacht hinaus; laut und hell rief sie ihr
Kind, bis ihr die Stimme versagte. Durch Heide und Wald irrte sie, und 155
wo ein Kreuzbild stand, da sank sie auf die Kniee und rang die Hände. Herr
Gallheim hastete wie ein gehetztes Wild über Berg und Thal; das Reh
und der Edelhirsch, nach denen er sonst so gierig sein Feuerrohr gerichtet,
hätte er flehend anrufen mögen: „Habt ihr mein Kind nicht gesehen?" Die
Tiere flohen erschreckt und lugten aus Verstecken hämisch auf ihn hin. In 160
der Finsternis stolperte Gallheim über ein gebrochenes Bäumchen. Der
Tannenwipfel war's, weswillen der Pecher-Lenz im Gefängnisse lag. „Auch
dieser Mann hat Weib und Kind!" so rief es in seinem Herzen. Er eilte
weiter und stieß in sein Horn.
Die ganze Bewohnerschaft des Herrenhauses irrte im Walde. Der 165
Pecher-Lenz war zu dieser Stunde fast der einzige Bewohner im großen
Gebäude. „Das ist eine arge Weihnacht!" sagten die Suchenden zueinander;
„wir werden morgen einen traurigen Christtag haben!" Und sie stießen ins
Horn und lauschten; sie feuerten Schüsse ab und horchten vergebens auf ein
Gegenzeichen. Wohl, sie vernahmen Signale; aber als sie denselben zugingen, 170
waren es die der andern Sucher. Keiner hatte eine Spur, keiner wußte
Rat. Endlich begann ein wildes Gestöber, der Sturm rüttelte in den
-Stämmen und erstickte den Schall der Hörner. Die Schneeflocken tanzten
wie rote Sternchen um die Pechlunten; da sagte einer: „Der Herrgott legt
schon das Bahrtuch darüber." 175
3. „Das ist eine arge Weihnacht!" so seufzte auch das Weib des Lenz im
Waldhause. Sie ging von einem Fenster zum andern, eilte bei jedem Geräusche
an die Thür — aber er kam nicht. „Der Vater wird noch zum Christkind
zu spät kommen," meinte das kleine Magdale. — „Weiß Gott," antwortete die
Mutter halb für sich, „zu spät für das Christkind wird er nicht konimen; aber 180
solange ist er mir noch nie ausgeblieben. Mir ist heute den ganzen Tag so
bange. Geh ins Bett, Magdale!"
Jetzt klopfte es ans Fenster. „Gottlob! Gottlob!" Aber er war's nicht.
Ein verspäteter Holzhauer ging vorbei, der rief durch die Scheibe herein:
„He, Muhme, was hat er denn angestellt?" — „Wer?" — „Er!" — „Ich 185
weiß nicht, was Ihr meint," versetzte das Weib angstvoll.
Sie stürzte zum Fenster hin: „Wißt Ihr was? Wo ist er denn?" —
„Mir sind sie begegnet," berichtete der Holzer, „er hat den Hut tief im Gesicht
gehabt, aber ich habe ihn doch erkannt. Die Hände sind ihm gebunden
gewesen." Das Weib that einen Aufschrei. Der Holzhauer ging weiter. 190
Und so ist anstatt des Christkindes im Waldhause der Jammer eingekehrt,
vielleicht als Vorbote nur. Wer kennt nicht den Unterschied zwischen Ver-
zweiflung und ergebenem Leide? Wo dem Christkind Herzen entgegenschlagen,
da finden böse Gäste kein Daheim.
195 „Geh schlafen jetztI" sagte die Mutter zum Mädchen. Magdale blickte
verwundert auf. War denn nicht Christabend? Das Weib hielt ihr Weinen
zurück, das einzige, was sie ihrem Kinde thun konnte. Immer und immer
wieder blies sie in die Glut des Herdes, und es wollte nicht brennen; so oft
der Span erlosch, war es dem Mädchen, als hörte es irgendwo ein Schluchzen.
200 Dann fragte es wieder nach dem Vater. „Sei still!" gab das Weib endlich
unwirsch zur Antwort; bald setzte sie weicher hinzu: „Der Vater sucht das
Christkind und hat sich im Walde verirrt." — „Er wird es schon finden," meinte
das Magdale, „das Christkind hat ja eine leuchtende Brust und Äuglein wie
Karfunkelsteine." — „Freilich," versetzte die Mutter; weiter sagte sie kein Wort.
205 Tiefer und tiefer ging es in die Nacht hinein. Draußen rauschte der
Wind, und die Fensterwinkel waren vollgestopft von frischem Schnee. Im
weiten Lande ist Glanz und Freude in dieser heiligen Nacht.
Das Weib des Pechers zündete eine rote Kerze an. Mehrmals hatte
die Kerze schon geleuchtet — es war ein trüber Glanz. Als der Vater des
210 Lenz gestorben war, da hatte sie gebrannt. Als in einer wilden Gewitternacht
die Lawine vom Schollberge niederfnhr und das große Wasser gegen dieses
Haus tobte, hatte sie gebrannt. Die rote Kerze sollte brennen, wenn einstmals
nach diesem mühevollen Leben der Lenz und sein Weib das Auge schließen
müßten im Waldhause. Es war die Sterbekerze. Und jetzt, da des Hauses
215 ältester Bewohner, der ehrliche Ruf, gestorben war, jetzt brannte sie wieder.
Das Weib kniete vor dem Lichte nieder und betete zum Jesnkinde. Sie
betete nicht in wilder Leidenschaft wie die vornehme Frau, sie betete mit Er-
gebung: „Ich lege, du heiliges Kind, mein Anliegen in deine Hände. Böses
kann er nichts gethan haben; es ist ja meine tägliche Bitt', daß ihn sein
220 Schutzengel nicht sollt' verlassen. Aber mit gebundenen Händen! Hütte er
denn doch gewildert, um dir zu Ehre, du heiliger Christ, einen Festbraten
heimzubringen? Armut und Sorge, o Gott, wie gern ertrag' ich's, nur nicht
Schand' und Schmach!"
„Jetzt sind sie draußen!" flüsterte das Magdale plötzlich. Und wahr-
225 hastig, es war nicht das Klopfen des Windes, das war ein Pochen an
der Thüre. Sogleich erfaßte das Weib die Kerze und eilte zu öffnen.
Ein fremder Knabe stand vor ihr, ein seltsamer Knabe; er hatte eine
leuchtende Brust. Die Kleider waren voll Schnee, die Locken voll Eis, die
großen Augen voll Wasser. Vor Frost zitterte er und bat um Obdach.
230 „Ist denn kein Mensch bei dir?" rief das Weib. „Bist du allein? So
komm, so komm nur!" Und sie fächelte den Schnee von seinen Kleidern, aber
die Brust blieb leuchtend; sie trocknete seine Angen, da glänzten sie wie Kar-
funkel. „Du liebes Christkind," lispelte das Mädchen, „da setz dich zum Ofen
und wärme dich I" Und immer wieder fragte das Weib, wo er herkäme, wer
235 er wäre. Sie faltete dabei die Hände.
„Ich bin Theobald Gallheim," antwortete endlich der Knabe. „Ich bin
ausgeritten; da sind Wildhühner aufgeflogen, das Pferd ist scheu geworden
87
und hat mich abgeworfen. Ich bin herumgegangen, bis es finster geworden
ist. Dann ist der Wind und der Schnee gekommen, und ich habe gar nichts
mehr gehört und gesehen und bin gefallen, bin doch wieder weiter gegangen, 240
und dann habe ich das Licht gesehen. Laßt mich liegen in euerm Hanse und
thut mir nichts Böses! Mein Vater wird schon kommen!"
Das Fieber schüttelte ihn, als er das sprach. Das Weib hatte Mühe,
ihm die Schuhe von den Füßen zu bringen; sie waren schier angefroren. Der
Knabe ächzte vor Schmerz; die Pecherin legte ihm kaltes Grubenkraut auf 245
Hände und Füße, dann brachte sie eine warme Suppe und führte den Löffel
selbst zu seinem Munde. Das Magdale schlich spähend um den Knaben herum,
schaute seine zarten Locken und seine frischen Wangen an und seine glänzende
Brust und seine Augen. „Du armes Christkind, ist es doch richtig wahr, daß
du soviel Kälte leiden mußt!" Das Weib trug von allen drei Betten, die in250
der Stube standen, die Kissen zusammen und baute damit auf der Ofenbank dem
kleinen Gaste ein Lager. Theobald legte sich hin und schloß bald die Augen.
Dem geängstigten Weibe war leichter ums Herz geworden. Ihr war
dieser Knabe, der in der Christnacht hilflos zu ihr gekommen, ein gutes Vor-
bedeuten. Das Magdale, das gar nicht schlafen wollte, zerstreute sie mit 255
etlichen jener alten Weihnachtslieder, die so reich an Gemüt und Humor sind,
und das eine, vom Häuser! im Dörfer!", mußte sie wiederholen:
„Ach, wie friert das göttlich Kind,
Wie geht nicht aus und ein der Wind —
Es liegt aus Heu und Stroh! 260
Ei, wenn ich nur das Häuser! hätt',
Das dort unt' im Dörserl steht.
Wie wär' ich doch so froh!
Ich nähm' die Mutter mit dem Kind,
Thät's führen in mein Häuserl g'schwind." 265
Dabei unterbrach sich die Sängerin und horchte auf den Atem des
Schlummernden, und das Magdale saß daneben und faltete die kleinen Hände.
4. Gellender Waldhornschall schlug an die Wände der Hütte. Dem Weibe
blieb der Ton in der Kehle stecken. Draußen knisterten schwere Tritte, die
Thür ging auf, über und über beschneite Männer traten herein, unter ihnen 270
eine stattliche Frau. Die Pecherin that einen flehenden Blick auf die Ein-
tretenden, legte den Finger aus den Mund und wies auf den schlafenden
Knaben. Kaum aber erblickte diesen die eintretende Frau, als sie mit einem
Freudenschrei auf den Schläfer zustürzte. Der Knabe fuhr empor und blickte
um sich. Und als er in dieser düstern Hütte sich und seine Mutter sah, da 275
zuckten seine roten Lippen.
Sogleich wurde ans dem Schollberge ein großes Feuer angezündet;
hoch empor und weithin durchdrang der Schein die Nebel und das Schnee-
gestöber. Gallheim, der reiche Mann, hatte wohl in seinem Leben einen so
glückseligen Christbaum nicht gesehen, als diese Feuersänle war, die ihm ver-280
kündete, daß sein Kind lebe. Er ist gefunden! So kamen sie nun alle hier
zusammen, und noch nie hatte das kleine Haus im Walde soviele und so
fröhliche Gäste gesehen als in dieser Nacht. Dem reichen Manne barst schier
das Herz. Da sah er seinen Sohn so liebevoll gehalten von der Familie
285 dessen, den er heute — Er dachte es nicht aus. Den schnellsten Reiter
sandte er nach dem Herrenhause, um die eiserne Thür zu öffnen.
Sie waren alle noch beisammen, als der Lenz in einem vornehmen
Wagen, der mit zwei Rappen bespannt war, angefahren kam. Zur Stunde
brach schon der Morgen an. „So geht es nicht allzu selten auf dieser Welt,"
290 sagte Gallheim in tiefem Ernste zum Pecher. „Die Macht in der Hand eines
leidenschaftlichen Menschen ist wie das Messer in der Hand eines Kindes.
Lenz, ich habe dir Unrecht gethan. Hier sehe ich dein Weib, dein Kind,
denen du das Christbäumchen hast aufstellen wollen. Verzeiht mir! Verzeiht
mir alle drei! Ich will es gut zu machen trachten."
295 Er sprach dem Pecher die Meierstelle im großen Felberhofe zu. Der
Lenz war wortkarg. Er schüttelte den struppigen Kopf: der Felberhof wäre
ihm zu groß. „Zu groß!" lachten die Leute, „das sollte ein Mann wie
Ihr einer seid, niemals sagen. Manch anderer wäre froh, könnte er seine
Familie ohne Sorgen wachsen sehen." — „Mag nicht fort von da," sagte der
300 Lenz tonlos, „wollt' mir lieber das Pechhacken wieder erlaubt sein!" — „Das
Pechhacken, Lenz, das thut Euch schlecht und den Bäumen nicht gut," versetzte
Gallheim. „Aber die Försterstelle wird frei, und zu Christbäumen für Eure
Nachkommenschaft haltet von heute an dreißig Joch Waldgrund als Euer
eigen! Dann, Hackbreter, wollen wir wieder gut sein!"
305 „Ich bin nicht bös," sagte der Lenz, „ich wollt' den Herrn nur gebeten
haben, daß er's hier vor meinem Weib und vor meinem Kind laut thät'
sagen, daß ich nicht schuldigerweis eingesperrt worden bin." Gallheim faßte
mit beiden Händen des andern Rechte und rief: „Lenz, Ihr seid ein braver
Mann!"
310 Und so ist das Christkind doch noch in die Hütte der Pecherslente ge-
koinmen. P. K. Rosegger. Das Buch der Novelle». 18945. B. III. S. 295 ff-
27. Schillers Brief an seine Mutter beim Tode des Vaters.
sJena, den 19. Sept. 1796.]
Liebste Mutter!
Herzlich betrübt ergreife ich die Feder, mit Ihnen und den lieben
Schwestern den schweren Verlust zu beweinen, den wir zusammen erlitten
haben. Zwar gehofft habe ich schon eine Zeit lang nichts mehr; aber wenn
das Unvermeidliche wirklich eingetreten ist, so ist es immer ein erschütternder
5 Schlag. Daran zu denken, daß etwas, das uns so teuer war, und woran
wir mit den Einpfindungen der frühen Kindheit gehangen und auch im spätern
Alter mit Liebe geheftet waren, daß so etwas aus der Welt ist, daß wir mit
allem unsern Bestreben es nicht mehr zurückbringen können, daran zu denken
ist mir etwas Schreckliches. Und wenn man erst wie Sie, teuerste, liebste
10 Mutter, Freude und Schmerz mit dem verlorenen Freund und Gatten so
lange, so viele Jahre geteilt hat, so ist die Trennung um so schmerzlicher.
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Auch wenn ich nicht einmal daran denke, was der gute, verewigte Vater mir
und uns allen gewesen ist, so kann ich mir nicht ohne wehmütige Rührung
den Beschluß eines so bedeutenden und talentvollen Lebens denken, das ihm
Gott solange und mit solcher Gesundheit fristete, und das er so redlich und 15
ehrenvoll verwaltete. Ja wahrlich! Es ist nichts Geringes, ans einem so langen
und mühevollen Laufe so treu auszuhalten und so wie er noch im dreiund-
siebzigsten Jahre mit einem so kindlichen, reinen Sinne von der Welt zu scheiden.
Möchte ich, wenn es mich gleich alle seine Schmerzen kostete, so unschuldig
von meinem Leben scheiden als er von dem seinigen! Das Leben ist eine so 20
schwere Prüfung, und die Vorteile, die mir die Vorsehung in mancher Ver-
gleichung mit ihm vergönnt haben mag, sind mit so vielen Gefahren für das
Herz und für den wahren Frieden verknüpft! Ich will Sie und die lieben
Schwestern nicht trösten: Ihr fühlt alle mit mir, wie viel wir verloren haben,
aber Ihr fühlt auch, daß der Tod allein dieses lange Leiden endigen konnte. 25
Unserm teuern Vater ist wohl, und wir alle müssen und werden ihm folgen.
Nie wird sein Bild aus unserm Herzen erlöschen, und der Schmerz um ihn
soll uns nur noch enger untereinander vereinigen.
Vor fünf und sechs Jahren hat es nicht geschienen, daß Ihr, meine
Lieben, nach einem solchen Verluste noch einen Freund an einem Bruder 80
finden, daß ich den lieben Vater überleben würde. Gott hat es anders gefügt,
und er gönnt mir noch die Freude, Euch etwas sein zu können. Wie bereit
ich dazu bin, darf ich Euch wohl nicht mehr versichern. Wir kennen ein-
ander alle auf diesen Punkt und sind des lieben Vaters nicht unwürdige Kinder.
Sie, teure Mutter, müssen sich Ihr Schicksal jetzt ganz selbst wühlen, 35
und in Ihrer Wahl soll keine Sorge Sie leiten. Fragen Sie sich selbst,
wo Sie am liebsten leben, hier bei mir in Jenas oder bei Christophinen
oder im Vaterlande mit der Luise. Wohin Ihre Wahl fällt, da wollen wir
Mittel dazu schaffen. Vor der Hand müssen Sie ja doch, der Umstünde
wegen, im Vaterlande leben, und da läßt sich unterdessen alles ordnen. 40
In Leonberg, glaube ich, würden Sie die Wintermonate noch am
leichtesten zubringen, und mit dem Frühjahre kämen Sie mit der Luise nach
Meiningen, wo ich aber ausdrücklich raten würde eine eigene Wirtschaft zu
treiben. Doch davon das nächste Mal mehr! Ich würde darauf bestehen,
daß Sie hierher zu mir zögen, wenn ich nicht fürchtete, daß es Ihnen bei 45
mir viel zu fremd und zu unruhig sein würde. Sind Sie aber nur erst in
Meiningen, so werden wir Mittel genug finden, uns zu sehen und Ihnen
die lieben Enkel zu bringen.
An Reinwald habe ich wieder geschrieben und ihm vorgestellt, daß
Christophine sich jetzt nicht sogleich aus den Rückweg machen kann. Ohnehin 50
kann ja jetzt swegen des Kriegess noch niemand durch jene Gegend reisen. Ist
alles Unangenehme der Geschäfte vorbei und sind Sie, liebste Mutter, etwas
beruhigt, so kann sie dem Wunsche ihres Mannes nachgeben. Ein großer Trost
wäre mir's, Sie, liebste Mutter, wenigstens in den ersten drei, vier Wochen
nach der Trennung von Christophinen bei Bekannten zu wissen, weil die Ge- 55
sellschaft unserer Luise Sie doch immer an die vorigen Zeiten zu sehr erinnern wird.
— 90 -
Sollte aber keine Pension von dein Herzoge gegeben werden und der
Verkauf der Sachen Sie nicht zu lange aufhalten, so könnten Sie vielleicht
mit den Schwestern gleich nach Meiningen reisen und würden sich dort in
60 der neuen Welt um so eher beruhigen.
Alles, was Sie zu einem gemächlichen Leben brauchen, muß Ihnen
werden, beste Mutter, und es ist nun hinfort meine Sache, daß keine Sorge
Sie mehr drückt. Nach soviel schwerem Leiden muß der Abend Ihres Lebens
heiter oder doch ruhig sein, und ich hoffe. Sie sollen im Schoße Ihrer Kinder
6b und Enkel noch manchen frohen Tag genießen. Alles, was unser teurer Vater
an Briefschaften und Manuskripten hinterlassen, kann mir durch Christophinen
mitgebracht werden. Ich will suchen, seinen letzten Wunsch zu erfüllen, der
auch für Sie, liebste Mutter, Nutzen bringen soll.
Herzlich umarmen wir Sie und die lieben Schwestern. Meine Lotte
70 würde selbst geschrieben haben, aber wir haben heute das Haus voll Gaste,
und in dieser Zerstreuung war's unmöglich. Sie hat mit mir den verewigten
Vater, den sie immer recht herzlich geliebt, beweint, und ihr tiefer Anteil an
diesem Verluste hat sie mir noch lieber und teurer gemacht. Auch meine
Schwiegermutter und Wolzogens, die gerade hier sind, sind sehr davon gerührt
75 worden und lassen tausendmal grüßen.
Ihr ewig dankbarer Sohn
F. Sch.
Friedrich von Schiller. Briefe. Heraiisgezebeii von Fritz Jenas. B. Y. S. 68 ff.
Z. 37 f. Schillers ältere Schwester Christophine, verheiratet mit dem Bibliothekar
Reinwald in Meiningen, war zur Pflege ihrer kranken Angehörigen nach der Solitüde bei
Lndwigsbnrg gekommen; Luise war Schillers jüngere Schwester. Z. 67. Der Vater hatte
aus dem Sterbebette den Wunsch geäußert, der Sohn möge den zweiten Teil seines Werkes
(„Die Baumzucht") herausgeben; doch scheint dieser nicht erschienen zu sein.
28. Eine Winternacht aus der Lokomotive (vor 30 Jahren).
1. „Wer fährt heut' den Nachtschnellzug?" fragte der Inspektor, kurz
vor Mitternacht aus der Thüre seines behaglichen Kabinetts in die Abfahrts-
halle zu Mvorstedt heraustretend, in die ein schneidender Nordostwind feines
Schneegestöber hereinwehte und die lange Reihe der Gasflammen bald auf-
5 flackern ließ, bald halb verlöschte. Der Schnellzug stand vor dem breiten,
stattlichen Bahnsteige, die Thüren der wenigen eleganten Wagen erster und
zweiter Klasse, aus denen der Zug bestand, waren geöffnet und ließeil in dem
matt beleuchteten Jmiern der Coupes die lvunderlichen Pelz- und Falten-
massen halb erkennen, welche die Sitze der Nachtschnellzüge im Winter erfüllen,
10 und ans denen nur hie und da eine rotgefrorene Nase oder ein atmender
Mund hervorschaut und noch seltener das verschlafene, um sich blinzelnde
Gesicht eines erwachenden, verdrossenen Fahrgastes sich erhebt, der im Zweifel,
ob er sich in Prag, Dresden oder Hannover befinde, den Schaffner nach
Zeit, Ort und dem Grunde fragt, warum so lange gehalten werde. Nur
15 wenige Reisende hatten am Orte den Zug verlassen, noch weniger waren
dazu gekommen, nur hier und da schob sich eine dunkle, dick vermummte Ge-
stalt mühsam durch die Wagenthür, während die Handkarren mit nerven-
91
erschütterndem Rollen das wenige Gepäck nach den Gepäckwagen schafften,
Packer, Packmeister und Postschaffner mit einförmiger Regelmäßigkeit sich
Eilgut-, Gepäck- und Poststücke zuzählten und die Wagenwärter sorgsam
mit Laterne und Hammer an den Wagengestellen hinkrochen, jede Achse, jedes
Rad, jede Feder beleuchteten oder mit dröhnendem Hammerschlage prüften;
denn nur ein durchaus untersuchter Schnellzug darf seinen Lauf fortsetzen.
„Wer fährt den Nachtschnellzug?" fragt der Inspektor, der am Zuge
entlang schreitet, indem sich soeben die hochbeinige Schnellzugsmaschine zischend
und mit glühendrot aus der geöffneten Feuerthüre angestrahltem Dampfe
ohne Anstoß geschickt an den Zug legt. „Der alte Zimmermann," tönt die
Antwort zurück, und zugleich drängt sich eine kurze, dick in einen Lederpelz,
um den ein Riemen als Gurt geschnallt ist, gehüllte Gestalt zwischen dem
Geländer der Maschine und dem Tender hervor und griißt den Inspektor.
Der „alte" Zimmermann ist ein Mann im Lebensalter der höchsten Mannes-
rüstigkeit, aber ein alter Lokomotivführer; denn während eines Vierteljahr-
hunderts auf der rüttelnden, tobenden Maschine stehend in Wetter und Sturm,
Hitze und Kälte und Regen einen Weg zurückzulegen, der zwanzigmal um
den Erdball reicht, das ist eine Arbeit, die schneller zum Greise macht, als
mit der Feder hinterm Ohr am warmen Ofen Akten lesen.
Zimmermann hebt bei den schwankenden, matrosencutig breitspurigen
Schritten, mit denen er herankommt, beschwerlich die vom Stehen auf der
dröhnenden Maschine schwachgewordenen Beine, die in dicken Filzstiefeln
stecken. Er hat die Pelzmütze tief über die Ohren gezogen und ein Tuch um
Genick und Hals gewunden. Aus den unbehilflichen Hüllen schaut ein
kleiner Teil eines gutmütigen, heitern, von der Kälte geröteten Gesichts.
„In fünf Minuten sind wir fertig; wie steht's bei Ihnen, Zimmermann?"
fragte der Inspektor. „Verdammt kalt, Herr!. Fünfzehn Grad schlecht ge-
messen," entgegnete dieser. „Hab' mein Direktions-Warmbier schon im Leibe;
meine Luise bringt mir aber noch einen Kaffee mit Ruin, den trink' ich, wäh-
rend ich meinen „Greis" noch einmal untersuche und schmiere. Gegen
diesen Nordost wird heute der Schnee stechen, als würde man mit Schnh-
nägeln aus Blaseröhren beschossen! Da ist die Luise schon!" Ein kleines
Weib, dick beschneit, läuft in der That mit einem Handkorbe eilends über den
Bahnsteig, knixt vor dem Inspektor und packt dann, eilends mit dem Loko-
motivführer nach der Maschine schreitend, den Kaffeetops aus, dessen Inhalt
sie ihm einschenkt, während er seine mächtige Schnellzugsmaschine, die mit den
glühenden Augen ihrer großen Laternen feindlich hinaus in das Schnee-
gestöber starrt, die Ölkanne in der Hand, nochmals umschreitet, jeden Teil
nochmals befühlt, sich überzeugt, ob Ol in allen Schmiergefäßen, der Rost
gehörig von Schlacke gereinigt, die Siederohre des Kessels von Asche be-
freit, nichts locker und nichts zu klamm angezogen und sein Greif im stände
sei, seine Riesenglieder geschmeidig spielen zu lassen, seine hundertnndfünfzig
Pferdekräfte frei zu entwickeln und seinen gewaltigen Leib mit der daran
hängenden Last, über zweitausend Zentner schwer, mit Adlerschnelligkeit durch
die Sturmnacht fortzureißen.
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„Fertig, Herr! Sie können's Zeichen geben lassen." Der Inspektor
winkt, die tobende Bahnsteigglocke jagt mit grellem Schellenlaute nochmals
65 die Schläfer in den Wagen empor, und ihre letzten Töne verschwimmen in
dem noch abscheulichern, langgehaltenen Pfiffe der Maschine. Dann hört
man draußen die lauten Doppelschlage der elektrischen Glocken im Sturmwind
verwehen. „Gott behüt' dich, Zimmermann!" sagt die Frau, dem auf der
Maschine stehenden Führer noch einmal die Hand reichend. — „Gute Nacht,
70 Frau! Denkt an mich, wenn Ihr warm liegt!"
2. Er legt die Faust mit dem dicken Pelzhandschuh auf den Regu-
lator — ein Ruck, die Maschine setzt sich in Bewegung; stöhnend, wie wider-
willig, folgen ihr die Wagen, puffend bläst sie die erste Dampfwolke gegen
das Dach der Halle, die zweite schon in das Schneegestöber, daß die Flocken,
75 wie entsetzt emporgerissen, auseinanderstieben. Heulend fällt der schneidende
Sturm die beiden schweigenden Männer ans der Maschine, den Lokomotiv-
führer und den Heizer, an und schießt ihnen wie Eisnadeln horizontal fast
die im Scheine der Lokomotivlaternen glitzernden und wie Millionen kleine,
kalte Quälgeister tanzenden Schneeflocken ins Gesicht jdenn Schutzhüuschen
80 fehlten damals ans der Maschiuej. Der Führer sieht sich um, ob auf dem
Zuge alles recht und in Ordnung. Der Schein der beleuchteten Wagen-
fenster gleitet über den Schnee. — „Wie behaglich muß es in gepolsterten,
warmen Coupes sein!" — Auf den Wagen, wie schwarze Klumpen, sitzen die
Schaffner in Pelze und Mäntel vergraben; der Sturm fährt mit wüstem
85 Zischen zwischen Rädern und Wagen durch.
Die roten Lichter der Signale an den Ausweichungen gleiten langsam
vorüber; jetzt hat der Zug das letzte derselben hinter sich und ist auf freier,
offener Bahn.
Rabenfinster, sturmtobend, schneedurchrieselt liegt die Nacht vor dem
90 Führer, kaum den Schornstein seiner Maschine kann er sehen. Welche Ge-
fahren birgt diese Finsternis für ihn! Hat ein Arbeiter eine Hacke auf der
Bahn liegen lassen? Hat der Sturm einen Signalbaum umgelegt oder einen
Wagen von einer Station auf die Bahn hinausgetrieben? Hat der Druck
der Schneewehen die Telegraphenleitung gestürzt? Oder ist nur eine Aus-
95weichnng nicht auf dem rechten Geleise? Hat eine aus dem Boden sickernde
Quelle einen Eisklumpen ans dem Geleise gebildet?
In allen diesen Fällen ist er in höchster Gefahr des Leibes und Lebens,
und wenn er jetzt den Regulator weiter öffnet und die Maschine schneller
und schneller puffend und keuchend in die dichte Finsternis der Nacht, in der
100 das Heulen des Sturmes auch jeden Warnruf der Signale verschlingt, hineinjagt,
schneller und schneller, bis ihre dröhnenden Räder kaum mehr die Schienen zu
berühren scheinen, so rast er derselben blindlings entgegen. Ganz allein in
Gottes Hand — nichts steht ihm zur Seite als sein Mut, seine Wachsamkeit
und seine Entschlossenheit. Und so steht er denn auf der dahinjagenden Ma-
105 schine, den Blick, trotzdem der Sturm und Schnee seine entzündeten Angen
geißeln, auf den engbegrenzten Schein gerichtet, den die Laternen der Loko-
motive mit zitterndem, blau hingezogenem Strahle auf die Bahn werfen, und
der beim windschnellen Laufe der Maschine die Pfähle der Telegraphenleitung
in gerade herabschießende Blitze wandelt und Bahnhäuser, Wasserkrahne,
Gebüsch, Felswände, Brücken wie in wilder Hast auf ihn losstürmende Ge- HO
spenster aus der Nacht emportauchen und eilends wieder versinken macht.
Zuweilen blinken wie rot auftauchende, freundliche Sterne Lichter aus
Hütten nahegelegener Dörfer herüber. — „Wie warm und sicher und traulich
muß es um diese herum sein!" — Doch da sind sie schon wieder verschwunden
in einem wilden Wirbel aufgepeitschten Schnees oder in puffigen Massen Dampfs, 115
die die Maschine windabwärts schleudert, und die sie wallend und wälzend
begleiten wie die Dämonen ihrer eigenen Hast und Eile. Vorbei! Vorbei!
Vorwärts! Er öffnet den Regulator weiter, rascher noch wird das Tempo der
rasselnden Schläge, eilender noch schießt der Zug in die Nacht hinein.
„Feuern!" ruft er, nachdem der Flug eine Viertelstunde gedauert, seinem 120
Heizer durch den Sturm zu, der, durch den Lauf der Maschine vermehrt, den
Schall vom Munde jagt, so daß das noch dazu vom Prasseln, Zischen, Klappern
und Heulen übertäubte Wort kaum das Ohr des Nächststehenden zu erreichen
vermag.
3. Der Heizer steht, träumend vor sich starrend, am Hemmapparat der 125
Bremse des Tenders und hört ihn nicht. „Gärtner! Feuern!" schreit ihm da
Zimmermann zu, ihm die Hand ans den Arm legend. Dieser fährt empor
und greift nach der Kohlenschaufel, während der Führer die Thür der Loko-
motivfeuernng aufreißt. Ein ungeheuerer, glänzender Lichtbündel fährt aus der
weißglühenden Feuermasse durch die Thüre fast senkrecht nach dem Himmel 130
empor, verwandelt die Dampfmasse in eine wilde, rotglühende Jagd der Hölle
und berührt mit seinem Strahlenbüschel das tiefhinziehende Schneegewölk. In
beut Glutlichte duckt sich die dunkle Gestalt des Heizers etwa zehnmal hin und
her, jedesmal ans dem Tender die mächtige, schwere Kohlenschaufel füllend und
sie in die Feuerung ausstürzend. Er hat etwa zwei Zentner neues Brenn-135
material in die weißglühende Masse geworfen. Der Lokomotivführer schließt
die Feuerthür, das Strahlenbündel, das aus ihr schoß, erlischt, und erhitzt
und aufatmend tritt der Heizer an seinen Posten zurück, während eine unge-
heuere, prachtvolle Funkenmasse wie die schönste Feuerwerksgarbe dem Schorn-
stein entströmt. 140
„Was haben Sie denn, Gärtner?" schreit der Führer dem Heizer ins
Ohr; „Sie sehen und hören ja heute nicht! Passen Sie auf!" — „Ach, Herr
Zimmermann," schreit Gärtner zurück, „mir geht's schlecht! Meine Frau liegt
zu Hanse in schwerer Krankheit, die Schwester, die sie pflegt, ist selbst krank
geworden — jetzt ist sie mit der zehnjährigen Hedwig ganz allein — und ich 145
mußte fort zum Dieust. Gott alleiu kann helfen!"
Der Führer wendet sich ab und zieht die Pelzmütze tiefer über die
Augen. „Da ist Wolfsberg," sagt er nach einiger Zeit, als die roten und
weißen Lichter einer Station durch das Schneewirbeln vor ihnen aufzuschim-
mern beginnen. Er pfeift, und gleich darauf poltert der Zug unter das 150
überhängende Dach des Bahnsteigs der Station.
Eilend umschreitet er hier seine Lokomotive, ihre dicht mit Schneeschlicker
bedeckten Teile prüfend beleuchtend, von denen er oft mit der Hand erst die
kalte Decke wegstreichen muß, um sie sehen zu können. Da ruft der währenö-
155 dem unter der Maschine mit dem Ausharken der Schlacken aus dem Roste
der Feuerung beschäftigte Stationsheizer: „Herr Zimmermann, der Rost des
Greif ist so dick heute verschlackt, ich komme nicht durch damit in den vier
Minuten Aufenthalt!" Rasch springt der Führer, mit dickem Pelz und Mütze
angethan, in die Schürgrube hinab, packt die schwere Feuerkrücke mit, und sie
160 in die Feuermasse des Rostes, die weißglühende Hitze herabstrahlt, hinein-
stoßend, arbeitet der schwerbekleidete Mann angestrengt und hastig, bis das
Feuer wieder in vollkommen regelrechtem Zustande ist. Nach wenig Minuten
steigt er keuchend und schweißtriefend aus der Grube. „Abfahrt!" ruft der
Oberschaffner. Es läutet. Auf die Maschine klimmt der Mann, dessen Lungen
165 noch von der Anstrengung atmend fliegen, und dem der Schweiß unter der
Pelzmütze vorrieselt.
Pfeifen — und hinaus geht es wieder unaufhaltsam in die eiseskalte
Schneesturmnacht, die mit 15 Grad kalter, schneidender Zugluft die schweiß-
getränkten Haare in wenig Sekunden in starrende Eisnadeln verwandelt.
170 Vorwärts! Vorwärts!
4. Der Sturm hat aufgefrischt. Von unten nach oben stürzenden Kata-
rakten ähnlich, jagt er von den großen Flächen der Dammböschungen den
staubartigen, feinen, kalten Schnee empor, der auf der Fläche der Bahn wie
in wilden Wogen dahinjagt, deren Brandungen an die eilende Maschine an-
175 schlagen und hoch über den Schornstein hinwirbelnd die stillen Männer mit
immer neuen Fluten von stechenden Eisnadeln überströmt oder sich an wind-
stillen Orten heimtückisch zu lockern Windwehen zusammenlagert. Im voran-
eilenden Lichte der Lokomotivlaternen prallen diese plötzlich wie weiße, über
die Bahn liegende Mauern gespenstisch ans der Nacht empor und jagen dem
180 beherztesten Führer jedesmal, wenn er mit seiner Lokomotive in die weiche,
unheimliche Masse hineinstürmt, einen Schauder durch die Seele. Hoch
bäumen sie sich vor der wild durchbrechenden Maschine auf, dieselbe mit solchen
Schneemassen überschüttend, daß die Männer auf derselben sich' am Geländer
festhalten müssen, um nicht durch ihren wuchtigen Schlag herabgeschlendert zu
185 werden.
„Es schneit stark!" sagen die Reisenden, die im Wagen einen Augen-
blick erwachen und sich streckend ein Fenster, an das sie den Schnee
knisternd anschlagen hören, mit der Wagenquaste zu säubern suchen. „Wir
fahren schlecht," fügen sie unter Gähnen nach der Uhr sehend hinzu; „ver-
190 flucht beschwerlich das Nachtreisen im Winter!" — wickeln sich in die weichen
Pelze und drücken die Köpfe in die weichen Wagenecken.
Vorwärts! Vorwärts!
Die Teile der Lokomotive tropfen; aus dem Schornstein, von den
Sicherheitsventilen, der Pfeife, den Pumpen spritzt Wasser fein zerteilt ab,
195 das hier an der Maschine herabrieselt und an ihren außenliegenden Teilen
gefriert oder vom Sturme weggeblasen wird, dort aber Pelz und Mütze und
Gesicht der Männer übersprüht, die schweigend auf dem Trittbrette stehen.
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Nach und nach behängt sich die Maschine mit schweren Eiszapfen, dicke
Eisbnckel wachsen selbst an ihren schnellst gedrehten, am raschesten schwingenden
Organen, alle Zwischenräume füllen sich mit hartgefrorenem Schnee, und der
Blick in die Teile der Maschine wird schwieriger und unsicherer.
„Ich glaube, die Pumpen frieren zu bei dem Wetter," sagt Zimmer-
mann. „Wir wollen sie ein wenig spielen lassen!"
Er will die Hand nach den Griffen ausstrecken, den Kopf dahin wenden,
fühlt aber die kräftige Faust am Körper festgehalten und empfindlichen Schmerz
am Kinn. Die nasse Kleidung der Männer hat sich in einen starren Eis-
panzer verwandelt, Bart und Pelz sind in eine Eismasse zusammengeronnen,
die dicke Pelzmütze ist zu einem drückenden Helme geworden, an den Augen-
wimpern hängen Eiskügelchen und lassen die Lichter der auftauchenden zweiten
Station in tausend Farben spielen. Sie reißen die am Rock festgefrorenen
Ärmel los, sie strecken prasselnd und knisternd die Glieder, sie tauen die am
Lippenbarte hängenden Eiszapfen im Munde ans, der, selbst halb erstarrt,
nur schwierig Worte auszusprechen vermag.
5. „Station Rodenkirchen! Zwei Minuten!"
Vorwärts! Vorwärts!
Unablässig weht der Schneestnrm, dicker werden die Eiskrusten der Pelze,
schwerer die immer mehr ans den Schultern lastende Kleidung, müder die
erschütterten, durchdröhnten Glieder.
Die Stationen spinnen sich langsam ab, die Entfernungen scheinen mit
der Ermüdung zu wachsen. Unaussprechliche Schlafsucht beschleicht die
Männer. — „Ja, gleich, Frau!" ruft der Heizer Gärtner plötzlich in die
Schneesturmnacht hinaus — er hatte stehend genickt und geträumt, er sei
daheim bei seinem armen, kranken Weibe.
„Gärtner! Gärtner!" fährt ihn der Führer an, dem es selbst vor einer
Minute war, als verwandelte sich das Heulen des Nordost in das Stiftnngs-
lied des Gesangvereins zu Lindenstedt, dessen eifriges Mitglied er ist.
Und die Männer reißen die müden, entzündeten Augen ans, entsetzt über
die empfundenen gefährlichen Anwandlungen, die sich dennoch unwiderstehlich
wiederholen. „Gottlob, es ist bald vorüber! Noch eine halbe Stande."
Vorwärts! Vorwärts!
„Alter Greif," sagt Zimmermann zu seiner Maschine, die, dick beeist,
mit Schnee iiberzogen, mit verschlacktem Roste schwerer und schwerer ihre
Pflicht erfüllt, „wir kommen heute beide wie die Eisbären all, beide erstarrt,
durchfroren, todmiide; das war eine böse Nacht für uns beide! Du sollst Pflege
haben, sauber gemacht werden von Rad zu Schornstein, und ich — ich will
mich wärmen und anstauen! Gott sei Dank, da ist Hochfeld, die Endstation!"
Mühsam hob er den starren Arm im steifgefrorenen Ärmel, um zu pfeifen,
als die Gebäude der großen Station im ungemütlichen Lichte eines stürmischen
Wintermorgens, mit hie lind da noch in den Fenstern glimmernden Lichtern,
dicken Eiszapfen an den Dächern und mit all ihrer Öde imb Unbehaglichkeit
zum Vorschein kamen.
Dröhnend rollte der Zug mit beit letzten Atemzügen der fast verlöschen-
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beit Maschine in die nur spärlich erleuchtete Halle. Der Inspektor steht im
Morgenpelze verdrießlich auf dem Bahnsteige. Mühsam sich bewegend, starr
245 und kältematt, reicht ihm Zimmermann die Kursuhr herab. „Sie kommen
zwanzig Minuten zu spät," knurrt der Inspektor; „Sie haben die Fahrtprümie
verloren."
„Es war eine böse Nacht, Herr Inspektor," sagt der halb erfrorene
Führer. — „Ja, es thut mir leid," erwidert der Inspektor, „Gaußigs Ma-
250schine ist schadhaft geworden, bringen Sie den alten Greif in Ordnung, in
einer halben Stunde müssen Sie den Schnellzug zurück übernehmen." — Tod-
müde, durchfroren, sofort den ganzen Weg zurück, und der Schneesturm tobt
nach wie vor! —
Das ist Lokomotivführerdienst im Winter!
Max Maria von Weber. Aus der Welt der Arbeit (Skizzen). S. 39 ff.
29. Die erste Schlacht (1870).
„An die Gewehre!"
O, unsere Leute standen schon an den Pyramiden [b. i. pyramiden-
förmig zusammengesetzten Gewehres. Vergingen sie ja gerade so wie wir
selbst vor Ungeduld, vorwärts zu kommen und den Rothosen zu zeigen, wie
5 bayerische Jäger schießen! Wir setzten uns in Marsch auf Sommauthe. Das
Tempo wurde immer schärfer. Jeder drängte vor. Hinten die Regimenter
mußten oft Laufschritt machen. Uns Jägern war dies einerlei. Da trabte ein
preußisches Dragoner-Regiment an uns vorbei. Herrgott, daß wir nicht auch
traben konnten! Jetzt jagte eine Batterie im Galopp links vor.
10 „Was ist denn das? Die protzen ja ab!" Es war so; aber kein Schuß
fiel. Wir marschierten weiter. Eigentlich war es jetzt ein wahrer Eilmarsch.
„Hört, hört, es schießt!"
Rechts vorne krachte es. Da kam auch Leben in die Batterie, die links
vorwärts stand. Das rechte Flügelgeschütz begann, die andern folgten. Wir
15 sahen die Granaten in die Luft fliegen, dann verschwanden sie hinter einem
Hügel, der uns jede Aussicht versperrte; wir wußten nicht, wohin, jedenfalls
auf den Feind. Wir marschierten weiter.
Es ist ein eigentümliches Gefühl, wenn man so direkt in die Schlacht
geht. Man denkt schneller als sonst, man sieht und hört alles, jeder Sinn
20 ist erregt, das Herz schlügt heftiger, die Pulse vibrieren, man möchte sich
verdoppeln, um nur recht schnell überall zu sein und alles zu erfahren. Noch
sahen wir nichts. Aber das Geschützfeuer wurde immer stärker, und nun
klang es dumpf, als ob auch Gewehrschüsse vernehmbar würden. Meine gute
Mutter sagte mir einst, als ich wieder einmal infolge einer Wette einen tollen
25 Streich gemacht hatte und beinahe zu gründe gegangen wäre: „Du wirst es
schon noch lernen, dich zu fürchten und dann Gott zu bitten, daß er dich
behütet, wenn du einmal in eine Schlacht marschieren mußt und den Tod
hundertfältig vor Augen siehst."
Sie hat sich aber geirrt. Gefürchtet habe ich mich ebensowenig wie
30 jeder andere Kamerad, und an Gott habe ich — ich muß es bekennen — in
meinem Leichtsinn and) nicht sehr viel gedacht. Meine Gedanken waren von
dem beherrscht, was ich vor mir sah.
Plötzlich kamen wir auf den Rand des Hügels, der uns so neidisch bisher
jede Aussicht versperrte. Das ganze Schlachtfeld von Beaumvnt bis Thibandine
lag offen vor uns. Welch ein Anblick!
Als ob man in einem Haufen von roten Ameisen mit einem Stocke
herumgestiert hätte, so wimmelte es dort unten,, kaum zwei Kilometer vor uns,
bunt durcheinander. Der Höhenrand rechts und links spie Feuer hinunter,
und unten im Thale selbst vom Waldrande aus krachte und knatterte es, daß
man meinte, ein Hagelschlag prassele auf die Glasscheiben eines Gewächs-
hauses und schlage alles kurz und klein. Jenseits auf einem langgestreckten
Höhenzuge stand' die französische Artillerie und wetterte herüber, und bald
galten ihre Grüße auch uns, obwohl sie vorläufig weiter nichts bewirkten,
als daß sie uns hie und da mit Sand und Schmutz überschütteten.
Jetzt hatten wir das Dorf Sommanthe hinter uns. Links an der Straße
lag ein Felsblock. Aus diesem stand unser Feldgeistlicher. Über seinem
schwarzen Talare hing eine silberne Stola. Rät einem Kruzifixe erteilte er
uns den Segen. Unsere Leute, wir selbst, alles befand sich in einer wahrhaft
gehobenen Stimmung. Nie erklangen die Lieder unserer Jäger so frisch als
gerade dort auf dem Wege von Sommauthe bis hinunter an den Wald.
„UuserKönig soll leben, Prinz Luitpold daneben, Generäl' und die Offizier';
lust'ge Bayern sind wir!" hieß es vorne — „Haut sie auf die Chassepvts!"
scholl's von hinten vor, und dann kam wieder die alte drollige Geschichte:
„Kavallerie muß attackieren, Infanterie gibt Salven ab, das ganze Jägerkorps
rückt aus mit Sack und Pack!" — „Rechts heran! Platz machen!"
Unsere Divisionsartillerie trabte vor.
„Hurra, Kanoniere!"
„Hurra, Jäger! Heut gilt's!"
„Wearn's eahne scho' zeig'n!"
„Das ganze Jägerkorps rückt aus mit Sack und Pack!"
„Aufhören! Ruhe! Lad't 's Gewehr!"
Jetzt wurde es ernst. Als ob jeder die Macht dieses Augenblickes zugleich
empfundeu hätte, herrschte sofort tiefe Stille. Nur die Gewehre rasselten,
als die Cylinder auf- und zugeklappt wurden, und die Hähne knackten, wenn
man sie in Ruhe setzte. Von der Schlacht sahen wir nichts mehr, desto mehr
hörten wir. Man meinte damals, ärger könne es gar nicht zugehen, und doch
kam es noch dicker bei Sedan, bei Orleans, Coulmiers, Loigny und
Beaugency.
Null bogen wir in einen Waldweg ab. Er hatte genau die Richtung
auf jene französische Schimmelbatterie, die wir schon vorhin von oben be-
merkten. An einer Lichtung kamen wir am ersten bayerischen Verbandplatz
vorbei. Da walteten die Ärzte schon ihres schaurigen Amtes. Wir waren
froh, daß uns der Wald bald wieder aufnahm. Nichts wirkt auf die Leute
ungünstiger als der Anblick einer Amputation, wie sie dort gerade an einem
Unteroffiziere des zehnten Regiments vorgenommen wurde.
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Bd. IV.
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Meine Kompagnie war an der Spitze. Der Weg verbreiterte sich zu
einer Lichtung.
„Herrgott! Was soll denn das heißen? Die weichen ja zurück!"
Sie waren in der Flanke gefaßt worden, die Zehner. Eine ganze feind-
80 liche Division hatte unsere Vorhut von links gepackt und dachte, sie vollständig
aufzurollen jd. i. eine Abteilung nach der andern zu schlagen.]
„Meine Herren, halten Sie Ihre Züge fest geschlossen! Wir dringen
durch!" Ich hatte unserm kleinen Hauptmanne eine so mächtige Stimme gar
nicht zugetraut. Sonst klang sie immer so dünn. Wir sprangen zu unsern Jägern.
85 „Uns nach, Jäger! Fest beisammen bleiben! Laßt keinen Zehner zwischen-
herein! Wir müssen die.heraushauen! Vorwärts, Jäger, Laufschritt, vorwärts!"
Kein Mann blieb zurück. Wie eine feste Masse drangen unsere Kom-
pagnien durch. Viele Zehner, Offiziere und Soldaten, schlossen sich uns wieder
an. Aber vor ließen wir keinen. Nun wurde der Wald lichter.
90 „Ausschwärmen!"
Die Flügel kamen kaum hinaus, so drängte die Mitte vor. Alles war
jetzt im Hellen Laufe.
„Bajonette aufpflanzen! Vorwärts, Jäger, vorwärts!" Und wie hielten
sie aus, die braven Kerle!
95 Der Wald hörte auf. Eine etwa 200 Schritt breite Lichtung lag vor
uns. Eine weiße Dampflinie bezeichnete den jenseitigen Rand. Dazwischen
beleuchtete die Sonne rote Hosen. Dort standen sie also, die Herren Franzosen.
Richtig, das sind Chassepots, die so drollig uns um die Ohren pfeifen. Thut
nichts, werden schon aufhören.
100 Wir aber hörten nicht auf, nämlich zu laufen. Nicht einen Schuß
gaben wir ab. „Vorwärts!" schrie der Hauptmann. „Vorwärts, Jäger!"
riefen wir ihm nach, und hinaus ging's ans das freie Feld. Da stürzten
freilich gleich einige nieder. Mußten wohl gestolpert sein! Waren's auch,
aber nicht über Wurzeln, nur über ein ganz kleines Stückchen Blei.
105 „Hurra! Hurra!" Wie das durch die Nerven drang!
„Hurra! Hurra!" schrie, nein brüllte die ganze Kompagnie, und vor-
wärts ging's in einem Laufe, bis wir dort waren, mitten unter ihnen drin,
daß sie meinen mußten, eine Wolke habe uns ausgespieen zu ihrem Verderben.
Den Waldrand faßte ein kleiner Graben ein. Da lagen die vordersten
110 drinnen. Ich sprang flott darüber weg; war noch ein junger Kerl damals
und nicht umsonst von jeher ein gewandter Turner und Fechter. Hinter mir
folgte mein rechter Flügelkorporal. Dann kamen unsere Jäger, und von den
Franzosen riß der größte Teil aus, als wir dicht vor ihren Gewehrmündungen
standen und sie nur hätten losdrücken dürfen, um noch manchen flotten Jäger
115 dahinüber zu schicken, wo man zwar als treuer Soldat gut aufgenommen
wird, aber doch nicht gerne freiwillig hingeht. Ein anderer Teil jedoch blieb
stehen und wehrte sich redlich, half ihnen aber nicht viel. Immer mehr
Jäger und dann auch Zehner kamen nach und glichen das Zahlenverhältnis
so ziemlich aus. Was noch Widerstand leistete, wurde erschossen; es waren
120 aber nur wenige, die Mehrzahl war gefangen oder floh, so rasch sie konnte.
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Der Feind war bald außer Schußweite. Nachdem das ganze Bataillon
sich zusammengefunden hatte, und zwar allein — denn die andern waren noch
weit zurück — beglückwünschten wir uns gegenseitig und erzählten und fragten,
wie es eben ein solcher Moment mit sich bringt.
Unser Oberstlieutenant strahlte vor Glück und Wonne. Ja, so hatte
er sich seine Jäger gedacht, so hatte er sie erzogen, hart gegen Strapazen,
ausdauernd in Mühseligkeiten, tapfer, schneidig, vorzüglich im Gefechte. Da
rief einer, ich weiß nicht, wer es war, ich glaube, ein Gefreiter: „Unser
„Alter," der Herr Oberstlieutenant Schmidt, lebe hoch!" Und das ganze
Bataillon, der Stabshauptmann, sämtliche Offiziere, alle Jäger schrieen: „Hoch,
hoch und nochmals hoch!" So von Herzen habe ich selten jemand leben
lassen als dort unsern lieben, guten Oberstlieutenant. Er war aber auch
gerührt bis zu Thränen; ja wahrhaftig, dem wetterharten Manne, dem wir
lange nachgesagt hatten, er könne nicht einmal lachen, liefen Thränen über
die Wangen, und er genierte sich nicht, und wir verargten's ihm nicht; wir
haben ihn darum nur um so mehr geehrt.
Für uns war damit die Schlacht zu Ende. Jetzt stellten wir unsere
Züge zusammen und schauten, wer fehlte. Es gab doch ernstere Lücken, als
man geglaubt. Immerhin hatten wir einen ganz außerordentlichen Erfolg
verhältnismäßig billig erkauft.
Wir bekamen viel Lob und Lohn für diesen flotten Angriff der ersten
bayerischen Jäger. Was uns aber doch am meisten freute, war, daß man
auch höhern Orts unsern „Alten" erkannte und ihm die höchste militärische
Auszeichnung Bayerns, den Max-Josephs-Orden, für Beaumont verlieh.
Die ganze Brigade versammelte sich allmählich in unserer Stellung.
Dann wurde bivouakiert. Vom Feinde erfuhren wir nichts mehr; unsere
Kavallerie und die erste Division waren hinter ihm her. Wir durften ruhen;
wir hatten es auch verdient. Während der Schlacht hatte es natürlich nichts
zu essen gegeben; abends war Fasttag. Nur ein Kamerad fand einen riesigen
Hafen mit Schmalz, und ein anderer entdeckte einen Sack Mehl. Daraus
wurde ein Brei gekocht, leider ohne Salz, weil wir keines mehr besaßen. Er
schmeckte aber doch, und als ein Unteroffizier mehrere glücklich aufgefundene
Flaschen vorzüglichen Sekt beibrachte, fühlten wir uns „wie der Herrgott in
Frankreich" und lachten und jubelten. Wir hatten ja die erste Schlacht hinter
uns — den ersten Sieg! Karl Tanera.
Ernste und heitere Erinnerungen eines Ordonnanzoffiziers im Feldzuge 1870/71. I. Reihe. 18935. S. 24 ff.
II. Natur. Länder- und Völkerkunde.
30. Ein Sonnenaufgang.
Nacht und Nebel hielt Berg und Thal eingehüllt; kein Stern schien
vom Himmel hernieder, keine Lampe, kein Feuer brannte im Thale zu meinen
Füßen. Weder ein Ruderschlag auf dem Flusse noch ein Laut jenseits im
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Dorfe bewegte die Luft; allum nur Nacht, lichtlose, schwere, schweigende, öde,
5 starre Nacht. Da schallt der Ruf eines Hornes von jenseits herüber; es ist
der Wächter des Dorfes, der die letzte Stunde der Nacht ausruft. Die Turm-
uhr schlägt; auch der Wächter geht zur Ruhe, und wieder herrscht einsames,
tiefes Schweigen. So hüllt auch unsern Lebenspfad nicht selten Nacht und
Nebel ein, wir stehen in schweigender Einsamkeit ratlos da und wissen nicht,
10 wohin wir den Fuß setzen sollen; doch fürchte dich nicht, das Auge Gottes
wacht, und der längsten, der dunkelsten Nacht folgt der Morgen, der jedes
Dunkel aufhellt und jeden Zweifel löst.
Müde von meiner nächtlichen Wanderung setzte ich mich auf die be-
mooste Wurzel einer alten, vielhundertjährigen Eiche dicht am Wege und
15 starrte hinaus in die schrankenlose Finsternis. Ich sah keinen Himmel und
keine Erde, keinen Berg, keinen Fluß, kein Thal, nur das rabenschwarze,
gestaltlose Dunkel dieser sternlosen Nacht. Doch wo Gott ist, da ist keine
Nacht; es gibt aber eine andere Nacht, die allein den Namen der Nacht ver-
dient: wenn der Mensch sich allem höhern, himmlischen Lichte verschließt,
20 wenn er ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Hoffnung mit verstocktem, er-
starrtem Herzen in dem Kerker kalter Trostlosigkeit seinem Tode entgegensieht.
So denkend versank ich allgemach in nebelhafte Träume, aus denen
mich kein Laut aufweckte.
Während ich also halb wachte, halb träumte, wichen die Nebel vor
25 dem Hauche des Morgenwindes; die Sterne blickten scheidend wie ans über-
wachten Augen mit erbleichendem Lichte träumerisch ans die schlummernde
Erde hernieder. Der Himmel hellte sich auf gleich einer Seele, in welcher
der Funke göttlicher Liebe wiedererwacht. Der Tag begann im Osten zu
grauen. Nun regte sich auch das erste Leben im Walde: hier schüttelte ein
30 Vogel sein Gefieder auf dem Neste; dort und da ließ sich eine einzelne Stimme,
ein abgebrochener Pfiff von einem Baume oder aus einem Busche vernehmen
wie Instrumente vor dem Beginne eines Konzertes; in der Tiefe des Thales,
im Dorfe und ans den zerstreuten Höfen begannen nun auch die Herolde der
Frühe, die Hähne, einander den Morgen zuzukrähen, erst mit leiserer Stimme,
35 dann immer heller und durchdringender; die Hunde wechselten mit ihnen ab,
jetzt bellte nur einer, dann mehrere, dann wurde wieder alles still.
Immer purpurglünzender wurden die leichten Wolken im Osten; der
ganze Himmel wandelte sich in ein weites, schattenloses Lichtmeer um. Schon
erglänzten, vorschauenden, gotterleuchteten Propheten gleich, von den ersten
40 Strahlen beschienen, die Gipfel der höhern Berge und die Wipfel ihrer
Wälder; erwartungsvoll aber harrte noch die Erde, sich langsam den Armen
des Schlummers entwindend, dem Morgen entgegen. Da endlich erschien sie,
die Königin des Tages, die Sonne, groß und klar in herrlich strahlender
Majestät, langsam am Saume des Himmels emporsteigend. Und sieh, kaum
45 war sie sichtbar, da spiegelte sich schon ihr leuchtendes Bild in tausend und
tausend Tautropfen an den Blättchen des Waldes, an den Blumenkelchen
der Wiese, in jeder zitternden Welle des Flusses. Über alles verbreitete sie
ihren heitern Glanz, alles erquickte sie mit ihrer lebenweckenden Wärme,
101
alles streckte ihr sehnsuchtsvoll die Arme entgegen und erschloß sein Herz
durstig ihrem milden Strahle. 50
Ein rosiger Duft übergoß bald das ganze Thal und Wiese und Wald,
und aus dem Dufte stieg eine Lerche himmelan, höher und höher, über den
goldenen Gipfel des Berges hinaus in das reine Blau des Morgenhimmels.
Dort schwebte sie mit blitzenden und zitternden Schwingen wie ein singender,
goldener Stern und jubilierte in den hellsten, reinsten Tönen, als sei sie vom 55
Thäte gesendet, dem Schöpfer den Dank der Erde darzubringen und ihn für
seine Sonne, diese Verkünderin seiner väterlichen Liebe, zu preisen.
Guido Görres. Deutsches Hausbuch. B. I. 1846. S. 6 ff.
31. Frühling.
Lacht zu Ende des Monats Februar die Mittagssonne uns entgegen,
und weht die reinere, frische Luft durch das offene Fenster herein, so fühlen
wir ein beglückendes Frühlingsahnen.
Treten wir hinaus, belehrt ein eisiger Hauch uns freilich, daß der
Hornung noch keineswegs zu den Frühlingsmonaten gehört. Dennoch zeigt 5
er bereits liebliche Kinder der holdesten der Göttinnen, frisch und fröhlich sich
erschließende Blumen. Auf einer schon vom Schnee freien Stelle erblicken
wir die weißen Sternchen der Vogelmiere, die gelben Köpfe des Kreuzkrautes
und die weißen, purpurn umsäumten Gänseblümchen. Unsere Freude über
die ersten Frühlingsblumen wird jedoch bald gedämpft; denn wir erinnern 10
uns, daß diese Pflänzchen trotz Eis und Schnee fast den ganzen Winter hin-
durch grünen und blühen. Kaum dürfen wir das in wenigen Tagen hervor-
kommende Schneeglöckchen oder die an den laublosen Zweigen entfalteten, roten
Blüten des giftigen und doch so schönen Seidelbastes als wahre Frühlings-
verkünder ansehen; denn auch sie kommen an geschützten, von den Sonnen-15
strahlen leicht erwärmten Plätzen oft inmitten des rauhen Wintertobens her-
vor. Selbst wenn jetzt bereits ein Schmetterling, der kecke Zitronenfalter oder
der kleine Fuchs, daherfüchelt, dürfen wir noch immer nicht an den Frühling glauben.
Doch nur kurze Zeit währt es noch, da sendet der sehnlichst Erwartete
uns wirklich seine ersten Boten und Grüße. Ein kleiner, von der Flut des 20
schmelzenden Schnees angeschwollener Wildbach stürzt sich behend von den
Hügelwänden herab thaleinwärts, und wo seitlich das übergeschwemmte Wasser
kleine Sümpfe bildet, ragen die Ästchen des Goldmilzkrautes mit ihren niedlichen,
grüngelben Blüten hervor. In der Nähe, auf trockenen Stellen unterm Ge-
büsche, finden wir die rosenroten, später blau werdenden Röhrenblüten des rauh- 25
blätterigen Lungenkrautes und daneben die gelbe Vogelmilch mit den zier-
lichen Sternchen. Und wenige Schritte weiter begrüßen wir liebe Bekannte.
Weithin erblickt das erfreute Auge die weißen, nickenden Köpfchen der
Hainanemonen, zwischen denen die lilablauen Leberblümchen erglänzen, und
vom Waldesrande duften uns die dunkelblauen Veilchen einladend entgegen. 30
Wer könnte unempfindlich für den beglückenden Eindruck sein, welchen
gerade diese Bliimchen machen, wenn sie zwischen den kahlen, noch scheinbar-
toten Sträuchern ans den fahlgelben Wiesenmatten und dem vom tiefen Froste
102
noch nicht befreiten Acker gleichsam hoffnungsfreudig uns zulächeln! Sie
35 sind die eigentlichen bezeichnenden Pflanzen unsers beginnenden Frühlings, zu
denen unter den Bäumen noch die Rüstern oder Ulmen, die Erlen und Pap-
peln gehören, welche ihre unansehnlichen Blüten in die rauhe Luft hinaus-
schicken, während ihre Blätter noch wochenlang in den Knospen schlummern.
Bei den Sträuchern erblicken wir zuerst die roten Sternchen des Hasels mit
40 ihren zierlichen, wehenden Primelchen, dann die silbernen Blütenkätzchen
mehrerer Weidenarten und die goldigen Blütensterne des Hartriegels.
Mit ihnen beginnt nun eigentlich das wiedererwachende Leben in der
Natur überall sich zu regen. Die ersten Zug- und Strichvögel sind bereits,
oft mit neuen Schneeschanern zusammen, eingerückt; wir sehen an den Quell-
45 rändern Stare, Kiebitze, Holz- und Ringeltauben, Misteldrosseln, Bnchfinken-
männchen, Hänflinge, Zeisige und andere. Auch die ersten Lerchen trippeln schon,
oft seit Mitte Februar, auf den mindestens noch stellenweise schneebedeckten
Feldern umher. Nordische Wanderer, Wildgänse, Enten und andere, eilen
vorüber, ihren Heimatländern zu. Aus den Straßen der Städte und Dörfer
50 verschwinden die gefiederten Wintergäste, Krähen, Goldammern, Haubenlerchen.
Im Februar wirft der kräftige, ausgewachsene Hirsch sein Geweih ab,
deshalb heißt der Monat Hornung. Bereits jetzt bringt die Bache (Wild-
schwein) im tiefsten Waldesdickicht ihre Jungen zur Welt und bald auch die
Dächsin in der tiefen Erdhöhle, während unter dem Klafterholze oder unter
55 einem dichten Wachholderbusche junge Häschen und in den Schafställen Lämm-
chen das Tageslicht begrüßen. Der Wasserstar, welcher im Januar mit dem
Sturine um die Wette singt, nistet schon am Ufer und der Rabe im höchsten
Gipfel einer Eiche oder Föhre. Krähen und Elstern beginnen mit dem Nest-
bau und bald nach ihnen einige der soeben erst zurückgekehrten Wanderer,
60 z. B. Drosseln und Hänflinge. Diesen ersten Frühlingsregungen in der
Tierwelt folgen täglich neue. Am Fuße der alten Linde kommen die ersten
Schnabelkerfe hervor, die sogenannten roten Soldatchen, welche von der Dorf-
jugend mit Freuden begrüßt werden. Bienen, Mücken und manche andere
Kerbtiere lassen sich zum Ausfluge verlocken; eine Köcherfliege entsteigt als
65 häßliche Puppe dem Wasser und fliegt nach kurzer Zeit als verwandeltes
Kerbtier davon. Aus dem durchwärmten Laubhaufen windet sich eine Ringel-
natter, unter dem Ufer der Quelle kriechen Frösche und Kröten heraus, rot-
bäuchige Salamander schlängeln sich an der Oberfläche des Wassers empor,
Hechte laichen. Gegen Abend flattern sogar schon Fledermäuse umher, und
70 auch der Hamster erwacht vom langen Winterschlafe, hält sich aber vorsichtiger-
weise noch mehrere Wochen still im warmen Bau. Alle diese Lebens-
äußerungen erscheinen noch eine geraume Zeit hindurch wie gedrückt und
unsicher, bis sie endlich zur vollen, freudigen Entfaltung gelangen.
Über Nacht fällt ein starker Regen; in Strömen stürzt das Wasser aus
73 den Wolkengebilden herab und durchdringt tief die nur erst oben aufgelockerte
Erde. Und sieh, dies ist der eigentliche Himmelsbote, welcher den Bann
und die Fesseln des Winters völlig zu sprengen vermag. Jetzt erst löst sich
das kältende, Wärme verzehrende Eis auf und verschwindet von dem
103
Boden, und dann können die Sonnenstrahlen die Ackerkrume ordentlich durch-
wärmen. Mit Lust und Wonne atmen wir die reine, lauwarme Luft, und 80
unser Entzücken teilen alle lebenden Wesen.
Mit weithin tönenden Jubeltrillern erhebt sich die Lerche in die glän-
zend blaue Luft, von der Spitze einer Kiefer herab schallt uns das süße Lied
einer Singdrossel, aus dem Tannendickicht das klangvolle Flöten der Amsel,
vom Apfelbaume das Schmettern des Edelfinken, aus seinem Häuschen das Ge- 85
Plauder des Stars und vom trockenen Eichengipfel das Girren der Tauben entgegen.
Jetzt hält es uns nicht mehr im dumpfen Zimmer, jetzt müssen wir hinaus,
hinaus in die freie Natur, um alle erwachenden und zurückkehrenden Früh-
lingskinder zu begrüßen und keines zu verfehlen.
Karl Ruß. In der freien Natur. B. I2. S. 3 ff.
32. Letzter Herbstgang.
Noch einmal lockt es uns hinaus zum Abschied an den scheidenden Herbst.
Der Abendwind jagt düsteres Gewölk über den blauen Himmelsplan und
treibt die letzten vergilbten Blätter aus den kahlen Wipfeln über die noch
immer grünenden Wiesen. Ein ewiger Wechsel herrscht über uns in der Höhe,
wo bald die Sonne, bald das verhüllende Gewölk die Beleuchtung der Gegend 5
bestimmt. Aus leuchtender Helle werden wir in graue Schatten gerissen;
bald wühlt der Wind in den Falten unserer Kleider, bald duldet er, daß ein
fallendes Blatt senkrecht niederfällt. Er neckt uns; denn wenn wir eine Strecke
weit im Gehen gegen ihn ankämpften, so daß wir uns fast auf ihn legen
konnten, so steht er dann Plötzlich still, so daß wir beinahe umstürzen Mag 10
er doch! Wir halten unsern Hut und lassen uns gern gefallen, daß er das
letzte Stäubchen aus unsern Kleidern kehrt, so daß wir nie so reine Kleider
haben als nach einem solchen windigen Gange.
Jetzt hat der Wind eine Regenwolke im Fluge zerzaust und peitscht
ihr Naß uns stechend ins Gesicht; doch gleich darauf folgt wieder Sonnen-15
schein und Ruhe.
So haben wir ein lichtes Buschholz gewonnen, in welchem kleine, freie
Wiesenplätze mit niedrigem Buschwerk und Baumgruppen sich mischen. Hie
und da ragt auch eine grauverwitterte Steinklippe über den fast ebenen Boden
hervor, und in einigen kleinen, flachen Einsenkungen desselben stehen kleine 20
Wasserlachen, von Weidengebüsch umgeben. Links grenzt diese buschige Fläche
an eine weite Feldflur und geht vor uns allmählich in einen hohen Fichten-
bestand über, welcher am Rande, wie gewöhnlich in Feldhölzern, mancherlei
Laubholzbänme in sich faßt.
Der Kampf in der Luft scheint beendet zu sein oder in den höhern Luft- 25
schichten fortgesetzt zu werden; denn nur noch hoch über uns sehen wir lockeres,
zerrissenes Gewölk langsam gen Morgen fliehen. Um uns strahlt das blendende
Abendsonnenlicht, nur auf Augenblicke von einer vorüberziehenden Wolke
verhüllt.
Die hohen Pappeln, welche uns zur rechten den Feldweg einfassen, 30'
haben nur noch an der höchsten Spitze des schlanken Wipfels einen Busch
104
gelber Blätter — das Volk sagt sinnig: Die Pappeln haben ihr Käppchen
aufgesetzt — mit denen der beruhigte Abendwind kosend spielt, als wollte er
sie darüber begütigen, daß er eben erst viele ihrer Brüder von ihrer Seite
35 gerissen hat. Die schönen, glatten, gelben Blätter von fast regelrecht dreieckiger
Form liegen jetzt vor unsern Füßen, und wir finden an ihnen wie an den
Blättern der meisten Pappeln den Grund ihres ewigen Zitterns, den breit
zusammengedrückten, langen Blattstiel. Wir haben diesen schönen Baum vor
etwa hundert Jahren über Italien und England aus dem Orient erhalten.
40 Wahrscheinlich ist er vor langen Jahren nur einmal und seitdem nicht wieder
zu uns gebracht worden, und so sind alle die Hunderttausende italienischer
Pappeln an unsern Landstraßen, ans unsern Spaziergängen, in unsern Gürten
die Abkömmlinge vielleicht nur weniger, ja vielleicht nur eines einzigen Ur-
ahnen und zwar in gerader Linie, Fleisch von seinem Fleische, Blut von seinem
45 Blute. Es ist nämlich seit der Versetzung der ersten jungen Pappeln ans
deutschen Boden wahrscheinlich keine einzige der zahllosen, nun in Deutschland
stehenden oder bereits wieder gestorbenen Pappeln aus Samen erzogen worden;
alle sind sie nichts weiter als selbständig gemachte Glieder jener ersten ein-
geführten Bäume, von ihnen abgeschnittene Zweige oder Wurzelbrut; sie sind
50 das einzige Mittel ihrer Vermehrung. Es bedarf auch keines weitern; denn
alle Pappeln wie auch ihre nahen Familienverwandten, die Weiden, sind als
Setzlinge außerordentlich leicht zu erziehen.
Welch sonderbare Erscheinung bieten also unsere italienischen Pappeln
dar! Bilden sie nicht alle zusammen eigentlich ein einziges unsterbliches Wesen,
55 das in seinen Teilen ewig stirbt und ewig wieder sich verjüngt? Und wenn,
wie wohl anzunehmen ist, die erste Pappel in Form eines Stecklings nach
Europa kam, dann steht ja ein Teil des zerrissenen einen Leibes, welchen die
europäischen Pappeln dann nicht einmal allein bilden, Tausende von Meilen
weit in Ostindiens Erde.
60 Unsere Pappeln hier auf deutscher herbstlicher Flur erzählten uns ihre
fast märchenhafte Geschichte, und wir kehren nun zu ihren einheimischen Stief-
geschwistern zurück. Da sieht es trauriger aus als in dem ewigen Frühling,
wo der Pappeln ferne Leibeshälften stehen. Fast nur die noch immer neue
Blätter treibenden Gräser und die dauerhaften Farnwedel grünen noch. Doch
65 nein; auch die Maßliebe hat noch einige ihrer Blümchen für heute übrig
behalten, und eine unserer zierlichsten deutschen Pflanzen hat uns auf heute
den Anblick ihrer schönen, rosenroten Sternblümchen aufbehalten, das vom
Volke hoch in Ehren gehaltene Tausendgüldenkraut (Er^tdraea Centau-
riura). Es steht versteckt zwischen den verbleichenden Halmen hoher Gräser.
70 An mehr trockenen Stellen steht, zur Mumie geworden, aber ganz die lebendige
Gestalt beibehaltend, die distelähnliche, mit zahllosen stechenden Spitzen be-
wehrte gemeine Eberwurz (Carlina vulgaris). Sie ist aus derbem Stoffe
gewoben und wird noch ganz so aussehen wie heute, wenn ihr Nachkomme
neben ihr schon wieder aufsprießt. Ein wahrer Augentrost (so lautet der
75 deutsche Name der niedlichen Euphrasia officinalis) steht hier auf dem noch
ziemlich grünen Grasplätzchen. Wir erkennen in ihm den Rachenblütler. Die
105
niedlichen, bläulichweißen Blumen mit gelbem Schlnndfleck, die eigentlich mehr
echte Lippenblumenform haben, zeigen eine dreilappige Unterlippe. Wäre die
zweiklappige Kapselfrncht nicht, wir könnten versucht sein, den Augentrost für
einen Lippenblütler zu halten. 80
Unser aufmerksames Spähen nach den letzten Blüten wird immer mehr
belohnt. Hier finden wir sogar uodi ein blühendes Doldengewächs im Grase
versteckt. Freilich zeigt es nur kleine Dolden auf dem kaum fußhohen Stengel.
Er erhebt sich neben kaum mehr als zwei Blättern, welche uns sehr an die
Blätter des Dijonröschens unserer Gärten erinnern. Es ist die Pimpinelle85
(PimpinellaSaxifraga). Auch die Brunelle (Prunella vulgaris) bekleidet,
wie es ihre Gewohnheit ist, noch hier und dort fußgroße Plätzchen und versucht
noch einmal zu blühen.
Aber die Tierwelt ist bis auf einige kleine Vögel, die verlassen in den
kahlen Büschen umherschlüpfen, so ziemlich ganz erstorben. Hie und da fährt 90
noch eine Feldmaus vor unserm Nahen eilig in ihr Loch, und jetzt erschrecken
wir selbst vor einem Hasen, der uns ganz nahe an sein Lager kommen ließ
und nun mindestens mit dem Lärmen eines Schafes eilig das Weite sucht,
so fest tritt er dabei auf.
Längs des Feldes zu unserer Rechten begrenzt eine natürliche Hecke das 95
halb buschige, halb offene Gebiet, in welchem unsere Kreuz- und Querzüge
sich bewegen. Wie prangend muß sie vor einigen Monaten ausgesehen haben!
Jetzt gleicht sie einer Schaubühne, von welcher die Coulissen weggenommen
sind, so daß mau nur die dürren Latten und Gerüste sieht, an denen sie be-
festigt waren. An dem bunt verschlungenen Gezweige der Büsche hängen nur 100
noch wenige Blätter; sie sind durchslochten mit Stengeln und Halmen mancherlei
Art. Wir blicken in den innern Mechanismus einer jener Pflanzenwälle,
wie sie uns früher als Wahrzeichen des Sommers erschienen, welcher uns
bisher unter einer Fülle von Blättern und Blüten verborgen war. Rotbraune
Schnüre, die entblätterten, windenden Stengel des wilden Hopfens, durch-105
flechten das Dickicht, aus welchem die noch fast alle ihre Blätter tragenden
Brombeerranken in schönen Bogen sich auswärts biegen. Die Hecken-
winde hat bloß ihre gebleichten Stengel übrig gelassen, welche die Zweige
der Büsche so fest umwinden, als hätten sie diese erdrosselt. Am Schleh-
dorn treten nun die immer noch hängenden schwarzblauen Schlehen zu Tage, HO
da das Laub bis auf einen geringen Rest abgefallen ist. Jetzt dürfen wir
es wagen, siezn kosten; denn es hat schon einige Nachtfröste gegeben, und sie
werden nun nicht übel schmecken — das letzte selbstgepflückte Obst in diesem
Jahre.
Daneben hängen auch an dem schon ganz entlaubten Weißdorn diel 15
purpnrroten Äpfelchen noch, zu zwei oder drei kleine Gruppen bildend. Als
Kinder kosteten wir natürlich auch sie, obgleich sie kaum größer als Erbsen
sind und ihr mehliges Fleisch einen faden Geschmack hat.
Hier bildet ein mächtiger Haselbusch ein fast allegorisches Bild, das
Bild der Beharrlichkeit und der Erwartung. Um seinen Fuß schlingen sich 120
Ephenranken mit ihren sich ewig gleich bleibenden, immergrünen, hellge-
r
— 106 —
aderten Blättern; und oben an seinen Trieben sind bereits, des neuen Lenzes
wartend, die männlichen Blutenkätzchen zu sehen.
Den Rand einer Lache, auf den wir jetzt stoßen, finden wir mit hohem
125 Sch i lfrohr (Phragmites communis) eingefaßt. Sind auch nur noch wenige
Spuren von Grün an seinen Blättern vorhanden, so ist seine Gestalt doch
unverändert, und es trügt jeder Halm an seiner Spitze die große, von feinen
Haarbüscheln dnrchflochtene, violettbraune Rispe, die erst im nächsten Früh-
jahre ihre Samen fliegen lassen wird. Ein Luftzug streicht durch die Rohre
130 und weckt ihre heiser flüsternde Stimme.
Auf dem Wasserspiegel schwimmen nun anstatt der grünen Blätter der
Laichkräuter tote Baumblätter aller Art, um hier begraben zu werden. Es
wird lange dauern, ehe sie sich so voll gesogen haben, daß sie zu Boden
sinken; und dann werden sie noch Jahre lang unten liegen, ehe sie vollkommen
135 in ihre Elemente aufgelöst sind, um als Blätter der Laichkräuter und anderer
Wasserpflanzen wieder aufzuerstehen und das Auge der Sonne wieder zu
schauen.
In stiller Wanderung — denn das Rascheln der saftleeren Pflanzen unter
unsern Tritten bildet den einzigen Laut in der zur Ruhe gehenden Natur —
140 sind wir an den Rand des Fichtenholzes gekommen.
Schon von weitem leuchten uns einige weiße Birkenstümme entgegen,
deren Kronen nur noch von einigen wenigen gelben Blättern, die in der Luft
zu schweben scheinen, auf dem dunkelgrünen Hintergründe angedeutet werden.
Bon der Lärche (Larix decidua) neben ihnen sagt Plinius: „Ein Baum,
145 im Winter traurig," und wir finden jetzt diese Bezeichnung außerordentlich
wahr; denn mit dem Stamm- und Astban der immergrünen Nadelhölzer sieht
die Lärche nach dem Abfall ihrer feinen Nadeln wie eine verdorrte Fichte
aus, und ein verdorrter, aller seiner Nadeln beraubter Fichten- oder Tannen-
baum macht wahrscheinlich deshalb einen noch traurigern Eindruck als ein
150 verdorrter Laubholzbanm, weil wir uns daran gewöhnt haben, ihn in seinem
immergrünen Schmucke als ein Bild unvergänglicher Lebenskraft zu betrachten.
Eben ist die Sonne hinter den Fichten untergegangen. Wir bemerken
nun erst, daß oben am Himmel Friede herrscht. Keine Wolke ist mehr zu
sehen. Im Morgen funkeln bereits die ersten Sterne über einem matten
155 Wiederscheine des Abendhimmels.
Es wird wohl recht kalt werden diese Nacht. Wahrscheinlich war es
unser letzter Herbsttag. Doch, wer kann es wissen! Es ist oft ein langer
Kampf, ehe der Winter die Oberhand behält. Das sind dann die Tage vom
Jahre, die uns am wenigsten gefallen.
E. A. Roßmüßler. Die vier Jahreszeiten. 1888«. S. 238 ff.
33. Der Hecht im Fischteiche.
Es ist schon sehr lange her, daß der alte Hecht zum erstenmal im
Teiche frühstückte. Sie bliesen eben ringsum im Lande den Frieden;
denn der siebenjährige Krieg war vorbei; der Hecht fing aber seinen Krieg
erst an und kümmerte sich nicht um die Friedensschlüsse der Menschen,
107
'
sondern verschluckte seinen jüngsten Bruder als erste Mahlzeit. Es waren 5
der Hechtbrüder aber auch außerordentlich viele, gegen 100000, und wenn
der Hecht nicht eine ganze Anzahl seiner eigenen Geschwister verspeist hätte,
wären sie später alle zusammen im Teiche Hungers gestorben. Fraß er sie
nicht, so thaten's die Aalraupen, der Barsch oder ein anderer, und so blieb
es doch hübsch in der Familie. Er machte sich auch kein Gewissen daraus 10
und fühlte nicht mehr Reue und Kummer dabei, als wenn ein Knabe einen
Zuckerbonbon verzehrt.
Es ist ein sehr schlimmes Ding, wenn einer nur dadurch satt werden kaun,
daß er die andern auffrißt. Sein Lebtag hatte der Hecht Mühe und Not dabei
und zuletzt sogar noch den Tod davon. Die Karpfen, Karauschen seine Karpfenartj 15
und Schleien haben es darin doch noch besser. Sie machen aus dem
Schlanime des Teichgrundes eine Mittagsmahlzeit und verzehren höchstens zu
Festtagszeiten ein Würmchen und etwas Gras als Gemüse dazu. Ihre Jungen
schwimmen in ganzen Scharen neben der Mutter her und verspeisen den
Schleim, den diese ausschwitzt, just wie die Ziegenlämmchen und Kälbchen die 20
Milch ihrer Alten als erste Kost trinken.
Zunächst machte der junge Hecht sich also an Die kleinsten Fische im
Teiche. Die muntern Gründlinge hatten ihre hellblauen Eier (Laich) an den
Steinen des Grundes festgekittet; das gab bequeme Mahlzeiten für den hung-
rigen Burschen. Erst speiste er Laich, und wie die jungen Gründlinge aus-25
schlüpfen und sich eben umsehen wollten, wo sie eigentlich wären, da hatte
der Hecht schon ein Dutzend und mehr von ihnen weggeschnappt. Die andern
stoben nach allen Seiten auseinander oder versteckten sich zu den Kaulköpfen
unter die Steine.
Die kleinen Fische wurden von Tag zu Tag größer und flinker, und 30
dem Hecht ward's schon nicht mehr so leicht, den quälenden Hunger zu stillen.
Er mußte Jagdkünste lernen und flink werden oder — verhungern.
Nun hatte er zwar vorn dicht au den Kiemen zwei Flossen, am Bauche
ebenfalls zwei, eine Flosse auf dem Rücken und noch eine dieser gegenüber
auf der untern Seite des Körpers; sie alle halfen ihm aber nur wenig beim 35
Vorwärtsschwimmen; dazu war ihm der Schwanz das Hauptwerkzeug.
Ein Fisch hat sehr viel Ähnlichkeit mit einem Schiff, aber nicht mit
einem Ruderboot, sondern mit einem Schraubendampfer. Die Flossen auf
dem Rücken und an andern Stellen des Körpers dienen ihm nur als Steuer-
ruder und zur Erhaltung des Gleichgewichts. Schneidest du einem Fische die 40
Rückenflossen ab, so füllt er auf die Seite. Der Schwanz ist das eigentliche
Ruder, das ihn vorwärts treibt; er ist das Hauptstück, durch welches er im
Leben weiter kommt.
Die andern Fische wissen es recht gut, welch ein schlimmer Patron
der Hecht ist, und nehmen beizeiten vor ihm Reißaus. Sie können ihn zwar 45
nicht aus weiter Ferne riechen, wie etwa die Pferde den Wolf wittern; denn
die Nasen aller Fische sind nicht sonderlich fein. Auch vermögen sie ihn nicht
weither zu hören wie der Hase den Hund; die Fische machen beim Schwim-
men wenig Geräusch, und ihre Ohren sind nicht sehr empfindlich. Desto besser
“
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50 aber können sie sehen, selbst drunten in der Tiefe, wo es einem Menschen
schwarz vor den Augen wird. Die Fischaugen sind groß und eigens zum
Sehen im Wasser gebaut. Der Fisch macht sie auch sein Lebtag nicht zu;
denn ihm fehlen die Lider. Die übrigen Fische verstehen ebenfalls trefflich zu
schwimmen und können flinke Schwenkungen machen. Jede Art verfährt dabei
55 auf ihre besondere Weise: die einen tauchen rasch nach dem Grunde, die andern
schießen im Bogen dahin, noch andere können blitzschnell linksum und rechtsum
machen. Einige vermögen sich sogar über das Wasser hinauszuschnellen, indem
sie den Schwanz mit dem Maule fassen und ihn dann rasch loslassen. Die
Kaulköpfe können Löcher unter die Steine wühlen und sich verstecken, und die
60 Schmerlen (Schlammbeißer) verstehen die Kunst, sich unsichtbar zu machen;
denn sie rühren den Schlamm um, so daß das Wasser ganz trübe wird. Da
gilt's für den Hecht, noch schneller und schlauer zu sein als sie alle, sonst
bleibt sein knurrender Magen leer, und er hat allenthalben nichts als das
Nachsehen.
65 Zum Fassen seiner Beute hat der Hecht gewaltige Reihen sehr scharfer,
spitzer Zähne; auch bekommt er sein Lebtag weder Zahnschmerzen noch hohle
Zähne. Sind die alten Zähne etwas abgenutzt, so wachsen flugs neue nach.
Ist er mit einem seiner Vettern uneins geworden, hat er sich mit ihm herum-
gebissen und dabei ein Stück von seinem eigenen Fleische eingebüßt, so schadet
70 ihm dies auch nicht sonderlich. Ein Fisch vergießt nie eine Thräne, er
schwimmt ja fortwährend im Wasser. Er verzieht selbst das Gesicht nicht;
die Schuppen, mit denen er ringsum gepanzert ist wie ein Ritter aus alter
Zeit, lassen schon solches nicht zu. Wenn die Wunden nicht gar zu schlimm
sind, so heilen sie bald wieder, und es bleibt kaum eine Narbe davon übrig.
65 Den Fisch, welchen der Hecht einmal gefaßt hat, muß er auch ganz
hinunterschlucken, kann weder erst die Gräten ausschälen, noch kann er die
Flossen und die Stacheln abputzen. Die langen, scharfen Hakenzähne dienen
wohl gut zum Festhalten, aber nicht zum Zerkauen.
Da gilt es denn doch für den Nimmersatt, etwas vorsichtig zu sein
80 und nicht so blind zu schnappen nach allem, was ihm etwa vor den Mund
kommt! Karpfen, Barben, Brachsen, Lauben, Plötzen und Rvtflossen mag
er ungestraft verschlucken; die Bitterlinge-munden ihm schon nicht besonders,
so schön violett und grünstreifig sie auch aussehen. Der Aal und die Aal-
raupen verstehen sehr wenig Spaß und weisen dem neugierigen Hechte, der
85 sie gern kennen lernen will, bissig die Zähne. Ist er nicht auf seiner Hut,
so kann er bei solchen Entdeckungsreisen selbst verspeist werden, anstatt jene
zu verzehren; aber selbst das kleinste aller Fischchen im Teiche, der Stichling,
kann ihm verderblich werden. Das Bürschchen ist nicht größer als ein kleiner
Finger, dabei aber an den Seiten gepanzert und auf dem Rücken mit drei,
90 am Bauche mit einem scharfen Stachel bewehrt, die es gar geschickt zu ge-
brauchen versteht. Vorzüglich hat sich der kleine, flinke Gesell darauf ein-
geübt, seine Riickenstacheln niederzulegen und schnell aufzurichten. Damit
sann er andern Fischen, die zehnmal größer sind als er selbst, tiefe Wunden
schlagen, und wenn ihn der Hecht überrascht und gierig verschlingt, so reißt
109
der Stichling dem Fresser den Schlund und die Eingeweide entzwei, so daß 95
es sein letzter Bissen ist, den er genossen hat.
Selbst dem Laich des Stichlings kann der Hecht nicht gut beikommen;
denn der kleine Fisch baut aus Wasserpflanzen ein förmliches Nest, in welchem
er seine Eier ablegt; dann aber bewacht der kleine Ritter seine Burg und
greift jeden Feind wütend an, der ihr zu nahe kommt. 100
Der alte Hecht, von dem ich dir erzähle, hatte viele Jahre lang im
Teiche sein Wesen getrieben und manches Hundert Fische verspeist, große und
kleine. Einmal hatte er auch eine Wasserratte verschlungen, ein andermal
ein junges Entchen verschluckt. Er war dabei so lang und so schwer ge-
worden wie ein zehnjähriger Knabe und verstand es, alle Angeln und Netze 105
schlau zu vermeiden. Je größer und stärker er aber ward, desto größer ward
auch sein Hunger und desto schlimmer sein Übermut und seine Frechheit.
Hatte er nicht selbst dem Knaben des Fischers einmal ein Stück aus dem
Bein gebissen, als dieser am Ufer sich badete? Da ward ihm zuletzt seine
Freßgier doch zum Verderben! HO
Eines schönen Tages schwamm der alte Schwall auf dem Teiche und
spiegelte sich in dem klaren Wasser, steckte auch den langen Hals tief hinab
in die helle Flut, .um sich einen Bissen zu suchen; denn er hatte noch nicht
gefrühstückt. Kaum ersieht ihn der Hecht, der sich hinter dem Laichkraut ver-
steckt hielt, so schießt er wie der Blitz daraus los und beißt den Schwan in 115
den Kopf. Der arme Vogel schlägt mit Flügeln und Beinen, kann aber
nicht loskommen; denn der Fisch hat in seiner Gier die Zähne fest eingeschlagen
und den Kopf schon im Rachen. Der Schwan mußte ersticken; der Hecht
starb aber auch, denn dieser Bissen war ihm doch zu groß. So zog denn
der Fischer beide hervor aus dem Wasser und brachte den alten Räuber zur 120
Küche, und nun ward endlich der Hecht selbst verspeist zur Strafe dafür, daß
er sein ganzes Leben hindurch nichts weiter gethan hatte als andere Ver-
fehlungen. Hermann Wagner. Entdeckungsreisen in Feld und Flur. 187<;4. S. 19 ff.
Vergl. Mein hold, Wandbilder für den Unterricht in der Zoologie: 20 (Karpfen
und Hecht). — Lehmann-Leutemann, Fünfzehn Tierbilder: Nr. 13 (Hecht und Karpfen).
34. Eine Bienenzucht.
Alls dem Altane des Hinterhauses stand ein Dutzend Bienenstöcke,
bald mehr, bald weniger, teils in Körben, teils in Holzkasten, alle aber oder
doch die meisten in Decimalwagen, deren lange Balken mit den kleinen, flachen
Wagschalen in den innern Gang des Altans hereinsahen, während der Stock
an dem kürzern Arme durch Schnüre befestigt ruhte, aber durch Einlegung 5
des entsprechenden Gewichts in die Wagschale gehoben werden konnte. Der
Zweck dieser Einrichtung war, ohne Beunruhigung der Bienen während des
Sommers die täglichen Gewichtsveränderungen jedes Stockes auszumitteln
und dadurch eine Übersicht zu gewinnen, aus welcher die gute oder schlechte
Beschaffenheit eines Jahrgangs und seiner einzelnen Monate in Absicht auf 10
Bienenzucht, der Honigertrag der verschiedenen Pflanzen, z. B. des Salbeis,
der Linde (letztere in der Lindenstadt Ludwigsburg von besonderer Wichtigkeit)
110
hervorgehen mußte. Jeden Abend daher, vom ersten Frühling bis in den
Spätsommer, sobald abgegessen war, nahm der Vater ein Licht, um auf den
15 Altan zu gehen und seine Bienen zu wägen. Wir Knaben pflegten ihn zu
begleiten. An schönen Sommerabenden ruhten da die Bienen nach gethaner
Arbeit behaglich summend vor und in ihren Körben, während der Duft des
eingetragenen Honigs und Blutenstaubs den ganzen Bienenstand durchdrang.
Nun wog der Vater und schrieb das Gewicht auf die dahangende Schiefer-
tafel; und wie freuten wir uns mit ihm, wenn die Ziffer gegen die gestrige
manchmal eine Zunahme von ein bis zwei Pfund bei einem Stocke aufwies!
Diese Zahlen wurden dann am Schluffe jedes Monats von dem Vater in ein
Buch eingetragen, so daß zuletzt eine Tabelle, wie von Barometerbeobachtungen,
vor ihm lag.
25 Eine Hauptfreude für uns Knaben war im Sommer das Schwärmen
der Bienen. So klein die Tierchen sind, so gewährt doch dieses Schwärmen
derselben ein wahrhaft erhabenes Naturschauspiel. Wie von dämonischer Ge-
walt getrieben, ja geworfen, stürzen im Zeiträume weniger Minuten mehrere
tausend Bienen aus dem engen Flugloch hervor, erheben sich von dem Stocke
ZO brausend in die Luft, die sie verdunkeln, um, wenn sie sich da gesammelt,
weiter zu ziehen und sich an einen bequeinen Gegenstand, einen Baumast,
einen Dachvorsprung, als Klumpen anzuhängen, der sofort von dem Bienen-
vater in einen untergehaltenen Korb gefaßt und als neuer Stock auf dem
Stande aufgestellt wird. Auf dieses Schauspiel zu passen, wenn es nach be-
istimmten Vorzeichen erwartet werden konnte, ließen wir Knaben uns nicht
leicht nehmen, wenn wir auch manchmal einen Bienenstich (denn die Tierchen
sind dabei in der leidenschaftlichsten Aufregung) davontrugen.
Nicht immer jedoch verlief die Sache so regelmäßig. Es kam vor, daß
der Schwarm, nachdem er sich eine Zeit lang in der Luft umgetrieben, statt
40 sich irgendwo anzuhängen, unverrichteter Sache wieder in den Korb zurück-
stürzte. Der Vater wußte wohl, wo das her kam: die Königin mußte nicht
mit den Schwärmenden gewesen sein. Darauf richtete er nun seine Unter-
suchung. Er ging in den Hof hinunter, suchte und suchte und fand endlich
die Majestät mit zerfetzten Flügeln am Boden kriechen. Sie war also zwar
45 mit den andern ausgezogen, aber unfähig, mit ihnen aufzusteigen, zu Boden
gefallen. Er brachte sie in den Korb zurück und konnte nun berechnen, was
geschehen würde. Am nächsten sonnigen Mittage wiederholte der Stock den
vereitelten Schwärmversuch, und jetzt stellte sich der Vater, durch seine Bienen-
kappe mit Drahtvisier und stichfeste Handschuhe geschützt, so auf, daß er auf
50 das Flugloch und Flugbrett sowohl genau sehen als vorkommenden Falls
langen konnte. Trupp für Trupp drängten sich die Völker heraus. Auf
einmal: Platz der Königin! Sie schritt vor und war eben im Begriffe, ihren
frühern Fall zu wiederholen, als des Vaters geschickte Finger sie ergriffen
und in Sicherheit brachten. Die hitzigen Bienenscharen nichts destoweniger
-55 vorwärts und in die Luft — und nun machte der Vater ein allerliebstes
Kunststück. Wohl wissend, daß der ausgezogene Schwarm, der über uns brauste,
sobald er sich ohne Königin fand, binnen weniger Minuten sich wieder, wie
111
das vorige Mal, in den Stock zurückstürzen würde, entfernte er den vollen
Stock, aus dem die Kolonie gezogen war, stellte einen leeren Korb an den
Platz und setzte die abgefangene Königin hinein. Kaum war das in höchster
Eile geschehen, so begann auch schon der stürmische Rückzug: die ausgezogenen
Bienen, durch die Verwechslung getäuscht, warfen sich auf den leeren Korb,
zogen ein, fanden mit Überraschung ihre vermißte Königin und trugen voll
Vergnügen noch an demselben Tage als Glieder eines neuen Bienenstaats
Honig und Wachs ein.
Doch noch kühner als durch solche Versuche drang des Vaters Be-
vbachtnngslust in das Innere der Bienenwelt ein. Wenn es mit einem
Bienenstaate bei günstigen Verhältnissen der Witterung, Wohnung u. s. f.
doch nicht steht, wie es sollte, wenn er im Wohlstand zurückkommt, wenn
Räuber sich in seine Thore drängen und dergleichen, so ist jedesmal anzu-
nehmen, daß es an der Königin fehle, daß sie entweder mißgeschafsen, krank
oder gar gestorben sei. Dies mit Sicherheit auszukundschaften, hatte der
Vater einen kurzen Weg. Er kannte ein Gewächs, zu den Pilzen gehörig,
Bovist genannt, das getrocknet und angezündet wie Zunder glimmt und durch
seinen Rauch die Bienen, wie jetzt Chloroform die Menschen, auf eine halbe
Stunde vollständig betäubt. Ein Stück rauchenden Bovists also wurde in
einem durchlöcherten Gefäße unter den Stock gelegt, dessen Haushaltung unter-
sucht werden sollte. Und wenn das Kraut ausgegliinmt hatte und der Korb
aufgehoben wurde, lag dessen sämtliche Körperschaft in einem Haufen wie tot
auf dem Flugbrette. Wie Bohnen konnten wir nun die Bienen durch die
Finger laufen lassen, und da fand sich dann in der Regel, was der Vater
hatte erforschen wollen.
Nicht wenig vermehrte unsere Teilnahme an des Vaters Bienenlust der
Umstand, daß er bald jedem von uns einen eigenen Stock schenkte, dessen Er-
trag an Honig in unsere Sparkasse fließen sollte. Der Bruder hatte Glück mit
seinem Stocke; auch der meinige schien anfangs gedeihen zu wollen, bald je-
doch wurde er buckelbrütig und ging zu gründe.
Wie? Buckelbrütig? fragt ihr mich erstaunt, was ist denn das? —
Ja, das wüßte ich selbst nicht, liebe Kinder, wenn nicht, wie gesagt, der mir
vom Vater geschenkte Bienenstock leider buckelbrütig geworden wäre. Ihr
wisset doch, in einem Bienenstöcke sind außer der Königin, die zugleich die
Mutter aller ihrer Unterthanen ist, denn sie allein legt die Eier, noch zwei
Klassen von Bienen: die fleißigen Arbeitsbienen, die von allen Blüten auf
Wiesen und Bäumen den süßen Ertrag heimbringen, daheim Wachs aus-
schwitzen und Zellen bauen, Honig aufspeichern und die junge Brut mit Brei
aus Honig und Blütenstaub versorgen; und zweitens die Männchen, die dicken
sogenannten Drohnen, die nichts thun, als ihrer Monarchin den Hof
machen, übrigens sich die von den Arbeitern eingebrachten Süßigkeiten schmecken
lassen, im Stocke spazieren gehen und vor demselben spazieren fliegen;
denn daß sie die Eier sollten ansbrüten helfen, ist vermutlich eine Fabel.
Glücklicherweise bilden diese Verzehrer in einem wohleingerichteten Bienen-
staate bei weitem die Minderzahl; es sind ihrer nicht so viele Hundert als
' 60
65
70
75
80
85
90
95
100
112
der Arbeiter Tausend. Ja, wenn es dem Winter zugeht und die Nahrung
knapp wird, machen die Arbeiter wenig Umstände und stechen die Fresser,
105 denen kein Stachel zu Hilse kommt, samt und sonders tot.
Es legt also die Königin ordentlicherweise zweierlei Eier, männliche und weib-
liche; denn die Eier, aus welchen die Königinnen hervorgehen, sind von denen,
aus welchen gemeine Arbeitsbienen werden, ursprünglich nicht verschieden, sondern
nur die kleinere oder größere Zelle, in welche das Ei gelegt wird, gleichsam der
HO Raum der Wiege, bestimmt den Unterschied. Auch für die Drohneneier ist
eine Anzahl größerer Zellen als die für Arbeitsbienen, obwohl kleiner als
die königlichen, bereit; sollen Drohneneier in Arbeiterzellen Raum für ihre
Entwickelung finden, so muß dadurch nachgeholfen werden, daß deren gewöhnlich
flacher Deckel mit einer Wölbung oder einem Buckel versehen wird. Wenn
115 nun in einem Stocke die für Arbeiterbrut bestimmten, sonst flach gedeckten
Zellen solche gewölbte Deckel zeigen, so heißt der Stock buckelbrütig, und das
ist dann freilich ein schlimmer Zustand. Es heißt nämlich nichts anderes, als
daß in einem Bienstaate durch Untüchtigkeit der Königin, die nur Drohuen-
eier legen kann, nur noch Verzehrer und keine Arbeiter und Erwerber mehr
120 nachwachsen.
So, liebe Kinder, erging es euerm Vater mit seinem Bienenstöcke, der
buckelbrütig wurde; und daher hat er von dort an so eifrig darauf gehalten,
daß im Hause wie im Bienenstaate nicht mehr verzehrt als erworben, nicht
mehr ausgegeben als eingenommen werde.
125 David Friedrich Strauß. Gesammelte Schriften. 1876. B.I. S. 61 ff.
35. Raupe, Puppe und Schmetterling.
Ein Sinnbild.
Die ersten Zitronenvögel und Nesselfalter, welche von der Aprilsouue
geweckt wurden und vor mir in der lauen Sonntagslust umhergaukelu,
erinnern mich an ein einfaches und schönes Sinnbild. Schon auf den alt-
griechischen Totenurnen finden wir die Figur eines Schmetterlings als Sinn-
5 bild der Seele. Auch sonst wurde die Psyche mit Falterflügeln dargestellt.
Schon frühe hatte man nämlich das Geheimnis der Umwandlung des
Schmetterlings belauscht, und man hatte es als ein entsprechendes und sch ölles
Bild auf den Menschen angewandt. Man verglich die Raupe mit dem Men-
schen in seinem irdischen Leben, die Puppe mit dem Menschen im Todes-
10 zustande und erblickte dann in dem aus der Puppenhülle hervorkommenden, bunt
beschwingten Falter ein Bild der zu einem schönern Leben erstehenden Seele.
Jenes altbekannte Sinnbild wird um so anziehender, je genauer wir
seinen einzelnen Zügen nachspüren.
Beobachten wir einmal die Raupen, die wir schon jetzt auf dem fahl-
15 grünen Raine längs der Hecke finden! Sie sind wie alle Raupen an einen
kleinen Rauin gebannt, den sie auf dem Bauche kriechend durchmessen. Ihre
größte, fast einzige Sorge gilt deni Fressen. Eine besondere Eigenschaft ist
noch die, daß sie lichtscheu sind. Sehet da ein keineswegs schmeichelhaftes
113
Sinnbild: den Menschen in seinem irdischen Trachten, in der alles ver-
schlingenden, alles beherrschenden und alles bewegenden Sorge für die tag-20
liche Notdurft, für den Magen, in seinem vom Lichte der Wahrheit abge-
wandten Streben.
Die Raupe beginnt nach mehrmaligem Kleiderwechseln, d. i. Häutungen,
endlich trüge, müde und krank zu werden; sie spinnt dann selbst ihr Leichen-
tuch, oder sie sucht sich ihr Grab in der Erde. Sie schrumpft zusammen, verliert 25
ihre frühere Form und Farbe und erstarrt zu einer dunkelgesärbten Puppe,
der alle Sinneswerkzeuge und Gliedmaßen fehlen. Sie ist ein Bild des
Todes. Wenn wir ein solch eingesargtes Wesen aus dem Moose oder aus
der Erde scharren und seine schwarze oder braune Hülle zerbrechen, finden
wir diese angefüllt mit einem trüben, gelben oder rötlichen Schleime, gleich-30
wie mit Eiter und Verwesungsstoffen. Es erscheint unbegreiflich, wie ans
diesem gestaltlosen Schmutze die herrlichen, silbernen und goldenen Flecken, die
purpurnen Bänder, die schillernden Augen, kurz die ganze schöne Bemalung
der Falterflügel entstehen kann. Diese Erscheinung scheint immer wie ein
Wunder, als ein Werk, von Gott gemacht. Wir staunen immer von neuem, 35
wenn vor unsern Augen eine jener unscheinbaren Puppen sich spaltet
und ein solch ätherisches und schönes Wesen aus seinem Grabe steigt, um
dahinzuschweben und bei den Blumen der Wiese ein Leben voller Freude
in Sonnenglanz und warmer Lenzesluft zu führen.
So wird der Mensch aus dem Grabe erstehen zu Herrlichkeit und Glück; 40
die Gnade Gottes, welche den Falter so schön zierte, wird auch den Moder
des Todes, den menschlichen Leib, mit unverwelklicher Schönheit umgestalten.
Doch wird nicht jeder Mensch eine solche selige Auferstehung feiern. Wie
aus den Raupen, die von Schlupfwespen angestochen sind, ein verkrüppelter,
häßlicher Falter entsteht, oder wie gar eine scheußliche Brut jener räuberischen 45
Feinde aus der Puppenhülle hervorbricht, so wird eine von Leidenschaften
und Sünden tödlich verwundete Seele keiner fröhlichen Auferstehung in Voll-
kommenheit und Schönheit harren können. Und wie es ferner düsterge-
fürbte Falter gibt, die in der Nacht an unheimlichen Orten, im moderigen Dunkel
des Dickichts umherschwärmen, gleichsam um ihre Häßlichkeit zu verbergen, 50
so wird es auch Seelen geben, die nicht zu der Anschauung Gottes erstehen;
sie werden wie hier auf Erden so auch im Jenseits dem Lichte der Wahrheit
abgewandt leben.
So gibt uns das Sinnbild, das wir auf die Schwingen der Falter
geschrieben finden, zugleich eine Warnung; denn von uns selbst, von dem 55
Gebrauche unserer Freiheit wie der Gnadengaben Gottes wird es abhängen,
ob unsere Auferstehung einst eine traurige oder eine fröhliche sein wird.
Die schönen Falter, die unsere Betrachtungen veranlaßten, sind schon
längst an uns vorüber gegaukelt; mögen die ernsten Vorsätze, die wir bei
unserer Betrachtung faßten, nicht so schnell und flüchtig entschwinden! 60
Karl Berthold. Betrachtungen der Natur. 1872. S. 175 sf.
Vgl. Lehmann-Leute mann, Fünfzehn Tierbilder: Nr. 14 Maikäfer und Schmetter-
ling (mit Verwandlung)).
Deutsches Lesebuch für baycr. Mittelschulen. Bd. IV. 8
114
36. Von des Regenwurms ehrbarem Lebenswandel.
Wenn man des Morgens nach einer feuchtwarmen Nacht in den Garten
tritt und etwa eine lehmige Wegstelle ansieht, so wird man auf derselben
meist einige kleine Erdhäufchen wahrnehmen, bis 14/2 cm hoch und wurst-
artig gewunden. Hebt man eines derselben auf, so findet man unter ihm ein
5 in die Erde führendes Loch von Federkieldicke. Auf bewachsenen Landflächen
findet man ähnliche Löcher, zum Teil mit ähnlicher Bedeckung; häufiger aber
ragt aus dem Loche eine kleine Sammlung von abgefallenen und angefaulten
Pflanzenteilen hervor, G.rashälmchen, Blätter, selbst kleine Zweige. Die
Blätter sind zusammengerollt und stecken fast regelmäßig mit der Spitze im
10 Boden. In jenen Löchern wohnt der Regenwurm, ein Biedermann, wenn
auch nicht mit glänzenden Saloneigenschaften ausgerüstet. Die Pflanzenteilchen
sind seine Futtervorräte, welche er sich des Nachts betriebsam nach Hause
holt. Zu dem Ende steigt er aus seinem Loche, aber nicht ganz, sondern nur
mit dem vordern Körperteile. Das Schwanzende bleibt im Loche stecken und
15 dient als feste Axe; um diese sich drehend, sucht er den Boden im Kreise ab
und zieht an sich, was er genießbar findet. Seine Nahrungsmittel sind, wie
oben gesagt, sehr bescheiden, hauptsächlich abgefallene Blatteile, und selbst die
sind ihm in frischem Zustande noch zu hart, aber in der feuchten Atmosphäre
der kleinen Höhle werden sie rasch faulig und weich, und dann nagt er
20 sie behaglich ab. Die Ernte einer Nacht dient ihm für mehrere Tage; er
zieht sie nur tiefer in seine Wohnung hinab.
Der Regenwurm bohrt sich, wie man täglich sehen kann, mit merk-
würdiger Leichtigkeit in der Erde fort. Streicht man einigemal mit dem
Finger an ihm vorbei, so fühlt man bald, was ihm diese Fähigkeit gibt.
25 Er ist, besonders auf der Bauchseite, mit sehr kleinen, aber steifen Rauhig-
keiten besetzt, die alle nach hinten gerichtet sind; vom Kopfe nach dem Schwänze
gestrichen fühlt er sich ganz glatt an, vom Schwänze nach dem Kopfe rauh
wie eine feine Feile. Will er nun vorwärts kriechen, so zieht er sich erst
zusammen und streckt sich dann lang aus. Das könnte auf zweierlei Weise
30 geschehen: 1. Das Kopfende bewegt sich nach vorn, 2. das Schwanzende geht
nach hinten. Das letztere lassen aber die Rauhigkeiten nicht zu; sie geben
also dem Schwanzende einen festen Stützpunkt, und von diesem aus drückt der
Regenwurm seinen zugespitzten Kopf leicht und glatt in die Erde ein.
Wie die von ihm gefertigten Wurmröhren beschaffen sind, das läßt sich
35 in bröckeliger Ackererde schwer erkennen. In Sand gehen sie 1 bis 2 m
nahezu senkrecht abwärts und endigen dort blind, zum Teil mit, zum Teil
ohne horizontale Umbiegung. Am Ende sitzt der Wurm, mit dem Kopfe auf-
wärts; rings um ihn sind die Wände mit kleinen Steinen tapeziert. An der
Röhrenwand findet man kleine, schwärzliche Hervorragungen; diese sind
40 die Endresultate seiner Verdauung. In einem halb landwirtschaftlichen
Artikel, wie dieser ist, darf man wohl von Dünger reden; wir wollen die
schwarzen Massen den Humus des Wurmes nennen; denn wie Humus, wie
fette, schwärzliche Ackererde sehen sie allerdings aus und sind fruchtbar wie
diese. Alte, verlassene Wurmröhren sind damit ziemlich regelmäßig tapeziert
oder angefüllt. Bei Versuchen wurden Würmer in ein Glasgefäß von J/2 m 45
Durchmesser gesetzt, welches bis 1/2 m Höhe mit Sand gefüllt und darüber
mit einer Schicht abgefallener Blätter bedeckt war. Die Würmer machten
sich schnell ans Werk; nach IV2 Monaten waren viele Blätter bis 8 6m tief
in den Sand hineingezogen; an der Oberfläche lag eine Humusschicht von
1 cm Höhe, und im Sande waren zahlreiche Wurmröhren, teils frisch, teils 50
mit einem innern Humusüberzug von 3 mm Dicke bekleidet, teils ganz mit
Humus gefüllt.
Wenn nun Pflanzen auf einem von Würmern durchzogenen Boden
wachsen, so finden sich in den etwas ältern Röhren Wurzeln derselben, üppig
entwickelt, bis zum Ende der Röhre kriechend, mit zahlreichen Saughaaren, 55
welche den Humus der Wände aufsaugen. In der That müssen solche Röhren
dem Wachstum der Wurzeln äußerst günstig sein; sie finden daselbst Raum
in der Richtung senkrecht abwärts, Feuchtigkeit und Nahrung. Es scheint
sogar, daß die meisten Wurzeln, namentlich die dünnen, biegsamen Saug-
wurzeln, nur da in den Untergrund hinabdringen können, uw die Würmer 60
ihnen den Pfad vorgezeichnet haben.
Um von der Massenhaftigkeit der Wurmthätigkeit eine Vorstellung zu
bekommen, hat man die Wurmlöcher in einem Garten überschlagsweise gezählt.
Man fand auf den Hektar etwa 133000 Würmer, die zusammen das ansehn-
liche Gewicht von 400 KZ haben und in 24 Stunden etwa 66 kg Humus 65
produzieren.
Im ganzen also besteht die Thätigkeit des Regenwurms darin, daß er
die Verwandlung der pflanzlichen Abfallstoffe in Dünger beschleunigt, den
Untergrund auflockert, daß er den Wurzeln Wege in diesem eröffnet und sie
zugleich auf diesen Wegen mit Nahrung versorgt. Sogar was er selbst den 70
Pflanzenresten an Nahrung für sein Dasein entnimmt, das liefert er getreulich
wieder ab; während des Lebens atmet er es als Kohlensäure aus und setzt
es als Schleim ab, beides Dinge, welche die Pflanzen zu ihrem Wachs-
tum verwerten, nach seinem Tode dient sein verwesender Körper selbst als
Dünger. Daß er Wurzeln anfresse, ist reine Verleumdung; nie findet man 75
Reste frischer Wurzeln in seinem Magen; der Arme müßte verhungern, wenn
er vor so hartes Futter gestellt würde.
Nun die Moral: Bis vor dreißig Jahren schlug man die Maulwürfe
und Regenwürmer tot, weil sie Feinde des Landmannes seien. Dann lernte
man die Maulwürfe schonen, weil sie die Würmer fressen. Jetzt zeigt sich, 80
daß der Wurm ein braves Geschöpf ist, welches in bescheidener Verborgenheit
stille Dienste leistet, die kein anderer ersetzen kann. Der Landmann soll ihn
also als einen seiner besten Freunde betrachten. Aber schwierig ist die andere
Frage: Soll man die Maulwürfe nun wieder totschlagen oder nicht? Ich
denke, im allgemeinen nein, wenigstens nicht, wo es viele Engerlinge und 35
ähnliches Ungeziefer gibt; denn gegen diese ist der Maulwurf unersetzbar,
und wenn er auch Regenwürmer wegfrißt, so werden die sich durch Nachpro-
duktion schon selbst helfen. E. Budde. Naturwissenschaftliche Plaudereien. 1891. S. I ff.
37. Die Mistel.
An einem milden Wintertage eilen wir hinaus. Rings glänzen uns
viele Tausend Eiskrystalle an Baum und Strauch entgegen, in denen die
bereits stärker werdenden Sonnenstrahlen sich brechen, und die sie im bunten
Farbenspiele erfunkeln lassen gleich einem Geschmeide.
5 Auch der Winter erscheint dem Naturfreunde schön. Dem gewöhnlichen
Blicke ist er freilich zu tot; denn nirgends gibt es Regsamkeit und Bewegung,
und weithin, soweit das Auge nur zu reichen vermag, hüllt die weiße Todes-
decke rings alles in ihr trostloses Gewand. Und die Bäume starren uns
kahl und fahl entgegen, gleich als streckten sie ihre leeren Reiser empor und
10 wollten sich beklagen über die Schmach, die der harte Winter ihnen angethan.
So wandeln wir im dunkeln Waldesdome dahin, und je weiter wir
eindringen, desto fühlbarer wird uns die tiefe Stille des winterlichen Waldes,
desto mächtiger erfüllt das hehre Schweigen der Natur unsere Brust. Eine
gewaltige, uralte Linde gewährt uns jetzt einen sonderbaren Anblick. Während'
15 alle übrigen Bäume und Sträucher bis auf die Nadelhölzer völlig öde und
laublos sind, zeigen die sonst ebenfalls kahlen Zweige dieser Linde doch
mehrere glänzend grüne, belaubte Büsche. Bei näherer Betrachtung erkennen
wir eines der sonderbarsten Gewächse unserer einheimischen Pflanzenwelt: die
Mistel. Die gelbgrünen, sich kreuzenden Zweige und die lederartigen, ebenso
20 gefärbten Blätter geben ihr ein recht lustiges Ansehen, wenn sie da hoch
oben in den schlanken Wipfeln der jetzt kahlen Laubbäume oder gar in der
tief dunkelgrünen Krone der schwermütigen Föhren sich wiegt. Sie ist ein
echtes Schmarotzergewächs; denn sie wurzelt nicht bloß in der Rinde, sondern
tief im Holze der sie tragenden Bäume und ernährt sich von dem Safte der
25letztern. Wenn daher ein Baum mit vielen Mistelsträuchern besetzt ist, so
sängt er an zu kränkeln, bedeckt sich bald mit Moos und stirbt wohl ab.
Und da die Mistel fast keine Baumart verschont und besonders gern auf
Apfelbäumen sich einnistet, so ist sie oft eine arge Plage der Wälder, vor-
nehmlich kleiner Haine und auch der Obstgärten.
30 Ihre Fortpflanzung von einem Baume zum andern, oft über sämtliche
Bäume eines Gehölzchens, geschieht durch die Vögel, besonders durch die
Misteldrosseln, welche ihre Beeren fressen und die in einen sehr klebrigen
Saft gehüllten Samenkörner derselben entweder vom Schnabel abstreichen oder
unverdaut überallhin verschleppen. Das Samenkorn haftet dann am Zweige
35 fest, beginnt nach einiger Zeit zu keimen und bohrt sich in die Rinde und
immer tiefer in das Holz hinein. In das bereits gebildete Holz vermag die
Mistel zwar nicht zu dringen, doch die Holzschichten umwachsen sie, so daß.
sie in ähnlicher Weise wie ein Pfropfreis am Baume befestigt ist.
Um die Bäume von dieser lästigen Plage zu befreien, genügt es keines-
40 wegs die Misteln abzuschneiden. Im Gegenteil, die Wurzel bleibt doch in
dem Holze lebendig und schlügt in desto zahlreichern Loden (Schößlingen)
wieder aus. Es hilft nichts anderes, als daß man die ganzen mit Misteln
besetzten Zweige heruntersägt, wenn man die armen Bäume von ihnen er-
lösen will.
117
Unsere Vorfahren hatten die Eichenhaine bekanntlich für ihren Götter-45
dienst geweiht. In diesen heiligen Hainen dünkte ihnen aber nichts so
wunderbar als die hoch in der Krone des gewaltigen, majestätischen, der
Gottheit geweihten Baumes thronende Mistel. Darum war diese ein Gegen-
stand ganz besonderer Verehrung.
Am sechsten Tage nach dem ersten Neumonde im neuen Jahre wurde sie mit 50
großer Feierlichkeit eingesammelt. Der Druide (Priester), in weiße Festgewänder
gehüllt, kam dann mit zwei weißen Stieren, welche zum erstenmal in das Joch
gespannt waren, unter den heiligen Baum, bestieg denselben und schnitt mit
einer goldenen Sichel die Misteln ab. Dieselben wurden in einem schwarzen
Tuche aufgefangen, damit sie nicht die unreine Erde berührten, und dann der- 55
teilte er sie unter die Versammelten. Darauf opferte man die beiden weißen
Stiere unter Gebeten um die glückliche Wirkung der Mistelzweige. Wer näm-
lich mit dem heiligen Zweige berührt wurde, der erhielt Gesundheit und Glück
für ein ganzes Jahr. Auch wurde aus der Mistel ein Getränk bereitet, welches
als ein Mittel gegen alle Krankheiten, ja sogar gegen Gift und Zauberei 60
geschätzt war.
Anklänge an jene heiligen Gebräuche haben sich noch bis in unsere
Zeit herauf erhalten. In Frankreich beglückwünschen sich die Landleute mit
einem Mistelzweige in der Hand zum neuen Jahre. In England, besonders
in Wales, hängt man zur Weihnachtszeit einen Mistelzweig in dem mit griinen 65
Stechpalmen geschmückten Hause auf; die Männer führen dann die Frauen
unter denselben, wünschen ihnen glückliche Weihnacht und glückliches Neujahr
und küssen sie unter dem Mistelzweige. Bei uns erscheint der Gebrauch, am
Kindleintag lim Südwesten) und zu Ostern (im Nordosten Deutschlands) Be-
freundete mit grünen Ruten zu peitschen, noch als ein Nachhall jener Sitte, 70
durch Berühren mit den heiligen Mistelzweigen sich und die Freunde vor
Krankheit, Zauberei und bösen Geistern zu schützen.
Auch die Arzneikunde bediente sich in früherer Zeit der Mistel zu Pulvern
gegen Fallsucht und dergleichen. In der Gegenwart ist das völlig wirkungs-
lose Mittel ausgemerzt worden. Dagegen muß sie noch immer dem Aber-75
glauben dienen, indem sie betrügerische oder unwissende Leute zur Bereitung
von allerlei Zaubermitteln benützen.
Eine merkwürdige Verwendung finden ihre Beeren. Sie, die eine Lieb-
lingsspeise vieler Vögel sind, werden zu einem Vogelleim gekocht, vermittelst
dessen viele der frohen, freien Luftbewohner dann Freiheit und Leben ver-80
lieren. Nebenbei bemerkt gibt es nicht leicht ein grausameres Vergnügen als
das Vogelfängen mit Leim. Man bedenke nur, wie manches der armen
Vögelchen, vom Leime nicht fest genug gefaßt, sich noch losreißt, dann irgendwo
im Gebüsche festklebt und elendiglich zu gründe gehen muß!
An die Mistel knüpft sich eine schöne Sage aus der nordischen Götter- 85
lehre. Unter den Äsen war Baldur der weiseste und frömmste; er ver-
breitete Licht und Wahrheit um sich und duldete nichts Unreines in seiner
Nähe. Dennoch sollte er sterben; unruhige Träume kündeten es ihm,
und die Prophezeiung hatte es gesagt. Seine Mutter Frigg s— Freia) nahm
118
90 NUN allen Wesen den Eid ab, daß sie ihm nicht schaden durften, dem Wasser
und Feuer, allen Menschen, Tieren und Pflanzen, allen Metallen und den
Krankheiten. So ward er fest und sicher gegen jede Gefahr, und man ver-
gnügte sich in der Versammlung der Äsen oft damit, mit Waffen nach ihm
zu werfen und zu schlagen, und wenn ihm dann niemand etwas anhaben
95 konnte, da freuten sich die Äsen.
Aber Loki, der böse Geist, grämte sich darüber und fragte einst
in Gestalt eines Weibes Frigg aus, ob es denn gar nichts gäbe, das ihm
schaden könne. Als nun Frigg erzählte, daß sie die Mistel nicht in Eid
genommen, weil sie ihr zu dünn und schwach erschiene, da gründete Loki hierauf
100 seine bösen Anschläge. Er schnitt eine Speerspitze aus einer dicken Mistel und
beredete nun den blinden Hödur, daß er dem Baldur auch die Ehre erzeigen
müsse, eine Waffe nach ihm zu werfen. Hödur nahm den Speer, und als
er ihn gegen Baldur warf, lenkte ihn Loki so unglücklich, daß jener sogleich
tot zur Erde fiel. Alle Äsen waren lautlos vor Schmerz, und Nanna, Baldurs
105 jungem Weibe, brach das Herz vor Kummer, als sie die Leiche nach dem
Schiffe bringen sah, auf welchem das Totenfeuer angezündet werden sollte.
Frigg sandte nun in die Unterwelt, um den teuern Sohn loszukaufen.
Die Antwort lautete auch günstig: es fei jetzt die Gelegenheit zu erfahren,
ob Baldur wirklich so liebevoll gewesen und so sehr geliebt worden fei, als
110 man vorgebe; wenn dies wirklich der Fall und alle Dinge auf Erden, sowohl
lebendige als leblose, ohne Ausnahme ihn beweinten, so solle er ins Leben
zurückkehren. Mit Freuden sandten die Asm jetzt Boten aus; denn sie wähnten
sich ihrer Sache ganz sicher. Und alle Menschen, Tiere, Bäume, Berge und
Felsen auf der ganzen Welt vergossen Thränen, so daß bereits Jubel die Herzen
115 der Boten erfüllte. Da, auf dem Rückwege, trafen sie ein Weib, mit Namen
Thöck, welches sich weigerte, Zähren zu vergießen, indem es sagte: „Möge die
Unterwelt ihren Raub behalten!" Man glaubte nun zwar, daß es der arge
Loki gewesen sei, welcher diese Gestalt angenommen habe — doch das half
nichts mehr, der teuere Weise war den Äsen für immer verloren.
120 Jedenfalls liegt in dieser Sage die lebenswahre Lehre, daß man auch
das Kleine und Geringste nicht mißachten dürfe.
Karl Ruß. In der freien Natur. B. I-. S. 86 ff.
38. Der Reis.
Reispudding zu essen ist eine herrliche Sache, aber den Reis zu bauen
macht mehr Mühe. Die Reiskörnchen sind die Früchte von einer Getreideart,
einem Grasgewächse, ähnlich wie unser Weizen und Hafer. Unsere Getreide-
sorten sind schon sehr zufrieden, wenn sie nach der Aussaat einige tüchtige
5 Regen erhalten und später zu Zeiten einmal eine kleine Erfrischung; der Reis
verlangt mehr. Er ist ein Sumpfgewächs und will zeitweise geradezu im
Wasser stehen. Dazu will er es immer sehr warm haben und gedeiht des-
halb nur in heißen Ländern, in Asien, Afrika und Amerika. In Europa
wächst er angebaut nur an den wärmsten Stellen in Italien, Spanien und
10 in der Türkei.
119
Will der Bauer ein Reisfeld zurechtmachen, so muß er fürs erste darauf
sehen, daß er für das Grundstück hinreichendes Wasser bekommt. Wo solches
fehlt, ist auch der Reisbau unmöglich. Aus dem nahen Flusse leitet man
das Wasser in Kanälen nach den Feldern; wo diese höher liegen, wird
es durch Schöpfräder zu ihnen hinausgehoben. Hier treten Arbeiter mit 15
den Füßen die Schöpfrüder, dort läßt ein wohlhabender Besitzer die seinigen
durch ein Paar Ochsen in Bewegung setzen. Aus den größern Kanälen ver-
teilt sich das Wasser in kleinere und immer kleinere, bis es zuletzt aus schmalen
Rinnen auf die Felder selbst gelangt. Es darf auf letztere nur ganz langsam
fließen und muß sich auf ihnen gleichmäßig und allmählich verbreiten. Es ist 20
deshalb des Landmanns wichtigste Sorge, sein Reisfeld ganz wagerecht her-
zurichten, eine Arbeit, welche unser Getreidebauer nicht kennt. Wie ein Maurer
mit Setzwage und Richtscheit die Steinlagen prüft, ob sie wagerecht liegen, so
forscht der Reisbauer die Richtung seines Reisfeldes aus und hilft nach, wo
es fehlt. Rings um das Feld macht er einen kleinen Wall, der das Wasser 25
zurückhält. Durch Einschnitte dieses Walles dringt es herein, durch andere
Einschnitte fließt es später wieder ab auf das ein wenig tiefer gelegene Nachbar-
feld. Wo ein größerer Fluß fehlt, dessen Wasser man tu Grüben wie in einem
Adernetze verteilen könnte, leitet der Bauer sorgsam die kleinen Quellen ans den
Bergen nach seinen Feldern. Über hinderliche Klüfte bringt er dabei Wasser- 30
leitungen aus Bambusrohren oder ausgehöhlten Baumstämmen an und gräbt
an den Bergabhüngen entlang den Kanal, allen Biegungen und Borsprüngen
derselben folgend. An der Bergseite hinab sind nun die Reisfelder in Ter-
rassen höchst sorgsam angelegt, ähnlich wie die Weinberge am Rhein. Je
steiler der Berg ist, desto schmäler können auch nur diese Stufenländer sein, 35
ja mitunter sind sie kaum zwei bis drei Schritte breit. Das Wasser gelangt
znnüchst ans die obersten Beete und träufelt dann von Stufe zu Stufe, wird
höchst sorgsam verteilt und verwendet. War das hergeleitete Bächlein nur
schwach, so bleibt oftmals unten kein Tropfen zum Abfließen mehr übrig,
sondern alles ist zur Ernährung der Pflanzen verbraucht. 40
Die Chinesen sind wahre Meister im Reisbau. Sie säen zuerst einige Klee-
arten auf das leere Feld, bevor es bewässert wird. Rasch wachsen dieselben
bei der Feuchtigkeit, die noch im Boden befindlich ist, und bei der Wärme der
Luft empor, werden dann abgehauen oder ausgerauft, aber nicht um das Vieh
damit zu füttern, sondern um mit ihnen den Acker zu düngen. Man leitet das 45
Wasser darauf, und die darin schwimmenden Kleepflanzen beginnen zu faulen.
Durch diesen faulenden Schlamm muß der Ackersmann mit seinem Pfluge
hindurch. Pferde würden ihm bald erkranken, er spannt Büffel oder andere
Ochsen vor den Pflug, die an das Waten im Sumpfe von Natur schon ge-
wöhnt sind. 50
Bereits vorher hat der Reisbauer ein Samenbeet besonders zurecht ge-
macht, gut gedüngt und gewässert. In dieses sät er die Reiskörner dicht
nebeneinander. Letztere haben rasch Blätterbüschel getrieben, welche den Blättern
des Weizens ähneln, nur noch etwas kräftiger und breiter sind. Der Landmann
nimmt ein Bündel ausgezogener Reispflanzen unter den Arm und legt in 55
gerade Reihen über das Feld hin Büschelchen davon, je sechs bis acht Pflanzen
zusammen. Dann sticht er in den Schlammgrund Löcher und steckt die Büschel
hinein. Das Wasser rinnt sogleich nach und spült hinreichende Erde hinzu, so
daß ein besonderes Ausfüllen der Löcher, ein Andrücken der Wurzel gar nicht
60 nötig ist.
Eine Gegend mit Reisfeldern gewährt keinen Übeln Anblick. Diejenigen
Felder, zu denen das Wasser noch nicht gelangt ist, liegen als regelmäßige
braune Gevierte; andere, welche eben bewässert wurden, bilden blinkende
Wasserspiegel; jene, die man vor wenig Tagen bepflanzte, haben einen
65 grünen Schimmer durch die hervorschauenden Blattspitzen, und die am frühesten
bebauten wogen bereits im Winde wie Weizen- und Roggensluren. Sehr bunt
erscheinen besonders die Terrassenfelder an den Berglehnen, bei denen regel-
mäßig braune Streifen mit frischgrünen abwechseln. An den Wassergräben
entlang und auch häufig zwischen den Reisbündeln selbst siedeln sich zahlreiche
70 andere Sumpfpflanzen an, ähnlich wie die Kornblumen, Raden und Klatsch-
mohne unsere Getreidearten begleiten. Weiße oder rosenrote Teichrosen schwimmen
auf den Wasserspiegeln der größern Gräben, und himmelblaue oder gelbe
Blüten anderer Wasserkräuter schauen zwischen den vielzerteilten, überhängenden
Blütenrispen des Reises hindurch.
75 Am eigentümlichsten erscheint eine Reispflanzung in der Nacht. Mond
und Sterne schimmern aus den Wasserspiegeln des Grundes herauf, als wäre
da unten ein zweiter Himmel. Tausend Leuchtkäfer ziehen mit tanzendem
Fluge darüber hin oder kriechen an Blättern und Halmen umher, und ein
Konzert erschallt, wie wir in unserer Heimat kein ähnliches kennen. Tausend
80 verschiedenartige Stimmen lassen sich hören. Die einen quäken mit hellen
Tönen, die andern läuten wie dumpfe Glocken, diese schwirren, jene meckern oder
gurren; die einen lassen langausgehaltene Triller hören, andere klingen wie
kurze Schläge ans Blech oder wie das Knacken einer großen Holzschnarre;
diese erschallen als Pfeiflaute, wieder andere erinnern an hellklingende, weiche
85 Mädchenstimmen. Eine Unzahl von Fröschen, Geckos jEidechsenartj und Eidechsen
hat hier ihre Heimat, und ebenso zahlreiche Jnsektenscharen helfen ihnen als
begleitender, summender, brummender und trommelnder Chor bei der großen
nächtlichen Feldmnsik.
Aber der Wanderer lasse sich's ja nicht einfallen, nur einen Schritt
90 vom gebahnten Wege zu gehen, um nach einem jener Musikanten zu sehen,
einen Leuchtkäfer zu fangen oder eine Blume zu pflücken — er gerät sofort
in den Sumpf, aus dem er sich nur mühsam und beschmutzt wieder heraus-
arbeitet. Eine Unzahl häßlicher Blutegel würde sofort seine Beine bedecken
und ihm viel Mühe verursachen, ehe er sie wieder los würde. Auch verweile
95 er nicht zu lange zwischen den interessanten Reisfeldern; denn dem Fremden
drohen dabei gefährliche Snmpffieber, welche seinen Körper zerrütten. Es ist
zwar der Reis dasjenige Gewächs, welches mehr Menschen auf Erden ernährt,
als jede andere Getreideart, sein Anbau ist aber auch mit vielen Beschwerden
Verknüpft. Hermann Wagner. Im Grünen, isos0. S. 47 ff.
121
39. Die Geschichte eines Torfmoors.
Im feuchten Grunde einer Mulde, die keinen natürlichen Wasserabfluß
besitzt, steht ein Eichenwald; Tümpel und Lachen finden sich zwischen den
Stämmen am Boden, in nassen Zeiten zusammenfließend, im Sommer teil-
weise austrocknend. Die Bäume sind der gelegentlichen Überschwemmung ge-
wohnt und stehen fest auf ihren starken Wurzeln. Ihre Blätter fallen und
sprießen, ihre Stämme ragen und runden sich, und sie wachsen, unbehelligt
von Menschenhand, einer Urwaldzukunft von Jahrhunderten entgegen.
Da kommt eines Abends irgend ein Käfer herangeschwirrt und ruht sich
aus, um ein winziges Körnchen abzuputzen, welches ihm draußen beim Um-
herkriechen unter die Flügelchen geraten war; er entledigt sich desselben und
fliegt weiter. Und dieser Küfer hat das Schicksal des Waldes herangetragen;
denn das winzige Körnlein ist ein Riese an sprossender Kraft, und es wird die
stolzen Eichen begraben. Ihm ist wohl in dem Sumpfe, mit Wonne saugt
es die Feuchtigkeit ein, dehnt sich und sprengt seine Hülle. Grünliche Zell-
fäden wachsen aus ihm hervor, daun feine Würzelchen, die sich im Boden fest-
saugen. Sie nähren zunächst nur eine winzige, grüne Masse von unbestimmter
Form; allmählich aber entwickelt sich daraus ein Moosstämmchen mit Blättern
ituiD zwar ein merkwürdiger Stamm mit merkwürdigen Blättchen. Zur guten
Hälfte besteht jener aus großen Zellen, die nichts enthalten als Wasser. Die
jungen Blätter bestehen anfangs aus gleichartigen Zellen; mit der Zeit aber
bildet sich bei ihnen eine Formverschiedenheit heraus: je vier schmale, mit
grünem Farbstoffe gefüllte Zellen umgeben eine größere, viereckige; diese letztere
verliert beim Wachsen ihren organischen Inhalt und wird ein leerer Wasser-
behälter. Zugleich wachsen die innern Teile des Blattes schneller als der
Rand, und dadurch nimmt das ganze Blättchen die Form eines Kahnes an,
dessen Höhlung wieder Wasser zu fassen im stände ist. Der Stamm treibt
kleine Zweige, die ihm nahe anliegen, und in den Achseln sammelt sich gleich-
falls Wasser an. So ist das ganze Pflänzchen fast nichts anderes als ein
Schwamm voller Hohlräume; es hat deren so viele, und es enthält so wenig
grünen Farbstoff, daß es nicht einmal eine gesunde grüne Farbe hat. Es ist
ein Torfmoos. Es saugt und wächst — und wächst mächtig. Immer neue
Spitzen und Ästchen treibt es und dehnt sich kriechend aus; am hintern Ende
stirbt es ab und verfault, aber die Spitzen wachsen weiter und bilden Rasen,
welche, sich mehr und mehr verbreitend, schließlich den ganzen Sumpf über-
wuchern. Sind erst die Lachen und Tümpel mit Torfmoos gefüllt, so tritt
eine neue Eigenschaft des Pflänzchens in Wirkung. Es enthält nämlich so
viel Gerbsäure, daß das Wasser, in dem es lebt, fäuluiswidrig wird; die
Bacillen und Monaden, welche die Fäulnis verursachen, können nicht mehr
in ihm leben. Die absterbenden Teile verfaulen infolgedessen nicht mehr,
sondern erhalten sich und sammeln sich an; sie bilden eine Unterlage, auf der
das jüngste Geschlecht der Mooszweige weiterwächst. So bildet sich das Moos
zu einem Polster aus, welches den ganzen Boden überzieht, und wie die einzelne
Pflanze ein Schwämmchen, so ist dieses Polster ein riesiger Schwamm, der
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das an ihn gelangende Wasser festhält und mit demselben weiter wuchert.
45 Mächtig schwillt es heran und legt sich um die Eichenstämme. Jahrzehnte
lang hält es ihren Fuß fortwährend in sumpfigem Naß gebadet, und die Bäume
widerstehen schließlich dieser endlosen Verschwemmung nicht: sie sterben ab.
Lange noch mögen sie mit entblätterten Kronen dastehen, aber endlich werden
sie morsch, und der Wind bringt sie zu Falle; stürzend versinken sie in dem
50 Schwamm, der sie vernichtet hat; er wird ihr Grab und wächst über sie hin-
tveg haushoch, bis sie verloren und vergessen sind.
Hunderte von Jahren dauert dieser Vorgang, dann tritt vielleicht ein-
mal eine Änderung ein. Das Klima wird auf ein oder einige Jahrhunderte
trockener, der große Schwamm hat nicht mehr Wasser genug, um sich voll-
55 gesogen zu erhalten, und er trocknet mehr oder weniger ein. An seiner Ober-
fläche sammelt sich Staub, Torfpflanzen siedeln sich auf ihr an, dann Haide-
krüuter und verwandte Gewächse. Diese machen mit der Zeit aus dem lockern
Moosboden ein an der Oberfläche festes Gelände, welches mit immer steigen-
dem Gewichte auf seine Unterlage drückt. Das Torfmoos setzt sich und sinkt
60 zusammen. Dabei verliert es immer mehr von seiner Schwammigkeit, und
so schafft sich allmählich aus ihm ein flacher, fester Untergrund, auf dem erst
Sträucher, dann Bäume gedeihen. Das Werk des Körnchens liegt nun seiner-
seits unter dem Boden und ist vergessen.
Aber es ist darum noch nicht zu Ende. Unter dem Einflüsse der Zeit,
65 der Winterkälte und des auf ihm lastenden Druckes verwandelt sich das be-
grabene Moos in eine schwarze, mäßig feste Masse; das ist der Stofs, den
wir unter dem Namen Torf kennen. Derselbe besitzt in hohem Grade die
Eigenschaft, undurchlässig für Wasser zu sein, und nachdem er vollständig
ausgebildet ist, steht der neue Wald wie der frühere auf einer Grundlage,
70 aus der die Feuchtigkeit nicht abziehen kann. Kommt also ein längerer Zeit-
raum größerer Nüsse, so wird er sumpfig wie sein Vorgänger, der Zufall
bringt eine neue Anpflanzung von Torfmoos hervor, und der zweite Wald
verfällt demselben Schicksale wie der erste, auch er versinkt im Moossumpf.
Ihm kann ein dritter und ein vierter folgen, das Ende der Reihe ist nicht
75 abzusehen.
Einmal in geschichtlicher Zeit ist das Versinken eines Waldes im Torf
beobachtet worden. Im Jahre 1651 fand Lord Cromarty in Schottland eine
Ebene, die voll abgestorbener Fichtenbäume stand. Fünfzehn Jahre später
traf er an derselben Stelle nicht mehr die stehenden Bäume, sondern ein Polster
80 von Torfmoos, das so tief war, daß er bei dem Versuche, dasselbe zu betreten,
bis an die Achselhöhlen hineinsank. Die Fichten waren darin verschwunden.
In der großen Mehrzahl der Fülle hat kein Mensch dem Vorgänge bei-
gewohnt, aber man findet im Torf die begrabenen Bäume und zwar, wie
es dem Gesagteil gemäß der Fall sein muß, öfter in verschiedenen, durch Torf
85 voneinander getrennten Schichten. Zu unterst liegen diejenigen, die zuerst
versanken, dann folgt eine Schicht von Torf, der über ihren Leichen gewachsen
ist, dann wieder eine Schicht Bäume, dann wieder Torf u. s. w. Man kennt
Moore, in denen sechs und mehr derartige Bauinreste übereinander liegen,
Eichen, Tannen, Birken. Weiden, Erlen, Eschen, Wachholder, Lärchen und
Haselnußstämmchen. Sie alle sind deutlich zu unterscheiden; denn der Gerb-90
süuregehalt des Torfs erhält sie. Manchmal ist nur diejenige Hälfte der
Stämme gut erhalten, welche nach dem Fallen die untere war, während die
obere fehlt. Das sind solche Stämme, die längere Zeit oben auf dem Torf-
moos gelegen haben, ehe sie ganz darin einsanken; bei diesen wurde die untere
Hälfte vor der Verwesung geschützt, während die obere sich an der Luft zer-95
setzte und ihre Reste in unkenntlicher Form dem Moore beimischte.
Wir haben hier die Geschichte eines baumhaltigen Moors geschrieben;
selbstverständlich sind die Bäume zur Entstehung eines Torfmoors nicht er-
forderlich. Siedelt sich das Moos in einem nassen Grunde an, und wird
sein Wachstum nicht durch gelegentliche Zeiten der Trockenheit gestört, so wächst 100
es für sich; die untersten, seit vielen Jahrhunderten abgestorbenen Schichten
desselben werden schwarz und bilden toten Torf, während die obern weiter-
wachsen. Oder das Moospolster stirbt ab und bleibt trocken, dann verwandelr
es sich ganz und gar in schwarzen Torf. So kann man zwei Arten von
Mooren unterscheiden, tote und lebende; die einen sind in früherer Zeit ge-105
bildet, enthalten nur schwarzen Tors und wachsen nicht wieder an, wenn nian
sie ausbeutet; die andern sind bloß im untern Teile schwarz, darüber liegt
eine meist von Eisenteilen rotgefärbte Schicht erst kürzlich abgestorbener Pflanzen
und darüber die noch lebende Gewächsmasse, die oben fortwuchert, während
man unten ihre Erzeugnisse herauszieht. 110
Die Torfmoore gehören zu den Gegenständen, an denen man so recht
sehen kann, wie mächtig die Kleinen in der Natur durch ihre große Zahl
werden können. Der Raum, den die Moore auf der Erde einnehmen, ist von un-
geheuerer Größe. Bekannt ist die gewaltige Ausdehnung der Moore von West-
hannover und Friesland; Ansammlungen von ähnlicher Stärke finden sich an llö
vielen andern Stellen der Erde. Rechnet man dazu, daß die — oder manche
— Steinkohlenlager nach der allerdings nicht unbestrittenen Annahme vieler
Geologen nichts anderes sind als versteinerte Torflager, so muß man zugeben,
daß die Torfmoose in der Geschichte der Welt eine sehr bedeutende Rolle ge-
spielt haben. Aber auch wenn man von den Steinkohlen absieht, bleibt dieser 120
Satz bestehen; denn in den nassen Niederungen schafft der Torf die Grund-
lage, ans der später Wiesen und Wälder grünen.
E. Budde. Naturwissenschaftliche Plaudereien. >89>. S. 174 ff.
Vgl. Eugleder, Bilder für den geographischen Anschauungsunterricht: Nr. 3 (Moor-
gegend mit Torfstich bei München'.
40. Korallcninseln.
Mit einer leichten Landbrise, die abends den Duft von Millionen
Blüten vom Lande zu uns herübertrug, steuerten wir unserm Ziele, der
Rhede von Batavia, zu. Am andern Morgen passierten wir eine Menge
kleiner Inseln, welche die östliche Hälfte der Sundastraße und weiterhin die
Java-See kennzeichnen. Viele Hunderte von ihnen schwimmen wie lichtgrüne, 5
mit einem Silberreife eingefaßte Perlen auf dem tiefblauen Wasser. Ein
124
schmaler Sandstrand umsäumt sie, und die von mildem Windhauche bewegten
Wellen rauschen leise und schaumglänzend zu ihm hinauf. Ein stiller Friede
ruht über ihnen; doch wie paradiesisch schön sie auch von außen erscheinen,
10 fast keine von ihnen ist bewohnt, weil ihnen noch die Bedingungen für die
menschliche Existenz fehlen. Einst vor Jahrtausenden nahm hohes Festland
ihre Stelle ein, dann sank es unmerklich tiefer und tiefer, bis die Fluten des
Meeres es bedeckten und es für immer in ihrem Schoße begruben.
Aber jene kleinen Inseln sind die Wahrzeichen seines ehemaligen Da-
I5seins; in geheimnisvoller und geräuschloser Weise sind sie auf den Spitzen
der versunkenen Berge aufgebaut, und ununterbrochen arbeiten Milliarden
winziger Arbeiter weiter an ihnen, um auf das Geheiß des Schöpfers Kon-
tinente zu schaffen imb der Menschheit neue Wohnstätten an Stelle der ver-
schwundenen zu bereiten.
20 Jene wunderbaren Baumeister sind die Korallentiere. Ihr Körperbau
und ihre mannigfaltige, lebhafte Färbung verleiht ihnen das Aussehen leben-
diger Blumen, und sie fesseln in den Aquarien vorzugsweise durch ihre Schönheit
die Aufmerksamkeit und das Interesse des Beschauers.
Ein durchsichtiger Schlauch, mit dessen unterer Flüche sie sich an den
25 Meeresboden heften, bildet ihre äußere Körperhülle, und in ihm ist strahlen-
förmig durch Scheidewände ein zweiter, unten offener Schlauch, der Magen,
befestigt, dessen oberes Ende den mit einem dichten Büschel feiner Saug- und
Fühlfäden besetzten Mund trügt.
Bei den ungestörten Tieren sind diese Fäden in unaufhörlicher Bewegung,
30 um aus dem sie umgebenden Seewasser sowohl die nötige Nahrung aufzu-
nehmen als auch aus ihm kohlensauern Kalk auszuscheiden, denselben Atom
für Atom von ihrem Körper wieder abzusetzen und daraus jene Gerüste zu
bilden, deren unendlich vielfache und schöne Formen wir als Korallen be-
wundern.
35 Licht und Wärme sind die Lebensbedingungen der bauenden Korallen-
tiere; deshalb finden wir sie nur innerhalb der Tropen an ihrer nie endenden
Arbeit und nicht tiefer als 60 m unter dem Meeresspiegel. In wie großartiger
Weile sie aber dort eine Rolle im Haushalte der Schöpfung spielen, dafür
mögen die Thatsachen sprechen, daß es an der Westküste von Nenkaledonien
40 ein Korallenriff von über vierzig Meilen und an der Nordostküste von Australien
ein solches von über dreihundert Meilen Länge gibt.
Fast alle die prachtvollen Inseln des stillen Meeres und ein großer
Teil derer im indischen Ozean innerhalb der Tropen sind das Werk der Korallen.
Diese Bildungen treten in verschiedenen Formen ans, die bezeichnendste
45 ist jedoch das Atoll oder die Laguneninsel. Die Korallentiere setzen sich an
die Seiten eines sich senkenden Bergkegels und bauen mit nie irrendem In-
stinkte aufwärts, wohin die belebenden und erwärmenden Strahlen der Sonne
sie locken, bis sie als ringförmiges Rifs die Oberfläche des Meeres erreichen,
die ihrer Arbeit eine Grenze setzt. Die brandenden Wogen zerbrechen teilweise
50 an der Außenseite das spröde Geäst und werfen die Trümmer nach innen; im
Laufe der Jahrhunderte füllt sich allmählich die eingeschlossene Lagune, das
Riff wird erhöht, die Verwitterung der Bruchstücke schafft fruchtbaren Bodeu,
Wind und Strömung tragen Samen herbei, und die neugeschaffene Insel
deckt sich mit Pflanzen- und Baumwuchs.
Zuerst sind es freilich nur Mangroven und anderes Gesträuch, welche 55
Wurzel fassen in dem noch von Seewasfer durchfeuchteten Grunde; doch ihr
absterbendes Laub schichtet mithelfend den Humus, welcher der angeschwemmten
Kokosnuß gestattet zu keimen, als schlanke Palme ihre Blätterkrone hoch in
die Lüfte zu erheben und als fruchttragender Baum dem Menschen zu künden,
daß wiedererstandenes Land sich zur Kultur bereitet. Die Inseln der java-6»
Nischen Gewässer sind, wie bemerkt, meistens noch nicht so weit vorgeschritten,
und nur auf wenigen größern iiberragt die Kokospalme das Unterholz, dessen
wirres Durcheinander von Luftwurzeln in den bracken jhalbsalzigenj Gewässern
der noch nicht ganz aufgefüllten Lagune Nahrung sucht und findet.
Für den Menschen können sie deshalb noch nicht als dauernde Heim-65
statte dienen, und nur hier und dort hat ein Malaye an ihren Ufern eine
zerbrechliche Hütte aufgeschlagen, um darin seine Mittagsruhe zu halten, wenn
die glühenden Strahlen der Sonne ihn von dem ergiebigen Fischgrunde ver-
treiben, den er in der Nähe entdeckt hat.
Reinhold Werner. Erinnerungen und Bilder aus dem Seeleben. 1880. S.ill ss.
Vgl. Le h man n-Leut ein an n, Zoologischer Atlas: Nr. 36 (Korallen und See-
rosen).
41. Einfluß des Klimas auf die Menschheit.
Da die zahlreichen Elemente, aus denen sich das Klima zusammensetzt,
für jedes Land auch eine andere Mischung darbieten, so kann man auch den
Einfluß desselben aus die Bewohner des Landes nur ganz im allgemeinen
nachweisen.
Im Klima der Tropen ist das Leben voll Hast. Riesenbäume schlürfen 5
mit ihren Blättern gierig die Kohlensäure der Luft, um daraus ihr mächtiges
Gewebe zu bauen; Bambusgräser schießen unter unsern Augen empor, nnb
Sümpfe bedecken sich mit schwimmenden Grasinseln. Wenn der Sturm die
gewaltigen Stämme des Waldes niederbricht, entkeimen sofort neue Pflanzen
ihrer verwesenden Rinde. Im Tode verjüngt sich das nie rastende Leben in 10
zahllosen neuen Wesen. In dem fruchtbaren Klima der Tropen, wo die Lust
beständig durchwärmt, beständig mit Feuchtigkeit gesättigt ist, enthalten die
dem Menschen zur Nahrung dienenden Pflanzen eine unbeschreibliche Üppig-
keit. In lnanchen Tropengegenden braucht der Mensch, um seine Nahrung
zu finden, nur die Bäume zu schütteln oder die Wurzeln ans dem Boden 15
zu graben. Bedürfnisse kennt der Mensch dort fast nicht, und das Leben wird
ihm so leicht, daß er es kaum wert achtet; er braucht es nicht erst durch
Arbeit zu gewinnen, und er verachtet es fast, weil es ihm so freiwillig seine
Genüsse zuwendet. Es tragen hier Anmut des Klimas und Fruchtbarkeit des
Bodens, Üppigkeit des Lebens und Raschheit des Todes in gleicher Weise 20-
dazu bei, den Menschen in angeborener Sorglosigkeit und Trägheit zu erhalten.
126
Auch in religiöser Beziehung vermag er sich nur schweigend vor der Majestät
der gewaltigen Natur zu beugen. Sie ist zu furchtbar in ihrem Zorne, zu
stürmisch in ihren Lebenserscheinungen, zu regelmäßig in ihren Wechseln, als
25 daß sich der Mensch ihr gegenüber anders denn als Sklave fühlen könnte.
Er verehrt sie in ihren großartigen Erscheinungen, er betet die Sonne an,
weil ihre Strahlen brennen und töten, die Wolken, weil sie donnern, den
finstern Wald, weil er Schlangen und Tiger birgt, seine ganze Umgebung,
weil alles darin kraftvoll ist und fähig, ihm den Tod zu geben. Die un-
30 ermeßliche Arbeit, die sich beständig rings um ihn vollzieht, hindert ihn, selbst
zu arbeiten. Er denkt kaum einmal; aber wenn er sich, wie der Hindu, zur
Betrachtung der Naturgesetze erhebt, dann haben seine Gedanken etwas von
der Tiefe und Stetigkeit jener Gesetze, die sie widerspiegeln.
Wenn die Natur der Tropen gerade ihres Reichtums wegen den Fort-
35 schritt der Menschheit nicht besonders begünstigt, so ist die Polarzone noch
weniger geeignet, glückliche Völker zu schaffen. Spärlich nur sind die Menschen
über ihre Einöden zerstreut, und mühsam kämpfen sie gegen Klima und
Natur an, um ihr tägliches Dasein zu erringen. Da sie meist durch Gletscher
und Nahrungsmangel verhindert werden, in das Innere der Inseln und Fest-
40 länder einzudringen, errichten sie ihre Wohnstätten an den Ufern des Ozeans.
Dorthin tragen wenigstens die Winde einige warme Hauche vom Äquator
her, führen Strömungen aus den Tropen Gewässer herbei, die noch nicht
ganz ihre ursprüngliche Wärme verloren haben. Eine finstere Höhle dient
dem Bewohner des eisigen Polarlandes oft als Wohnung; in ihr verbringt
45 er, an der Flamme einer Thranlampe sich wärmend, die lange Winternacht, wo
die Sonne, der Urquell irdischen Lebens, für Wochen und Monate nicht über
dem Horizoitte erscheint. Traurig ist das Leben in dieser Winternacht; auch
der Hunger wütet dann nur zu oft unter den Polarvölkern, und ganze Stämme
verschwinden bisweilen spurlos. Daß das trostlose Klima dieser Länder auch
50 auf den Geist ihrer Bewohner, der Grönländer, der Eskimos, der Behrings-
völker, niederdrückend wirken muß, ist begreiflich. Alle Reisenden wissen davon
zu erzählen, wie die geringste Kleinigkeit diesen kindlichen Menschen, deren
Leben so eintönig verfließt, Vergnügen zu bereiten vermag. Ehrgeiz kennen
sie in ihrem Kampfe um das Dasein nicht; alles dreht sich bei ihnen um die
55 Nahrung, die vorwiegend aus Fischen und Robben besteht. Dabei ist der
Polarbewohner im allgemeinen freundlich und sanft; er liebt sein Vaterland,
und die Familie in seiner Hütte bedeutet für ihn die Welt.
Die Gegenden der Erdoberfläche, in denen die Menschheit die günstigsten
Bedingungen für ihre Entwickelung findet, sind die beiden gemäßigten Zonen
60 und unter diesen in bevorzugtem Grade die der nördlichen Erdhälfte. Wenn
die mehr oder minder zivilisierten Völker Westeuropas und Nordamerikas
sich selbst die stolzen Fortschritte der Menschheit anrechnen, so vergessen
sie den mächtigen Anteil, der dem glücklichen Klima zukommt, das sie be-
günstigte.
65 Der hervorragendste Charakterzug des gemüßigten Klimas ist der gleich-
mäßige und periodische Wechsel warmer und kalter Jahreszeiten. Während
127
in beit Tropen die Temperatur nur geringe Schwankungen zeigt und in der
Polarzone die eisige Kälte nur für die wenigen Wochen eines kurzen Sommers
einem etwas mildern Klima weicht, lösen in dem zwischen diesen Zonen
gelegenen Raume Wärme und Kälte mit solcher Regelmäßigkeit einander 70
ab, daß sich zwei scharf getrennte und genau dem Laufe der Sonne
entsprechende Jahreszeiten bilden. Der Anblick der Natur ist hier ab-
wechselnd freudig und traurig. In der warmen Jahreszeit ist die Erde
hier lachend und lieblich: sie schmückt sich mit Blumen und Laub, erfüllt die
Luft mit Düften und sangt in Fülle die belebenden Wärme- und Lichtstrahlen 75
der Sonne ein. Im Winter ist fast jedes Grün geschwunden: in starren
Linien zeichnen sich die dürren Zweige der Bäume am Himmel ab, und oft
überzieht sich der Boden mit einer Schneedecke, als wollte er sich von der
rauhen Außenluft scheiden, um im stillen die Lebenskeime vorzubereiten, die
im Frühling von neuem erwachen sollen. 80
Die Mannigfaltigkeit der klimatischen Erscheinungen und die friedliche
Art, in der sie aufeinander folgen, machen die gemäßigte Zone vorzugsweise
für die Entwickelung der Menschheit geeignet. Nirgendwo anders gedeiht der
Mensch so wie in diesen Gegenden, wo das Wirken der Natur mit eben solcher
Kraft als Regelmäßigkeit erfolgt, wo die Einflüsse vom Äquator und von den 85
Polen her einander dnrchdringen, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ver-
mehren und doch wieder die Heftigkeit ihrer Wirkungen gegenseitig mildern.
Was aber noch wichtiger ist, er wird hier unablässig zur Arbeit angeregt, da
die Natur der gemäßigten Zonen in aller ihrer Freigebigkeit doch maßvoll bleibt
und nur für diejenigen freigebig ist, die sie zu ergründen und zu verstehen 90
wissen. Schon im Frühlinge muß der Boden in Fürsorge für den künftigen
Winter bebaut werden, und jede Jahreszeit muß gleichsam die folgende vor-
bereiten. Im Vertrauen auf die gütige Mutter Erde lernt der Landmann
sich seines Brodkorns berauben, um es einst als ein ganzes Ernteseld wieder
auferstehen zu sehen. Durch stete, aber erfolgreiche Anstrengungen gewinnt 95
der Mensch hier an Einsicht, an Heiterkeit und Lebenslust.
In allen Gegenden der gemäßigten Zone, deren Boden fruchtbar, wohl-
bewässert und gesund ist, und die einen leichten Verkehr gestatten, haben sich
daher auch trotz aller Kriege und verheerenden Einfälle ehrgeiziger Nachbarn
stets zahlreiche Bevölkerungen angesammelt. Inmitten dieser gemäßigten Zone lOO
liegt in Asien die reiche „Blume der Mitte", die allein mehr als den vierten
Teil der gesamten Menschheit umschließt. Nahezu in der Mitte derselben Zone
finden sich am entgegengesetzten Ende der alten Welt Belgien, England, Nord-
frankreich, Mitteldeutschland, wo die Menschen am dichtesten gedrängt neben-
einander wohnen, und wo die höchste Kultur ihren Sitz hat. 105
So sehen wir, wie die Klimate der Erde überall auf die Menschen ein-
wirken, hier sie in der Entwickelung begünstigend, dort ihre geistige und körper-
liche Thatkraft schwächend. Kein Land der Erde aber schließt durch seine
klimatischen Verhältnisse die Möglichkeit menschlicher Existenz völlig ans. Große
Hitze und Kälte vermögen wohl das Leben des Menschen zu erschweren, jedoch 110
feine Lebenskraft reicht aus, um alle klimatischen Extreme der Erde zu ertragen.
Dr. Otto Ule. Die Erde und die Erscheinungen ihrer Oberfläche. 189_2. O. 504 ff.
128
42. Der Anblick von Konstantinopel.
Konstantinopel, Mürz 1870.
Man Pflegt Neapel, Lissabon und Konstantinopel als die drei am herr-
lichsten gelegenen Städte Europas zu preisen und dann wohl noch Rio de
Janeiro als die vierte hinzuzufügen. Über die letzte kann ich nicht urteilen;
5 unter den drei erstgenannten aber scheint mir die Sultansstadt den Vorrang
zu behaupten. Ihre Lage, wie sie sich hier auf dem europäischen, dort auf
dem asiatischen Ufer über Hohen und Thäler hinzieht und dann an beiden
Gestaden des schön gewundenen goldenen Horns noch nach einer dritten Seite
sich weithin erstreckt, verleiht ihr einen Reichtum malerischer Reize, in welchem
10 keine ihrer Nebenbuhlerinnen trotz aller sonstigen Vorzüge mit ihr wetteifern
kann. Das Wunderbare, ja Zauberhafte des Anblicks, den sie gewährt, wird
aber noch bedeutend erhöht durch ihre eigentümliche Bauart, durch die zahl-
reichen, meist auf Anhöhen gelegenen, prachtvollen Moscheen mit ihren Gebets-
warten und das viele, zwischen die Gebäude verstreute Laubgrün.
15 Als ich am Abend nach meiner Ankunft, in einen leichten Kaik j— Nachenj
zurückgelehnt, zwischen den beiden Weltteilen dahinfuhr, dann um die Spitze
des Serails in das goldene Horn einbog und die sinkende Sonne ringsum die
bleigedeckten Kuppeln, die Minarets mit ihren goldenen Halbmonden, die aus
hochstämmigem Platnnendickicht und dunkelm Zedernwald aufragenden Paläste,
20 Türme und Säulen mit ihrem Purpurlichte überströmen sah, gestand ich mir,
daß die Erde, soweit ich sie kenne, nichts gleich Prachtvolles biete. Freilich
erhöht die Abendbeleuchtnng den Zauber' dieses Anblicks. Indessen er ist
herrlich zu allen Stunden, und man kann sich nicht an ihm ersättigen. Wenn
man sich von dieser Flut wiegen läßt und in die ütherklaren Wellen hinab-
25 blickt, während der Kiel des Nachens bald eine Cypresse, bald ein schlankes
Minaret, das sich in ihnen spiegelt, durchschneidet, glaubt man sich in ein
Märchenreich versetzt. Dann landet man am grünenden Ufer, wo die Mvs-
lemin mit ihren Weibern an den „süßen Wassern" der Frühlingsluft genießen.
In baldachinbehängten Wagen nahen die verschleierten Schönen aus den Harems
80 oder sind schon, sich an Lautenspiel ergötzend, um den kühlen Brunnen ge-
lagert. Weiterhin sieht inan Männer gruppenweise auf den Rasen hingestreckt
und Rauch aus ihren Wasserpfeifen blasen. Flöte und Tamburin ertönen,
Neugierige drängen sich um Märchenerzähler — ein Bild echt orientalischen
Lebens, wie man es nirgends im Morgenlande schöner sieht. Als ich von
85 den süßen Wassern heimfuhr und das Zitterlicht des Mondes auf den leise
plätschernden Wogen tanzte, während die Ufer sich in einen leichten Nebeldnft
gehüllt hatten, durch den nur hie und da ein Halbmond von der Spitze eines
Moscheeturms wie ein Stern herabblinkte, ließ ich mich noch lange bald
hierhin, bald dorthin rudern, weil ich mich schwer entschließen konnte, aus
40 diesem Wunderreich in die Welt der Wirklichkeit zurückzukehren.
So erscheint mir Konstantinopel immer sinnberückend, unvergleichlich,
so oft ich den Kaik bestiegen und zwischen seinen Häuserreihen hingleite. Aber
sobald ich ans Ufer trete, versinkt das entzückende Bild, und ein anderes von
129
häßlichen Zügen grinst mich an. Es gibt nichts Widrigeres als diese schmutzigen
Gassen mit meistenteils elenden Häusern zu beiden Seiten. Nur wenn man 45
an einen der größern Plätze, der vielen öffentlichen Brunnen kommt oder
von einem erhöhten Punkte die cypressenbesetzten Friedhöfe sich an den Abhängen
hinziehen, die Moscheentürme über hohe Baumwipfel emporragen sieht, wird
man wieder mit der Stadt versöhnt. Die schönsten Aussichtspunkte bieten der Turm
von Galata und besonders der des Seraskiers sKriegsministersj. Letztern besteige 50
ich fast jeden Tag und sehe über die Tausende von Dächern, Gärten, Kuppeln
und Minarets hinweg auf die weithin gebreitete Flut, wie sie vom schwarzen
Meere und den blauen Symplegaden an den mit Villen und Kiosken über-
säten Ufern des Bosporus vorbei sich in das Becken der Marmarasee ergießt,
dann durch den Hellespont dem Mittelmeere entgegenwallt, wie besegelte Schiffe 55
und Tausende von Ruderbooten zwischen Gestade und Gestade gleiten und ferne
die schneebekrönten Gipfel des bithynischen Olymp das reiche Panorama begrenzen.
Adolf Friedrich Graf von Schack. Ein halbes Jahrhundert. B. HI. 1888. S. 205 ff.
Vgl. Lehmann, Geographische Charakterbilder: Nr. 16 (Konstantinopel).
43. Ein Teifun in den chinesischen Gewässern.
Die Schiffe „Arkona" und „Frauenlvb" waren bereits auf 40 Meilen
in die Nähe von Jedo gekommen. Das Ziel der Reise war bald erreicht;
schon hoffte man am folgenden Tage in die Bucht von Jedo einzulaufen,
als das Geschick hemmend dazwischen trat und ein unbarmherziges Halt gebot.
Am Abend frischte die Brise auf, aber ihr Hauch hatte nichts Wohl-5
thuendes, er war schwül und drückend wie vor einem Gewitter. Der Himmel
war klar, aber die Sterne funkelten in unheimlichem Glanze, und am südöst-
lichen Horizonte stand eine dunkle Wolkenbank. Sie verschmolz fast mit dem
Wasser, aber oft flannnte ein matter Lichtschein ähnlich wie ein fernes Wetter-
leuchten aus ihr auf, und alsdann traten ihre scharfen, schwarzen Ränder 10
hervor. Das Barometer, dieser treue und zuverlässige Freund der Seeleute,
begann zu fallen, doch sein Sinken war noch sehr gering, kaum ein Viertel
Millimeter in der Stunde. Auch die See war noch regelmäßig und nicht
hoch, und wenn ein Teifun im Anzuge war, mußte man, um die nötigen
Maßregeln zu treffen, jedenfalls erst deutlichere Anzeichen seiner Richtung und 15
Bahn abwarten. Allmählich wuchs die Brise; um Mitternacht stellte sich un-
regelmäßige See ein, und das Barometer siel langsam weiter. Die Fahrt
der Schiffe verminderte sich, und die Maschine konnte nur mit Mühe vor-
wärts kommen. Trotzdem wurde weiter gedampft; man war immer noch
nicht gewiß über die Bahn des Teifuns, wenngleich es keinem Zweifel mehr 20
unterlag, daß ein solcher heraufzog. Aber es war doch die Möglichkeit vor-
handen, vor ihm vorüberzukommen, und man wurde in dieser Annahme be-
stärkt, als sich der Wind etwas weiter nach Osten drehte. Außerdem war
es geboten, möglichst weit von der Küste Japans abzuarbeiten, um freiern
Seeraum zu haben, wenn der Wind sich südlich zog und stürmisch wurde. 25
Um Mitternacht trat das letztere ein; die drohende Bank in Südosten
rückte höher hinauf, der Flammenfchein über ihren gezackten, zerrissenen Rän-
Deutsches Lesebuch für daher. Mittelschulen. Bd. IV. 9
130
dem wurde Heller und häufiger; bisweilen zuckten aus ihr grelle Blitze bis
zum Zenith empor, und einzelne schwarze Wolken jagten mit rasender Schnelle
80 über die flackernden Sterne.
Gegen 3 Uhr morgens wußte jeder an Bord, daß man schweren Stunden
entgegenging. Der Wind hatte sich nicht weiter gedreht, und daraus ging
hervor, daß der Sturm seinen Weg gerade auf die Schisse nahm. Das schneller
und schneller fallende Barometer, die immer verwirrter auflaufende See und
35 der wachsende Wind ließen auch keinen Zweifel darüber, daß er mit raschen
Schritten heraufzog. Die Nähe des Landes gestattete kein Entfliehen, man
mußte der Gefahr die Stirn bieten und das Weitere abwarten. Alle Maß-
regeln gegen bevorstehendes schlechtes Wetter wurden zeitig getroffen, und
man versäumte nichts, was seemännische Erfahrung und Vorsicht für solche
40 Fälle geboten. Gegen 4 Uhr morgens waren alle Vorbereitungen getroffen,
aber es war auch die höchste Zeit; denn Wind und See nahmen bedeutend
zu, und die Bewegungen des Schiffes wurden schon sehr heftig. Noch immer
bugsierte j— hatte im Schlepptaus die „Arkona" den Schoner; zwar vermochte die
schwer arbeitende Maschine kaum noch den Widerstand zu überwinden, aber jeder
45 gewonnene Schritt vorwärts war von großem Werte und entfernte die Schiffe
mehr von der gefährlichen Küste. Da ertönte plötzlich ein Krachen, das Bug-
siertau des Schoners war gebrochen, und als ob dies ein Zeichen für den
Sturm gewesen, brach auch er unmittelbar nachher mit furchtbarer Heftigkeit
los. Die drohende, schwarze Wolkenbank hatte sich bis zum Zenith ausge-
50 breitet, und ihre von Blitzen flammenden Ränder standen jetzt über dem
Schiffe. Heulend brauste der erste Stoß durch die Takelung, legte die Kor-
vette fast auf die Seite, und einen Augenblick war die ganze See nur eine
kochende, schäumende Masse. Dann ließ der Wind etwas nach, die „Arkona"
richtete sich auf, und die niedergewehten Wellen begannen wieder, sich zu
55 Bergen aufzutürmen.
Doch man ahnte, daß der Stoß nur ein Vorspiel gewesen und noch
viel Schlimmeres bevorstand. Es galt, die Pause zu benutzen, um das Schiff
unter Sturmsegel zu bringen und beizulegen jzum Stehen zu bringen!; denn
die Maschine war bei solchem Wetter machtlos.
60 Der Ruf: „Alle Mann auf!" hallte durch die Räume des Schiffes
und schreckte die Freiwache aus ihrer kurzen Nachtruhe. Halb bekleidet stürzte
alles nach oben; denn jeder Seemann weiß, daß, wenn dies Kommando er-
schallt, die schleunigste Hilfe nötig ist.
Es war fünf Uhr geworden, und der Tag begann zu grauen. Mit
65 Besorgnis spähten die Blicke nach dem Schoner. Etwa eine halbe Meile ent-
fernt wurde er entdeckt; er lag unter dicht gerefftem Großsegel bei [segelte
nicht vorwärts!. Wenngleich sein Rumpf bisweilen hinter den hohen Wellen
gänzlich verschwand, wehrte sich das kleine Fahrzeug offenbar tapfer gegen
das furchtbare Wetter. Dichter Regen, der jetzt in Strömen vom Himmel
70 zu gießen begann, entzog ihn dem Auge. Aber auf der „Arkona" war man
beruhigt; er hatte sich als ein tüchtiges Seeschiff gezeigt.
Wilder und wilder raste der Sturm, höher und höher tiirmten sich die
131
Wogen; die Luft war undurchsichtig und mit Wasserdampf gefüllt. Oben in
den Lüften hörte man ein unheimliches Tosen, als ob ferner Donner rollte,
aus den schwarzen Wolkenmassen sprühten nicht mehr einzelne Blitze, sondern 75
ganze Strahlenbündel. Das Schiff ächzte in allen seinen Teilen, als fühlte
es die schreckliche Not des Augenblickes und fürchtete, in dem iibermenschlichen
Kampfe zu unterliegen. Und doch stand das Schlimmste noch bevor! Das
immer schneller fallende Barometer und der feststehende Wind kündeten das
baldige Anrücken des vernichtenden Zentrums. Stumm sahen sich Offiziere 80
und Mannschaften an. An Kommandos war nicht mehr zu denken; das
Heulen des Sturmes, das Brausen der See hätten jedes Wort ungehört ver-
schlungen. Aber es wäre auch sonst nutzlos gewesen; bei solchem Wetter ist
der Menschenmacht eine Schranke gesetzt, sie vergeht vor der Gewalt der
Elemente und kann nur Gott ihr Geschick anheimstellen. 85
War es möglich, daß der Sturm noch heftiger toben konnte, und wenn
dies der Fall, konnte das Schiff einem solchen Winde widerstehen? Es war
nicht denkbar, und dennoch steigerte sich die Wut des Teifuns zu immer größerer
Höhe. Die Korvette lag mit der Leeverschanzung [ber dem Winde abgewendeten
Seitej zu Wasser, zwei ihrer Boote wurden fortgerissen, Sturzseen brachen über 90
das Verdeck und schwemmten alles fort, was nicht auf das solideste befestigt war.
Die Mannschaften hatten sich nach hinten geflüchtet und sich mit Tauen festge-
bunden, um nicht über Bord gespült zu werden; der Regen ließ nach, aber der
vom Winde gepeitschte Wasserdampf hüllte das Schiff in einen so dichten Nebel,
daß man keine zwanzig Schritt weit sehen konnte. Dazu das Brüllen des Orkans, 95
das Brausen der See, das unheimliche, immer lauter werdende Tosen in den
Lüften, die flammenden Blitze: da mochte wohl dem Mutigsten sich der Ge-
danke aufdrängen, die letzte Stunde sei gekommen. Niemand glaubte auch
mehr an Rettung in einem so beispiellosen Kampfe der Elemente; denn nie-
mand von der Besatzung hatte irgend dem Ähnliches je erlebt. 100
Da auf einmal, als die furchtbarsten Kräfte der Natur entfesselt schienen,
wurde es still, nicht in der strengsten Bedeutung des Wortes, aber im Ver-
hältnis zu wenigen Minuten vorher. Doch die Stille war grausenerregend;
jeder wußte, daß der Mittelpunkt des Teifuns jetzt über das Schiff fortging
und er nach kurzer Pause mit derselben Kraft von neuem losbrechen würde. 105
Auch gab die Stille dem Schiffe keine Erleichterung, sondern gefährdete es
fast noch mehr als der Sturm. Seine gegen die Masten wirkende Kraft
hatte es nach einer Seite überliegend gehalten; jetzt fehlte dieser Druck, und
die über alle Beschreibung verwirrte und von allen Seiten zu steilen Bergen
sich aufwülzende See warf die hilflose Korvette in erschreckender Weise um- HO
her, so daß jeden Augenblick die Masten aus dem Schiffe zu fliegen drohten.
Fast zehn Minuten währte dieser entsetzliche Zustand, dann tobte der
Orkan wieder mit alter Wut. Aber fast wurde er mit Freude begrüßt; denn
er machte den Bewegungen ein Ende. Gleichzeitig zog sich der Wind auf
Ost, ein Zeichen, daß das Zentrum seine Lage gegen das Schiff verändert. 115
Ein schwacher Hoffnungsschimmer leuchtete der schwer geprüften Besatzung;
das Schwerste war überstanden, und wenn auch weder Sturm noch See ab-
9*
132
genommen hatte, mußte dies doch jetzt allmählich geschehen. Das Steigen des mit
ängstlich harrenden Blicken beobachteten Barometers bestätigte dies. Wie ein
120 Lauffeuer pflanzte sich die frohe Kunde von Mund zu Munde: „Das Baro-
meter steigt!" und der alte Mut kehrte in die Herzen zurück. Das Schiff
hatte sich bis jetzt bewährt, da durfte man wohl auch ferner Hoffnung hegen.
Doch plötzlich wurde sie wieder vernichtet. Die Luvwanten [— Haltetaue auf der
Windseite^ des Großmastes gaben nach. Sie zu zerreißen vermochte der Sturm
125 nicht, aber sie zogen sich allmählich unten aus den Schlingen. Schon hatten
sie sich einige Centimeter gereckt, und der Mast bog sich gefährlich nach Lee
über. Noch ein Ruck, dann verlor er seinen Halt, riß die andern mit sich,
und das Schiff wäre in diesem Chaos als Wrack verloren gewesen. Deshalb
mußte es unverzüglich mit der andern Seite gegen den Wind gelegt werden,
130 um die gegenüberliegenden und nicht angestrengten Wanten zum Halten zu
bringen.
Jeder sah die drohende Gefahr und versuchte mit Einsatz seines Lebens
zu helfen. An Segelsetzen war nicht zu denken — sie wären wie das Großmars-
segel sSegel am Hauptmasst zu Atomen zerfetzt worden — deshalb sollten die
135 Matrosen als solche dienen. Sie wurden in das Luvfockwant {= Tau, welches
den vordren Mast auf der Windseite hälts hinaufbeordert, um durch ihre
Körper eine Flüche für den Druck des Windes auf das Vorderteil des Schiffes
zu bilden und es auf diese Weise herumzubringen. Vergebens! Den Leuten
wehten die Kleider vom Leibe, aber das Schiff blieb wie angemauert in
140 seiner Lage.
Das letzte Rettungsmittel war, den Besanmast [= hintern Müsst zu
kappen, weil seine Fläche den Winddruck auf das Vorderschiff ausglich. Schon
standen die Zimmerleute fertig, um ihre Äxte wirken zu lassen; doch wollte
der Kapitän zuvor sehen, ob die Maschine nicht helfen könne. Die zurück-
145 geschobenen Feuer wurden aufgefrischt, und der schwarze Kohlendampf mischte
sich mit den schwarzen Wolken des Himmels. „In fünf Minuten ist Dampf
auf!" ließ der Maschinist melden. O, wie unendlich lang waren diese fünf
Minuten, mit welcher Spannung hingen die Augen an den Wanten, die mit
jedem.Windstoße, jedem Überholen weiter reckten!
150 „Das Schiff fällt!" rief es plötzlich aus aller Munde, und Freude
strahlte auf den Gesichtern. Ja, es fiel wirklich ab, sein Kopf drehte sich
allmählich leewärts. Der Maschinist hatte Öl und Terpentin auf die Flammen
gießen lassen, um sie anzufachen; noch vor der angegebenen Zeit war soviel
Dampfdruck erzeugt, um die Schraube in Bewegung zu setzen, die Korvette
155 bekam etwas Fahrt und gehorchte dem Ruder.
Eine Zentnerlast fiel jedem vom Herzen, als das Schiff glücklich, und
ohne bei dem gefährlichen Manöver schwere Sturzseen überzunehmen, über
den andern Bug gelegt s— in andere Richtung gebrachst war. Man fühlte
sich gerettet, und offenbar hatte der Wind auch schon etwas abgenommen.
160 Das Schiff lag zwar jetzt mit dem Kopfe nach Land zu, aber das Schlimmste
war überwunden. Das furchtbare Zentrum war vorüber, das Barometer
stieg, und der Wind zog sich allmählich südlicher, so daß man sich wieder
133
vom Lande entfernen konnte. Auch andere Zeichen deuteten auf eine Wen-
dung zum Bessern: der Wasserdampf war weniger dicht, die starre, schwarze
Wolkenmasse zerriß und zeigte Lichtstellen, der Gesichtskreis erweiterte sich, 165
und die See lief nicht mehr so hoch.
Die eigene Gefahr wurde nun vergessen, aber aller Augen waren auf
den Horizont gerichtet, um den Schoner zu suchen. Um fünf Uhr hatte man
ihn zuletzt gesehen, jetzt war es zehn. War es denkbar, daß das kleine Fahr-
zeug fünf Stunden lang diesen Kampf aushalten, solchem Wind und solcher 170
See Trotz bieten konnte? Der Verstand antwortete: „Nein", aber das Herz
wollte an die Unmöglichkeit nicht glauben, und deshalb strengte jeder die Augen
an, um seine Mastspitzen zu entdecken. Es war vergebens. Der Teifun
hatte sein Opfer gefordert; der Schoner war in der Tiefe begraben.
Rein hold Werner. Das Buch von der deutschen Flotte. 1884*. S. 191 ff.
44. Ausflug nach Tunis.
1. Langsam fuhren wir in die Nacht, in das endlos scheinende Meer
hinaus. Das Schiff rollte stark, und im Kielwasser hatten wir schwaches
Meerleuchten, wohl erzeugt durch Millionen von Noctiluceen (Noctiluca
miliaris), deren Leuchtkraft bei jeglicher Art Reibung und somit auch bei
bewegter See sich äußert. Manchmal-blitzte es wie flüssiges Silber auf, 5
darm verschwand es nach und nach, und das Mondlicht trat an die Stelle
dieser leuchtenden, mikroskopischen Urtiere. Gegen Morgen spannte sich über
einen bedeutenden Teil des Firmamentes ein Mondregenbogen, welcher einen
großen Kreis um den ihn erzeugenden Himmelskörper bildete und eine in
diesen Breiten seltene Erscheinung ist. Allmählich wurde es heller und heller, 10
und plötzlich schoß fern im Osten aus den dunkeln Fluten der feurige Sonnen-
ball empor, weithin seine Strahlen über die spiegelglatt gewordene Wasser-
fläche ergießend. Die vulkanische, gebirgige Insel Pantellaria sin der Gruppe
der Ägadens wurde sichtbar, zog an uns vorüber und tauchte wieder in der
Ferne unter. Endlich, ungefähr um 10 Uhr morgens, stieg im Südwesten 15
das Kap Bon (Ras Addar) aus dem Meere auf. Es war der erste Anblick
von Afrika — ein überwältigender Moment! Wovon wir alle schon in der
Kindheit hören, was die meisten aus uns von Jugend aus zu sehen wünschen
und kaum je zu erreichen hoffen können — es lag uns wenigen Bevorzugten
nun wirklich und unentreißbar vor Augen. Und was für ein Heer von Gedanken, 20
Fragen und Gefühlen erweckt nicht in uns ein neuer Weltteil mit seinen
fremden Menschen, seiner fremden Vegetation, seiner geschichtlichen Vergangen-
heit, seinen uns so ganz fernab liegenden Eigentümlichkeiten!
Bei prächtigem Wetter zeigte sich uns allmählich die afrikanische Küste,
welche mit ihren grün bewachsenen, jedoch baumlosen Hügeln majestätisch 25
freundlich und zum Enträtseln ihrer Naturgeheiinniffe einladend zu uns herüber-
winkte. Gegen Sonnenuntergang fuhren wir in den weiten Golf von Tunis
eiil, dessen bergige Umrahmung in den wärmsten Farben aufglühte, gleichsam
als wollte sie dem sterbenden Tage zum Scheidegruß all ihre Pracht aufs
höchste entfalten. Doch nicht nur landschaftliche Reize von ungeahnter Wirkung 30
134
strömten auf uns ein, auch geschichtliche Erinnerungen tragischer Art waren
es, die uns ergriffen; denn an der nordwestlichen, flachern Küste des Golfes
schünmerte die weiße Häuserreihe eines Araberdorfes zu uns herüber, den Platz
bezeichnend, wo einst das mächtige Karthago gestanden, und weiter südlich
35 erhebt sich hoch über dem Meere eine einsame Kapelle als Andenken an die
Stätte, auf welcher Ludwig IX. von Frankreich, der Heilige, im Jahre 1270
auf einem verunglückten Kreuzzuge gegen Tunis einer Seuche erlag, die bei
der Sommerhitze in feinem Heere wütete und nebst dem Könige so manch
andern Kreuzfahrer dahinraffte.
40 Es dämmerte schon, als wir angesichts des flach am Strande liegenden
Goletta, der Hafenstadt für das mehr landeinwärts liegende Tunis, vor Anker
gingen. Beim ersten Schritte auf afrikanischem Boden war das Gewühl der am
Ufer gescharten bunten Menge so groß, wurden wir durch den Empfang von
seiten eines tunisischen Admirals und mehrerer Offiziere, welche, nebenbei
45 gesagt, nicht sehr soldatisch aussahen, so in Anspruch genommen, daß wir zu
gar keinem einheitlichen Eindrucke kommen konnten. Man hatte das Gefühl,
alles sehen, das Bild all der fremden Trachten und Menschenstämme, über-
haupt alles Gebotene in sein Gedächtnis aufnehmen zu wollen, und sah in-
folgedessen gar nichts. Der Bahnzug nach Tunis entführte uns diesem regen
50 Treiben und brachte uns in einer halben Stunde nach unserm Bestimmungs-
orte, wo wir neuerdings von lärmenden Orientalen begrüßt wurden. Die
nun folgende Wagenfahrt um und teilweise durch die ans angeschwemmtem
Boden stehende Stadt bot des Interessanten genug; es war Nacht geworden,
aber man konnte doch einzelne Bilder fremdländischen Lebens erhaschen. Zu
55 ebener Erde, in den gegen die Straße offenen Räumen mancher Häuser hockten
bei schwacher Beleuchtung die Insassen, von ihren weiten, weißen Mänteln
umwallt, längs der Wände in träger Ruhe herum, andere schlichen langsam
mit dem durch die Pantoffel erzeugten, unsichern Gange auf den dunkeln
Straßen an den Mauern dahin. Mehr erlaubte uns die Finsternis nicht zu
60 unterscheiden, nur die furchtbaren Stöße und bedenklichen Verschiebungen aus
der horizontalen Lage, welche wir in unserm an und für sich ausgezeichneten
Wagen erlitten, verrieten uns den sehr primitiven Zustand des mit Löchern
reich bedachten Weges.
2. Bei der Ankunft hatten wir infolge der vorgerückten Stunde einen
65 nur sehr mangelhaften Begriff der uns umgebenden neuen Welt erhalten;
desto überraschender, alles Erwarten iibersteigend war das Bild, welches sich
uns den nächsten Morgen beim ersten Hinaustreten aus dem Palaite bot.
Es war ein so seltsamer, durch nichts an die Heimat und an alles bisher Ge-
sehene erinnernder Eindruck, daß man zu träumen wähnen konnte. Über den
70 blendendweißen Mauern und Häusern mit ihren durchgängig flachen Dächern
und ihren, wenn auf die Gasse gehend, stets vergitterten Fenstern wölbte sich
ein dunkelblauer Himmel, und in den engen, größtenteils für Wagen un-
fahrbaren und teilweise überbauten Straßen wogte das bunteste orientalische
Leben, dessen einheitliches Bild fast niemals durch irgend einen sich hinein-
75 verirrenden Europäer in seinem Zauber gestört wurde. Wir waren ciugeu»
— 135 —
blicklich die einzigen Eindringlinge; ein eigentümliches Gefühl des Nicht-
hineingehörens in diese fremde Welt beschlich uns, und wir wagten uns an-
fangs nur scheu und zögernd unter die von uns durch Religion, Sprache
und Sitten getrennten Menschen, von denen wir gar nicht einmal wußten,
ob sie uns Christen nicht mit vor Haß und Fanatismus lodernden Augen 80
betrachteten; denn es gibt jetzt noch von Zeit zu Zeit unter den Moslemin
in Tunis christenfeindliche, drohende Stimmungen, welche beim geringsten
Anlaß in Thätlichkeiten übergehen könnten, und es dürfen auch jetzt noch die
Christen keine Moschee betreten, unter Gefahr, von den gekränkten „Recht-
gläubigen" gesteinigt oder zerrissen zu werden. 85
Will man das orientalische Leben, namentlich das Städteleben, in
seiner größten Rührigkeit kennen lernen, so muß man die Bazare besuchen
und das nicht einmal, sondern wiederholt; denn zu den belebten Stunden ist
das Drängen, Stoßen und Durcheinanderschreien der sonst meist apathischen
Orientalen so groß, daß der nicht daran Gewöhnte davon vollständig betäubt 90
und eines klaren Überblickes unfähig wird. Die Gassen sind eng; rechts und
links befinden sich die Warenbuden, und da staut sich leicht der Menschen-
strom. Um uns Durchgang zu verschaffen, trieb unser Janitschar oder Kon-
sulatsdiener mit rücksichtslosen Stockschlägen auf die Rücken der im Wege
Stehenden die Menge auseinander, ein Verfahren, bei welchem sich der frei 95
denkende Europäer empören würde, das aber der ruhige Orientale wenigstens
scheinbar gleichgültig über sich ergehen läßt — und doch drückt sich in der
Haltung dieser Araber ein Selbstbewußtsein und eine Würde ans, als wenn
ein jeder Fürst zu sein wähnte.
Der Bazar zerfällt in verschiedene schmale Straßen und Abteilungen, 100
welche größtenteils als Verkaufsort nur für ein und den nämlichen Gegenstand
dienen: so gibt es ganze Reihen von nebeneinander liegenden Holzbuden, in
welchen nichts als Lederwaren, oder fünfzig Schritt weiter nichts als Feß
[rote wollene Mützeiff oder Teppiche oder Essenzen und Luxusgegenstände feil-
geboten werden. Die Feß und Lederarbeiten sieht man im Bazar selbst ver-105
fertigen, die wohlriechenden Öle und die feinen farbigen Seidenstoffe werden
aus der Umgegend bezogen, die merkwürdig gemusterten Teppiche aber kommen
ans dem Innern des Landes, der heiligen Stadt Kairuan, welche Europäern
oder, richtiger gesagt, „Ungläubigen" zu betreten verboten ist. Etwas den
Fremdeil im Bazar Auffallendes sind Körbe, bis oben mit trockenen Blatt-110
stückchen gefüllt; letztere bienen zum Bereiten des Henna, eines über den ganzen
Orient verbreiteten Färbemittels, welches die Frauen namentlich zum Rotmaleii
der Nägel anwenden. Die Läden der Bazare sind alle gegen die größtenteils
gedeckten Gassen offen, und ein querüber abschließender Ladentisch trennt den
Käufer vollkommen vom Verkäufer und seinem Warenlager. Tritt man an 115
eine Bude hin, so klettert der sich oft unthätig außerhalb befindende Besitzer
derselben mit Zurücklassung seiner Pantoffel über seinen Ladentisch in den
innern Raum, ivenn er nicht schon in stoischer Ruhe darin kauerte, seine Waren
hoch uni sich aufgetürmt. Und nun laden die sehr artigen Kaufleute, unter
welchen fast nur die mosleinischen ehrlich siiid, den Kommenden zuni Sitzen 120
136
auf einer der zwei Bänke des Vorraums ein, und es beginnt das Handeln,
bei welchem sich oft zwei und mehr Unbefugte einmischen und man leicht von
einer ganzen Schar Zuschauer umringt werden kann. Ist man gar nicht im
stände, sich über den Preis zu einigen, und geht seiner Wege, so kommt häufig
125 der Verkaufende nachgelaufen, um die begehrte Ware für die zuletzt gebotene
Summe zu überlassen. Beim Durchstreifen des Bazars mit seiner abwechs-
lungsreichen Welt für sich betraten wir auch einen säulengeschmückten, kleinen
Platz, auf welchem vor nicht allzulanger Zeit Menschenhandel getrieben, und
auch Christensklaven verkauft wurden; nun ist die Stelle verödet, aber es klebt
130 ihr immer noch die Schande an, daß hier Brüder ihre Brüder, Menschen ihre
Mitmenschen wie gemeine Ware verschachern konnten.
3. Die baulichen Sehenswürdigkeiten von Tunis sind in Kürze abgethan;
denn außer dem von uns bewohnten Palaste wäre nur noch die im Verfalle
befindliche Citadelle zu bemerken, über welche hoch in die Lüfte ein rechteckiges,
135 spanisch-arabisches Minaret sich erhebt, während nicht ferne davon eine schlanke
Palme ihr einsames Dasein im Straßenstaube vertrauert. Die Moscheen jedoch,
deren Besuch großes Interesse erwecken könnte, sind ja, was wir schon wissen,
ein den Rumy (wie man die Christen in mnhammedanischeu Landen nennt)
verschlossenes Gebiet. Erinnert man sich aber an die später und anderswo
140 gesehenen Gotteshäuser der Moslemin, so läßt sich durch die Phantasie auch
ein Bild derjenigen von Tunis herstellen. Die meisten Moscheen, abgesehen
von den dazugehörigen oder daran angebauten Schulen, Krankenhäusern und
Gerichtssälen, haben einen innern, baumbepflanzten Hof, in welchem sich ein
überdeckter Brunnen befindet, der zu den den Gläubigen vorgeschriebenen Wa-
145 schungen dient. Dieser Hof wird von einer gegen ihn offenen Säulenhalle um-
schlossen, die sich aus einer Seite zu mehrern parallelen Säulenreihen vertieft,
deren Hintergrund an der Wand eine reich verzierte Nische aufweist, welche
den Zweck hat, dem Betenden die Richtung nach dem heiligen Mekka anzu-
zeigen. Die innere Einrichtung der Moschee ist sehr einfach und besteht haupt-
150 sächlich und gewöhnlich nur aus einer Art Kanzel und einer hölzernen Tribüne,
welche frei in dem Gotteshause steht. Strohmatten bedecken den Boden, Lampen
besonderer Art hängen von der Decke herab, und in tiefe Andacht versunken
sieht man da und dort betende Moslemin, bald knieend, bald sitzend oder mit
der Stirne zur Erde gebeugt, unregelmäßig im heiligen Raume verteilt. Das
155 Ausziehen der Pantoffel, welches unserm Hutabnehmen entspricht, geschieht
unmittelbar vor Betreten der Bethalle selber und muß auch in den Grabkapellen
der Heiligen vollführt werden. In letztere haben die Frauen allein Zutritt.
Es ist nicht erbaulich, an diesen Orten Scharen von schäkernden und lachen-
den Weibern mit ihren Kindern herumsitzen und die an den Särgen hängenden
160 Tuchfetzen küssen zu sehen. Solche Grabkapellen mit ihren weißen Kuppeln
sind zur Genüge über das ganze Land verbreitet und bilden hübsche Staffagen
in der manchmal einförmigen Gegend; sie finden sich sogar in den Bazaren,
erscheinen aber da nur in Form von mitten auf dem Wege stehenden Särgen
ohne weitern Steinüberbau. Der in Nordafrika, namentlich bei den Kabyleu
165 sich breit machende Heiligenknltus, welcher sich oft nicht im entferntesten an
137
solche Persönlichkeiten knüpft, die nach unsern Begriffen als heilig anzusehen
wären, ist genau genommen im Islam nicht begründet und wird von den
Orthodoxen als verwerflich betrachtet. Das einzige, was wir in Tunis von
dem uns fremden Kultus zu sehen oder vielmehr zu hören bekamen waren
die Gebetsausrufer, welche mehrmals des Tages von den Minarets aus mit
rhythmischem, aber unschönem Gesänge die Gläubigen zum Gebete auffordern.
Da wird es lebendig auf den flachen Dächern der Häuser, einzelne Männer-
gestalten zeigen sich, Matten werden ausgebreitet, und gegen Osten gewendet
lassen sich die frommen Moslemin zur Teilnahme an der Andacht auf den
Boden nieder.
Therese, Prinzessin v. Bayern. Jugendblätter (herausg. von Jsabella Braun). 1.1880. S. 545 ff. (Gekürzt.)
45. Auf dem Pik von Teneriffa.
Endlich erreichten wir die Rambleta, eine geringe Hochebene, die wie
eine schmale Ringfläche den Piton, den letzten Kegelaufsatz, umzieht. Der
ganze Berg hat sich aufgebaut zu feiner ungeheuern Höhe, indem sich immer-
fort ein Kegel auf den andern setzte, jeder höhere stets mit kleinerm Durch-
messer; denn jeder stieg als Auswurfskegel auf der Grundfläche des letzten
Kraters empor. Der erste Krater über dem Meere war die Insel selbst, der
zweite der sogenannte alte Krater mit seiner Breite von ein paar Stunden,
aus diesem hob sich in mehrern Absätzen der Berg immer höher, jeder Absatz
bezeichnete einen neuen Vulkan, der sich kegelförmig aus den Auswürfen des
letzten bildete. So steht jetzt der Piton wie ein Kegel oder Spitzhut auf der
Rambleta auf.
Wer auf dein Vesuv gewesen, wird sich der Mühsal erinnern, welche
der Aschenkegel macht. Bei jedem Schritte in der lockern, tiefen Asche sinkt
und rutscht man zurück. Davon war hier kaum eine Spur; fast überall
konnte man den Fuß fest aufsetzen, dieser Kegel hatte seine Rinde fest gebacken.
Auch war es nicht so sehr der steile Aufstieg als die hier herrschende feine
Luft, welche jeden Augenblick zum Ausruhen nötigte. Sonst habe ich nichts
von alledem verspürt, was in den Reisebeschreibungen steht, daß man nämlich im
Kopfe unerträglichen Druck und Schwindel fühle, daß das Blut sich
aus den Augen dränge, daß man vor Durst umkomme. Nur die Lippen
schmerzten etwas, weil das feine Oberhäutchen sich abzublättern anfing. Viel
schlimmer waren die entsetzlichen Windstöße. Bei Sonnenaufgang hatte es
den Anschein gehabt, als wollte sich die Luftströmung beruhigen; aber von
Zeit zu Zeit kam es plötzlich mit so tückischer Gewalt dahergefahren, daß wir
uns niederwerfen und anklammern mußten, um nicht fortgewirbelt zu werden.
Der verhältnismäßig kleine Piton, der kaum 350 m hoch, kostete uns fast
eine Stunde Aufsteigens.
Etwa 7 m unter der Spitze war der Boden auf einmal gefärbt wie
Lehm und Ocker und ganz warin, an verschiedenen Stellen kam Schwefel-
dampf hervor. Noch ein paar Schritte — und der entsetzte Blick fiel hinab
in den bleichen Krater; in demselben Augenblicke aber hing ich an einer Zacke,
die ich mit beiden Armen umschlang; denn wie ein Donnenvetter sauste der
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Sturm von der andern Seite her und zischte und heulte wie ein Untier,
das sich an den Klippen und Kraterzacken rieb, die hoch und spitz in die
35 blaue Luft emporstarrten.
Wir duckten uns hinter ihnen, krochen, wenn der Luftstrom nachließ,
wieder hinauf und schauten in den Krater und darüber weg aufs Meer und
zogen uns säuberlich zurück, wenn die Windsbraut wieder daherfuhr. Es war
ein Viertel vor acht Uhr, hellster Sonnenschein, der Himmel ein blaues Meer
40 voll Licht und eine unermeßliche Fülle undurchdringlichen Glanzes. Alle
Wolken lagen tief unten wie festgebannt, als wären sie von weißem Blei
geformt. Befanden wir uns im Winde, so klapperten die Zähne vor Kälte;
sonst war es recht wohl auszuhalten. Das Thermometer zeigte in der Sonne
150; legte ich es auf den Boden, wo die Schwefeldümpfe quollen, so hatte
45 ich 310.
Allmählich wurden wir mit der Örtlichkeit etwas vertrauter, und mein
Reisegefährte, der sich viel mit Geologie befaßte, wußte nicht, was er alles
zum Andenken abhauen und mitnehmen sollte. Unmittelbar unter dem Krater-
rande an der Stelle, wo man auf. dem gewöhnlichen Wege dorthin steigt,
50 finden sich links und rechts Löcher, etwa 3 cm breit, aus denen ganz heiße
Dämpfe hervorströmen; dabei liegen kleine Schwefelkrystalle. Man nennt sie
die Naslöcher des Vulkans. Nicht weit davon zur rechten sind die Blöcke
und Spitzen, aus denen der Kraterrand sich aufbaut, am höchsten aufgetiirmt.
Unser junger Führer brach mit leichter Mühe am Klippenrande Blöcke los,
55 die den ganzen Piton hinunterfuhren, Staub aufwirbelnd, hoch aufspringend,
ganze Lagen von Geröll mit sich reißend, bis sie unten in weiten Sätzen über
die Schneefelder der Rambleta schossen. Verfolgte man sie mit den Blicken
und sah dann wieder über die Insel weg, so kam ein Gefühl, als hinge
man hoch in blauen Lüften.
60 Die Insel selbst lag tief unten wie ein langer, grauer Rücken zwischen
weit verbreiteten, weißen Wolkenballen. An beiden Rändern des Landes sah
man wie über endlose Schneefelder weg, von Küsten war nichts zu erblicken.
Vor uns, um uns, über uns hatten wir die ungeheuere Leere, die in solcher
Höhe keines Vogels Fittich mehr durchmißt. So etwa muß die Erde sich
65 ausnehmen, wenn man von einem Luftballon hinabschant.
Ganz anders, wenn wir über die Kraterränder weg nach der andern
Seite blickten. Dort war freier, blauer Ozean, und man sah wie in einen
weitgedehnten Halbring hinein, dessen innere Fläche langsam sich in die Höhe
zog. In halben Umrissen zeigten sich daran hängend Palma und Gomera,
70 die andern Inseln fast gänzlich von leichtem Dunste verdeckt.
Der Krater des Piks schien mir keine 60 m tief. Auf seinem mit
Geröll und Steinen bedeckten Boden mte an seinen innern Seiten brechen
hier und dort Schwefeldämpfe hervor. Gewiß läßt sich ohne alle Gefahr in
diesen Krater hineinsteigen; wir konnten es nur des wütenden Sturmes wegen
75 nicht bewerkstelligen. Es macht übrigens einen ganz unerwarteten, grauen-
haften Eindruck, wie so hoch über den Wolken dieser bleiche Höllenschlund
gegen den Himmel aufgähnt. Ein Dichter könnte sich vorstellen, hier habe
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der fürchterliche Tod seinen ewigen und uneinnehmbaren Ursitz und reite
daraus zu Zeiten hervor auf feinem gespenstischen Rosse, um würgend nieder-
zufahren auf das blühende Leben da unten. 80
Mit noch mehr Interesse aber als den jungen Krater hier oben ver-
folgt das Auge den alten unten, der sich im weiten Klippenring um den
Pik zieht. Ganz deutlich läßt er sich rings mit seinem scharfen, beißlustigen
Gebiß überschauen, ein Krater, wie gesagt, von ein paar Wegstunden Durchmesser.
Man denke sich die Somma [beit alten Kraters am Vesuv ganz um den Vulkan herum 85
fortgesetzt, diesen Bergring aber viel höher und schroffer und den Boden
zwischen ihm und dem Aschenkegel mit gelbem, rotem und grünem Geröll
und mit kleinen, runden Feuerspeiern besetzt, hin und wieder Lavafelder da-
zwischen: so wird ein ungefähres Bild dieses alten Teneriffa-Kraters entstehen.
Alles dies, was man hier oben sieht, ist voll tiefen, schweren Ernstes, 90
ist furchtbar und erhaben. Diese Bimssteinasche, der Staub von Jahrtausen-
den, diese Lavaströme, welche des Berges bleiches Haupt wie schwarze
Locken umdunkeln, dieser Höllenrachen hoch in reiner Himmelsbläue mit
seinem ewigen Sturmesgehenl und dieser alte Krater unten, der im tausend-
mal vergrößerten Maßstabe rings den Berg umstarrt, gerade als hätte er ihn 95
selbst im Rachen: alles das ist so groß und so gewaltig, so fürchterlich,
als wäre ein Stück Urnacht hier stehen geblieben und plötzlich vom jungen
Tage erhellt, ein Stück aus jenen finstern und geheimnisvollen Zeiten, wo
ganz andere Naturmächte, als wir sie kennen, miteinander im schrecklichen,
donnernden Kampfe lagen und feurige Gase, Rauch und schwarze Massen 100
im wilden Gemenge die Lufträume erfüllten, die jetzt wie unendliche Ab-
gründe von heiterm Blau ringsum niedergehen.
Ein erhabenes Schauspiel aber auf dieser Höhe ist zugleich unsäglich
schön. Wenn man dorthin blickt, sind all die gräßlichen und ungeheuern
Bilder wie verjagt und verschwunden durch dieses eine große, alles über-105
wältigende Schauspiel des Ozeans, diesen wunderbaren Anblick, der wie mit
Frieden und Stärke und geheimer Sehnsucht die Seele übertaut.
Ich will versuchen, doch ungefähr ein Bild davon zu geben.
Keine andere Stelle gibt es auf Erden, von welcher man ein so weites
Meergebiet überschauen kann. Doch ist es nicht diese ungeheuere Größe der lio
Wasserflut, was Sinn und Seele gefangen nimmt, daß man sich nicht wieder
losreißen kann von solchem Anblicke, sondern es ist die eigentümliche Gestalt
des Ozeans selbst. Ringsum steigt er ruhig, gleichmäßig in blauen Massen
an, hoch an gegen den Horizont, den er mit scharfer Linie ringsum schneidet.
Man befindet sich wie auf dem Grunde eines Kolosseums, .aber eines Kolos-115
seums, gegen welches das römische eine winzige Nußschale ist. Jeder, der
einmal an einer Küste gestanden, erinnert sich, wie die See vor seinen Blicken
leise anstieg, so daß die Schiffer, was draußen vor dem Hafen liegt, die hohe
See nennen. Besser noch, wer auf einer Küstenhöhe von etwa 800 m, z. B.
Ooit der Boechetta [einem Passes vor Genua, aufs Meer blickte, wurde 120
überrascht, als es vor ihm emporstieg und die weißen Segel auf dem blauen
Grunde wie Schafe an einer Bergkette übereinander standen. Nun, auf dem
140
Pik von Teneriffa steht man nicht 800, sondern fast 4OO0 in hoch. Man
überschaut nicht ein paar tausend Quadrat-Kilometer der See, sondern mehr
125 als hunderttausend, so groß wie ein Viertel von ganz Spanien. Also je
mehr man auf dieser Montblanehöhe vom Ozean mit einem Blick um-
fassen kann, um so höher erhebt sich sein Spiegel gegen den Himmel. Mehr
und mehr packte mich diese unbeschreibliche Größe und Erhabenheit. Wohin
im Kreise ich blickte, überall dieses gleichmäßige, sanfte Emporschwellen der
130 tiefbistiten Ozeansfluten, ringsum zu gleicher Höhe im Lichtraume. Gerade
daß das Ungeheuere sich so ganz einfach, in so reiner und schöner Linie dar-
stellt, das wirkt so. Auf dieser Erde gibt es nichts Erhabeneres.
Franz von Löher. Nach den glücklichen Inseln. Kanarische Reisetage. 1876. S. 53 ff.
46. Der s)lii und seine Überschwemmungen.
Der Ägypter kennt nur zwei Jahreszeiten, und der Regulator derselben
ist der wachsende, fallende Nil. Um sich eine deutlichere Vorstellung zu machen,
betrachte man zunächst das Land vor Eintritt der Stromschwelle. Es ist die
Zeit unsers Frühlings. Aber während in unserer Zone die große Wieder-
5 gebürt der Erde sich vollzieht, während tausend Bäche von den Bergen springen
und Feld und Wald im Spiele junger Lüfte grünen, liegt Ägypten von der
Sonne verbrannt und zerrissen. Kein Quell erfrischt den Boden, keine Wolke
sendet Regen; statt ihrer haucht nur der Chamssin sder erschlaffende Südostwind!
sein Feuer über das geborstene Staubfeld. So gleicht das Land einem in
10 Fieber aufgelösten Kranken, und nicht selten ergreift auch den Menschen ver-
derbend die Glut der unverhüllten Sonne; denn gerade in diesen Monaten
fordern Seuchen und Pest zuweilen viele Tausend Opfer, wie z. B. allein im
Jahre 1835 ein Zehntel der Gesamtbevölkerung hingerafft wurde. Aber auch
die Kraft der Gesunden unterliegt der allgemeinen Lähmung. Erst wenn der
15 Nil den tiefsten und die Sonne den höchsten Stand erreicht hat, endet Typhon,
der böse Genius, seine Herrschaft. Nordwärts, vom Meere herauf, rauschen
Kühlung atmende Winde, die Boten des rettenden Gotles, und nun beginnt
die große Verwandlung. Seltsames Schauspiel! Unter einem ewig klaren
Himmel, ohne irgend welches vorhergegangene Anzeichen, ohne irgend welchen
20 augenscheinlichen Grund wechselt wie durch überirdische Macht ein großer
Strom seine Wasser und seine Ufer. Vorher hell und durchsichtig, fließen
plötzlich seine Wellen trübgrün und bald braunrot, und während sie bis dahin
ununterbrochen sanken, steigen sie jetzt ununterbrochen empor, weit hinaus über
das gewohnte Bett, gleich als rege sich in ihrem Schoße ein verborgenes
25 Leben. In der That, das ist eines jener Geheimnisse der Natur, die
nicht aufhören, den Menschen mit großen Ahnungen zu erfüllen, auch wenn er-
ste begreift und erklärt.
Wir wissen, daß der Nil von den mächtigen Gewittern geschwellt wird,
welche innerhalb der tropischen Regenzeit Tag um Tag ihre Wassermassen
30 auf das Hochland von Sudan und Abessinien herabstürzen, und daß die seit
Jahrhunderten und Jahrtausenden beobachtete Gesetzmäßigkeit der Erscheinung
141
Von dem gesetzmäßigen Eintritte eben dieser Zeit abhängig ist. Sie selbst aber
wird wiederum durch den regelmäßig wechselnden Stand der Sonne bedingt.
Wie das Wasser aus den Quellseen gegen Norden fließt, rückt auch die Regen-
zeit nordwärts vor. Unter dem Äquator bereits mit dem Ende März be-35
ginnend, tritt sie, je tiefer hinab, um so später ein, und in der regenlosen
Zone des Unterlaufs verrät erst gegen Ende Juni der steigende Strom den
gewaltigen Zuwachs der Wasser. Aber wie in unverrückbarer Folge nimmt
nun diese Schwellung derart zu, daß um die Mitte August' der Fluß in
Ägypten seine Ufer überschreitet und allmählich das ganze Thal bis zum 40
Fuße der fernen Berge hin überflutet, um während des Oktober in seine
Grenzen zurückzukehren und ebenso gleichmäßig, als er gewachsen, zur niedrigsten
Ebbe herabzusinken. Das höchste, aber gewöhnliche Maß der Steigung beträgt
für das Delta heute noch genau ebenso wie in den Tagen des Herodot und
Mutarch fünfzehn bis sechzehn Fuß, und die Wassermenge, welche der 45
Strom in dieser Zeit dem Meere zuwälzt, ist zwanzigmal größer als zuvor.
Zuweilen bleibt dieselbe wohl auch unter jenem Maße zurück. Dann aber
treffen empfindliche Folgen die Bevölkerung, welche eben den Überschwem-
mungen allein ihre reichen Ernten verdankt. Plinius sagt: „Bei einer Höhe
von zwölf Fuß entsteht Hungersnot, selbst bei dreizehn herrscht noch Mangel, 50
vierzehn Fuß erregen Frohsinn, fünfzehn Sorglosigkeit, sechzehn aber all-
gemeinen Freudenrausch."
Der Ägypter, mit seinem ganzen Dasein an den Strom gewiesen, be-
trachtet die eben geschilderten Erscheinungen mit fast religiöser Scheu. Fromm
erzählt er, daß aus der Schale des Erzengels ein befruchtender Tropfen vom 55
Hinimel herabfalle und die Wasser emporhebe. Die Nacht aber, in welcher
dieses Wunder sich bereitet, nennt er „die Nacht des Tropfens." Man bringt
sie wachend auf den Söllern der Häuser zu, und ähnlich wie in unsern
Sylvesternächten werden in Spiel und Ernst allerlei Orakel versucht. Es ist
eine gnadenvolle, heilige Zeit. Nun hören nach dem Glauben des Volkes 60
alle Schmerzen, alle Krankheiten auf; selbst die Pest verliert ihre Schrecken,
und die von ihr Befallenen verlassen die Zelle, um wieder einzutreten in den
Kreis menschlichen Verkehrs.
Wirklich beginnt durch die ganze Natur ein neues Leben zu pulsieren.
Der anfangs leise steigende Strom wächst bald mit sichtbarer Schnelle. Feste 65
jeder Art wechseln nun miteinander; der Fellah streut den Samen der Moor-
hirse (Durra) aus, deren junges Grün am besten unter dem Wasser gedeiht;
der Strom bedeckt sich mit schwellenden Segeln. Gegen die Mitte des August
ist derselbe bei Kairo so hoch gestiegen, daß die Schleuse des großen Kanals
durchstochen werden kann, welcher hier vom Nil ausläuft und mit seinen Ver- 70
zweigungen das östliche Unterägypten, das alte Gosen, überschwemmt.
Etwa um den 26. September hat der Fluß die höchste Höhe erstiegen.
Das Festland ist verschwunden; nur die langen, vielgebrochenen Linien der
Dämme, nur die Städte und Dörfer aus ihnen tauchen im Schmucke der
Palmen und Minarets aus der nebelhauchenden Fläche. Ein ebenso reizendes 75
als großartiges Bild! Denn was man sieht, das ist kein Fluß, kein See,
142
sondern ein Meer, und Hunderte kleiner Inseln blitzen daraus auf, so daß
einst Herodot bei diesem Anblicke sich in den heimatlichen Archipel versetzt
wähnte.
80 Aber nach wenigen Wochen treten einzelne hoch gelegene Punkte wieder
ans dem Spiegel hervor, und bald streut der Fellah die Saat über den auf-
gelösten Boden, in den sie rasch versinkt. Er hat damit für die Haupternte
seine Arbeit gethan. Nicht einmal Furchen braucht er zu ziehen; höchstens,
daß er seine Ziegenherde darüber hintreibt und die Körner tiefer eintreten
85 läßt. Alles andere der Sonne und dem Nil anheimgebend, kehrt er erst wieder,
wenn die Halme unter der Last der Körner zur Erde sinken, um nun mit
der kurzen, fägeartigen Sichel sie abzuschneiden, aber auch sogleich eine zweite
Aussaat vorzubereiten. In dieser Periode, gleich als hätten sich die Jahres-
zeiten verkehrt, entfaltet die Natur Ägyptens ihre üppigste Pracht. Die Frische,
90 die Kraft, die Überfülle der Vegetation iibertrifft alles, was man in den ge-
priesensten Gegenden Europas bewundert. Das ganze Nilthal ist eine Prairie
voll Ähren und Blüten; berauschend wogen die Düfte der Orangen und
Mimosen, der Jonquillen, Lupinen und all der süßen Kleearten, und über
dieser gesegneten Erde wölbt sich in unbeschreiblicher Klarheit das Firmament,
95 wolkenlos bei Tag und wolkenlos bei Nacht; aber im Äther funkeln nah und
groß die Sterne.
Inzwischen füllt der Strom, der dieses Wunder schafft, mit jeder Woche.
Das Sinken des Nils erfolgt nach umgekehrter Regel wie sein Steigen. Zuerst
fast sichtbar beschleunigt, verzögert es sich immer mehr, und vom Dezember
100 an ist die Abnahme kaum noch bemerklich. Der Strom scheint dann einen
Stillstand erreicht zu haben, obwohl er in Wahrheit bis zum Wiederbeginne
der Sommerschwellung füllt. Mit dieser Veränderung seiner Größe aber hängt
nun die bereits erwähnte seiner Färbung aufs genaueste zusammen. So klar
im Frühlinge, ebenso trübe erscheint der Nil im Spätjahre.
105 Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung des Nils in ihrem vollen
Umfange, erinnert man sich noch einmal daran, daß an ihm und seinem
Wachsen das Leben eines ganzen Volkes hängt, daß in einem Lande von
mindestens sechshundert Quadratmeilen außer ihm weder Brunnen noch Bach
noch Regen die feuchte Labe spendet: so begreift man wohl die durch alle
110 Zeiten fortgeerbte Verehrung desselben.
Hermann Masius. Naturstudien. B. II. 18773. S. 174 ff. (Gekürzt.)
Vgl. Kirchhofs und Suppnn, Geogr. Charakterbilder: Nilthal. — Hölzel, Geogr.
Charakterbilder, Nr. 12: Das Nilthal und die Nilkatarakte bei Assuan.— (Furtwängler
und Urlichs, Denkmäler, T. 8).
47. Die Stadt Sansibar.
Sansibar ist seit Ende der siebziger Jahre das Augenmerk geworden für
die, welche Anteil an unserer afrikanischen Politik, am Handel und an der
Entwickelung der Bodenkultur auf dem Festlande nehmen: es ist der Sammel-
punkt aller dieser Bestrebungen in Ostafrika.
5 Sansibar ist aber auch eine Stadt sehr eigener Art, halb arabisch, halb
afrikanisch, mit etwas Einschluß europäischer Kultur oder Halbkultur; sie ist
143
das Urbild einer Stadt von Ostafrika, welches nur schwache Wiedergaben in
den Hauptplätzen an der Küste des Festlandes hat. Sansibar liegt unmittelbar
an der Bucht, es bietet von fern in seinen lichten Farben unter dem mattblauen
Himmel, umgeben von Mango- und Palmenhainen, einen immerhin wohllio
thuenden Anblick. Die Natur ist in lauem Dunste gebadet, die träumerische,
schläfrige Ruhe nimmt den Fremden gefangen, wirkt auf ihn erschlaffend; das
Leben ist demnach träge und erscheint einförmig. Die für Europäer bewohn-
baren Häuser sind arabischer Bauart. Es sind regelmäßige, viereckige Gebäude,
zwei Stockwerke hoch; das Innere weist einen offenen Lichtraum auf, so daß 15
von allen Seiten Luft in die Räume dringen kann. Die Mauern sind stark,
aus Korallenbrnch und Kalk aufgeführt, weiß getüncht; die Fenster sind hoch,
ganz oder teilweise mit Gittern bewehrt. Grün oder blau gestrichene Fenster-
läden halten die Sonne ab; die Thore sind massiv gearbeitet aus Teak- oder
auch Mangrovenholz, mit gefälligen arabischen Schnitzereien versehen. Einige 20
Gebäude stechen besonders ins Äuge: der alte und neue Sultanspalast, der
Harem, die Konsulatsgebäude, die französische und englische Mission und andere.
Äufsallend ist zwischen diesen freundlichen Häusern ein graues, altersschwaches
Fort, welches als Gefängnis dient. Niemand begehre diese Löcher zu sehen;
dort herrscht die Roheit, wie sie nur unser Mittelalter kannte. An das euro- 25
päische Viertel -schließt sich das der Araber und Hindu. Hier ist das Handels-
quartier, Reichtum und Armut sind hier beisammen; aber noch weiter liegen die
armseligen Hütten der Neger zwischen Haufen von Unflat. Dies sind die Freige-
lassenen, die Wangwana, die arbeitende lasttragendeKlasse der Bevölkerung, kräftig
und froh; sie sind es, die jeder Reisende als Träger für seine Karawane begehrt. 80
In der Umgegend stehen reizende Landhäuser wohlhabender Araber und Hindu
mit Gürten umgeben, die mit Verständnis angelegt sind. Das umliegende
Land ist bebaut, Zuckerrohr und Hirse (Mtama) sind vorherrschend, dann
Maniokbrod. Zahlreich sind Kokosnuß-Palmen, Bananen, Orangen-, Pome-
ranzen-Bäume. Ganze Strecken sind von ihnen bestanden; dazwischen bemerkt 35
man die Gewürznelke, den Zimmtbaum und uralte Mangobäume. Unter den
Einwohnern, die auf 75000 geschätzt werden, sind mancherlei Rassen und
Stämme vertreten: Europäer, Araber, Perser, Hindu, Belutschen, Somali,
Suaheli und andere Neger Afrikas, die ihr Geschick freiwillig oder unfreiwillig
hierher verschlagen. Sklaven werden noch heute gehalten, aber ein Sklaven-40
markt selbstverständlich nicht mehr.
Das Leben ist für den Europäer außerordentlich einförmig. Die brennen-
den Sonnenstrahlen nötigen ihn, das Hans bis einige Stunden vor Sonnen-
untergang zu hüten; die Gefahr des Sonnenstichs ist in den Mittagsstunden
eine sehr große. Am Abend beleben sich aber die Promenaden außerhalb der 45
Stadt, wo die Angehörigen verschiedener Nationen ihre Klubs haben und
gesellig sich vereinigen. Nach der Mahlzeit genießt man die erquickende Abend-
luft, ausgestreckt in den Lehnstühlen aus dem platten Dache des Hauses, von
wo ein Blick über den belebten Hasen und auf das Meer möglich ist. Die
Straßen zeigen nur zu häufig die arabische Nachlässigkeit und Unsauberkeit, 50
selbst in dem europäischen Viertel. Nun aber erst die schmalen Straßen und
144
engen Gäßchen in der arabischen Handelsstadt! Hier ist aber Leben nnd Verkehr
zn jeder Tageszeit, wenn anch nicht stets von schönster Färbnng. Die ara-
bischen Verkänfer thronen in den offenen Lüden inmitten der Kübel von Reis,
55 Mais, Gerste nnd Früchten aller Art; Inder nnd deren Frauen bieten leichte
Stoffe feil, Bombay-Manufaktur, Tücher mit wunderlichen Mustern in schreien-
den Farben und Schmucksachen. Die zierlichen Gestalten der Frauen mit
dem ovalen, bronzefarbenen Gesichte, der fein geschnittenen Nase und den großen
schwarzen oder dunkelbraunen Augen, der Kopf umrahmt von langem, schwarzem
60 Haare, ziehen unwillkürlich den Blick auf sich; ihre Kleidung ist farbenreich,
die Beine tragen dicke, silberne Ringe, und die nackten Füßchen, deren Nägel
mit Henna gefärbt sind, stecken in Pantoffeln. Alles Gewerbe wird vor aller
Augen betrieben. Reis wird enthülst, Gerste zu Mehl zerstampft und gerieben
in hölzernen Mörsern; hier werden Sandalen geflickt, Matten gewebt, Töpfer-
65 waren geknetet und gedreht, und geschickte Silberschmiede löten und ziselieren
die geschmackvollen Beschläge der arabischen Waffen und Waffengehünge. Da-
zwischen wird geprüft und verworfen, gefeilscht und erhandelt in vielen Sprachen
und im dichtesten Gedränge, das häufig noch durch einen Lastesel, den der
Treiber unter Geschrei vor sich herjagt, körpergeführlich wird. Nicht ohne
70 Anmut ist die Negerin in ihren Bewegungen inmitten dieses Gewirrs; ihre
Einkäufe trägt sie auf dem wolligen Kopfe, und sei es anch das kleinste Gefäß
von der Größe einer Tasse; der Oberkörper ist in voller Ruhe und hält,
sich wiegend in den Hüften, das Gleichgewicht so sicher, daß einen nie die
Befürchtung überkommt, das Gefäß könnte herunterfallen; dabei ist die Negerin
75 stets heiterster Laune und wechselt Begrüßungen und Scherze mit vielen Vorüber-
gehenden. Ein buntes Bild dieser Markt, welcher vieles für uns Europäer
Unschmackhafte übersehen läßt!
Schöne Gestalten sieht man unter den Arabern; ihre Haltung ist vor-
nehm, ihr Gebühren ruhig, wenngleich sie von sanguinischem Temperamente
80 sind; sie tragen stets Waffen, ans die sie großen Wert legen. Dieselben stehen
oft hoch im Preise, sind reich mit Silber beschlagen, ebenso die Dolche und
Wehrgehünge. Der Suaheli ahmt jenen nach. Waffen trügt fast jeder in San-
sibar: der wilde Belutsche hat ein ganzes Arsenal von Waffen in seinem
Gürtel, der Neger hat sein Dolchmesser am Ledergnrt, und der Somali schreitet
85 gleichgültig gegen seine Umgebung mit Schild und Speer durch die Straßen.
Nur der friedliebende Hindu und der verkommene Goanese, diese Mischlings-
geburt, welche die Fehler zweier Rassen in sich vereint und unter beständigem
Einflüsse des Alkohols steht, entbehren derselben.
Die Araber machen in Sansibar anch hinsichtlich ihres Benehmens einen
90 angenehmen Eindruck, sie sind voller Formen und wohlerzogen und begrüßen
den Europäer stets. Sitzen sie vor ihren Thüren, so laden sie zum
Nähertreten und Platznehmen ein; es ist dies meist nur Artigkeit, berührt
jedoch angenehm.
Anziehend und malerisch ist das Treiben vor dem Snltanspalaste. Den
95Hanptmoment bildet in dem Treiben die abendliche Flaggenparade: eine Musik-
bande schließt auf der Mitte des Platzes einen Kreis; der Seni des Hofstaates,
145
I = Astrolog I, ein weißbärtiger Araber, tritt mit einer Kontroll-Uhr an, deren
Zeiger er anscheinend anfmerksam verfolgt; er sieht jedoch gleichzeitig nach dem
Horizont, wahrscheinlich um sich zn überzeugen, daß die Sonne auch pünktlich ist.
Ans sein Zeichen wird die Flagge am Maste gestrichen, die Bande spielt die ioo
Nationalhymne, die Glocke schlägt zwölf Schläge (arabische Zeit), und zwei Sol-
daten feuern eine zweigliedrige Salve. Jetzt bietet sich ein wunderlicher Anblick:
die Wache der irregulären Truppe zieht ans; sie hat das Vorrecht, die Nacht-
wache zu stellen, um die sie vielleicht nicht beneidet wird. Regellos zieht sie
daher, ihr Kriegsgesang dringt schon verworren ans der nächsten Straße, unter 105
einem Vortänzer, dem Wachtnnteroffizier, führen sie einen Kriegstanz ans,
einigemal die Runde ans dem Platze machend. Alte, trichterförmige Lnnten-
flinten schwingen sie über dem Kopfe; die Kleidung ist beliebig, eben nicht
Uniform, zerlumpt; im Gürtel stecken Messer und Pistolen. Es sind zweifel-
hafte Gesellen, fragwürdige Gestalten, konfiszierte Gesichter. Nachts liegen sie HO
auf den Fliesen > Steinplatten I vor dem Palaste, die Waffe im Arm — man umgeht
sie weit; denn die Kleider bergen nicht allein diese Getreuen des Sultanats.
Es ist jammerschade, wie die Errungenschaften der Zivilisation, welche
in Sansibar einbrechen, so bald wieder durch die orientalische Nachlässigkeit
vernichtet werden. Um den neuen Snltanspalast herum, ein drei Stockwerk 115
hohes, quadratisches Gebäude, zu dem europäisches Material verwendet worden
ist, liegen Hansen von Schutt, alte Eisenteile, Röhren für Süßwasserleitnng;
alte Kisten mit dem Stempel des Ansgangsortes Hamburg sind aufgetürmt,
und niemand denkt daran, dieses Gerümpel fortschaffen zn lassen. Einen
wirklich betrübenden Anblick bot eine kleine Lokomotive ans der Promenade 120
von Sansibar; da stand sie mit zerbrochenen Gliedern, mit Rost überzogen, da
hatte sie ihr Leben ausgehaucht, niemand hatte ihr geholfen oder helfen können;
ihr Weg, den sie wohl nicht zn oft zurückgelegt hatte, war überwuchert und
erstickt in dem üppigen, trägen Klima.
Rust, Kapitänlieutenant a. D. Die deutsche Emin Pascha-Expedition 1890. S. 8 ff.
48. Ein Tagemarsch in Ostafrika.
Endlich war der Augenblick gekommen, wo wir unmittelbar vor der uns
gestellten Expedition standen, die den Zweck hatte, im allgemeinen dem Laufe
des Panganiflnsses — der von den Eingeborenen „Rufn," das heißt kurzweg
„Fluß", genannt wird — zu folgen und so nach dem Kilimandscharo, dem
höchsten Gebirge Afrikas, vorzudringen. 5
Den nächsten Morgen, als noch die Dunkelheit mit dem Lichte kämpfte,
wurde aufgebrochen, was sich aber keineswegs als leichte Sache erwies. Ob-
wohl die Pakete unsers Gepäcks alle gleich schwer waren, so entstand doch
ein wahrer Heidenlärm bei der Verteilung derselben. Es ist nicht zu leugnen,
daß bei dem unwegsamen Boden durch Urwälder, Sümpfe und Flüsse ein io
gleich schweres, aber umfangreicheres Stück oder Bündel ungleich schwieriger
zu handhaben und lästiger zn tragen ist als ein in der Form kleineres. So
mußten wir alle Energie aufbieten, um die Karawane in Fluß zu bringen.
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Ld. IV. 10
146
Endlich war der Zug geordnet. Voran schritt einer von den Unsrigen, dem
15 ein Schwarzer mit einer mächtigen deutschen Flagge folgte. Diese machte
ebensoviel Eindruck auf unsere Leute als auch auf die Eingeborenen, durch
deren Gebiet wir zogen. Obgleich nun die Flagge noch eine Gewichtszugabe
zu der übrigen Last bildete, wollte der Träger diese Ehre um keinen Preis
abtreten, mochte der Marsch noch so ermüdend sein und Schwierigkeiten
20 aller Art bieten: ja sobald ein Lagerplatz gewählt war, kletterte der
Bannerträger mit einer wirklich affenartigen Gewandtheit auf den höchsten
Baumwipfel, daselbst die Flagge aufpflanzend. Es folgten dem Bannerträger
nun im Einzelmarsche die Leute mit den Gepäckstücken. Zwischen je 12 bis
15 Lastträgern schritt ein Unterführer, um in Unglücksfüllen als Reservemann
25 einzuspringen und auch die Ordnung aufrecht zu halten. Den Schluß bildeten
die Schwächlinge und Trügen, denen deshalb auch eine größere Anzahl Unter-
führer beigegeben war. Die Nachhut aber stand unter der Aufsicht Weißer.
Wenn nun auch im Anfange die Karawane ziemlich aneinander geschloffen
war, so dehnte sie sich bis zum Schluffe meist so aus, daß die letzten nicht selten
30 erst ein paar Stunden später am Lagerplatze eintrafen als die ersten. Schuld
daran waren die verschiedensten Hindernisse, als Flüsse, Sümpfe, dicht ver-
wachsenes Gestrüpp, Zersprengen der Karawane durch reißende Tiere, Un-
glücksfälle, sowie häufiges Fortlaufen der Leute und Verfolgung derselben.
Von einem Wege war natürlich nie die Rede. Schon am ersten Tage,
35 also noch nahe der Küste, sollten wir eingehend in die Leiden und Verlegen-
heiten einer afrikanischen Entdeckungsreise eingeweiht werden.
Nachdem wir einen stattlichen Palmenwald verlassen, ging's in die Man-
grovesümpfe. Diese werden gebildet durch einen Baum, dessen Wurzeln oft-
l1/2 Meter hoch über den Boden herausragen, und der nur an der Küste
40 im Bereiche der Meeresflut sowie an Flußufern gedeiht. In der Flutzeit ist
alles mit Wasser bedeckt und lagert das Meer hier seinen Unrat ab. Die so
gebildeten Moräste sind mit Recht als Brutstätten des Fiebers gefürchtet.
Zahlreiche buntgefärbte Krabben und Seetiere führen hier an reichbesetzter
Tafel ein vergnügtes Dasein.
45 Nimmt man noch dazu, daß unendlich viele Rinnsale und Lachen dieses
Sumpfgebiet durchziehen, so kann man sich leicht ein Bild machen, wie es
hier um das Fortkommen einer schwer belasteten Karawane bestellt sein muß.
Nach mühevollem Marsche hatten wir endlich diese Waldungen und
Sümpfe hinter uns, dafür aber dehnte sich vor uns ein flacher Küstenstrich
50 aus, bestanden mit über mannshohem Grase, dem einige vereinzelte Baum
gruppen entragten, oder das auch hie und da von weiten Feldern üppig
wuchernden Zuckerrohres unterbrochen war. Der Boden jedoch war nur um
ein geringes trockener als in den schlimmen Mangrovesümpfen. Nur.hie und
da erhoben sich sanft geböschte Hügel, die sich dann meist von den Hütten
55 der Eingeborenen gekrönt zeigten, da die Hänge einen reichen Ertrag an Mais,
Bananen, süßen Kartoffeln (einer höchst wohlschmeckenden Art) und andern
Feldfrüchten liefern.
147
Auch wir wählten etwa gegen 2 Uhr mittaas einen dieser Hügel m
unserm Lagerplatz.
Es wurde nun sofort an die Arbeit geschritten, an der jeder ein für 60
allemal seinen Anteil zugewiesen bekam. In der Mitte des Lagers wurde
das Gepäck geordnet, aufgespeichert und dann sorglich mit einer Blähe bedeckt.
Dicht daran schlugen die Schwarzen unsere Zelte auf, brachten unsere Sachen
in Ordnung und sorgten für die erste Bequemlichkeit. Merkwürdig war, wie
diese Leute in kurzem sich all unsere kleinen Eigentümlichkeiten und Gewöhn-65
heiten gemerkt hatten, so daß sie nur in den seltensten Fällen einer Anweisung
bedurften. Wir Weißen aber hatten sofort begonnen, uns mit den Ein-
geborenen ins Benehmen zu setzen und Handelsbeziehungen mit ihnen an-
zuknüpfen. Bald hatten wir Eier, Schafe, Ziegen, Hühner, Früchte, Gemüse
und derartiges gegen unsere Waren eingetauscht. Dabei erwiesen sich die 70
Schwarzen als höchst kluge Handelsleute, die ihren Vorteil wohl zu wahren
wußten. Unterdessen wurden von unsern Leuten Kochlöcher gegraben und Wasser
gekocht und filtriert, um es dadurch unschädlich für die Gesundheit zu machen.
Ein Teil der Schwarzen baute kleine Laubhütten für sich selbst, in denen sie sich
sofort häuslich einrichteten. 75
Später, als wir weiter ins Innere vorgedrungen waren, kam als letzte
Arbeit die Boma, das heißt die Umzäunung des Lagers mit Dornhecken,
welche vor Angriffen von Menschen und Tieren einigermaßen schützt.
Dies alles nahm natürlich einige Stunden in Anspruch, während welcher
Zeit wir ziemlich von der Neugierde der Schwarzen geplagt waren. Der 80
Anblick unserer Schätze reizte nicht nur ihre Neugierde, sondern wir mußten
auch unsere Augen überall haben, da die Eingeborenen nur zu bereit waren,
sich eines oder das andere Stück anzueignen. Für uns hätte ja jeder Strick,
jedes Blatt Papier einen unersetzlichen Verlust gebildet; denn nicht die größten
Schätze Hütten uns auch nur ein Fetzchen Papier verschaffen können. 85
Erst nachdem all diese Geschäfte beendet waren, durften wir daran denken,
es uns bequem zu machen. Als Hanpterquicknng betrachteten wir eine gründliche
Reinigung unsers müden Körpers. In der Zwischenzeit ward unser frugales
Mahl hergestellt, und weil Hunger allemal der beste Koch ist, mundete es
herrlich. Den Durst löschten saftige Früchte, Kokosnüsse oder auch einfaches 90
Wasser, mit etwas Honig oder Fruchtsaft versetzt; Spirituosen während des
Tages zu trinken, würde geradezu Gift sein und bildet nur zu oft die Ursache
von Todesfällen.
Behaglich streckten wir uns nun im Schatten eines Baumes auf mehrere
Decken, während wir gegenseitig unsere Beobachtungen austauschten und er-95
gänzten. Sodann wurde unter Beiziehung eines Dolmetschers und eines
schwarzen Unterführers die Tagesordnung für den nächsten Marsch besprochen
und die nötigen Vorkehrungen getroffen.
Als es gegen Abend etwas kühler wurde, übernahm einer von uns die
Lagerwache, die andern ergaben sich nach Lust und Behagen kleinern Streifereien. ioo
Die Dörfer wurden besucht und Jagd auf alles gemacht, was da kreucht und
10*
fleugt, vom bunten Falter an bis zum reißenden Tiere; dann fischten wir
oder legten Sammlungen von Pflanzen und Mineralien an.
Nur zu rasch kam uns die Dunkelheit. Die mondhellen Nächte benützte
105 ich mit Vorliebe dazu, wilden Tieren nachzustellen, da dies die günstigste Zeit
hiezu ist. Kehrte ich von solchen Streifzügen zurück, so bot sich mir nicht
selten ein höchst belebtes, fremdartiges Bild.
Beim Scheine der Feuer haben unsere Leute einen Ball veranstaltet.
Unter den einförmigen Tönen des Tam-Tam, eines mit gegerbtem Felle
110 überspannten hohlen Holzklotzes, oder bei den schwermütigen Klängen eines höchst
einfachen Saiteninstrumentes bewegen sich die Tänzer, Männer und Frauen.
Wilder und wilder werden die Bewegungen, dazwischen gellen Schreie, wie
die eines Raubtieres, welche von den Tänzern in wilder Lust ausgestoßen
werden.
115 Wenn einer ermattet sich zu kurzer Rast auf den Rasen hinstreckt, so
nimmt ein anderer sofort seine Stelle ein, und so rasen sie fort bis tief in
die Nacht hinein. Der Tanz ist eine Hauptleidenschaft des Negers, dem er
selbst nach den anstrengendsten Märschen huldigt.
Und so sehr wir selbst auch die Ruhe nötig hatten, so mußten wir
120 doch die Leute gewähren lassen, um uns ihren guten Willen zu erhalten,
dessen wir gar sehr bedurften. Wir Europäer setzten uns unterdessen zusammen
und plauderten über die Heimat und unsere Lieben, während die phantastischen
Gruppen an uns vorüberrasten, bis uns die Rücksicht auf die Mühen des
nächsten Tages zur Ruhe mahnte.
125 Abwechselnd hatte einer von uns mit einigen schwarzen Soldaten die
Lagerwache, und schwer bewaffnet patrouillierten diese, unsern Schlaf zu hüten.
K. v. Gravenreuth. Eine Reise zu unsern schwarzen Landsleuten. — Jugendblätter (herausgeg. vvn
Jsabella Braun) I. 1889. S. 76 ff.
Vgl. Hölzel, Geogr. Charakterbilder Nr. 36: Massaisteppe und Kilimandscharo. —
Ad. Lehmann, Ethnographische Bilder, Nr. 3: Negerfamilie.
40. Die deutsche Kolonie Kamerun.
1. In südlicher und südwestlicher Richtung das fast ausschließlich mit Ur-
wald bedeckte Land durchbrechend, münden in den Golf von Guinea, da wo
die herrliche Insel Fernando Po aus den blauen Fluten des atlantischen Ozeans
sich erhebt, zwei Flüsse, der Kamerun und der Djamur oder Bimbiafluß, welche
5 in einen spitzen Winkel zusammenfließend an ihrer Mündung ein weites, über
dreißig Quadratmeilen umfassendes, gemeinsames Delta bilden. Das von
diesen beiden Strömen eingeschlossene Dreieck besteht auch oberhalb des Mün-
dungslandes zum größern Teile aus sumpfiger Niederung und wird im Westen
von einem vulkanischen, zu dem 4000 m hohen Kamerunpik ansteigenden
10 und an seinem Südende schroff in das Meer abfallenden Gebirgszuge be-
grenzt. Durch Vereinigung zweier Quellströme, des Wuri und Abo, gebildet,
ist der Kamerunfluß beinahe in seinem ganzen, freilich verhältnismäßig kurzen,
etwa sieben bis acht deutsche Meilen betragenden Laufe schiffbar; nur an
seinem obersten Teile, dicht unterhalb des genannten Zusammenflusses, wo er
— 149 —
sich in drei durch Querkanüle miteinander in Verbindung stehende und somit 15
zahlreiche Inseln bildende Arme teilt, wird er schmal, stellenweise flach und
nur für kleinere Boote befahrbar. Sv weit als der Kamerun das Delta
durchströmt, auf etwa fünf deutsche Meilen seines untern Laufes, gleicht er
eher einem tief in das Land sich hineinziehenden Meeresbusen als einem Flusse,
indem er hier eine Breite von wohl zehn bis fünfzehn Kilometer zeigt. Das 20
Mündungsland, entstanden durch Ablagerung der ungeheuern Schlammassen,
welche Kamerun und Djamur wie die meisten Flüsse Westafrikas mit sich
führen, wird von zahlreichen breitern und schmälern Kanälen durchzogen,
welche bald größere Flußarme miteinander verbinden, bald enger und enger
werden und als Sackgassen schließlich im Sumpfe verlaufen. In landschaft- 25
licher Beziehung zeigt das Delta ein sehr einförmiges, dürftiges Gepräge.
Den Baumbestand bildet fast ausschließlich die Mangrove, deren Wurzeln
netzförmig den kahlen, schlammigen Boden überspannen. Nur an einzelnen
höher gelegenen Stellen finden sich Weinpalmen, oder die stachligen Pandanen,
deren lange, schilfförmige, mit starken Dornenhaken besetzte Blätter in einer 30
Spirale um den Stamm geordnet sind, ziehen in dichten Hecken die Ufer sich
entlang und bilden oft die prächtigsten Gebüsche. Auch menschliche Ansiede-
lungen vermißt man im Delta. Nur hin und wieder zeigt sich ein Fischer-
kanoe, und an einer höhern Stelle des Ufers steht wohl eine einsame Hütte,
welche Fischer nach ergiebigem Fange aufsuchen, um zu rasten und ihre Beute 35
an der Sonne zu trocknen.
Oberhalb des Mündungslandes verengt sich der Strom, wenngleich er
auch hier noch eine viertel bis eine halbe deutsche Meile Breite hat und für
große Seeschiffe befahrbar ist. Während das rechte Ufer noch flach und
sumpfig bleibt, von Ölpalmenwaldung bedeckt, zeigen sich auf dem linkend
sanft ansteigende Höhen, aus welchen in ununterbrochener Folge und recht
malerischer Gruppierung eine Reihe Negerdörfer sich hinzieht, während vor
denselben im Flusse eine Anzahl Schiffe, die Wohnungen und Niederlagen
der europäischen Kaufleute, verankert liegen; denn hier ist die Handelsstation
„Kamerun", über welcher jetzt die schwarz-weiß-rote Fahne weht. 45
Die Ortschaften der Neger gewähren einen recht freundlichen Anblick.
Überall herrscht die größte Reinlichkeit und Sauberkeit. Die niedrigen, aus
Mattengeflecht, nicht aus Lehm hergestellten Hütten stehen zerstreut, umgeben
von üppigen Pisang- und Bananenplantagen. Hin und wieder erhebt sich
eine schlanke Kokospalme, die mit ihren langen Federblättern die Strohdächer 50
beschattet, belebt von goldgelben Webervögeln, deren künstliche Beutelnester
an den Blattspitzen hängen. Jams- und Kassave- (Maniok-) Felder schließen
an die Ortschaften sich an, soweit das Hügelland reicht; dann aber hemmt
dichte, dunkle Ölpalmenwaldung die Schritte. In üppigster Fülle, aus
Büschen, Stauden und Pflanzen gebildet, schießt das Unterholz auf und ver-55
wirrt sich zu einem undurchdringlichen Dickicht: saftige, breitblütterige Kanna-
sRohr-j Arten, Farne mit ihren zarten, mehrfach und mannigfach gefiederten Blät-
tern, Örchideen, welche die modernden Reste alter Baumstämme bedecken, da-
zwischen das Heer der Lianen, der Schlingpflanzen, welche bald dünn wie
150
60 Zwirnsfäden, bald starken Ästen gleich in phantastischen Windungen die
Stämme umschlingen, Baum und Zweige verbinden, alles wie mit einem
dichten Netzwerke umspannen.
Übereinstimmend mit der Üppigkeit des Pflanzenwuchses entwickelt sich
die Tierwelt in großer Mannigfaltigkeit. Auf den Lichtungen in: Walde,
65 auf den schmalen, sich hindurchziehenden Pfaden, wo die Sonne das dichte
Laubdach durchbricht und die duftenden Blüten der Pflanzen und Sträucher
öffnet, schwärmen zahllose Schmetterlinge in reicher Farbenpracht. Wespen
mit metallisch schimmernden Flügeln, bunte Käfer, namentlich die Familie
der Bockkäfer, sind reich vertreten. Gewandt laufen Eichhörnchen die Baum-
70 stämme hinauf, um von den reisen Früchten zu naschen. Große Fledermäuse
hängen an den Zweigen und streichen aufgeschreckt im Zickzack durch die Luft,
um sofort in dichtes Gebüsch wieder einzufallen. Rotschnäbelige K'önigsfischer
sitzen träumerisch auf trockenen Baumwipfeln. Die kleinen Honigsauger oder
Sonnenvögel, deren Gefieder in allen Metallfarben glänzt und prächtig im
75 Sonnenscheine funkelt, die Vertreter der Kolibris in der alten Welt, schaukeln
sich in den Schlingpflanzen und stehen flatternd vor den Blüten, die sie mit
ihren langen, feinen Schnäbeln nach Käfern durchsuchen. Auf Insekten lauernd
sitzen an den Baumstämmen große Eidechsen, die Agamen, bei unserm Er-
scheinen bedächtig mit den feuerroten Köpfen nickend. Laut krächzend streichen
80 Scharen von Graupapageien über die Baumwipfel, während die Zibethkatze
durch das Dickicht schleicht, und auf die zierliche, weißgefleckte Buschantilope
lauert im Gestrüppe das größte Raubtier der Kamerungegend, der geschmeidige
Leopard.
Neben diesen interessanten Formen beherbergt der Urwald unter
85 seinen tierischen Bewohnern aber auch viele, welche dem Europäer sowohl
wie dem Eingeborenen zur größten Plage werden. Die Mücken oder Mos-
kitos gehören natürlich zu den gewöhnlichen Erscheinungen. Viel lästiger
als diese aber werden die Sandfliegeu, mikroskopisch kleine Insekten, welche
zu Tausenden ihr Opfer überfallen, Gesicht und Hände plötzlich schwarz be-
90 decken und ein unerträgliches Jucken auf der Haut erzeugen. Ein anderes
Insekt, welchen! der Beherrscher der Erde ohnmächtig entgegentritt, ist die
Wanderameise. In dichtgeschlossenen Reihen marschieren die nach Millionen
zählenden Scharen dieser Tiere durch den Wald. Als ein schwarzes, etwa
zollbreites Band zieht sich der Zug auf dem Boden durch das Gras hin.
95 Sobald Wege oder freie Plätze zu überschreiten sind, werden zur Sicherung
der Schar die Soldaten aufgestellt. Diese haben die doppelte Größe der
andern Ameisen und dicke, mit starken Zangen bewehrte Köpfe. Sie bilden
zu beiden Seiten des Zuges Spalier, die drohenden Waffen nach außen und
in die Höhe richtend. Zwischen ihnen hindurch drängen sich neben- und über-
100 einander immer vorwärts die Wandernden. Man kann stundenlang den Zug
beobachten, ohne das Ende oder nur eine Verminderung der Wanderer wahr-
zunehmen. Sobald die voraufziehenden Plänkler des wandernden Heeres eine
Stelle gefunden haben, welche Beute liefert, breiten die Ankommenden sich
über das Gebiet aus. Jeder Grashalm, jedes Blatt, jeder Zweig ist jetzt
151
mit beit Insekten bedeckt. Was von lebenden Wesen nicht eiligst bei Annähe-105
rung der Ameisen entflieht, muß ihnen erliegen. Alles tierische Leben wird
an der betreffenden Waldesstelle vernichtet. Aber auch der Mensch muß sich
hüten, an einen solchen von Wanderameisen überschwemmten Platz zu geraten;
denn im Augenblicke sind Hunderte an den Beinen in die Höhe gelaufen und
rächen sich für die Störung mit wütenden Bissen. 110
In den Qnellflüssen des Kamerun, namentlich im Wuri, sind die Fluß-
pferde außerordentlich häufig; dort wintmelt es auch von den stetigen Be-
gleitern jener Dickhäuter, den Krokodilen, und in den Vorbergen des Kamerun-
gebirges treten Elefanten in ungemeiner Häufigkeit auf. Nicht selten werden
von den Eingeborenen Elefantenzähne gebracht, welche ein Gewicht von 120115
bis 150 Pfund aufweisen.
2. Die Eingeborenen der Kamernngegend sind im allgemeitten von
schönem, kräftigem Körperbau, haben aber häßliche Gesichtszüge, was besonders
bei dem weiblichen Geschlechte auffällt. Ihre Hautfarbe ist ein ziemlich helles
Braun. Hinsichtlich ihrer geistigen Fähigkeiten stehen sie hinter vielen andern 120
der westafrikanischen Küstenstämme zurück. Es ist ein stumpfes, träges, der
Bildung wenig zugängliches Volk, daher auch die dort angestellten englischen
Missionäre nur geringe Fortschritte machen. Die Kleidung besteht sowohl bei.
Männern wie bei Frauen nur in einem schmalen, um die Hüften geschlungenen
Streifen Baumwollenzeuges, welches von den Europäern eingeführt wird. In 125
Ermangelung eines solchen wird eilt Gürtel aus trockenen Bananenblättern
angefertigt. Kinder gehen ganz nackt. Die Weiber durchbohren ihre Ohr-
lappen, bisweilen auch die Nasenscheidewand und stecken durch die entstandenen
Löcher, um dieselben zu erweitern, Pfropfen von Gras und Bananenblättern,
welche nach und nach mit größern vertauscht werden, so daß die Ohrlappen 150
schließlich in einen großen Ring ausgezogen sind. Auch verwenden sie viel
Sorgfalt auf die Herstellung recht künstlicher Haartrachten, indem sie einen
vom Wirbel in Spiralen um den Kopf laufenden Scheitel oder eine Scheitelttng
von drei konzentrischen Kreisen abteilen und das Haar zwischen den Scheiteln
in zahlreiche kleine Flechten zusammendrehen, durch welche dann häufig ein 135
recht künstlich aus Elfenbein geschnitzter und mit Ebenholz ausgelegter Pfeil
gesteckt wird. Wie bei allen Negerstämmen haben die Frauen einen sehr
untergeordneten Rang, gelten kaum mehr als Haustiere und bilden neben den
Sklaven das Besitztum des Mannes.
Staatliche Einrichtungen fehlen bei den Kamerunnegern fast vollständig. 110
Die einzelnen Ortschaften haben ihre Häuptlinge, welche durchaus unabhängig
einander gegenüberstehen, soweit nicht der mächtigere einen Einfluß aus die
Nachbarn zu üben im stände ist. Beständiger Hader und Streit wird natür-
lich die Folge solcher zerrütteten Verhältnisse, so daß auch die Ortschaften des-
selben Stammes in dauernder Fehde miteinander liegen. Da der Tod eines >15
freien Mannes, auch wenn letzterer im Kriege gefallen, Blutrache fordert,
solche aber wieder eine neue seitens der Gegenpartei nach sich zieht, so können
die Kämpfe niemals beigelegt werden.
152
Die starke Einfuhr von Schußwaffen aller Art durch die Europäer hat die
150 einheimischen Waffenarten, Lanzen, Speere und Pfeile, vollständig verdrängt.
Meistenteils sind Fenerschloßgewehre im Gebrauch, natürlich ganz elende Schieß-
prügel, die, kaum begreiflich, doch die ungeheuere Ladung groben Pulvers aus-
halten, welche die Neger hineinstecken. Daneben findet man aber auch Hinter-
laderbüchsen. Trotz solcher Bewaffnung bleiben die Kämpfe recht harmlos, da die
155 Neger mit den Gewehren nicht umzugehen lernen. Das Aufblitzen des Pulvers
in der Pfanne fürchtend, wendet der Schütze beim Losdrücken den Kopf weg;
an du Treffen ist da natürlich nicht zu denken. So werden denn in den Ge-
fechten nur wenige Leute verwundet und zwar in der Regel nicht solche, welche
in der Schlachtreihe stehen, sondern Unbeteiligte, die eine fehlgegangene Kugel
160 zufällig erreicht. Auch kleine Böller werden benutzt. Da dieselben keine Lafetten
haben, so überschlagen sie sich gewöhnlich nach dem Schusse durch die Rück-
wirkung der starken Ladung und erscheinen deshalb den Negern höchst respekt-
einflößend. Nur die mutigsten Leute wagen es, die Böller zu bedienen. Weil
aber auch sie ihr wertvolles Leben nicht tollkühn einer Gefahr aussetzen mögen,
165 so stecken sie auf das Zündloch einen Pfropfen angefeuchteten Pulvers, welcher
angezündet langsam abbrennt und so dem betreffenden Kanonier Zeit gibt,
sein kostbares Ich hinter einem Baume oder Walle in Sicherheit zu bringen,
um dort die Wirkung seiner kühnen That abzuwarten. Zur Kriegstracht ge-
hört neben dem Gewehre, einer Kürbisflasche zur Aufnahme des Pulvers und
170 einem Lederbentel für das Blei, was beides an einem Gehänge über die linke
Schulter getragen wird, auch eine Kriegskappe, welche aus Flechtwerk her-
gestellt, mit Ziegenfell überzogen oder mit roten Papageifedern geschmückt wird.
Während meines Aufenthalts in Kamerun dienten als Kriegskappen auch einige
preußische Pickelhauben und sogar ein alter Damenstrohhut, den die Tochter
175 eines englischen Missionärs abgelegt hatte, und um den der Besitzer sehr
beneidet wurde. Beide Krieg führende Parteien nehmen nun in der Regel
Verteidigungsstellungen ein, verschanzen sich gegeneinander und schießen erfolg-
los auf die gegenseitigen Verhaue, wochenlang, ohne Fortschritte zu machen,
wenn es nicht der einen Partei gelingt, durch Überrumpelung einen Vorteil
180 über den Gegner zu erringen. Auch zu Wasser werden Gefechte geliefert.
Die ungeheuren Kriegskanoes, deren sich die Neger hierbei bedienen, fassen
50 bis 60 Mann, von welchen der größte Teil die Ruder führt, während die
übrigen mit Büchsen bewaffnet sind. Zwei feindliche Kanoes halten sich, ein-
ander beschießend, in achtungsvoller Entfernung. Sobald ans dem einen ein
185 Schuß fällt, liegt die Bemannung des Gegners in der Regel auf dem Boden
des Fahrzeuges oder springt auch wohl über Bord, wenn die Kugel allzunahe
über die Köpfe hinzischte. Auf solche Weise werden die Kriege zwecklos monate-
lang geführt. Hin und wieder erhält die Erbitterung durch das Abfangen
einzelner Leute, denen natürlich sofort der Kopf abgeschnitten wird, neue
190 Nahrung; schließlich ermüden die Parteien oder werden durch den Verlust
hervorragender Personen entmutigt, und es tritt eine längere Ruhe ein, bis
der ungesühnte Tod eines im Kriege Gefallenen wieder Vorwand zu einem
Morde und damit Anlaß zu neuen Kümpfen wird.
153
Die europäischen Kaufleute haben, was bereits angedeutet wurde,
in Kamerun wie in den meisten sogenannten „Ölflüssen" an der Westafrika-195
Nischen Küste keine Faktoreien am Lande, sondern wohnen mit Hab und Gut
auf Schiffen, welche im Flusse verankert sind. Es geschieht dies einmal aus
dem Grunde, weil man den Aufenthalt auf dem Flusse für gesünder hält als
das Wohnen auf dem Lande, und dann auch der Sicherheit wegen, zum
Schutze gegen Belästigungen seitens der Neger, gegen deren unvermeidliche 200
Diebereien und gegen die Störungen, welche der beständige Hader der Schwarzen
untereinander bereitet. Oftmals ist es auch vorgekommen, daß die Neger,
unzufrieden mit den ihnen für das Palmöl gebotenen Preisen, eine Handels-
sperre einführten, nicht allein den Verkehr mit den Kaufleuten abbrachen, son-
dern diese auch verhinderten, mit ihren Booten den Fluß zu befahren oder 205
an das Land zu kommen, eine Maßregel, welcher die Europäer machtlos gegen-
liberstanden, solange Kamerun freies Gebiet war und nicht eine Staatsgewalt
sich einmischen konnte. Die schwimmenden Wohnungen und Niederlagen der
europäischen Kaufleute sind zweierlei Art. Entweder werden die mit Tausch-
waren einlaufenden Seeschiffe im Strome verankert, abgetakelt, ihre Decke 210
zum Schutze gegen die glühenden Sonnenstrahlen mit einem Dache ver-
sehen und bleiben so lange liegen, bis alle Waren verkauft und der
Schiffsraum dafür mit Palmöl, Elfenbein, Palmkernen,. Rotholz und
andern Ausfuhrartikeln gefüllt ist, oder aber es werden — wie das seitens
der deutschen Häuser Woermann und Janssen und Thormühlen, welche neben 215
einigen englischen Firmen den Handel in Kamerun in Händen haben, geschieht
— eigens für den Zweck eingerichtete Schiffsrümpfe, sogenannte „Hulks",
dauernd verankert, in welche die je nach Erfordernis mehrmals im Jahre
eintreffenden Schiffe die für den Tauschhandel eingeführten Güter ausladen,
um dagegen die eingehandelten Ausfuhrwaren in Empfang zu nehmen. Zu 220
ihrer Bedienung und zur Arbeit auf den Schiffen haben die Kaufleute, da
die Eingeborenen von Kamerun zu träge und zu jeder Arbeit unbrauchbar
find, Kruneger im Dienst. Es sind dies die Eingeborenen vom Kap Palmas sin
Oberguineaj, welche sich stets auf mehrere Jahre auf den Schiffen vermieten, um
nach Ablauf dieser Zeit von Landsleuten abgelöst zu werden. Als Köche werden 225
hingegen die Eingeborenen von Akkra an der Goldküste gern beschäftigt. In
ihren schmalen Kanoes bringen die Neger die Landeserzeugniffe — die wert-
vollsten find Palmöl und Elfenbein — an Bord der Hulks, um sie gegen
Baumwollenzeuge, Rum, Tabak, Gewehre, Pulver, Salz, Seife, Perlen, Band-
eisen, Messer und andere Erzeugnisse europäischer Industrie umzutauschen. 280
Dieser Tauschhandel ist sehr langwierig, da die Neger die Bedeutung des
Wortes Zeit nicht kennen, lange überlegen, aber auch viel Schlauheit ent-
wickeln, um einen möglichst hohen Preis zu erzielen. Bedeutendem schwarzen
Händlern machen die Kaufleute, um deren Kundschaft sich zu sichern, oft wert-
volle Geschenke, und nicht selten findet man daher in den armseligen Matten- 235
Hütten große, mit Goldrahmen versehene Spiegel, prächtige Vasen und andere
Luxusgegenstände, welche der Neger kaum zu würdigen versteht.
Anton Reichen o w. Deutsche Revue. 9. Jadrg. Bd. IV. 1884. S. 95 ff.
154
50. Bei den Indianern Kanadas.
1. Während die Indianer der Vereinigten Staaten seit einer Reihe von
Jahrzehnten in fast ununterbrochenen Aufstünden und Kriegen gegen die
Weißen begriffen waren und vor kurzem noch bald im fernsten Nordosten,
bald in den Felsengebirgen oder in den mexikanischen Grenzlündern der an-
5 dringenden Zivilisation den verzweifeltsten Widerstand entgegensetzten, hat man
von den kanadischen Indianern bis auf die jüngste Zeit nur wenig zu hören
bekommen. Zu den Zeiten des französisch-englifchen Krieges im vorigen Jahr-
hundert spielten die „sechs Nationen", besonders die Irokesen und Huronen,
eine bedeutende Rolle. Aber sie ist längst vorbei. Die mächtigen, volk-
10 reichen sechs Nationen sind in alle Winde zerstreut, und aus den wilden,
tapfern Irokesen sind friedliche Ackerbauer geworden, welche einzelne Länder-
striche am untern St. Lorenzstrom in der Nähe von Montreal und Quebec
bewohnen.
Wie in den Vereinigten Staaten, so sind auch in den kanadischen Pro-
I5vinzen Englands die Prairieen und Felsengebirge das Hauptgebiet der
Indianer; aber diese bilden in Kanada einen viel wichtigern und einflußreichern
Faktor als in dem großen Nachbarlande. Während die Viertelmillion In-
dianer der Union auf „Reservationen" [b. i. von der Regierung ihnen einge-
räumten Gebietenj untergebracht sind und nur einen verschwindenden Bruchteil
20 der weißen Millionen-Bevölkerung bilden, leben von den hundertzwanzigtausend
kanadischen Indianern nur etwa dreißigtausend in festen Ansiedelungen. Der
große Rest sind Jäger, Nomaden, Wilde in mancher Bedeutung des Wortes.
Dazu kommt, daß ihr etwa zwei Millionen englische Quadratmeilen um-
fassendes Revier in dem großen, einsamen Nordwesten des Kontinents nur
25 von etwa der doppelten Zahl Weißen bewohnt wird, sie demnach ein Drittel
der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachen.
Man begegnet ihnen deshalb auch überall: aus den großen Verkehrs-
wegen und in den Städten wie in den ausgedehnten Wäldern und Prairieen,
dort ziemlich harmlos, hier immerhin noch recht gefährlich. Nach Winnipeg,
80 der Hauptstadt dieses ungeheuern Landes, dem man beinahe den Namen des
englischen Sibirien beilegen möchte, kommen die Rothäute nur mehr im Ge-
folge der Weißen. Um die Indianer jedoch in ihrem vollstättdig wilden Zustande,
ja beinahe noch in der gleichen Verfassung zu sehen, wie sie vor der Be-
rührung mit den Weißen noch gewesen, muß man über Winnipeg hinaus
85 weiter nach Westen wandern. Dort in den Prairieen nördlich von Dakota
ist das heute noch von Weißen wenig besuchte Revier der tapfersten und
wildesten Jndianerstämme, vor allein der sogenannten „Schwarzfüße". Inner-
halb ihrer mehrere Hunderttausend engl. Quadratmeilen umfassenden Jagd-
gründe wird man kaum eine größere Ansiedelung der Weißen finden. Als
40 ich im Jahre 1883 aus der eben vollendeten Strecke der Kanada-Pacific-Eisen-
bahn bis gegen das schon im Gebiete der Schwarzfüße gelegene Regina fuhr,
gewahrte ich allerdings einige eben entstandene Ansiedelungen unternehmender,
tollkühner Schotten; aber die Bauart dieser Häuser, die Lage der Ansiede-
155
lungert selbst ließen aus die gefährliche Nachbarschaft schließen. Heute fuhrt
die Eisenbahn bereits mitten durch das Jndianergebiet, ohne jedoch vorläufig 45
die Verhältnisse besonders geändert zu haben. Ihr Einfluß erstreckt sich nur
ans die unmittelbar an der Bahnlinie gelegenen Strecken. Weiter hinaus
herrschen dieselben Zustände wie vor hundert Jahren. Die Schwarzfüße sind
in ewigenr Kriege mit den andern Stämmen begriffen; aber auch dieser Krieg
hat aus die Stärke und Macht der Indianer höchstens insofern Einfluß, als 50
sie dadurch nur noch wilder, grausamer unb tapferer werden. Die Ursache
dieser durch Generationen fortgesetzten Fehden sind zumeist gegenseitige Dieb-
stähle. Wie die Nomaden in den afrikanischen Wüsten, so bestehlen und be-
rauben sie einander, wo sie nur immer körmen, schneiden ihren gefallenen
Gegnern die Skalpe ab und machen die gefangenen Frauen zu Sklaven. Sie 55
sind von derselben Rasse wie die in den Vereinigten Staaten hausenden
„Dickbäuche", aber die gemeinschaftliche Abstammung hindert sie nicht, einander
bis auf den Tod zu bekriegen.
Diejenigen, welche ich zu sehen Gelegenheit hatte, zeichneten sich durch
große, kräftige, wohl proportionierte Körpergestalt und intelligente Gesichts-60
züge vor den Indianern anderer Stämme arrs. Ihre Augen waren klar
und von drrrchdringendem Blicke, ihre Backenknochen weniger stark hervortretend,
die Lippen dünner, die Nase schöner gelvölbt als bei andern Stämmen. Ihr
Anzug rvar von jenem der übrigen Prairie-Indianer wenig verschieden: Hemden
aus Büffelleder, mit Glasperlen-Stickereien und Lederstriemen reich besetzt, 65
enge, die Schenkel hirraufreichende Gamaschen, perlenbesetzte Mokkassins seine
Art Schnürstiefel von Pelzwerkj, reicher Federschmuck in den Haaren und
vorzüglich gegerbte, weiche Büffelhäute über die Schultern geworfen. Krieger
wie Frauen beschmieren sich Backen, Stirne und Nasenrücken mit dem
grellsten Zinnober. Ich habe diese sonderbare Gesichtszierde hier wie unter 70
den Felsengebirgsstämmen in Kolorado und sogar in Neu-Mexiko und Arizona
wahrgenommen, selbst bei solchen, welche heute irr täglichem Umgänge mit beit
Weißen stehen und von dieserr hänsig auf das dem Auge des Bleichgesichtes
Unschöne und Lächerliche dieser Mode aufmerksam gemacht werden. Die wie
eine Art Maltesermantel getragenen Büffelhäute wurden stets von den Weibern 75
in unübertrefflicher Weise gegerbt und mit rohen Figuren bemalt. Heute ist
diese Kunst im Abnehmen begriffen. Gewöhnliche, baumwollene Decken vorr
grellroter oder blauer Farbe werden ihnen zu so billigem Preise geliefert,
daß sie immer mehr die schönen, weichen Büffelfelle verdrängen. Ich rvar
selbst noch so glücklich, zwei derartige Felle gegen meine eigene Reisedecke und 80
etrva ein Pfund Thee, das Lieblirrgsgetränk der Indianer, umzutauschen.
Indessen richtet sich die Bekleidung auch bei den Schwarzfüßen vollständig
nach der Jahreszeit, und die geschilderte Tracht gilt mehr für die Winter-
monate, während in den heißen Sommermonaten die ganze Bekleidung in
einem dünnen, ledernen Lendenschurz besteht. Dann ist allerdings der nackte 85
Körper mit allerhand grotesken Malereien, hauptsächlich in hochrot oder gelb,
bedeckt.
2. Die Schwarzfüße zerfallen in siinf verschiedene, eng miteinander ver-
156
brüderte Stämme und diese wieder in mehrere Banden, deren jede ihren
90 eigenen Häuptling besitzt. Aber ein Oberhaupt sämtlicher Stämme gibt es
nicht. In jedem Stamme, in jeder Bande ist der Häuptling der Vollstrecker
des Volkswillens, wie er sich in dem Rate der Krieger und Ältesten äußert.
Für denjenigen, der eine oder die andere Sprache der Rothäute versteht
— und sie sind nicht schwer zu erlernen — sind diese Konzilien oder „Pau-
95 Waus" sehr interessant. Die Indianer sind vorzügliche Redner und bereiten
sich für ihre „Reden" ebenso sorgfältig vor, wie es nur irgend ein Reichs-
tagsabgeordneter thun kann. Der Flug ihrer Gedanken ist so unendlich wie die
Prairieen, in welchen sie umherschwärmen, und ihre Reden sind das getreue
Echo der sie umgebenden Natur. Die Jndianersprachen sind durchschnittlich
100 so wortarm, daß sie, um zartere Formen oder politische Feinheiten aus-
zudrücken, zu Vergleichen aus der Natur Zuflucht nehmen. Für die vielen
durch den Umgang mit den Weißen oder doch durch diese unter ihnen neu
eingeführten Begriffe haben sie ganz eigentümliche beschreibende Namen; eine
Flinte ist beispielsweise ein „Ding zum Schießen," ein Glas ein „Ding zum
105Trinken." Beim Sprechen und besonders beim Erzählen von Begebenheiten
begleiten sie die Worte durch entsprechende Gebärden und Bewegungen von sehr
wirksamer, bezeichnender Art, so daß selbst der der Sprache Unkundige
den Inhalt der Erzählung unschwer erraten kann. Diese bei den Indianern
höchst entwickelte Gebärdensprache dient auch als Verständigungsmittel unter
110 den verschiedensprachigen Stämmen. Gewisse herkömmliche Zeichen sind über
die ganzen, eine Million Quadratmeilen ausgedehnten Prairien bekannt, und
soweit eben das Auge reichen kann, wird ein Indianer dem andern, auch
wenn er einem fremden Stamme angehört, das Nahen eines oder mehrerer
Büffel, die Zahl und Stärke weißer Trapper jJügerj oder sonst dergleichen
115 ankündigen können.
Die Häuptlinge der Schwarzfiiße werden gewöhnlich aus den tapfersten
und weisesten Männern des Stammes erwählt, doch kommt es auch vor,
daß sie diese Würde von ihrem Vater ererben. Aber ihre Herrschaft stützt
sich einfach ans den Volkswillen. Hat sich die Nation über die Wahl eines
120 Häuptlings geeinigt, so überläßt sie ihm auch willig die Herrschaft. Ungehorsam
gegenüber seinen Befehlen würde die Todesstrafe nach sich ziehen. Er ist Ober-
kommandant der „Armee" in einem Kriege und besitzt auch im Frieden großen
Einfluß auf die Entschließungen im Volksrate, weshalb sich die kanadische
Regierung diese Indianer-Durchlauchten in der Regel durch Geschenke von
125 Pferden, Gewehren und dergleichen zu guten Freunden macht.
Die zahlreichen Missionäre, welche ganz Kanada durchziehen und in jeder
Ansiedelung zu finden sind, haben keine besondern Erfolge bei den Schwarz-
siißen aufzuweisen. Diese sind Erzheiden geblieben, abergläubisch, durch ihre
dem Fetischdienste huldigenden Medizin-Männer geleitet; aber doch glauben
130 sie an einen guten und einen bösen Gott, etwa den Ormuzd und Ahriman
Amerikas, ebenso auch an die Unsterblichkeit der Seele. Nur können sie sich
den Begriff der Seele nicht recht klar machen, sondern verwechseln ihn häufig
mit dem Körper. Mit den andern Prairie-Indianern glauben auch sie, daß
sie in derselben Verfassung, in welcher sie aus dem Leben scheiden, auch in
die ewigen Jagdgründe gelangen. Ein Blinder oder Lahmer ist demnach auch 135
im Jenseits blind oder lahm. Aus dieser Ursache ist ihnen auch nichts daran
gelegen, wenn sie im Kampfe in der Blüte und Kraft ihres Lebens erliegen,
weil sie dann in Ewigkeit jung und kräftig bleiben. Es ist dies eine der
Hauptursachen ihrer Tapferkeit und Tollkühnheit.
Damit die wackern Krieger im Jenseits auch ihre Waffen und Pferde 140
zum Jagen haben, werden die erstem zu der in den besten Kriegsschmuck ge-
kleideten Leiche gelegt, die Lieblingspferde des Verstorbenen jedoch erschossen
und neben ihm beerdigt. Die Leichen selbst werden entweder in sitzender Stel-
lung in ein Zelt oder ein kleines Blockhaus gebracht, und die Waffen, Bogen,
Pfeile, Flinte und Schild, an der Außenwand aufgehängt. 145
Die beliebteste Bestattnngsart der Schwarzfüße ist jedoch die Beisetzung
auf hohen Gerüsten außer dem Bereiche der Wölfe, die zur Nachtzeit mit den
trauernden Frauen und Verwandten um die Wette heulen. Ein eigentüm-
licher Gebrauch herrscht beim Tode eines Kindes. Kaum hat sich die
Nachricht hiervon im Lager verbreitet, 'so stürzen auch schon sämtliche Be-150
wohner desselben herbei und berauben das Zelt der unglücklichen Eltern seines
Inhalts, selbst die Kleidungsstücke nicht ausgenommen. Prophezeit der Medizin-
mann deshalb den herannahenden Tod eines Kindes, so schaffen die Eltern
gewöhnlich im geheimen ihre wertvollste Habe beiseite.
Und eine solche wertvollere Habe besitzen die Schwarzfüße in viel aus-155
gedehnterm Maße als irgend ein anderer Jndianerstamm des Kontinents.
Während andere, Zigeunern gleich, in zerlumpte Kleidungsstücke der Weißen
gehüllt, einen Cylinder oder Militürtschako auf dem Kopfe und in elenden,
durchlöcherten Leinwandzelten wohnend, einen ebenso traurigen als lächerlichen
Anblick darbieten, ist bei den Schwarzfüßen alles rein indianischen Ursprungs, 160
und die Zelte wie deren Einrichtung zeugen von einem gewissen Wohlstände und
von Lebenskraft. Die geräumigen, spitz zulaufenden Zelte der Schwarzfüße
sind mit zahlreichen Büffelfellen bekleidet, welche mit verschiedenen Tier-
bildern, Adlern, Schlangen, Elentieren und Büffeln, übermalt sind. Die
Häuptlingszelte sind etwa fünfzehn Fuß hoch und an der Basis von ebenso 165
großem Durchmesser. Das Häuptlingszelt, welches ich in einer kleinen An-
siedelung sah, war von zwölf langen Zeltstangen getragen, die indessen über
die Spitze des Zeltes noch weit hervorstanden und ein kleines, segelartiges
Stück Fell trugen, wahrscheinlich um die obere Öffnung für den Rauchdurchzug
gegen den Wind zu schützen. Der Eingang wurde durch ein kleines, mit 170
Pelzen verhängtes Loch in der Zeltwand, etwa einen Fuß über dem Boden,
gebildet. Im Innern lagen längs des ganzen Umkreises Pelze und gegerbte
Häute aufgeschichtet, während in der Mitte des Zeltes auf dem bloßen Boden
ein von Steinen eingeschlossenes Feuer brannte. Die einzelnen Lagerstätten
der Fanülienmitglieder waren durch Binsen- und Weidengeflechte voneinander 175.
geschieden. Dem Eingänge gegenüber gestattete eine kleine Öffnung am Boden
den Zutritt frischer Luft. Davor befand sich ein Verschlag aus Flechtwerk,
in welchem Sättel, Zaumzeuge, Waffen, wertvolle Tierfelle und Kleidungs-
158
stücke sowie der phantastische Kriegsschmuck des Häuptlings aufgeschichtet lagen.
180 Die sorgsamste Pflege schien dieser jedoch seiner schönen Sammlung von Pfeifen
zu widmen, die in allen möglichen Formen und Größen — durchwegs
aus rotem Speckstein geschnitten und mit Federschmuck oder Perlenstickereien
versehen — in einer Reihe neben seinem Lager aufgestellt waren. Die Schwarz-
füße wie überhaupt die kanadischen Indianer rauchen teils aus Sparsamkeit,
185 teils aus Neigung nicht reinen Tabak, sondern mischen ihn gewöhnlich mit
der gleichen Menge von zerkleinerter Weidenrinde oder auch mit Salbeiblättern,
deren Genuß jedoch vielfach Hals- und Lungenkrankheiten mit sich bringen soll.
Das den Indianern eigentümliche trockene, kurze Hüsteln wird dem Rauchen
des Salbeis zugeschrieben.
190 In ihrem stolzen, kriegerischen, würdevollen Wesen und ihrer vielbe-
wührten Tapferkeit zeichnen sich die Schwarzfüße vor allen andern Stämmen
besonders aus, und es ist nur zu bedauern, daß die Habsucht und die Übervor-
teilungen, welchen sie von seiten der amerikanischen Händler ausgesetzt waren,
sie aus warmen Freunden in grausame, blutdürstige Todfeinde der Weißen
195 verwandelt haben.
Ernst v. Hes se-W a r t egg. Deutsche Revue. (Herausgegeben von Rich. Fleischer.) 10. Jahrg.
Bd. HL 1885. S. 207 ff. (Gekürzt.)
Vgl. Lehmann, Ethnogr. Bilder, Nr. 2: Jndianerfamilie.
51. Fahrt auf dem Marannon.
Mit der Schnelligkeit des Marannon, die gemeinhin in der trockenen
Jahreszeit über vier englische Meilen [7 km] beträgt, schwamm das Floß den größ-
ten Teil des Tages fort, wohl auch des Nachts, wenn keine besondern Gefahren
zu drohen schienen. Nur um dem allgemeinen Wunsche eines völlig sorgen-
5 freien Schlummers zu entsprechen, wurde bisweilen gelandet, wenn gerade ein
weitausgedehntes Sandufer sich zeigte. Vorsichtig befestigten wir das Fahr-
zeug und errichteten in der Mitte der Wildnis das fröhliche Lager. Ge-
wöhnlich wählt man zu diesem eine Insel, da die größere Entfernung vom
Urwald Sicherheit vor den Raubtieren verspricht, die oft überschwemmten,
10 pflanzenlosen Uferstrecken reinlich und luftig sind und einen weiten Überblick
erlauben. Der Indianer braucht das Brennholz nicht aus weiter Entfernung
herbeizuschaffen; denn stets setzen sich auf der äußersten Landspitze riesengroße
Baumstämme fest, die mit den Fluten herabkamen, vielleicht sechs Monate
später von neuem emporgehoben die Reise wiederum antreten, und obgleich
15 am Fuße der Anden erwachsen, bestimmt sein können, durch Meeresströmungen
ergriffen in den traurigsten Regionen am Nordpol, dem Eingeborenen eine
Segnung, zu landen. Gern zündet der Indianer aus Mutwillen das ge-
samte Bollwerk an, und es begibt sich wohl, daß, wenn die Glut in uner-
warteter Richtung fortschreitet, die ganze Gesellschaft auf das eiligste zum
20 Fahrzeug entfliehen muß und ihr Glück zu preisen hat, wenn sie ohne Ver-
lust weiterhin ein anderes Lager erreicht, während die Glutsäule noch lange
über den Urwald emporlodert. Kommen solche wilde Scherze auch nicht vor,
so zündet doch der Eingeborene am Wasserrande ein Feuer an, sicher, in
wenigen Augenblicken eine Menge großer Fische herbeizulocken und mit der
159
Wurflanze zu erlegen. Andere gehen aus, um die Schildkröten zu belauern, 25
die allnächtlich an das Ufer kommen, um ihre Eier zu vergraben; die Onze
[ber Jaguars treibt dieselbe Jagd, und deshalb entfernt sich der Indianer nie
allein und ohne Waffen von dem Wachtfeuer. Fast jedes Landen auf solchen
Inseln trägt Vorrat zur Weiterreise ein; denn die gefangenen Reptilien
werden auf dem Floße angebunden, wo sie im Genusse des Schattens und 80
Wassers geraume Zeit fortleben.
Kaum ist das am Orte selbst mit geringer Mühe erlangte Abendessen
verzehrt, so plätschern auch schon die Indianer nach unveränderlicher Gewohn-
heit im Wasser, und wenn noch ein Baumstamm zum Wachtfeuer hingewälzt
ist, strecken sich alle in einer Reihe unter den schwarzgefürbten, niedrigen 35
Zelten aus, die auf dem weißen Sande wie ebensoviele Särge erscheinen.
Der ruhige Atemzug deutet an, daß die Begleiter in den schweren Schlaf
gefallen sind, der ihrer Rasse eigentümlich ist, aber den leichter erregten
Europäer unter Umgebungen solcher Größe und Herrlichkeit flieht. In diesen
liegt ein unbeschreibliches Etwas, das zum Nachsinnen auffordert. 40
Leise brechen sich die Wellen am Sanduser, und kein Laut stört die Feier der
Nacht. In der totengleichen Stille vernimmt man das Rascheln des Insekts am
Boden und das Hervorspringen einzelner Fische in der fernen Mitte des Stromes.
Auch am Himmel herrscht dieselbe Ruhe; denn keine vorübergleitende Wolke
verdeckt die ewigen Bahnen der still herabglänzenden Sterne. Auf einmal 45
rauschen die Gewässer in der Ferne, als ob sich Welle über Welle dahin-
wälze, und lute der wunderbare Ton in größerer Nähe sich zu entwickeln
scheint, gewahrt man in der That eine ungewöhnliche Bewegung in der Mitte
der monderlenchteten Wasserfläche. Bald darauf nimmt diese wiederum ab,
bis weiter hinab das Rauschen völlig verklingt. Scheu flüstern die erwachenden 50
Indianer; denn sie halten für die Hervorbringerin dieser unheimlichen Er-
scheinung ein riesiges Reptil, das zwar noch niemand sah, dessen Existenz
aber jeder Forscher, der die Natur in solchen Ländern kennt, für möglich
halten wird. Uni Mitternacht wird in dem Walde die Ruhe zum erstenmal
unterbrochen; denn verschiedene Tierstimmen werden dann laut. Sie ver-55
künden die Stunde, wie die Indianer sagen, und lassen von da an sich in
ziemlich regelinäßigen Zwischenräumen hören. Der Ruf wird immer häufiger,
je näher der Morgen rückt; allein er weicht kurz vor Aufgang der Sonne
wieder der allgemeinen Stille, mit welcher die Nacht begann. Bisweilen
ergreift irgend eine unbekannte Ursache die Tierwelt in solchem Maße, daß 60
ein tausendstimmiges Geschrei entsteht, welches zwar periodenweise abnimmt,
allein nie ganz der gewöhnlichen Ruhe weicht, ehe nicht die Sonne ihre furcht-
verscheuchenden Strahlen über hie Wälder ergießt.
Nicht überall ist jedoch das Nachtlager in der Wildnis so sicher und
unbeschwerlich; denn manche der Inseln sind mit Stechmücken erfüllt, so daß 65
sich ihnen niemand gern nähert, und andere Male bringt das Knurren der
nahe herumstreifenden Onzen oder das Sichtbarwerden herbeikriechender Kro-
kodile, die keineswegs das Feuer fürchten, die ganze Gesellschaft in Unruhe.
Nur ans der Mitte des königlichen Stromes genießt man volle Sicherheit;
70 denn sehr selten kreuzt ihn ein Krokodil, und die Insekten werden von ihren
gebrechlichen Schwingen nicht so iveit vom Ufer fortgetragen. Das Fahr-
zeug gleitet auf den Wellen langsam fort, während nach und nach die ganze
Mannschaft, den Wächter ausgeschlossen, in Schlaf versinkt, obgleich Gefahren
drohen, die nur dem Amazonenstrome eigen sind. An jenen Verhauen von
75 Stämmen, die sich aus den Landspitzen festsetzen, bricht sich das Wasser mit
großer Gewalt, und wilde Stromwirbel umgeben die Stellen, wo ganze
Uferstrecken mit donuergleichem Rollen in die Tiefe hinabsinken, eine Er-
scheinung, welche man im Laufe eines Tages mehrmals beobachtet. Verloren
ist der Kahn, der zwischen die schwankenden Stämme gerät, die halbversunken,
80 allein am Boden wohl befestigt und ihre Äste in den Wirbeln kreisförmig
herumbewegend, ihn entweder umstürzen oder zertrümmern. Zweimal geriet,
vom Strome des Marannon, dem unser Rudern nicht widerstand, ergriffen,
das Floß in solche „Palisadas", allein es entkam glücklich der Gefahr. Bewies
sich zwar die Festigkeit des Baues, so blieb doch viele Furcht vor solchen
85 Abenteuern während der nächtlichen Fahrten aus einem unbekannten Strome
und in der Mitte einer Wildnis zurück, wo der Schiffbrüchige mit großer
Mühe nur das nächste Jndianerdors erreicht haben wiirde, ohne Waffen sogar
vielleicht in den ersten Stunden den wilden Tieren zur Beute werden mußte.
Die Schönheit jener Nächte lohnt jedoch die Mühe des Wachens, wenn sorg-
90 los alles schläft. Es liegt ein eigener, großer Reiz in dem Gefühle, auf
einer Bahn sich zu befinden, die man nicht einmal durch fremde Berichte
kennt, ohne schmerzliche Erinnerung an die Vergangenheit und unbekümmert
um die Zukunft auf einem Strome dahinzuschwimmen, wo bald der eine,
bald der andere Arm das Fahrzeug mit sich führt, das keiner steuert, da
95 ja doch die Wasser sich weiterhin zu einem einzigen, mächtigen Ganzen neu
vereinigen müssen.
Eduard Poppig. Reise in Chile, Peru und auf de», Amazonenstrom. B. II. 1836. S. 406 ff.
Vgl. Hölzel, Geogr. Charakterbilder, Nr. 15: Tropenurwald im Tieflande am
Amazonas. — (Lehmann, Geogr. Charakterbilder, Nr. 17: Ein südamerikanischer Urwald).
52. Auf Neu-Mecklenburg.
Wir wollten durch den St. Georgs-Kanal, welcher Neu-Pvmmern und
Neu-Mecklenburg voneinander scheidet; aber die Strömung war so stark, daß
sie uns gegen unsern Willen nordwärts nach der Küste von Neu-Mecklenburg
zutrieb, und ohne es beabsichtigt zu haben, mußten mir in einer kleinen Bucht
5 vor Anker gehen und mehrere Tage liegen bleiben.
Die Menschen, von derselben Hautfarbe und ebenso kräftigem Glieder-
bau wie die Neu-Pommern, sind hier noch weit scheuer, und es kostet viele
Mühe, mit ihnen in irgend welchen Verkehr zu treten; erst am dritten Tage
wagten sie, an Bord zu kommen. Da wir jedoch von ihnen nichts verlang-
lOten, im Gegenteil ihnen Perlen, Streichhölzer, Messer und andere nie ge-
sehene Dinge schenkten, so siegte bald die Neugierde, und sie verloren nach
und nach das scheue, ängstliche Wesen. Mancherlei boten sie uns zum Tausch
und Kauf an, darunter aus Holz kunstvoll geschnitzte und bunt bemalte
161
Masken. Es sind meist Karikaturen ihrer eigenen Physiognomien, bei denen
die in der Nase getragenen Stacheln bis zn Hörnern verlängert sind, oder 15
sie stellen Fische dar, deren Flossen sehr naturgetreu nachgebildet sind. Bei
besonders festlichen Gelegenheiten zwängen die Tänzer den Kopf in diese
Masken und sehen dann allerdings äußerst seltsam ans.
Die Eingeborenen sind jetzt den ganzen Tag über an Bord und ver-
lassen selbst abends das Schiff nur ungern. Mit einem der Häuptlinge sind 20
wir ganz bekannt geworden, und nachdem wir ihm gezeigt, wie weit unsere
Büchsen tragen, wie sicher wir das Ziel treffen, und daß unsere Waffen
zwölfmal schießen, ohne von neuem geladen zn werden, nehmen wir seine
oft wiederholte Aufforderung an, ans Land zu kommen.
Wir gehen unbewaffnet, zwei unserer Matrosen tragen die Gewehre; 25
um jedoch ein Unglück zu vermeiden, sind auch diese nicht geladen; wissen
wir doch, daß gegenüber einer numerischen Übermacht, wie sie uns am Lande
erwartet, nur das moralische Übergewicht von Wert ist, und daß diese Insu-
laner, selbst wo sie noch Kannibalen sind, nur in äußerst seltenen Fällen dem
Weißen feindlich gegenübertreten, ohne daß dieser die Veranlassung dazu gäbe! 30
Sobald wir in das Schiffsboot einstiegen, sprangen alle an Bord be-
findlichen Eingeborenen sofort ins Wasser und erreichten schwimmend oder in
ihren Kanoes das User lange vor uns. Am Strande empfing uns eine
lärmende Menge von mindestens fünfzig Menschen. Jeder wollte unsere Haut
und Kleidungsstücke befühlen, faßte unser Haar und unsern Bart an, und 35
hätte nicht der befreundete Häuptling viele zurückgehalten, so Hütten wir doch
wohl trotz aller guten Vorsätze die Geduld verloren und wären wieder umgekehrt.
Endlich war die Neugierde etwas befriedigt, und während man sich,
wie es schien, über unsere Personen aufs lebhafteste unterhielt, konnten wir
uns einen Weg nach den nahe am Strande gelegenen Hütten bahnen. Sie 40
sind größer, luftiger und von anderer Form als die auf der nahen Insel
Matupi, die wir vor wenigen Tagen besucht hatten; das Innere fanden wir
jedoch ebenso leer und ohne Geräte wie dort. Nur ein seltsames musikalisches
Instrument fiel uns auf: es ist ein massives, rundes Stück Holz; die obere
Fläche ist glatt poliert und von drei Einschnitten durchzogen, die sich nach 45
der Mitte des Holzes hin 311 Höhlungen von verschiedener Größe erweitern.
Durch Reiben mit der feuchten Handfläche über die Einschnitte werden drei
verschiedene Töne hervorgebracht. Wir sahen solche Instrumente, die bis zu
zwei Metern lang waren.
Auch die Kanoes sind etwas verschieden von denen Matupis, besser 50
gearbeitet und mit Schnitzereien versehen; sie werden auf Pfählen in der Nähe
der Häuser aufbewahrt und sorgsam mit Matten zugedeckt.
Wir verteilten Glasperlen und kleine Stückchen roten Zeuges unter die
Menge, den zu demselben Zwecke mitgebrachten Tabak aber wollte niemand
haben; denn das Rauchen ist hier noch unbekannt. Unter Begleitung des 55
versammelten Volkes traten wir alsdann einen Streifzug nach dem Innern
der Insel an. Die Wege oder, richtiger gesagt, die Pfade laufen in buntem
Durcheinander nach allen Richtungen, bald an einem tiefliegenden, sumpfigen
Deutsches Lesebuch für daher. Mittelschulen. Bd. IV. I I
162
Tarofelde vorüber, bald durch eine Bananenpflanzung, meist unter dem dich-
60ten Laube eines üppigen Urwaldes. ^
Ein etwa halbstündiger Marsch brachte uns nach einer Bambusumzäu-
nung, die ungefähr fünfzehn bis zwanzig unregelmäßig unter Kokospalmen
umherstehende Hütten umschloß. In einem offenen Schuppen nahmen wir
Platz und wurden, wie üblich, mit Nüssen bewirtet. Die Hütten waren alle
65 von derselben Form und Bauart, niedrig und langgestreckt, mit halb offenem
Anbau an beiden Seiten. Nur eine etwas abseits stehende war von anderer
Gestalt und bedeutend höher; an das längliche Oval stieß eine breite, ge-
schlossene Veranda. Die kleine, dunkle Thüröffnung, deren untere Hälfte
mit rot- und weißbemalten Brettern zugestellt war, lag uns gerade gegenüber
70 und erweckte unsere Neugierde in nicht geringem Grade.
Unser Freund und Führer schien unsere Wünsche zu erraten, besprach
sich mit einigen ältern Männern und ging uns dann voran, dem geheimnis-
vollen Hause zu. Wir traten ein, konnten aber anfangs in dem dunkeln
Raume nichts erkennen. Erst nach und nach sahen wir, daß eine Wand die
75 Vorhalle von der runden Hütte vollständig trennte; denn nirgends konnten
wir eine Öffnung entdecken. Als sich unsere Augen mehr an das Dunkel
gewöhnt hatten, bemerkten wir mit nicht geringem Erstaunen, daß die ganze
Wand aus geschnitzten und bemalten Holztafeln und Brettern zusammengesetzt
war. Rechts und links in den Ecken standen große Holzfiguren; auch
80 von den Dachbalken herab hingen Holzschnitzereien. Leider jedoch war es
bei weitem zu dunkel, um irgend etwas genau unterscheiden zu können. Nun
schob unser Führer in der Mitte der Wand einige Bretter zur Seite, und
durch die dadurch entstandene kleine Öffnung krochen mir in den innern
Raum, der vollständig leer, ganz ohne Fenster oder Thüre, nur durch die
85 spärlichen Lichtstrahlen erhellt war, die ihren Weg durch schadhafte Stellen
des Blätterdaches fanden. Der Boden war mit weißlichem Sande sauber be-
streut. Die Wände bestanden aus Flechtwerk und waren stellenweise mit
Holzschnitzereien bekleidet. Welches der Zweck dieses sonderbaren Gebäudes
sei, konnten wir leider nicht ausfindig machen; die uns verständlichen
90 Sprachkenntnisse unsers Führers waren bald erschöpft, und das Gebärdenspiel
ließ die verschiedensten Auslegungen zu.
Wieder ins Freie zurückgekehrt, drückten wir den Eingeborenen, so gut
es eben gehen wollte, unser Staunen über diese wunderbaren Schnitzereien
aus und suchten ihnen unser Bedauern begreiflich zu machen, daß wir in dem
95 Dunkel der Veranda so wenig gesehen hätten. An die ältern Frauen und
Mädchen verteilten wir, was noch an Geschenken vorhanden war. Es be-
fanden sich darunter einige Messer und Beile, und dieser Umstand sollte ganz
unerwartete Folgen haben; denn über die reichen Geschenke sichtbar erfreut
und verwundert, begannen die Frauen, wie es schien, eine lebhafte Beratung,
100 eilten dann alle in ihre Hütten und kehrten wenige Minuten darauf mit
Schnitzereien zurück, die sie uns zu Füßen legten. Waren wir vorher schon
verwundert gewesen, so kannte unser Erstaunen jetzt keine Grenzen; denn die
Reliefschnitzereieu und durchbrochenen Arbeiten zeugten von einem bereits so sehr
163
entwickelten Kunstsinne und einer so großen Fertigkeit in der Vollendung, wie
man es niemals bei einem Volke erwartet hätte, das in jeder andern Be-105
Ziehung noch bei den ersten Anfängen der Kultur steht, das Kleidung noch
nicht kennt, und dem die Muschel noch das einzige Material zu seinen aller-
einfachsten Werkzeugen liefert.
Nun kam uns die zahlreiche Begleitung zu statten. Ohne daß es einer
besondern Aufforderung bedurft hätte, beluden sich alle mit den kostbaren HO
Geschenken, mit denen wir ohne Unfall unser Boot erreichten.
Kaum blieb uns Zeit, an Bord unsere Schätze unterzubringen und
den Eingeborenen die wohlverdiente Belohnung zu geben, als auch schon der
Anker aufging und ein frischer Wind uns davon trieb.
Franz Hernsheim. — Berth. Bolz. Geographische Charakterbilder aus Amerika und
Australien. 1888. S. 398 ff.
Vgl. Lehmann, Ethnogr. Bilder, Nr. 6: Australier.
11*
I. Epische Dichtung.
53. Die Teilung der Erde.
1. „Nehmt hin die Welt!" rief Zeus von seinen Höhen
Den Menschen zu; „nehmt, sie soll euer sein!
Euch schenk' ich sie zum Erb' und ew'gen Lehen;
Doch teilt euch brüderlich darein!"
2. Da eilt, was Hände hat, sich einzurichten;
Es regte sich geschäftig jung und alt.
Der Ackermann griff nach des Feldes Früchten,
Der Junker birschte durch den Wald.
3. Der Kaufmann nimmt, was seine Speicher fassen.
Der Abt wählt sich den edel« Firnewein,
Der König sperrt die Brücken und die Straßen
Und sprach: „Der Zehente ist mein."
4. Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehen,
Naht der Poet; er kam aus weiter Fern'.
Ach! da war überall nichts mehr zu sehen,
Und alles hatte seinen Herrn.
5. „Weh mir! So soll ich denn allein von allen
Vergessen sein, ich, dein getreuster Sohn?"
So ließ er laut der Klage Ruf erschallen
Und warf sich hin vor Jovis Thron.
6. „Wenn du im Land der Träume dich verweilet,"
Versetzt der Gott, „so hadre nicht mit mir!
Wo warst du denn, als man die Welt geteilet?" —
„Ich war," sprach der Poet, „bei dir.
7. Mein Auge hing an deinen! Angesichte,
An deines Himmels Harmonie mein Ohr;
Verzeih dem Geiste, der, von deinem Lichte
Berauscht, das Irdische verlor!" —
165
8. „Was thun?" spricht Zeus. „Die Welt ist weggegeben;
Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein.
Willst du in meinem Himmel mit mir leben,
' So oft du kommst, er soll dir offen sein!"
Friedrich von Schiller. Sämtliche Schriften. Histor.-krit. Ausg. v. K. Goedeke. 1871. B. XI. S. 6 f.
54. Kriemhilde.
1. Auf dem Söller stand Kriemhilde,
Sah ins braune Heideland;
Helme blitzten, Speer und Schilde
Von dem fernen Hügelrand.
2. Aus der Stirn die seuerblonden
Locken strich die weiße Hand:
„Seid willkommen, ihr Burgonden-
Gäste in Kriemhildens Land!
3. Sieben Jahre mächtig, mächtig
Hab' ich diesen Tag ersehnt:
Schon alltäglich und alluächtig
Hat mein Harren sich gedehnt.
4. Wenn ich von des Heunen Munde
Kuß auf Kuß mit Schaudern trug,
Dacht' ich schweigend an die Stunde,
Die nun endlich zögernd schlug.
5. König Etzel, zu den Waffen,
Den man Gottesgeißel nennt!
Nun den Brautschatz sollst du schaffen,
Der in Blut und Feuer brennt.
6. Nicht umsonst gab ich dem größten
Waffenkönig diesen Leib:
Rache, Rache soll mich trösten.
Wie sie nie genoß ein Weib.
7. Sieh, es scheuet, König Günther,
Hoch dein Hengst vor meiner Brück':
Klopfe nur den Hals ihm munter,
Niemals trägt er dich zurück.
8. Als mein Siegfried ritt zu jagen.
Hat auch ihm nicht bang gegraut.
Und du hast ihn doch erschlagen,
Der so arglos dir vertraut.
9. Seh' ich recht? Ja, das ist Hagen!
Traun, ein Gott nahm ihm den Sinn;
Konnt' er sonst ins Land sich wagen,
Wo Kriemhilde Königin?
10. Magst dein Haupt so hoch du tragen
Wie die höchste Tann im Hag;
Diese Hand soll's niederschlagen,
Die auf Siegfrieds Herzen lag.
11. Aber dort, auf weißem Pferde,
Frei sein Goldhaar spielt im Wind —
Mit der freundlichen Gebärde,
Das ist Giselher, das Kind.
12. O mein Bruder, mild von Sitte»,
Mit den Wangen, weiß und rot,
O, was bist du mitgeritteu
Zu Kriemhildens Gastgebot!
13. Sieh, sie steigen von den Rossen —
Hagen auch — sie sind herein —
Dumpf hat sich das Thor geschlossen:
Alle, alle sind sie mein!" —
Felix Dahn. Gedichte. II. Sammlung. 1. Abteilung. 1878. S. 168 ff.
55. Gudruns Klage.
1. Nun geht in grauer Frühe
Der scharfe Märzenwind,
Und meiner Qual und Mühe
Ein neuer Tag beginnt.
Ich wall' hinab zum Strande
Durch Reif und Dornen hin,
Zu waschen die Gewände
Der grimmen Königin.
2. Das Meer ist tief und herbe,
Doch tiefer ist die Pein,
Von Freund und Heimatserbe
Allzeit geschieden sein;
Doch herber ist's, zu dienen
In fremder Mägde Schar,
Und hat mir einst geschienen
Die güldne Krön' im Haar.
166
3. Mir ward kein guter Morgen,
Seit ich dem Feind verfiel;
Mein Speis' und Trank sind Sorgen
Und Kummer mein Gespiel.
Doch berg' ich meine Thränen
In stolzer Einsamkeit;
Am Strand den wilden Schwänen
Allein sing' ich mein Leid.
4. Kein Dräuen soll mir beugen
Den hochgemuten Sinn;
Ausduldend will ich zeugen,
Von welchem Stamm ich bin.
Und so sie hold gebaren,
Wie Spinnweb' acht' ich's nur;
Ich will getreu bewahren
Mein Herz und meinen Schwur.
5. O Ortwin, trauter Bruder.
O Herwig, Buhle wert.
Was rauscht nicht euer Ruder,
Was klingt nicht euer Schwert?
Umsonst zur Meereswüste
Hin späh' ich jede Stund';
Doch naht sich dieser Küste
Kein Wimpel, das mir kund.
6. Ich weiß es: nicht vergessen
Habt ihr der armen Maid;
Doch ist nur kurz gemessen
Dem steten Gram die Zeit.
Wohl kommt ihr einst, zu sühnen.
Zu retten, ach, zu spät,
Wann schon der Sand der Dünen
Um meinen Hügel weht.
7. Es dröhnt mit dumpfem Schlage
Die Brandung in mein Wort;
Der Sturm zerreißt die Klage
Und trägt beschwingt sie fort.
O, möcht' er brausend schweben
Und geben euch Bericht:
„Wohl lass' ich hier das Leben,
Die Treue lass' ich nicht!"
E Manuel Gelbe l. Gesammelte Werke. 1883. B. III. S. 87 ff.
56. Griechische Spiele.
1. Harrend strömten die Völker auf Elis' Plane zusammen;
Selbst den erbittertsten Haß hemmte die heilige Zeit.
2. Stärke und Anmut rang; nicht der Stunde flüchtiger Beifall
Dehnte den Atem der Brust, stärkte die Sehne zu Erz,
3. Spornte die schäumenden Rosse zum wildesten Fluge — sie wußten,
Daß das Siegergespann einen Unsterblichen trug.
4. Alle die griechischen Städte durchbrauste der Name des Siegers,
Und unermeßlicher Wert wurde dem einfachen Kranz.
5. Nicht verschmähte der Sänger, zu weihen die irdische Kraftthat,
Und der gewaffnete Huf weckte die Funken des Lieds.
6. Also wurden, geschirmt von waltenden Göttern und Sängern,
Fröhliche Spiele zum Ernst, aber das Leben war Spiel.
Gustav Pfizer.
57. Pompeji.
1. Auferstandne Stadt der Heiden,
Sei gegrüßt, ersehnte du!
Heut' noch heiter wie beim Scheiden
Lachst du deiner Sonne zu.
2. Überall aus dunkler Lava
Drängen Blumen sich ans Licht,
Die Reseda, die Agava,
Auch die Myrte fehlet nicht.
167
3. Rosen blühn im Schlafgemache;
Lippen, die schon längst verdorrt.
Sprachen in der schönsten Sprache
Hier dereinst der Liebe Wort.
4. Um die Säulen rankt sich wilder
Epheu, und wie früher schaun
Die erstandnen Marmorbilder
Auf zum alten Ätherblaun.
5. Nur des Meeres wechselvolle
Woge, die sonst hier gekreist.
Wich von ihrer Userscholle
Und wie sie der Menschengeist.
9. Auf die Wor
Steigst du zögernd
Jetzt erst faßt dich
Schatten taugt nicht
Hermc
6. Eine andre Menschheit baute
Dieser Tempel heitern Raum,
Und nur fremd sieht die ergraute
Ihrer Jugend fernen Traum.
7. Nur wie halbverstandne Dichtung
Mahnt auch mich, was hier noch glänzt;
Ach, ich fühl's, wie gut Vernichtung
Und Vollendung sich begrenzt!
8. Freudig kam ich, Stadt der Alten,
Und mit Wehmut scheid' ich nun;
Würdest unter deiner kalten
Lava du nicht besser ruhn?
der Beschwörung
as der Gruft;
die Zerstörung,
Himmelslust.
INN Lingg. Gedichte. B. I. 1866«. S. 192 ff.
58. Der Römerturm.
1. Auf steiler Felswand steht der Römerturm,
Ernstdrohend wie ein Aar aus seinem Horste;
Durch seine Mauerkrone heult der Sturm,
Und Ächzen schallt tief aus dem Tannenforste.
2. Rings um die Warte Wall und Graben; lang
Hat ihn der Fichten stämmig Heer erklettert.
Das hallt wie Streitaxt und wie Schwerterklang,
Wenn's durch die dunkeln Waldesriesen wettert.
3. So drang wohl einst in einer finstern Nacht
Herein die Schar langlockiger Barbaren:
Am Speer gelehnt, entschlafen steht die Wacht,
Der Märzwind spielt mit ihres Helmbnschs Haaren.
4. Leis klinget an des Schwertes Löwenknaus
Der Schild an, träg geführt vom schlaffen Arme.
Da schwirrt ein Pfeil. Er sinkt. Den Wall hinauf
Stürzt wild der Feind in dichtgedrängtem Schwarme.
5. Das war ein Kämpfen, heiß und grimm und lang.
Beim bleichen Sternenlicht ein Schwertgefunkel;
Eh' noch des Morgens Dämmer nahte, drang
Ein jäher Feuerschein grell durch das Dunkel.
6. Ein Leichenhügel! Wund' an Wunde klafft.
Wo der Centurio fiel, und die erstarrte,
Geballte Linke hält mit letzter Kraft
Am abgehannen Schafte die Standarte. —
7. Jahrhunderte verflossen! Doch noch heut',
Senkt in die Erde sich des Gärtners Spaten,
Klingt's oft wie Erz; da grüßt ein Schwert, ein Schild
Als stummer Zeuge von vergangnen Thaten.
Max Schlierbach (-Seydel). Gedichte. 1872. S. soff.
168
59. Hermann und
1. „Laßt mich meinen Bruder grüßen!"
Hermann rief's am Weserstrand.
Die Legaten drüben hießen
Flavus nahn, und sie verließen
Schweigend drauf des Ufers Raud.
2. „Flavus!" —„„Hermann!"" —
„Nenn mich lauter!
Niemand hört uns als der Strom;
Dir und mir ein gleich vertrauter
Freund, aus seinen Wellen schaut er,
Er verrät uns nicht an Rom."
3. Hermann sprach's, und mit dem
Speere
Zeigt er auf des Flusses Laus,
Der, ergossen nach dem Meere,
Schied die Lager beider Heere,
Und es horchte Flavus auf.
4. „Bruder," scholl es neu herüber,
„Warum ist dein Aug' entstellt?" —
„„Frage meinen Herrn am Tiber!"" —
„Schweig vom Cäsar, melde lieber,
Welcher Lohn dich feil erhält!"
5. Flavus weist auf Haupt und
Rechte:
„ „Sieh den Kranz, der Kette Zier!" " —
„Ketten trägst du vom Gefechte?
Traun, sie kauften dich zum Knechte
Billig, das gesteh' ich dir!"
6. Und dem Worte folgt ein Lachen,
Das der Wälder Echo weckt.
Flavus kehrt sich nach den Wachen.
„Laß sie nur heran sich machen,
Sprosse Teuts, den Rom bedeckt!" —
7. „„Wahrheit sprachst du da im
Zorne,
Neid erweckt dir noch mein Glück;
Die die Zukunft schaut am Borne,
Sie weissagte mir's, die Norue,
Doch dich blendet dein Geschick.
8. Hast du nicht in seiner Größe
Rom mit eignem Blick geschaut?
Statt zu nutzen deine Blöße,
Hat es, daß den Zwist ich löse,
Bolle Macht mir anvertraut."" —
Flavus (16 n. Chr.).
9. „Gnade wollten sie mir schenken,
Die mir Weib und Kind geraubt?"
Hermann sprach's, wie einzulenken,
Und als wollt' er sich bedenken,
Stützt' er auf den Speer sein Haupt.
10. Doch der andre mahnet wieder:
„„Bitte, und sie sind befreit;
Freundlich schützt sie Roms Gebieter,
Ihrer Haft ein milder Hüter,
Dir zum Frieden stets bereit.""
11. Aber Hermann winkt ihm
Schweigen:
„Spare deinen Lockeruf;
Nichts vermag mein Herz zu beugen.
Doch vermöcht' ich's dir zu zeigen,
Welches Leid dein Sinn mir schuf!
12. O vernimm den Laut der Götter,
Einst doch fromm auch wärest du,
Flieh die Schälke und die Spötter,
Werde deinem Nolk ein Retter!
Noch ist's nicht zu spät dazu.
13. Statt es sinnlos zu bekriegen,
Schreite ihm mit mir voran!
Glaub, der Fremde wird erliegen;
Hilf mir kämpfen, hilf mir siegen,
Teile meiner Mühen Bahn!
14. Achte, Bruder, meiner Bitte,
Der die Mutter sich vereint;
Komm zurück in unsre Mitte,
Bald gewinnt die alte Sitte
Dich, der schon verloren scheint."
15. Hermann schwieg, doch ließ sich
hören
Nochmals der verführte Wicht:
„„Gib es auf, mich zu beschwören!
Andre mag dein Wort bethören,
Aber mich bewegt es nicht.""
16. Sprach's und brach voll Zorn
und Geifer
In ein tobend Schelten aus,
Uud iu rachbegier'gem Eifer
Fordert jetzt der Überläufer
Deutschlands Haupt zum Kamps
heraus.
169
17. Aber höher aufgerichtet
Staub gebietend Hermann da,
Wie, als Varus lag vernichtet,
Seinem Blick er aufgerichtet
Die Trophän der Römer sah.
Martin
Die Unterredung der beiden Brüder
an der Weser statt. - Thusnelda war
Römer geraten, als Germanikus den von
entsetzte.
60. Die wiedergefundnen
1. Was die Schickung schickt, ertrage!
Wer ausharret, wird gekrönt.
Reichlich weiß sie zu vergelten,
Herrlich lohnt sie stillen Sinn.
Tapfer ist der Löwensieger,
Tapfer ist der Weltbezwinger,
Tapfrer, wer sich selbst bezwang. —
2. Placidus, ein edler Feldherr,
Reich an Tugend und Verdienst,
Beistand war er jedem Armen,
Unterdrückten half er auf.
Wie er einst den Feind bezwungen,
Wie er einst das Reich gerettet,
Rettet' er, wer zu ihm floh.
3. Aber ihu verfolgt das Schicksal,
Armut und der Bösen Neid.
„Laß dem Neid uns und der Armut
Still entgehn!" sprach Placidus.
„Auf, laß uns dem Fleiße dienen!"
Sprach sein Weib, „und gute Knaben,
Tapfre Knaben, folget uns!"
4. Also gingen sie; im Walde
Traf sie eine Räuberschar,
Trennen Vater, Mutter, Kinder;
Lange sucht der Held sie aus.
Placidus, rief eiue Stimme
Ihm im hochbeherzten Busen,
Dulde dich, du findest sie!
5. Und er kam vor eine Hütte;
„Kehre, Wandrer, bei mir ein!"
Sprach der Landmann; „du bist traurig;
Auf und fasse neuen Mut!
Wen das Schicksal drückt, den liebt es.
Wem's entzieht, dem will's vergelten,
Wer die Zeit erharret, siegt."
18. Daß er zu dem Bruder schwimme,
Ward ihm schon das Pferd gebracht;
Doch gebeut er seinem Grimme,
Und mit erzesgleicher Stimme
Ladet er den Feind zur Schlacht.
Greis. Gesammelte Werke B. I. 1895b. S. 237 ff.
fand (nach Tacitus' Bericht) i. I. 16 n. Chr.
im vorhergehenden Jahre in die Hände der
Arminius belagerten Segest auf seine Bitten
Söhne (Ilm 117 n. Chr.).
6. Und er ward des Mannes Gärtner,
Dient' ihm unerkannt und treu,
Pflegend tief in seinem Herzen
Eine bittre Frucht, Geduld.
Placidus, rief eine Stimme
Ihm im tiefbedrängten Busen,
Dulde dich, du findest sie!
7. So verstrichen Jahr' aus Jahre,
! Bis ein wilder Krieg entsprang.
j „Wo ist Placidus, mein Feldherr?"
Sprach der Kaiser. „Suchet ihn!"
Und man sucht' ihn nicht vergebens;
Denn die Prüfzeit war vorüber.
Und des Schicksals Stunde schlug.
8. Zweene seiner alten Diener
Kamen vor der Hütte Thür,
Sahn den Gärtner und erkannten
An der Narb' ihn im Gesicht;
An der Narbe, die dem Feldherrn
Statt der Schätze, statt der Lorbcrn
Einzig blieb als Ehrenmal.
9. Alsobald ward er gerufen;
Es erjauchzt' das ganze Heer.
Vor ihm ging der Feinde Schrecken,
Ihm zur Seite Sieg und Ruhm.
Stillen Sinns nahm er den Palmzweig,
Gab die Lorbern seinen Treuen,
Seinen Tapfersten im Heer.
10. Als nach ausgefochtnem Kriege
Jetzt der Siegestanz begann,
Drängt mit zween seiner Helden
Eine Mutter sich hervor:
„Vater, nimm hier deine Kinder!
Feldherr, sieh hier deine Söhne,
j Mich, dein Weib, Eugenia!
170
11. Wie die Löwin ihre Jungen,
Jagt' ich sie den Räubern ab;
Nachbarlich in dieser Hütte —
Komm und schau! — erzog ich sie;
Glaubte dich uns längst verloren.
Deine Söhne, mir statt deiner,
Deiner wert erzog ich sie.
12. Als die Post erscholl vom Kriege,
Rufend deinen Namen aus,
Auferweckt vom Totentraume,
Rüstet' ich die Jünglinge:
Zieht, verdienet euren Pater!
Streitet unerkannt und werdet,
Werdet eures Vaters wert!
13. Und ich seh', sie tragen Kränze,
Ehrenkränze dir zum Ruhm,
Die du unerkannt den Söhnen
Nicht als Söhnen zuerkannt.
Vater, nimm itzt deine Kinder!
Feldherr, sieh hier deine Söhne
Und dein Weib Eugenia!" —
14. Was die Schickung schickt, ertrage!
Wer ausharret, wird gekrönt.
Placidus, der Stillgesinnte,
! Lebet noch in Hymnen jetzt;
Christlich wandt' er seinen Namen;
Seinen Namen nennt die Kirche
Preisend Sankt Eustachius.
Johann Gottfried von Herder. Sämtliche Werke. (Herausgegeben v. B. Suphan.) B. XXVIII.
1884. S. 237 ff.
61. Das Grab im Busento (410 n. Chr.).
1. Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder,
Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder.
2. Und den Fluß hinaus, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten,
Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten.
3. Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,
Während noch die Jugendlocken seine Schulter blond umgaben.
4. Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette;
Um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.
5. In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
Senkten tief hinein den Leichnam mit der Rüstung ans dem Pferde;
6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
Daß die hohen Stromgewächse wüchsen ans dem Heldengrabe.
7. Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen;
Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.
8. Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren l
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab versehren!"
9. Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere;
Wälze sie, Bnsentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!
Graf August von Platen. Gesammelte Werke. 1847. B. I. S. 126.
62. Gotentreue.
1. Erschlagen war mit dem halben Heer
Der König der Goten, Theodemer.
2. DieHunnen jauchzten auf blntigerWal,
Die Geier stießen herab zu Thal.
3. DerMond schien hell, derWind psiff kalt.
Die Wölfe heulten im Föhrenwald.
4. Drei Männer ritten durchs Heidegefild,
Den Helm zerschroten, zerhackt den Schild.
5. Der erste über dem Sattel quer
Trug seines Königs zerbrochenen Speer.
6. Der zweite des Königs Kronhelm trug,
Den mitten durch ein Schlachtbeil schlug.
7. Der dritte barg im treuen Arm
Ein verhüllt Geheimnis im Mantel warnl.
8. So kamen sie an den Jster tief,
Und der erste hielt mit dem Roß und rief:
171
9. „Ein zerhauener Helm, ein zerhackter 12. „Und tragt ihr des Königs Helm und
Speer: Speer,
Bon dem Reich der Goten blieb nicht Ihr treuen Gesellen: ich trage mehr."
mehr!" - 13. Auf schlug er seinen Mantel weich.
10. Und der zweite sprach: „In die „Ich trage der Goten Hort und Reich.
^ Wellen dort 14. Und habt ihr gerettetSpeer nndKron',
Versenkt den traurigen Gotenhort! Ich habe gerettet — des Königs Sohn!
11. Dann springen wir nach von dem 15. Erwache, mein Knabe! Ich grüße
Userrand — j dich:
Was säumest du, Meister Hildebrand?" j Du König der Goten, Jung Dieterich!"
Felix Dahn. — Bayerisches Dichterbuch zur 8. bayer. Landesausstellung. 1896. S. 33 f.
Im Gedichte ist Geschichte und Sage verwoben: Der Vernichtungskampf der Goten
fand am Dnjestr i. I. 875 statt, während Theodorich, in seiner Jugend Jung Dietrich ge-
nannt, erst 454 (in Attilas Todesjahre) geboren wurde und beim Tode seines Vaters
Theodemer (475) bereits 21 Jahre alt war.
63. Harmosan (637 n. Chr.).
1. Schon war gesunken in den Staub der Sassaniden alter Thron,
Es plündert Mosleminenhand das schätzereiche Ktesiphon;
Schon langt am Oxus Omar an nach manchem durchgekämpften Tag,
Wo Chosrus' Enkel Jesdegerd auf Leichen eine Leiche lag.
2. Und als die Beute mustern ging Medinas Fürst ans weitem Plan,
Ward ein Satrap vor ihn geführt, der hieß mit Namen Harmosan,
Der letzte, der im Hochgebirg dem kühnen Feind sich widersetzt;
Doch ach, die sonst so tapfre Hand trug eine schwere Kette jetzt!
3. Und Omar blickt ihn finster an und spricht: „Erkennst du nun, wie sehr
Vergeblich ist vor unserm Gott der Götzendiener Gegenwehr?"
Und Harmosan erwidert ihm: „In deinen Händen ist die Macht;
Wer einem Sieger widerspricht, der widerspricht mit Unbedacht.
4. Nur eine Bitte wag' ich uoch, abwägend dein Geschick und mein's:
Drei Tage focht ich ohne Trunk, laß reichen einen Becher Weins!"
Und auf des Feldherrn leisen Wink steht ihm sogleich ein Trunk bereit;
Doch Harmosan befürchtet Gifl und zaudert eine kleine Zeit.
5. „Was zagst du?" ruft der Sarazen; „nie täuscht ein Moslem seinen Gast.
Nicht eher sollst du sterben, Freund, als bis du dies getrunken hast!"
Da greift der Perser nach bem Glas und, statt zu trinken, schleudert hart
Zu Boden er's aus einen Stein mit rascher Geistesgegenwart.
6. Und Omars Mannen stürzen schon mit blankem Schwert ans ihn heran,
Zu strafen ob der Hinterlist den allzuschlauen Harmosan;
Doch wehrt der Feldherr ihnen ab und spricht sodann: „Er lebe fort!
Wenn was auf Erden heilig ist, so ist es eines Helden Wort."
Gras August von Platen. Gesammelte Werke. 1847. B. I. 131 f.
64. Kaiser Karl und die Normannen.
1. Stets zugegen und am Werke,
Wo es galt des Reiches Schutz,
Höhet Karl der Grenzen Stärke;
Doch daß es kein Feind vermerke,
Hält er nieder jeden Trutz.
2. Einst mit seinen reis'gen Grafen
Kam er an des Weltmeers Strand;
Eine Stadt mit ihrem Hafen
Sie im Schmuck der Zinnen trafen,
Die aus sein Geheiß entstand.
172
3. Froh empfangen vom Gedränge,
Läßt er nieder sich beim Mahl;
Da durchläuft der Gäste Menge
Ein Gerücht, und scharfe Klänge
Dringen schmetternd in den Saal.
4. Kaiser Karl, die Hand am Griffe,
Tritt in Ruh' zum Söller dar:
Wohl die Schau vom hohen Riffe
Zeigt ihm dichtbemannte Schiffe,
Deren Ziel die Rhede war.
5. Schon sich Fragen rings entspannen,
Welches Land sie ausgesandt,
Ob es Griechen, ob Britannen?
Aber Karl hat als Normannen
Sie auf einen Blick erkannt.
6. Und er ruft mit mächt'ger Stimme:
„Steckt des Reiches Banner aus!
Ihre Fracht ist eine schlimme,
Feinde sind es, ungestüme,
Laßt sie wagen einen Strauß!"
7. Aber kaum noch weht das Zeichen.
Als sich der Normann besinnt;
Voll Begierde, zu entweichen
Vor des Helden raschen Streichen,
Fliehend er die See gewinnt.
8. Längst sind, die mit Karl gekommen.
Neu vereint in Fröhlichkeit,
Aber er schweigt wie beklommen,
Wo den Sitz er eingenommen,
Von dem Meer nicht allzuweit.
9. Ungewiß, was ihn befallen.
Die Getreuen sich ihm nahn.
Bis, umgeben so von allen,
Er die Stimme läßt erschallen,
Deutend nach der Flücht'gen Bahn:
10. „Wisset: was mein Herz beweget,
Ist des Feindes kühner Sinn,
Der zum Einfall ihn erreget,
Ohne daß er auch erwäget,
Daß ich noch am Leben bin.
11. Die da wandeln schon auf Erden,
Wird beschützen meine Hand;
Doch die nach mir kommen werden,
Seh' ich unter Kriegsbeschwerden
Sinken ohne Widerstand."
Martin Greif. Gesammelte Werke. B. I. 1895°. S. 249 ff.
65. Die Ungarnschlacht an der Ennsburg (907).
1. Die Völker des Ostens, sie dringen heran,
Sie zeichnen mit Flammen und Blut die Bahn,
Sie brausen einher wie Stnrmeswind.
Weh Deutschland dir, dich leitet ein Kind!
2. Und Ludwig bebt: „Wer schützt mir die Mark?
Auf, Bayerns Herzog, so kühn und stark!"
Der spricht: „Ich wahre dir treuen Sinn,
Und willst du mein Leben, ich geb' es dir hin!"
3. Sie rüsten die Waffen, die spiegelnde Wehr.
An der Ennsburg schart sich der Deutschen Heer.
Wo die Donan strömet vorbei mit Macht,
Da lagern im Feld sie bei dunkler Nacht.
4. Ermattet vom Zuge, wie schlafen sie tief!
Doch warnend die Stimme des Wächters rief:
„Die Feinde stürmen!" Er rief es in Eil';
Schon stürzt er, getroffen vom Todespfeil.
5. Und im Flusse, so schaurig, da rauscht es und schäumt.
Erwacht, ihr Getreuen! Nicht länger gesäumt!
Dort schwimmt es und klimmt es am Uferrand;
Schnell greifet zum Schwerte, zum Eisengewand!
6. Unholden vergleichbar im nächtlichen Traum
Umschwammen die Heiden des Lagers Raum.
Mit funkelndem Blick in die Christenschar
Stürzt, gierig des Mordes, der wilde Magyar.
7. Rings schallt es von Hieben, Geschrei und Stoß,
Aus tiefen Wunden das Blut eutfloß.
Hub wie sich die Ebne vom Morgen erhellt,
Deckt manche Leiche das Würgefeld.
8. Und als sich nun Freund und Feind erkannt,
Ist heller am Tage ihr Zorn entbrannt.
Sie ringen in grauser Vertilgungsschlacht —
Da dunkelt aufs ueue hernieder die Nacht.
9. Doch stündlich mehrt sich des Feindes Wut,
Und Hord' um Horde, sie lechzt nach Blut.
Nicht wanken die Deutschen am zweiten Tag;
Am dritten endlich die Kraft erlag.
10. Da stürzt entseelt manch tapfrer Abt,
Manch Bischof, edel und mutbegabt.
Der Markgraf teilte der Seinen Not
llnd sank mit ihnen im Heldentod.
11. Herr Luitpold war es, der Schyren Ahn,
Der erste auf Wittelsbachs Ehrenbahn.
Er gab sein Leben dem Vaterland;
Drum bleibe sein Name mit Preis genannt!
Friedrich Beck. Gedichte. 1844. S. i89 ff.
66. Deutsches Aufgebot.
(Aus einer Kantate.)
1.
Der Kaiser saß mit Schwert und Buch
Im Stuhl, aus Erz gediegen,
Er wog das Recht und fand den Spruch,
Und Groll und Hader schwiegen.
Da scholl's am Thor wie Rosseshnf,
Da hub sich lauter Jammerruf
Im Gang und auf den Stiegen:
2.
„Es brach der Erzverwüster,
Der Heide brach ins Land;
Bon seinen Pfaden düster
Zum Himmel rarrcht der Brand.
Durch Hütteuschlltt und Saaten
Stürmt henlend seine Wnt,
Und seine Rosse waten
Bis an den Zaum im Blut.
Dem Greuel wie ein Rabe
Fliegt das Gerücht voraus,
Da greift entsetzt zum Stabe
Das Volk und wandert aus.
Sie schweifen ohne Stätte,
Dem scheuen Wilde gleich.
O Kaiser, hilf und rette
Vom Untergang das Reich!"
3.
Und die Stirne des Kaisers ward finster
wie Nacht,
Und hinter sich stieß er den Sessel mit
Macht,
Hinwarf er den Mantel, den roten,
Und er schlug an den Schild laut dröh-
nenden Schalls,
174
Und es stoben, die Zügel verhängt, ans
der Pfalz
Nach allen vier Winden die Boten.
Und die Gauen hindurch, wo die Donau
schwillt,
Wo die Elbe sich wälzt durch das Weizen-
gefild,
Wo den strudelnden Rhein sie befahren,
Aufflammten die Feuer von Berg und
von Turm,
Und die Glocken erklangen und läuteten
Sturm,
Und zum Heerbann strömten die Scharen.
4.
Horch, von den Dünen,
Horch, aus dem Tann
Wogen die kühnen
Sachsen heran:
Riesige Streiter
Rötlichen Barts,
Friesische Reiter,
Jäger vom Harz.
Blitzend im blanken
Panzergeschmeid
Folgen die Franken,
Freudig zum Streit.
Helmbüsche winken,
Fahnen im Flug;
Pauken und Zinken
Führen den Zug.
Siehst du den Leuen
Dort im Panier?
Hörst du es dräuen:
Bayern allhier!
Trutzig und bieder
Schreiten sie hin.
Eisern die Glieder,
Eisern der Sinn.
Horch, und im tausend-
Stimmigen Chor
Jubelt es brausend:
Schwaben empor!
Adlige Degen,
Städtische Macht,
Singend entgegen
Ziehn sie der Schlacht.
5.
Ins Lager nun, zum Kampf geschmückt,
Sind die Geschwader eingerückt,
Und vor dem Zelt des Kaisers weht
Das Banner, drin der Engel steht.
> Doch drüben, wo das breite Feld
Des Halbmonds Sichel trüb erhellt,
Liegt zahllos, wie der Sand am Meer,
! Ein Drachenknäul, das Ungarheer.
Da wühlt und wimmelt Haus an Hanf,
Viel tausend Feuer flackern auf,
Unheimlich durch den roten Dampf
Dröhnt Erzgeklirr und Husgestampf.
! Roßschweife flattern wild und fremd,
DerStierhelm gleißt, dasSchuppenhenid,
In Schädelbechern kreist der Wein,
Und gelle Lieder schallen drein:
6.
Gesang der Ungärn.
Bei Wettersgluten
Sind wir gezeugt,
Die Milch der Stuten
Hat uns gesäugt.
Wie Blitz' drum zücken
Wir durch die Welt,
Und Rosses Rücken
Ist unser Zelt.
Hohnssa, das rauchende Land zu durch-
stürmen,
Das Mahl für die Geier und Wölfe zu
türmen,
Das ist's, was den Söhnen der Steppe
gefällt!
Glückflammend ist heute
Das Opfer vollbracht,
Unendliche Beute
Verheißt uns die Schlacht.
Mit Roß denn und Wagen
Noch einmal ins Feld I
Zum tödlichen Jagen
Die Köcher bestellt!
Hohnssa, die Schwerter, die krummen,
geschliffen!
Wir packen die Krone mit blutigen Griffen,
Und morgen gehört uns die zitternde
Welt!
175
Chor der Priester.
Der du einst mit Donnerkrachen
Dich zum Abgrund niederschwangst
Und die Wut des Höllendrachen
Mit dem Flammeuschwert bezwangst,
Komm, vor unserm Heer zu schreiten,
Deutscher Waffen Kampfgesell!
Fürst des Lichtes, hilf uns streiten,
Hilf uns siegen, Michael!
8.
Gesang des deutschen Heeres.
So schwören wir, getreuen Muts
In Kampf und Todesweheu
Bis auf den letzten Tropfen Bluts
Für einen Mann zu stehen;
Aus West und Ost, aus Süd und Nord
Deutschland heißt das Losungswort,
Hie deutsches Reich für immer!
Wir fragen nichts nach Ruhm und Glanz,
Die sind gar bald verdorben;
Uns hat die Not des Vaterlands,
Die harte Not geworben.
Für Weib und Kind, für Haus und Herd
Zücken wir das scharfe Schwert,
Zu siegen oder zu sterben.
Komm an denn, Feind, wenn deutsches
Mark
Zu spüren dich gelüstet!
Hie steht ein Volk, in Eintracht stark,
In Gottes Kraft gerüstet.
Schmettre, Kriegsposaunenklang!
Brause, brause, Schlachtgesaug:
Hie deutsches Reich für immer!
Emanuel Geibel. Gesammelte Werke. 1883. B. IV. S. i4ä ff.
67. Kaiser Otto 1. (941).
1. Zu Quedlinburg im Dome ertönet Glockenklang,
Der Orgel Stimmen brausen zum ernsten Chorgesang;
Es sitzt der Kaiser drinnen mit seiner Ritter Macht,
Voll Andacht zu begehen die heil'ge Weihenacht.
2. Hoch sitzt er in dem Kreise, von männlicher Gestalt,
Das Auge scharf wie Blitze, von goldncm Haar umwallt;
Mau hat ihn nicht zum Scherze den Löwen nur genannt,
Schon mancher hat empfunden die löwenstarke Hand.
3. Wohl ist auch jetzt vom Siege er wieder heimgekehrt,
Doch nicht des Reiches Feinden hat mächtig er gewehrt;
Es ist der eigne Bruder, den seine Waffe schlug,
Der dreimal der Empörung blutrotes Banner trug.
4. Zu Quedlinburg vom Dome ertönt die Mitternacht,
Vom Priester wird das Opfer der Messe dargebracht;
Es beugen sich die Kniee, es beugt sich jedes Herz,
Gebet in heil'ger Stunde steigt brünstig himmelwärts.
5. Da öffnen sich die Pforten, es tritt ein Mann herein,
Es hüllt die starken Glieder ein Büßerhemde ein;
Er schreitet auf den Kaiser, er wirft sich vor ihm hin,
Die Knie' er ihm umfasset mit tiefgebeugtem Sinn.
6. „O Bruder, meine Fehle, sie lasten schwer auf mir,
Hier liege ich zu Füßen, Verzeihung flehend, dir;
Was ich mit Blut gesündigt, die Gnade macht es rein,
Vergib, o strenger Kaiser, vergib, dn Bruder mein!"
176
7. Doch strenge blickt der Kaiser den sünd'gen Bruder an:
„Zweimal hab' ich vergeben, nicht fürder mehr fortan;
Die Acht ist ausgesprochen, das Leben dir geraubt,
Nach dreier Tage Wechsel, da fällt dein schuldig Haupt."
8. Bleich werden rings die Fürsten, der Herzog Heinrich bleich,
Und Stille herrscht im Kreise gleichwie im Totenreich.
Man hätte mögen hören jetzt wohl ein fallend Laub;
Denn keiner wagt zu wehren dem Löwen seinen Raub.
9. Da hat sich ernst zum Kaiser der fromme Abt gewandt,
Das ew'ge Buch der Bücher, das hält er in der Hand;
Er liest mit lauter Stimme der heil'gen Worte Klang,
Daß es in aller Herzen wie Gottes Stimme drang:
10. „Und Petrus sprach zum Herren: Nicht so? Genügt ich hab',
Wenn ich dem sünd'gen Bruder schon siebenmal vergab?
Doch Jesus ihm antwortet: Nicht siebenmal vergib,
Nein, siebenzigmal sieben, das ist dem Vater lieb."
11. Da schmilzt des Kaisers Strenge in Thränen unbewußt;
Er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust.
Ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht:
Nie schöner ward begangen die heil'ge Weihenacht.
Heinrich von Mühler. Gedichte. 1879*. S. 134 ff.
68. Eine alte Geschichte (978).
1. Einst saß in Sommertagen ein deutscher König am Rhein,
Er labte sich am Bade und trank den kühlen Wein;
Hat siegreich jüngst geschlagen im Osten blutigen Strauß,
Nun ruht er mit Behagen zu neuen Kämpfen aus.
2. Doch drüben aus Frankreichs Throne kocht einer alten Groll,
Der aller Listen Meister und aller Ränke voll;
Sein Thron will aus den Fugen, den leimt' er gern mit Blut,
Auch deuchte seinen Augen das Land am Rheine gut.
3. Und als er heimlich gerüstet, da griff er rasch zur Wehr,
Ergoß durch Lotharingen sein wildes, wüstes Heer.
Der Deutsche will's nicht glauben, er glaubt an Ehr' und Treu',
Jetzt steht er auf im Zorne, die Mähnen schüttelt der Leu.
4. Er ruft des Reiches Fürsten, die stehn für einen Mann:
„Der Schimpf, der dir geboten, ist allen angethan.
Wir leisten Heeresfolge, wir rollen die Banner auf.
Wir sammeln unsre Völker, wir kommen all zuhauf!"
5. Da schickt der König Boten dem welschen Widerpart:
„Nicht Überfall und Eidbruch ist deutscher Brauch und Art,
Du brichst den Krieg vom Zaune, du sollst ihu haben, den Krieg!
Gott richte unsre Sache und helfe dem Rechte zum Sieg!"
6. Und wie die Bäche zu Strömen, die Ströme sich sammeln zum Meer,
So flutet aus allen Gauen zusammen das deutsche Heer;
177
Schnurstracks Paris entgegen wälzt es den Siegeslauf,
Pflanzt aus Montmartres Höhen des Reiches Adler aus.
7. Und als zum Kreuz gekrochen der welsche Schalk und Schelm,
Da schmückte der Heldenkönig mit Eichenlaub den Helm,
Zog neu mit seinem Schwerte des deutschen Reiches Mark
Und sprach: „Habt Dank, ihr Fürsten! Die Eintracht macht uns stark." —
8. Und fragt ihr mich nach Namen: Wer, wo und wie und wann?
So wißt: Otto der Zweite, so hieß der deutsche Mann,
Der welsche Schelm und Räuber, der aber hieß Lothar;
Neunhundertachtundsiebzig schrieb man im selben Jahr.
9. Es ist eine alte Geschichte und ist kein neues Gedicht,
Bei Giesebrecht, dem Meister, da lest ihr den Bericht.
Es ist eine alte Geschichte, doch wird sie immer noch neu,
Von welschem Trug und Tücke, von deutscher Kraft und Treu'.
Karl Gerok. Eichenlaub. 1871°. S. 22 f.
69. Kaiser Ottos in. Leichenzug (Januar 1002).
1. Gleich dunkeln Trauerflören hängen Die ihr, von Feindeshand entboten,
Die Wolken über Schlucht und Höhn, Das fromme Werk der Liebe wehrt,
Des Bergstroms trübe Wogen drängen , Zurück! Es gilt, dem teuern Toten
Zu Thal mit zornigem Getön. ' Die Heimfahrt schirmen mit dem Schwert!
Des Adlers Schrei hoch in den Lüften, 4. Tief unten rauchen heim'sche Herde,
Des Sturmes Saufen fchwer und bang, And nordwärts zieht der Ströme Lauf;
Lawmendonner in den Kluften: £) njmm, heil'ge Muttererde,
Welch majestät'scher Grabgesang! Die Leiche deines Kaisers auf!
2. Sieh, starke, treue Männer tragen Durch Wintersturm und Wettergrauen,
Den reichumhüllten Totenschrein, Vom Land, wo ew'ger Frühling lacht,
Der schließt — o Wort voll Weh und Kehrt er zu euch, ihr deutschen Gauen,
Klagen! — Zn ruhn in ew'ger Todesnacht!
Die Leiche eines Kaisers ein. 5. gu Aachen in dem Kaiserdome
Ihr Angesicht, das trauerbleiche, Ist ihm bereit der Sarkophag,
Schaut nach dem Saumpfad unverwandt, singt vom Rhein, dem deutschen
Und festgeballt, bereit zum Streiche, ' Strome,
Am Schwertgriff haftet ihre Hand. @jn Schlummerlied der Wellenschlag.
3. Er jagte nach erträumtem Glücke, Zu dem er einst hinabgestiegen,
Nach Romas Krone stand sein Sinn; Gelobend, ganz ihm gleich zu sein,
Bald, müdgesetzt von welscher Tücke, An seiner Seite wird er liegen;
Legt' er das Haupt zum Sterben hin. Der große Karl er harret fein I
Ludwig Bauer. Dieses Buch gehört der Jugend. 1893. S. 7.
Str. 5. Zu dem Grabe Karls des Großen im Dome zu Aachen hatte Otto III. im
Jahre 1000 ein? Wallfahrt unternommen.
70. Kaiser Heinrich 11. (Sept. 1023).
1. Das Haupt gebeugt, das Herz voll Leid,
Statt Pnrpurmantels im härenen Kleid —
2. Er trat ins Kloster statt ins Zelt,
Der zweite Heinrich, müde der Welt.
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Bd. IV. 12
178
3. Die goldne Krön' und des Scepters Stab
Trug ihm fein treu'ster Edelknab.
4. Und der Kaiser sprach: „Die irdische Zier,
Vor Gottes Altar ruhe sie hier!"
5. Vor trat der Abt in der Mönche Kreis;
Sein Kleid war schwarz, sein Haupt war weiß.
6. Und der Kaiser beugt' vor ihm das Knie.
„Mein Leben," sprach er, „beschließ' ich hie.
7. Mich drückt zu schwer der Krone Last,
Im Dienst des Herrn drum such' ich Rast.
8. Mir wogt zu wild des Lebens Meer
Und treibt mich tückisch hin und her.
9. Mein Schwert war tapfer früh und spat,
Doch liegt's gebrochen durch Verrat.
10. Nach Welschland mußt' ich hinüberziehn,
Zu bänd'gen den wilden Hardnin.
11. Und als ich dort aufs Haupt ihn traf.
Lärmt' hier der Pole Boleslav.
12. Als diesen bezwungen kaum mein Schwert,
Da brannt' aufs neue Welschlands Herd.
13. So über die Alpen jagte das Spiel
Lang hin und her mich, bis ich fiel —
14. Der Freund verließ mich in der Schlacht;
Das hat dem Polen den Sieg gebracht,
15. Daß mich er, seinen Herrn, bezwang
Und in das Mark des Reiches drang.
16. Mich drückt zu schwer der Krone Last;
O gönnt dem müden Kämpfer Rast!
17. Hier ende still einst Heinrichs Lauf;
O frommer Vater, nimm mich ans!"
18. Der Kaiser sprach's, tief lag er da;
Der Abt auf ihn herniedersah:
19. „Dein Schmerz hat Schmerz in mir erzeugt;
Es hat der Herr dich tief gebeugt.
20. Doch kennst du auch, mein Sohn, mein Sohn,
Des Ordens Last und Mühen schon?
21. Wirst du sie tragen sonder Scheu,
Und schwörst du Gehorsam ihm und Treu'?" —
22. „Ich will sie tragen treu und gern
Und biete mich ganz dem Dienst des Herrn.
23. Auf lege mir die schwerste Last,
Die du dem Geringsten zu geben hast!
24. Ich trage willig jede Not
Und schwöre Treu' dir bis zum Tod." —
179
25. „Wohlan bettn!" tönte gebieterisch
Des Greises Stimme jugendsrisch;
26. „Schworst du Gehorsam sonder Hehl,
So höre meinen ersten Befehl:
27. Setz ans dein Haupt die Krone dort
Und pflege deines Amts hinfort!"
28. Der Kaiser sah den srommett Greis —
Sein Odem stockt', seine Stirn ward heiß.
29. Seine Häitde deckten der Wangen Rot,
Und stumm befolgt' er des Herrn Gebot.
Bernhard v. Lepel.— O. F. Gruppe. Sagen u. Geschichten des deutschen Volkes. 1854. S. 200 ff.
71. Das Lied vom Kaisersohn und vom getreuen Grasen (1030).
(Herzog Ernst von Schwaben und Werner von Kyburg.)
1. „Mein Vater liegt im kühlen Grab;
Meine Mutter that ihn verschmerzen,
Die einem neuen Gatten gab
Mein Land mit ihrem Herzen.
Nun ist mein Richter — ihr Gemahl:
Der Waisen Hort auf Erden,
Der Kaiser selbst mein Erbe stahl.
Und nie kamt Recht mir werden.
2. Geächtet bin ich und verbannt.
Gehetzt mit Horn und Hundeit,
Ein Bettler irr' ich durch das Land,
Der Herzog der Burgunden!
Nicht Vater, Mutter, Weib und Kind
Darf ich mein eigen nennen;
' Die Wölfe sind mein Hofgesind,
Die in den Wäldern rennen.
3. Nur dich, mein Flennd, dich hab'
ich noch, °
Mein Werner, du Getreuer,
Mir mehr als Reich und Scepter doch,
Als Erd' und Himmel teuer.
Drei Kronen ob der Kaiser hält
Und Perlen und Juwele,
Mein ist der reichste Schatz der Welt;
Denn mein ist deine Seele.
4. Die Menschen lassen uns keine
Wahl,
Sie habett uns ausgetrieben;
Wir wollen sie hassen allzumal,
Uns beide woll'tt wir lieben!"
Der Herzog sang's auf dem Falkenstein,
Der schnttzerfallnen Feste,
HerrWerner kredenzt' ihm Brot und Wein,
Die Eulen waren die Gäste.
5. Dann deckt' er ihn mit dem Man-
tel zu,
Dem einz'gen, den sie hattett;
Der Kaisersohn schlief ein in Ruh
Auf armen Bittsenmatten.
Herr Werner zog den scharfen Stahl,
Hielt Wach' am Thor von ferne,
Und hell mit ihrem schönsten Strahl
Liebkosten ihn die Sterne.
6. So lebten sie, vom Sturm um-
! fegt.
Ein Leben weltverschollen,
Wie oft im Wald ein Recke pflegt,
Dem Recht und Richter grollen.
| Und jagt der eine Wild und Fisch,
Der andre schirmt die Feste;
Der reiche Schwarzwald deckt den Tisch
Dem Kaisersohn aufs beste.
7. Ilnd tver zurück vom Jagen kam.
Der sollte spähn bedächtig
Und schnell, wenn er Gefahr vernahm.
Ins Hifthorn stoßen mächtig,
Auf daß durch einen dunkeln Gang
Tief unter der Donau Bette
Der andre Freund sich ivaldentlang
Hinaus ins Freie rette.
8. Lang ungefährdet lebten sie
Im dichten Tanngehege,
Und nur der blaue Häher schrie,
Verscheucht ans ihrem Wege.
Doch einst kam Werner Don der Birsch
Im ersten Abenddnnkeln,
Am Rückeit trug er den jungen Hirsch,
Da sah er Helme funkeln.
12*
180
9. Und sechzig Reiter eisenfest
Sieht er des Weges traben,
Ihr Banner fliegt gebauscht im West,
Die Grafenfahn' von Schwaben.
Er stutzt — da sprengt Graf Mangold
schnell
Zu ihm mit blankem Schwerte:
„Du bist des Todes, Weidgesell,
Verrätst du unsre Fährte!
10. Auf, nehmt ihn in die Mitte
fest —
Er stirbt, will er sich rühren —
Und vorwärts auf das Felsennest,
Die Marder aufzuspüren!"
Und weiter leise trabt der Zug —
Herr Werner späht mit Sehnen —
Da sieht er an dem Manerbng
Den jungen Herzog lehnen.
11. Und nach dem Horn greift er
in Hast
Und stößt darein mit Schallen:
„Flieh, Herzog Ernst, flieh ohne Rast!"
Laut ruft er's noch im Fallen.
Und Herzog Ernst vernahm den Ruf
Und wandte sich erschrocken
Und sah zerstampft von Rosses Huf
Herrn Werners braune Locken.
12. Und sah den Führer ziehn den
Stahl
Rot aus Herrn Werners Herzen;
Er sah's und schrie und sprang zu Thal
Und schwang sein Schwert in Schmerzen,
Vorüber am geheimen Weg,
Herab den Fels, den Hügel,
Hoch über Graben, Wall und Steg —
Es war, als hätt' er Flügel.
13. Und „Werner!" schreit er jetzt
am Ziel;
Da sprach der Graf behende:
„Ist das Herr Werner, der da fiel?
Da ist mein Amt zu Ende.
Der Kaiser grollt nur ihm allein,
Der ihm dein Herz genommen,
Du aber sollst begnadet sein,
Herr Herzog, und willkommen.
14. Lothringen sollst du und Burgund
Und des Vaters Erbe haben;
Ich bürg' es dir mit Hand und Mund,
Ich, Mangold, Gras von Schwaben." —
„Ha, Fluch dir und dem Kaiser Fluch!
Gebt mir Herrn Werner wieder!"
Und scharf durch Schild und Brünne schlug
Sein Schwert den Grafen nieder.
15. Und schlug den Bannerwart da-
nach
Und schlug noch drei der Knechte,
Bis klirrend ihm die Klinge brach
Und riß das Brnstgeflechte.
Da traf ein Speer, die Knechte flohn
Und ließen die Freunde schlafen. —
Das ist das Lied vom Kaisersohn
Und vom getreuen Grafen.
Felix Dahn. Deutsche Jugend. B. X. 1877. S. 72 f.
78. Die Weiber von Winsperg [= Weinsberg^ (1140).
1. Der erste Hohenstaufen, der König Konrad, lag
Mit Heeresmacht vor Winsperg seit manchem langen Tag;
Der Welfe war geschlagen, noch wehrte sich das Nest,
Die unverzagten Städter, die hielten es noch fest.
2. Der Hunger kam, der Hunger! Das ist ein scharfer Dorn.
Nun suchten sie die Gnade, nun fanden sie den Zorn:
„Ihr habt mir hier erschlagen gar manchen Degen wert,
Und öffnet ihr die Thore, so trifft euch doch das Schwert."
3. Da sind die Weiber kommen: „Und muß es also sein,
Gewährt uns freien Abzug, wir sind vom Blute rein!"
Da hat sich vor den Armen des Helden Zorn gekühlt.
Da hat ein sanft Erbarmen im Herzen er gefühlt.
181
4. „Die Weiber mögen abziehn, und jede habe frei,
Was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei;
Laßt ziehn mit ihrer Bürde sie ungehindert fort!"
Das ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort.
5. Und als der frühe Morgen im Osten kaum gegraut,
Da hat ein seltnes Schauspiel vom Lager man geschaut:
Es öffnet leise, leise sich das bedrängte Thor,
Es schwankt ein Zug von Weibern mit schwerem Schritt hervor.
6. Tief beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht,
Sie tragen ihre Eh'herrn, das ist ihr liebstes Gut.
„Halt an die argen Weiber!" ruft drohend mancher Wicht;
Der Kanzler spricht bedeutsam: „Das war die Meinung nicht."
7. Da hat, wie er's vernommen, der fromme Herr gelacht:
„Und war es nicht die Meinung, sie haben's gut gemacht;
Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht,
Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht."
8. So war das Gold der Krone wohl rein und unentweiht.
Die Sage schallt herüber aus halbvergess'ner Zeit.
Im Jahr elfhundertvierzig, wie ich's verzeichnet fand.
Galt Königswort noch heilig im deutschen Vaterland.
Adelbert von Chamisso. Gesammelte Werke. B. I. S. 250.
73. Hartmann von Siebeneichen (1168).
1. Der Kaiser Barbarossa
Zog hin ins welsche Land,
Wo er statt Sieg und Ehre
Nur Leid und Unglück fand.
2. Bei Susa stehet einsam
Ein abgelegnes Haus,
Es ruhte dort der Kaiser
Bon seinen Nöten aus.
3. Ach wehe, Barbarossa,
Wer wies dir diesen Pfad?
Das Haus ist rings umstellet
Von Mördern und Verrat.
4. Es sprach der Wirt voll Reue:
„Wie ist es mir so leid!
Ich wollte gern dich retten,
Doch nimmer ist es Zeit."
5. Da rief der Kaiser klagend:
„Nun wehe diesem Ort,
Wo fallen soll ein Kaiser
Durch feigen Meuchelmord!
6. Gott schütz' die deutsche Krone,
Gott schütz' die Seele mein!
Und muß ich heute sterben,
So soll's in Ehren sein!
7. O Deutschland, du mein treues,
Wärst du nicht, ach, so fern,
Kein Mörder würde wagen,
Zu morden deinen Herrn."
8. Da rief ein Ritter flehend
Und kniete sich vor ihn:
„Herr Kaiser, eine Gnade,
' Die werde mir verliehn!" —
9. „Mein Reich," sprach Barbarossa,
„Das wird ein Grab bald sein;
j Drum will ich gern gewähren,
Kann ich noch was verleihn." —
10. „Das Größte," sprach der Ritter,
„Hast, Kaiser, du gewährt;
Für dich den Tod zu leiden,
Das ist's, was ich begehrt."
182
11. Des Kaisers Purpurmantel
Hat er drauf umgethan
Und legte dann ihm selber
Des Dieners Kleider an.
12. Der Kaiser ging von dannen,
Den Wächtern rief er zu:
„Bin Barbarossas Diener,
Laßt ziehen mich in Ruh'!
13. Die Herberg zu bereiten,
Ward ich voraus gesandt;
Sein Nahen soll ich künden
Daheim im Vaterland."
14. Da ließen sie den Kaiser
Zum sichern Thor hinaus;
Sie selber aber brachen
Um Mitternacht ins Haus.
Fr. G. Pocci
74. Der Scheu!
1. Zu Limburg auf der Feste,
Da wohnt' ein edler Graf,
Den keiner seiner Gäste
Jemals zu Hause traf.
Er trieb sich allerwegen
Gebirg und Wald entlang;
Kein Sturm und auch kein Regen
Verleidet' ihm den Gang.
2. Er trug ein Wams von Leder
Und einen Jägerhut
Mit mancher wilden Feder;
Das steht den Jägern gut.
Es hing ihm an der Seiten
Ein Trinkgefäß von Buchs;
Gewaltig konnt' er schreiten
Und war von hohem Wuchs.
3. Wohl hatt' er Knecht und Mannen
Und hatt' ein tüchtig Roß,
Ging doch zu Fuß von dannen
Und ließ daheim den Troß.
Es war sein ganz Geleite
Ein Jagdspieß stark und laug,
An dem er über breite
Waldströme kühn sich schwang.
4. Nun hielt auf Hohenstaufen
Der deutsche Kaiser haus;
Der zog mit hellen Haufen
Einsmals zu jagen aus.
15. Sie traten vor den Ritter,
Der dort als Kaiser schlief;
Sie stießen ihre Schwerter
Ihm in das Herz so tief.
16. „Nun fahre heim, du Kaiser!"
So rief die wilde Schar;
Es wußte nicht die böse,
Daß er gerettet war,
17. Gerettet durch die Treue,
Die litt den Opsertod,
Die kühn die Brust den Mördern
Für ihren Kaiser bot.
18. Mit Kränzen deutscher Eichen
Schmück' ihn, mein Vaterland!
Hartmann von Siebeneichen,
So ist der Held genannt,
und G- Gö rres. Festkalender. I. 4. S. VI.
von Limburg.
Er rannt' auf eine Hiude
So heiß und hastig vor,
Daß ihn sein Jagdgesinde
Im wilden Forst verlor.
5. Bei einer kühlen Quelle,
Da macht' er endlich Halt;
Gezieret war die Stelle
Mit Blumen mannigfalt.
Hier dacht' er sich zu legen
Zu einem Mittagschlaf,
Da rauscht' es in den Hägen
Und stand vor ihm der Gras.
6. Da hub er au zu schelten:
„Treff' ich den Nachbar hie?
Zu Hause weilt er selten,
Zu Hofe kommt er nie;
Alan muß im Walde streifen.
Wenn man ihn sahen will;
Man muß ihn tapfer greifen,
Sonst hält er nirgends still."
7. Als drauf ohn' alle Fährde
Der Graf sich niederließ
Und neben in die Erde
Die Jägerstange stieß,
Da griff mit beiden Händen
Der Kaiser nach dem Schaft:
„Den Spieß muß ich mir pfänden,
Ich nehm' ihn mir zu Haft.
183
8. Der Spieß ist mir verfangen,
Des ich so lang begehrt;
Du sollst dafür empfangen
Hier dies mein bestes Pferd.
Nicht schweifen im Gemälde
Darf mir ein solcher Mann,
Der mir zu Hof und Felde
Viel besser dienen kann." —
9. „Herr Kaiser, wollt vergeben!
Ihr macht das Herz mir schwer.
Laßt mir mein freies Leben
Und laßt mir meinen Speer!
Ein Pferd hab' ich schon eigen,
Für Eures sag' ich Dank;
Zu Rosse will ich steigen,
Bin ich mal alt und krank." —
10. „Mit dir ist nicht zu streiten.
Du bist mir allzu stolz.
Doch führst du an der Seiten
Ein Trinkgefäß von Holz;
Nun macht die Jagd mich dürsten,
Drum thu mir das, Gesell,
Und gib mir eins zu bürsten
Aus diesem Wasserquell!"
11. Der Graf hat sich erhoben;
Er schwenkt den Becher klar,
Er füllt ihn an bis oben,
Hält ihn dem Kaiser dar.
Der schlürft mit vollen Zügen
Den kühlen Trank hinein
lind zeigt ein solch Vergnügen,
Als wär's der beste Wein.
12. Dann faßt der schlaue Zecher
Den Grafen bei der Hand:
„Du schwenktest mir den Becher
Und fülltest ihn zum Rand,
Du hieltest mir zum Munde
Das labende Getränk;
Du bist von dieser Stunde
Des deutschen Reiches Schenk."
Ludwig Uh land. Gedichte und Dramen. 1863. B. II. S. 275 ff.
Limburg, heute eine Ruine, lag auf der schwäbischen Alp südöstlich von Schwäbisch-
Hall am Kocher und war Stammsitz der reichsfreien Grafen von Limburg, welche des heiligen
römischen Reiches Erbschenken hießen. Die Burg Hohenstaufen bei Göppingen war südlich von
der Limburg. Das Gedicht hat weder einen historischen noch einen sagenhaften Hintergrund,
sondern stellt in einem Phantasiegebilde dar, wie das Amt eines kaiserlichen Erbschenken an
die Grafen von Limburg gekommen.
75. Friedrich Rotbart.
1. Tief im Schoße des Kyffhäusers
Bei der Ampel rotem Schein
Sitzt der alte Kaiser Friedrich
An dem Tisch von Marmorstein.
2. Ihn umwallt der Purpurmantel,
Ihn umfängt der Rüstung Pracht;
Doch aus seinen Augenwimpern,
Liegt des Schlafes tiefe Nacht.
3. Vorgesunken ruht das Antlitz,
Drin sich Ernst und Milde paart;
Durch den Marmortisch gewachsen
Ist sein langer, goldner Bart.
4. Rings wie eh'rne Bilder stehen
Seine Ritter um ihn her.
Harnischglänzend, schwertumgürtet,
Aber tief im Schlaf wie er.
5. Heinrich auch, der Ofterdinger,
Ist in ihrer stummen Schar,
Mit den liederreichen Lippen,
Mit dem blondgelockten Haar.
6. Seine Harfe ruht dem Sänger
In der Linken ohne Klang,
Doch aus seiner hohen Stirne
Schläft ein künftiger Gesang.
7. Alles schweigt, nur hin und wieder
Fällt ein Tropfen voni Gestein,
Bis der große Morgen plötzlich
Bricht mit Feuersglut herein;
8. Bis der Adler stolzen Fluges
Um des Berges Gipfel zieht,
Daß vor seines Fittichs Rauschen
Dort der Rabenschwarm entflieht.
184
9. Aber dann wie ferner Donner
Rollt es durch den Berg herauf,
Und der Kaiser greift zum Schwerte,
Und die Ritter wachen auf.
10. Laut in seinen Angeln dröhnend
Thut sich auf das eh'rne Thor,
Barbarossa mit den Seinen
Steigt im Waffenschmuck empor.
Emanuel G
11. Aus dem Helm trägt er die Krone
Und den Sieg in seiner Hand;
Schwerter blitzen, Harfen klingen,
Wo er schreitet durch das Land.
12. Und dem alten Kaiser beugen
Sich die Völker allzugleich,
Und aufs neu zu Aachen gründet
Er das heil'ge deutsche Reich.
b e l. Gesammelte Werke. 1883. B. I. S. 91 ff.
76. Vogelweide.
1. Walther von der Vogelweide
War ein wackrer Sängersmann,
Sich und anderen zur Freude
Stimmt' er seine Lieder an.
2. Walther von der Vogelweide
Sagt' und sang aus Herzensgrund,
Nahm in Freude wie im Leide
Sich kein Blättlein vor den Mund.
3. That sich Zwang in keinem Dinge,
Recht so wie der Vogel singt.
Der da singt, damit er singe,
Nicht, weil's Lob und Lohn ihm bringt.
4. Und so wie der Vogel eben
Sich bald da, bald dort gefällt,
Zog er hin und her im Leben,
Seine Weide war die Welt.
5. Sechzig Lenze schon hat Walther
Eingeläutet mit Gesang,
Bis auch seinem frischen Alter
Einst das letzte Stündlein klang.
6. Dort zu Würzburg legt' er nieder
Seinen morschen Wanderstab,
Bat im letzten seiner Lieder
Um ein stilles Sängergrab;
| 7. Bat, daß sie das Grab bedecken
Einfach nur mit rohem Stein,
Welcher hohl an seinen Ecken,
Hohl auch oben möge sein.
8. In die hohlen Ecken gieße
Man alltäglich klare Flut,
Daß ein Born dem Vogel fließe.
Der darauf vom Fluge ruht.
9. Oben in die Mulde streue
Mau alltäglich frisches Korn,
Daß der Vogel baß sich freue,
Träf' er Atzung auch am Born. —
10. Was er wünscht', es ward vollzogen,
Korn und Wasser fehlte nie,
Und so kam's zum Grab geflogen,
Scharenweis', voll Melodie.
I 11. Wenn noch kaum der Morgen graute,
Sang und zwitschert' es schon drauf;
Wenn der Mond durch Wolken schaute,
Saßen dort die Vöglein auf.
12. Recht so eine Vogelweide
Gab es, wo im kühlen Hag
Walther von der Vogelweide,
Nie des Lieds entbehrend, lag.
Joh. Gabr. Seidl. Gesammelte Schriften. 1877. II. (Bifolien). S. 99 ff.
77. Der Graf von Habsburg (1273).
1. Zu Aachen in seiner Kaiserpracht
Im altertümlichen Saale
Saß König Rudolfs heilige Macht
Beim festlichen Krönungsmahle.
Die Speisen trug der Pfalzgraf des Rheins,
Es schenkte der Böhme des perlenden Weins,
Und alle die Wähler, die sieben,
Wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt,
Untstanden geschäftig den Herrscher der Welt,
Die Würde des Amtes zu üben.
185
2. Und rings erfüllte den hohen Balkon
Das Volk in freud'gem Gedränge,
Laut mischte sich in der Posaunen Ton
Das jauchzende Rufen der Menge;
Denn geendigt nach langem verderblichen Streit
War die kaiserlose, die schreckliche Zeit,
Und ein Richter war wieder auf Erden.
Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer,
Nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr.
Des Mächtigen Beute zu werden.
3. Und der Kaiser ergreift den goldnen Pokal
Und spricht mit zufriedenen Blicken:
„Wohl glänzet das Fest, wohl pranget das Mahl,
Mein königlich Herz zu entzücken;
Doch den Sänger vermiss' ich, den Bringer der Lust,
Der mit süßem Klang mir bewege die Brust
Und mit göttlich erhabenen Lehren.
So hab' ich's gehalten von Jugend an,
Und was ich als Ritter gepflegt und gethan.
Nicht will ich's als Kaiser entbehren."
4. Und sieh I in der Fürsten umgebenden Kreis
Trat der Sänger im langen Talare;
Ihm glänzte die Locke silberweiß,
Gebleicht von der Fülle der Jahre.
„Süßer Wohllaut schläft in der Saiten Gold,
Der Sänger singt von der Minne Sold,
Er preiset das Höchste, das Beste,
Was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt;
Doch sage, was ist des Kaisers wert
An seinem herrlichsten Feste?" —
5. „Nicht gebieten werd' ich dem Sänger," spricht
Der Herrscher mit lächelndem Munde,
„Er steht in des größeren Herren Pflicht,
Er gehorcht der gebietenden Stunde.
Wie in den Lüsten der Sturmwind saust,
Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust,
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen,
So des Sängers Lied aus dem Innern schallt
Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen."
6. Und der Sänger rasch in die Saiten fällt
Und beginnt, sie mächtig zu schlagen:
„Aufs Weidwerk hinaus ritt ein edler Held,
Den flüchtigen Gemsbock zu jagen.
Ihm folgte der Knapp mit dem Jägergeschoß,
Und als er auf seinem stattlichen Roß
In eine Au kommt geritten,
Ein Glöcklein hört er erklingen fern;
Ein Priester war's mit dem Leib des Herrn,
Voran kam der Mesner geschritten.
7. Und der Graf zur Erde sich neiget hin,
Das Haupt mit Demut entblößet,
Zu verehren mit gläubigem Christensinn,
Was alle Menschen erlöset.
Ein Bächlein aber rauschte durchs Feld.
Von des Gießbachs reißenden Fluten geschwellt,
Das hemmte der Wanderer Tritte.
Und beiseit legt jener das Sakrament,
Von den Füßen zieht er die Schuhe behend,
Damit er das Bächlein durchschritte.
8. „Was schaffst du?" redet der Graf ihn an,
Der ihn verwundert betrachtet.
„Herr, ich walle zu einem sterbenden Mann,
Der nach der Himmelskost schmachtet.
Und da ich mich nahe des Baches Steg,
Da hat ihn der strömende Gießbach hinweg
Im Strudel der Wellen gerissen.
Drum daß dem Lechzenden werde sein Heil,
So will ich das Wässerlein jetzt in Eil'
Durchwaten mit nackenden Füßen."
9. Da setzt ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd
Und reicht ihm die prächtigen Zäume,
Daß er labe den Kranken, der sein begehrt,
Und die heilige Pflicht nicht versäume.
Und er selber auf seines Knappen Tier
Vergnüget noch weiter des Jagens Begier;
Der andre die Reise vollführet.
Und am nächsten Morgen mit dankendein Blick,
Da bringt er dem Grasen sein Roß zurück,
Bescheiden am Zügel geführet.
10. „Nicht wolle das Gott," ries mit Demutsinn
Der Graf, „daß zum Streiten und Jagen
Das Roß ich beschritte fürderhin,
Das meinen Schöpfer getragen!
Und magst du's nicht haben zu eignem Gewinst.
So bleib' es gewidmet dem göttlichen Dienst!
Denn ich hab' es dem ja gegeben.
Von dem ich Ehre und irdisches Gut
Zu Lehen trage und Leib und Blut
Und Seele und Atem uitb Leben." —
11. „So mög' Euch Gott, der allmächtige Hort,
Der das Flehen der Schwachen erhöret.
Zu Ehren Euch bringen hier und dort,
So wie Ihr jetzt ihn geehret!
Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt
Durch ritterlich Walten im Schweizerland,
Euch blühn sechs liebliche Töchter.
187
So mögen sie," rief er begeistert aus,
„Sechs Kronen Euch bringen in Euer Haus,
Und glänzen die spätsten Geschlechter!"
12. Und mit sinnendem Haupt saß der Kaiser da,
Als dächt' er vergangener Zeiten;
Jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah.
Da ergreift ihn der Worte Bedeuten.
Die Züge des Priesters erkennt er schnell
Und verbirgt der Thränen stürzenden Quell
In des Mantels purpurnen Falten.
Und alles blickte den Kaiser an
Und erkannte den Grafen, der das gethan.
Und verehrte das göttliche Walten.
Friedr. v. Schiller. Sämtliche Schriften. Histor.-krit. Ausg. v. K. Goedeke. 1871. B. XI. S. 382 ff.
78. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe. (1291).
1. Auf der Burg zu Germersheim,
Stark am Geist, am Leibe schwach,
Sitzt der greise Kaiser Rudolf,
Spielend das gewohnte Schach.
2. Und er spricht: „Ihr guten Meister,
Arzte, sagt mir ohne Zagen:
Wann aus dem zerbrochnen Leib
Wird der Geist zu Gott getragen?"
3. Und die Meister sprechen: „Herr,
Wohl noch heut' erscheint die Stunde."
Freundlich lächelnd spricht der Greis:
„Meister, Dank für diese Kunde!
4. Auf nach Speyer I Auf nach Speyer I"
Ruft er, als das Spiel geendet;
„Wo so mancher deutsche Held
Liegt begraben, sei's vollendet!
5. Blast die Hörner, bringt das Roß, j
Das mich oft zur Schlacht getragen!" j
Zaudernd stehn die Diener all;
Doch er ruft: „Folgt ohne Zagen!"
6. Und das Schlachtroß wird gebracht.
„Nicht zum Kampf, zum ew'gen Frieden,"
Spricht er, „trage, treuer Freund,
Jetzt den Herrn, den lebensmüden!"
7. Weinend steht der Diener Schar, ^
Als der Greis ans hohem Rosse,
Rechts und links ein Kapellan,
Zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse. j
8. Trauernd neigt des Schlosses Lind'
Bor ihm ihre Äste nieder;
Vögel, die in ihrer Hut,
Singen wehmutsvolle Lieder.
Justi
0. Mancher eilt des Wegs daher,
Der gehört die bange Sage,
Sieht des Helden sterbend Bilkr
Und bricht aus in laute Klage.
10. Aber nur vou Himmelslust
Spricht der Greis mit jenen zweien;
Lächelnd blickt sein Angesicht,
Als ritt' er zur Lust im Maien.
11. Von dem hohen Dom zu Speier
Hört man dumpf die Glocken schallen;
Ritter, Bürger, zarte Frauen,
Weinend ihm entgegen wallen.
12. In den hohen Kaisersaal
Ist er rasch noch eingetreten;
Sitzend dort auf goldnem Stuhl,
Hört man für das Volk ihn beten.
13. „Reichet mir den heil'gen Leib!"
Spricht er dann mit bleichem Munde;
Drauf verjüngt sich sein Gesicht
Um die mitternächt'ge Stunde.
14. Da auf einmal wird der Saal
Hell von überird'schem Lichte,
Und entschlummert sitzt der Held,
Himmelsruh' im Angesichte.
15. Glocken dürfen's nicht verkünden,
Boten nicht zur Leiche bieten;
Alle Herzen längs des Rheins
Fühlen, daß der Held verschieden.
16. Nach dem Dome strömt das Volk,
Schwarz, unzähligen Gewimmels;
Der empfing des Helden Leib,
Seinen Geist der Dom des Himmels.
NUs Kerner. Dichtungen. 1834. S. 124 ff.
188
79. Ludwig der Bayer und Friedrich der Schöne (1335).
1. Hoch wie Glockenklang ertöne, Lied von alter deutscher Treue,
Daß der alten, goldnen Zeiten Angedenken sich erneue.
Wo das deutsche Herz noch bieder und voll Brndersinnes schlug
Und der Mann dem Worte traute sonder Falsch und sonder Trug!
2. Von dem Bayer überwunden, saß auf einem festen Schlosse,
In dem engen Kerker schmachtend, Friedrich, Habsbnrgs edler Sprosse;
Schon drei Jahre von der Heimat und den Seinen fern gebannt,
Schon drei Jahre lechzt der Herzog nach dem lieben Vaterland.
3. Und der Bayernfürst, gerühret, kommt zu enden seine Klage,
Bietet ihm die goldne Freiheit, daß er neuem Zwist entsage.
„Wohl, ich schwör' es," ruft der Herzog, „schwör' es treu mit diesem Eid!" —
„Nun, so sei zu dieser Stunde von des Kerkers Haft befreit!"
4. Und wie wenn, vom Hauch des Maien aufgeweckt mit helleni Klingen,
Sich znm erstenmal die Lerchen jubelnd in die Lüfte schwingen,
Also fliegt der edle Herzog von der Freiheit süßer Lust
Wonnetrunken nach der Heimat, an des Bruders teure Brust.
5. Doch wie flammet Glut der Rache bei des Wiedersehns Entzücken
Mächtig stuf in Leupolds Herzen, zürnet aus den wilden Blicken:
„Was dem Bruder widerfahren, ist es nicht des Bruders Hohn?
Auf gen Bayern! Mit dem Schwerte zahlen wir des Frevels Lohn!"
6. Doch ihn mahnet Friedrich milde: „Meines Wortes heil'ge Bande
Hab' ich Ludwig hinterlassen zu des Friedens Unterpfande.
Willst du Rache üben, Bruder, nun so wisse denn: aufs neu'
Leg' ich an die alten Fesseln, meinem Ehrenworte treu."
7. Da beginnen Pflicht und Liebe einen heißen Kamps zu kämpfen;
Doch kein Bitten und Beschwören kann des Herzogs Willen dämpfen.
Und nach München fliegt sein Rappe mit des Sturmes Eile fort,
Und vor Ludwig tritt er, lösend das gegebne deutsche Wort:
8. „Nicht vermag ich es, o König, dir zu halten Schwur und Treue,
Also steh' ich frei und willig dein Gefangner hier aufs neue."
Wie der Bayer das vernomnien, faßt ihn tiefer Rührung Schmerz,
Und er drückt den treuen Jüngling liebend an das deutsche Herz.
9. „Sei mein Bruder und Genosse, herrsche mit auf einem Throne,
Eines Sinnes, eines Herzens tragen wir vereint die Krone!"
Also schlossen deutsche Männer einen wunderbaren Bund
Deutscher Tugend, deutscher Ehre, wie kein andrer je bestund.
Alexander Schöppner. — Wittclsbacher Album. Herausgeg. v. K. Zettel. 1880. S. 118 ff.
80. Des Deutschritters
1. „Herr Ott vom Bühl, nun drängt
die Not,
Nun zeigt, lvie treu Jhr's meint!
Das Feld ist rot, und die Brüder sind
tot,
Und hinter uns rasselt der Feind.
Ave (14. Jahrhundert).
2. Wohl klag' ich manch gebrochnen
Speer,
Manch Wappenschild zerspalten;
Doch schmerzt's um den heiligen Kelch
mich noch inehr
In meines Mantels Falten.
189
3. Im Schlachtfeld tranken wir alle
daraus,
Zu sühnen uns mit Gott;
Soll nun beim wüsten Siegesschmans
Der Heid' ihn schwingen zum Spott?
4. Herr Ott, und fühlt Ihr Ench
stark und jung,
Noch einmal wendet das Roß!
Versucht mit scharfem Schwertesschwung
Noch einmal zu hemmen den Troß!
5. Und haltet Ihr nur so lang ihn aus.
Als Ihr ein Ave sagt,
So rettet meines Hengstes Laus
Den Kelch, um den Jhr's wagt."
6. Herrn Otts Besinnen war nicht
groß.
Sprach „Ja" und weiter nichts;
Des Meisters Roß von dannen schoß
Im Strahl des Mondenlichts.
7. Und als das Kreuz auf dem
Mantel weiß
Nicht mehr zu kennen war.
Da sauste schon aus Gäulen heiß
Heran der Litauer Schar.
8. Und als der Mantel fern im
Schwung
Nur schien wie ein fliegender Schwan,
Da fielen sie den Ritter jung
Mit grimmigen Streichen an.
9. Die krummen Schwerter blinkten
frei,
Es rasselten dumpf die Keulen,
Dazwischen ging ihr Kampfgeschrei
Wie hungriger Wölfe Heulen.
10. Herr Ott vom Bühl sprach:
„Ave, Marie!"
Und führt' einen Hieb, der traf;
DerHauptmann flog vom Sattel aufs Knie
Mit dnrchgespaltnem Schlaf.
11. Das zweite Wort der Held dann
sprach
Und hieb noch kräftiger schier;
Der Bannenträger zusammenbrach,
Und über ihn fiel das Panier.
12. Und Wort um Wort und Streich
um Streich,
Das war ein tapfer Gebet;
Bei jedem Spruch lag alsogleich
Ein Heide dahingemäht.
13. Und es klaffte dem Ritter das
Stahlhemd weit.
Und es färbten die Ringe sich rot,
Er aber ward nicht laß im Streit,
Und jeder Schlag war Tod.
14. Und es barst sein Schild, und
es sank sein Pferd,
Da kämpft' er fort zu Fuß;
Mit beiden Händen schwang er das
Schwert
Und betete weiter den Gruß.
15. Und als zu Ende das Ave ging.
Er führte noch einen Streich,
Und in getürmter Leichen Ring
Hin sank er blutend und bleich.
16. Sein Mund ward stumm, sein
Arm ward schwer,
j Im Tode stand sein Herz;
! Nicht „Amen!" konnt' er sprechen mehr,
I Das war sein letzter Schmerz.
17. Doch die Litauer warfen die
Renner herum,
* Kein Streit mehr lüstete sie.
j Gerettet war das Heiligtum
Durch des Ritters „Ave, Marie!"
18. Gott geb' ihm droben selige Statt
Aufs tosende Schlachtgetümmel!
Wer so aus Erden gebetet hat.
Mag „Amen!" sagen im Himmel.
Emanuel Geibel. Gesammelte Werke. 1883. B. II. S. 158 ff.
81. Das Mahl zu Heidelberg (1462).
1. Von Württemberg und Baden
Die Herren zogen aus;
Von Metz des Bischofs Gnaden
Vergaß das Gotteshaus.
Sie zogen aus, zu kriegen,
Wohl in die Pfalz am Rhein;
Sie sahen da sie liegen
Im Sommersonnenschein.
190
2. Umsonst die Rebenblüte
Sie tränkt mit mildem Dust;
Umsonst des Himmels Güte
Aus Ährenfeldern ruft:
Sie brannten Hof und Scheuer,
Daß heulte groß und klein;
Da leuchtete vom Feuer
Der Neckar und der Rhein.
3. Mit Gram von seinem Schlosse
Sieht es der Pfälzer Fritz,
Heißt springen aus die Rosse
Zween Manu auf einen Sitz.
Mit enggedrängtem Volke
Sprengt er durch Feld und Wald;
Doch ward die kleine Wolke
Zum Wetterhimmel bald.
4. Sie wollen seiner spotten;
Da sind sie schon umringt,
Und über ihren Rotten
Sein Schwert der Sieger schwingt.
Vom Hügel sieht mau prangen
Das Heidelberger Schloß;
Dahin führt er gefangen
Die Fürsten samt dem Troß.
5. Zuhinterst au der Mauer,
Da ragt ein Turm so fest;
Das ist ein Sitz der Trauer,
Der Schlang' und Eule Nest.
Dort sollen sie ihm büßen
Im Kerker trüb und kalt;
Es gähnt zu ihren Füßen
Ein Schlund und finstrer Wald.
6. Hier lernt vom Grimme rasten
Der Württemberger Utz;
Der Bischof hält ein Fasten,
Der Markgraf läßt vom Trutz.
Sie mochten schon in Sorgen
Um Leib und Leben sein,
Da trat am andern Morgen
Der stolze Pfälzer ein.
7. „Herauf, ihr Herrn, gestiegen
In meinen hellen Saal!
Ihr sollt nicht fürder liegen
In Finsternis und Qual.
Ein Mahl ist euch gerüstet,
Die Tafel ist gedeckt;
Drum, wenn es euch gelüstet,
Versucht, ob es euch schmeckt!"
8. Sie lauschen mit Gefallen,
Wie er so lächelnd spricht;
Sie wandeln durch die Hallen
Ans goldne Tageslicht.
Und in dem Saale winket
Ein herrliches Gelag;
Es dampfet und es blinket,
Was nur das Land vermag.
9. Es satzten sich die Fürsten;
Da möcht' es seltsam sein!
Sie hungern und sie dürsten
Beim Braten und beim Wein.
„Nun, will's euch nicht behagen?
Es fehlt doch, deucht mir, nichts?
Worüber ist zu klagen?
An was, ihr Herrn, gebricht's?
10. Es schickt zu meinem Tische
Der Odenwald das Schwein,
Der Neckar seine Fische,
Den frommen Trank der Rhein.
Ihr habt ja sonst erfahren,
Was meine Pfalz beschert;
Was wollt ihr heute sparen,
Wo keiner es euch wehrt?"
11. Die Fürsten sahn verlegen
Den andern jeder an;
Am Ende doch verwegen
Der Ulrich da begann:
„Herr, fürstlich ist dein Bissen,
Doch eines thut ihm not,
Das mag kein Knecht vermissen:
Wo ließest du das Brot?" —
12. „Wo ich das Brot gelassen?"
Sprach da der Pfälzer Fritz;
Er traf, die bei ihm saßen.
Mit seiner Augen Blitz.
Er that die Fensterpforten
Weit auf im hohen Saal;
Da sah man allerorten
Ins offne Neckarthal.
13. Sie sprangen von den Stühlen^
Und blickten in das Land;
Da rauchten alle Mühlen
Rings von des Krieges Brand.
Kein Hof ist da zu schauen,
Wo nicht die Scheune dampft;
Von Rosses Huf und Klauen
Ist alles Feld zerstampft.
191
14. „Nun sprecht, von wessen Schulden
Ist so mein Mahl bestellt?
Ihr müßt euch wohl gedulden,
Bis ihr besät mein Feld,
Bis in des Sommers Schwüle
Mir reifet eure Saat,
Und bis mir in der Mühle
Sich wieder dreht ein Rad.
Gustav Schw
15. Ihr seht, der Westwind fächelt
In Stoppeln ilild Gesträuch;
Ihr seht, die Sonne lächelt,
Sie wartet nur aus euch.
Drum sendet flugs die Schlüssel
Und öffnet euren Schatz!
So findet bei der Schüssel
I Das Brot den rechten Platz."
b. Gedichte. (Ausg. v. Gotthold Klee) 1882. S. 231 ff.
Der Pfälzer Kurfürst Friedrich der Siegreiche (1449-76), von seinen Gegnern der
„böse Fritz" genannt, war vom Kaiser in die Acht erklärt worden. Mit der Achtsvollstre-
ckung waren beauftragt worden der Markgraf von Baden, der Graf Ulrich (Utz) von Württemberg
und die Bischöfe von Metz und Speyer. Diese wurden bei Seckenheim von Friedrich be-
stegt und mit Ausnahme des Speyerer Bischofs gefangen nach Heidelberg geführt (30. Juni
1462). Erst am weißen Sonntage 1463 wurden sie gegen hohes Lösegeld frei gegeben.
82. Zwei Berge Schwabens.
1. Zur Weudeuacht des Jahres
Beim stillen Sternenlicht
Ward mir ein wunderbares,
Erhabnes Nachtgesicht.
2. Nachts um die zwölfte Stunde
Stand ich am Bergesrand,
Sah dämmern in die Runde
Mein schwäbisch Heimatland.
3. Vom Zollern bis zum Staufen
Sah ich die Schwabenalp
Am Horizont verlaufen,
Der Mond beschien sie falb.
4. Aus Nachtgewölken ragte
Des Staufen kahles Haupt,
Das öde, vielbeklagte,
Des Diadems beraubt.
5. Doch wie die Wolken wallten.
Wuchs langsam draus empor
Von riesigen Gestalten
Ein geisterhafter Chor:
6. Die alten Schwabenkaiser,
Das edle Stausenblut,
Die starken Eichenreiser,
Die tapfre Löwenbrut.
7. Sie reckten ihre Glieder,
Sie standen hoch und stark,
Als fühlte jeder wieder
Das alte Heldenmark.
8. Voran dem stolzen Trosse
Erhob sich feierlich
Der alte Barbarosse,
Der Kaiser Friederich.
9. Er trug die Kaiserkrone,
Den Mantel und das Schwert,
Womit er einst vom Throne
Des Reiches Macht gemehrt.
10. Dann drängten sich die Söhne,
Die Enkel all um ihn,
Zuletzt der bleiche, schöne,
Der Knabe Konradin —
11. Ein jeder mit den Waffen,
j Den Kronen, öie er trug;
i Auch sah id) Wunden klaffen
Bei manchem Mann im Zug.
12. Und ohne Steg und Brücken
j Ging wolkenleis ihr Gang
Den vielgezahnten Rücken
Der Schwabenalp entlang.
13. Die Nebelmäntel schleiften
Langhin am Bergessanm,
Die Wolkenschuhe streiften
Der Wälder Wipfel kaum.
14. Und ivo zur letzten Strecke
Sich das Gebirg verzweigt,
Als Hüter an der Ecke
Die Zollern bürg aufsteigt.
15. Da schien der Zug zu halten;
Im letzten Mondenschein
Zerflossen die Gestalten
Zum grauen Wolkenreihn.
192
16. Mir war's, die Fürsten legen
Am Berg die Kronen hin;
Mir schien's, die Geister flögen
Wie segnend rings um ihn.
17. Und wie ich stand und lauschte,
Kühl streifte mir's das Haar;
Ein Morgenwehen rauschte,
Aufstieg das junge Jahr.
18. Und allgemach im vollern,
Im klaren Tageslicht
Erhob der Hohenzollern
Erwachend sein Gesicht.
19. Den Kaiserpurpur legte
Das Morgenrot ihm an,
Zu krönen ihn, bewegte
Die Sonne sich heran.
20. Und bis hinab zum Staufen
Mit Hellem Rosenschein
Begann's zu überlaufen
Der Berge grau Gestein.
21. Ein Adler that sich wiegen,
Die Schwingen ausgespannt,
Mit stolzen Wendeflügen
Hoch ob dem deutschen Land.
22. Und rings im Lande klangen
Die Glocken allzugleich.
Den Segen zu empfangen
Fürs deutsche Kaiserreich.
1. Januar 1871. Karl Gerok. Lieder zu Schutz und Trutz. 4. Sammlung. S. 31 ff.
83. Normannischer Brauch.
Fischerhütte auf einer Insel an der Küste der Normandie.
Balder, ein Seefahrer. Richard, ein Fischer. Thorilde.
Balder.
Dies auf dein Wohlsein, vielgeehrter Wirt!
Fürwahr, ich hab's dem tollen Sturme Dank,
Der mich in deiner Insel Bucht gejagt;
Denn solch ein traulich Mahl am stillen Herd
Hat mich seit langer Zeit nicht mehr gelabt. 5
Richard.
6 Man trifft's in Fischerhütten besser nicht;
Hat's dir behagt, viel Ehr' und Freude
mir!
Jnsonders wert ist mir so edler Gast,
Der aus dem uord'schen Heimatlande
kommt,
Von wannen unsre Väter hergeschifft, 10
Davon man noch so vieles sagt und singt.
Doch muß ich dir eröffnen, edler Herr:
Wer bei mir einkehrt, sei er noch so
arm,
Wird angesprochen um ein Gastgeschenk.
Balder.
Mein Schiff, das in der Bucht vor Anker liegt, 15
Es hegt der seltnen Waren mancherlei,
Die ich vom Mittelmeere hergeführt,
Goldfrüchte, süße Weine, bunte Vögel;
Auch wahrt es Waffen, nord'scher Schmiede Werk,
Zweischneid'ge Schwerter, Harnisch, Helm und Schild. 20
Richard.
21 Nicht solches meint' ich, du verstehst mich
falsch.
Es ist ein Brauch in unsrer Normandie:
Wer einen Gast an seinem Herd empfing,
Verlangt von ihm ein Märchen oder Lied
Und gibt sofort ein gleiches ihm zurück. 25
Ich halt' in meinen alten Tagen noch
Die edeln Sagen und Gesänge wert;
Darum erlass' ich dir die Fordrung
nicht.
193
Balder.
Ein Märchen ist oft süß wie Cyperwein,
Wie Früchte duftig und wie Vögel bunt, 30
Und manch ein altertümlich Heldenlied
Ertönt wie Schwertgeklirr nnd Schildesklang;
Drnm war mein Irrtum wohl nicht allzngroß.
Zwar weiß ich nicht so Herrliches zu melden.
Doch ehrt' ich gern den löblichen Gebrauch. 35
Vernimm denn, was in heitrer Mondnacht jüngst
Ein Schiffsgenoß aus dem Verdeck erzählt!
Richard.
Noch eineu Trunk, mein Gast! Beginne dann!
Balder.
Zween nord'sche Grafen hatten manches Jahr
Das Meer durchsegelt mit vereinten Wimpeln, 40
Vereint bestanden manch furchtbaren Sturm,
Manch heiße Schlacht zur See und am Gestad',
Auch manchesmal im Süden oder Osten
Auf blühndem Strand zusammen ausgeruht.
Jetzt ruhten sie daheim auf ihren Burgen, 45
In gleiche Trauer beide tief versenkt;
Denn jeder hatt' ein treues Ehgemahl
Unlängst begleitet nach der Ahnengruft.
Doch sproßt' auch jedem aus dem düstern Gram
Ein süßes, ahnungsvolles Glück herauf: 50
Deni einen blüht' ein muntrer Sohn,
Der andre pflegt' ein liebes Töchterlein.
Um ihren alten Freundschaftsbund zu krönen
Und dauerndes Gedächtnis ihm zu stiften.
Beschlossen sie, die teuern Sprößlinge 55
Dereinst durch heil'ge Bande zu verknüpfen.
Zween goldne Ringe ließen sie bereiten,
Die man, den zarten Fingern noch zu weit.
An bunten Bändern um die Hälschen hing.
Ein Saphir, wie des Mägdleins Auge blau, 60
War in des jungen Grafen Ring gefügt.
Im andern glüht' ein rosenroter Stein,
Recht wie des Knaben frisches Wangenblut.
Richard.
Ein rosenroter Stein im goldnen Reif,
Das war des Mädchens Schmuck? Verstand ich's wohl? §5
Balder.
Ja, wie du sagst; doch kommt's daraus nicht au.
Schon wuchs der Knabe hoch und schlank herauf,
In Waffenspielen ward er früh geübt,
Schon tummelt' er eiu kleines, schmuckes Roß.
Nicht soll er wie der Vater einst das Meer 70
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Bd. IV.
13
194
Auf abenteuerlicher Fahrt durchschweifen,
Beschirmen soll er einst mit starker Hand
Das mächtige Gebiet, die hohen Burgen,
Vereintes Erbtum beider Grasenstämme.
75 Des jungen Ritters Bräutlein lag indes
Noch in der Wieg', im dämmernden Gemach,
Von treuen Wärterinnen wohl besorgt.
Nun kam ein milder Frühlingstag ins Land,
Da trugen sie das ungeduld'ge Kind
80 Zum sonnig heitern Meeresslrand hinab
Und brachten Blum' und Muschel ihm zum Spiel.
Die See, vom leisen Lufthauch kaum bewegt,
Sie spiegelte der Sonne klares Bild
Und warf den Zitterschein aufs junge Grün.
85 Am Strande lag gerad' ein kleiner Kahn;
Den schniücken jetzt die Fraun mit Schilf und Blumen
Und legen ihren holden Pflegling drein
Und schaukeln ihn am Ufer auf und ab.
Das Kindlein lacht, die Frauen lachen mit;
90 Doch eben unterm fröhlichsten Gelächter
Entschlüpft das Band, daran sie spielend ziehn,
Und als sie es bemerken, kann ihr Arm
Das Schifflein nicht vom Strande mehr erreichen.
So scheinbar still die See. so wellenlos,
95 Doch spült sie weiter stets den Kahn hinaus.
Mau höret noch des Kindes herzlich Lachen,
Die Frauen aber sehn verzweifelnd nach
Mit Händeringen, wildem Angstgeschrei.
Der Knabe, der sein Liebchen zu besuchen
100 Gekommen war und jetzt das leichte Roß
Auf grüner Uferwiese tummelte.
Er sprengt auf das Geschrei im Flug heran,
Er treibt sein Pferdchen mutig in die See
Und meint, das blum'ge Fahrzeug zu erschwimmen.
105 Kaum aber prüft das Tier die kalte Flut,
So schüttelt sich's und wendet störrig um
Und reißt den Reiter an den Strand zurück.
Derweil hat schon der Nachen mit dem Kinde
Hinausgetriebeu aus der stillen Bucht,
HO Und frisches Wehen auf der offnen See
Entführt ihn bald den Blicken.
Richard.
Armes Kind,
Die heil'gen Engel mögen dich umschweben!
Balder.
Dem Vater kommt die Schreckensbotschaft zu.
115 Gleich läßt er alle Schiffe, groß und klein,
Auslaufen, und das schnellste trägt ihn selbst.
195
Doch spurlos ist das Meer, der Abend sinkt.
Die Winde wechseln, nächtlich tobt der Sturm.
Von mondelangem Suchen bringen sie
Den leeren, morschen Nachen nur zurück, 120
Mit abgewelkten Kränzen —
Richard.
Was stört dich in der Rede, werter Gast?
Du stockst, du atmest tief.
Balder.
Ich fahre fort.
Seit jenem Unfall freute sich der Knabe
Nicht mehr des Rosselenkens wie zuvor, 125
Viel lieber übt' er sich im Schwimmen, Tauchen,
Am Ruder prüft' er gerne seinen Arm.
Als er zum kräst'gen Jüngling nun erstarkt.
Da heischt er Schiffe von dem Vater.
Nichts hat das feste Land, was er begehrt,
Kein Fräulein auf den Burgen reizet ihn.
Dem wilden Meere scheint er anverlobt.
Darein das Mägdlein und der Ring versank.
Auch rüstet er sein Hauptschiff seltsam aus
Mit Purpurwimpeln, goldnem Bilderschmuck,
Wie einer, der die Braut meerüber holt.
Richard.
Fast wie das deine drunten in der Bucht,
Nicht wahr, mein wackrer Seemann?
Balder.
Wenn du willst.
Mit jenem reich geschmückten Hochzeitschiff
Hat er in manchem grausen Sturm geschwankt.
Wenn so zum Donnerschlag und Sturmgebraus
Die Wogen tanzen, feiner Hochzeittanz!
Manch blut'ge Seeschlacht hat er durchgekämpft
Und ist davon im Norden wohl bekannt.
Mit sonderm Namen ward er dort belegt;
Springt er hinüber mit geschwungnem Schwert
Auf ein geentert Schiff, dann schreit das Volk:
„Weh uns! Vertilg uns nicht, Meerbräutigam!"
Das ist mein Märchen.
Richard.
Habe Dank dafür!
Es hat mir recht mein altes Herz bewegt. 150
Nur, dünkt mir, fehlt ihm noch der volle Schluß.
Wer weiß, ob wirklich denn das Kind versank,
Ob nicht ein fremdes Schiff vorüberfuhr.
Das flugs au Bord den armen Findling nahm.
Den morschen Kahn der Meerflut überließ? 155
130
135
140
145
13
196
Vielleicht auf einer Insel wie die unsre
Ward dann das schwache Kindlein abgesetzt,
Von frommen Händen sorgsamlich gepflegt,
Und ist zur holden Jungsrau nun erblüht.
Balder.
160 Du weißt geschickt ein Märchen auszuspinnen.
So laß uns deines hören, wenn's beliebt!
Richard.
In vor'gen Tagen wußt' ich manche Mär
Von unsern alten Herzogen und Helden
Und sonderlich vom Richard Ohnefurcht,
165 Der nachts so hell als wie am Tage sah,
Der durch den öden Wald allnächtlich ritt
Und mit Gespenstern manchen Strauß bestand;
Doch jetzt ist mein Gedächtnis alterschwach,
Verworren schwankt mir alles vor dem Sinn.
170 Drum soll das junge Mädchen mich vertreten,
Das dort so still und abgewendet sitzt
Und Netze strickt beim trüben Lampenschein.
Sie hat sich manches gute Lied gemerkt
Und hat 'ne Kehle wie die Nachtigall.
175 Thorilde, darfst den edeln Gast nicht scheun!
Sing uns das Lied vom Mägdlein und vom Ring,
Das einst der alte Sänger dir gereimt!
Ein feines Lied! Ich weiß, du singst es gern.
Th
Wohl sitzt am Meeresstrande
180 Ein zartes Jungfräulein,
Sie angelt manche Stunde,
Kein Fischlein beißt ihr ein.
Sie hat 'neu Ring am Finger
Mit rotem Edelstein,
185 Den bind't sie an die Angel,
Wirft ihn ins Meer hinein.
Da hebt sich aus der Tiefe
'ne Hand wie Elfenbein,
Die läßt am Finger blinken
190 Das goldne Ringelein.
o r i l d e singt:
Da hebt sich aus dem Grunde
Ein Ritter jung und fein.
Er prangt in goldnen Schuppen
Und spielt im Sonnenschein.
Das Mägdlein spricht erschrocken
„Nein, edler Ritter, nein!
Laß du mein Ringlein golden!
Gar nicht begehrt' ich dein." —
„Man angelt nicht nach Fischen
Mit Gold und Edelstein,
Das Ringlein lass' ich nimmer,
Mein eigen mußt du sein."
Balder.
Was hör' ich? Seltsam ahnungsvoller Sang!
Was seh' ich? Welch ein himmlisch Angesicht
205 Hebt süß errötend sich aus goldnen Locken
Und inahnt mich an die ferne Kinderzeit!
Ha, an der Rechten blinkt der goldne Ring,
Der rote Stein! Du bist's, verlorne Braut!
Ich bin's, den sie Meerbräutigam genannt,
195
200
197
Hier ist der Saphir, wie dein Auge blau, 210
Und drunteu liegt das Hochzeilschiff bereit.
Richard.
Das hab' ich laugst gedacht, verehrter Held.
Ja, nimm sie hin, mein teures Pflegekind,
Halt sie nur fest in deinem starken Arm!
Du drückst ein treues Herz an deine Brust. 215
Doch sieh einmal! Du hast dich ganz verwirrt
Im Netze, das mein fleißig Kind gestrickt.
Ludwig Uhland. Gedichte und Dramen. 1863. B. I. S. 250 ff.
1. „Nun geht, Graf Otto! Zum
drittenmal
Erduldetet Ihr die Folterqual
Und habt sie wie keiner bestanden.
Wohlan denn! Reinigt Euch ganz vom
Verdacht,
Als hättet den Ohm Ihr umgebracht
Aus Gier nach Schätzen und Landen!
Drei Stunden harret mit festen! Mut
Allein an der Bahre, darauf er ruht!
Entquillt den Wunden alsdann kein Blut,
So lösen wir Euch aus den Banden."
2. Drauf Otto: „Ich scheue die
Probe nicht;
Kommt, daß ich allen wie Sonnenlicht
So klar meine Unschuld mache!"
Er spricht's; ihn führen die Schöffen
den Gang
Zur Totenkammer schweigend entlang,
Durch die Thür einläßt ihn die Wache;
Davor wird wieder gewälzt der Stein,
Und der Graf, bei flinimerndem Lampen-
schein,
Bleibt mit des Herzogs Leiche allein
Im schwarzbehängten Gemache.
3. Da liegt der Greis, der einst ihn
erzog
Und mild des verwaisten Knappen pflog;
Da liegt er vor ihm auf der Bahre,
Sein Antlitz, drauf einst Liebe wie Haß
So inächtig geflamuit, null welk und blaß,
Umflossen vom weißen Haare.
Graf Otto steht in Sinnen versenkt.
Nicht mehr, wie schwer ihn der Tote
gekränkt,
84. Das Bahrrecht.
Als er sein Kind ihm versagt, nun denkt
nur an die glücklichen Jahre,
Er
4. Denkt, wie er zuerst mit Schwert
und Schild
Zur Seite des Ohms aufs Schlachtgefild
Gesprengt durch das Waffengeblitze,
Und wie, als er selber im Kampfe verzagt,
Sein eigenes Leben der Herzog gewagt,
Damit er den Knappen beschütze.
| Er denkt es; ihm deckt die Angen ein Flor,
Blut, glaubt er, quill' aus den Wunden
hervor.
Das, Gottes Rache heischend, empor
Zur Wölbung der Kammer spritze.
5. Noch steht in stummem Starre»
der Graf,
Da ist ihm, als säh' er vom Todesschlaf
Den Greis sich langsam erheben,
Als schlag' er die Augenlider zurück
Und schau' ihn an mit dem alten Blick,
Nur finsterer als im Leben.
Gras Otto taumelt zurück mit Graun,
Er wankt, doch kann er hinweg nicht
schaun.
Kalt auf die Stirne fühlt er es taun
Und den Boden unter sich beben.
6. An der Bahre liegt er dahingestreckt,
Als Stimmenruf aus dem Starren ihn
weckt;
Schon sind verronnen die Stunden.
Die Richter treten in das Gemach
Und forschen nach Sitte des Bahrreckits
nach,
Ob Blut entquollen den Wunden.
Sie rufen: „Glückauf! Keiü Tropfe floß!
198
Glückauf, Graf Otto, besteigt Eu'r Roß,
In Frieden kehrt heim nach Windeckschloß;
Unschuldig seid Ihr befunden!"
7. Wohl hört der Verklagte der
Richter Wort,
Stumm aber liegt er fort und fort
Zu des schweigenden Klägers Füßen;
Glückwünschend strömen die Diener
herbei:
„Was zögert Ihr, Herr? Ihr seid nun
frei!"
Doch achtet er nicht ihr Grüßen.
Auf springt er und ruft, aus dem Brüten
erwacht:
„Ich habe den Oheim umgebracht
Und heische das eine, noch diese
Nacht
Die Strafe des Mordes zu büßen."
Adolf Friedrich Graf v. Schack. Gedichte. i867. S. i?s ff.
85. Der
1. „Was hör'ich draußen vor demThor,
Was auf der Brücke schallen?
Laß den Gesang vor unserm Ohr
Im Saale widerhallen!"
Der König sprach's, der Page lies;
Der Knabe kam, der König rief:
„Laßt mir herein den Alten!" —
2. „Gegrüßet seid mir, edle Herrn!
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch! Hier ist uichtZeit,
Sich staunend zu ergötzen."
3. Der Sänger drückt' die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen;
Die Ritter schauten mutig drein
Und in den Schoß die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,
Eine goldne Kette holen.
Johann Wolfgang von Goeth
86. Der Trunk
1. Da droben saßen sie allzumal
Und zechten im alten Rittersaal;
Die Fackeln glänzten herab vom Stein
Und schimmerten weit in die Nacht hinein.
2. Es sprach der Rheiugraf: „Ein
Kurier
Ließ jüngst mir diesen Stiefel hier;
Wer ihn mit einem Zug wird leeren,
Dem soll Dorf Hüffelsheim gehören!"
3. Und lachend goß er mit eigner Hand
Voll Wein den Stiefel bis an den Rand
Sänger.
4. „Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern!
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen!
5. Ich finge, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet:
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet.
Doch darf ich bitten, bitt' ich eins:
Laß mir den besten Becher Weins
In purem Golde reichen!"
6. Ersetzt' ihn an, er trank ihn aus:
„O Trank voll süßer Labe!
O wohl dem hochbeglückten Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's Euch wohl, so denkt an mich,
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk Euch danke."
e. Werke. (Sophien-Ausgabc). B. I. 1887. S. 162 f.
ans dem Stiesel.
Und hob ihn mitten wohl in den Kreis:
„Wohlan, ihr Herren, ihr kennt den
Preis!"
4. Johann von Sponheim hielt sich
in Ruh'
Und wünschte dem Nachbarn Glück dazu,
Und dieser, Meinhart war's von Dhaun,
Zog scheu zusammen die dunkeln Braun.
5. Verlegen den Bart sich Flörsheim
strich,
Und Kunz von Stromberg schüttelte sich,
199
Und selbst der mutige Burgkaplan
Sah den Koloß mit Schrecken an.
6. Doch Boos von Waldeck rief von fern:
„Mir her das Schlückchen! Zum Wohl,
ihr Herrn!"
Und schwenkte den Stiefel und trank
ihn leer
Und warf sich zurück in den Sessel schwer
7. Und sprach: „Herr Rheingras, ließ
der Kurier-
Gustav Pfar
Nicht auch seinen andern Stiefel hier?
Wasmaßen in einer zweiten Wette
Auch Roxheim gerne verdienet hätte."
8. Des lachten sie alle und priesen
den Boos
Und schätzten ihn glücklich als boden-
los ;
Doch Hüffelsheim mit Maus und
Mann
Gehörte dem Ritter Boos fortan.
iu s. Das Nahethal in Liedern. 1838. S. 110.
87. Die
1. Es rotten sich Bauern und Mannen
Und stürmen nächtlich das Schloß,
Der Ritter entweicht von dannen
Ans seinem schäumenden Roß.
2. Bald schlug aus Dach und Gemäuer
Der helle Flammenbrand,
Bis endlich das zehrende Feuer
Nur berstende Wände fand.
3. Ein Knecht zog den Edelfalken,
Des Ritters Leibroß und Hund
Hervor aus brennenden Balken
Und wich von Banner und Bund.
4. Er baute ein Häuslein im Thale
Und stellte das Leibroß ein;
Das mußte vom frühesten Strahle
Bis zum Abend am Pfluge sein.
Martin Gr
88. Der A
Horch, ein Trompetenstoß! Am Ziel
Erscheinen blanker Schützen viel,
Auf guten Rossen, wohlbewehrt,
Des Grafen Mannen hochgeehrt.
5 Sie reiten langsam durch die Bahn
Und säubern sie vom Gaffervolke,
Dann im Galopp zum Ziel heran,
Daß ihnen folgt des Staubes Wolke.
Sie springen ab, und jeder nimmt
10 Den Platz, den ihm sein Rang bestimmt.
Jetzt tritt der Graf ans seinem Zelt,
Ein Lebehoch durchbraust das Feld,
Der Edel knappe schenkt ihm ein
In neuen, goldnen Becher Wein.
15 Den hebt er hoch und schauet mild
Treuen.
5. Der Jagdhund kam an die Kette
Wohl vor des Rebellen Hans;
Ob nie gejagt er hätte,
Sah bald der Falke aus.
6. Einstmals nach langen Jahren
Ein Bettler zog fürbaß,
Heraus kam der Hund gefahren.
Doch wedelnd er niedersaß.
7. Das Leibroß wieherte helle,
Der Falke flatterte ans,
Es starrte der Wandergeselle
Zum sinkenden Schlosse hinaus.
8. Der Bauer am grünen Hange
Merkt nicht die fremde Gestalt —
Die Treuen lärmten noch lange,
Bis fern seine Tritte verhallt.
-if. Gesammelte Werke. B. I. 1895". S. 228 f.
Die Schützen an und ruft: „Es gilt
Jedwedem Mann der Trunk, der brav
Heut' oder je ins Schwarze traf!
Den Becher aber setz' ich dran
Als Preis dem Schützenfürsten heute, 20
Er sei nun einer meiner Leirte,
Er sei ein fremd und freier Mann!"
Zum zweitenmal Trompetenstoß.
Die Schützen werfen rasch das Los,
Das ihrer Schüsse Ordnung mißt 25
Und abwehrt Zank und Hinterlist.
Nun schweigt dasFeld, die Schützen auch,
Und stumm nach Sitten und Gebrauch
Tritt zu dem Scheibenstand heran
Mit seiner Armbrust jeder Mann. 30
200
Du hörst nur noch mit Armeskräften
Die Sehnen in die Kerben heften
Und drauf der Bolze fchneidend Pfeifen,
Die wie ein Blitz die Luft durchstreifen
35 Und neckisch bald ins Blaue irren,
Bald krachend in die Scheibe schwirren.
Dann nennt amZiel des Herolds Stimme
Der Ringe Zahl mit lautem Schrei;
Doch blieb das schwarze Rund noch frei,
40 Und nur mit schlecht verhohlnem Grimme,
Leis murrend bösgelauntem Glück,
Kehrt jeder Schütz vom Stand zurück.
Zuletzt nun tritt der Förster vor.
Da rannt das Volk sich rings ins Ohr:
45 „Der hat so oft den Sieg gewonnen!
Aus tiefem Waldgrund ist's der Starke,
Erwachsen fern vom Blick der Sonnen
Und aufgenährt mit Bärenmarkei"
Vor trat er fest und keck und wild,
50 Ein erzgegossen Mannesbild,
Auch hier in der Entscheidungsstunde
Verlassen nicht von seinem Hunde.
Als wär' es gleich ihm, ob's ihm glückt,
Faßt er sein Schießzeug, zielt und drückt—
55 Laut klappt's! Mit Klang und Eselsohr
Hüpft munter der Hanswurst empor,
Der küustlich hiuterm Ziel versteckt
Vom Bolze ward heraufgeschreckt.
Sieg! ruft der Herold, Sieg! erschallt
60 Der laute Ruf von jung und alt.
Der Schütz mit lässig stillem Schritt
Vor seines Fürsten Auge tritt;
Ihm winkt der Kranz, Trompetenton
Begrüßt den Schützenkönig schon.
65 Doch „Halt!" so ruft's vom Scheiben-
stand,
Es steht ein schlanker Jüngling dort —
Euch ist der Jüngling wohlbekannt —
Er kommt, zu lösen nun sein Wort.
Er spricht: „Gestrenger Herr und Graf,
70 Ihr botet jedem Enern Becher:
Wohl hielt sich Euer Schütze brav.
Doch mir ist Arm und Blick nicht schwächer.
Gestattet mir, den Schuß zu proben:
Ihr sollt den bessern Schützen loben."
75 Es winkt der Herr, die Bahn wird
leer;
Rings steht das Volk, ein brausend Meer.
Durch alle schwirrt ein leiser Ton,
Mitleid bei Fraun, bei Männern Hohn,
Und nur dem Förster bange pochte
Das Herz, wie er's auch hehlen mochte. 80
Der fremde Jüngling neigt sich hold,
Daß ihm der Locken sonnig Gold
Als Schleier vor den Augen weht;
Dann steht er aufrecht, fest und stet,
Wirft Haupt und Haar sich ins Genick 85
Und mißt die Bahn mit freiem Blick.
Die Armbrust faßt er nun mit Kraft.
Es war von Ebenholz ihr Schaft,
Darin von Elfenbeine weiß
Viel Blumen eingelegt mit Fleiß; 90
An: Kolben reich mit Silberglanz
Von Jägerspiel ein bunter Kranz:
Ein Hirsch, von Hörnerton gehetzt,
Ein Hund, vom Eberzahn zerfetzt.
Ein Fräulein mit dem Federspiel, 95
Auch Auerstier' und Bären viel.
Des Weidwerks Pracht mit Lust und
Grauen
Gab schmuckes Bildnis hier zu schauen.
Der Bügel, blau von Stahl und blank,
Wie eine Glocke hell erklang. 100
Mit Sorgfalt prüft der Schütz die Sehne,
Ob sie sich leicht und fügsam dehne;
Selbst hatt' er sie in Winterstunden
Aus wilden Marders Darm gewunden.
Inmitten, wo die Sehne faßt 105
Des Bolzes tödlich schwere Last,
Da schürzt, daß nicht im Schuß sie springe.
Zum Knoten er die Doppelschlinge.
Und als die Spannung wohl vollbracht,
Die Sehne schnellt er nun mit Macht; 110
Laut wie der Harfe höchste Saite
Erklang der schneid'ge Ton ins Weite.
Nun aus dem Köcher nimmt er Bolze,
Geschnitzt aus festem Eichenholze;
Er wählt den glättesten, der, scharf 115
Gekantet, blanke Lichter warf.
Und wie er alles wohl erprobt,
Mit Lächeln er das Schießzeug lobt.
Er setzt den Bogen vor die Brust,
Er spannt ihn leicht mit stolzer Lust, 120
Und staunend sahn die Schützen an
Den starken Arm bei zartem Mann.
Wild blitzt sein Aug', aufs Ziel gewandt,
Als wollt' er's sengen mit dem Brand;
Doch bändigt er des Herzens Wellen, 125
201
Die hoch in Siegeshoffnung schwellen,
Er kühlt sich den entflammten Sinn,
Klar, fest und stille schaut er hin.
Er drückt: der Bügel mächtig klingt,
130 Laut schwirrend sich die Sehne schwingt,
Es saust der Bolz — er hat getroffen!
Da stand mit weiter Spalte offen
Des Försters Bolz, ihn schnitt ins Mark
Des Jünglings Schuß, gerecht und stark.
135 Der Herold tritt zum Scheibeuhaus,
Gottfried Kinkel.
Er zieht die Bolze beid' heraus
Uud legt sie iu des Grafen Hand,
Der staunend ob dem Wunder stand.
Des Försters Bolz war ganz zer-
schmettert.
Gleich einer Rose aufgeblättert; 140
Es saß darin der zweite Bolz,
Fest eingekeilt ins harte Holz,
Und war hinfort kein Zweifel dran,
Wer hier den Meisterschuß gethan.
Aus dem Epos „Otto der Schütz". 1846. S. 18 ff.
89. Der Tod des Führers.
1. „Von den Segeln tropft der Nebel,
Auf den Buchten zieht der Dust.
Zündet die Latern' am Maste!
Grau das Wasser, grau die Lust.
Totenwetterl Zieht die Hüte!
Mit den Kindern kommt und Fraun!
Betet; denn in der Kajüte
Sollt ihr einen Toten schaun!"
2. Und die deutschen Ackersleute
Schreiten dem aus Boston nach,
Treten mit gesenktem Haupte
In das niedre Schiffsgemach.
Die nach einer neuen Heimat
Ferne steuern übers Meer,
Sehn im Totenhemd den Alten,
Der sie führte bis hieher;
3. Der aus leichten Tauuenbretteru
Zimmerte den Hüttenkahn,
Der vom Neckar sie zum Rheine
Trug, vom Rhein zum Ozean;
Der, ein Greis, sich schweren Herzens
Losriß vom ererbten Grund;
Der da sagte: „Laßt uns ziehen!
Laßt uns schließen einen Bund!"
4. Der da sprach: „Brecht auf nach Abend!
Abendwärts glüht Morgenrot;
Dorten laßt uns Hütten bauen.
Wo die Freiheit hält das Lot!
Dort laßt unsern Schweiß uns säen,
Wo kein totes Korn er liegt;
Dort laßt uns die Scholle wenden,
Wo die Garben holt, wer pflügt!
5. Lasset unsern Herd uns tragen
In die Wälder tief hinein!
Lasset mich in den Savannen
Euern Patriarchen sein!
Laßt uns leben wie die Hirten
In dem alten Testament!
Unsers Weges Feuersäule
Sei das Licht, das ewig brennt!
6. Dieses Lichtes Schein vertrau'ich;
Seine Führung führt uns recht.
Selig in den Enkeln schau' ich
Ein erstandenes Geschlecht.
Sie — ach, diesen Gliedern gönnte
' Noch die Heimat wohl ein Grab!
Um der Kinder willen greif' ich
Hoffend noch zu Gurt uud Stab!
7. Auf darum, und folgt aus Gosen
Der Borangegaugueu Spur!" —
Ach, er schauete gleich Mosen
Kanaan von ferne nur!
Auf dem Meer ist er gestorben,
Er und seine Wünsche ruhn;
Der Erfüllung und der Täuschung
Ist er gleich enthoben nun.
8. Ratlos die verlass'ne Schar jetzt.
Die den Greis bestatten will.
Scheu verbergen sich die Kinder,
Ihre Mütter weinen still.
Und die Männer schaun beklommen
Nach den fernen Uferhöhn,
Wo sie fürder diesen Frommen
Nicht mehr bei sich wandeln sehn.
202
9. „Von den Segeln tropft der Nebel,
Auf den Buchten zieht der Duft.
Betet! Laßt die Seile fahren!
Gebt ihn seiner nassen Gruft!"
Thränen fließen, Wellen rauschen.
Gellen Schreis die Möve fliegt;
In der See ruht, der die Erde
Fünfzig Jahre lang gepflügt.
Ferdinand Freiligrath. Gesammelte Dichtungen. B. I. 1877. S. 66 f.
90. Der Wilde.
Ein Kanadier, der noch Europens
Übertünchte Höflichkeit nicht kannte
Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben,
Bon Kultur noch frei im Busen fühlte,
5 Brachte, was er mit des Bogens Sehne
Fern in Quebecks übereisten Wäldern
Auf der Jagd erbeutet, zum Verkaufe.
Als er ohne schlaue Rednerkünste,
So wie mau ihm bot, die Felsenvögel
lO llm ein kleines hingegeben hatte,
Eilt' er froh mit dem geringen Lohne
Heim zu seinen tiefverdeckten Horden
In die Arme seiner braunen Gattin.
Aber ferne noch von seiner Hütte
15 Überfiel ihn unter freiem Himmel
Schnell der schrecklichste der Donner-
stürme.
Aus dem langen, rabenschwarzen Haare
Troff der Guß herab auf seinen Gürtel,
Und das grobe Haartnch feines Kleides
20 Klebte rund an seinem hagern Leibe.
Schaurig zitternd unter kaltem Regen,
Eilete der gute, wackre Wilde
In ein Haus, das er von fern erblickte.
„Herr, ach, laßt mich, bis der Sturm
sich leget,"
25 Bat er mit der herzlichsten Gebärde
Den gesittet feinen Eigentümer,
„Obdach hier in Euerm Hause finden I" —
„Willst du, mißgestaltes Ungeheuer,"
Schrie ergrimmt der Pflanzer ihm ent-
gegen,
30 „Willst du, Diebsgeficht, mir aus dem
Haufe?"
Und ergriff den schweren Stock im Winkel.
Traurig schritt der ehrliche Hurone
Fort von dieser unwirtbaren Schwelle,
Bis durch Sturm und Guß der späte
Abend
35 Ihn in seine friedliche Behausung
Und zu seiner braunen Gattin brachte.
Naß und müde setzt' er bei dem Feuer
Sich zu seinen nackten Kleinen nieder
Und erzählte von den bunten Städtern
Und den Kriegern, die den Donner tragen, 40
Und dem Regensturm, der ihn ereilte,
Und der Grausamkeit des weißen Mannes.
Schmeichelnd hingen sie an seinen Knieen,
Schlossen schmeichelnd sich um seinen
Nacken,
Trockneten die langen, schwarzen Haare 45
Und durchsuchten seine Weidmannstasche,
Bis sie die versprochnen Schätze fanden.
Kurze Zeit daraus hatt' unser Pflanzer-
Auf der Jagd im Walde sich verirret.
Über Stock und Stein, durch Thal und
Bäche 50
Stieg er schwer auf manchen jähen Felsen,
Um sich umzusehen nach dem Pfade,
Der ihn tief in diese Wildnis brachte.
Doch sein Spähn und Rufen war ver-
gebens ;
Nichts vernahm er als das hohle Echo 55
Längs den hohen, schwarzen Felsen-
wänden.
Ängstlich ging er bis zur zwölften Stunde,
Wo er an dem Fuß des nächsten Berges
Noch ein kleines, schwaches Licht erblickte.
Furcht und Freude schlug in seinem Herzen, 60
Ünd er faßte Mut und nahte leise.
„Wer ist draußen?" brach mit Schre-
ckenstone
Eine Stimme tief her aus der Höhle,
Und ein Mann trat aus der kleinen
Wohnung.
„Freund, imWalde hab' ich mich verirret", 65
Sprach der Europäer, furchtsam schmei-
chelnd;
„Gönnet mir, die Nacht hier zuzubringen,
Und zeigt nach der Stadt, ich werd'
Euch danken.
Morgen früh mir die gewissen Wege I" —
203
70 „Kommt herein" ! versetzt der Unbe-
kannte ;
„Wärmt Euch; noch ist Feuer in der
Hütte!"
Und er sührt ihn aus das Binsenlager,
Schreitet finster trotzig in den Winkel,
Holt den Rest von seinem Abendmahle,
75 Hummer, Lachs und frischen Bären-
schinken,
Um den späten Fremdling zu bewirten.
Mit dem Hunger eines Weidmanns
speiste
Festlich wie bei einem Klosterschmause
Neben seinem Wirt der Europäer.
80 Fest und ernsthaft schaute der Huroue
Seinem Gaste spähend aus die Stirne,
Der mit tiefem Schnitt den Schinken
trennte
Und mit Wollust trank vom Honigtranke,
Den in einer großen Muschelschale
85 Er ihm freundlich zu dem Mahle reichte. .
Eine Bärenhaut auf weichem Moose
War des Pflanzers gute Lagerstätte,
Und er schlief bis in die hohe Sonne. |
Wie der wilden Zone wildster Krieger,
90 Schrecklich stand mit Köcher, Pfeil und ;
Bogen
I. G,
Der Hurone jetzt vor seinem Gaste
Und erweckt' ihn, und der Europäer-
Griff bestürzt nach seinem Jagdgewehre.
Und der Wilde gab ihm eine Schale,
Angefüllt mit süßem Morgentrauke. 95
Als er lächelnd seinen Gast gelabet.
Bracht' er ihn durch manche lange
Windung
Über Stock und Stein, durch Thal und
Bäche,
Durch das Dickicht auf die rechte Straße.
Höflich daukte fein der Europäer; 100
Finsterblickend blieb der Wilde stehen.
Sahe starr dem Pflanzer in die Augen,
Sprach mit voller, fester, ernster Stimme:
„Haben wir vielleicht uns schon gesehen?"
Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger 105
Und erkannte nun in seinem Wirte
Jenen Mann, den er vor wenig Wochen
In dem Sturmwind aus dem Hause
jagte,
Stammelte verwirrt Eutschuldigungen.
Ruhig lächelnd sagte der Hurone: 110
„Seht, ihr fremden, klugen, weißen Leute,
Seht, wir Wilden sind doch bess're
Menschen!"
Und er schlug sich seitwärts in die Büsche.
Seume. Werke. 5. Teil (Gedichte). S. 59 ff.
91. Die drei Indianer.
1. Mächtig zürnt der Himmel im Gewitter,
Schmettert manche Rieseneich' in Splitter,
Übertönt des Niagara Stimme,
Und mit seiner Blitze Flammenruten
Peitscht er schneller die beschäumten Fluten,
Daß sie stürzen mit enipörtem Grimme.
2. Indianer stehn am lauten Strande,
Lauschen nach dem wilden Wogenbrande,
Nach des Waldes bangem Sterbgestöhne;
Greis der eine, mit ergrantem Haare,
Aufrecht überragend seine Jahre,
Die zwei andern seine starken Söhne.
3. Seine Söhne jetzt der Greis betrachtet.
Und sein Blick sich dunkler jetzt umnachtet
Als die Wolken, die den Himmel schwärzen,
Und sein Aug' versendet wildre Blitze
Als das Wetter durch die Wolkenritze.
Und er spricht aus tiesempörtem Herzen:
204
4. „Fluch beit Weißen, ihren letzten Spuren!
Jeder Welle Fluch, worauf sie fuhren,
Die einst, Bettler, unsern Strand erklettert!
Fluch dem Windhauch, dienstbar ihrem Schiffe!
Hundert Flüche jedem Felsenriffe,
Das sie nicht hat in den Grund geschmettert!
5. Täglich übers Meer in wilder Eile
Fliegen ihre Schiffe, gift'ge Pfeile,
Treffen unsre Küste mit Verderben.
Nichts hat uns die Räuberbrut gelassen
Als im Herzen tödlich bittres Hassen;
Kommt, ihr Kinder, kommt, wir wollen sterben!"
6. Also sprach der Alte, und sie schneiden
Ihren Nachen von des Ufers Weiden,
Drauf sie nach des Stromes Mitte ringen.
Und nun werfen sie weithin die Ruder;
Armverschlungen, Vater, Sohn und Bruder-
Stimmen an, ihr Sterbelied zu singen.
7. Laut ununterbrochne Donner krachen,
Blitze flattern uni den Todesnachen,
Ihn umtaumeln Möven sturmesmunter.
Und die Männer kommen fest entschlossen
Singend schon dem Falle zugeschossen,
Stürzen jetzt den Katarakt hinunter.
Nikolaus Lenau. Sämtliche Werke. (Bibliogr. Inst.) B. I. S. 110 ff.
98. Ratschluß Gottes.
In niedrer Hütte, siech und krank
Ein armes Kind liegt auf der Bank,
Von kargen Lumpen kaum bedeckt,
In tiefem Elend hingestreckt.
5 Und bei ihm sitzt ein armes Weib
Mit hohlem Blick und magerm Leib.
Sie weinet ob des Kindes Not,
Wünscht sich und ihm den frühen Tod.
Der Tod, er hört ihr Weinen nicht,
10 Vorüber an der Hütte dicht
Schleicht er und geht empor zum Schloß.
Dort liegt des Grafenhauses Sproß
In seidnen Decken wohl verwahrt.
Kein Mittel hat der Arzt gespart,
15 Auf seinen Wink harrt das Gesind',
Die Gräfin wacht beim kranken Kind,
Es wacht an seinem Bett der Graf
Und prüft den Puls und prüft denSchlaf —
Und doch, der Tod drängt sich herein
Und löscht der Augen hellen Schein! — 2o
O sprich! Warum im Grafenhaus
Blies doch, o Tod, dein Odem aus
Das junge, hoffnungsvolle Licht?
j Warum nahmst du das Würmlein nicht,
Dem doch in dunkler Zukunft Schoß 25
j Verborgen liegt ein traurig Los?
: Doch wie ich wollt' verzagen schier,
Dacht' ich im stillen so bei mir,
Als spräch' der Tod: „Hätt' ich gethan
Nach deinem unbedachten Plan,
Es wußt' der reichen Eltern Herz
Von keinem Leid und keinem Schmerz,
Und jener Armen wär' geraubt
Das einz'ge Glück, an das sie glaubt!"
Franz Bonn. Für Herz und Haus (Gedichte). 2. Aust. (o. I.). S. 98 f.
205
93. Die Zeiten.
1. Die Zeiten sind so eilig
Wie Vögel auf dem Zug,
Auf ihren Schwingen flieget
Der Mensch in raschem Flug.
2. Ein Knab' auf hohem Rosse
Eilt er durchs Leben hin,
Sein Ziel, das ist der Himmel,
Wo ew'ge Kränze blühn.
3. Ein Kindlein wird geboren
Und ruht im Mutterarm,
Es lächelt schwach und hilflos,
Sie hält es fest und warm.
4. Zur Taufe wird's getragen,
Geschmückt im weißen Kleid,
lind von der Kirche Christi
Zn Christi Kind geweiht.
5. Das Eis taut in der Sonne,
Und fröhlich sproßt die Saat,
Der Vogel singt vom Frühling,
Der mit den Blumen naht.
6. Die Biene baut die Zelle,
Der Sämann baut sein Land,
Wer ernten will im Herbste,
Der rühre jetzt die Hand.
7. Dem Unkraut wehrt der Gärtner
Und Pflegt das zarte Reis,
Das Kindlein lehrt die Mutter
Gebet und stillen Fleiß.
8. Und wenn mit bunten Blumen
Der Mai die Auen schmückt.
Dann blühet auf die Jungfrau,
Und kühn der Jüngling blickt.
9. Der Frühling wird zum Sommer,
Die Soilne glühet heiß,
Da rinnt von brauner Stirne
Dem Arbeitsmann der Schweiß.
10. Sie ziehn mit Kreuz und Fahnen
Durchs Feld den grünen Pfad.
Sie beten laut und singen:
„O segne, Herr, die Saat!"
Fr. G. P
11. Die Fluren werden golden.
Die Traube schwillt voll Saft,
Der Arbeit hilft die Hoffnung
Und gibt dem Müden Kraft.
12. Da kehrt mit reichen Garben
Der Herbst im Lande ein.
Bringt Birnen mit und Äpfel
Und füllt das Faß mit Wein.
13. Ihn grüßt mit lauten Liedern
Und Jubel jede Brust,
Und Gottes reicher Segen
! Erfüllt den Fleiß mit Lust.
14. Und alles ist geschäftig
Und schneidet, bricht und pflückt,
Der Boden und die Scheune
Wird von der Last gedrückt.
15. Die Fluren werden kahler,
Das Leben kehrt ins Haus,
Der Vater lehrt die Kinder,
Sie lesen Früchte aus.
16. Der Wind verweht die Blätter,
Die Haare werden weiß.
Es freut sich an den Kindern
Der milde, fromme Greis.
17. Die Fröste werden strenger,
Der Schnee deckt alles zu,
Da wird das Leben stiller
Und sehnet sich nach Ruh'.
18. Das Haupt senkt sich, das müde,
Die Kinder knien im Kreis,
Sie danken ihm mit Thränen,
Es segnet sie der Greis.
19. Die Kirche, die das Kindlein
Geweiht im Sakrament,
Die gibt ihm jetzt die Stärkung
Bei seinem letzten End'.
20. Sie beten bei dem Grabe,
Das seine Leiche deckt:
„Nun ruhe bis zum Tage,
Da Gott dich auferweckt !"
cci und G. Görres. Festkalender. I. Teil.
206
II. Lyrische Dichtung.
94. Fang an mit Gott!
Fang an mit Gott! Das ist ein schützend Wort,
Und wandre ruhig deine Pfade fort
Und zittre nicht vor unheildrohnden Wegen!
Mit Gott! Das ist ein Wort voll reichem Segen:
Da wankt in deiner Hand kein Wanderstab,
Du schreitest sicher dann bergauf, bergab,
Und findest leicht, voll Kraft und voller Gnade,
Durch Sturm und Kampf allzeit die rechten Pfade
Mit Gott! Da wird vor keiner Nacht dir bang,
Das ist dein Licht aus jedes Abgrunds Hang.
Es ist in Eis und Schnee wie sonn'ge Matten,
Im Sonnenbrand wie kühler Waldesschatten,
Es hält des Heils und auch des Segens viel.
Fang an mit Gott, du kommst ans rechte Ziel!
Franz Taver Seidl. Neue Gedichte. i88i. S. 14.
95. Früh morgens.
1. Es weicht die Nacht dem jungen Tag,
Noch still ist's in der Runde,
Da bringt der erste Lerchenschlag
Vom Frühlicht erste Kunde.
2. Jnros'ger Glut der Himmel schwimmt,
Bald zuckt's wie rote Flammen;
In feierlichem Klange stimmt
Der Glocken Ton zusammen.
3. Der Hirt, auf seinen Stab gestützt.
Spricht leis den Morgensegen:
„Herr, der uns diese Nacht beschützt,
Schirm' uns auf allen Wegen!
4. Der einst gerufen aus dem Nichts
Dies strahleude Gefunkel,
Führ' uns ins Reich des ew'gen Lichts
Aus dieses Lebens Dunkel!"
5. Zn Füßen fromm der ew'gen Macht
Ringsum die Lande liegen,
Die Königin des Tags in Pracht
Hat ihren Thron bestiegen!
Ludwig Bauer. Dieses Buch gehört der Jugend. 1893. S. 7.
96. Abendläuten.
1. Aus dem dunkeln Thal, von des
Waldes Saum
Ertönen die Glocken wie leiser Traum;
Sie schwingen und klingen wohl auf und zu,
Sie läuten den Tag in seine Ruh.
2. Und läuten sie ein, die stille Nacht;
Das hat mir das Herz so weich gemacht,
Weil all meiner Jugend Leid und Freud'
Erwachet in ihrem Abendgeläut'.
3. Die Seele empor zum Sternensaal,
Den Himmelsfrieden ins Erdenthal,
Den Fremdling heim ins Vaterhaus:
Das läuten die Glocken wohl ein und
aus.
207
4. So tönen sie bis zu letzter Stund',
Dann schließt sich segnend ihr frommer
Mund;
Doch wenn erwachend der Morgen graut,
Da werden ja alle von neuem laut.
5. Derweil ich mein Sinnen nach
oben wend',
Ist nun der Glocken Geläut' zu End'.
Geht alles zu End', nur du nicht allein —
Sollst. Gott, du mir eines und alles sein.
Georg Scheurlin. Gedichte. i85i. S. 36.
97. Bei einem Ungewitter.
1. Wie jauchzt mein Herz dir froh
entgegen,
Gott, der da kommt in Herrlichkeit!
Du bist die Liebe, du bringst Segen
Im Donner wie zur Sonnenzeit.
Mag zittern, wer dich Rächer nennt —
Ich bin dein Kind, das dich erkennt.
2. Zwar seh' ich deine Blitze flammen,
Und finster, Herr, ist dein Gezelt,
Es zuckt der Erdenball zusammen,
Wenn du erschütterst deine Welt;
Doch selbst im dunkeln Wettergraun
Kann ich dein Gnadenantlitz schaun.
3. Wie freu' ich mich, ich darf nicht
zagen
Vor dem, der in den Wolken naht.
Und wenn ihn tausend Donner tragen
Aus schwarzumhülltem Sturmespfad.
Ich bin sein Kind; durchs Flammenlicht
Schau' ich des Vaters Angesicht.
4. So jauchz' ich dir denn froh entgegen,
Gott, der da kommt in Wetterpracht,
Einst jauchz' ich dir auf Hellern Wegen,
Wenn unter dir der Weltbau kracht.
O großer Gott, wie freu' ich mich,
Dann schau' ich ohne Wolken dich!
Katharina Koch. Mein Leitstern. 1886». S. 7 f.
98. Neujahrslied.
1. Des Jahres letzte Stunde
Ertönt mit ernstem Schlag:
Trinkt, Brüder, in die Runde
Und wünscht ihm Segen nach!
Zu jenen grauen Jahren
Entfliegt es, welche waren;
Es brachte Freud' und Kummer viel
Und führt' uns näher an das Ziel.
Ja, Freud' und Kummer bracht' es viel
Und führt' uns näher an das Ziel.
2. In stetem Wechsel kreiset
Die flügelschnelle Zeit:
Sie blühet, altert, greifet
Und wird Vergessenheit;
Kaum stammeln dunkle Schriften
Aus ihren morschen Grüften.
Und Schönheit, Reichtum, Ehr' und
Macht
Sinkt mit der Zeit in öde Nacht.
Und Schönheit, Reichtum, Ehr' und
Macht
Sinkt mit der Zeit in öde Nacht.
3. Sind wir noch alle lebend,
Wer heute vor dem Jahr,
In Lebensfülle strebend,
Mit Freunden fröhlich war?
Ach, mancher ist geschieden
Und liegt und schläft in Frieden.
Klingt an und wünschet Ruh' hinab
In unsrer Freunde stilles Grab!
Klingt an und wünschet Ruh' hinab
In unsrer Freunde stilles Grab!
4. Wer weiß, wie mancher modert
Ums Jahr, gesenkt ins Grab!
Unangemeldet fordert
Der Tod die Menschen ab.
Trotz lauem Frühlingswetter
Wehn oft verwelkte Blätter.
Wer von uns nachbleibt, wünscht dem
Freund
Im stillen Grabe Ruh' und weint.
Wer nachbleibt, wünscht dem lieben
Freund
Im stillen Grabe Ruh' und weint.
5. Der gute Mann nur schließet
Die Augen ruhig zu;
Mit frohem Traum versüßet
Ihm Gott des Grabes Ruh'.
208
Er schlummert kurzen Schlummer
Nach dieses Lebens Kummer;
Daun weckt ihn Gott, von Glanz
erhellt,
Zur Wonne seiner bessern Welt.
Daun weckt uns Gott, von Glanz
erhellt,
Zur Wonne seiner bessern Welt.
6. Auf, Brüder, frohen Mutes,
Johann Heinr
99. £
1. Schmettert über allen Landen,
Lerchen, jubelnd in die Luft!
Aus des Winters Totengruft
Ist der Frühling auferstanden.
O der frohen Siegeskuude
Nach der trüben Tage Last!
Junges Grün im Wiesengrunde,
Frischer Trieb au jedem Ast!
2. Alles fühlt zu neuem Leben
Sich erregt in Wald und Flur,
Auf der Freude lichter Epur
Darf der junge Falter schweben,
Franz Bonn. Für
Auch wenn uns Trennung droht!
Wer gut ist, findet Gutes
Im Leben und im Tod!
Dort sammeln wir uns wieder
Und singen Wonnelieder!
Klingt an, und: Gut sein immerdar!
Sei unser Wunsch zum neuen Jahr!
Gut sein, ja, gut sein immerdar!
Zum lieben, frohen, neuen Jahr!
ich V 0 ß. Lieder. Poetische Werke. III. S. 10 ff.
Und aus all dem Drang der Töne
Klingt es tröstend, klar und laut:
„Nicht umsonst, ihr Erdensöhne,
Habt ihr auf den Lenz vertraut."
3. Blüten, helle Osterkerzen,
Flammen festlich weit und breit.
Wälze, schöne Frühlingszeit,
Auch den Stein von unsern Herzen,
Daß uns in dem Strahl der Sonne
Ahnungsselig mag umwehn
Jene hohe Frühlingswonne,
Da wir selber auferstehn!
Herz und Haus. (Gedichte.) 2. Ausl. (o. I.) S. 82 f.
100. Allerseelentag.
1. Die Blumen, die der Herbst vergaß,
Borm Scheiden noch zu pflücken,
Gefügt zum Kranz,
Bei Lichterglanz
Der Lieben Grab heut' schmücken.
2. Der Baum wiegt im Novemberwind
Sich zitternd hin und wieder,
Und Blatt um Blatt
Sinkt müd und matt
Auf all die Hügel nieder.
3. Und aus der Nebelwolke tropft
Der Tau auf Bluni' und Kränze,
Auf daß zur Stell'
Bon Thränen hell
Ein jedes Blatt erglänze.
4. So trauert rings die weite Flur
Um alle, die geschieden,
Die schlummernd ruhn
Ludwig
Vom ird'schen Thun
Still in des Grabes Frieden.
5. So magst auch du, o Menschenkind,
Zu diesen Hügeln treten,
Auf daß dein Herz
Den tiefen Schmerz
Ausweinen kaun und beten!
6. Die sich im Leben nie gekannt,
An Grüften sich begegnen,
Um Hand in Hand
Am Grabesrand
Die Schlummernden zu segnen.
7. „Versöhnung" heißtdasheil'geWort,
Das diese Hügel künden:
Wo man vereint
Um Liebes weint,
Muß Haß und Zwietracht schwin-
den I
Bauer, über Berg und Thal. 1883. S. 128.
209
101. Sonntagsfrühe.
1. Der Samstig het zum Sunntig gseit:
„Jez Ham alli schlafe gleit;
Si sin vom Schaffe her und hi
Gar sölli müed und schläfrig gsi,
Und 's goht mer schier gar selber so,
I cha fast uf fei Bei me stoh."
2. So seit er, und wo's zwölfi schlacht,
Se sinkt er aben in d' Mitternacht..
Der Sunntig seit: „Jez ischs an mir!"
Gar still und heimli bschließt er d' Thür.
Er duselet hinter d' Sterne uo
Und cha schier gar nit obst cho.
Z. Doch endli ribt er d' Augen ns,
Er chunnt der Sunn an Thür und Hus.
Sie schloft im stille Chämmerli;
Er pöpperlet am Lädemli,
Er rüeft der Sunne: „D' Zit isch do!"
Si seit: „I chumm enanderno."
4. Und lisli ns de Zeeche goht
Und heiter ns de Berge stoht
Der Sunntig, und's schloft alles no;
Es sieht und hört en niemes goh.
Er chunnt ins Dorf mit stillem Tritt
Und winkt im Guhl: „Verrat mi nit!"
5. Und wemmen endli an verwacht
Und gschlofe het die ganzi Nacht,
Se stoht er do im Sunneschii
Und fliegt eint zu de Fenstern i
Mit sinen Auge mild und guet
Und mitem Meien nffem Huet.
6. Drum meint er's treu, und was i sag:
Es freut en, wemme schlofe tnag
Und meint, es sei no dunkel Nacht,
Wenn d' Sunn am heitre Himmel lacht.
Drum isch er an so lisli cho,
Drum stoht er au so liebli do.
7. Wie glitzeret ns Gras und Laub
Vom Morgetau der Silberstaub!
Wie iveiht e frischi Meieluft
Voll Chriesibluest und Schleechedust!
Und d' Jmmli sammle flink und frisch;
Sie toüsse nit, aß 's Sunntig isch.
8. Wie pranget nit im Garteland
Der Chriesibaum im Meiegwand,
Gelveieli und Tulipa
Und Sterneblueme nebe dra
1. Der Samstag ruft dem Sonntag zu:
„Da bracht' ich alle denn zur Ruh'!
So Arbeit durch die ganze Woch',
Die macht am Ende schläfrig doch;
Mir selber will's nicht besser gehtt,
Kaum kann ich ans den Beinen stehn."
2. Erspricht's,undwieeszwölfeschlägt,
Da hat er sich zur Ruh' gelegt.
Der Sonntag sagt: „Jetzt ist ait mir
DieReih'!" schließt heimlich draus dieThür
Und duselt durch den Himmel hin;
j Ihm ist noch ganz konfus im Sinn.
3. Drauf reibt er sich die Augen aus,
Da kommt er vor der Sonne Haus.
Sie schläft im stillen Kämmerlein;
Er klopft am Laden, guckt hinein
Und ruft ihr zu: „Die Zeit ist da!"
Sie sagt: „Schon gut, ich weiß es ja!"
4. Und sachte auf den Zehen geht
Und heiter auf den Bergeit steht
Der Sonntag; alles schläft zur Stund',
Ihn sieht kein Mensch in rveiter Rund'.
Er kommt ins Dorf, ganz sachte spricht
Er da zum Hahn: „Verrat mich nicht!"
5. Und wenn mau endlich daun erwacht
Und lag im Schlaf die ganze Nacht,
So steht er da im Sonnenschein
Und schaut durchs Fenster hell hcreiit
Mit seinen Augen mild und gut
Und mit dem Blumenstrauß am Hut.
6. Er meint es gut, das ist schon wahr,
Und wenn man schläft, es freut ihn gar.
Er glaubt, noch wär' es für uns Nacht,
Wenn schon die Sonn' am Himmel lacht;
Drum kam er auch so leis heran,
! Drum lacht er uns so freundlich an.
7. Wie glitzert doch auf Gras und Latib
Vom Morgentau der Silberstaub!
Wie weht so frische Maienluft
j Voll Kirscheublüt' und Schlehenduft!
Und Bienchen sammeln immer zu;
Die wissen nichts von Sonutagsruh'.
8. Wie prangt nicht in dem Garten heut'
Der Kirschenbaum im Maienkleid,
Der Goldlack und die Tulipan
Und Sternenblumen neben dran
Deutsches Lesebuch für bayer. Mittelschulen. Bd. IV.
14
210
Und gfüllti Zinkli blau und wiiß!
Me meint, me lneg ins Paradies!
9. Und 's isch so still und heimli dv.
Men isch so rüeihig und so froh!
Me hört im Dorf kei„Hüst!" und„Hott!";
„E gute Tag!" und „Dank der Gott!"
Und „'s git gottlob e schöne Tag!"
Isch alles, was me höre mag.
10. Und 's Vögeli seit: „Frili jo!
Potz tausig, jo, do isch er scho!
Er dringt jo in sim Himmelsglast
Dur Bluest und Laub in Hurst und
Nast!"
Und 's Distelzwigli vorne dra
Hat 's Snnntigröckli an scho a.
11. Sie lüte weger 's Zeiche scho;
Der Pfarrer, schiint's, well zitli cho.
Gang, brech wer eis Aurikle ab,
Vcrwüschet mer der Staub nit drab!
Und Chüngli, leg di weidli a.
De muesch derno ne Meie ha!
I. P. Hebel. Werke. 1843. B. I. S. 133 ff.
Und Hyacinthen bunt und schön!
Man glaubt ins Paradies zu sehn.
9. Wie still ringsum die Gegend liegt!
Man ist so ruhig und vergnügt,
Man hört im Dorf kein „Hüst!" und
„Hott!"
Nur „Guten Tag!" und „DankdirGott!"
„Heut' ist gottlob ein schöner Tag!"
's ist alles, was man hören mag.
10. Und's Vögelchen sagt: „Ei, sieh da!
Der Tausend! Schau, da ist er ja!
Sein Himmelsglanz, der flimmert gleich
Durch Busch und Blut' und Laub und
Zweig,
Und auch der Fink spaziert heran,
Hat schon das Sonntagsröckchen an.
11. Da läuten sie. Nun machet schnell!
Der Pfarrer ist heut früh zur Stell'.
Rasch, pflück mir noch Aurikeln, lauf!
Verwisch mir nicht den Staub daraus!
Und Gundel, zieh recht flink dich an
Und steck dir auch noch Blumen an!
R. Reinick. I. P. Hebel's Allem«,mische Gedichte
ins Hochdeutsche übertragen. 1851. S. 125 ff.
102. Morgendämmerung.
2. Noch stehn am Himmelsraume
Gestirne sonder Zahl,
Am fernen, dämmernden Saume
Zuckt schon ein purpurner Strahl.
1. Die Nacht liegt ausgebreitet,
Erquickt die Erde ruht.
Der Mond, der zitternde, gleitet
Hinab in düsterer Glut.
3. Die Vögel werden munter,
Der Hahn ist längst erwacht,
Leis ziehen die Schatten hinunter,
Hinunter die tauende Nacht.
Martin Greif. Gesammelte Werke. B. I. 18950. S. 50.
103. Abendlandschaft.
1. Im Abendwinde rauscht der Wald,
Es tönt ein fernes Glockenläuten,
Anschwellend bald, verhallend bald.
2. Dort aus dem Dickicht zieht das Wild,
Und über Teich und Feld und Rasen
Ergießt der Mond sein zitternd Bild.
Max Schli
3. Lebendig wird's im feuchten Moor,
Es huscht aus schwärzlichem Gewässer
Das Volk der Vögel scheu empor.
4. Ein Jäger schreitet durch den Tann,
Im Arm die Büchse, halb im Traume,
Und summt ein Liedchen dann und wann.
bach(-Seydel). Neue Gedichte. 1880. S. 80.
1. Es sind zur Nacht
In aller Pracht
Die Sterne aufgezogen,
104. Weihe der Nacht.
Und leuchtend thront
Der goldne Mond
Am ew'gen Himmelsbogen.
211
Es rinnt der Quell
Zu Thäte schnell,
Du hörst sein fernes Rauschen,
Und wehmutsbang
Mußt auf den Sang
Der Nachtigall du lauschen.
2. Der Flieder blüht,
Der Leuchtwurm glüht,
Du siehst im Laub ihn schimmern,
Und auf dem Teich
Wie schönheitsreich
Die goldnen Sterne flimmern!
Vom Schilf umsäumt.
Das Wildhuhn träumt.
In seinem Nest geborgen,
Bis neu belebt
Es sich erhebt
Zum schnellen Flug am Morgen.
3. Und an den See
Tritt Hirsch und Reh
Beim lichten Sterngefunkel;
105. Ein n
Es schallt ein Jauchzen in allen
Landen
Von einem Propheten, der auferstanden;
Der thät auf Bergen, Fels und Gründen,
In Wald und Auen, nah und fern,
5 Das Evangelium des Herrn
Mit wundersamer Kraft verkünden.
Ein grüner Mantel, sein Gewand,
Den schlägt er faltig um die Hüfte;
Ein Mosesstab ist ihm zur Hand,
10 Womit er weckt den Staub der Grüfte;
Von seinen Tritten ziehn die Düfte
In würz'ger Fülle durch das Land.
Wer immer kommt zu Lab' und Rast,
Der ist ihm Freund, der ist ihm Gast
15 Und froh geladen ihm zum Mahle.
Sein Trunk ist echt, die Labe gut;
Doch rinnt ihm nicht der Traube Blut,
Er schöpft aus kühler Felsenschale.
Nicht hat der Edle Haus und Fach;
20 Er flieht die dumpfe Mauerzelle
Und haust in freier Waldeskühle,
Wo, hingestreckt auf moos'gem Pfühle,
Er sich den Himmel nimmt zum Dach
Und Berg und Felsen als Kapelle.
Sie ziehen dann
Zum finstern Tann
Ties in des Waldes Dunkel.
Sie wandern sacht
In stiller Nacht
Zum Waldsee und zur Quelle,
Darin sich bricht
Das milde Licht,
Des Vollmonds sanfte Helle.
4. Schon spielt im Strauch
Der Morgenhauch,
Tau blitzt ans allen Blättern;
Der Mond erbleicht.
Der Nebel weicht,
Die ersten Lerchen schmettern.
Und unterm Dach
Fängt allgemach
Die Schwalbe an zu singen,
Um Gruß und Dank
> Im Jubelklang
Dem jungen Tag zu bringen.
Heinrich Zeise.
uer Prophet.
So zieht er durch der Christen 25
Reich
Und zieht der Heiden ferne Straßen,
Ein Priester, wie ihm keiner gleich,
Ein Pred'ger über alle Maßen.
Er ruft so Sündern wie den Frommen:
Das Himmelreich ist nahe kommen! 30
Herbei, ihr Blinden, Lahmen, Tauben,
Ihr Gottverlornen, hört und schaut
Die Wunder, die euch rings erbaut,
Und lernt im Schmuck der Erde glauben.
Was euch ein göttlich Wort vertraut! 35
Herbei ihr Seelen, müd' und krank!
Wer nie vom Brot des Lebens speiste
Und nie vom Born der Sel'gen trank,
Heran zu solcher heil'gen Traufe!
Nicht Wasser biet' ich euch, ich taufe 40
Mit Feuer euch und mit dem Geist.
Und seht, in dichtgedrängten Scha-
ren,
Von allen Völkern, allen Zungen
Entströmt die Menge ihren Klausen,
Den Dingen lauschend, die sich draußen 45
In Wald und Gründen offenbaren.
Und allen ist's ins Herz gedrungen;
14*
212
Denn jeder fühlt und jeder hört,
Wie tief auch sonst fein Sinn bethört,
50 Den hohen, himmlischen Propheten
In seines Volkes Zunge reden.
Des schallt ein Jauchzen in allen Landen
Dem Herrn sei Preis in weiter Welt;
Denn sein Prophet, ein Friedensheld —
Der Frühling — ist uns auferstanden! 55
Georg Scheurlin. Heideblumeii. 1858. S. 72 ff.
106. Der Schwalben Heimkehr.
1. Der du in enger Zimmer Raum j O störe nicht des Vogels Thun
Den Winter zugebracht.
Lieh, wie sich draußen Busch und Baum
Erhebt in Frühlingspracht,
Wie in den Lüften klar und blau
Die Wandervögel ziehn,
Wie Bach und Quell durch Flur und Au
Mit frohem Rauschen sliehn
2. Und überall des Werdens Drang
Dir in die Augen springt.
Wie hell und jubelnd Liederklang
Aus tausend Kehlen dringt,
Und wie mit lautem Freudenschrei
Zu deinem Heimatherd
Im lichten, wonnevollen Mai
Die Schwalbe wiederkehrt!
3. Du siehst es, wie sie allgemach
An deinem Fenster baut.
Und wie sie unter deinem Dach
Ihr Nest dir anvertraut.
An deinem stillen Herd,
Laß ihn in deinem Schutze ruhn
Und halt ihn hoch und wert!
4. Er kommt aus einem fernen Land.
Wo milde Lüfte wehn.
Und wo im heißen Sonnenbrand
Des Südens Palmen stehn.
Die Sehnsucht lenkte seinen Flug
Hoch über Meergebraus,
Und sieh, sein schneller Flügel trug
Als Gast ihn an dein Haus.
5. Nimm freundlich auf den lieben Gast,
Der dir den Frühling bringt,
Und der nach kurzer Monde Rast
Sich wieder südwärts schwingt!
Dann schmettert er zum letztenmal
Beim Morgengraun sein Lied,
Bevor er über Berg und Thal
Zum fernen Süden zieht;
6. Bringt scheidend, wie ein Freund es thut,
Des Herzens Dank dir dar:
Ich komme wieder, fasse Mut,
Komm' heim im nächsten Jahr,
Wenn rings die Apfelbäume blühn
Auf frischem Wiesenplan,
Und wenn der Wald mit jungem Grün
Sein Lenzkleid angethan.
107. Sommernacht.
1. Jeder Lufthauch ist versiegt,
Auf dem tiefen, stillen Weiher
Nur die Wasserrose wiegt
In der Dämmrung ihre Schleier.
Heinrich Zeise.
2. Wolken hüllen Stern an Stern,
Alles ruhet schlummertrunken,
Nur ein Blitzstrahl leuchtet fern,
Sterbend ins Gebirg versunken.
Hermann Lingg. Gedichte. B. II. i8«92. S. i38.
108. Boten des Herbstes.
1. Wolkengüsse,
Frühe Nacht,
Breiter Flüsse
Wilde Macht -
213
2. Kahler Felder
Nebelduft,
Nasser Wälder
Schwere Luft —
3. Ringsum Klage,
Sturmeston —
Herbstestage,
Naht ihr schon?
Martin Greif. Gesammelte Werke. B. I. 1895». S. 74.
109. Schneekampf.
1. Laut rauscht der Wind, der Un- 2. Und würgend tragen Nordland-
heilkünder, stürme
Durchs weiße, wirbelnde Gewirr; Nur Schnee herbei und neuen Schnee,
Des Waldes welke Zweige brechen, Der steigt und steigt —in langen Nächten;
Der Berghirsch flüchtet, pfadesirr. Bis in den Felsgrnnd dringt dies Weh !
3. Dann endlich, endlich blaut es wieder,
Schneeblendend glänzt der Berge Pracht;
Doch regt kein Leben mehr die Glieder,
Kein Laut erklingt — es ist vollbracht!
Karl Stieler. Nene Hochlandslieder. >881. S. 93.
110. Der
1. Mit Sausen und Brausen
Der Bach kommt geschossen,
In Sprüngen und Possen
Vollbringt er den Lauf.
Die Welle ivie helle!
Er träumt ilur vom Meere,
Und Schleusen und Wehre
Nicht halten ihn ans.
2. Doch drunten im Grunde
Er stutzt an der Mühle;
Nun enden die Spiele,
Er strudelt und kocht.
Bach.
Trotz Schämen und Grämen
In saurem Geschäfte
Berbrausen die Kräfte,
Vom Rad unterjocht.
3. Vorüber das Fieber!
Die Frone geendigt!
Nun dehnt er gebändigt
Zum Weiher sich aus.
Die Welle wie helle!
Nicht lockt ihn die Ferne;
Er spiegelt die Sterne
Und Garten ititb Haus.
Paul Heyse.
111. Wer zwecklos eine Blume pflückt.
1. Wer zwecklos eine Blume pflückt,
Der mag es ivohl bedenken.
Daß binnen einer kurzen Frist
Sich ivelk die Blätter senken!
2. Jst's auch ein Blumenleben nur,
Das deine Hand mag brechen,
Und hat es keinen Schmerzenslaut,
Sein Leiden auszusprechen:
2. So wend zum Stengel nur den Blick,
Dich überkommt ein Wähnen,
Als träuften mit dem Lebenssaft
Zugleich der Blume Thränen.
Heinrich v. Reder. Federzeichnungen aus Wald und Hochland (o. I.) S. 18.
112. Berglied.
1. O Morgenluft, so kühl, so rein! Wider den Stein das Eisen klingt
Da schreiten fröhlich wir zu zwei« Des Bergstocks, den die Rechte schwingt,
Empor auf steilem Steige. Und an die Tannenzweige
214
Anstreifend, schüttelt ein glitzerndes Heer-
Tautropfen über die Wanderer her
Der zitternde Schaft der Esche.
2. Ihr Heimatberge morgenschön,
Ihr Wolkenschleier um Felsenhöhn,
Seid mir gegrüßt in Wonne!
Küsse die Stirn mir mit goldigem
Glanz,
Wenn durch der wirbelnden Nebel Tanz
Du dich durchkämpfst, ewige Sonne,
Und über den nächtlich schlummernden See
Und über der Gletscher flimmernden
Schnee
In purpurnen Wogen strömest!
Max Schlier
3. Durch alle Glieder fühl' ich die
Kraft,
Die in den unendlichen Weiten schafft
Und in unsterblicher Schöne
Bis an die dämmernden Grenzen der
Welt
Zu den leuchtenden Sternen die Sterne
gesellt
Und im Einklang jauchzender Töne
Die Bahnen verschlingt im himmlischen
Blau,
Daß in seligem Traum, daß iu trunkener
Schau
Die feuchten Blicke sich wirren.
ach (-Seydel). Neue Gedichte. 1880. S. 83 f.
113. Wenn du noch eine Mutter hast.
1. Wenn du noch eine Mutter hast,
So danke Gott und sei zufrieden;
Nicht allen auf deni Erdenrund
Ist dieses hohe Glück beschieden.
Wenn du noch eine Mutter hast.
So sollst du sie mit Liebe pflegen,
Daß sie dereinst ihr müdes Haupt
In Frieden kann zur Ruhe legen.
2. Sie hat vom ersten Tage an
Für dich gelebt mit bangen Sorgen,
Sie brachte abends dich zur Ruh'
Und weckte küssend dich am Morgen.
Und warst du krank, sie pflegte dein,
Den sie mit tiefem Schmerz geboren;
Und gaben alle dich schon auf,
Die Mutter gab dich nicht verloren.
3. Sie lehrte dir den frommen Spruch,
Sie lehrte dir zuerst das Reden;
Sie faltete die Hände dein
! Und lehrte dich zum Bater beten.
Sie lenkte deinen Kindessinn,
Sie wachte über deine Jugend;
Der Mutter danke es allein.
Wenn du noch gehst den Pfad derTugend!
4. Und hast du keine Mutter mehr,
Und kannst du sie nicht mehr beglücken.
So kannst du doch ihr frühes Grab
Mit frischen Blumenkränzen schmücken.
Ein Muttergrab ein heilig Grab,
Für dich die ewig heil'ge Stelle!
O wende dich an diesen Ort,
Wenn dich umtost des Lebens Welle!
Wilhelm Kau lisch. — Dietlein-Polack« Aus deutschen Lesebüchern. B. H. 1882. S. 480 f.
114. Siehst du ein Menschenleid.
1. Siehst du ein Menschenleid am Weg,
So weiche nicht zur Seite aus!
Die Menschenliebe ist der Steg,
Der sicher führt ins Vaterhaus.
2. Heut' schickt dir Gott ein armes Kind,
Das bettelnd seine Hände reckt.
Gehst du vorbei, ach, morgen sind
Vielleicht sie starr, vom Tod gestreckt.
3. Umsonst, daß dann in deiner Brust
Der stille Vorwurf pochen niag —
Drum, mahnt's dich, daß du Gutes thust,
Verschieb's nicht auf den nächsten Tag!
Franz Bonn. Für Herz und Haus. (Gedichte.) 2. Ausl. (o. I.) S. 311.
215
115. Wanderlied.
1. Wohlauf, noch getrunken
Den funkelnden Wein!
Ade nun, ihr Lieben,
Geschieden muß sein!
Ade nun, ihr Berge,
Du väterlich Haus!
Es treibt in die Ferne
Mich mächtig hinaus.
2. Die Sonne, sie bleibet
Am Himmel nicht stehn,
Es treibt sie, durch Länder
Und Meere zu gehn.
Die Woge nicht hastet
Am einsamen Strand,
Die Stürme, sie brausen
Mit Macht durch das Land.
3. Mit eilenden Wolken
Der Vogel dort zieht
Und singt in der Ferne
Ein heimatlich Lied.
Ju
So treibt es den Burschen
Durch Wälder und Feld,
Zu gleichen der Mutter,
Der wandernden Welt.
4. Da grüßen ihn Vögel,
Bekannt überm Meer,
Sie flogen von Fluren
Der Heimat hieher.
Da duften die Blumen
Vertraulich um ihn;
Sie trieben vom Lande
Die Lüfte dahin.
5. Die Vögel, die kennen
Sein väterlich Haus;
Die Blumen einst pflanzt' er
Der Liebe zum Strauß;
Und Liebe, die folgt ihm,
Sie geht ihm zur Hand:
So wird ihm zur Heimat
Das ferneste Land.
inus Kerner. Dichtungen. 1834. S. 92 ff.
116. Abschied.
1. O Thäler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt'ger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die gescbäft'ge Welt,
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt!
2. Wenn es beginnt zu tagen,
Die Erde dampft und blinkt,
Die Vögel lustig schlagen,
Daß dir dein Herz erklingt:
Da mag vergehn, verwehen
Das trübe Erdenleid,
Da sollst du auferstehen
In junger Herrlichkeit!
Joseph Freiherr v. Eichendorff.
3. Da steht im Wald geschrieben
Ein stilles, ernstes Wort
Von rechtem Thun und Lieben,
Und was des Menschen Hort.
Ich habe treu gelesen
Die Worte, schlicht und wahr,
Und durch mein ganzes Wesen
Ward's unaussprechlich klar.
4. Bald werd' ich dich verlassen,
Fremd in die Fremde gehn,
Auf buntbeivegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn;
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben.
So wird mein Herz nicht alt.
Sämtliche poetische Werke. I. Gedichte. 1883. S. >26.
216
117. Heimweh.
1. Du magst in weite Länder dringen
Und wohnen an dem fernsten Strand,
In tiefster Seele hörst du klingen
Das süße Tönen: Vaterland!
2. Und wenn auch Jahre schon ent-
schwunden,
Gelöst manch andres starke Band,
Dich hält doch immer noch gebunden
Das Sehnen nach dem Vaterland.
3. Und strahlet auch des Glückes Sonne
Auf deinem Pfad dir unverwandt,
Es tönet selbst durch Edens Wonne
Das Sehnen nach dem Vaterland.
4. So hält uns Heimweh fest um-
schlungen
Mit seinem stillen Zauberband,
Bis endlich wir hindurchgedrungen
Zu unserm wahren Vaterland.
G. Christ. Dieffenbach.
118. Bayerisches Volkslied.
1. Bayern, o Heimatland,
Du unsrer Liebe Baud,
Dich grüßen wir!
Voll aus des Herzens Drang
Töne der Feiersaug,
Schalle mit Jubelklang:
Heil, Bayern, Dir!
2. Bayern, du schönes Land,
Ruhend ani Alpenrand,
Dich grüßen wir!
Goldener Ähren Kranz,
Seen im Sonnenglanz,
Flüsse mit Wellentanz
Sind deine Zier.
3. Bayern, o altes Land,
Gruß dir mit Herz und Hand,
Preis dir und Dank!
Ost tobte Schlachtenbrans
Rings um dein Felsenhaus,
Hieltest in Schlachten ans
Stark ohne Wank!
4. Bayern, bu treues Land,
Schütze dich Gottes Hand,
Dich, unsern Hort!
Kräftig und wahr und echt
Glühe dein Kerngeschlecht
Männlich für Pflicht und Recht
In That und Wort!
5. Bayern, du trautes Land,
Wollen mit Herz und Hand
Fest für dich stehn!
Du überm Sternenzelt,
Der alles trägt und hält,
Lenker der Erdenwelt,
Hör unser Flehn!
6. Schirme Haus Wittelsbach,
Halte den Löwen wach,
Segne das Land!
Voll ans des Herzens Drang
Töne der Feiersang,
Schalle der Jubelklang:
Dem König Heil!
Friedrich Beck.
119. Bayrisch leben, bayrisch sterben!
1. Durch das Dunkel banger Zeiten,
Wo das Feste stürzt und bricht,
Wird ein heller Stern uns leiten —
Bayerntrene wanket nicht.
Und im Herzen fort und fort
Tönet unser Losungswort:
„Alter Sitte treue Erben!
Bayrisch leben, bayrisch sterben!"
2. Nimmer zittern in Gefahren,
Rechte schirmen und Vertrag,
Schwüre bis znni Tod bewahren,
Komme, was da konnnen mag —
So gedeutet fort und fort
Soll bewähren sich das Wort:
„Alter Sitte treue Erben!
Bayrisch leben, bayrisch sterben!"
217
3. Wie die Väter es den Söhnen
Lehrten ohne Prunk und Schein,
Wird der Spruch dem Enkel tönen,
Ihm ins Herz geschrieben sein,
Und von Mund zu Munde fort
Pflanze sich das biedre Wort:
„Alter Sitte treue Erben!
Bayrisch leben, bayrisch sterben!"
4. Von der Erde flieht der Glaube,
Und die Tugend wird zum Spott;
Doch aus unserm Herzen raube
Keine Macht den alten Gott!
Gott mit uns — so hier als dort!
Und so sei erfüllt das Wort:
„Alter Sitte treue Erben!
Bayrisch leben, bayrisch sterben!"
5. Frühlingsgleich ist anzuschauen
In dem Friedensschmuck das Land;
Aber auf den Frieden bauen
Mit dem Schwert wir in der Hand;
Friede ist ein sichrer Port,
Friedrich Beck.
Doch im Kampfe gilt das Wort:
„Alter Sitte treue Erben!
Bayrisch leben, bayrisch sterben!"
6. Trommeln wirbeln, Büchsen
knattern,
Und des Führers Ruf erschallt;
Weiß und blau die Fähnlein flattern,
Dicht vom Pulverdampf umwallt;
Durch die Reihen brauset fort
Unsrer Krieger Losungswort:
„Alter Sitte treue Erben!
Bayrisch leben, bayrisch sterben!"
7. Für den König hingegeben
Und der Heimat teures Gut,
Aus der Wunde strömt das Leben,
Fließt der Tapfern Heldenblut;
Doch sie rufen: „Kämpfet fort!"
Sinken mit dem letzten Wort:
„Alter Sitte treue Erben!
Bayrisch leben, bayrisch sterben!"
- (Lesebuch für Kapitulantenschulen. B. II. S. 4.)
120. Haus Wittelsbach (1880).
1. Laßt des Jubels Lied erklingen
Heut in allvereintem Chor!
Auf der Freude goldnen Schwingen
Hebt das Herz sich hoch empor.
Herrlich noch im Geist der Ahnen
Blüht das teure Königshaus —
Laßt sie wehen, unsre Fahnen,
Rufet hochbegeistert ans:
„Heil sei dir, Hans Wittelsbach!"
2. Wo ein Stamm an schönen Thaten
That's dem hohen Stamme gleich?
Fürsten echt von Gottes Gnaden
Wie an Volkes Liebe reich!
Ihre Saat, sie steht in Garben;
Frohbeglückt ist Hof und Hans.
Laßt sie leuchten, unsre Farben,
Rufet dankbegeistert ans:
„Heil sei dir, Haus Wittelsbach!"
3. Gott der Gnade, Gott der Güte,
Drohet Not uns und Gefahr,
Segne, schütze und behüte
Wittelsbach aus immerdar!
Herrlich fort im Geist der Ahnen
Blüh' das teure Königshaus!
Treu den Farben, treu den Fahnen
Rufet gottbegeistert aus:
„Heil sei dir, Haus Wittelsbach!"
Ludwig Schandein. — Wittelsbacher Album. Herausgegeben vvu K. Zettel. 1880. S. 343 f.
121. Dem Vaterland.
1. Dem Vaterland! Drommetenschmettern, Lerchensang,
Das ist ein hohes, helles Wort, Das fällt, ein Blitz, in unsre Brust,
Das hallt durch unsre Herzen fort Zn heil'ger Flamme wird die Lust!
Wie Waldesrauschen, Glockenklang, Dem Vaterland!
218
2. Dem Vaterland!
Das Wort gibt Flügel dir, o Herz.
Flieg auf, flieg auf, schau niederwärts
Die Wälder, Ströme, Thal und Höhn;
O deutsches Land, wie bist du schön!
Und überall klingt Liederschall
lind überall ein Widerhall:
Dem Vaterland!
3. Dem Vaterland!
Das seinen Töchtern hat beschert
Der keuschen Liebe stillen Herd,
Das seinen Söhnen gab als Hort
Heil dir, Heil dir,
Robert i
122. Kl
(Juli
1. Empor, mein Volk! Das Schwert
zur Hand!
Und brich hervor in Haufen!
Vom heil'gen Zorn ums Vaterland
Mit Feuer laß dich taufen!
Der Erbfeind beut dir Schmach und
Spott,
Das Maß ist voll, zur Schlacht mit Gott!
Vorwärts!
2. Dein Haus in Frieden auszubaun,
Stand all dein Sinn und Wollen,
Da bricht den Hader er vom Zaun,
Von Gift und Neid geschwollen.
Komin über ihn und seine Brut
Das frevelhaft vergoss'ne Blut!
Vorwärts!
3. Wir träumen nicht von raschem
Sieg,
Von leichten Ruhmeszügen;
Ein Weltgericht ist dieser Krieg
Und stark der Geist der Lügen.
Doch der einst unsrer Väter Burg,
Getrost, er führt ancb uns hindurch!
Vorwärts!
Emanu el Ge
Die freie That, das treue Wort,
Das seiner Ehren blanken Schild
Zu wahren allzeit sei gewillt,
Dem Vaterland!
4. Dem Vaterland!
O hohes Wort, o Helles Wort,
Du tön für alle Zeiten fort
Wie Waldesrauschen, Glockenklang,
Drommetcnschmettern, Lerchensang!
Zu heil'ger Flamme weih die Lust,
Solange schlägt die deutsche Brust
Dem Vaterland!
du deutsches Land!
einick. Lieder. Gesamtausgabe. (o. I.) S. 135 f.
legslied.
1870.)
4. Schon läßt er klar bei Tag und
Nacht
Uns seine Zeichen schauen;
Die Flammen hat er angefacht
In allen deutschen Gauen.
Von Stamm zu Stamme lodert's fort:
Kein Mainstrvm mehr, kein Süd lind
Nord I
Vorwärts!
5. Voran denn, kühner Preußenaar,
Voran durch Schlacht und Grausen!
Wie Sturmwind schwellt dein Flügelpaar
Vom Himmel her ein Brausen;
Das ist des alten Blüchers Geist,
Der dir die rechte Straße weist.
Vorwärts!
6. Flieg, Adler, flieg! Wir stürmen
nach,
Ein einig Volk in Waffen,
Wir stürmen nach, ob tausendfach
Des Todes Pforten klaffen.
Und fallen wir: flieg, Adler, flieg!
Aus unserm Blnte wächst der Sieg.
Vorwärts!
b e l. Gesammelte Werke. 1883. B- IV. S. 243 f.
123. Deutsche Siege.
(August 1870.)
1. Habt ihr in hohen Lüften
Den Donnerton gehört
Von Forbach aus den Klüften,
Von Weißenburg und Wörth?
Wie Gottes Engel jagen
Die Boten her vom Krieg;
Drei Schlachten sind geschlagen,
Und jede Schlacht war Sieg.
219
2. Preis euch, ihr tapfern Bayern,
Stahlhart und wetterbraun,
Die ihr den Wüstengeiern
Zuerst gestutzt die Klaun!
Mit Preußens Aar zusammen
Wie trutztet ihr dem Tod,
Hoch über euch in Flammen
Des Reiches Morgenrot!
3. Und ihr vom Gau der Kalten
Und ihr vom Neckarstrand,
Und die aus Waldesschatten
Thüringens Höhn gesandt,
Ihr bracht, zum Keil gegliedert.
Der Prachtgeschwader Stoß;
Traun, was sich so verbrüdert.
Das läßt sich nimmer los.
4. Und die ihr todverwegen,
Von Leichen rings nmtürmt,
Im dichten Eisenregen
Den roten Fels erstürmt,
Wo blieb vor euch das Pochen
Auf Frankreichs Waffenrnhm?
Sein Zauber ist gebrochen,
Nachbricht das Kaisertum.
Emanuel G
5. So sitzt denn ans, ihr Reiter,
! Den Rossen gebt den Sporn
Und tragt die Losung weiter:
„Hie Gott und deutscher Zorn!"
Schon ließ der Wolf im Garne
- Ein blutig Stück vom Vlies;
Die Maas hindurch, die Marne,
Ans, hetzt ihn bis Paris!
6. Und ob die wunden Glieder
Mit der Verzweiflung Kraft
Er dort noch einmal wieder
Empor zum Sprunge rafft:
Dich schreckt nicht mehr sein Rasen,
O greiser Heldenfürst I
Laß die Posaunen blasen,
1 Und Babels Feste birst.
7. Der feigen Welt zum Neide
Dann sei dein Werk vollführt,
Und du, nur du entscheide
Den Preis, der uns gebührt!
Es stritt mit uns im Gliede
1 Kein Freund als Gott allein;
So soll denn auch der Friede
Ein deutscher Friede sein!
ibel. Gesammelte Werke. 1883. B. IV. S. 247 s.
124. Deutscher Trost.
1. Deutsches Herz, verzage nicht!
Thu, ivas dein Gewissen spricht,
Dieser Strahl des Himmelslichts:
Thue recht und fürchte nichts!
2. Bane nicht auf bunten Schein,
Lug und Trug ist dir zu sein;
Schlecht gerät dir List und Kunst,
Feinheit wird dir eitel Dunst.
3. Doch die Treue ehrensest
Und die Liebe, die nicht läßt,
Einfalt, Demut, Redlichkeit
Stehn dir wohl, o Sohn vom Tent!
4. Wohl steht dir das grade Wort,
Wohl der Speer, der grade bohrt,
Wohl das Schwert, das offen sicht
Und von vorn die Brust durchsticht.
5. Laß den Welschen Meuchelei,
Du sei redlich, fromm und frei!
Laß den Welschen Sklavenzier,
Schlichte Treue sei mit dir!
6. Deutsche Freiheit, deutscher Gott,
Deutscher Glaube ohne Spott,
Deutsches Herz und deutscher Stahl
Sind vier Helden allzumal.
7. Diese stehn wie Felseuburg,
Diese fechten alles durch,
Diese halten tapfer aus
In Gefahr und Todesbraus.
8. Deutsches Herz, verzage nicht,
Thu, was dein Gewissen spricht!
Redlich folge seiner Spur,
Redlich hält es seinen Schwur.
Ernst Moritz Arndt. Gedichte. 1860. S. 247.
Georg-Eckert-Institut
für ini ionale
Schi V hung
Era;----..-wsig
Schulbuchbibüothek
220
III. Spruchdichtung.
125. Angereihte Perlen.
1. O blicke, wenn den Sinn dir will die Welt verwirren,
Zum ew'gen Himmel auf, wo nie die Sterne irren!
2. Es weichen Sonn' und Mond einander freundlich aus,
Selbst ihnen wäre sonst zu eng ihr weites Haus.
3. Du wirst nicht musterhaft durch Jagd nach and'rer Fehlern,
Und nie wirst du berühmt durch fremden Ruhmes Schmälern.
4. Gibst du dem Feinde nach, so gibt er dir den Frieden;
Und gibst du dir nicht nach, so ist dir Sieg beschieden.
5. Wie groß für dich du seist, vorm Ganzen bist du nichtig,
Doch als des Ganzen Glied bist du als kleinstes wichtig.
6. Wenn du Gott wolltest Dank für jede Lust erst sagen,
Du fändest gar nicht Zeit, noch über Weh zu klagen.
Friedrich Rückert. Ges. Poet. Werke. 1868. B. VH. S: 369 ff.
136. Bierzeilen.
1. Wer stets denselben Weg in gleicher
Richtung hält, i
Der kommt im kurzen um die Welt;
Wer alle Windungen der Pfade will
begleiten,
Wird nie sein Weichbild überschreiten.
2. Willst du, daß wir mit hinein
In das Haus dich bauen,
Laß es dir gefallen, Stein,
Daß wir dich behauen!
3. Nicht der ist auf der Welt verwaist,
Dessen Vater und Mutter gestorben.
Sondern der für Herz und Geist
Keine Lieb' und kein Wissen erworben.
4. Thu, was jeder loben müßte,
Wenn die ganze Welt es wüßte;
Thu es, daß es niemand weiß.
Und gedoppelt ist sein Preis.
5. Das sind die Weisen,
Die durch denJrrtum zurWahrheitreisen.
Die bei dem Irrtum verharren,
Das sind die Narren.
6. Am Abend wird man klug
Für den vergangnen Tag,
Doch niemals klug genug
Für den, der kommen mag.
Friedrich Rückert. A. a. £>. S. 485 ff.
137.
Die Ströme liefen all' geradeswegs ins Meer,
Wenn sich die Berge nicht vorstreckten überquer.
Den Bergen müssen sie anschmiegend sich bequemen
Und ihren Lauf zum Meer durch manchen Umweg nehmen;
Die Berge halten sie am Ende doch nicht ans,
Und reicher wird dadurch ihr schön gewundner Lauf.
Dein Leben ist ein Strom: o, laß dich's nicht verdrießen,
Durch manchen Berg gehemmt, dem Meere zuzufließen!
Friedrich Rückert. Weisheit des Brcihmanen. A. a. O. B. VIII. S. 393.
221
128. Freundes Fehler.
Ertrage eines treuen Freundes Fehler;
Mit ihm nahmst du auch sie in Kauf.
Auch sei er von den deinen kein Verhehler,
Und fordre dazu frei ihn auf!
Solange mau sich lobt,
Da ist der Treue Grund gar wenig noch erprobt.
Und wenn der Mensch allein verbleibt,
Hält er sich leicht für gut
Und weiß nicht, welch ein Geist in ihm sein Wesen treibt.
Im Stein der träge Funke ruht,
Bis er am Stahl sich reibt,
Dann blitzt die Glut: so weckt den Freund des Freundes Mut.
Es ist der wahren Freundschaft echtes Siegel,
Hältst du ihm und er dir den blanken Spiegel.
Johannes Schrott. Bienen. 1868. S. 134.
129.
Der ist dein Freund, der dir in Güte zeigt.
Was du gesehlet, der dann schonend schweigt
Und sorgsam tilget deines Fehlers Spur,
Eh' noch dein Feind davon erfuhr.
Fr. Xav. Seidl. Zum Andenken. (Ein neues Liederheft.) 1883. S.85.
130.
1. Thu nur das Rechte in deinen 4. Daß Glück ihm günstig sei,
Sachen! Was hilft's deni Stöffel?
Das andre wird sich von selber machen. Denn regnet's Brei,
2. Wer sich nicht nach der Decke streckt. Fehlt ihm der Löffel.
Dem bleiben die Füße unbedeckt. 5. Die Welt ist nicht aus Brei uud
Z. Wohl unglückselig ist der Mann, Mus geschaffen.
Der unterläßt das, was er kann. Deswegen haltet euch nicht wie Schla-
Und unterfängt sich, was er nicht ver- raffen!
steht; Harte Bissen gibt es zu kauen;
Kein Wunder, daß er zu gründe geht. j Wir müssen erwürgen oder sie verdauen.
Johann Wolsgang von Goethe. Werke (Sophien-Ausgabe). 1888. B. H. S. 225 ff.
131.
Kommt dir ein Schmerz, so halte still
Und frage, was er von dir will!
Die ew'ge Liebe schickt dir keinen
Bloß darum, daß du mögest weinen.
Emanuel Geibel. Gescimmelie Werke. 1888. B. III. S. 71.
132.
1. Was du thun sollst, thu
Ohne Rast und Ruh,
Sei's auch noch so schwer!
Doch was gegen Pflicht
Dich verlockt, thu nicht,
Lockt's auch noch so sehr!
222
2. Der Rose süßer Dust genügt, i Und wer sich mit dem Duft begnügt,
Man braucht sie nicht zu brechen — ! Den wird ihr Dorn nicht stechen!
Friedrich Bodenstedt. — K. Zettel. Edelweiß. 1870^. S. 259 f.
133.
1. Sich selbst beherrschen ist gar fein.
Doch schlimm, sein eigner Tyrann zu
sein.
2. Aufrichtigkeit wird löblich sein,
Grobheit soll von uns weichen.
Wer läßt sich gern den reinen Wein
Im schmutzigen Glase reichen?
3. Wer leben will und sich wohl befinden,
Kümm're sich nicht um des Nachbars
Sünden.
4. Weiter bringt dich's, auf falschen
Wegen
Rüstigen Schritts voran zu gehn,
Als auf dem rechten dich schlafen zu legen
Oder im Kreise dich umzudrehn.
Paul L>e y se. Ges. Werke. 1872. B.I. (Gedichte). S. 05.
1. Ruhe ist nach Arbeit süß,
Süß in Feierstunden!
Suchst du sie schon früher auf,
Wird sie dir nicht munden?
134.
2. Ruhe vor erfüllter Pflicht
Bringt dir keine Freuden,
Ist, besiehst du es beim Licht,
Doch nur Zeitvergeuden.
3. Nicht erworben hast du sie,
Sag' ich unverhohlen;
Hast, was dir nicht angehört,
Wie ein Dieb gestohlen!
Friedrich Beck. Spruch- und Rätselbüchlei». 1883. S. 30 f.
135. Die Schule des Lebens.
1. Wir sitzen alle, wenn wir's recht bedenken,
Solang rvir leben, auf der Schule Bänken;
Gott ist der große Lehrer, der uns weise
Durch Lohn und Strafe will zum Guten lenken.
2. Sanft ist sein Baterwort, wenn wir's beachten,
Wenn wir es willig zu erfüllen trachten;
Doch tönt es ernst, wenn wir's nicht hören wollen,
Uns züchtigt seine Hand, weinr wir's verachten.
3.. Und daß lvir seine Nähe nie vermissen,
Und des Gehorsams immer sei'« beflissen,
Hat er ins Herz gesenkt uns eine Stimme,
Die leise mahnt und warnet — das Gewissen.
Friedrich Beck. A. a. O. S. 54.
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