230 viereckige Bonbons, die wir alter Tradition gemäß in farbige Papiere wickeln, die durchaus die Farben: grün, gold und hausrot haben müssen. Auf diese Netze, in denen schon seine Kinderträume hingen, legte unser Vater besonderen Wert. Wer von uns zum erstenmal in seinem kleinen Leben ein solch wunderbares Netz tadellos ausgeführt hatte, kam sich vor, als sei er nun erst ein fertiger kleiner Mensch geworden. Die weißen Netze sind geschnitten und tadellos zu unseres Vaters innigster Zufriedenheit ausgefallen. Goldene Nüsse, Eier und Tannen¬ zapfen heben sich leuchtend von der dunklen Tischplatte ab. Wir Kinder stehen ermüdet auf und wollen zu Bett gehen. Vater tritt ans Fenster, öffnet weit beide Flügel — der Mond scheint, und wir Kinder sehen deutlich zwischen Vaters ausgebreiteten Armen in den beschneiten Garten. Da spricht Vater mit leiser, wie von Musik getragener Stimme: Mondbeglänzte Zaubernacht, Die den Sinn gefangen hält. Wunderbare Märchenwelt, Steig auf in der alten Pracht! Wir gehen still und nehmen den Zauber dieser Stimmung mit in unsere Träume, aus denen wir mit dem seligen Bewußtsein erwachen: „Heut ist er, der heilige Abend." Nun beginnt ein buntes Treiben im Hause. Vater trägt alle seine Schätze selbst ins Weihnachtszimmer, in dem die zwölf Fuß hohe Tanne schon ihres Schmuckes wartet. Wir Kinder schmücken in unserer Kinderstube ein kleines, bescheidenes Bäumchen für arme Kinder. Wir haben es von unsern ersparten Sonntagsgroschen erstanden. Vater und Mama schließen sich unten ins große Weihnachts¬ zimmer ein, gleich wenn man in den geräumigen Flur tritt, links, und der Märchenbaum fängt an sich zu entfalten. Die Brüder Hans und Ernst kommen heim und Karl, unser stiller Musikant. Heute muß Vater alle seine Kinder um sich versammelt haben, damit er so ein rechtes Weihnachtsgefühl empfinden kann. Die Fenster der Weihnachts¬ stube sind dicht verhangen, die vielen Türen, die ins Reich der Weih¬ nachtswunder führen, verschlossen. Wir schleichen an die Fenster und knien vor den Türen. Meine jüngste Schwester Dodo hat ein besonderes Talent, mit unserer Mutter, verborgen in den Falten ihres Schleppen¬ rockes. in die Weihnachtsstube zu schlüpfen. Vom frühen Morgen an kommen Scharen von Kindern, die von Haus zu Haus ziehen und im Flur ihre hellen Kinderstimmen ertönen lassen: „Vom Himmel hoch, da komm ich her." Ein großer Korb mit Wasser¬ kringeln steht bereit, mit denen die kleinen Sänger belohnt werden. Mittags wird nach althergebrachter Sitte Kaffee getrunken und Butter¬ brot gegessen. Der Kaffeekanne entströmt an diesem Tage ein wunder¬ samer Duft, so duftet der Kaffee nur einmal im Jahr, und die Butter¬ brote schmecken uns wie der schönste Kuchen.