Wer nie sein Brot mit Tränen aß 311 3. Da galt's die Kinder zu er¬ nähren; Sie griff es an mit heiterm Mut, Sie zog sie auf in Zucht und Ehren, Der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut. Zu suchen. ihren Unterhalt Entließ sie segnend ihre Lieben, So stand sie nun allein und alt. Ihr war ihr heit'rer Mut geblieben. 4. Sie hat gespart und hat ge¬ sonnen Und Flachs gekauft und nachts ge¬ wacht, Den Flachs zu feinem Garn ge¬ sponnen, Das Garn dem Weber hingebracht; Der hat's gewebt zu Leinewand; Die Schere brauchte sie, die Nadel, Und nähte sich mit eigner Hand Ihr Sterbehemde sonder Tadel. 129. Wer nie sein Brot mit Tränen atz. 1. Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte! 2. Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden. Lied des Harfners in „Wilhelm Meisters Lehrjahre". Johann Wolsgang von Goethe. 13V. In Harmesnächten. Die Rechte streckt' ich schmerzlich oft In Harmesnächten Und fühlt' gedrückt sie unverhofft Bon einer Rechten — Was Gott ist, wird in Ewigkeit Kein Mensch ergründen, Doch will er treu sich allezeit Mit uns verbünden. Konrad Ferdinand Statt, 5. Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es, Berwahrt's im Schrein am Ehren¬ platz; Es ist ihr erstes und ihr letztes, Ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz. Sie legt es an, des Herren Wort Am Sonntag früh sich einzuprägen, Dann legt sie's wohlgefällig fort, Bis sie darin zur Ruh' sie legen. 6. Und ich an meinem Abend wollte, Ich hätte, diesem Weibe gleich, Erfüllt, was ich erfüllen sollte In meinen Grenzen und Bereich; Ich wollt', ich hätte so gewußt Am Kelch des Lebens mich zu laben Und konnt' am Ende gleiche Lust An meinem Sterbehemde haben. Adalbert von Chamisso.