178 Epische Kunst war also wohl die frühere. Hier boten sich die Gegenstände von selbst dar und die fortpflanzende Sage und lange Überlieferung hatten dem Dichter so vorgearbeitet, daß es um sie kunstmäßig darzustellen nur eines offenen Sinnes für die Er¬ scheinung der Außenwelt bedurfte, eines lebendigen Gefühles für Auffassung menschlicher Zustände, der Gewalt über die Sprache und deren rhythmische Mittel. So finden wir es denn auch wirklich bei allen Völkern, die überhaupt eine nationale Dichtkunst besitzen, und so auch bei den Deutschen. Die Taten der Helden, der Ver¬ kehr der Götter untereinander und mit den Menschen waren immer das erste, was die Dichtkunst in bestimmte Formen brachte, nachdem an der Erzeugung des Stoffes selbst schon Jahrhunderte fort- während gearbeitet hatten. In dieser epischen Kunst des Sagens und Erzählens war der Keim der Lyrik schon mitenthalten, da neben der äußeren Handlung auch die Gesinnung dargestellt werden mußte. Indessen hatte die lyrische Kunst als solche einen andern Ursprung und dieser hing mit gottesdienstlichen und gerichtlichen Gebräuchen und Feierlichkeiten zusammen. Sie bestand eben darin Gesetz und Recht, Glaube und Lehre in rhythmische, leicht behält¬ liche Formeln zu fassen und das Gemüt in feierliche Stimmung zu versetzen; sie war anfänglich gewiß nicht Ausdruck einer persönlichen Auffassung der Dinge und des einseitigen Gefühles. Diese letztere Lyrik gehört einer weit späteren Zeit an. Da sie in der Welt der Empfindungen lebt, so neigt sie sich zur Musik hin und ihre Worte sollen auch als Töne ergreifen und rühren, wie auch ihre Wirkung insofern musikalisch ist, als sie den Hörer von Empfindung zu Empfindung geleitet. Die epische Poesie als Gestalterin der be¬ wegten Außenwelt hat mehr Bezug zur bildenden Kunst, nur daß diese die ruhende Gestalt, jene die bewegte und tätige zum Gegen¬ stände wählt. Begebenheiten, Taten und Geschicke der Menschen beruhen großenteils auf Neigungen und Leidenschaften, Empfindungen und Bestrebungen; die Tat hängt von der Leidenschaft, das Schicksal oft von der Gesinnung ab. Hat nun die Dichtung als Lyrik diese Vorgänge im Inneren des Menschen an und für sich aufgefaßt uud sie in der Sprache dargestellt, so geht sie später weiter, ver¬ mischt beide Darstellungsweisen und schildert nicht mehr die reine Tat, sondern die Leidenschaft, die zur Tat treibt, und nicht mehr das Geschick an und für sich, sondern die Bestrebungen und