174 Baumgarten war ein großer Raum abgeteilt für wild Getier und Gevögel, wie solches teils in den nahen Alpen hauste, teils als Geschenk fremder Gäste dem Garten verehrt war. Auf einem Apfelbaum saß ein dienender Bruder, pflückte die Äpfel und sammelte sie in Körbe. Wie sich die Herzogin zum Schatten der Bäume wandte, wollte er herniedersteigen, aber sie winkte ihm zu bleiben. Jetzt ertönte es wie Gesang zarter Knabenstimmen in des Gartens Niederung: die Zöglinge der inneren Klosterschule kamen heran, der Her¬ zogin ihre Huldigung zu bringen; blutjunge Bürschlein, trugen sie bereits die Kutte, und mancher hatte die Tonsur aufs elfjährige Haupt geschoren. Wie sie aber in Prozession daherzogen, die rotbackigen Äbtlein der Zukunft, geführt von ihren Lehrern, den Blick zur Erde niedergeschlagen, und wie sie so ernst und langsam ihre Sequenzen sangen, da flog ein leiser Spott über Frau Hadwigs Antlitz. Mit starkem Fuß fließ sie den nahestehenden Korb um, daß die Äpfel lustig unter den Zug der Schüler rollten und an ihren Kapuzen emporsprangen. Aber unbeirrt zogen sie des Weges; nur der Kleinsten einer wollte sich bücken nach der verlockenden Frucht, doch streng hielt ihn sein Nebenmännlein am Gürtel. Wohlgefällig sah der Abt die Haltung des jungen Volkes und sprach: „Disziplin unter¬ scheidet den Menschen vom Tier. Und wenn Ihr der Hesperiden Äpfel unter sie werfen wolltet, sie blieben fest." Frau Hadwig war gerührt. „Sind alle Eure Schüler so gut gezogen?" fragte sie. „So Ihr Euch überzeugen wollt," sprach der Abt, „die Großen in der äußeren Schule wissen nicht minder, was Zucht und Gehorsam ist." Die Herzogin nickte. Da führte sie der Abt zur äußeren Kloster¬ schule, wo zumeist vornehmer Laien Söhne und diejenigen erzogen wurden, die sich weltgeistlichem Stand widmen wollten. Sie traten in die Klasse der Ältesten ein. Auf der Lehrkanzel stand Ratpert, der Vielgelehrte, und unterwies seine Jugend im Verständnis von Aristoteles' Logika. Geduckt saßen die Schüler über ihren Pergamenten, kaum wandten sich die Häupter nach den Eingetretenen. Der Lehrmeister gedachte Ehre ein¬ zulegen. „Notker Labeo!" rief er. Der war die Perle seiner Schüler, die Hoffnung der Wissenschaft. Auf schmächtigem Körper ruhte ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige Unterlippe kritisch in die Welt hervorragte, das Wahrzeichen strenger Ausdauer auf den steinigen Pfaden des Forschens und Ursache seines Übernamens. „Der wird brav," flüsterte der Abt; „die ganze Welt sei ein Buch, hat er schon im zwölften Jahre gesagt, und die Klöster die klassischen Stellen darin." Der Aufgerufene ließ seine klugen Äuglein über den griechischen Text hingleiten und über¬ setzte mit gewichtigem Ernst: „. . . Findest du an einem Holze oder Steine einen als Linie laufenden Strich, der ist der eben liegenden Teile gemeine March. Spaltet sich an dem Striche der Stein oder das Holz entzwei, so sehen wir strichweise zwei Durchschnitte an dem sichtbaren