32. Lebensgeschichle des Flachses 89 mitten durch die Leinwand, hier links, dort rechts, wie es die Form des Hcmdchens verlangt, das aus ihr gefertigt werden soll. Die spitze Nadel mit dem langen Faden durchbohrt die Linnenstücke an tausend Stellen, und der Faden verbindet sie zum Kleidungsstück. Doch auch jetzt ist die Not des Flachses noch nicht zu Ende. Kaum hat das Kind das feine weiße Schürzchen oder Kleidchen, den schönen Kragen, der aus dem Linnen angefertigt wurde, angezogen, so hat es unvor¬ sichtig hier einen Schmutzfleck, dort ein Tintenklexchen drauf gebracht; die Kleider müssen zur Wäsche, ins heiße Wasser, in die scharfe Lauge und beißende Seife. Hin und her wird die Wäsche gequält, gerieben und gezupft, gleich einem Diebe aufgehängt, mit glühenden Plätteisen gepeinigt, vom Kind selbst beim Spiele gar übel mitgenommen, hier geschlitzt und dort vom Dorn durchstochen, bis das Linnen endlich so dünn und schlecht geworden ist, daß kein Stich mehr halten will. Da pfeift auf der Straße ein sonderbarer Mann ein abenteuerliches Lied. Die Kinder kommen zur Mutter und bitten: „Komm, bring das alte zerrissene Linnen zum Hadersammler!" — denn der Mann hat rund um sich die schönsten bunten Bilder, und stets erhält das Kindlein eines davon, wenn ihm die Mutter das alte Linnen gibt. Nun geht's dem Flachs in seinen alten Tagen schlimm. Lange Zeit hat er dem Menschen, seinem Herrn, treulich gedient; doch nun er alt und schwach geworden ist, wird er in den Sack gesteckt und „Lump" geheißen. Der Lumpensammler hat den Sack gefüllt und wirft ihn auf den Wagen zu vielen andern Säcken mit gleichem Inhalt. Wo geht die Reise hin? Es schlängelt sich der Weg den Berg hinan zum finstern Wald. Zwischen schwarzen Fichten geht es fort ins düstre enge Felsenthal. Ein wilder Gießbach schäumt über große Blöcke, die ihm bei jedem Schritte den Weg versperren. Dort am brausenden Wasser steht ein Haus mit einem Schaufelrad, das Tag und Nacht sich umdreht und Wasserfunken sprüht. Ein Lärmen ist in dem Hause, als sollte die Erde untergehen. Ein Pochen und Stampfen und Poltern tobt hier den ganzen Tag, als wäre ein furchtbares Gewitter hier gefangen und wollte sich befreien. Der Lumpensammler hält an; ein Mann erscheint in der Thür des Hauses. Man schreit sich gegenseitig ein „Guten Morgen" in die Ohren; die Lumpen werden abgeladen, genau besehen und verkauft. Klein geschnitten und rein gewaschen kommen sie in Tröge mit gewaltigen Stampfen. Unten an den Stampfen sind scharfe Messer; die zerreißen das arme Linnen in tausend kleine Fäserchen. Aus all den alten Spitzenkragen und Tüchlein, aus den weißen Kleidchen wird ein weißer, dicker Brei. Diesen schöpfen geschickte Männer