298 Lieber Leser, denke nicht, der hat es lassen darauf ankommen, ob jemand in der Stube ist, hat seinen Zehrpfennig selber wollen nehmen; sonst mutzt du dich schämen und in deinem Herzen einem edlen Menschen Abbitte tun. Denn der Handwerksbursche kam nach ungefähr fünf Stunden wieder. Die Frau rief ihm zwar entgegen: „Ach, ich kann Euch ja nichts geben! Ich selber lebe von anderer Menschen Milde und bin jetzt krank." Allein der edle Jüngling dachte bei sich selber: „Eben deswegen." Anständig und freundlich trat er bis vor den Tisch, legte aus beiden Taschen viel Brot darauf, das er unterdessen gesammelt hatte, und viele auf gleiche Weise gesammelte kleine Geldstücke. „Das ist für Euch, arme, kranke Frau," sagte er mit sanftem Lächeln, ging fort und zog leise die Stubentür zu. Die Frau war die Witwe eines ehemaligen Unteroffiziers. Den Namen des frommen Jünglings aber hat ein Engel im Himmel für ein anderes Mal aufgeschrieben; ich kann nicht sagen, wie er heitzt. 307. Der Pilger. In einem schönen Schlosse, von dem schon längst kein Stein mehr auf dem andern ist, lebte einst ein sehr reicher Ritter. Er ver¬ wandte sehr viel Geld darauf, sein Schlotz recht prächtig auszuzieren; den Armen aber tat er wenig Gutes. Da kam nun einmal ein armer Pilger in das Schlotz und bat um Nachtherberge. Der Ritter wies ihn trotzig ab und sprach: „Dieses Schlotz ist kein Gasthaus." Der Pilger sagte: „Erlaubt mir nur drei Fragen, so will ich wieder gehen." Der Ritter sprach: „Auf diese Bedingung hin mögt Ihr immer fragen. Ich will Euch gern antworten." Der Pilger fragte ihn nun: „Wer wohnte doch wohl vor Euch in diesem Schlosse?" — „Mein Vater!" sprach der Ritter. Der Pilger fragte weiter: „Wer wohnte vor Euerem Vater da?" — „Mein Grotzvater!" antwortete der Ritter. „Und wer wird wohl nach Euch darin wohnen?" fragte der Pilger weiter. Der Ritter sagte: „So Gott will, mein Sohn." — „Nun," sprach der Pilger, „wenn jeder nur seine Zeit in diesem Schlosse wohnt und immer einer den: andern Platz macht, was seid Ihr denn anders hier als Gäste? Dieses Schlotz ist also wirklich ein Gasthaus. Verwendet daher nicht so viel, dieses Haus prächtig auszuschmücken, das Euch nur auf kurze Zeit beherbergt. Tut lieber den Armen Gutes, so baut Ihr Euch eine bleibende Wohnung im Himmel." Der Ritter nahm diese Worte zu Herzen, behielt den Pilger über Nacht und wurde von dieser Zeit an wohltätiger gegen die Armen. Christoph von Schmid.