I — 80 — • 5. „Aber was könnte ich denn wohl werden?" fragt Marie mit leb¬ haftem Jnteresfe. Vater Köhler nickt ihr befriedigt zu: „Sieh einmal, Kind, ich meine, jeder hat feine besondere Gabe vom lieben Gott erhalten; die foll er ausnützen. Du bist klein und schwächlich, aber zierlich und geschickt. Da würde ich putzmachen und schneidern lernen. Ich habe noch nie gehört, daß es einer Schneiderin an Arbeit fehlt. Du bist auch in der Schule gut mitgekommen. Da könntest du ebensogut mit der Maschine schreiben und stenographieren lernen. Mädchen mit diesen Kenntnissen werden jetzt viel gesucht und gut bezahlt. Unsre Lotte hier hat ein besonderes Zeichentalent. Darum denke ich, sie soll erst in der Fortbildungsschule tüchtig zeichnen, und wenn sie etwas älter geworden ist, lassen wir sie im Lettehause das Retuschieren und Photo¬ graphieren lernen. Dann kann sie bei den alten Eltern bleiben und hat doch einen hübschen Erwerbszweig. Was meinst du zu meinem Plane, Lottchen? Gute, gesunde Augen hast du ja!" 6. Lotte nickt dem treuen Vater mit strahlendem Gesichte zu. Ach, Zeichnen und Malen ist ihre größte Lust. Wie hübsch sich der Vater das wieder ausgedacht hat! Wie gut und klug er ist! Auch Marie Wegner sieht fröhlich drein. Nach dem, was sie eben gehört hat, hofft sie, der Fabrik fernbleiben zu können, gegen die sie unbewußt eine entschiedene Abneigung hat. Sie dankt Herrn Köhler tausendmal für den guten Rat; sie hätte gar nicht gewußt, daß es so viele Berufszweige für ein Mädchen gebe. „Das ist eben das Schlimme," sagt Vater Köhler nachdenklich, „die meisten wissen gar nicht, wie gut die Wege für euch junges Volk geebnet sind. Darum sage ich immer wieder: Denkt beizeiten darüber nach, was ihr werden wollt; und habt ihr gefunden, was für euch paßt, dann verfolgt den betretenen Weg mit Fleiß und Ausdauer. Laßt euch nicht irre machen durch törichtes Gerede und blendenden Schein. Glück und Zufriedenheit ist in jeder Stellung zu finden, die man mit Lust und Liebe, mit Treue und Gewissenhaftigkeit ausfüllt; aber darauf kommt es eben an!" scnma Ton-dorf. (Originalartim.) 44. Sommernacht. 1. In meiner Heimat grünen Taten, da herrscht ein alter schöner brauch: Wann hell die Lommersterne strahlen, der Glühwurm schimmert durch den Strauch; dann geht ein Flüstern und ein Winken, das sich dem Ährenfelde naht, da geht ein nächtlich Lilberblinken von Sicheln durch die goldne Laat. 2. Vas sind die Vnrsche, jung und wacher, die sammeln sich im Feld zuhauf und suchen den gereiften Acker der Witwe oder Waise auf, die keines Vaters, keiner Vrüder und keines Knechtes Hilfe weih; — ihr schneiden sie den Segen nieder; die reinste Lust ziert ihren Fleiß. I