31 — 29. Der Dieb. 1. Im nächsten Städtchen war Jahrmarkt; deshalb waren alle Leute aus dem Dorfe dorthin gegangen, um einzukaufen, lustig zu sein und zu tanzen. So war es denn am Abend gar still im Orte, kein Mensch war zu sehen noch zu hören. Der Brunnen, an dem sonst um diese Zeit die Mädchen beim Wasserholen plauderten und lachten, streckte seinen langen Balken neugierig in die Luft, als wollte er fragen: Kommt denn heute niemand her, mein Wasser zu holen? — Unter der großen Linde, wo an andern Abenden die jungen Burschen saßen und ihre Lieder sangen, regte sich heute kein Grashälmchen, und nur oben im Baume pfiff ein Vögelchen sein Abendlied. Selbst der alte Baumstamm, auf dem die Kinder zu spielen und umherzuklettern pflegten, lag verlassen und leer da, und nur wenige Ameisen, die sich bei der Arbeit verspätet hatten, krochen darauf noch hin und her, um sich ihr Abendbrot zu holen. Allmählich kam die Abend⸗ dämmerung herauf; es wurde immer dunkler und stiller, und nachdem die lustigen Vögel in ihre Nester gekrochen waren, schlüpften die Fleder— mäuse hervor und schwirrten und huschten durch die Abendluft. 2. Da kam um die Ecke der Scheune ein Mann daher. Er schlich leise und ängstlich immer der Mauer entlang, wo es am dunkelsten war. Dabei sah er sich scheu nach allen Seiten um, ob auch kein Mensch da sei, der ihn bemerken könnte. Als er sich aber ganz sicher glaubte, kletterte er auf die Mauer, kroch dort auf allen vieren wie eine Katze weiter bis an eine Stelle, wo die Mauer ans Haus stieß, und schwang sich dann in ein Fenster des Hauses hinein, das gerade offen stand. Der Mann war ein Dieb und gedachte, die Leute, die in dem Hause wohnten, zu bestehlen. Nachdem er durch das Fenster hineingekrochen war, befand er sich in einer leeren Kammer; dicht daneben war die Wohnstube der Haus— bewohner. Eine Tür, die dort hineinführte, war nicht geschlossen, sondern nur leicht angelehnt. Der Dieb wußte wohl, daß die Leute auf den Jahrmarkt gegangen waren. Doch dachte er, es könnte vielleicht jemand in die Stube gekommen sein, legte daher das Ohr an die Türspalte und horchte. 3. Drinnen hörte er ein Kind laut sprechen, und als er durchs Schlüssel— loch guckte, sah er beim Dämmerscheine, daß es ganz allein mit gefalteten Händen in seinem Bettchen saß — das Kind betete laut sein Vaterunser. Schon sann der Mann darüber nach, wie er dennoch seinen Dieb— stahl am besten ausführen möchte, da hörte er, wie das Kind mit lauter,