9 35 Taschenmesser die duftende Schale von dem saftstrotzenden Balle zu lösen. Begierig nahmen die Kleinen ein Stück nach dem andern aus der Hand des Vaters und genossen die köstliche Frucht mit wonnevollem Behagen. An sich selbst dachte der Vater nicht, auch nicht an das fremde, kranke Mädchen, das gegenüber auf der Bank saß und in kindlicher Selbstvergessenheit mit dürstenden Blicken an den Apfelsinen hing. Ich beobachtete die Kleine, wie sie ihre blassen, trockenen Lippen un— bewußt aufeinander preßte, und fühlte es warm in meinem Herzen auf— quellen. O, daß ich nicht auch eine Apfelsine in der Tasche hatte! Die hätte ich der kleinen Kranken geschenkt fürs „Herzbluten“, wie meine Mutter sagt, wenn sie einem Kinde, das in der Vesperstunde bei uns eintritt, etwas darreicht. Als der fremde Vater das Herzbluten seines Lieblings bemerkte, flog ein schmerzliches Zucken über sein bekümmertes Gesicht. Er zog den Arm inniger um die Kleine, flüsterte mit ihr, zeigte nach der grünen, wallenden Flur draußen, nach den daraus hervorragenden Dächern der kleinen Dörfer, nach den majestätisch emporsteigenden, waldumkränzten Bergen und nach allem, was für das Auge eine Ablenkung bieten konnte. 3. Da erlebte ich eine herzliche Freude. Wie von einer himmlischen Regung getrieben, stand der Junge plötzlich auf und reichte der kleinen Marie ein Apfelsinenstück, indem er ihr bittend zunickte. Marie zuckte zusammen, und eine rote Flamme huschte über ihre blasse Wange. Sie fühlte ihr Ver— langen erraten und wandte sich verlegen ab. Immer dringender wurde der Knabe; doch Marie ließ das Köpfchen verschämt herabhängen und nahm die Apfelsine nicht. Jetzt erst schien des Knaben Vater des fremden Mädchens gewahr zu werden. Er klopfte dem Sohn auf die Schulter und sagte: „Brav, Otto!“ und zu Marie gewandt, nötigte er in dem gleichen warmen Tone: „Liebe Kleine, du darfst es schon nehmen. Ich habe noch viel mehr!“ Dabei schälte er auch schon wieder eine neue Apfelsine. Doch erst, als Mariens Vater lächelnd sagte: „Na, nimm's nur, Kind!“ nahm Marie die Apfelsine aus des freundlichen Knaben Hand, indem sie ihm zugleich ihr rechtes Händchen gab und verschämt dankte. In Ottos Augen aber stand mit leuchtenden Buchstaben geschrieben: „Geben ist seliger als Nehmen!“ Von diesem allen war ich stummer Augenzeuge. Das kleine Vor— kommnis rührte mich tief; ich sagte nichts, aber der kleine Blondkopf hatte mir einen Stein vom Herzen genommen. Ich werde den kleinen Burschen wohl kaum wiedersehen; ich habe ihn aber in mein Herz geschlossen, und da wird er nicht vergessen werden. Heinrich Sohnrey. (Die Landjugend.) 2*