172 sah den Verfall von Hab und Gut langsam, aber sicher heranschleichen, ohne ihm irgend steuern zu können. Viel Unrechtes tat Gerhard Richwin nicht, er tat nur auch nichts Rechtes. Jedem Einfall, jeder Laune des Augenblicks gab er sich hin; 5 diese Einfälle aber fielen, seltsam genug, niemals auf die Arbeit, die im Augenblick zu vollführen dringend not war. Wenn es galt, in der Weberei nachzusehen, dann hatte er die größte Lust ausznreiten, und wenn er aufsitzen sollte zu einem Ritt nach den benachbarten Grafen¬ schlössern in Weilburg, Dillenburg oder Braunfels, wo oft bedeutende 10 Geschäfte abzuschließen waren, dann deuchte es ihm wunderschön bei den Webstühlen. Standen Käufer im Warenlager, dann schaute Meister Richwin wohl durchs Fenster feinen bösen Buben zu, sann, wie er ihrer Unart doch einmal wehren wolle, vergaß aber darüber geraume Zeit die Kunden und redete sie zuletzt mit grimmiger, väterlicher Strenge an 15 und fuhr mit der Elle ins Zeug, als wollte er die Käufer statt der Buben prügeln. Die treuesten Geschäftsfreunde fühlten sich nachgerade doch gar zu säumig und grob behandelt; denn die Diener und Lehrlinge des Hauses schrieben sich des Meisters Beispiel hinters Ohr und wurden noch um 20 einen Grad säumiger und gröber als er selber. Kein Wunder also, daß es allmählich etwas stiller ward in Richwins berühmter Warenhalle. Böse Zungen meinten, wenn das so fort gehe, dann werde Richwin bald der einzige Kunde seines Kaufladens sein, der beste fei er ohnedies schon. Er leuchtete nämlich in jener modesüchtigen Zeit allen andern 25 Bürgern vor durch reiches Kleid und steten Wechsel der Tracht, und sah man ihn im Prunkrock mit den langen Ärmeln, deren breite Tuch- streifen bis an die Füße reichten, in den buntgestreiften Hosen und spitzigen Schnabelschuhen, auf dem Kopfe die vorn und hinten auf¬ geschlagene Kugelmütze, das Haar geradlinig auf der Stirn abgeschnitten, 30 indes nur rechts und links über den Ohren zwei Locken stehen geblieben waren, dann konnte man glauben, er sei kein Zünftler oder Kaufmann, sondern ein Herr. Hätte aber jemand Meister Richwin wegen seines Putzes einen Gecken genannt, so würde er das übelgenommen haben; denn er war 35 verletzbar wie ein geschältes Ei, und obgleich er des innerlich Unschick¬ lichen wahrlich genug tat, fürchtete er sich doch, gegen das äußerlich Schickliche zu verstoßen. Dieser Zug verkündete nun eben nicht den derben, geraden Bürgersmann. Und in der Tat hatten ihn seine Genossen, die Zünftler, im Verdacht, daß er auf zwei Achseln trage und aus 40 Hoffart heimlich zu den Patriziern stehe. Solch ein Verdacht aber war bitterböse in jenen Tagen; denn in den Gemütern der reichsstädtischen Zunftgenossen gärte es gewaltig. Die edeln Geschlechter tagten allein im Rat und beherrschten die Stadt; sie