verlangten eine hohe Steuer auf den verderblichen Branntwein. So ging's hinüber und herüber. Die Versammlung wurde geschlossen. Der Vor¬ sitzende forderte auch hier seine Parteigenossen auf, für den Kandidaten Freunde zu werben und vollzählig bei der Wahl zu erscheinen. Wahlversammlungen folgten auf Wahlversammlungen, und Flugblatt ans Flugblatt wurde den Wählern ins Haus getragen. . An allen Straßen sah man Anschläge, die zur Beteiligung an der Wahl aufforderten. Eines Mittags fragte der Lehrling Meister Ewig nach dem Essen: „Meister, ist denn die Wahl zum Reichstage so wichtig?" Dieser entgegnete: „Davon wirst du dich überzeugen, wenn du die Verfassung des Deutschen Reiches liest, in dem die Rechte geschrieben stehen, die der Reichstag hat. Neben dem Bundesrate, d. h. den Bevollmächtigten aller Staaten, die zum Deutschen Reiche gehören, steht der Reichstag ebenbürtig. Jeder Pfennig, der für das Heer, die Flotte oder die Post ausgegeben werden soll, muß vom Reichstage bewilligt werden. Kein Bataillon Soldaten darf neu er¬ richtet, kein neues Kriegsschiff gebaut werden, wenn er nicht zustimmt. Alle Zölle und Verbrauchssteuern sind vom Reichstage festzusetzen. Ohne seine Einwilligung können Handelsverträge mit andern Staaten nicht ab¬ geschlossen werden. Kein Paragraph im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Strafgesetzbuch darf ohne seine Genehmigung geändert werden. Er ent¬ scheidet mit, ob die Gesetze über den Arbeiterschutz und die Arbeiter¬ versicherung ausreichen, ob und unter welchen Bedingungen Kinder in einem Gewerbe oder in Fabriken beschäftigt werden dürfen. Jedes der 397 Mit¬ glieder des Reichstages kann im Reichstage seine Meinung frei äußern, ob es die Anordnungen der Reichsbeamten für nützlich hält oder nicht." „Für wieviel Jahre werden die Reichstagsabgeordneten denn gewählt?" fragte der Lehrling weiter, und Meister Ewig antwortete: „Für fünf. Eine solche Reihe von Jahren nennt man eine Wahlperiode. Es kommt aber auch vor, daß der Kaiser unter Zustimmung des Bundesrates den Reichstag auflöst und die Wähler auffordert, neue Abgeordnete zu wählen." Endlich war der Wahltag gekommen. Unsere beiden Freunde gingen auch diesmal wieder zusammen. Sie hatten in der neuen Schule zu wählen. Vor dem Hause standen junge Männer, die ihnen Stimmzettel mit dem Namen eines Kandidaten gaben. Um 10 Uhr begann die Wahl. An einem Tische saß der Wahlvorsteher mit vier Beisitzern. Auf dem Tische stand ein verdecktes Gefäß, die Wahlurne. Ewig ließ sich einen gestempelten Briefumschlag geben und ging in einen auf allen Seiten ver¬ hängten Raum, die Wahlzelle, wo er seinen Stimmzettel unbeobachtet in den Umschlag steckte. Darauf trat er an den Wahltisch, nannte seinen Namen und überreichte den Umschlag dem Wahlvorsteher, der ihn uneröffnet in die Wahlurne legte. Ihm folgte Baltes. Nach und nach trafen viele Wähler ein. Da standen junge Leute, die zum erstenmal wählen durften, 5 10 15 20 25 30 35 40