Prosa. — Geistliche Rede. 135. A. a St. Clara: Die Kinderzucht. (Judas der Ertz-⸗Schelm.) Ihr Eltern thut zu viel und thut zu wenig: ihr thut zu wenig strafen, ihr thut zu viel lieben eure Kinder. Ihr habt zweifelsohne öfter vernommen aus der heil. Schrift, wie einst die Baumer sind zusammengekommen und auf ihrem hölzernen Reichstag einen König erwählt; die mehrsten Stimmen sind ge⸗ fallen auf den Oelbaum, auf den Feigenbaum, auf den Weinstock ec.; vom Birkenbaum geschieht keine einzige Meldung. Meinestheils, wenn ich wäre ge⸗ nwärtig gewesen, und als ein Mitglied auch eine freie Wahl hätte gehabt, so hätte ich unfehlbar den Birkenbaum zum König erkiesen; denn niemand glaubt's wie ruhmwürdig dieser regieret, absonderlich in der Kinderzucht. Alle heiligen Engel gefallen mir wohl, einen ausgenommen. Der Kostherr des Daniel war ein Engel, der gefüllt mir wohl. Der Arzt des Tobias war ein Engel, der gefällt mir wohl. Der Abgesandte der Mutler Gottes war ein Engel, der gefüüt mir wohl. Des Lots sein Salvoconduct war ein Engel, der gefällt mir wohl. Die Schildwacht vor dem Paradies ist ein Engel, der gefällt mir wohl ꝛc. Aber einer will mir schier nicht gefallen, derjenige, welcher dem ge— horsamen Patriarchen Abraham in den Säbel gefallen und aufgeschrien: „Non Etende manum iuam super puerum!“ Strecke deine Hand nicht aus über den Knaben und thue ihm nichts! Ich weiß gar wohl, daß solches der Befehl des Allerhöchsten war und dessenthalben hierinfalls leines Fehlers zu beschuldigen. Wenn ein Vater, eine Mutter mit der Ruthen wird einen Streich führen über den Knaben, bin versichert, daß ihm kein Engel den Streich wird aufhalten, wie dem Abraham; ja, die Engel werden ihn noch anfrischen mit ernstlichen Worten: „Extende manum tuam super puerum!“ Strecke deine Hand aus über den Knaben! Ich schneid', ich schneid', ich schneid': was aber? Ich schneid' ab: was? die Nasen? Nein, nein! Constantinus Pogonatus hat beiden seinen Brüdern, Heraclio und Tiberio, die Nasen abgeschnitten, damit sie nur nicht zur Krone und Regierung gelangen möchten. Das ist crudel und tyrannisch, das thue ich nicht. Ich schneid', ich schneid', ich schneidß: was aber? ich schneid' ab: was? die Ohren? nein, nein! Petrus hat dem Bösewicht Malcho das Ohr abgehauen, welchen schmerzlichen Schaden der gebenedeiete Jesus wieder geheilt hat. Das thue ich nicht. Ich schneid, ich schneid, ich schneid':. was aber? ich schneide ab: was? die Zunge? nein, nein! Den streitbaren Blutzeugen Christi, Hilario und Florentio, find die Zungen ausgeschnitten worden, nichtsdestoweniger haben sie gleichwohl geredet und Jesum Christum gebenedeiet. Das thue ich nicht. Ich schneid', ich schneid', ich schneid': was aber? ich schneide allen Eltern die Finger ab. Adonibezec, ein stolzer und tyrannischer König, hat 70 anderen ge⸗ fangenen Königen die Finger abgeschnitten; das war erschrecklich. Diesem folge ich nach und möchte gern den mehrsten Eltern die Finger abschneiden, damit sie nicht mehr so siat ihren Kindern durch die Finger sehen, sonderxn dieselbigen bon Jugend auf strafen. So lange Moses die Ruthe in Händen gehabt, ist sie eine schͤne Ruthe verblieben; sobald er's aber aus der Hand fallen lassen, versa est in colubrum, da ist gleich eine Schlange daraus geworden. Also auch, meine liebsten Eltern! so lange ihr die Ruthe in Händen habt und eine gute scharfe Zucht führet unter den ee so bleibt alles gut; wenn ihr aber die Ruthe fallen laffet, so wird gleichförmig eine Schlange daraus: ich will 299