Poesie. — Die Novelle und die Novellette. 4. Die Novelle und die Novellette. 160. J. H. Zschocke: Aus „dem Abenteuer in der Neujahrsnacht“. 1 Mutter Käthe, des alten Nachtwächters Frau, schob am Sylvesterabend um neun Uhr das Zuͤgfensterlein zurück und steckte den Kopf in die Racht hinaus Der Schnee slog in stillen, großen Flocken, vom Fensterlicht geröthet, auf die Straßen der Residenz nieder. Sie sah lange dem Laufen und Rennen der frohen Menschen zu, die noch in den hell erleuchteten Laden und Gewölben der Kaufleute Neujahrsgeschenke einkauften oder von und zu Kaffehäusern und Weinkellern Kränzchen und Tanzsälen strömten, um das alte Jahr mit dem neuen in Lust und Freuben zu vermählen. Als ihr aber ein paar große, kalte Flocken die Nase be— egten, zog sie den Kopf zurück, schob das Fensterlein zu und sagte zu ihrem Manne „Gottliebchen, bleib' zu Hause und laß die Nacht den Philpp für dich gehen denn es schneit vom Himmel, wie es mag, und der Schnee thut, wie du weißl deinen alten Beinen kein Gutes. Auf den Gassen wird es die ganze Nacht lebhaft sein; es ist, als wäre in allen Häusern Tanz und Fest. Man siehl viele Masken. Da hat unser Philipp gewiß keine Langeweile — Der alte Gottlieb nict mit dem Kopf und sprach; „Käthchen, ich lass es mir wohl gefallen. Mein Ba rometer, die Schußwunde über dem Knie, hat mir's schon zwei Tage voraus g sagt, das Wetter werde sich ändern. Billig, daß der Sohn dem Vater den Diens erleichtert, den er einmal von mir erbt. — Nebenbei verdient hier gesagt werden, daß der alte Gottlieb vorzeiten Wachtmeister in einem Regiment feine⸗ Königs gewesen, bis er bei Erstürmung einer feindlichen Schanze, die er, der erst im Kampfe für das Vaterland, erstieg, zum Krüppel geschossen ward. Sein haupt mann, der die Schanze bestieg, nachdem sie erobert war, empfieng für solche Helden that auf dem Schlachtfelde das Verdienstkreuz und Beförderung im Rang. Det arme Wachtmeister mußte froh sein, mit dem zerschossenen Bein lebendig davon zu kommen. Aus Mitleiden gab man ihm eine Schulmeisterstelle; denn er war eil verständiger Mann, der eine gute Handschrift hatte und gern Bücher las. Be Verbesserung des Schulwesens ward ihm aber auch die Lehrerstelle entzogen, wel man einen jungen Menschen, der nicht so gut, als er, lesen, schreiben und rechnen konnte, versorgen wollte, indem einer von den Schulräthen dessen Pathe wal Den abgesetzten Gottlieb aber beförderte man zum Nachtwächter und adjungiert ihm seinen Sohn Philipp, der eigentlich das Gärtnerhandwerk gelernt hatte. J Die kleine Haushaltung hatte dabei ihr kümmerliches Auskommen. Doch war Frau Käthe eine gute Wirthschafterin und gar häuslich, und der alte Gottlieb ein wah rer Weltweiser, der mit wenigem recht glücklich sein konnte. Philipp verdiente sih bei dem Gärtner, in dessen Lohn er stand, sein täglich Brot zur Genüge, und wenn er bestellte Blumen in die Häuser der Reichen trug, gab es artige Linlgel der. Er war ein hübscher Bursche von 26 Jahren. Vornehme Frauen gaben ihm bloß seines Gesichts wegen ein Stück Geld mehr, als jedem andern, der eben ein solches Gesicht nicht aufweisen konnte. — Frau Käthe hatte schon das Mäntelein umgeworfen, um aus des Gãrtuer Hause den Sohn zu rufen, als dieser in die Stube trat. „Vater! sagte Philip und gab dem Vater und der Mutter die Hand, es schneit, und das Shneewetter chut dir micht wohl. Ich will dich diefe Racht ablösen, wenn du willn. Lege d dich schlafen.“ — „Du bist brav!“ sagte der alte Gottlieb. — „Und dann, i habe gedacht, morgen sei es doch Neujaht, fuhr Philipp fort, und ich mochte mor⸗ 378