6. Bilder aus der Fremde. 122. Die Bewohner der Alpen. 1. Miele Geschäfte, bei deren Verrichtung der Bewohner des Flach⸗ landes wenig oder gar nichts von Mühe verspürt, sind für den Üpler nicht nur höchst anstrengend, sondern bisweilen ebenso gefährlich als in dem Er⸗ folge unsicher. Jahre hat er auf die Urbarmachung seiner Wiesen und seines Ackers an des Berges Abhang verwendet; ein einziger Gewitterguß vernichtet schonungslos diese Mühe, die Felder fußhoch mit Steingetrümmer überschüttend. Aufs neue geht der Äpler ans Werk, bringt die Steine weg oder in die Tiefe und die Fruchterde oben auf, bis sein Feld wieder hergestellt ist; und doch kann schon in den nächsten Tagen das Werk unsäg— licher Anstrengung abermals vernichtet sein. So ist also sein Ackerfeld eine fortwährende Kampfes- und übungsstätte zur Ausdauer, Unverdrossen— heit, Genügsamkeit und zum Gottvertrauen. 2. Der religibse Sinn des Alpenbewohners wird noch durch andres geweckt. Er sammelt hoch oben am steilen Abhange Gras für den Winter— vorrat; ein einziger falscher Tritt kann ihm hierbei den Tod bringen. Er geht nur von einem Dorfe zum andern, aber über ein Bergjoch und not— gedrungen an einer jener Stellen vorüber, von denen es in Schillers Berg— lied heißt: Am Abgrund leitet der schwindlichte Steg; er führt zwischen Leben und Sterben. Er kann hier von verderbenbringenden Wettern überrascht werden, bei Schneegestöber, Sturm und Nebelregen den unkenntlich gewordnen Pfad verfehlen und einem furchtbaren Grabe in der Tiefe der jähen Wand zu— geschleudert werden. Solche Gefahren mahnen doppelt an den dort oben, der über Sonnenschein und Sturmesbrausen gebietet. Darum wendet sich der Alpenbewohner vor Beginn des Geschäfts oder der Reise im Gebet an seinen Schöpfer und Erhalter. Gar oft kann man unten am Fuße des Joches, über welches die Wanderung geht, oder oben auf dem Bergrücken Zeichen und Stätten flehender und dankender Andacht gewahren. 3. Die vielen Gefahren, auf welche die Bewohner der Alpen gefaßt sein müssen, machen sie auch unerschrocken, zuversichtlich, gewandt und stark, spannen alle Kräfte ihres Körpers, Geistes und Gemüts an, bilden dieselben aus und erhalten sie frisch. Wer Gelegenheit gehabt hat, die Älpler zu beobachten, wenn sie schwer beladen auf gefährlichen Pfaden