AUudSBuR—RGeR
LESEBVuCI
FüR DIE
SECHSTE VOLKSSCHULKLASSE.
52
Augsburger Lesebuch
für die
sechste Volksschulklasse.
Bearbeitet im Auftrage der Kgl. Stadtschulkommission
von
Augsburger Lehrern.
Preis: ungebunden M. — 65, in Originalhalbleinwandband M. — 90
Ministeriell genehmigt.
2. unveränderte Auflage.
München.
Druck und Verlag von R. Oldenbourg.
Abteilung für Schulbũcher.
24321
26
Georꝗo Eckert-nsttut
für nternationaie
Schulbuchforschuns
Braunscveio
bchulbuehbiblsiotholk
45/2380
D cA—
2.
lJ. Vom göttlichen Walken.
1. Preis des Sohõpfers.
1. Wenn ieh, o Schöpfer, deine Macht,
die Weisheit deiner Wege,
die Liebe, die für alle wacht,
anbetend ũberlege,
s0 weiß ieh, von Bewund'rung voll,
nicht, wie ich dich erheben soll,
mein Gott, mein Herr und Vater!
—ein Auge sieht, wohin es blickt,
die Wunder deiner Werke.
Der Himmel, prächtig ausgeschmũckt,
preist dich, du Gott der Stärke.
Wer hat die Sonn' an ihm erhöht?
Wer kleidet sie mit Majestat?
Wer ruft dem Heer der Sterne?
2 ez e e 2. Morgengebet. 3*
3. Wer mibt dem Winde seinen Lauf?
Wer heibt die Himmel regnen?
Wer schliebt den Schob der Erde auf
mit Vorrat uns zu segnen?
O Gott der Macht und Herrlichkeit,
Gott, deine Gũte reicht so weit,
soweit die Wolken reichenl
4 Dich predigt Sonnenschein und Sturm,
dich reist der Sand am Meere.
Bringt, ruft auch der geringste Wurm,
bringt meinem Schöpfer Ehre!
Mich, ruft dor Baum in seiner Pracht,
mieh, ruft die Saat, hat Gott gemacht;
bringt unserm Schöpfer Ehre!
5. Der Mensch, ein Leib, den deine Hand
so wunderbar bereitet,
der Mensch, ein Geist, den sein Verstand
dieh zu erkennen leitet,
der Menseh, der Schöpfung Ruhm und Preis,
ist sioh ein täglicher Beweis
von deiner Güt' und Gröbe.
6. Erheb ihn ewig, o mein Geist,
erhebe seinen Namen!
Gott, unser Vater, sei gepreist
und alle Welt sag' Amen!
Und alle Welt fürcht' ihren Herrn
und hoff' auf ihn und dien' ihm gern!
Wer wollte Gott niceht dienen!
Christian Fürchtegott Gellert.
2. Morgengebet.
Verschwunden ist die finst're Nacht,
die Lerche schlägt, der Tag erwacht,
die Sonne kommt mit Prangen
am Himmel aufgegangen.
Sie scheint in Königs Prunkgemach,
sie scheinet dureh des Bettlers Dach.,
22 92 9 9 9 2 22 3. Abendlied.
eer 2 2 22 2 22 2222 22
— 6
und was in Nacht verborgen war,
das macht sie kund und oftfenbar.
Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,
der über diesem Haus gewacht
mit seinen heil'gen Scharen
uns gnädig zu bewahren!
Wohbl mancher sehlob die Augen schwer
und öffnet sie dem Licht nicht mehr;
drum freue siech, wer neubelebt
den frischen Blick zur Sonn' erhbebhl
Priedrich v. Schiller.
3. Abendlied.
1. Der Mond ist aufgegangen;
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht sehwarz und schweiget
und aus den Wiesen steiget
der weibe Nebel wunderbar.
2. Wie ist die Welt so stille
und in der Dämm'rung Hülle
so traulich und so hold
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt!
3. Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht seh'n.
Mir stolzen Menschenkinder
sind eitel arme Sunder
und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel
3
20222 22 722 2 2 4. Sternentrost. ·¶ 5. Sonntasg. ⁊ꝛꝛ 22 e2 e e 2
5. Gott, lab dein Heil uns schauen,
auf niehts Vergänglich's trauen,
nicht Eitelkeit uns freu'n!
Lab uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein!
6. Woll'st endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
dureh einen sanften Tod!
Und wenn du uns genommen,
lab uns in 'n Himmel kommen,
du unser Herr und treuer Gott!
7. So legt eueh denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder!
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon' uns, Gott, mit Strafen
und lab uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbar auch! NMatthias Claudius.
4. Stornentrost.
Es gäb' noch mehr der Zähren
in dieser trüben Welt,
wenn nieht die Sterne wären
dort an dem Himmelszelt;
wenn sie niecht niederschauten
in jeder klaren Nacht
und uns dabei vertrauten,
dab einer droben wacht.
Martin Greif.
ß. Sonntag.
Es töõnet über das weite Feld
ein liebliches Frühgeläute;
wie ist so ruhig heut' die Welt,
so sonnig und wonnig heute!
Die Hirten neben der Herde
ruhbn,
die Herden rubh'n auf der Weide;
die Bauern ziehen zur RKirche
nun
im stattlichen Sonntagskleide.
Es schimmert der Tau im grüũnen
Plan
wie Perlen auf schimmernder
GSeide,
als hätte die Flur auch angetan
sonntägliches Festgeschmeide.
Es ist, als sangen die Võgel auch
heut' schöner als andere Tage,
als dufteten heut' mit starkerem
Hauch
die Blumen in Feld und Hage.
3
6. Der alte Gott lebt noch.
—2
Und Orgelklänge tönen von fern,
von Morgenlüften gehoben,
und alles betet: „Wir loben den
und wollen ihn ewig loben.“
Herrn
Rudolf Lõöwenstein.
6. Der alte Gott lebt noch.
Es war an einem Sonntagmorgen. Die Sonne schien hell
und warm in die Stube; linde, erquickliche Lüfte zogen durch
die offenen Fenster, im Freien unter dem blauen Himmel jubi—
lierten die Vögel und die ganze Landschaft, in Grün gekleidet
und mit Blumen geschmückt, stand da wie eine Braut an ihrem
Ehrentage. Aber während nun draußen überall Freude herrschte,
brütet? tmeinem Hause des Dörfleins nur Trübsal und Trauer.
Selbet die Hausfrau, die sonst immer eines heiteren und guten
Mut?:3 war, saß heute mit umwölktem Antlitze und mit nieder—
geschlagenem Blicke da beim Morgenimbisse. Sie erhob sich
zulett ohne etwas zu essen vom Sitze, und eine Träne aus
dem Auge wischend, eilte sie gegen die Türe zu. — Es
schien aber auch in der Tat, als wenn ein Fluch auf diesem
Hause lastete. Es war Teuerung im Lande, das Gewerbe ging
schlecht, die Auflagen wurden immer drückender, das Haus—
wesen verfiel von Jahr zu Zahr mehr und es war am Ende
nichts abzusehen als Armut und Verachtung. Das hatte den
Mann, der sonst ein fleißiger und ordentlicher Bürger war,
schon seit langer Zeit trübsinnig gemacht, dergestalt, daß er
an seinem ferneren Fortkommen verzweifelte und manchmal
sogar äußerte, er wolle sich selbst ein Leid antun und seinem
elenden, trostlosen Leben ein Ende machen. Da half denn auch
kein Zureden von seiten seiner Frau, die sonst immer aufge—
räum“ u Sinnes war, und alle Trostgründe seiner Freunde,
weltlee und geistliche, verschlugen nichts und machten ihn nur
schwe.gsamer und trübseliger.
Va könnte man meinen, es sei kein Wunder gewesen, daß
denn zuleht auch die Frau all ihren Mut und ihre Freude ver—
loren habe. Es hatte aber mit ihrer Traurigkeit eine ganz
eigene Bewandtnis.
Als der Mann sah, daß auch sein Weib trauerte und nun
forteilte, hielt er sie an und sprach: „Ich laß dich nicht aus
der Stube, bis du mir sagst, was dir fehlt.“ Sie schwieg noch
eine Weile, dann aber tat sie den Mund auf, und indem sie
7—
7. Der Wanderer in der Sägemühle.
einen tiefen Seufzer halb ausstieß, sprach sie: „Ach lieber
Mann! Es hat mir heute nacht geträumt, unser lieber Herr—
gott sei gestorben und die lieben Engelein seien bei ihm mit
zur Leiche gegangen.“ „Einfalt,“ sagte der Mann, „wie kannst
du denn so etwas Albernes für wahr halten oder auch nur
denken? Herzlieb, bedenk doch, Gott kann ja nicht sterben.“
Da erheiterte sich plötzlich das Gesicht der guten Frau, und
indem sie des Mannes beide Hände erfaßte und zärtlich drückte,
sagte sie: „Also lebt er noch, der alte Gott?“ „Ja, freilich!“
sprach der Mann, „wer wollte denn daran zweifeln?“ Da
umfing sie ihn und sah ihn an mit ihren holdseligen Augen,
aus denen Zuversicht und Friede und Freudigkeit strahlte, und
sie sprach: „Ei nun, Herzensmann, wenn der alte Gott noch
lebt, warum glauben und vertrauen wir denn nicht auf ihn,
— er, der unsere Haare gezählt hat und nicht zuläßt, daß eins
ohne sein Wissen ausfalle, der die Lilien des Feldes bekleidet
und die Sperlinge ernährt und die jungen Raben, die nach
Futter schreien?“
Bei diesen Worten geschah es dem Manne, als fielen ihm
plötzlich Schuppen vom Auge und als löste sich das Eis, das
sich um sein Herz gelegt hatte. Er lächelte zum ersten Male
wieder nach langer Zeit und dankte seinem frommen lieben
Weibe für die List, die sie angewandt hatte um seinen toten
Glauben an Gott zu beleben und das Zutrauen zu ihm her—
vorzurufen. Und die Sonne schien nun noch freundlicher in
die Stube auf das Antlitz zufriedener Menschen und die Lüfte
wehten erquicklicher um ihre verklärten Wangen und die Vögel
jubilierten noch lauter in dem Danke ihrer Herzen gegen Gott.
L. Aurbacher, Vollsbuchlein.
7. Der Wanderer in der Sãgemũhle.
1. Dort unten in der Muühle
sab ieh in guter Rub'
und sah dem Räderspiele
und sah den Wassern zu.
2. Sah zu der blanken Säge,
es war mir wie ein Traum,
die bahnte lange Wege
in einen Tannenbaum.
3. Die Tanne war wie lebend;
in Trauermelodie,
dureh alle Fasern bebend,
sang diese Worte sie:
4.,DukehrstzurrechtensStunde,
o Wanderer, hier ein;
du bist's, für den die Wunde
mir dringt ins Herz hinein.
8
ꝛ * c c 5 8. Die Boten des Todes. 2
5. Du bist's, für den wird werden,
wenn kurz gewandert du,
dies Holz im Schob der Erden
ein Schrein zur langen Ruhb'.“
6. Vier Bretter sah ich fallen;
mir ward's ums Herze schwer,
ein Wörtlein wollt' ich lallen,
da ging das Rad nicht mehr.
Justinus Kerner.
8. Die Boten des Todes.
Vor alten Zeiten wanderte einmal ein Riese auf der großen
Landstraße. Da sprang ihm plötzlich ein unbekannter Mann
entgegen und rief: „Halt, keinen Schritt weiter!“ „Was,“
sprach der Riese, „du Wicht, den ich zwischen den Fingern zer—
drücken kann, du willst mir den Weg vertreten? Wer bist du, daß
du so keck reden darfst?“ „Ich bin der Tod,“ erwiderte der
andere, „mir widersteht niemand und auch du mußt meinen
Befehlen gehorchen.“ Der Riese aber weigerte sich und fing an
mit dem Tode zu ringen. Es war ein langer, heftiger Kampf;
zuletzt behielt der Riese die Oberhand und schlug den Tod mit
seiner Faust nieder, daß er neben einem Steine zusammensank.
Der Riese ging seiner Wege und der Tod lag da besiegt und war
so kraftlos, daß er sich nicht wieder erheben konnte. „WVas soll
daraus werden,“ sprach er, „wenn ich da in der Ecke liegen
bleibe? Es stirbt niemand mehr auf der Welt und sie wird so
mit Menschen angefüllt werden, daß sie nicht mehr Platz haben
nebeneinander zu stehen.“
Indem kam ein junger Mensch des Weges, frisch und gesund,
sang ein Lied und warf seine Augen hin und her. Als er den
halb Ohnmächtigen erblickte, ging er mitleidig heran, richtete
ihn auf, flößte ihm aus seiner Flasche einen fäärkenden Trank
ein und wartete, bis er wieder zu Kräften kam. „Weißt du auch,“
sagte der Fremde, indem er sich aufrichtete, „wer ich bin und
wem du wieder auf die Beine geholfen hast?“ „Nein,“ ant⸗
wortete der Jüngling, „ich kenne dich nicht.“ „Ich bin der
Tod,“ sprach er, „ich verschone niemand und kaͤnn auch mit
dir keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst, daß ich
dankbar bin, so verspreche ich dir, daß ich dich nicht unversehens
überfallen, sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich
komme und dich abhole.“ „Wohlan,“ sprach der Jüngling,
„immer ein Gewinn, daß ich weiß, wann du kommst, und so lange
wenigstens sicher vor dir bin.“ Dann zog er weiter, war lustig
und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend
4—
9. Stille Nacht, heilige Nacht. ꝛ2 2 286
und Gesundheit hielten nicht slange aus; bald kamen Krank⸗
heiten und Schmerzen, die ihn bei Tage plagten und ihm nachts
die Ruhe wegnahmen. „Sterben werde ich nicht,“ sprach er zu
sich selbst; „denn der Tod sendet erst seine Boten; ich wollte nur,
die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber.“ Sobald er
sich gesund fühlte, fing er wieder an in Freuden zu leben. Da
klopfte ihm eines Tages jemand auf die Schulter; er blickte
sich um und der Tod stand hinter ihm und sprach: „Folge mir!
Die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.“
zWie,“ antwortete der Mensch, „willst du dein Wort brechen?
Hast du mir nicht versprochen, daß du mir, bevor du selbst kämest,
deine Boten fsenden wolltest? Ich habe keinen gesehen.“
„Schweig!“ erwiderte der Tod. „Habe ich dir nicht einen Boten
uͤber den andern geschickt? Kam nicht das Fieber, stieß dich an,
rütteee .h und warf dich nieder? Hat der Schwindel dir nicht
den abetäubt? Zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern?
Brauste dir's nicht in den Ohren? Nagte nicht der Zahnschmerz
in deinen Backen? Ward dir's nicht dunkel vor den Augen?
Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf,
dich jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht,
als wärst du schon gestorben?“ Der Mensch wußte nichts zu er—
widern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.
Brender GOrimm.
9. Stillo Naoht, heilige Naoht!
Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft; einsam wacht
nur das traute, hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
schlaf in himmlischer Ruhb'!
Stille Nacht, heilige Nacht!
Hirten erst kund gemacht;
dureh der Engel Halleluja
tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter ist da!
Stille Nacht, heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
Lieb' aus deinem göttlichen Mund,
da uns schlägt die rettende Stund.
Christ, in deiner Geburt!
Ioseph Mohr.
10
10. Der Seelchenbaum. 22 22 2 22 22
10. Der Seelohenbaum.
Weit drauben, einsam im öôden Raum
steht ein uralter Weidenbaum
nooh aus den Heidenzeiten wohl,
vorvorrt und verrunzelt, gespalten und hobl.
Koinor schneidet ihn, keiner wagt
voruberzugehen, wenn's nicht mehr tagt;
kein Vogel singt ihm im dürren Geäst,
raschelnd nur spukt drin der Ost und West;
doeh wenn am Abend die Schatten düstern,
hörst du's wie Sumsen darin und Flüstern.
Und nahst du der Weide um NMitternacht,
dun dt von grauen Kindlein bewacht;
auf esen Asten hocken sie dieht,
lisheln und wispeln und rühren sich nicht.
Das sind die Seelchen, die weit und breit
zterben gemubt, eh' die Tauf' sie geweiht;
im Särglein liegt die kleine Leich',
nieht darf das Seeleben ins Himmelreich.
Und immer neue — siehst es du? —
im leisen Fluge huschen dazu.
Da sitzen sie nun das ganze Jahr
wie eine verlassene Käuzchenschar.
Doch Weihnachts, wenn der Schnee rings liegt
und über die Länder das Christkind fliegt,
dann reogt sich's, pludert sich's, plaudert, lacht.
Ei, sind unsre Käuzlein da aufgewacht!
Sie lugen aus, wer sieht was, wer?
Ia. freilieh Lommt das Christkind her!
einem hellichten Himmelsschein
mitten zwischen sie hinein:
„Ihr kleines Volk, nun bin ich da,
glaubt ihr an mich?“ Sie rufen: „Ja!“
Da nickt's mit seinem lieben Gesicht
und herzt die Armen und ziert sieh nicht.
Dann klatscht's in die Hände, schlingt den Arm
ums nächste, aufwärts schwirrt der Schwarm,
ihm nach und hoch ob Wald und Wies'
ganz graden Weges ins Paradies.
Ferdinand Avenarius
e 11. Neujahrslied. — 12. Osterzeit. ꝛ * cꝛ
11. Neujabrslied.
1. Mit der Freude zieht der Schmer-
traulich dureh die Zeiten.
Schwere Stürme, milde Weste,
bange Sorgen, frohe Feste
wandeln sich zur Seiten.
2. Und wo eine Träne fällt,
blüht aueh eine Rose.
Schöôn gemiseht, noch eh' wir's bitten,
ist für Throne und für Hütten
Schmerz und Lust im Lose.
3. War's nicht so im alten Jahr?
Wird's im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder
und kein Wunsch wird's wenden.
4. Cobe denn, der über uns
wänt mit rechter Wage,
jedem Sinn für seine Freuden,
jedem Mut für seine Leiden
in die neuen Tage!
5. Jedem auf des Lebens Plad
einen Freund zur Seite,
ein zufriedenes Gemũte
und zu stiller Herzensgüte
Hoffnung ins Geleite!
Tohann Peter Hebel.
12. osterzeit.
O wunderreiche Osterzeit,
da aus den sehon gelössten Banden
der Lenz in liehter Herrlichkeit
gleichwie der Heiland auferstanden.
Sieh hin, das frühe Veilehen blüht,
und wo nach überwund'nem Zagen
das erste Grün den Busch umzieht,
hörst du die Drossel wieder schlagen.
Wohin du blickst, dich Wunder locken,
davon die Ahnung dieh durehdringt,
wie sich beim Klang der Osterglocken
die Seele aus dem Dũüster schwingt. NMartin Greit.
E
22 22 22 2722 22 22 722 2 13. Die Einladung. 22 22 22 2 2 2
13. Die Binladung.
Ein frommer Landmann in der Kirche sab,
den Text der Pfarrer aus Johanni las
am Ostermontag, wie der Heiland rief
vom Ufer: „Kindlein, habt ihr nichts zu essen?““
Das drang dem Landmann in die Seele tiet,
dab er in stiller Wehmut dagesessen.
Drauf betet er: „Mein liebster Jesu Christ,
so fragest du? O, wenn du hungrig bist,
so sei am nächsten Sonntag doch mein Gast
und halt an meinem armen Tische Rasbl
leh bin ja wohl nur ein geringer Mann,
der nieht viel Gutes dir bereiten kann;
doch deine Huld, die dieb zu Sündern trieb,
nimmt aueh an meinem Tische wobl fürlieb.“
Er wandelt heim und spricht sein herzlich Wort
an jedem Tag die ganze Woche fort.
Am Samstag morgens läßt's ihn nimmer rub'n.
„PFrau,“ hebt er an, „nimm aus dein bestes Huhn,
bereit' es kräftig, fege Flur und Haus,
stell' in die Stub' auch einen schönen Straub;
denn wisse, dab du einen hoben Gast
auf morgen mittag zu bewirten hasbl
Putz' unsre Kinderlein, mach' alles rein;
der werte Gast will gut empfangen seinl
Da springen alle Kinderlein heran:
„O, Vater, wer? Wie heißt der liebe Mann?“
Die Mutter fragt: „Nun, Vater, sage mir,
gar einen Herren ludest du zu dir?““
Der Vater aber lächelt, sagt es nicht
und Freude glänzt in seinem Angesicht.
Am Sonntag ruft der Morgenglocken Hall,
zum lieben Gotteshause zieh'n sie all'
und immer seufzt der Vater innerlich:
O, liebster Jesu, komm, besuche mich!
Du hast gehungert; ach, so möcht' ich gern
diceh einmal speisen, meinen guten Herrol!
12
—Ae —e hò ÿv V — ÿj· ——
Wie die Gemeinde drauf nach Hause geht,
die Mutter bald am Herde wieder steht,
das Huhn ist weich, die Suppe diek und sett,
sie deckt den Tisch, bereitet alles nett,
trägt auf und denkt beim zwölften Glockenschlag:
Wo doch der Gast so lange bleiben mag?
Es schlägt auch eins. Da wird ihr endliech bang:
„Sprich, lieber Mann, wo weilt dein Gast so lang?
Die Suppe siedet ein; die Kinder stehn
so hungrig da und nogh ist nichts zu seh'n.
Wie heibet denn der Herr? Ieh glaube fast,
dab du vergeblich ihn geladen hast.“
Der Vater aber winkt den Kinderlein:
„Seid nur getrost! Er kommt nun bald herein.“
Drauf wendet er zum Himmel das Gesicht
und faltet zum Gebet die Hände, spricht:
„Herr Jesu Christe, komm, sei unser Gast
und segne uns, was du bescheret hastl
Da klopft es an der Türe. Seht, ein Greis
blickt matt herein, die Locken silberweib!
„Gesegn' euch's Gott! Erbarmt eueh meiner Not!
Um Christi willen nur ein Stücklein Brot!
Schon lange bin ich hungrig umgeirrt,
vielleicht, dab mir bei euch ein Bissen wird!“
Da eilt der Vater: „Komm, du lieber Gast,
wie du so lange doch gesäumet hast!
Schon lange ja dein Stuhl dort oben steht;
komm, labe dieh, du kommst noch nieht zu spätl“
Und also führet er den armen Mann
mit hellen augen an den Tisch hinan.
Und: „Mutter, sieh dochl! Seht, ihr Kinderlein,
den Heiland lud ich vor acht Tagen ein.
Ieh wubt' es wohl, dab, wenn man Jesum lädt
er einem nicht am Haus vorübergeht.
O, Kinder, seht! In diesem Armsten ist
heut' unser Gast der Heiland Jesus Christ.“
Albert Knapp
14
zz 14. Pfingsten. — 15. Lied vom Stillesein.
14. Pngsten.
Die Jünger saben still beisammen.
Da kam von oben ein heiliges Weh'n,
scohwebten auf sie Feuersflammen
aus ungemessenen Himmelshöh'n.
wurden sie vom Geist durehdrungen,
da wurden sie vom Geist erhellt;
da fingen sie an in allen Zungen
zu reden vom Heiland aller Welt.
Da schlob siech zusammen zum Liebesvereine
die erste christliche Gemeine.
Julius Sturm
15. Lied vom Stillesein.
1. Sei still zu Gottl Wer in ihm ruht,
hat iminer heitern Sinn
und geht mit frischem, freiem Mut,
leicht dureh das Leben hin.
2. Sei still im Glauben! Grüble nicht,
wo Grubeln dir niebt frommt;
erschliebe dich dem reinen Licht,
das still von oben kommbl
C. i still in Liebel Sei wie Tau,
der e vom Himmel sinkt
und morgens auf der grünen Au
in tausend Kelchen blinkb!
————
5. Sei still im Wandell Jage nicht
nach Reichtum, Ehr' und Macht;
wer still sein Brot in Frieden bricht,
den hat Gott wohl bedacht!
Sei still in Leiden!l „Wie Gott willl
lab deinen Wahlspruch sein
und halte seinen Schlägen still,
prägt er sein Bild dir ein!
6. Sei still zu Gott! Wer in ihm ruht,
hat immer heitern Sinn
und geht mit leichtem, frohem Mut
dureh Nacht und Trübsal hin.
Jdulius Sturm.
15
0
II. Aus dem Menlschenleben.
16. Vom Audank der Kinder.
Es ist recht und wohl gesagt von alten, weisen Leuten: „Gott,
den Eltern und Lehrern kann man nimmer genugsam vergelten.“
Leider wird aber gar oft das Sprichwort wahr, daß „ein Vater
leichter kann sechs Kinder ernähren denn sechs Kinder einen
Vater“. So sagt man ein Exempel von einem Vater in Nürn—
berg. Der hatte sechs Kinder und übergab ihnen alle seine
Güter, Haus, Hof, Acker und alle Bereitschaft und versah sich
dessen zu seinen Kindern, sie würden ihn ernähren.
Da er nun bei seinem ältesten Sohne eine Zeitlang war,
wurde der Sohn sein überdrüssig und sprach: „Vater, mir ist
heute nacht ein Knäblein geboren, und wo jetzt Euer Armstuhl
ist, soll seine Wiege stehen, wollet Ihr nicht zu meinem Bruder
ziehen der eine größere Stube hat?“
a er eine Zeitlang bei dem andern Sohne gewesen war,
wurde der auch sein müde und sprach: „Vater, Er hat gerne eine
warme Stube und mir tut der Kopf davon weh; will Er nicht
zu meinem Bruder gehen, der ein Bäcker ist?“
156
22 22 22 2
2 135
17. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß.
Der Vater ging, und da er nun eine Zeitlang bei seinem
dritten Sohne gewesen war, wurde er auch diesem zur Last, daß
er sprach: „Vater, bei mir geht es aus und ein wie in einem
Taubenschlage und du kannst dein Mittagsschläfchen nicht
machen; willst du nicht zu meiner Schwester, der Käthe? Die
wohnt an der Stadtmauer.“
Der Alte merkte, wieviel es geschlagen hatte, und sprach
bei sich selbst: „Wohlan, das will ich tun. Ich will mich auf—
machen und es bei meinen Töchtern versuchen. Die Weiber haben
ein weicheres Herz.“
Da er aber eine Zeitlang bei seiner Tochter gewesen war,
wurde auch sie sein überdrüssig und meinte, es sei ihr immer
höllenangs; wenn der Vater zur Kirche oder sonst wohin gehe
und die hohe Treppe hinunter müsse. Bei der Schwester Elisabeth
brauche er keine Treppen zu steigen, die wohne zur ebenen Erde.
Damit er in Frieden wegkam, gab ihr der Alte zum Scheine
recht und zog zu seiner andern Tochter. Und da er eine kurze
Zeit bei ihr gewesen war, wurde auch sie sein müde und ließ
ihm durch einen Dritten zu Ohren kommen, ihr Quartier an
der Pegnitz wäre zu feucht für einen Mann, der mit Gicht
geplagt sei; dagegen ihre Schwester, die Totengräberin bei
St. Johannis, hätte eine überaus trockene Wohnung. Der Alte
glaubte selbst, sie könne recht haben, und begab sich vor das
Tor zu seiner jüngsten Tochter Lene.
Und als er zwei Tage bei ihr gewesen war, sagte ihr Söhn—
lein zu ihm: „Großvater, die Mutter sprach gestern zur Base
Elisabeth, für dich gebe es kein besseres Quartier als in einer
Kammer, wie sie der Vater grabe.“ über diese Rede brach dem
guten Alten das Herz, daß er in seinen Armstuhl zurücksank
und starb.
St. Johannis nahm ihn auf und ist barmherziger gegen ihn
als seine Kinder; denn er läßt ihn in seiner Kammer immer
ungehindert schlafen seit dieser Zeit. (Darum sagt man im
Sprichworte, daß ein Vater leichter kann sechs Kinder ernähren
denn sechs Kinder einen Vater, und gibt den Alten den Rat:
„Tue dich nicht aus, ehe du dich schlafen legstl Narl Ciober.
17. Vom Argroßvaler, der auf der Tanne saß.
An die Felder meines Vaters grenzte der Ebenwald. Zu
meiner Kindeszeit ragte über die Fichten- und Föhrenwipfel
dieses Waldes das Gerippe einer Tanne empor, auf welcher der
Sage nach vor mehreren hundert Jahren, als der Türke im
Augsburger Lesebuch, VI. Kl.
17
zn 2 117. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß 2 282
Lande war, der Halbmond prangte und unter welcher viel
Christenblut geflossen sein soll.
Mich überkam immer ein Schauern, wenn ich von den
Feldern und Heiden aus dieses Tannengerippe sah; es ragte so
hoch über den Wald und streckte seine langen, kahlen, wildver—
worrenen Aste so wüst gespensterhaft aus, daß es ein unheimlicher
Anblick war. Nur an einem einzigen Aste wucherten noch einige
dunkelgrüne Nadelballen und über diese ragte ein scharfkantiger
Strunk, auf dem einst der Wipfel saß. Den Wipfel mußte der
Sturm oder ein Blitzstrahl geknickt haben; die ältesten Leute
der Gegend erinnerten sich nicht ihn auf dem Baume gesehen
zu haben.
Von der Ferne, wenn ich auf dem Stoppelfelde die Rinder
oder die Schafe weidete, sah ich die Tanne gern an; sie stand
in der Sonne rötlich beleuchtet über dem frischgrünen Waldes—
saume und war so klar und rein in die Bläue des Himmels
hineingezeichnet. Dagegen stand sie an bewölkten Tagen oder
wenn ein Gewitter heranzog, gar starr und dunkel da, und
wenn im Walde weit und breit alle Aste fächelten und sich die
Wipfel tief neigten vor dem Sturme, so stand sie still, ohne
Regung und Bewegung.
Wenn sich aber ein Rind in den Wald verlief und ich es
zu suchen an der Tanne vorüber mußte, so schlich ich gar
angstvoll dahin und dachte an den Halbmond, an das Christen—
blut und an andere entsetzliche Geschichten, die man von diesem
Baume erzählte. Ich wunderte mich aber auch über die Riesigkeit
des Stammes, der auf der einen Seite kahl und von vielen
Spalten durchfurcht, auf der anderen aber mit rauhen, zer—
sprungenen Rinden bedeckt war. Der unterste Teil des Stammes
war so dick, daß ihn drei Männer nicht hätten zu umspannen
vermocht. Die ungeheuern Wurzeln, welche zum Teile kahl
dalagen, waren ebenso ineinander verschlungen und verknöchert
wie das Geäste oben.
Man nannte den Baum die Türkentanne oder auch die graue
Tanne. Von einem starrsinnigen oder übermütigen Menschen
sagte man in der Gegend: „Der tut, wie wenn er die Türken—
tanne als Hutsträußel hätt'!“ Und heute, da der Baum schon
längst zusammengebrochen und vermoͤdert ist, sagt man immer
noch das Sprüchlein.
In der Kornernte, als die Leute meines Vaters und er voran
der Reihe nach am wogenden Getreide standen und die „Wellen“
herausschnitten, mußte ich auf bestimmte Plätze die Garben
— 1 8 —
zꝛ 2: 2 2 17. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß.
zusammentragen, wo sie dann zu je zehn in „Deckeln“ zum
Trocknen aufgeschöbert wurden.
Endlich, als die Dunkelheit für das Kornschneiden zu groß
wurde, wischten die Leute ihre Sicheln ab und kamen zu mir
herüber und halfen mir unter lustigem Sang und Scherz die
Garben zusammentragen. Als wir damit fertig waren, gingen
die Knechte und Mägde davon um in Haus und Hof noch die
abendlichen Verrichtungen zu tun; ich und mein Vater aber
blieben zurück auf dem Kornfelde. Wir schöberten die Garben
auf, wobei der Vater diese halmaufwärts aneinander lehnte und
ich sie zusammenhalten mußte, bis er aus einer letzten Garbe
den Deckel bog und ihn auf den Schober stülpte.
So kurz und ernst mein Vater des Tages in der Arbeit
gegen mich war, so heiter, liebevoll und gemütlich war er in
solchen Abendstunden. Er wußte wunderbare Dinge aus den
Zeiten der Ureltern, wie diese gelebt, was sie erfahren und was
sich in diesen Gegenden einst für Sachen zugetragen. Darum
fragte ich ihn heute: „Warum heißen sie jenen wilden Baum
dort die graue Tanne, Vater?“
Mein Vater bog eben einen Deckel ab, und als er diesen
aufgestülpt hatte, sagte er: „Du weißt, daß man ihn auch die
Türkentanne nennt. Die graue Tanne heißen sie ihn, weil sein
Geäst und sein Moos grau ist und weil auf diesem Baume dein
Urgroßvater die ersten grauen Haare bekommen hat.
Es ist schon länger als achtzig Jahre, seitdem dein Urgroß—
vater meine Großmutter geheiratet hat. Er war sehr reich und
schön und er hätte die Tochter des angesehensten Bauern zum
Weibe bekommen. Er nahm aber ein armes Mädchen aus der
Waldhütte, das gar gut und sittsam war. Von heute in zwei
Tagen ist der Jahrestag, an welchem dein Urgroßvater zur
Werbung in die Waldhütte ging. Und das Mädchen hatte
deinen Urgroßvater lieb und sagte, es wolle seine Hausfrau
werden. Dann verzehrten sie zusammen ein kleines Mahl und
endlich, als es schon zu dunkeln begann, brach der Bräutigam
auf zum Heimweg.
Er ging über die kleine Wiese, die vor der Waldhütte lag,
auf der aber jetzt schon die großen Bäume stehen, und er ging
über das Geschläge und abwärts durch den Wald und er war
gar freudigen Gemütes. Er achtete nicht darauf, daß es bereits
finster geworden war, und er achtete nicht auf das Wetterleuchten
das zur Abendzeit nach einem schwülen Sommertag nichts
Ungewöhnliches ist. Auf eines aber wurde er aufmerksam; er
14
¶
117. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß. 1 33
hörte von den gegenüberliegenden Waldungen ein heulendes
Gebelle. Er dachte an Wölfe, die nicht selten in größeren Rudeln
die Wälder durchzogen; er faßte seinen Knotenstock fester und
nahm einen schnelleren Schritt. Dann hörte er wieder nichts
als zeitweilig das Kreischen eines Nachtvogels und sah nichts
als die dunkeln Stämme, zwischen welchen der Fußsteig führte
und durch welche von Zeit zu Zeit das Leuchten zuckte. Plötzlich
vernahm er wieder das Heulen, aber nun viel näher als das
erstemal. Er fing zu laufen an. Er lief, was er konnte, er hörte
keinen Vogel mehr, er hörte nur immer das entsetzliche Heulen,
das ihm auf dem Fuße folgte. Als er hierauf einmal umsah,
bemerkte er hinter sich durch das Geäst funkelnde Lichter. Schon
hört er das Schnaufen und Lechzen der Raubtiere, die ihn
verfolgen — da kommt er heraus zur Türkentanne. Kein anderes
Entkommen mehr möglich — rasch faßt er den Gedanken und
durch einen kühnen Sprung schwingt er sich auf den untersten
Ast des Baumes. Die Bestien sind schon da; einen Augenblick
stehen sie bewegungslos und lauern; sie gewahren ihn auf dem
Baume, sie schnaufen und mehrere setzen die Pfoten an die rauhe
Rinde des Stammes. Dein Ürgroßvater klettert weiter hinauf
und setzt sich auf einen dicken Aft. Nun ist er wohl sicher. Unten
heulen sie und scharren an der Rinde; es sind ihrer viele, ein
ganzes Rudel. Zur Sommerzeit war es doch selten geschehen,
daß Wölfe einen Menschen anfielen; sie mußten gereizt oder
von einer anderen Beute verjagt worden sein. Dein ürgroßvater
saß lange auf dem Ast; er hoffte, die Tiere würden davonziehen
und sich zerstreuen. Aber sie umringten die Tanne und
schnüffelten und heulten. Es war längst schon finstere Nacht;
gegen Mittag und Morgen hin leuchteten alle Sterne; gegen
Abend aber war es grau und durch dieses Grau schossen dann
und wann Blitzscheine. Sonst war es still und es regte sich im
Walde kein Astchen.
Dein Urgroßvater wußte nun wohl, daß er die ganze Nacht
in dieser Lage würde zubringen müfsen; er besann sich aber
doch, ob er nicht Lärm machen und um Hilfe rufen sollte. Ex
tat es; aber die Bestien ließen sich nicht verscheuchen; kein Mensch
war in der Nähe, das Haus zu weit.
Damals hatte die Türkentanne unter dem abgerissenen
Wipfelstrunk, wo heute die wenigen Reiserbüschel wachsen, noch
eine dichte, vollständige Krone aus grünenden Nadeln. Da denkt
sich dein Urgroßvater: Wenn ich schon einmal hier Nachtherberge
nehmen soll, so klimme ich noch weiter hinauf unter die Krone
——
z22 22 22522 127. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß. ꝛꝛ 2ꝛ 2 2
Und er tat's und ließ sich oben in einer Spalte nieder, da konnte
er sich recht gut an die Aste lehnen.
Unten ist's nach und nach ruhiger; aber das Wetterleuchten
wird stärker und an der Abendseite ist dann und wann ein
fernes Donnern zu vernehmen. — Wenn ich einen tüchtigen
Ast bräche und hinabstiege und einen wilden Lärm machte und
gewaltig um mich schlüge, man meint, ich müßt' den Raben—
äsern entkommen! so denkt dein Urgroßvater, tut's aber nicht;
er weiß zu viele Geschichten, wie Wölfe trotz alledem Menschen
zerrissen haben.
Das Donnern kommt näher, alle Sterne sind verloschen,
s ist finster wie in einem Ofen; nur unten am Fuße des Baumes
funkeln die Augensterne der Raubtiere. Nun beginnt es gar zu
sieden und zu kochen im Gewölke wie in tausend brauenden
Kesseln. Es kommt ein fürchterliches Gewitter! denkt dein
Urgroßvater und verbirgt sich unter die Krone, so gut er kann.
Der Hut ist ihm hinabgefallen und er hört es, wie die Bestien
den Filz zerfetzen. Jetzt zuckt ein Strahl über den Himmel, es
ist einen Augenblick hell wie zur Mittagsstunde; dann bricht
in den Wolken ein Krachen und Knallen los und weithin hallt
es im Gewölke.“
Jetzt ist es still, still in den Wolken, still auf der Erde;
nur um einen gegenüberliegenden Wipfel flattert ein Nacht—
vogel. Aber bald erhebt sich der Sturm, es rauscht in den
Bäumen, es tost durch die Äste, eiskalt ist der Wind. Dein Ur—
großvater klammert sich fest an das Geäste. Jetzt flammt wie—
der ein Blitz, gelblich-grün erleuchtet ist der Wald; alle Wipfel
neigen sich, biegen sich tief; die nächststehenden Bäume schla—
gen; es ist, als fielen sie heran. Aber die Tanne steht starr
und ragt hoch auf über dem Walde. Unten rennen die Raub—
tiere wild durcheinander und heulen. Plötzlich saust ein Körper
durch die Aste wie ein Steinwurf. Da leuchtet es wieder,
ein schneeweißer Ballen hüpft auf den Boden und kollert da—
hin, dann dichte Nacht. Es braust, siedet, tost, krachend stür—
zen Wipfel. Ein Ungeheuer mit weitschlagenden Flügeln, im
Augenblicke des Blitzes gespenstische Schatten werfend, naht in
der Luft, stürzt der Tanne zu und birgt sich gerade über deinem
Urgroßvater in die Krone. Ein Habicht war's, Junge, ein
Habicht, der auf der Tanne sein Nest gehabt.“
Mein Vater hatte bei dieser Erzählung keine Garbe ange—
rührt; ich hatte den ruhigen, schlichten Mann bisher auch nie
mit solcher Lebhaftigkeit sprechen gehört.
21—
17. Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß.
„Wie's weiter gewesen?“ fuhr er fort. „Ja, nun brach es
erst los; das war Donnerschlag auf Donnerschlag und beim
Leuchten war zu sehen, wie hundert und tausend Eiskörner auf
den Wald niedersausten, an die Stämme prallten, auf den Boden
flogen und wieder hoch emporsprangen. So oft ein Hagelkorn
an den Stamm der Tanne schlug, gab es im ganzen Baume einen
hohlen Schall. Plötzlich war eine blendende Glut, ein Schmet⸗
tern und es loderte eine Fichte.
Und die Türkentanne stand da und dein Urgroßvater saß
unter der Krone im Astwerk.
Die brennende Fichte warf weithin ihren Schein und nun
war zu sehen, wie ein rötlicher Schleier lag über dem Walde,
wie nach und nach das Gewebe der kreuzenden Eisstücke dünner
und dünner wurde und wie viele Wipfel keine Äste, dafür aber
weiße Streifen hatten, wie endlich der Sturm in einen mäßigen
Wind überging und ein dichter Regen rieselte.
Die Donner wurden seltener und dumpfer und zogen sich
gegen Mittag und Morgen; aber die Blitze leuchteten noch un—
unterbrochen.
Am Fuße des Baumes war kein Heulen und kein Augen—
funkeln mehr. Die Raubtiere waren durch das wilde Wetter
verscheucht worden. Da stieg denn dein Urgroßvater wieder
von Ast zu Ast bis zum Boden. Und er ging heraus durch den
Wald über die Felder gegen das Haus.
Es war schon nach Mitternacht. Es war an demselben
Morgen ein frischer Harzduft gewesen im Walde; die Bäume
haben geblutet aus unzähligen Wunden. Und es war ein bde—
schwerliches Gehen gewesen über die Eiskörner und es war eine
sehr kalte Luft.
Als sie darauf am andern Tag alle über die Verheerung
und Zerstörung hin zur Kirche gingen, fanden sie im Walde
unter dem herabgeschlagenen Reifig und Moos manchen toten
Vogel und manch anderes Tier; unter einem geknickten Wipfel
lag ein toter Wolf.
Dein Urgroßvater ist bei diesem Gange sehr ernst gewesen;
da sagt auf einmal das Lenerl von der Waldhütte zu ihm: „O
du himmlisch Mirakel! Sepp, dir wachst ja schon ein graues
Haar!“
Später hat er alles erzählt und nun nannten die Leute
den Baum, auf dem er dieselbige Nacht hat zubringen müssen,
die „Graue Tanne“.
22
1
zꝛ ze ee ee e 18. Die künstliche Orgel. 2ꝛ e e e z
Ich war schon erwachsen. Da war es in einer Herbstnacht,
daß mich mein Vater aufweckte und sagte: „Wenn du die graue
Tanne willst brennen sehen, so geh' vor das Haus!“
Und als ich vor dem Hause stand, da sah ich über dem Walde
eine hohe Flamme lodern und aus derselben qualmte finsterer
Rauch in den Sternenhimmel auf. Wir hörten das Dröhnen
der Flammen und sahen das Niederstürzen einzelner Aste;
dann gingen wir wieder zu Bette. Am Morgen stand über dem
Wald ein schwarzer Strunk mit nur wenigen Armen — und
hoch am Himmel kreiste ein Geier.
Peter Rosegger.
18. Die künstliche Orgel.
Vor langen, langen Jahren lebte einmal ein sehr geschickter
junger Orgelbauer, der hatte schon viele Orgeln gebaut und
die letzte war immer besser als die vorhergehende. Zuletzt
machte er eine Orgel, die war so künstlich, daß sie von selbst
zu spielen anfing, wenn ein Brautpaar in die Kirche trat, an
dem Gott sein Wohlgefallen hatte. Als er auch diese Orgel
vollendet sah, besah er sich die Mädchen des Landes, wählte
sich die frömmste und schönste und ließ seine Hochzeit zurichten.
Wie er aber mit der Braut über die Kirchschwelle trat und
Freunde und Verwandte in langem Zuge folgten, jeder einen
Strauß in der Hand oder im Knopfloch, war sein Herz voll
Stolzes und Ehrgeizes. Er dachte nicht an seine Braut und
nicht an Gott, sondern nur daran, was er für ein geschickter
Meister sei, dem niemand es gleichtun könne, und wie alle
Leute staunen und ihn bewundern würden, wenn die Orgel
von selbst ꝛu spielen begönne. So trat er mit seiner schönen
Braut in b.e Kirche ein; aber die Orgel blieb stumm. Das
nahm sich der Orgelbaumeister sehr zu Herzen; denn er meinte
in seinem stolzen Sinne, daß die Schuld nur an der Braut
liegen könne und daß sie ihm nicht treu sei. Er sprach den
gar, wTag über kein Wort mit ihr, schnürte dann nachts
hein. .sein Bündel und verließ sie. Nachdem er viele hundert
Meilen weit gewandert war, ließ er sich endlich in einem frem—
den Lande nieder, wo niemand ihn kannte und keiner nach
ihm fragte. Dort lebte er still und einsam zehn Jahre lang.
Da überfiel ihn eine namenlose Angst nach der Heimat und
nach der verlassenen Braut. Er mußte immer wieder daran—
denken, wie sie so fromm und schön gewesen sei und wie er
sie so böslich verlassen. Nachdem er vergeblich alles getan um
3
2*
zn ze eeee eeeeee 15. Die künstliche Orgel. 53 e
seine Sehnsucht niederzukämpfen, entschloß er sich zurückzu—
kehren und sie um Verzeihung zu bitten. Er wanderte Tag
und Nacht, daß ihm die Fußsohlen wund wurden, und je mehr
er sich der Heimat näherte, desto stärker wurde seine Sehnsucht
und desto größer seine Angst, ob sie wohl wieder so gut und
freundlich zu ihm sein werde wie in der Zeit, wo sie noch seine
Braut war. Endlich sah er die Türme feiner Vaterstadt von
fern in der Sonne blitzen. Da fing er an zu laufen, was er
nur laufen konnte, so daß die Leute hinter ihm her den Kopf
schüttelten: „Entweder ist's ein Narr oder er hat gestohlen.“
Wie er aber in das Tor der Stadt eintrat, begegnete ihm
ein langer Leichenzug. Hinter dem Sarge her gingen eine Menge
Leute, welche weinten.
„Wen begrabt ihr hier, ihr guten Leute, daß ihr so weint?“
„Es ist die schöne Frau des Orgelbaumeisters, die ihr böser
Mann verlassen hat. Sie hat uns allen so viel Gutes und Liebes
getan, daß wir sie in der Kirche beisetzen wollen.“
Als er dies hörte, entgegnete er kein Wort, sondern ging
still, gebeugten Hauptes neben dem Sarge her und half ihn
tragen. Niemand erkannte ihn. Weil sie ihn aber fortwährend
schluchzen und weinen hörten, störte ihn keiner; denn sie dachten:
Das wird wohl auch einer von den vielen armen Leuten sein,
denen die Tote bei Lebzeiten Gutes erwiesen hat. So kam
der Zug zur Kirche, und wie die Träger die Kirchschwelle über—
schritten, fing die Orgel von selbst zu spielen an, so herrlich,
wie noch niemand eine Orgel spielen gehört. Sie setzlen den
Sarg vor dem Altare nieder und der Orgelbaumeister lehnte
sich still an eine Säule daneben und lauschte den Tönen, die
immer gewaltiger anschwollen, so gewaltig, daß die Kirche in
ihren Grundpfeilern bebte. Die Augen fielen ihm zu; denn er
war sehr müde von der weiten Reise. Aber sein Herz war
freudig; denn er wußte, daß ihm Gott verziehen habe, und als
der letzte Ton der Orgel verklang, fiel er tot auf das steinerne
Pflaster nieder. Da hoben die Leute die Leiche auf, und wie sie
inne wurden, wer er sei, öffneten sie den Sarg und legten ihn
zu seiner Braut. Und wie sie den Sarg wieder schlossen, begann
die Orgel noch einmal ganz leise zu tönen. Dann wurde sie
still und hat seitdem nie wieder von selbst geklungen.
Richard v. Volkmann-Leander.
2.
1
19. Der kleine Friedensbote.
Der kleine Iriedensbote.
Ein Gerber und ein Bäcker waren einmal Nachbarn und
die gelbe und die weiße Schürze vertrugen sich aufs beste.
Wenn dem Gerber ein Kind geboren wurde, hob es der Bäcker
aus der Taufe, und wenn der Bäcker in seinem großen Obst—
garten an die Stelle eines ausgedienten Invaliden eines Re—
kruten bedurfte, ging der Gerber in seine schöne Baumschule
und hob den schönsten Mann aus, den er darin hatte, eine
Pflaume oder einen Apfel oder eine Birne oder eine Kirsche,
je nachdem er auf diesen oder jenen Posten, auf einen fetten
oder magern Platz gestellt werden sollte. An Ostern, an Mar—
tini und am heiligen Abend kam die Bäckerin, die keine
Kinder hatte, immer einen großen Korb unter den Arme,
zu den Nachbarsleuten herüber und teilte unter die Paten
aus, was ihr der Hase oder der gute Märtel oder gar
das Christkindlein selbst unter die schneeweiße Serviette gelegt
hatte. Je mehr sich die Kindlein über die reichen Spenden
freuten, desto näher rückten sich die Herzen der beiden Weiber
und man brauchte keine Zigeunerin zu sein um aus dem Satz
in ihren Kaffeeschalen zu prophezeien, daß sie einander immer
gut bleiben würden.
Aber ihre Männer hatten ein jeglicher einen Hund, der
Gerber als Jagdliebhaber einen großen, braunen Feldmann
und der Bäcker einen kleinen, schneeweißen Mordax. Beide
meinten die besten und schönsten Tiere in ihrem Geschlechte zu
haben. Und da geschah es denn eines Tages, daß Mordax
ein Kalbsknöchlein gegen den Feldmann behauptete; denn er
hatte wahrscheinlich vergessen, daß es nicht gut sei einem großen
Herrn etwas abzuschlagen. Vom Knurren kam es zum Beißen
und ehe sich der Bäcker von seiner grünen Bank vor dem Hause
erheben konnte, lag sein Hündlein mit zermalmtem Genicke vor
ihm und der Feldmann lief mit dem eroberten Knochen und
mit eingezogenem Schweife davon.
Sehr ergrimmt und entrüstet, warf der Herr des Ermor—
deten dem Raubmörder einen gewaltigen Stein nach. Aber
was half's? Die Handgranate flog nicht dem Hunde an den
Kopf sondern dessen Besitzer durch das Fenster mitten auf den
Tisch, an dem er gerade die „Augsburger“ las, und machte in
den „Wiener Kongreß“ ein Loch. Ohne zu fragen, woher der
Schuß gekommen sei, riß der Gerber den zertrümmerten Fen—
sterflügel auf und fing an zu schimpfen. Der Nachbar in der
—25 —
19. Der kleine Friedensbote.
weißen Schürze und mit den aufgestülpten Hemdärmeln blieb
nichts schuldig. Kinder und Leute liefen zusammen und —
hätte ich ihn nur sehen können! — Satan stand gewiß in einer
Ecke der Gasse und blies mit vollen Backen in das Feuer. Der
Bäcker verließ den Kampfplatz zuerst, aber nur um seinen Nach—
bar bei Gericht zu belangen. Die Sonne ging über dem Zorne
der beiden Männer unter und den Tag darauf wurden sie vor
Gericht geladen. Der Gerber wurde veruͤrteilt den totgebissenen
Mordax mit einem Reichstaler zu büßen, obschon, wie er sich
als Jagdliebhaber ausdrückte, der kleine Schäker nicht einen
Groschen wert gewesen sei. Der Bäcker mußte für den zer—
trümmerten Fensterflügel und das Loch in der Zeitung nicht
viel weniger Lezahlen und sich mit seinem Widerpart in die
angelaufenen Sporteln teilen.
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große
Qlust befestigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog kein
freundliches Wort mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche,
so nahm die Nachbarin ihren Weg rechts; saß der Bäcker im
Posthause außen in der Stube beim Biere, so nahm der Gerber
seinen Platz im Kabinett. Für den ganz schuldlosen Teil, für die
Linder des Gerbers, gab weder der Osterhase noch der gute
Märtel noch das heilige Kind durch die Frau Patin mehr etwas ab.
So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten,
setzten sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den
Tisch um ihren Kaffee zu trinken. Als aber die Gerberin die
Tischlade herauszog, war kein Wecken zum Einbrocken darin.
Ihr kleiner Helm, der neben ihr auf den Zehen stand und auch
hineinschaute, rief sogleich: „Mutter, einen Groschen! Ich hole
das Brot.“ Dann wandte er sich in seiner kindlichen Eilfertig—
keit an den Vater und sagte: „Heut' aber laufe ich nicht lange
herum, und wenn es beim Torbäcker kein Brot gibt, gehe ich
wiedec einmal zu dem Herrn Paten hinüber.“ Der Gerber,
der vielleicht die anklopfende Gnadenhand des Herrn spürte,
sagte nicht „ja“ und nicht „nein“ darauf und ließ den kleinen
Unmuß ziehen. Im ersten Brotladen hatten aber die Wecken
schon alle ihre Käufer gefunden und Helm kam wieder zum
Tore herein, laut singend, wie es manchmal lebhafte Kinder
mit ihren Gedanken zu machen pflegen, daß es die ganze Gasse
hören konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn Paten! Heut' geh'
ich zum Herrn Paten!“ Ungehalten über den argen Schrei—
hals, wollte sein Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das
verquollene Fenster aufbringen konnte, war der kleine Sänger
26
20. Aus dem Leben Gellerts. 2 22
schon zum Tempel hinein und — kehrte nach einigen Augenblicken
als Friedensbote wieder zurück. Statt des Olzweigs hatte er einen
geschenkten Eierring in der Hand und rief, über die Schwelle in
die Stube hereinstolpernd: „Der Herr Pate läßt Vater und
Mutter recht schön grüßen und ich soll bald wiederkommen.“
Noch an dem nämlichen Abende wechselten die Nachbars—
leute einige freundliche Worte über die Gasse; am folgenden
saßen die weiße und die gelbe Schürze wieder auf der grünen
Bank beisammen; am dritten zeigten die Weiber einander die
Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jahren oft mit ihren
Tränen über den unseligen Zwist den Faden genetzt hatten.
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten
erweckt hatte; denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker
unerwartet schnell in einen Nervenfieberschlaf und aus diesem
nach wenigen lichten Augenblicken in den Todesschlummer.
Karl Stöber.
Nus dem Leben Gellerks.
Eines Tages ging Gellert vor einem Tore Leipzigs spa—
zieren. Plötzlich hörte er unter lautem Weinen und Wehklagen
eine arme Frau hinter sich herlaufen. Er blieb stehen und fragte
sie teilnehmend nach dem Grunde ihres Leids. Die Frau wollte
nich Seraus damit; als aber Gellert ihr freundlich zuredete,
wurode sie zutraulich und erzählte ihm nun, daß sie mit ihrem
Manne und vier Kindern ein kleines Häuschen bewohne, das
dem reichen Kaufmann N. gehöre. Seit fünf Wochen lägen Mann
und Kinder krank; sie habe nichts in dieser Zeit verdienen können;
niemand borge ihr mehr einen Mundvoll Brot und nun wolle
der harte Hausherr, weil sie ihm dreißig Taler Miete schuldig
sei, fie aus dem Hause werfen samt den Kranken. Sie habe,
wehklagte die Frau, keinen Heller für Brot und Arznei und müsse
also den Tod der Ihrigen vor Augen sehen und niemand er—
barme sich. „Ach,“ rief sie aus, „wenn's nur schon vorüber
wäre; im Grabe wär's uns allen n Diese Klagen gingen
wie ein zweischneidiges Schwert durch Gellerts weiches Herz.
So wenig Geld er auch gerade damals hatte, so war er doch
schnell entschlossen zu helfen. Er bat die arme Frau mit ihm
in seine Wohnung zu gehen. Als er dort ankam, suchte er alles,
was er hatte, zusammen und fand nur noch dreißig Taler. Mit
Dank gegen Gott, daß er eben noch so viel hatte, gab er der
Frau das Geld und sagte ihr, sie solle es zu dem Kaufmann N.
tragen, aber nicht eher als um 11 Uhr. Die glückliche Frau
27
2
20. Aus dem Leben Gellerts.
ee2 2 22 2 22
· v——rrrrioe
ergoß sich in heißem Danke und versprach seine Befehle genau
zu vollziehen.
Gellert kannte den Kaufmann N. Er kleidete sich sogleich
um und ging vor 11 Uhr zu ihm. Als er in des Kaufmanns
Stube trat, fand er ihn beim Einrollen einer sehr großen Geld—
summe und sah es ihm deutlich an, daß er ungelegen kam. Der
Kaufmann strich unwillig das Geld in eine Schublade des Tisches
und wollte eben eine unwirsche Frage tun, als er sich noch
besann und Gellert höflich grüßte.
Gellert setzte sich und sagte: „Von Ihnen kann man gewiß
viel Gutes lernen; denn ein so gesegneter Mann wie Sie wird
es nicht unterlassen von seinem Reichtume den gesegnetsten Ge—
brauch zu machen. /Sie kennen gewiß die große Kunst andern
wahrhaft wohlzutun.“ Der Kaufmann, der mit seinen Gedanken
noch halb bei seinem Gelde war, verstand nicht recht, was Gellert
wollte, und antwortete sehr zerstreut: „Ach ja, ganz recht!“
Gellert fuhr fort, mit der Wärme seines edlen Herzens von
den Freuden des Wohltuns und der Menschenliebe zu reden.
Selbst noch ergriffen von dem Andenken an die arme Frau,
sprach er so ergreifend, daß der Geizhals in seines Herzens
Grunde bewegt wurde. Da öffnete sich die Tür und die arme
Frau trat herein und legte die dreißig Taler auf den Tisch,
indem sie sagte: „Da haben Sie das Geld! Aber nun geben Sie
mir auch das Briefchen wieder, das mein armer, kranker Mann
geschrieben hat, damit Sie uns nicht aus dem Hause werfen
lassen!“ Noch erfüllt von Gellerts schönen Worten, geriet der
Kaufmann in eine große Verlegenheit.
/Er suchte das zu bemänteln und sagte: „Ei, das hätte ja
Zeit gehabt! Wie kann Sie nur so reden? Sie sieht ja, daß
ich — Besuch — habe — doch Ler besann sich schnell; der
Geldhunger übermannte ihn und er begann das auf dem Tische
liegende Geld zu zählen.
Ja, ja,“ fagte die Frau, „Zeit hin, Zeit her! Sie haben
mich heute früh hart angefahren. Einen kranken Mann und vier
todkranke Kinder, kein Geld für Arznei, keins für Brot; ach,
das ist hart! Und nun noch aus dem Hause geworfen werden,
das ist entsetzlich! Als ich in der Verzweiflung herumlief, da
begegnete ich da diesem Herrn 2 Gellert winkte ihr zu schwei—
gen). „Ja,“ fuhr sie fort, „winken Sie nur, ich muß es doch
sagen — der gab mir das Geld.“
Der karge Reiche fuhr betroffen herum und sah Gellert an.
Was dieser ihm eben gesagt, war noch frisch in seinem Gedächt—
22
2*
eee zi u 21. Der arme Musikant. 1 e ee e e—
nis. „Sie haben das getan?“ fragte er mit Erstaunen. Tief
ergriffen von dem Gedanken, daß der arme Gellert das getan,
wandte er sich jetzt zu der Frau und sagte: „Hier hat Sie das
Briefchen, aber auch die dreißig Taler. Pflege Sie Ihren kranken
Mann und Ihre Kinder damit!“ Und zu Gellert sagte er: „Ich
sehe, Sie können nicht nur schön schreiben sondern auch schön han—
deln! Um aber mein Unrecht einigermaßen wieder gut zu machen,
so erlauben Sie mir, daß ich Sie zu der armen Familie begleite!
Sie sollen mich auch von einer andern Seite kennen lernen!“
Mit Freuden nahm dies Gellert an. Beide fanden die
Familie im tiefsten Elende. Gellert übernahm es ihr ärztliche
Hilfe zu verschaffen und der Kaufmann sorgte für alle übrigen
Bedürfnisse. Von nun an ging der Familie ein neues Leben
auf und der Kaufmann, auf dessen Herz Gellerts Wort und
Beispiel so verbessernd gewirkt, ließ es bei dieser Wohltat nicht
bewenden; er nahm den ältesten Sohn in seine Dienste, zahlte
für die übrigen Kinder das Schulgeld und erwies sich als un—
ermüdeter Wohltäter derselben. Wilhelm rtel v. Horn.
21. Der arme Musisktant.
An einem schönen Sommertage war im Prater zu Wien ein
großes Volksfest. Viel Volk strömte hinaus und jung und
alt, vornehm und gering freute sich dort seines Lebens; auch
kamen viele Fremde, die sich an der Volkslust erfreuten. Wo
fröhliche Menschen sind, da hat auch der etwas zu hoffen, der an
die Barmherzigkeit seiner glücklicheren Mitmenschen gewiesen ist.
So waren denn hier eine Menge Bettler, Orgelmänner, Harfen—
mädchen, die sich ihren Kreuzer zu verdienen suchten.
In Wien lebte damals ein Invalide, dem seine kleine Pension
zum Unterhalte nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht; er griff
daher zur Violine, die zu spielen er von seinem Vater, einem
geborenen Böhmen, erlernt hatte. Er spielte unter einem alten
Baume im Prater und seinen treuen Pudel hatte er so abgerichtet,
daß er vor ihm saß und den alten Hut im Maule hielt, in den
die Leute die paar Kreuzer warfen, die sie ihm geben wollten.
Heute stand er auch da und fiedelte und der Pudel saß vor ihm
mit dem Hute; aber die Leute gingen vorüber und der Hut blieb
leer. Hätten sie ihn nur einmal angesehen, sie hätten Barm—
herzigkeit mit ihm haben müssen. Dünnes, weißes Haar deckte
kaum seinen Schädel; ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel
war sein Kleid. Gar manche Schlacht hatte er mitgekämpft und
—
2
2 22 222 27 22 22 222 21. Der arme Musikant. 2 22 2 22
fast jede hatte ihm in einer Narbe einen Denkzettel angehängt,
bei dem für das Verlieren keine Sorge nötig war. Nur drei
Finger an der rechten Hand hielten den Bogen. Eine Kartätschen—
kugel hatte die zwei andern bei Aspern mitgenommen und fast
zu gleicher Zeit nahm ihm eine größere Kugel das Bein weg.
Und doch sahen heute die fröhlichen Leute nicht auf ihn und er
hatte doch für den letzten Kreuzer Saiten auf seine Geige
gekauft und spielte mit aller Kraft seine alten Märsche und
Tänze. Trübe und traurig sah der alte Mann auf die wogende
Menschenmasse, auf die fröhlichen Gesichter, auf die stolze Pracht
ihres Putzes. Bei ihrem Lachen drang ein Stachel in seine
Seele — heute abend mußte er hungern auf seinem Strohlager
im Dachstübchen. Sein Pudel war in der Tat besser daran; er
fand doch vielleicht auf dem Heimwege unter einem Gußsteine
einen Knochen, mit dem er seinen Hunger stillen konnte.
Schon war's ziemlich spät am Nachmittage. Seine Hoffnung
war so nahe am Untergange wie die Sonne; denn schon kehrten
die Lustwandler zurück. Da legte sich ein recht tiefes Leid auf
das wetterharte, vernarbte Gesicht. Er ahnte nicht, daß nicht
weit von ihm ein stattlich gekleideter Herr stand, der ihm lange
zuhörte und ihn mit dem Ausdrucke tiefempfundenen Mitleids
betrachtete. Als endlich alles fruchtlos blieb und die müde Hand
den Bogen nicht mehr führen konnte, auch sein Bein ihn kaum
mehr trug, setzte er sich auf einen Stein und stützte die Stirn in
die hohle Hand und die Erde sog einige heimliche Tränen ein
und die sagt's nicht wieder.
Der Herr aber, der dort am Stamme der alten Linde lehnte,
hatte gesehen, wie die verstümmelte Hand die Tränen abwischte,
damit das Auge der Welt die Spuren nicht sehe. Es war aber,
als wenn die Tränen wie siedendheiße Tropfen dem Herrn auf
das Herz gefallen wären, so rasch trat er herzu, reichte dem Alten
ein Goldstück und sagte: „Leiht mir Eure Geige ein Stündchen!“
Der Alte sah voll Dankes den Herrn an, der mit der deutschen
Sprache so holperig umging wie er mit der Geige. Was er aber
wollte, verstand der Invalide doch und reichte ihm seine Geige.
Sie war nun so schlecht nicht; nur der gewöhnliche Geiger kräatzte
so übel. Der Herr stimmte sie glockenrein, stellte sich ganz nahe
zu dem Invaliden und sagte: „Kollege, nun nehmt Ihr das
Geld und ich spiele.“ Der fing dann an zu spielen, daß der
Alte seine Geige neugierig betrachtete und meinte, sie sei es gar
nicht mehr; denn der Ton ging wunderbar in die Seele und die
Töne rollten wie Perlen dahin. Manchmal war's, als jubilierten
4—
uù
25222222 21. Der arme Musikant. 22 22 2 2
Engelstimmen in der Geige, und dann wieder, als klagten Töne
schweren Leides aus ihr heraus, die das Herz so bewegten, daß
die Augen feucht wurden.
Jetzt blieben die Leute stehen und sahen den stattlichen Herrn
an und horchten auf die wundervollen Töne. Jedermann sah's,
der Mann geigte für den Armen; aber niemand kannte ihn.
Immer größer wurde der Kreis der Zuhörer, selbst die Kutschen
der Vornehmen hielten an. Und was die Hauptsache war, jeder—
mann sah ein, was der kunstreiche Fremde beabsichtigte, und gab
reichlich. Da fiel nicht bloß Kupfer sondern auch Gold und
Silber in den Hut. Der Pudel knurrte. War's Vergnügen oder
Ärger? Er konnte den Hut nicht mehr halten; so schwer war er
geworden. „Macht ihn leer, Alter!“ riefen die Leute dem In—
validen zu; „er wird noch einmal voll!“ Der Alte tat's und
richtig, er mußte ihn noch einmal leeren in seinen Sack, in den
er die Violine zu stecken pflegte. Der Fremde stand da mit
leuchtendem Auge und spielte, daß ein Bravo über das andere
schallte. Alle Welt war entzückt. Endlich ging der Geiger in
die prächtige Melodie des Liedes: Gott erhalte Franz, den
Kaiser! über. Alle Hüte und Mützen flogen von den Köpfen;
denn die Osterreicher liebten ihren Kaiser Franz von ganzem
Herzen. Allgemach wurde der Volksjubel so groß, daß plötzlich
alle Leute das Lied sangen. Der Geiger spielte mit der größten
Begeisterung, bis das Lied zu Ende war; dann legte er rasch
die Geige in des Glücklichen Schoß, und ehe der alte Mann ein
Wort des Dankes sagen konnte, war er fort.
„Wer war das?“ rief das Volk. Da trat ein Herr vor
und sagte: „Ich kenne ihn sehr wohl; es war der ausgezeichnete
Geiger Alexander Boucher, welcher hier seine Kunst im Dienste
der Barmherzigkeit übte. Laßt uns sein edles Beispiel nicht
vergessen!“ Der Herr hielt seinen Hut hin und aufs neue
flogen Sechsbätzner in den Hut des Herrn, der diesmal für
den Invaliden aufhob. Alles gab, und als dann der Herr aber—
mals das Geld in des Invaliden Sack geschüttet, rief er:
„Boucher lebe hoch!“ „Hoch! hoch! hoch!“ rief das Volk. Und
der Invalide faltete seine Hände und betete: „Herr, belohne
du es ihm reichlich!“
Und ich glaube, es gab an diesem Abende zwei Glückliche
mehr in Wien. Der eine war der Invalide, der nun weithin
seiner Not enthoben war, und der andere war Boucher, dem
sein Herz ein Zeugnis gab, um das man ihn beneiden möchte.
Wilhelm örtel v. Horn.
31
z z ee er ee 2 22. Dienertreue. 22 :
22. Dienertreue.
Ein reicher Herr in Polen fuhr zur Winterzeit in einem
Schlitten nach dem Städtchen Ostrowo, nur von seinem Knechte
Jakob begleitet, der dem Schlitten vorreiten mußte. Ehe sie
die Stadt erreichten, mußten sie zuvor durch einen langen,
einsamen Wald und es war bereits Abend. Der Knecht schlug
daher dem Herrn vor in einer Herberge, die am Eingange des
Waldes lag, zu übernachten; denn im Walde seien viele Wölfe
und die Untiere seien wegen des harten Winters gar grimmig.
Der Herr aber war einer von den wunderlichen, von denen,
die einen guten Rat, wenn er von einem Knechte kommt, nicht
annehmen mögen. Er fuhr ihn an und schrie, er werde wohl
des Reitens überdrüssig sein; aber er werde nichts danach
fragen, sie müßten noch nach Ostrowo, es möge gehen, wie es
wolle. Und so ging's vorwärts, was die Pferde laufen konnten.
Kaum aber sind sie eine Strecke im Walde, so hört der Herr
hinter sich ein lautes Heulen, und als er sich umwendet, sieht
er die Wölfe in Rudeln hinter dem Schlitten daherjagen und
die vordersten schon ganz nahe. „Jakob, Jakob!“ ruft er, „die
Wölfe, die Wölfe!“ Der treue Jakob erwidert kein Wort, son—
dern läßt ruhig den Herrn vorausfahren, reitet zwischen dem
Schlitten und den Wölfen, zieht seine Pistolen und schießt von
Zeit zu Zeit unter sie. Damit schreckt er eine Weile die Bestien.
Endlich aber hat er kein Pulver mehr, und als sie nun an
den Schlitten heranstürzen, sagt er: „Herr, ich muß meinen
armen Braunen opfern und sehen, daß ich zu Euch auf den
Schlitten komme, sonst ist alles verloren!“ „Tu, wie du
willn! sagte der Herr und im Augenblick war der Jakob vom
Pferde und auf den Schlitten gesprungen und hielt sein Pferd
am Zaume fest, bis die Wölfe herankamen, dann überließ er's
ihnen zur Beute. Es schien, als sollten sie dadurch einen Vor—
sprung gewinnen; aber nicht lange, so war ein Teil der Wölfe
wieder heulend hinter ihnen her und einige schickten sich an
in den Schlitten zu springen und der Edelmann gab sich nun
verloren.
Da sagte Jakob: „Herr, nun will ich in Gottes Namen
auch das letzte noch für Euch tun. Dort sind schon die Lichter
von Ostrowo und Ihr könnt das Städtlein erreichen, wenn ich
nur auf ein paar Minuten die Bestien Euch vom Halse halte.
Sorgt für mein Weib und meine Kinder; lebt wohl und denkt
manchmal an den armen Jakob!“ Damit zog er den Säbel,
— 2—
23. Er muß den weißen Spatz sehen.
sprang aus dem Schlitten und stürzte sich mitten unter die
Wölfe. Diese stutzten, fielen ihn aber dann wütend an und
übermannten ihn endlich. Sein Herr aber war mittlerweile
unversehrt entkommen. Schnell nahm er Leute mit sich und
eilte in den Wald zurück. Aber er fand nichts mehr als die
Gebeine seines getreuen Knechtes; die sammelte er und ließ sie
begraben. Das Weib und die Kinder aber versorgte er väterlich
und wurde allen seinen Dienern ein freundlicher, gütiger Herr,
beklagte es auch oft mit Tränen, daß er nicht ohne bittere
Reue an seinen treuen Knecht gedenken könne. Harl Heinrich Caspari
23. Er muß den weißen Spatz sehen.
Es war ein Bauer, bei dem ging's den Krebsgang von Jahr
zu Jahr mehr. Sein Vieh fiel Stück für Stück; seine Acker
trugen nicht die Hälfte von dem ein, was sie tragen mußten,
und die Ellenbogen fingen bereits an durch das Wams zu
sehen, während der Steuerpfänder und Pfandkäufer fast wöchent—
lich zum Fenster hineinsah und höflich grüßend zu ihm
sprach: „Es tut mir leid, Herr Rückwärts, Euch belästigen zu
müssen; aber ich muß meine Schuldigkeit tun.“ Ihre Schuldig—
keit mit Bitten und Raten und Helfen hatten auch bereits die
Hausfreunde getan; aber einer nach dem anderen war mit der
Erklärung daheim geblieben: Dem Rückwärts ist nicht mehr
zu helfen. Da war aber einer, der hatte das Herz auf dem
rechten Flecke; denn er hatte, wie es der Psalm heißt, ein
„neues Herz“ und das ist bekanntlich nicht nur ein frommes
sondern auch ein kluges. Wie der mit dem Rückwärts einmal
hinter dem Glase saß, so brachte er wie durch Zufall die Rede
auf die Spatzen, erzählte von diesem Gevögel dies und das,
wie gar erstaunlich sie sich mehrten, wie sie schlau und gefräßig
wären, und der Rückwärts nickte dazu und meinte, seine Weizen—
äcker trügen seit lange nicht mehr so gut; zweifelsohne wär'
der Spatzenfraß dran schuld. Der Hausfreund ließ es dahin—
gestellt und fuhr fort: „Aber, Nachbar, habt Ihr denn schon
einen weißen Spatzen gesehen?“
„Nein,“ gab der Rückwärts zur Antwort, „die hier herum—
fliegen, sind alle grau.“
„Glaub's wohl,“ sagte darauf der Nachbar, „mit dem weißen
Spatzen hat es sein eigen Bewenden. Alle Jahre kommt nur
einer zur Welt, und weil er gar absonderlich ist, so beißen
Au sburger Lesebuch, VI. Kl. — 32 —ü—
24. Das Lied vom braven Manne. 2
ihn die anderen und er muß sein Futter suchen am frühen
Morgen und dann wieder zu Neste gehen.“
„Das wäre!“ sagte der Rückwärts, „den muß ich sehen, und
gelingt's, so fang' ich ihn auch.“
Am nächsten Morgen in aller Frühe war der Bauer auf den
Beinen und ging um seinen Hof herum, auch ein Stücklein ins
Feld hinaus, ob der weiße Spatz nicht bald vom Neste käme.
Aber der wollte nicht kommen und das verdroß den Bauern,
aber noch mehr, daß auch sein Gesinde nicht aus dem Neste
wollte, und die Sonne stand schon hoch. Dazu schrie das Vieh
in den Ställen vor Hunger und es war niemand da, der ihm
Futter gab.
Indem sieht er einen Knecht aus dem Hofe kommen; der
trägt einen Sack auf der Schülter und will schnell zum Hof—
tor hinaus; dem eilt er nach und nimmt ihm die Last ab;
denn in die Mühle sollte sie nicht, sondern ins Wirtshaus, wo
der Knecht stark auf der Kreide stand.
Nach dem weißen Spatzen sehend, schaut der Bauer in den
Kuhstall hinein, wo eben die Milchmagd einer Nachbarin durchs
Fenster die Milch zum Morgenkaffee reicht, und die Milch war
nicht mit des Herrn Maß gemessen. Eine saubere Wirtschaft
das! denkt der Bauer und weckt scheltend sein Weib und er—
klärt, das lange Schlafen müsse ein Ende haben oder er wolle
nicht Rückwärts heißen. Und bei sich selber denkt er: Stehe
ich frühe auf wie heute, so muß auch das Packvolk auf dem
Hofe heraus und dabei sehe ich am Ende doch den weißen Spatzen,
und will's das Glück, so fange ich ihn auch.
Wie aber der Bauer das etliche Wochen so getrieben hatte,
da sah er nicht mehr nach dem weißen Spatzen, sondern dachte
allein an seinen Vorsatz und aus dem Rückwärts ward bald
ein Vorwärts. Und als der Nachbar wieder kam und ihn fragte:
„Wie steht's, Gevatter, habt Ihr den weißen Spatzen gesehen?“
da lächelte der Bauer und drückte dem Freunde die Hand und
sagte: „Gott lohn's Euch n Otto Glaubrecht (Rudolf Oser).
24. Das Lied vom braven Manne.
1. Hoch klingt das Lied vom braven Mann
wie Orgelton und Glockenklang.
Wer hohen Muts sich rühmen kann,
den lohnt nicht Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob, dab ich singen und preisen kann
zu singen und preisen den braven Mannl
34
24. Das Lied vom braven Manne.
——2
2. Der Tauwind kam vom Mittagsmeer
und schnob durch Welschland trüb und feucht.
Die Wolken flogen vor ihm her,
wie wenn der Wolf die Herde scheucht.
Er fegte die Felder, zerbrach den PForst;
auf Seen und Strömen das Grundeis borst.
3. Am Hochgebirge sehmolz der Schnee,
der Sturz von tausend Wassern scholl,
das Wiesental begrub ein See,
des Landes Heerstrom wuchs und schwoll;
hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis
und rolllen gewaltige FPelsen Eis.
Aulf Pfeilern und auf Bogen schwer,
aus uaderstein von unten auf,
lag eine Brücke drüber her
und mitten stand ein Häuschen drauf.
Hier wohnte der Zöllner mit Weib und Kkind.
„O Zöllner, o Zöllner, entfleuch geschwindl“
5. Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran;
laut heulten Sturm und Wog' ums Haus.
Der Zöllner sprang zum Dach hinan
und blickt' in den Tumult hinaus.
„Barmherziger Himmel, erbarme dich!
Verloren! verloren! Wer rettet mieh?“
6. Die Schollen rollten, Schub auf Schub,
von beiden Ufern, hier und dort;
von beiden Ufern riß der Flub
die Pfeiler samt den Bogen fort.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind,
er heulte noch lauter als Strom und Wind.
7. Die Schollen rollten, Stob auf Stob,
an beiden Enden, hier und dort.
Zerborsten und zertrümmert schob
ein Pfeiler nach dem andern fort.
Bald nahte der Mitte der Umsturz sich.
„Barmherziger Himmel, erbarme dichl““
8. Hoch auf dem fernen Ufer stand
ein Schwarm von Gaffern, grob und klein,
und jeder schrie und rang die Hand;
2
2*
24. Das Lied vom braven Manne.
doch mochte niemand Retter sein.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind
durehheulte nach Rettung den Strom und Wind.
9. Wann klingst du, Lied vom braven Mann,
wie Orgelton und Glockenklang?
Wohlan! so nenn ihn, nenn ihn dann!
Wann nennst du ihn, mein schönster Sang?
Bald nahet der Mitte der Umsturz sich.
O braver Mann, braver Mann, zeige dichl
10. Rasch galoppiert' ein Graf hervor,
auf hohem Rob ein edler Graf.
Was hielt des Grafen Hand empor?
Ein Beutel war es, voll und straff.
„Zweihundert Pistolen sind zugesagt
dem, welcher die Rettung der Armen wagt.“
. Wer ist der Brave? Ist's der Grafꝰ?
Seg an, mein braver Sang, sag' an!
Der Graf, beim höchsten Gott! war brav;
doeh weiß iech einen bravern Mann. —
O braver Mann, braver Mann, zeige dich!
Schon naht das Verderben sich fürchterlich.
D
»VUnd immer höher schwoll die Flut
und immer lauter schnob der Wind
und immer tiefer sank der Mut. —
O Retter, Retter, komm geschwind!
SsStets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach;
laut krachten und stürzten die Bogen nach.
„Hallo! hallol frischauf gewagtl
Hoch hielt der Graf den Preis empor.
Ein jeder hört's, doch jeder zagt;
aus Tausenden tritt keiner vor.
Vergebens durchheulte mit Weib und Kind
der Zöllner nach Rettung den Strom und Wind.
14. Sieh, schlecht und recht, ein Bauersmann
am Wanderstabe schritt daher,
mit grobem Kittel angetan,
an Wuchs und Antlitz hoch und hehr.
Er hörte den Grafen, vernahm sein Wort
und schaute das nahe Verderben dort.
4
24. Das Lied vom braven Manne.
—2224
15. Und kühn in Gottes Namen sprang
er in den nächsten Fischerkahn;
trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang
kam der Erretter glücklich an.
Doch wehel Der Nachen war allzu Klein
der Retter von allen zugleich zu sein.
16. Und dreimal zwang er seinen Kahn
trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang
und dreimal kam er glücklich an,
bis ihm die Rettung ganz gelang.
Kaum kamen die letzten in sichern Port,
so rollle das letzte Getrümmer fort.
17. Wer ist, wer ist der brave Mann?
Sag' an, sag' an, mein braver Sangl
Der Bauer wagt' ein Leben dran;
doch tat er's wohl um Goldesklang?
Denn, spendete nimmer der Graf sein Gut,
s0 wagte der Bauer vielleicht kein Blut? —
18. „Hier,“ rief der Graf, „mein wack'rer Freund,
hier ist dein Preis! Komm her, nimm hin!“
Sag' an, war das nicht brav gemeint?
Bei Gott! Der Graf trug hohen Sinn.
Doch höher und himmlischer wahrlich sehlug
das Herz, das der Bauer im Kittel trug.
19. „Mein Leben ist für Gold nicht feil.
Arm bin ich zwar, doch ess' ich satt.
Dem Zöllner werd' Euer Gold zuteil,
der Hab und Gut verloren hatl
So rief er mit herzlichem Biederton
und wandte den Rücken und ging davon. —
20. Hoch klingst du, Lied vom braven Mann,
wie Orgelton und Glockenklang!
Wer solchen Muts sich rübmen kann,
den lohnt kein Gold, den lohnt Gesang.
Gottlobl daß ieh singen und preisen kann
unsterblich zu preisen den braven Mann!
Gottfried August Bürger.
27
z22 25. Der Soldat. — 26. Das Märchen vom guten Mägdlein. 2ꝛ 3
26. Der Soldat.
Es geht bei gedämpfter Trommel Klang;
wie weit noch die Stättel Der Weg wie lang!
O wãr' er zur Ruh' und alles vorbei!
Ich glaub', es bricht mir das Herz entzwei.
Ich hab' in der Welt nur ihn geliebt,
nur ihn, dem jetzt man den Tod doch gibt.
Bei klingendem Spiele wird paradiert;
dazu bin auch ieh kommandiert.
Nun schaut er auf zum letztenmal
in Gottes Sonne freudigen Strahl —
nun binden sie ihm die Augen zu —
dir schenke Gott die ewige Ruhb!
Es haben die neun wohl angelegt:
acht Kugeln haben vorbeigefegt;
sie zitterten alle vor sammer und Schmerz —
ich aber, ich traf ihn mitten ins Herz.
Adelbert v. Chamisso.
26. Das Märohen vom guten Mägdlein.
Ein Magdlein streute das Futter gern
den Vöglein mit gütigen Händen;
wenn Frühling und Sommer gezogen fern,
so hatte sie reichlich zu spenden.
Das Maägdlein ab einen Schwamm im Wald
und mubte verfärben und sterben;
die Vöglein kamen geflogen bald:
Wir mũssen des Hungers verderben.
Sie flogen an und umklagten das Haus
und scehlugen ans Fenster die Flũgel,
doch leider die Gute sah nicht heraus,
es deckte sie drüben der Hügel.
Sie flogen zum Grabe. Was fanden sie dort?
Ein Baumlein mit köstlichen Beeren.
Sie zehrten das Mahl und zehrten es fort
und konnten das Bäumlein nicht leeren.
Und als sich genahet der liebliche Mai,
ein blumiges Grab war zu sehen.
Wer trug all die Wurzeln und Keime herbei?
Das war von den Vöglein geschehen.
Martin Greitf.
58
n
27. Die drei Freunde. — 28. Sprüche. ꝛꝛ
27. Die drei Freunde.
Traue keinem Freunde, worin du ihn nicht geprüfet hast;
an der Tafel des Gastmahls gibt es mehr derselben als an der
Tür des Kerkers.
Ein Mann hatte drei Freunde. Zwei derselben liebte er
sehr; der dritte war ihm gleichgültig, obgleich dieser es am
redlichsten mit ihm meinte. Einst ward er vor Gericht gefordert,
wo er unschuldig, aber hart verklagt war. „Wer unter euch,“
sprach er, „will mit mir gehen und für mich zeugen? Denn ich
bin hart verklagt worden und der König zürnet.“ Der erste
seiner Freunde entschuldigte sich sogleich, daß er nicht mit ihm
gehen könne wegen anderer Geschäfte. Der zweite begleitete ihn
bis zur Tür des Richthauses; da wandte er sich und ging zurück
aus Furcht vor dem zornigen Richter. Der dritte, auf den er am
wenigsten gebaut hatte, ging hinein, redete für ihn und zeugte
von seiner Unschuld so freudig, daß der Richter ihn losließ und
beschenkte.
Drei Freunde hat der Mensch in dieser Welt; wie betragen
sie sich in der Stunde des Todes, wenn ihn Gott vor Gericht
fordert? Das Geld, sein bester Freund, verläßt ihn zuerst und
geht nicht mit ihm. Seine Verwandten und Freunde begleiten
ihn bis zur Tür des Grabes und kehren wieder in ihre Häuser
zurück. Der dritte, den er im Leben oft am meisten vergaß, sind
seine wohltätigen Werke. Sie allein begleiten ihn bis zum
Throne des Richters; sie gehen voran, sprechen für ihn und
finden Barmherzigkeit und Gnade.
Johann Gottfried v. Herder.
28. Sprũoho.
Willst du dieh selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben;
willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz!
Wer den Besten seiner Zeit genug getan,
der hat gelebt für alle Zeiten.
Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben,
wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.
Im engen Kreis verengert sich der Sinn;
es wächst der Mensch mit seinen gröbern Zwecken.
Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.
Eriedrich v. Sohiller.
39
zn 5 29. Das Hufeisen. 2 2
2*
Wer sich nicht nach der Decke streckt,
dem bleiben die Fübe unbedeckt.
Tu nur das Rechte in deinen Sachen!
Das andre wird sich von selber machen.
Zwischen heut' und morgen liegt eine lange Prist;
lerne schnell besorgen, da du nech munter bist!
Es liebe sich alles trefflich schlichten,
könnte man die Sachen zweimal verrichten.
Wobhl unglückselig ist der Mann,
der unterläßt das, was er kann,
und unterfängt sich, was er nicht versteht;
kein Wunder, daß er zu Grunde geht.
Alles in der Welt läßt sich ertragen,
nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.
Der Mensch erfährt, er sei auch, wer er mag,
ein letztes Glück und einen letzten Tag.
Wer Gott ahnet, der ist hoch zu halten;
denn er wird nie im Schlechten walten.
Johann WVolfgang v. Goethe.
Tu, was jeder loben mübte,
wenn die ganze Welt es wübte;
tu es, dab es niemand weib,
und gedoppelt ist dein Preis.
Zu stehn in frommer Eltern Pflege,
weleh schöner Segen für ein Kind!
Ihm sind gebahnt die rechten Wege
die vielen schwer zu finden sind.
Friedrich Rũckert.
Ludwig Uhland
29. Das Rufeisen.
Als noch verkannt und sehr gering
unser Herr auf der Erde ging
und viele Jünger sich zu ihm fanden,
die sehr selten sein Wort verstanden,
1
zu e e 29. Das Hufeisen. * ꝛꝛ *
liebt' er sich gar über die Maben
seinen Hof zu halten auf den Straben,
weil unter des Himmels Angesicht
man immer besser und freier spricht.
Er lieb sie da die höchsten Lehreu
aus seinem heil'gen Munde hören;
besonders dureh Gleichnis und Exempel
macht er jeden Markt zum Tempel.
So schlendert er in Geistesrub'
mit ihnen einst einem Städtehen zu,
sah etwas blinken auf der Strab,
das ein zerbrochen Hufeisen was.
Pr sagte zu Sankt Peter drauf:
„Heb doch einmal das Eisen aufl“
Sanl. Peter war nieht aufgeräumt,
er hatte soeben im Gehen geträumt;
s0 was vom Negiment der Welt,
was eimnem jeden wohl gefällb —
dena im Kopf hat das keine Schranken —
. vwaren so seine liebsten Gedanken.
war der Fund ihm viel zu klein,
e müssen Kron' und Zepter sein;
abr wie sollt' er seinen Rücken
nacu einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
und tut, als hätt' er's nicht gehört.
Der Herr nach seiner Langmut drauf
hebt selber nun das Hufeisen auf
und tut aueh weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
geht er vor eines Schmiedes Tür,
dimmt von dem Mann drei Pfennig dafür,
und als sie über den Markt nun gehen,
gieht er daselbst schöne Kirschen stehen;
kauft ihrer so wenig oder so viel,
als man für einen Dreier geben vill,
die er sodann nach seiner Art
ruhig in seinem Armel aufbewahrt.
Nun ging's zum andern Tor hinaus
durech Wies' und Felder ohne Haus;
4
e 30. Der Engel von Augsburg.
aueh war der Weg von Baumen blob,
die Sonne schien, die Hit2' war grob,
so dab man viel an solcher Stätt
für einen Trunk Wasser gegeben hätt'.
Der Herr geht immer voraus vor allen.
läbt unversehens eine RKirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
als wenn es ein goldner Apfel wär';
das Beerlein schmeckte seinem Gaum'.
Der Herr nach einem kleinen Raum
ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
Sso läßt der Herr ihn seinen Rücken
gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit;
dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
„Tät'st du zur rechten Zeit dieh regen.
hätt'st du's bequemer haben mögen.
Wer geringe Dinge wenig acht't,
sich um gering're Mühe macht.“
Johann Wolfgang v. Goethe, nach Hans Sachs.
30. Der Engel von Augsburg.
In der Residenz zu München stand in seinem Arbeits—
zimmer hochaufgerichtet Herzog Ernst von Bayern und schaute
mit strengen Blicken, doch nicht ohne Liebe auf einen blühen—
den Jüngling, der am offenen Bogenfenster träumerisch in die
sinkende Sonne sah. Es war sein Sohn, der junge Herzog
Albrecht. „Du weißt, mein Sohn, daß unser erlauchtes Haus
Wittelsbach durch wiederholte Teilung seiner Länder sich ge—
schwächt hat und daß jede Unsicherheit in der Erbfolge einer
Linie nur zu sehr geeignet ist Zwistigkeit unter den verwandten
Fürsten zu erregen und Bürgerkrieg zu entfachen. Gerade die
Zukunft unserer Linie ruht nur auf zwei Augen. An dir ist
es nun, mein Sohn, durch ebenbürtige Heirat mich dieser Sorge
zu entheben. Die Tochter des Grafen von Württemberg habe
ich dir zur Gattin bestimmt. Der Himmel segne diesen Bund
und lasse durch ihn unser altes Geschlecht aufs neue blühen!“
Der junge Fürst unterdrückte einen Seufzer und wandte sich
mit Ehrfurcht dem stolzen Greise zu: „Ich weiß, mein Vater,
4
30. Der Engel von Augsburg. ꝛ e
was ich Euch, unserm Hause und dem Lande schuldig bin. Zwar
zieht mich keinerlei Neigung zu Elisabeth von Württemberg;
aber als Braut und Gattin sie in Ehren zu halten, wird mir
höchste Pflicht sein.“ Er küßte des Vaters Hand und verließ
ruhigen Schrittes das Gemach. Die Verlobung kam zustande.
Auf seinen wiederholten Reisen ins Schwabenland berührte
der junge, durch alle ritterlichen Tugenden ausgezeichnete
Bayernfürst öfters die Reichsstadt Augsburg. Im Jahre 1428
wurde dort ihm zu Ehren ein glänzendes Turnier abgehalten,
bei dem er selbst mehrere Lanzen brach und die stolzen Bürger
durch seine männliche Schönheit und leutselige Einfachheit
bezauberte. Während seines Aufenthaltes dortselbst erhielt er
die unerwartete Kunde von der Treulosigkeit seiner Braut, die
mit einem schwäbischen Grafen entflohen war. Dies mag ihn
wohl gekränkt, aber kaum tiefer verwundet haben, umsomehr,
als er in Augsburg ein Mädchen fand, dessen Anblick ihn mit
Liebe erfüllte. Es war Agnes Bernauer, die Tochter eines
Augsburger Baders. Wegen ihrer Schönheit, mit der sich die
herrlichsten Eigenschaften des Geistes und Gemütes paarten,
wurde sie allgemein der „Engel von Augsburg“ genannt.
Albrecht fand Gegenliebe bei dem holden Mädchen und war
fest entschlossen sich mit ihr ehelich zu verbinden. Seine ver—
trautesten Begleiter ließen es allerdings an ernsten Vorstel—
lungen nicht fehlen; aber er entgegnete ihnen: „Von meinem
Vater habe ich den unbeugsamen Willen, von meiner Mutter
den hohen Sinn für Schönheit und Tugend geerbt. Nichts
wird mich trennen von dem einzigen Mädchen.“ In der Stille
ließ er sich durch Priesters Hand mit Agnes verbinden und
führte sie dann auf sein Schloß Vohburg um hier in heimlicher
Zurückgezogenheit zu leben, hoffend, die geschlossene Verbin—
dung nach seines Vaters Tode offen kundgeben zu können.
Aber der schöne Bund konnte nicht lange verborgen bleiben.
Als Herzog Ernst davon erfuhr, kannte sein Zorn keine Grenzen.
Die Kinder aus einer solchen Ehe waren niemals zur Erbfolge
berechtigt und somit mußte die Münchener Linie des Hauses
Wittelsbach als ausgelöscht betrachtet werden. War dies schon
ein fürchterlicher Schlag für seinen Ehrgeiz, so kam dazu noch
die nur zu sehr begründete Besorgnis, daß nach seinem Tode
blutige Erbfolgekriege das Land verheeren würden.
Es war deshalb sein einziges Bestreben den verhaßten Bund
zu trennen. Der erste Schlag gegen den jungen Herzog geschah
zu Regensburg, wo dieser von der Teilnahme an einem Turnier
4.
2
2 * 22 30. Der Engel von Augsburg. 2 2 —
ausgeschlossen wurde, weil er eine Bürgerliche entführt habe
und dadurch seiner Ehre verlustig gegangen sei. Aber dieser
Schritt hatte nur zur Folge, daß Albrecht nun vor aller Welt
die schöne Agnes als seine ihm angetraute Gattin erklärte und
sie in die Burg zu Straubing brachte, wo er sie mit fürst—
lichem Glanze umgab.
Während seiner Abwesenheit wurde sie hier gefangen
genommen und in den Kerker geworfen. In jenen Zeiten
waren selbst die edelsten und frömmsten Menschen nicht frei
von Aberglauben und so war es nicht schwer die Meinung
zu verbreiten, der „Engel von Augsburg“ sei in Wahrheit eine
Hexe, ihre Schönheit ein Geschenk des Teufels die Menschen
zu berücken und zu verführen. Auch Richter fanden sich, welche
auf solche Anschauung ein Todesurteil gründeten. Unter unge—
heurem Zulauf des Volkes wurde die Unglückliche am 12. Oklo—
ber 1435 von der Brücke zu Straubing durch Henkershand in die
Donau geworfen, und als die Wellen, mitleidiger als Menschen,
sie ans Ufer zu tragen schienen, erfaßte ein Henker mit einer
langen Stange ihr goldenes Haar und stieß sie in die Tiefe.
Niemand vermag den Schmerz und die Verzweiflung
Albrechts zu schildern, als er das Unerhörte erfuhr. Er ver—
band sich in fessellosem Grimme mit seinen Vettern und über—
zog das Land seines Vaters mit Krieg. Erst nach Jahren, als
einsichtsvolle Freunde Macht über sein Gemüt gewannen, wurde
er ruhiger, zeigte sich zur Versöhnung geneigt und willigte ein
sich mit Anna von Braunschweig zu verbinden um den Bestand
seines Hauses zu sichern.
Auf offenem Schlachtfelde bei Straͤubing kam die Versöh—
nung zustande. In seinem fürstlichen Zelte, umgeben von Rittern
und Dienern, saß Herzog Ernst, gebrochen an Leib und Seele.
Da vernahm er hallenden Hufschlag, die Zeltdecke öffnete sich
und klirrenden Schrittes trat Albrecht ein. Stumm, ohne Gruß
stand er vor dem Vater. Endlich nahm der Alte das Wort.
„Mein Sohn! Ich habe dir großes Leid zugefügt. Ich bedaure
es; aber ich bereue es nicht; denn es mußte sein. Gern und
offen erkenne ich nunmehr die Tote als deine rechtmäßige Gattin
an und ich entblöße hiermit das Haupt bei ihrem Angedenken.
An der Stelle, wo die Wellen sie ans Land getragen haben,
will ich zur Sühne eine Kapelle bauen lassen und eine Messe
für ewige Zeiten stiften. Du aber, Sohn, nimm dieses Zepter
und regiere Bayern; denn ich selbst begehre im Kloster Andechs
meine Tage in Andacht und Buße zu beschließen. Sei glück—
44
—
543
31. Philippine Welser. ꝛꝛ 2 5
licher, als ich gewesen!“ Gerührt trat Albrecht näher: „Mein
Vater! Du hast mir mein Teuerstes geraubt und in deinem
Wahne eine Unschuldige schwer gerichtet. Doch wenn die Edle
jetzt zwischen uns treten könnte, würde sie, ich weiß es, zum
Frieden mahnen und so will auch ich die Hand zur Versöhnung
nicht weigern. Aber eines sollt ihr noch hören, ihr und alle
Welt: Agnes Bernauer war mir ebenbürtig, und hätte das
Schicksal es uns vergönnt, so wäre sie, die man den „Engel von
Augsburg“ nannte, der „Engel Bayerns“ geworden.“
Hans Nagel.
31. Bhilippine Welser.
Im Söller eines Hauses auf dem alten Heumarkt zu
Augsburg sitzt ein dunkeläugiges Mädchen. Es liest in einem
kleinen Buche. Da erschallt plötzlich Lärm; man hört Hufschlag
und Hundegebell. Das Mädchen legt das Büchlein beiseite und
blickt in den geräumigen Hof. Ein Warenzug ist über den
Brenner, die alte Landstraße aus Italien, gekommen. Die
Fuührer nehmen den Pferden die schweren Ballen ab; das Gesinde
eilt herbei, der Hausvogt bringt einen Labetrunk zum Willkomm
und nun geht's an ein Zurufen und Grüßen, Fragen und
Antworten.
Das Mägdlein sieht zu und vernimmt über die beschwerliche
Alpenreise so manches Wort, das in seinem Herzen lebhaftes
Echo findet. Ach, wie sehnt es sich in diese Welt der Berge mit
den silbernen Gipfeln, grünen Matten, klaren Gewässern und
festen Straßen, auf webchen die Karawanen ihres Vaters dahin—
ziehen! Da mochte es heiterer aussehen als in den kalten
Mauern und engen Gassen der alten Reichsstadt.
„Philippine!“ rief es drinnen. Das Mädchen ward aus
seinem schönen Traume geweckt und verschwand von dem
Hausflur. Es ahnte wohl nicht, daß seine Sehnsucht nach der
Alpenwelt gestillt werden sollte. Allerdings mußte unterdessen
viel Wasser den Lech hinabeilen und manch wichtiges Ereignis
in das junge Leben des Mädchens bestimmend eingreifen.
Im Sommer 1547 rüstete man sich in Augsburg zu einem
vom Kaiser ausgeschriebenen Reichstag. Das brachte Leben und
Bewegung in die Stadt. Bereits am 23. Juli traf die Majestät
in glaäͤnzendem Zuge ein, ihr folgten die Kur- und Reichsfürsten,
sowie die Gesandten der Reichsstädte. Unter den hohen
Herrschaften befand sich auch König Ferdinands J1. Sohn, der
w6 —
2 22 2 22 2 32. Einer oder der andere. 22
junge Erzherzog Ferdinand. Dieser ritt täglich über den alten
Heumarkt und an dem Hause vorbei, wo der reiche Kaufmann
Franz Welser wohnte. Freundlich grüßend lüftete er jedesmal
den schmucken Federhut. Der Gruß galt Welsers holder und
sittsamer Tochter Philippine. Bald kam der junge Fürst auf
Besuch, gewann Philippine lieb und ließ sich zwei Jahre später
ohne Vorwissen seines Vaters mit ihr trauen. Man suchte die
Ehe geheimzuhalten; doch blieb sie nicht lange verborgen. Auch
an das Ohr des kaiserlichen Vaters drang die Nachricht von
dem Geschehenen. Der Erzherzog fiel bei ihm in Ungnade.
Lange und bange Jahre verstrichen, bis der Grimm des Kaisers
sich legte. Endlich verzieh er seinem Sohne und erhob dessen
Gemahlin zur Markgräfin von Burgau. Erzherzog Ferdinand
wurde 1563 Landesherr von Tirol und residierte als solcher
mit seiner edlen Gattin auf dem Schlosse Ambras bei
Innsbruck. Nun war Philippinens Mädchentraum erfüllt;
inmitten der prächtigen Alpenwelt verlebte sie wonnige Jahre
der Lust und Kunst. Ein Kranz von blühenden Kindern, die
ihr Gott schenkte, erhöhte ihr Glück. Wie ihrem hohen Gemahl
das Wohl seiner Untertanen am Herzen lag, so bemühte sie sich
die Tränen der Not und Armut zu trocknen. Einem Engel gleich
wurde sie von hoch und nieder verehrt. Doch die Rosenzeit des
Lebens flieht mit geflügelter Eile dahin! Es nahte der Frühling
1580. Der Schnee begann zu schmelzen und an den Berghängen
blühten Aurikeln und Anemonen. Philippine lag todkrank dar—
nieder. An ihrem Lager hatte sich eine große Anzahl bekannter
und befreundeter Personen eingefunden. Als ihr letztes Stünd—
chen gekommen war, zündete man die Tolenkerze an und hielt
sie in die Nähe der Sterbenden. Philippine küßte das Bildnis
des Gekreuzigten und mit den Worten: „Ich will bald bei dir
sein!“ entschlief sie im Herrn am 24. April 1580.
In der silbernen Kapelle zu Innsbruck, wo ihre irdische
Hülle gebettet liegt, steht ein herrliches Grabmal zu steter
Erinnerung an die liebreizende, tugendhafte Bürgerstochter
Philippine Welser von Augsburg.
Kasimir Rebele.
32. Einer oder der andere.
Es ist nichts lieblicher, als wenn bisweilen gekrönte Häupter
sich unerkannt zu dem gemeinen Manne herablassen, wie König
Heinrich der Vierte von Frankreich, sei es auch nur zu einem
gemütlichen Spaß.
46
z22 22 22 22: 1222 22 32. Einer oder der andere. 22 22 22 22522
Zu König Heinrichs des Vierten Zeiten ritt ein Bäuerlein
vom Lande her des Weges nach Paris. Nicht mehr weit von
der Stadt gesellte sich zu ihm ein anderer gar stattlicher Reiter,
welches der König war, und sein kleines Gefolge blieb absicht—
lich in einiger Entfernung zurück. „Voher des Landes, guter
Freund?“ — „Da und daher.“ — „Ihr habt wohl Geschäfte
zu Paris?“ — „Das und das; auch möchte ich gern unsern
guten König einmal sehen, der so väterlich sein Volk liebt.“ —
Da lächelte der König und sagte: „Dazu kann Euch heute Gelegen—
heit werden.“ — „Aber wenn ich nur wüßte, welcher er ist unter
den vielen, wenn ich ihn sehe!“ Der König sagte: „Dafür ist Rat.
Ihr dürft nur achtgeben, welcher den Hut allein auf dem
Kopfe behält, wenn die andern ehrerbietig ihr Haupt entblößen.“
Also ritten sie miteinander in Paris ein und zwar das
Bäuerlein hübsch auf der rechten Seite des Königs. Denn das
kann nie fehlen, was die liebe Einfalt Ungeschicktes tun kann,
sei es gute Meinung oder Zufall, das tut sie. Aber ein gerader,
unverkünstelter Bauersmann, was er tut und sagt, das tut
und sagt er mit ganzer Seele und sieht nicht um sich, was
geschieht, wenn's ihn nicht angeht. Also gab auch der unsrige
dem Könige auf seine Fragen nach dem Landbau, nach seinen
Kindern und ob er auch alle Sonntage ein Huhn im Topfe
habe, gesprächige Antwort und merkte lange nichts. Endlich
aber, als er doch sah, wie sich alle Fenster öffneten und alle
Straßen mit Leuten füllten und alles rechts und links auswich
und ehrerbietig das Haupt entblößt hatte, ging ihm ein Licht
auf. „Herr,“ sagte er und schaute seinen unbekannten Begleiter
mit Bedenklichkeit und Zweifel an, „entweder seid Ihr der König
oder ich bin's; denn wir zwei haben noch allein die Hüte
auf dem Kopf.“ Da lächelte der König und sagte: „Ich bin's.
Wenn Ihr Euer Rößlein eingestellt und Eure Geschäfte be—
sorgt habt, so kommt zu mir in mein Schloß. Ich will Euch
alsdann mit einem Mittagssüpplein aufwarten und Euch auch
meinen Ludwig zeigen.“
Von dieser Geschichte rührt das Sprichwort her, wenn
jemand in einer Gesellschaft aus Vergessenheit oder Unverstand
den Hut allein auf dem Kopfe behält, daß man ihn fragt: „Seid
ihr der König oder der Bauer?“
Johann Peter Hebel.
47
zꝛ 22 22 2 33. Der Steinerne Mann zu Augsburg. 23 22 2 3
33. Der Steinerne Mann zu Augsburg.
Während des unheilvollen 30jährigen Krieges hatte auch
die Reichsstadt Augsburg viel zu leiden. Besonders groß war
die Bedrängnis im Winter des Jahres 1634/35, als die Schwe—
den unter Johann Georg aus dem Winkel die Stadt besetzt
hielten. Der kaiserliche Generalfeldmarschall von Wahl, der be—
auftragt war die Schweden aus Süddeutschland zu verdrängen,
rückte mit seinem Heere vor die Stadt und belagerte sie mehrere
Monate. Doch die Schweden wollten Augsburg nicht so leichten
Kaufs preisgeben. Da aber aus den benachbarten Dörfern weder
Lebensmittel noch Futter zugeführt werden konnten und die
wenigen noch in Gewölben und Kellern verborgenen Vorräte
alle hervorgeholt und verzehrt worden waren, so stieg die Not
aufs höchste und die Belagerten sahen dem Hungertode ent—
gegen. Diese mißliche Lage war den Belagerern nicht unbe—
kannt geblieben und so erwartete der feindliche General stünd—
lich die Übergabe der Stadt.
In dieser Bedrängnis fand sich ein Retter; er war der
Bäcker Konrad Hackher, der sich der Stadt schon so manches
Mal durch seine klugen Einfälle dienstbar gemacht hatte.
Er nahm einen stattlichen Laib Brot, den letzten, der
noch unter die vielen Hungrigen zu teilen gewesen wäre,
stieg damit auf die Stadtmauer und zeigte ihn, lustig singend
und gemütlich dahinschreitend, den vor den Wällen lagernden
Kaiserlichen. über dieses höhnische Gebaren erzürnt und voll
Arger darüber, daß noch Vorräte in der Stadt sein sollten, rich—
teten die Feinde eine Feldschlange nach dem Verwegenen. Die
Kugel traf und riß ihm den Arm samt dem Brotlaib weg,
so daß er kurz darauf verschied. Weil die Feinde glaubten die
Stadt durch Aushungern nicht in ihre Hände bekommen zu
können, so zogen sie wenige Tage darnach ab. Die Tore wurden
wieder geöffnet, Getreide, Mehl und Schmalz in reichem Maße
zugeführt und damit neues Leben in die Stadt gebracht.
Die dankbaren Mitbürger vergaßen ihres Retters nicht.
Zum ewigen Gedenken ließen sie am Unteren Graben den
Steinernen Mann aufstellen mit dem weißen Käppchen auf
dem Kopfe und dem Brotlaibe unter dem Arme, wie er heutiges—
tags noch zu sehen ist.
Nach Schöppuner.
4
22 2222222 34. König Friedrich und sein Nachbar. 22 22
M
34. König Friedrich und sein Nachbar.
Friedrich der Große hatte acht Stunden von Berlin ein
schönes Lustschloß und war gerne darin, wenn nur nicht ganz
nahe dabei die unruhige Mühle gewesen wäre. Denn erstlich
stehen ein königliches Schloß und eine Mühle nicht gut neben—
einander, obgleich das Weißbrot auch in einem Schlosse nicht
übel schmeckt. Außerdem aber, wenn der König in seinen besten
Gedanken war und nicht an den Nachbar dachte, auf ein—
mal ließ der Müller seine Mühle klappern und dachte auch
nicht an den Herrn Nachbar und die Gedanken des Königs
störten zwar das Räderwerk der Mühle nicht, aber manchmal
das Klapperwerk der Räder die Gedanken des Königs. Der
geneigte Leser sagt: „Ein König hat Geld wie Laub; warum
kauft er dem Nachbar die Mühle nicht ab und läßt sie nieder—
reißen?“ Der König wußte warum; denn eines Tages ließ
er den Müller zu sich rufen. „Ihr begreift,“ sagte er zu ihm,
„daß wir zwei nicht nebeneinander bestehen können. Einer muß
weichen. Was gebt Ihr mir für mein Schlößlein?“ Der Müller
sagte: „Wie hoch haltet Ihr es, Herr Nachbar?“ Der König
erwiderte ihm: „Wunderlicher Mensch, so viel Geld habt Ihr
nicht, daß Ihr mir mein Schloß abkaufen könnt. Wie hoch haltet
Ihr Eure Mühle?“ Der Müller erwiderte ihm: „Gnädigster Herr,
so habt Ihr auch nicht so viel Geld, daß Ihr mir meine Mühle
abkaufen könnt. Sie ist mir nicht feil.“ Der König tat zwar
ein Gebot, auch das zweite und dritte; aber der Nachbar blieb
bei seiner Rede: „Sie ist mir nicht feil. — Wie ich darin
geboren,“ sagte er, „so will ich darin sterben, und wie sie
mir von meinem Vater erhalten worden ist, sollen meine Nach—
kommen sie von mir erhalten und auf ihr den Segen ihrer
Vorfahren ererben.“ Da nahm der König eine ernsthafte Sprache
an: „Wißt Ihr auch, guter Mann, daß ich gar nicht nötig habe
viele Worte zu machen? Ich lasse Eure Mühle taxieren und
breche sie ab. Nehmt alsdann das Geld oder nehmt's nicht!“
Da lächelte der unerschrockene Mann, der Müller, und ent—
gegnete dem König: „Gut gesagt, Herr König, wenn nur das
Kammergericht in Berlin nicht wäre!“ nämlich, daß er es
wolle auf einen richterlichen Ausspruch ankommen lassen. Der
König war ein gerechter Herr und konnte überaus gnädig sein,
also daß ihm die Herzhaftigkeit und Freimütigkeit einer Rede
nicht mißfiel, sondern wohlgefällig war. Denn er ließ von dieser
Zeit an den Müller unangefochten und unterhielt fortwährend
Augsburger Lesebuch, VI. Kl .
49
C
—n — 35. Ein gutes Rezept. IIe—
mit ihm eine friedliche Nachbarschaft. Der geneigte Leser darf
aber schon ein wenig Respekt haben vor einem solchen Nachbar
und mehr noch vor einem solchen Herrn Nachbar.
Johann Peter Hebel.
35. Ein gutes Rezept.
In Wien war der Kaiser Joseph ein weiser und wohl—
tätiger Monarch, wie jedermann weiß; aber nicht alle Leute
wisfen, wie er einmal der Doktor gewesen ist und eine arme
Frau kuriert hat. Eine arme, kranke Frau sagte zu ihrem Büb—
lein: „Kind, hol' mir den Doktor, sonst kann ich's nimmer
aushalten vor Schmerz!“ Das Büblein lief zum ersten Doktor
und zum zweiten; aber keiner wollte kommen; denn in Wien
kostete ein Gang zu einem Patienten einen Gulden und der
arme Knabe hatte nichts als Tränen, die wohl im Himmel
für gute Münze gelten, aber nicht bei allen Leuten auf der
Erde. Als er aber zum dritten Doktor auf dem Wege war, fuhr
langsam der Kaiser in einer offenen Kutsche an ihm vorbei;
der Knabe hielt ihn für einen reichen Herrn ohne zu wissen, daß
es der Kaiser sei, und dachte: Ich will's probieren. „Gnädiger
Herr,“ sagte er, „wollt Ihr mir nicht einen Gulden schenken?
Seid so barmherzig!“ Der Kaiser dachte: Der faßt's kurz und
denkt, wenn ich den Gulden auf einmal bekomme, so brauch'
ich nicht sechzigmal um den Kreuzer zu betteln. „Tut's ein
Käsperlein *) oder zwei Vierundzwanziger nicht auch?“ fragte
ihn der Kaiser. Das Büblein sagte: „Nein,“ und offenbarte
ihm, wozu er des Geldes benötigt sei. Also gab ihm der Kaiser
den Gulden und ließ sich genau von ihm beschreiben, wie seine
Mutter heiße und wo sie wohne. Und während das Büblein
zum dritten Doktor springt und die kranke Frau daheim betet,
der liebe Gott wolle sie doch nicht verlassen, fährt der Kaiser
zu ihrer Wohnung und verhüllt sich ein wenig in seinen Mantel,
also daß man ihn nicht recht erkennen konnte, wer ihn nicht
besonders darauf ansah. Als er aber zu der kranken Frau in
ihr Stüblein kam, wo es recht leer und betrübt aussah, meinte
sie, es sei der Doktor, und erzählte ihm ihren Umstand und
wie sie noch so arm dabei sei und sich nicht recht pflegen könne.
Der Kaiser sagte: „Ich will Euch jetzt ein Rezept verschreiben,“
und sie sagte ihm, wo des Bübleins Schreibzeug sei. Also schrieb
*)—ü eine tleine Münze ⸗ 1,15 M.
— 50—
ꝛ* 2 36. Wie der Tierarzt von Brunnenfeld seine Buben studieren lehrte. 2 3
er das Rezept und belehrte die Frau, in welche Apotheke sie es
schicken müsse, wenn das Kind heimkommt, und legte es auf
den Tisch. Als er aber kaum eine Minute fort war, kam der
rechte Doktor auch. Die Frau verwunderte sich nicht wenig, als
sie hörte, er sei auch der Doktor, und entschuldigte sich, es sei
schon einer dagewesen und habe ihr etwas verordnet und sie
habe nur auf ihr Büblein gewartet. Als aber der Doktor das
Rezept in die Hand nahm und sehen wollte, wer bei ihr gewesen
sei und was für einen Trank oder was für Pillen er ihr ver—
ordnet habe, erstaunte er nicht wenig und sagte zu ihr: „Frau,
fürwahr, Ihr seid einem guten Arzte in die Hände gefallen;
denn er hat Euch fünfundzwanzig Dublonen *) verordnet beim
Zahlamt zu erheben und unten darunter steht „Josef“, wenn
Ihr ihn kennt. Ein solches Magenpflaster, solche Herzsalbe und
solchen Augentrost hätt' ich Euch nicht verschreiben können.“
Da tat die Frau einen Blick gen Himmel und konnte nichts sagen
vor Dankbarkeit und Rührung; das Geld aber wurde nachher
richtig ausbezahlt. Der Doktor verordnete ihr eine Mixtur
und durch die gute Arznei und Pflege, die sie sich jetzt verschaffen
konnte, stand sie in wenigen Tagen wieder auf gesunden Beinen.
Also hat der Doktor die kranke Frau kuriert und der Kaiser
die arme.
Johann Peter Hebel.
36. Wie der Tierarzt von Brunnenfeld seine Buben sludieren lehrte.
Der Tierarzt von Brunnenfeld war kein reicher Mann;
denn seine Kunden lebten viel zu vernünftig um oft und lange
krank zu sein. Das schöne, grüne Feld bot ihnen gesunde Nahrung
und der frische Quellbrunn den besten Trank von der Welt. Sie
fraßen selten zu viel und über den Durst zu trinken, das war
schon ganz und gar gegen ihre Natur. Ihren Körper härteten
sie gegen die Unbilden der Witterung so ab, daß sie nicht jedes
Lüftchen zu scheuen brauchten wie manche Stadtleute. Auch
machten sie sich täglich so viel Bewegung, daß ihre Glieder
geschmeidig und ihre Muskeln stramm blieben und der Magen
sich's nicht einmal im Traume einfallen ließ die Arbeit ein—
zustellen. So waren denn in der achtbaren Familie Roß und
Ochs schwere Krankheit und langes Siechtum beinahe unerhört
und nur des Arztes Geldbeutel litt an der Schwindsucht. Wie
nun schon die guten Eltern sind, sie wollen mit den Kindern
höher hinaus; sie möchten, daß es den Sprößlingen besser gehen
) Dublone ⸗ü spanische Goldmũünze —ß 15 M.
1
5
43
z220 36. Wie der Tierarzt von Brunnenfeld seine Buben studieren lehrte. 3
solle als dem alten, narbigen Stamme. So war der Tierarzt
von Brunnenfeld auch. Als daher seine zwei Buben, der Leo
und der Barthle, für die Volksschule allgemach zu gzescheit
wurden, da schnürte der Vater zwei Ränzlein und pilgerte eines
Morgens mit seinen angehenden Gelehrten in die Studierstadt,
wo man die Advokaten macht und die Pfarrer und die Menschen—
ärzte und allerlei vornehme Beamte mit goldenen Achseln und
silbernen Sternen. Als er die Buben an- und untergebracht
hatte, da machte er ihnen ein Kreuz auf die Stirne, ging wieder
heim und streckte sich in Gottes Namen nach der Decke oder
zog vielmehr die Füße gegen die Brust; denn die Decke war jetzt
noch um ein gut Teil kürzer, weil das Studieren nicht umsonst
ist. Auch Mutter und Schwestern darbten und hatten den Brot—
korb zu oberst an der Wand hängen. Doch wär' ihnen alle Not
lieb und wert gewesen, wenn nur die Studierbuben wirklich
studiert hätten. Als die aber in die Flegeljahre kamen, wo sich
die ersten Härlein auf den Lippen zeigen und die Stimme rauh
wird, da nahmen sie vom Vater weiter nichts mehr an als das
Geld und von den Lehrern nichts als die schulfreien Tage. Sie
schlugen alle Ermahnungen und Zurechtweisungen in den Wind
und das Lernen war ihnen gerade so lieb wie der Katze das
Honigschlecken. Der Barthle zog und drehte den ganzen Tag
an seinem Milchbarte herum und rauchte Zigarren, bis er käsig
wurde im ganzen Gesichte; der Leo ließ sich eine Mähne wachsen
bis über die Schultern hinab und warf die blutigen Kreuzer, die
sich die Eltern und Schwestern vom Munde absparten, seinem
liebwerten Herrn Vetter, dem „Goldenen Löwen“, in den Rachen.
Dies trieben die zwei Nichtsnutze so lang, bis sie's schriftlich
erhielten, mit dem Talent allein sei's noch lange nicht getan
beim Studieren, und bis dem Vater der Geduldsack mitten ent—
zweibarst. Dieser Vater aber wußte von seinem Geschäfte her,
wie man ein unbändig wildes Roß behandeln müsse. Er dachte
sich also: Hat's nicht wollen flecken in Karlsruhe oder Friedberg,
nun so versuchen wir's einmal in Stockach oder Schopfheim;
haben die Haderlumpen nicht gut getan im Essen, so werden sie
vielleicht mürbe werden in der Hungerburg; ist ihnen zu wohl
gewesen in Freudental, so haben wir in Leiden auch noch eine
gute Schule, in die schon viele Taugenichtse hinein- und aus der
schon oft gar tüchtige Leute herausgegangen sind. So dachte
der Vater und gab den Barthle zu einem Schuster in die Lehre
und den Leo zu einem Ziegelbrenner. Und nun hatten die guten
Tage ein Ende.
52
z2ꝛ 36. Wie der Tierarzt von Brunnenfeld seine Buben studieren lehrte. ꝛꝛ 3
Der Barthle mußte von Sonnenaufgang bis in die sinkende
Nacht hinein Kinder wiegen, Sohlen klopfen, Pechdraht ziehen
und Schuhe austragen und der Knieriemen hatte wieder einmal
Fastnacht; denn er sang, so oft es ihm beliebte, und tanzte Tag
für Tag gar lustige Hopser und Walzer. Und der Leo wurde
geschoren bis auf die Haut und verlor Schuhe und Strümpfe
und so mußte er Lehm kneten und Ziegel formen im heißen
Sonnenbrande den lieben langen Tag und das Feuer des Ofens
unterhalten die liebe lange Nacht. Und sein Lehrmeister war
mit der Peitsche so ungeschickt, daß er statt der Ochsen, welche
die Knetscheibe drehten, regelmäßig den Lehrbuben traf, aber
gut geschmalzen und gesalzen.
Fanden sich aber der Tierarzt und der Schuster und der
Ziegelbrenner hier und da beim „Stern“ zusammen, dann nickten
und blinzelten sie sich verständnisvoll zu und stießen mit ihren
Deckelkrüglein an. Der Schuster sagte: „Der Knieriemen und
der Barthle, die werden bald mürbe!“ Darauf der Ziegler:
„Der Lehm und der Leo, die sind, mir scheint, bald weich genug!“
Und zuletzt der Tierarzt: „Ich hoffe das Beste und spart mir
die Strenge nicht! Ihr wißt ja, ich habe meine Buben gerne
und will etwas Tüchtiges aus ihnen machen. Das Studieren
will auch gelernt sein, hat mir ein Professor gesagt; sorgt ihr
dafür, daß sie's bald können!“ Und sie tranken und gingen heim
und taten ihr Bestes.
Und als so ein Jahr ins Meer der Ewigkeit geflossen war,
dreihundertfünfundsechzig Tröpflein, alle vierundzwanzig Stun—
den eines, und als die Studierschule wieder von vorn anfing,
da schnürte der Vater eines Abends wiederum zwei Ränzlein
und pilgerte eines Morgens mit seinen Sprößlingen wiederum
in die Studierstadt und brachte sie gut unter in Schule und
Kost. Bevor er sich aber heimwärts wandte, sagte er bloß: „Jetzt,
Buben, jetzt will ich lugen, ob ihr studieren gelernt habt! Geht's
jetzt, ist's recht; geht's nicht, ist's auch recht. Behüt' euch Gott!“
Und ob's ging! Jedes halbe Jahr kamen sie mit vorzüg—
lichen Zeugnissen daher und heute ist der Barthle ein Menschen—
arzt und der Leo ein furchtbar gescheiter Professor. Ich kenne
beide und es freut mich, daß sie das Andenken ihres Vaters
ehren und segnen durch Wort und Tat.
Joseph Wichner.
53
22 317 Rannitverstan ꝛꝛ ꝛ ee e 2222
37. Kannitverstan.
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit Betrachtungen
über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn
er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksale, wenn
auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herum—
fliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein deutscher
Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahr—
heit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in die große und
reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe
und geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm sogleich ein
großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner
ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis nach Amsterdam noch
keines gesehen hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung
dieses kostbare Gebäude, die Kamine auf dem Dache, die schönen
Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters
Haus daheim die Tür. Endlich konnte er sich nicht enthalten
einen Vorübergehenden anzureden. „Guter Freund,“ redete er
ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem
dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tuli—
panen, Sternenblumen und Levkojen?“ Der Mann aber, der
vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte und zum Unglück
gerade so viel von der deutschen Sprache verstand als der
Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz:
„Kannitverstan!“ und schnurrte vorüber. Dies war ein hol—
ländisches Wort oder drei, wenn man's recht betrachtet, und
heißt auf deutsch so viel als: Ich kann Euch nicht verstehen!
Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes,
nach dem er gefragt hatte. Das muß ein grundreicher Mann
sein, der Herr Kannitverstan, dachte er und ging weiter.
Gaßaus, gaßein kam er endlich an den Meerbusen, der
da heißt: Het Ey oder auf deutsch: Das Ypsilon. Da stand nun
Schiff an Schiff und Mastbaum an Mastbaum und er wußte
anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen
durchfechten werde alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen
und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff seine Auf—
merksamkeit auf sich zog, das vor kurzem aus Ostindien an—
gelangt war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen
ganze Reihen von Kisten und Ballen auf- und nebeneinander
am Lande. Noch immer wurden mehrere heraufgewälzt und
Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer. Als er
aber lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben
54
z23 22 z 37. Kannitverstan. 5*
eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann
heiße, dem das Meer alle diese Waren an das Land bringe.
„Kannitverstan!“ war die Antwort. Da dachte er: Haha,
schaut's da heraus? Kein Wunder, wem das Meer solche
Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut solche Häuser
in die Welt zu stellen und solcherlei Tulipanen vor die Fenster
in vergoldeten Scherben.
Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige
Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Mensch
sei unter so vielen reichen Leuten in der Welt. Aber als er
eben dachte: Wenn ich's doch auch einmal so gut bekäme,
wie dieser Herr Kannitverstan es hat, kam er um eine Ecke
und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarzvermummte
Pferde zogen einen ebenfalls schwarzüberzogenen Leichenwagen
langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten
in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und
Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar an Paar, ver—
hüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein
einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein weh—
mütiges Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht,
wenn er eine Leiche sieht, und er blieb mit dem Hute in den
Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war. Dann machte
er sich an den letzten vom Zuge, der eben in der Stille aus—
rechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn
der Zentner um zehn Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am
Mantel und bat ihn treuherzig um Entschuldigung. „Das muß
wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein,“ sagte er,
„dem das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt und nachdenklich
mitgeht.“ „Kannitverstan!“ war die Antwort.
Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen
aus den Augen und es ward ihm auf einmal schwer und wieder
leicht ums Herz. „Armer Kannitverstan!“ rief er aus, „was
hast du nun von all deinem Reichtum? Was ich einst von meiner
Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch und
von all deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf
die kalte Brust oder eine Raute.“ Mit diesen Gedanken be—
gleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab,
sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine
Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von
der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deut—
schen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er leichten Herzens
mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo
4
5
z2ꝛ ae eaeee ee eeeee 38. Der geheilte Patient. 5
man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger
Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte,
daß so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm,
da dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amster—
dam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an
sein enges Grab. Johann Peter Hebel.
38. Der geheilte Balient.
Reiche Leute haben trotz ihrer gelben Vögel doch manch—
mal auch allerlei Lasten und Krankheiten auszustehen, von denen
gottlob der arme Mann nichts weiß; denn es gibt Krankheiten,
die nicht in der Luft stecken, sondern in den vollen Schüsseln
und Gläsern und in den weichen Sesseln und seidenen Betten,
wie jener reiche Amsterdamer ein Wort davon reden konnte.
Den ganzen Vormittag saß er im Lehnstuhle und rauchte Tabak,
wenn er nicht zu träge war, oder hatte Maulaffen feil zum
Fenster hinaus, aß aber zu Mittag doch wie ein Drescher und
die Nachbarn sagten manchmal: „Windet's draußen oder
schnauft der Nachbar so?“ Den ganzen Nachmittag aß und
trank er ebenfalls, bald etwas Kaltes bald etwas Warmes,
ohne Hunger, aus lauter Langweile, bis an den Abend, so
daß man bei ihm nie recht sagen konnte, wo das Mittagessen
aufhörte und das Abendessen anfing. Nach dem Abendessen
legte er sich ins Bett und war so müde, als wenn er den
ganzen Tag Steine abgeladen oder Holz gespalten hätte.
Davon bekam er einen dicken Leib, der so unbeholfen war
wie ein Maltersack. Essen und Schlaf wollten ihm nimmer
schmecken und er war lange Zeit, wie es manchmal geht, nicht
recht gefund und nicht recht krank; wenn man aber ihn selber
hörte, so hatte er 365 Krankheiten, nämlich alle Tage eine
andere. Alle Arzte, die in Amsterdam waren, mußten ihm
raten. Er verschluckte ganze Eimer voll Tränkchen und ganze
Schaufeln voll Pulver und Pillen wie Enteneier so groß und
man nannte ihn zuletzt scherzweise nur die zweibeinige Apo—
theke. Aber alle Arzneien halfen ihm nichts; denn er befolgte
nicht, was ihm die Arzte befahlen, sondern sagte: „Tausend!
wofür bin ich ein reicher Mann, wenn ich soll leben wie ein
Hund, und der Doktor will mich nicht gesund machen für mein
Geld!“
Endlich hörte er von einem Arzte, der 100 Stunden weit
weg wohnte, der sei so geschickt, daß die Kranken gesund würden,
wenn er sie nur recht anschaue, und der Tod gehe ihm aus
— 6 —
2 2222 222 38. Der geheilte Patient. 22 ꝛ 2 ee
dem Wege, wo er sich sehen lasse. Zu dem Arzte faßte der
Mann Zutrauen und schrieb ihm seinen Zustand.
Der Arzt merkte bald, was ihm fehle, nämlich nicht Arznei,
sondern Mäßigkeit und Bewegung, und sagte: „Wart', dich will
ich bald kuriert haben!“ Deswegen schrieb er ihm ein Brief—
lein folgenden Inhalts: „Guter Freund! Ihr habt einen schlim—
men Umstand; doch wird Euch zu helfen sein, wenn Ihr folgen
wollt. Ihr habt ein böses Tier im Bauche, einen Lindwurm
mit sieben Mäulern. Mit dem Lindwurme muß ich selber reden
und Ihr müßt zu mir kommen. Aber fürs erste dürft Ihr nicht
fahren oder auf dem Rößlein reiten, sondern auf des Schuh—
machers Rappen; sonst schüttelt Ihr den Lindwurm und er
beißt Euch die Eingeweide ab, sieben Därme auf einmal ganz
entzwei. Fürs andre dürft Ihr nicht mehr essen als zweimal
des Tages einen Teller voll Gemüse, mittags ein Bratwurstlein
dazu und abends ein Ei und am Morgen ein Fleischsüpplein
mit Schnittlauch drauf. Was Ihr mehr esset, davon wird nur
der Lindwurm größer, also daß er Euch die Leber erdrückt,
und der Schneider hat Euch nimmer viel anzumessen, aber der
Schreiner. Dies ist mein Rat, und wenn Ihr mir nicht folgt,
so hört Ibr im andern Frühjahr den Kuckuck nimmer schreien.
Tut, was Sr wollt!“
Als der Kranke so mit sich reden hörte, ließ er sich sogleich
die Stiefel salben und machte sich auf den Weg, wie ihm der
Doktor befohlen hatte. Den ersten Tag ging es so langsam,
daß wohl eine Schnecke hätte sein Vorreiter sein können, und
wer ihn grüßte, dem dankte er nicht, und wo ein Würmlein
auf der Erde kroch, das zertrat er. Aber schon am zweiten und
dritten Morgen kam es ihm vor, als wenn die Vögel schon
lange nicht so lieblich gesungen hätten wie heute, und der Tau
schien ihm so frisch und die Kornrosen schienen ihm so rot
und alle Leute, die ihm begegneten, sahen so freundlich aus
und alle Morgen, wenn er aus der Herberge fortging, war's
schöner und er ging leichter und munterer dahin. Und als
er am achtzehnten Tage in der Stadt des Arztes ankam und
den andern Morgen aufstand, war es ihm so wohl, daß er
sagte: „Ich hãätte zu keiner ungeschickteren Zeit können gesund
werden als jetzt, wo ich zum Arzte soll. Wenn mir's doch ein
wenig in den Ohren brauste oder das Herzwasser mir liefe!“
Als er zum Arzte kam, nahm dieser ihn bei der Band und
sagte zu ihm: „Jetzt erzählt mir noch einmal von Grund aus,
was Euch fehlt!“ Da sagte er: „Herr Doktor, mir fehlt gott—
57
2 22 22 e 2 22 39. Der Wegweiser.
lob nichts, und wenn Ihr so gesund seid wie ich, so soll mich's
freuen.“ Der Doktor sagte: „Das hat Euch ein guter Geist
geraten, daß Ihr meinem Rate gefolgt seid. Der Lindwurm
ist jetzt abgestanden. Aber Ihr habt noch Eier im Leibe; des—
wegen müßt Ihr wieder zu Fuß heimgehen und dann fleißig
Holz sägen und nicht mehr essen, als Euch der Hunger ermahnt,
damit die Eier nicht ausschlüpfen — so könnt Ihr ein alter
Mann werden!“ und lächelte dazu. Aber der reiche Fremd—
ling sagte: „Herr Doktor, Ihr seid ein feiner Kauz und ich
versteh' Euch wohl,“ und hat nachher dem Rate gefolgt und
hat 87 Jahre 4 Monate 10 Tage gelebt, wie ein Fisch im
Wasser so gesund, und hat alle Neujahr dem Arzte 20 Gold—
stücke zum Gruß geschickt. Johann Peter Hebel.
39. Der Wegweiser.
1. Weibt, wo der Weg zum Mehlfab ist?
zum vollen Fab? — Im Morgenwind
am Pflug durehs Feld, bis Stern um Stern
am Himmel aufgegangen sind.
2. Man sieht nicht um und bleibt nicht stehn
und hackt, solang der Tag noch da.
Zur Scheune dann, zur Küche dann
und sieh, da haben wir es ja!
3. Weißt, wo der Weg zum Taler ist?
Der geht dem Pfennig hinterher,
und wer nicht auf den Pfennig sieht,
bekommt den Taler nimmermehr.
4. WMo ist der Weg zur Sonntagslust?
Geh hübsch dem Werkeltage nach
die Werkstatt dureh, durchs Ackerfeldl
Der Sonntag kommt von selbst danach.
5. Am Samstag ist er nicht mehr weit,
was deckt er wohl im Körbcechen zu?
Ich denk' mir: Fleisch zum Sonntagskohl,
vielleicht ein Schöppcehen Wein dazu.
6. Weißt, wo der Weg zur Armut geht?
Wo Schenken sind, da sieh nur hin!
Geh nicht vorbeil 's ist guter Wein,
sind nagelneue Karten drin.
58 —
zꝛ e ee z 39. Der Wegweiser. 22 22 22 32 558
7. Im letzten Wirtshaus hängt ein Sack,
und gehst du fort, so häng' ihn an!
Du alter Lump, wie steht dir nicht
der Bettelsack so zierlich an!
8. Findst auch ein Schüsselechen von Holz,
verlier es nicht und, was ich bitt',
wenn du beim Wasser gehst vorbei
und trinken willst, so schöpf' damit!
9. Wo geht der Weg zu Fried' und Ehr',
zu einem guten Alter hin?
Gradaus, gradaus in Mabigkeit,
in Pflicht und Recht mit stillem Sinn!
10. Und wenn du an dem Kreuzweg stehbst
und weibt niebt mehr, wo aus, wo ein:
Halt stilll frag' dein Gewissen erst,
s kann Deutseh, gottlobl Drum folg' ihm fein!
14. Wo mag der Weg zum Kirchhof sein?
Was fragst du noeh, du liebe Seel'?
Geh, wo du willst! Zum kühlen Grund
führt jeder Weg, du gehst nicht fehl!
12. Doch wandle du in Gottesfurcht!
Das iet mein guter Rat dabei.
Der Ort hat ein geheimes Tor,
dahinter gibt's noch mancherlei!
Johann Peter Hebol.
0
Bild zu Lesesrück Ar. 40: Des Knaben Berglied
III. Aus fremden Landen.
40. Des ERnaben Berglied.
1. Ich bin vom Berg der Hirtenknab',
seh' auf die Schlösser all' herab.
Die Sonne strahlt am ersten hier,
am längsten weilet sie bei mir.
Ich bin der Knab' vom Berge!
2. Hier ist des Stromes Mutterhaus;
ich trink' ihn frisch vom Stein heraus.
Er braust vom Fels in wildem Lauf;
ich fang' ihn mit den Armen auf.
Ich bin der Knab' vom Bergel!
3. Der Berg, der ist mein Eigentum;
da zieh'n die Stürme ringsherum,
und heulen sie von Nord und Süd,
so ũberschallt sie doch mein Lied.
Ich bin der Knab' vom Bergel
30
e 41. Der Vierwaldstättersee. ꝛ
4. Sind Blitz und Donner unter mir,
s0 steh' ich hoch im Blauen hier;
ich kenne sie und rufe zu:
Labt meines Vaters Haus in Rub'!
leh bin der Knab' vom Berge!
5. Und wann die Sturmglock' einst erschallt,
maneh Feuer auf den Bergen wallt,
dann steig' ich nieder, tret' ins Glied
und sehwing' mein Schwert und sing' mein Lied.
leh bin der Knab' vom Bergel
Ludwig Ubland.
41. Der Vierwaldslätlersee.
Einer der herrlichsten Alpenseen ist der Vierwaldstättersee,
der, von mächtigen Berghäuͤptern umschlossen, seinen viel—
armigen Spiegel nach allen Richtungen hin ausdehnt. Er ist
alljährlich das Reiseziel von Tausenden fremder Wanderer und
noch keiner, der ihn gesehen, konnte sich dem Zauber seiner
landschaftlichen Reize entziehen.
Von allen Seiten fließen ihm Bäche und rauschende Ge—
wässer zu, welche alle ihren gemeinsamen Abfluß in der Reuß
finden, die sich raschen Laufes landabwärts dem Rheine zu—
wendet. Da, wo sie smaragdgrün und kristallhell dem See
entströmt, liegt Luzern, von der Landseite her durch eine mit
mittelalterlichen Wachttürmen gezierte Mauer umschlossen. So
bescheiden sich die Stadt mit ihren engen Gassen ausnimmt,
o hat doch die Lage an dem herrlichen See im Angesichte der
schneebedeckten Alpen sie zu einem Hauptanziehungspunkte für
Fremde gemacht. Das beweisen die stattlichen Gasthäuser mit
den wunderhübschen Gartenanlagen am Seeufer und die zier—
lichen Pensions⸗ und Landhäuser, die über die sanft ansteigen—
den Hügel zerstreut sind und herrliche Ausblicke gewähren.
Fahren wir auf einem der behaglich eingerichteten Dampfer
hinaus in das blaue Gewässer! Man sieht es der Gegend an,
daß der Landmann hier nicht unter der schweren Arbeit des
Ackerbaues keucht. Sein Haus liegt inmitten grüner Matten
und ausgedehnter Baumgärten, deren Ertrag ihm die Natur
freundlich entgegenbringt. Vom Kreuztrichter aus, einem
großen, freien Wasserspiegel, dehnt sich der Küßnachtersee
nach Nordosten, der Alpnachsee nach Südwesten. Die schön—
61
ꝛ2ꝛ 25 52 41. Der Vierwaldstättersee. 23 2 2 22 *
bewaldeten Abhänge des Rigi umsäumen den erstern an seiner
Südseite, während am Ufer des letzteren der trotzige Fels—
koloß des sagenumwobenen Pilatus seine zerrissenen kahlen
Hörner in die Wolken streckt und seinen düstern Schatten über
das blaue Gewässer wirft. Auf beide Berge führen jetzt Eisen—
bahnen, die in kühnem Aufstieg die Gipfel gewinnen. Oben
stehen großartige Gasthäuser und an schönen Sommertagen
wimmelt es von Besuchern, die sich der entzückenden Aussicht
erfreuen.
Seeaufwärts trägt uns der Dampfer in das herrliche Becken
von Weggis und dann durch eine Enge in den See von Gersau.
Im Süden lugen jetzt einzelne Schneespitzen über die waldigen
Vorberge. Das schöne Schweizerdorf Gersau liegt auf einem
fruchtbaren Landstreifen, zu dem nur der warme Südwind Zu—
tritt hat, so daß hier fast italienisches Klima herrscht und süd—
ländische Pflanzen in seltener Üppigkeit gedeihen. Weiter geht
die Fahrt nach Osten. Da rücken die Schwyzer und Urner Berge
hart aneinander, als ob sie den See einschließen würden. Aber
in scharfer Biegung geht es um die Ecke und vor uns schiebt
sich der See weiter hinein nach Süden zwischen himmelanstre⸗
benden Felsen. Hier scheinen die Wasser des Sees fest und
sicher zu ruhen. Und in der Tat, wenn man an einem schönen
Sommerabende von einer Uferhöhe auf die tiefblaue, spiegel⸗
glatte Fläche hinunterblickt, da gemahnt es uns an das Sied
in Schillers Tell: „Es lächelt der See, er ladet zum Bade.“
Ganz anders wird aber das Bild, wenn sich der wilde Föhn⸗
wind vom Gotthard herunter in ungebändigter Wut auf den
See wirft. Da peitscht er unter Heulen und Brüllen die schaum—
gekrönten Wellen an den Felsen empor, daß der weiße Gischt
wie Nebeldunst an den Ufern dahinzieht. Am Eingange
in den Urnersee liegt links die altberühmte Uferstation
Brunnen. Jahrhundertelang war es der Stapelplatz für die
Waren, die über den Gotthard nach Italien oder von dort
nach den deutschen Landen gingen. Es führte kein Weg an
dem felsigen Ufer des Urnersees entlang. Menschen und Güter
mußten zu Schiff nach Flüelen gebracht werden, wo der Gott—
hardweg seinen Anfang nimmt. Im Jahre 1864 ist am öst—
lichen Üfer eine herrliche Kunststraße, die Axenstraße, angelegt
worden. Sie wurde in einer Länge von 14 Em teilweise in
die senkrecht zum See abstürzende Felswand gebrochen, hat
Galerien und durch seitliche Offnungen bietet sie dem Auge
prachtvoll eingerahmte Bilder der wundervollen Landschaft.
62
zꝛ 2 442. Lieder aus „Wilhelm Tell. 2 2 2
Wir setzen unsere Fahrt zu Schiffe fort. Zur Rechten er—
hebt sich frei aus dem Wasser ein Felsblock, der Mythenstein.
Er trägt in großen, vergoldeten Lettern weithin sichtbar die
einfache Inschrift: „Dem Sänger Tells, Friedrich Schiller, die
Urkantone 1859.“ An dem nahen Ufer liegt heimlich im Gehölz
eine Matte, die heiligste Stätte des Schweizertums, das Rütli.
Hier leisteten in einer Novembernacht des Jahres 1307 Walter
Fürst, Werner Stauffacher und Arnold von Melchthal mit 30 Ge—
sinnungsgenossen den Bruderschwur ihr Land aus der Hand
der habsburgischen Vögte zu befreien.
Das Dampfboot bringt uns zur hübschen, mit schönen Ge—
mälden geschmückten Kapelle an der Tellsplatte, wo Tell aus
dem Schiffe Geßlers gesprungen sein soll. Kaum sind wir vor—
über, so zeigt sich das Ziel der Fahrt, Flüelen. Da hören wir
es dumpf im Felsgestein rollen und brausen, ein lauter Pfiff
ertönt, eine weiße Dampfwolke wallt auf — ein Eisenbahn—
zug bricht aus dem Felsen hervor um rasch wieder im Schoße
des Gebirges hart über den Wellen zu verschwinden. Es ist
der Gotthardzug, der nach dem sonnigen Süden eilt.
Michael Sommer.
42. Lioder aus „Wilhelm Tell“.
1. Fĩsceherknabe.
Es lächelt der See, er ladet zum Bade;
der Knabe schlief ein am grünen Gestade.
Da hört er ein Klüngen,
wie Flöten so sũb,
wie Stimmen der Engel
im Paradies.
Und wie er erwachte in seliger Lust,
da spũulen die Wasser ihm um die Brust
und es ruft aus den Tiefen:
„Lieb' Knabe, bist mein!
Ich locke den Schläfer
und zieh' ihn herein.“
2 Hrt.
Ihr Matten, lebt wohl,
ihr sonnigen Weiden!
Der Hirte mub scheiden;
der Sommer ist hin.
82
22 2 2 43 Wien. 2
Wir fahren zu Berg; wir kommen wieder,
wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder;
wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
wenn die Brünnlein flieben im lieblichen Mai.
ur Matten, lebt wohl,
r sonnigen Weiden!
Der Senne mub scheiden;
der Sommer ist hin.
*
3. Alpenjäger.
Es donnern die Höhen, es zittert der Steg.
Nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg.
Er schreitet verwegen
auvf Feldern von Eis.
pranget kein Frũhling,
ia grũnet kein Reis.
Und unter den Füben ein neblichtes Meer,
erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr;
dureh den Rib nur der Wolken
erblickt er die Welt,
tief unter den Wassern
das grünende PFeld.
Friedrich v. Schiller.
43. Wien.
„'s gibt nur a Kaiserstadt,
's gibt nur a Wien“ —
so singt der Osterreicher von seiner Hauptstadt. Und er hat
recht; denn sie zeichnet sich nicht nur durch eine herrliche Lage,
durch großartige Bauwerke sondern auch durch ein eigenartiges,
fröhliches Volksleben aus.
Wien liegt in einer trefflich angebauten, sehr angenehmen
Gegend am rechten Ufer der Donau, deren Spiegel allezeit mit
einer großen Menge von Schiffen bedeckt ist. Im Norden der
Stadt bildet der Fluß mit seinen verschiedenen Armen mehrere
reizende Inseln, die mit schattenreichem Gehölz, herrlichen An—
lagen und prächtigen Gebäuden geschmückt sind. Im Westen
erblickt man einen kleinen Gebirgsrücken, aus einer Kette nied—
riger Berge gebildet, an und zwischen denen anmutige Wälder,
liebliche Weinpflanzungen, lachende Fluren, blühende Gärten
mit prachtvollen Landhäusern die angenehmste Abwechslung
— 64 —
2 22 22 22 2 48. Wien. 22 e ee ee eeee 2
darbieten. Im Osten eröffnet sich dem Mlicke eine unabseh—
bare Ebene, die sich bis nach Ungarn hin erstreckt. Im Süden
endlich begrenzen hohe, zum Teil mit Schnee bedeckte Berge
die weite Aussicht.
Wien hat großartige Bauwerke. Zu ihnen zählt der Ste—
phansdom. Er ist aus gewaltigen Sandsteinquadern auf—
getürmt. Ein Riesentor von 11 m Höhe und 9m Breite führt
in das Heiligtum. Die Decke wird von hochaufragenden Pfei—
lern getragen, die oben ihre Bogen und Gewölbrippen fächer—
artig ausbreiten und so eine mächtige Halle bilden. Zwischen
den Pfeilern strömt das Licht durch große Fenster ein, die sich
gleichfalls in hohe Bogen zuspitzen und mit mancherlei Figuren
geziert sind. Herrliche Bildsäulen schmücken das Gotteshaus.
Die Gestalten der Apostel und anderer frommen Männer schauen
von schlanken Pfeilern oder hohen Simsen nieder auf die an—
dächtige Menge. Der ganze Bau wird durch einen großartigen
Turm gekrönt, der sich gegen 140 m hoch in die Lüfte erhebt.
Wie eine gewaltige Tanne steigt dieser Turm empor. An Stelle
der Aste trägt er eine Menge Zacken und Spitzen an den Seiten.
Er ist von schönen Verzierungen durchbrochen, von Blumen—
gewinden aus Stein umschlungen und mit allerlei Bildwerk
und Wappen geschmückt. Auf ihm hängt eine Glocke, die
17 Tonnen wiegt. Sie ist aus eroberten türkischen Kanonen
gegossen worden. 16 Männer sind nötig um sie in Bewegung
zu sehen und stundenweit hört man ihren Klang.
Wer das eigenartige Volksleben Wiens kennen lernen will,
der braucht nur in den Prater zu gehen. Das ist ein unge—
heurer Lustgarten, der herrliche Wiesen, lange, schattige Alleen
uͤnd prächtige Waldpartien umfaßt. Er liegt in der Nähe der
Stadt auf einer großen Donauinsel. In der langen, von pracht—
vollen alten Bäumen beschatteten Hauptstraße fahren an schönen
Frühlings⸗ und Sommertagen Tausende von Wagen, in denen
geschmückte Damen und Herren, fröhliche Studenten, lachende
Kinder, Offiziere in glänzenden Uniformen dahinrollen. Wagen
folgt auf Wagen; wie eine glänzende, schimmernde Linie zieht
es an unserem Auge vorüber. Der eigentliche Tummelplatz
des Volkes ist der sogenannte Wurstelprater, der seinen Namen
von dem Hanswurst hat, der hier und da in seiner langen,
schmalen Bude zum Jubel der Kinder sein lustiges Spiel treibt.
Im Vurstelprater finden wir auf großen Rasenplätzen oder
zwischen den Bäumen verstreut unzählige Kaffee- und Bier—
häuser, Kegelbahnen, Schaukeln, Reitschulen und Verkaufsstände.
Augsburger Lesebuch, VI. Kl.
2
91
ꝛꝛ 3332 44. Eine Wanderung durch die Pußta. zꝛ
Hier verkauft ein Kroate Schwämme, dort ein Türke Honig,
da handelt ein Italiener mit Limonade. Hier bietet einer
„Gugelhupf“, dort einer Spazierstöcke, hier Blumensträuß—
chen, da Zigarren zum Kaufe an. Und was es außerdem
noch für Wunder zu schauen gibt! Da läßt sich ein Riese
sehen, dort ein Zwerg, hier frißt einer Feuer, dort speit einer
Seidenbänder in ungeheuͤren Massen, hier trägt einer auf seiner
Brust einen Amboß und läßt auf ihn so schrecklich hämmern,
daß man den Wurstl kaum versteht, der daneben klingelt und
klopft. Tausende strömen hier im Wurstelprater zusammen, reich
und arm, jung und alt; kein Unterschied des Standes und
Ranges gilt; alle wirbeln lachend, plaudernd und scherzend
durcheinander. Ja, die Wiener sind ein lustiges Volk! Auch
an Musikanten fehlt es nicht im Prater; denn der Wiener liebt
die Musik. Hier lehnt ein Mann mit einer großen Harfe an
einem Baumstamm und schlägt gewaltig die Saiten um mit
seinem Spiele und seinem Gesange den Leierkasten zu über—
tönen, der nur wenige Schritte von ihm seine wehmütigen
Klänge hören läßt. Dort vor dem großen Zelte, wo unter den
Bäumen Hunderte von Tischen und Stühlen stehen und tausend
frohe Menschen bei Kaffee oder Bier sitzen, spielt eine Zigeuner—
kapelle wundersame Weisen. Abends findet dann häufig ein
Feuerwerk statt; Raketen steigen empor; rote, blaue, grüne,
goldene Sterne erglänzen am Nachthimmel, schweben eine
Zeitlang über der staunenden Volksmenge, zerplatzen dann
und werfen eine Handvoll farbiger Feuerblumen durch die
Dunkelheit. Zulius Tischendorf.
44. Eine Wanderung durch die Bußta.
Im Osten lichtete sich der Himmel, die Sterne begannen zu
bleichen, scharf und eisigkalt strich der Wind über die leise
rauschenden Weizenfelder Plötzlich erschien der Horizont von
einer einzigen, undurchdringlichen weißen Wolke überzogen. Sie
senkte sich tiefer und tiefer und nun begann der Tau aus der
Höhe herabzurieseln, so dicht und stark, daß mein Mantel bald
bis auf die letzte Faser durchnäßt war. Ein unangenehmes
Kältegefühl durchschüttelte meinen Körper und steigerte sich zu
heftigen Frostschauern. Tau ist oft wochen- ja monatelang das
einzige Geschenk, das die Mutter Natur während der anhalten—
den Sommerdürre den genügsamen Pflanzenkindern der Steppe
spendet.
66
44. Eine Wanderung durch die Pußta. ꝛꝛ *
Der breite, sandige Fahrweg, auf dem ich rüstig vorwärts
schritt, war rechts von schier endlosen Maisäckern, links von
Sonnenblumenfeldern begrenzt. Es war so totenstill ringsum,
daß ich das Geräusch der schweren Tautropfen vernahm, die
unaufhörlich von den tiefgesenkten Blüten der Sonnenblumen⸗
stauden herabfielen.
Am Rande des Maisfeldes fand ich eine sonderbare Haus—
tiergesellschaft friedlich beim Morgenmahle beisammen. In der
Mille stand ein Esel, der aufmerkfam die Ohren spitzte, als ich
mich der Gruppe näherte. Ihn umdrängte eine kleine Herde
von Schafen. Den äußern Ring dieser Genossenschaft bildeten
ein großhörniger Stier, eine Kuh und ein Dutzend graubor—
stiger Schweine und Ferkel, Tierfreundschaften, wie sie die Ode
und Einsamkeit der Pußta mit sich bringt.
Da Hirt und Wolfshund fehlten, konnte die Meierei nicht
weit sein. Nur wenige Schritte noch und hinter dem Maisfelde,
etwas abseits vom Wege, erschien ein graues, dickes Rohrdach
hinter hohen, knorrigen Akazien und uralten Fliederbäumen,
deren weiße, leuchtende Dolden fast bis an den umfangreichen
Schornstein des Lehmhäuschens hinaufragten. Weder Mauer
noch Zaun umgab das kleine, ärmliche Anwesen. Einige wind⸗
schiefe Ställe mit rohen Lehmwänden und schadhaftem Stroh—
dach, ein paar Strohhaufen und ein Ziehbrunnen seitlich vom
Wohnhäuschen vervollständigten das Bild.
Der Hebebalken des Ziehbrunnens knarrte. Das Wasser
rauschte in die lange Tränkröhre. Dort stand ein Heidemädchen
im kurzen, roten Rock. Dicke Flechten welligen, blauschwarzen
Haares fielen über ihren Rücken. „Guten Morgen!“ rief ich
laut und fröhlich hinüber, „ich sehe, daß der Schornstein qualmt.
Kann ich eine Schale heiße Milch haben?“ Sie musterte mich
mit ihren pechschwarzen Augen und antwortete freundlich:
„Kommt nur herein, die Milch könnt Ihr haben!“
Die Zweige der Fliederbäume bildeten vor der Tür des
Häuschens einen dichten Laubengang. Von den Dolden und
Slattern tropfte und rann es wie dichter Sprühregen auf das
einfache Holztischchen und die Holzbank hernieder, die in der
Nähe der Tür aufgestellt waren. Daher flink hinein an das
wärmende Feuer des Küchenherdes, wo an einem Eisengestell
ein Kessel über den züngelnden Flammen langsam hin und
her schwankte. Über dem Herde erhob sich ein riesiger Rauch—
fang, der in den geräumigen Schornstein mündete. Das Mädchen
schob einen Binsenstuhl an das Feuer, breitete einen zottigen
— 67 —
5
ꝛꝛu eeee 44. Eine Wanderung durch die Pußta. z
Schafpelz darüber und lud mich freundlich ein auf dem weichen
Polster Platz zu nehmen. Dann eilte sie in die anstoßende
Kammer und kam mit einem großen, roten Tonkruge zurück,
aus dem sie frische Milch in einen andern Topf goß. Den
Topf stellte sie in die Glut des Feuers. Eine angenehme Wärme
durchzog den kleinen Küchenraum. Mit der heißen Milch brachte
sie mir auch frisches Brot und Käse. Das Brot mußte soeben
erst dem kleinen, kegelförmigen Backofen zur Seite des Häuschens
entnommen sein; denn es lag auf einem kleinen Eichenbrett
unter der Vorhalle vor dem Ofen. Es mundete mir vor
trefflich.
Ich machte mich wieder auf den Weg. Der Fahrweg, den
ich jetzt wanderte, war noch viel breiter und zerfahrner als
der, auf dem ich gekommen war. Eine kleine Karawane elender
Zigeunerwagen, mit hinkenden, dürren Kleppern bespannt, quälte
sich durch den tiefen Sand. Unbarmherzig hieben die lang—
haarigen, braunen Führer mit den Lassopeitschen auf die ab—
gehetzten Tiere ein. Wolfshunde umsprangen mit lautem Ge—
kläff die knarrenden und ächzenden Zeltwagen. Ihnen folgte
ein Rudel Kinder, Mädchen und Buben. Kaum war ich in
Sicht, so stürzten sie schreiend und lärmend auf mich zu und
umringten mich mit dem Rufe: „Bitte untertänigst um ein
Kreuzerchen; küß die Füße und die Hände!“ Hinter den Löchern
und Rissen der zerfetzten Wagenplanen wurden braune Ge
sichter und schwarze Augen sichtbar. Der Kreuzersegen, den ich
zu verschwenderisch unter das kleine Gesindel ausgestreut hatte,
lockte nach und nach die ganze Reisegesellschaft von den Wagen
herunter. Weiber und Mädchen drängten sich bittend an mich
heran und ließen nicht eher Ruhe, bis sie ihren Kreuzer erhalten
hatten. Ein alter, weißhaariger Zigeuner fragte in kriechender
Unterwürfigkeit, ob er mit seiner lleinen Musitbande dem „gnä⸗
digen Herrn“ aufspielen dürfe. Als ich bejahte, schlüpften auch
die anderen Männer unter dem Zeltdach hervor. Sie prüften
die Saiten ihrer schmutzigen Geigen und spielten frisch und
feurig ein ungarisches Volkslied. —
Mein Weg führte weiter durch eine weite, wüste Ebene,
die nicht eine Spur von Graswuchs zeigte. Weißlich schim—
mernde Salzwassertümpel durchsetzten den Boden, über den sich
in dichten Polstern Salzpflanzen zogen. In den Schlamm der
Lachen und Tümpel hatte sich eine vieltöpfige, krausborstige
Schweineherde eingewühlt und unter ihnen weilte traulich und
stillvergnügt der Schweinehirt. Sein durchlöcherter Schlapphut
68 —
zꝛ 44. Eine Wanderung durch die Pußta. zꝛ
und der zerfetzte Lodenmantel lagen neben andern Kleidungs—
stücken am Rande der Lache. Als der tückisch dreinschauende
Wolfshund, der die Borstentiere und die Kleidungsstücke seines
Herrn bewachte, auf mich losfuhr, sprang der braune Gesell
aus dem Sumpfe heraus, ergriff seinen langen, dicken Knüttel
und trieb mit Flüchen und Schimpfworten den Hund zurück.
Vor mir dehnte sich nun die unbegrenzte Steppe aus,
über die sich der klare, lichtblaue, fast durchsichtig schimmernde
Morgenhimmel breitete. Kein Baum, kein Strauch ringsumher!
Der Weg verlor sich in den graugrünen Rasenpolstern. Hier
und da tauchte noch eine Wagenspur inmitten sandiger Strecken
auf. Die Sonne stieg höher und höher, die Luft wurde lauer
und lauer. Der Himmel nahm eine rötlichgraue Färbung an.
Das Steppengebiet, das ich nun durchwanderte, erschien mir
trostlos öde. Auf einigen meterhohen, hügligen Sandwehen,
durch deren blendendweiße Decke sich Brennesseln, Wolfsmilch
und mannshohe Kugeldisteln in Büschen und Stauden heraus—
gemüht hatten, lagen die ärmlichen Anwesen der Schafhirten.
Es waren dürftige Rohrhütten, entweder freistehend oder mit
einem Rohrzaun umgeben, daneben einige Rohrpferche zum
Unterschlupf für die Haustiere. Halbnackte und nackte braune
Kinder wälzten sich im Sande und glotzten mich neugierig an,
als ich vorüberging. Da und dort weideten die Schafherden.
Plötzlich lag vor mir ein riesiger See mit silbergrauen
Wellen. Bäume, Sträucher, Dörfer, Landhäuser und Wind—
mühlen umkränzten in greifbarer Klarheit seine Ufer und
spiegelten sich in seinen Fluten. Rinder schienen mitten durch
das Gewässen zu schreiten, ja sogar darin zu grasen. Eine
wilde, unübersehbare Pferdeherde stürmte hindurch und ihr
folgten flüchtige Wolfshunde und berittne Pferdehirten, die
lustig die lange Lassopeitsche schwangen. Auch der Ziehbrunnen,
dem ich jezt? rtte. schien in den Fluten zu versinken. Weiter
und weiter der See und zog sich rings um mich
her. Es war dort häufig wahrnehmbaren Luftspiege—
lungen, die mich täuschte.
In der drückendsten Schwüle des Mittags kam ich bei den
Hirten an. Hunderte von weißen Rindern und schnaubenden
Pferden drängten sich um die langen Tränkröhren bei dem
Ziehbrunnen. Die Hirtenjungen saßen auf den dicken Eichen—
bohlen der hohen Brunneneinfriedigung und ließen eifrig die
Eimer in dem tiefen Brunnenschacht auf- und niedersteigen.
Unaufhörlich knarrten die Hebelstangen und das klare kühle,
42
80
2 22 2 222 45. Heidebild. — 46. Die Holländer.
kristallhelle Wasser rauschte in die langen Tränkrinnen hinein,
wo es von den durstigen Tieren gierig aufgesogen ward. Die sich
sattgetrunken hatten, verließen ihren Platz; andre traten in
bie Reihen. Einige der Hirten lagen an einem flackernden Herd—
feuer und schmauchten ihre kurzen Pfeifen. Sie forderten mich
auf mich zu ihnen auf ihre ausgebreiteten, bunt genähten
Lodenmäntel niederzulassen und an ihrem Mittagsmahl teil—
zunehmen, das in großen, hängenden Kesseln zubereitet wurde.
Es war ein Brei aus Maismehl, mancherlei Gewürzen und
geschabtem Speck. Ich, war hungrig wie ein Steppenwolf und
der schmackhafte Brei und der kühle Trunk aus dem nahen
Brunnen mundeten ganz vortrefflich.
Franz Woenig.
45. Heidebild.
Die Mittagssonne brütet auf der Heide,
im Süden droht ein schwarzer Ring.
Verdurstet hängt das magere Getreide,
behaglich treibt ein Schmetterling.
Ermattet ruh'n der Hirt und seine Schafe,
die Ente trâumt im Binsenkraut,
die Ringelnatter sonnt in trägem Schlafe
unregbar ihre Tigerhaut.
Im Zickzack zuekt ein Blitz und Wasserfluten
entstürzen gierig dunklem Zelt.
Es jauchzt der Sturm und peitscht mit seinen Ruten
erlösend meine Heidewelt.
Detlev v. Liliencron.
46. Die Holländer.
Wer nach Holland kommt, die Menschen und ihr Leben
sieht, ihre Tüchtigkeit, Kühnheit, die Zweckmäßigkeit und Nettig—
keit aller Einrichtungen, der steht still und wundert sich. Alles
dies, dieses reiche Land, diese prächtigen Städte, diese städte—
gleichen Dörfer hat der denkende Mensch aus dem Schlamme
herausgehoben und zum Teil den Wogen des Meeres abge—
wonnen. Aber wie soll man diese Menschen beschreiben? Wenn
man in die holländischen Städte und Dörfer tritt und die
Leute dort so still und langsam, so nett und reinlich dabei,
als hätten sie mit Arbeit nicht sonderlich sich zu befassen, ein—
1
Hn
2 2222 2 2 2 46. Die Holländer. ꝛꝛ e e e* z
hergehen sieht; wenn der Bauer steif und bedächtig in seinen
hohen Holzschuhen einherschreitet und mit behaglicher Miene
Inb langsamer, breiter Rede dem Fremden begegnet: so könnte
nem einfallen, ein so stilles, bequemes Volk könne dies Land
dem Meere nicht abgezwungen, diese Mauern, Türme, Wälle
und Deiche nicht aufgetürmt haben, und doch ist es nicht anders.
Der Holländer steht eben deswegen so behaglich da, weil er der
Schöpfer und Herr dieses Landes ift, wo nur Frösche, Möwen
und Rohrdommeln ihre heisere Stimme tönen lassen würden,
wenn der Mensch nicht hinzugetreten wäre und mit Spaten,
Schaufel und Ruder sich gerührt hätte. Freilich, die netten
Kleider, die der Holländer trägt, sein stets blankes Schuhwerk,
sein mit Blumen und Kräutern, mit Schnörkeln und Bildern
geschmücktes Vorhaus, seine zierlichen, mit bunten Muscheln
Uund Steinen ausgelegten Gärten, seine nett gefegten Dresch—
tennen, seine höchst reinlichen Stallungen möchten auf die Ver—
mutung bringen, der Holländer sei nur für die häuslichen Ge—
schäfte brauchbar, habe nur für Lebensgenuß Sinn und huldige
bloß der Bequemlichkeit und Weichlichleit; aber man sehe nur
den Holländer am Ruder seiner Schiffe, auf den Mastspitzen;
man sehe ihn nur auf dem Wasser schalten und walten; da
ist er nicht der bequeme und ruhige Mensch; da bewegt er sich,
wenn auch stets besonnen, rasch uünd kräftig; da zeigt er eine
eiserne Ausdauer und den festesten Willen und eine große Auf⸗—
opferungsfähigkeit.
Schmuck des Lebens, Reinlichkeit und Sauberkeit fast bis
zur Übertreibung, Blumenliebe und Blumenpflege, Farben—
freude und daher hoher Sinn für Malerei kennzeichnen den
Holländer. Man möchte dies, wenn es nicht geborene Anlage
wäre, fast für ein Werk des überlegenden Verstandes ansehen.
Hier in dieser den Geist niederdrückenden Einförmigkeit, in diesem
Zande der Sümpfe, Marschen und Heiden, wo nur um die Dörfer
Und Kanäle einzelne Baumreihen sich erheben und der Mensch
hinter seinen Deichen Und Wällen den Pflug und die Sense
führt — hier, wo die Nähe des Meeres und die Wasser der
Seen, Teiche und Gräben eine feuchte, matte Luft und einen
oft umnebelten Himmel zeigen — hier, wo Torf— und Marsch⸗
land, fette Erde, Torf- und Steinkohlenstaub alles in Schmutz
berkommen lassen würden, wenn der Mensch sich nicht dagegen
wehrte — hier, möchte man sagen, hat er sich in der Freude
an dem Netten, Heiteren und Bunten eine fröhliche Gegen—
wehr gegen das Graue und Trübe bereitet. Man muß dies
71 —
47. Meeresleuchten bei Ostende. 22 ꝛ 223
um so höher anschlagen, je mehr Schmutzlande man sieht, die
ihre Bewohner ruhig Schmutzlande bleiben lassen.
Aber wie dieser friesische Mann fest und still in den ge—
wöhnlichen Zuständen des Lebens ist, ebenso ungestüm und un—
bändig lodert sein trotziger Mut auf, wenn er seine Freiheit,
seine Religion und seine Art in Gefahr glaubt. Im Mittel—
alter hat er sich genugsam als den Seelöwen bewährt.
Ernst Moritz Arndt.
47. Meeresleuchten bei Ostende.
Eine der wunderbaärsten Erscheinungen, welche das Meer—
wasser bietet, ist sein zeitweiliges Leuchten. Besonders prächtig
zeigt sich das Meerleuchten in dem uns zunächst liegenden Teile
der Nordsee, namentlich bei Ostende. Von dem hohen Stein—
damme bietet sich dort an warmen Sommerabenden oft ein
bezaubernder Anblick. Der Abend ist dunkel, der Himmel be—
deckt, weder Mond noch Sterne scheinen. Die Luft regt sich
kaum; aber lau umfängt sie die Glieder. Das Meer hat sich
eben von der Tiefebbe aufgerafft und kehrt zur Flut zurück.
Der belebte Wellenschlag am Strande erfolgt in regelmäßigen
Takten mit lieblich tönendem Rauschen. Aber aus dem Schoße
der Gewässer leuchten Blitze hervor, als ob die See dem dunklen
Himmel das Licht zurückgeben wollte, welches ihr Spiegel am
Tage aufgesogen. Zunächst am Strande breiten die umschla—
genden Wellen der Brandung eine Lichtgarbe nach der andern
aus und bedecken den sandigen Boden wie mit flüssigem Feuer.
Hinter den Wogen der Brandung leuchtet ein Wellenkamm um
den andern auf; bis 20 und 40 derselben kann man zählen.
Schweift der Blick von dem leuchtenden Vordergrunde zu der
weitern Meeresfläche hinüber, so fesselt das Auge bald da
bald dort ein leuchtender Punkt, der, sich vergrößernd, heran—
schwimmt, bis er auf einmal in blitzähnlichen Streifen über
die Fläche dahinzuckt und im Dunkel erlischt um einer neuen
Flamme Platz zu machen. Bricht sich eine Woge an dem Brücken—
kopfe des Hafeneinganges, so speit sie Feuerstrahlen in die Lüfte.
Kaum hat man sich von dem ersten Staunen erholt, da
nimmt das Bild eine neue, prächtigere Gestalt an, wenn der
Postdampfer für Dover, der schon am Nachmittage den Hafen
verlassen hat, abfährt. Die Schaufelräder wühlen nach allen
Seiten hin leuchtende Wassermassen auf, die in zahllosen fun—
kelnden Tropfen als Feuerregen auf die Oberfläche des Meeres
zurückrieseln. Kähne, die von dem Schiffe zurückfahren, ziehen
na
47. Meeresleuchten bei Ostende ꝛ 3*
feurige Furchen durch den Wasserspiegel; die plätschernden Ruder
streuen Funken in die Luft; der Dampfer aber läßt noch weit⸗
hin einen leuchtenden Streifen als Spur seiner Bahn sicht⸗
bar werden.
Steigt man von dem Steindamme hinab um das selt—
same Feuerwerk in der Nähe zu schauen, so zeigen sich selbst
im Sande, soweit er feucht ist, unter den Fußtritten leuchtende
Funken; man glaubt über aufglühende Kohlen zu wandeln.
Rührt man mit einem Stocke in einer Vertiefung, welche von
der Flut mit Meerwasser angefüllt ist, so fängt das Wasser
an zu glühen. Schlägt man mit der Hand darauf, so ist es,
als vo man Flammen wecke. Schöpft man Wasser und schleu—
dert es in die Luft, so sät man Funken. Leckt eine überschla—
gende Welle bis zu den Füßen heran, so ist der ganze Rand
herselben wie mit Millionen Diamanten reinsten Wassers und
Perlen herrlichsten Schmelzes besetzt.
Ein eigentümlicher Anblick bietet sich dem Auge, wenn dann
noch ein verspäteter Badegast aus dem Badekarren in das Wasser
steigt um in dem glühenden Meere ein kühlendes Bad zu neh⸗
hen. Denkt euch das seltsame Schauspiel: Ein Mensch eilt
wohlgemut in die glühenden Wasser, taucht unter die leuchtende
Flut, spritzt mit Händen und Füßen um sich her. An jedem
Haar hängt's wie eine glühende Kohle, aus Nase und Mund
strömt's wie Feuer, sobald er den Kopf wieder über das Meer
erhebt; sein Körper ist über und über mit tausend brennenden
Punkten wie mit Sternen besät, wenn er zum Badekarren zu—
rückgeht.
Woher rührt denn dieses wunderbare Leuchten, dieses selt⸗
same Aufflammen des Meerwassers? Ehedem glaubte man, der
Meeresspiegel sauge, ähnlich wie der Diamant, am Tage Son⸗
nenlicht auf und strahle es in der Dunkelheit der Nacht wieder
aus. Heutzutage weiß man, daß das Leuchten des Meeres durch
Milliarden kleiner Tierchen verursacht wird, von denen die
größten noch kleiner sind als der Knopf der feinsten Steck⸗
adel. An stillen, lauwarmen Abenden kommen ihre ungezählten
Scharen aus der Tiefe an die Oberfläche des Wassers, wie die
Johanniswürmchen aus dem Grase an die Luft. Und da ihr
feiner Leib ähnlich wie bei diesen glüht, so entsteht dadurch
das prachtvolle Aufleuchten der Meereswellen.
Johannes Kayser.
73
z23 33 2 468. Die Londoner Docks und ihre Warenhäuser. 3*
48. Die Condoner Docks und ihre Warenhäuser.
Zu den Sehenswürdigkeiten der Weltstadt London gehören
unstreitig die riesigen Docks. Das sind künstliche Wasserbecken,
in denen die Schiffe ankern; sie sind von Warenhäusern, welche
eine Höhe von fünf bis sieben Stock haben, eingefaßt. Vier
Docks befinden sich auf dem linken, drei auf dem rechten Ufer
der Themse. Die ersteren allein fassen 1200 Schiffe und ge—
währen für 530000 Tonnen Güter Platz zum Lagern.
Treten wir eine Wanderung durch eines dieser Docks an.
Das Tor steht für jeden offen. Fuhrwerke, Karren und Menschen
strömen ab und zu. Wir befinden uns in einer breiten, schlecht
gepflasterten Straße, die rechts von einer Reihe hoher Waren—
häuser, links von einer schlecht überworfenen Mauer, an der
ein paar hundert zweiräderige Karren angelehnt stehen, be—
grenzt ist. Wir haben durch die Güte eines Kaufmannes eine
allgemeine Einlaßkarte, die uns alle Türen und Tore öffnet.
Da steht gleich vechts über einer Magazintüre die Inschrift:
Elfenbeinhaus. Der Mann, der uns zur Begleitung mitgegeben
ist, führt uns durch weite Räume, in denen wir auf Massen
von Elefantenzähnen, Rhinozeroshörnern, Sägefischwaffen und
Schildkrotpadden stoßen. Aus der Straße, in welcher das Elfen—
beinhaus mit noch anderen Magazinen steht, kommen wir auf
einen ungeheuren, offenen Raum, der im Süden durch das
größte Wasserbecken ab- und ringsherum von Warenhäusern
eingeschlossen ist. Soweit das Auge reichen kann, liegt Faß
an Faß gereiht. Zwischen diesen laufen schmale Wege kreuz
und quer, auf denen sich Menschen, Pferde, Karren aller Art
wirr durcheinander treiben. Zur Linken, wo wir gerade stehen,
sieht alles merkwürdig blau gefärbt aus. Ein nach drei Seiten
freistehendes, wohl fünf Stockwerke hohes Gebäude zeigt uns
ein tiefblau gefärbtes Eingangstor. Die Fensterrahmen sind
blau, die Wände der inneren Gänge, die Treppen und Geländer
sind blau und — sonderbar — auch die Arbeiter, die aus—
und eingehen, sind blau in ihrer Kleidung, in ihrer Gesichts—
farbe bis ins Weiß des Auges hinein. Auf die Gefahr, selbst
blau gefärbt zu werden, trelen wir ins Tor: es führt zu den
Indigolagern, welche die größten und reichsten der Welt sind.
Wohl ist die kostbare Ware in tausend und abertausend Kisten
sorgfältig verpackt, die meisten von ihnen noch fest verschlossen,
wie sie von den ostindischen Lieferanten zur weiten Seereise
hergerichtet wurden. Aber der Indigostaub ist fein wie kein
74
0 468. Die Londoner Docks und ihre Warenhäuser. 22 2 3*
anderer; er zwängt sich durch die Spalten und Poren seiner
Verpackung an die freie Luft hinaus. Zudem werden hier den
Tag über Hunderte von Kisten geöffnet um den Kauflustigen
als Muster für ganze Partien zu gelten; so ist es denn natürlich,
daß der feine Staub sich nach allen Richtungen hin zerstreut,
alle Gegenstände in der Umgegend tiefblau überzieht und dem
Eindringlinge ein unverfängliches Kennzeichen mit auf den
Heimweg gibt, daß er sich zu Hause wie ein lebendiges „blaues
Wunder“ im Spiegel beschauen mag.
Von großem Interesse sind ferner die Teelager in den
Docks. Neugierig schauen wir auf die Millionen kleiner, schmutzig—
brauner Kistchen, die inwendig mit Metallpapier überzogen sind
um die Blätter vor der Seefeuchtigkeit zu schützen, und die
auf der Außenseite zum großen Teile ebenfalls mit Papier
überklebt sind, auf welchem die Sorte der Ware, ihr Erzeu—
gungsort und die Firma, von der sie abgeschickt worden ist,
in chinesischer Schrift verzeichnet steht. Hier reiht sich Saal
an Saal vom Erdgeschosse bis in das fünfte Stockwerk hinauf;
hier bewegen wir uns zwischen hölzernen, bunt bemalten
Scheidewänden, die aber nur aus übereinander getürmten Tee—
kisten bestehen. Es ist eine kleine Stadt mit unzähligen ver—
schlungenen Gassen, die hier und da in einem kleinen offenen
Platze ausmünden. Leicht verirrt man sich in diesen Teekisten—
gassen; denn die Räume sind menschenleer. Nur hier und da
sieht man einen Agenten oder Makler einsam durch die engen
Straßen wandeln. Er weiß, was er sucht und wo er es zu
finden hat. Er hebt den Deckel der einen oder der anderen
Kiste ab, nimmt eine Handvoll aus ihrer stillen Behausung,
riecht daran, prüft die Farbe, läßt die Teeblätter durch die
Finger gleiten, schreibt sich eine Bemerkung in sein Taschen—
buch und geht weiter um dieselben Versuche an einer anderen
Stelle zu wiederholen.
In das Innere der Warenhäuser werfen wir nur hin und
wieder einen schüchternen Blick; es gelüstet uns für heute nicht
mehr Wanderungen zwischen endlosen Reihen von Kisten und
Ballen zu unternehmen; aber im Vorübergehen können wir
uns doch nicht erwehren unser Auge auf die fabelhaften Vor—
räte von australischer Wolle, von Seide aller Länder, von Farb—
hölzern, Tierhörnern, Baumwolle, Baumstämmen, Gewürzen
aller Art, Häuten, Leder, Zucker, Kaffee u. s. w. streifen zu lassen.
Es ist, als ob die Ernte aller Erdstriche unverkürzt nach diesen
Lagerplätzen gebracht worden wäre. So groß sind die auf—
75—
49. Der blinde König. 22 2 22 22 2 22
gehäuften Massen und so viel geht von Zucker, Kaffee, Speze—
reien und dergleichen beim Offnen und Umpacken der Kisten
und Fässer verloren, daß das Kehricht unsres Docks für eine
namhafte Summe verpachtet wird und daß der Pächter in
wenigen Jahren ein reicher Mann geworden sein soll.
So reiht sich ein Warenhaus an das andere; vor ihnen
ächzen Hunderte von eisernen Kranen unter ihrer Last. Tau—
sende von Hafenarbeitern, Zimmerleute, Faßbinder, Makler und
Dockbeamte rennen auf und ab, aus und ein und im großen
Bassin liegen, dicht bis an die Umrandung aneinander gedrängt,
die Schiffe, auf denen Matrosen und Lastträger mit Ameisen—
tätigkeit beschäftigt sind Waren ans Land oder an Bord zu
bringen. In keinem anderen Hafen der Welt treiben sich so
viele verschiedenartige Völkerschaften umher wie hier. Neben
dem Holländer ankert der Kauffahrer aus Brasilien, der mit
Kaffee und Farbhölzern vollgeladen ist; der Däne bringt sein
Hornvieh ans Land; belgische und französische Schiffe laden
Glas, Leder, Eier, Obst und Gemüse aus; der Amerikaner
wälzt seine Tabakfässer und Baumwollenballen ans Land; rus—
sische und deutsche Ostseefahrer haben ihre Getreideladungen
bereits in den Magazinen untergebracht und warten auf Rück—
fracht; englische Fahrzeuge aus Indien, Australien, Kanada
und vom Kap ziehen durch die geöffneten Schleusentore. Wer
aber keine Arbeit hat, vergnügt sich in seiner Weise, kocht, ißt.
trinkt, sitzt oder träumt auf Verdecken und in Mastkörben, flickt
am Segel- oder Tauwerke, denkt der fernen Heimat und summt
sich das Lied vor, das er am liebsten hat. Mar Falk.
1
49. Der blinde Rönig.
1. Was steht der nord'schen Fechter Schar
hoch auf des Meeres Bord?
Was will in seinem grauen Haar
der blinde König dort?
Er ruft in bittrem Harme,
auf seinen Stab gelehnt,
dab ũüberm Meeresarme
das Eiland widertönt:
2. „Gib, Räuber, aus dem PFelsverlies
die Tochter mir zurück!
Ihr Harfenspiel, ihr Lied,
war meines Alters Glück.
76 —
49. Der blinde König.
Vom Tanz auf grünem Strande
hast du sie weggeraubt.
Dir ist es ewig Schande,
mir beugt's das graue Haupt.“
a tritt aus seiner Kluft hervor
der duber, grob und wild.
Eec wint sein Hünenschwert empor
und sehlöut an seinen Schild:
„Mahast wviele Wächter,
worum denn litten's die?
Dir dont mancher Pechter,
und keiner kämpft um sie?“
oeceh stehn die Fechter alle stumm,
br. ipor aus den Reih'n.
Dor linde König kehrt sieh
„Bin ich denn ganz allein?““
Da fabt des Vaters Rechte
sein junger Sohn so warm:
„Verabnn' mir's, dab ich fechte!
Wobl fuhbl' ieb Kraft im Arm.“ —
Sohn, der Feind ist riesenstark,
iur tanoch keiner stand,
unt oh, in dir ist edles Mark,
ich fühl's am Druck der Hand.
Nimm hier die alte Klinge!
Sie ist der Skalden Preis.
Und fallst du, so verschlinge
die Flut mich armen Greisl““
Und horch! es schäumet und es rauscht
dei phen ũbers Meer.
D. unde König steht und lauscht
und les schweigt umher,
bis drüben sich erhoben
der Schild' und Schwerter Schall
und Kampfgeschrei und Toben
und dumpfer Widerhall.
7. Da ruft der Greis so freudig bang:
„Sagt an, was ihr erschaut!
Mein Schwert — ich kenn's am guten Klang —
es gab so scharfen Laut.“ —
77
60. Ein schwedisches Fischerdorf. er z n
„Der Räuber ist gefallen,
er hat den blut'gen Lohn.
Heil dir, du Held vor allen,
du starker Königssohnl“
8. Und wieder wird es still umher,
der König steht und lauscht:
„Was hör' ich kommen übers Meer?
Ps rudert und es rauschtl —
„Sie kommen angefahren,
dein Sohn mit, Schwert und Schild,
in sonnenhellen Haaren
dein Töchterlein Gunild.“
9. „Willkommen!“ ruft vom hohen Stein
der blinde Greis hinab.
„Nun wird mein Alter wonnig sein
und ehrenvoll mein Grab.
Du legst mir, Sohn, zur Seite
das Sehwert von gutem Klang,
Gunilde, du Befreite,
singst mir den Grabgesangl“
Ludwig Uhland.
50. Ein schwedisches Fischerdorf.
Umgeben von Klippen und Schären, liegt vor uns ein
kleines Fischerdorf, das, so unbedeutend es auch sonst sein mag,
doch groß genug ist um uns ein ziemlich treues Bild jener
entlegenen Fischerwelt zu geben.
Ein durchdringender, von verwesten Fischen herrührender
Geruch erfüllt die ganze Gegend dergestalt, daß kaum die fri⸗
schen Winde die Luft zu reinigen vermögen; den Bewohnern
indes, die nicht nur daran sondern auch noch an viele andere
Unannehmlichkeiten gewöhnt sind, fällt er kaum auf. Die Männer
liegen beinahe Tag und Nacht auf der See, während sich die
Frauen zu Hause mit dem Einsalzen und Trocknen der Fische
beschäftigen und Segel, Angeln, Netze und andere zum Fisch⸗
fang nötige Gerätschaften imstande erhalten. Die Klnder,
die sich durch hellblondes Haar und blaue Augen auszeichnen,
sind schon früh wettergebräunt. Gewöhnlich sieht man sie
scharenweise beisammen, die ärmsten nur mit einem zerrissenen,
schwarzen Hemde bekleidet, die wohlhabenderen in den beteerten
42
7
* 5 50. Ein schwedisches Fischerdorf. 3 ꝛ ꝛꝛ
Überbleibseln der väterlichen Jacken, die jedoch vorher keiner
Anderung unterworfen worden sind, sondern dem jungen Nach—
wuchs als eine Art Mantel dienen müssen, wobei ihnen freilich
die langen, herabbaumelnden AÄrmel derselben nicht wenig be—
schwerlich fallenn Hurtig und an Tätigkeit gewöhnt, müssen
die Kinder entweder beim Trocknen der Fische hilfreiche Hand
leisten oder sie tummeln sich in Gesellschaft ihrer Ferkel, denen
sie verfaulte Fische und ähnliche Leckerbissen zuwerfen, lustig
am Strande umher.
Nach allen Richtungen des holperigen, unebenen Stein—
pflasters hin, das augenscheinlich eine Straße vorstellen soll,
ist eine Menge von Hütten aufgeführt. Sie sind sehr klein
und zeigen auf der Straßenseite nur die Türe, die sogleich
in das oft einzige Gemach des Hauses führt, und einige Fen—
ster von winziger Größe. Alle Wände sind schmutzigweiß ge—
tüncht und nur bei den vornehmsten Hütten hat man den Prunk
so wert getrieben die Vorderseite rot anzustreichen. Bei fast
allen sind die Giebel der hervortretenden Erker mit irgend
einem Zierat von verunglückten Schiffen, meistenteils mit ver—
goldeten Figuren, wie man sie am Schiffsschnabel anzubringen
pflegt, oder anderen derartigen Dingen geschmückt. Die Dächer
sind mit Schindeln bedeckt, die bald grau und morsch sind bald
durch frische Holzfarbe zeigen, daß sie erst seit kurzem dem
Wetter Trotz zu bieten haben. An die Häufer schließt sich kein
Gärtchen, kein Feld; die Felsen gestatten nur so viel Raum
am Ufer, daß der Mensch notdürftig seine Hütte bauen kann,
und in das harte Gestein vermag keine Pflanze ihre Wur—
zeln einzusenken. Nur hier und dä deckt dürftiges Moos den
verwitterten Stein. Dafür ist es aber des Fischers höchster
Stolz eine Blume, un wäre es auch nur eine kärgliche Bal—
samine, im grünangestrichenen Topfe vor seinem Fenster zu
haben. Darauf beschränkt sich der ganze Pflanzenreichtum des
Fischerdorfes; selbst die Kartoffeln, die neben den Fischen die
tägliche Nahrung bilden, müssen stundenweit hergeholt werden.
Wendet man den Blick in das Innere dieser Hütten der
Armut, so findet man trotz der unverkennbaren Dürftigkeit
eine Reinlichkeit und Ordnung, die einigermaßen tröstlichen
Eindruck hinterläßt. Das Bettzeug besteht aus einem alten,
aber rein gewaschenen und mit Seegras ausgestopften Segel.
Der große Tisch ist blank gescheuert und von langem Gebrauche
wie poliert, der Fußboden mit dem feinsten weißen Sande
bestreut In einer Ecke steht gewöhnlich ein Schrank mit vier—
— — —
z uz eeee 51. Der Winter in Petersburg. *
eckigen Pfeilern von glattgeschnitztem Fichtenholze; darin wird
der kostbarste Teil des Hausgerätes, etwa zwei oder drei Tassen
nebst einer zersprungenen Schüssel, eine Kaffeekanne ohne
Schnauze, ein zinnerner Branntweinbecher und dergleichen
mehr aufbewahrt. Über dem kleinen Fenster ist ein schmales
Brett angebracht, auf welchem die Bibliothek des Hauses, aus
einer vergilbten Bibel und einem in schwarzes Leder gebun⸗
denen Gefangbuche bestehend, ein Unterkommen gefunden hat;
Bilder der Apostel, auf Goldpapier dargestellt, dienen als Lese⸗
zeichen. Das schmale Brett birgt indes auch einige staubige
Bände mit weltlicheni Inhalt.
Dem ärmlichen Zimmer fehlt es auch nicht an einer ge—
wissen Pracht. An der Wand hängt, durch dicke Nägel befestigt,
das Bild des Königs zu Pferde, selbstverständlich in Holzschnitt
und durch schöne Verse erklärt. Diese Kostbarkeit ist von den
Fischergerätschaften, denen ebenfalls ihr Platz an den Wänden
angewiesen ist, durch eine gewisse anständige Entfernung ge—
schieden; denn Ehre, wem Ehre gebührt: die treuherzigen
Leute glauben, es verstieße gegen Ehrfurcht vor Seiner Maje—
stät, wenn sie derselben mit ihren Netzen, Angeln und Hum—
merzangen zu nahe kämen.
Das ist die Heimstätte eines treuen und fleißigen Völk—
leins, wohl arm und kärglich und doch so innig geliebt, als
hinge nicht ein bleigrauer Wolkenhimmel über den starren Felsen
uͤnd als wäre nicht das Brausen der Flut und das Heulen des
Sturmes des Fischers Wiegenlied und Grabgesang.
Klemens Dänhardt.
51. Der Winter in Belersburg.
In Petersburg hat das Klima nicht die Unveränderlichkeit
des mittleren Rußlands. Die mildernden Einflüsse der Ostsee
stellen sich hier noch oft den eisigen Winden entgegen, welche
Sibirien schickt. Dennoch aber fällt das Thermometer in Peters⸗
burg häufiger auf niedrigere Grade herab als in Moskau.
Petersburgs Klima schwankt beständig zwischen Gegensätzen; bei
keiner andern Stadt in Europa sind die Unterschiede so groß.
Gewöhnlich geht aber das Leben im Winter, es mag regnen oder
schneien, frieren oder tauen, seinen alten, gewohnten Gang.
Tag für Tag knistern die Birkenbäume im Ofen, einen Tag wie
den andern rutschen die Schlitten in den Straßen herum—
beständig werden die öffentlichen Wärmestuben für die armen
55 —
*
51. Der Winter in Petersburg. 3
Leute geheizt und regelmäßig die öffentlichen Feuer auf der
Straße, in der Nähe der Theater, für die Kutscher u. s. w. unter⸗
halten. Nur wenn die Kälte ausnahmsweise zu außerordent—
licher Höhe steigt, treten bedeutende Veränderungen in der
Bewegung auf den Straßen und im Anblicke des Ganzen ein.
Die Fußgänger, die sonst in Petersburg einen ziemlich bedäch—
tigen Schritt haben, laufen alsdann so eilig, als hätten sie die
wichtigsten Geschäfte, und die Schlitten, die schon vorher ziemlich
flink sich bewegten, fliegen nun im Galopp über den schreienden
Schnee. Gesichter bekommt man dann gar nicht mehr auf den
Straßen zu sehen; denn alles hat sich die Pelze über Kopf und
Hut gezogen. Die Furcht, Augen, Ohren und Nase durch den
Frost zu verlieren, beängstigt jeden, und da sich das Abfrieren
durch kein unangenehmes Gefühl vorher ankündigt, so hat man
genug zu denken, daß man nicht eins der verschiedenen Glieder
des Körpers vergesse, sondern zuzeiten etwas reibe. „Väterchen,
deine Nase!“ erinnert der Vorübergehende den Entgegenkom—
menden und reibt ihm ohne Umstände seine kreideweiße Nase
mit Schnee ein. Mit den Augen hat man ebenfalls viel zu tun,
weil sie alle Augenblicke zusammenfrieren. Man tappt dann in
die erste beste Haustüre hinein und bittet die Leute auf ein
paar Augenblicke um ein Plätzchen am Ofen, indem man dann
hinterher eine betaute Träne des Dankes dafür vergießt.
Die russischen Ofen sind in ihrer Art das Vollkommenste,
was Menschen erdacht haben. Sie sind aus Kacheln erbaut und
der Feuerzug windet sich in ihnen so vielfach auf und ab, daß
die Hitze oft einen Weg von 30 m Länge und mehr darin machen
muß, ehe sie in den Schornstein entlassen wird. Die russischen
Ofenheizer sind sehr geschickt in allen bei der Heizart notwen⸗
digen Verrichtungen. In jedem großen Hause gibt es einen
oder ein paar Ofenheizer, die den ganzen Tag nichts weiter zu
tun haben, als die Ofen zu versehen. Man kann sich denken,
welch wichtige Rolle der Ofen auch in den Häusern der gemeinen
Russen spielt. Er ist hier eine zu einer außerordentlichen Größe
gediehene Maschine, die zugleich als Koch-, Heiz- und Back⸗
vorrichtung dient. Rund umher laufen Bänke; viele Vertiefungen
sind in ihm angebracht um tausenderlei Dinge in ihm zu trock—
nen und nasse Strümpfe und Kleider hängen immer daran
herum. Nicht wenig tragen zum Zusammenhalten der Zimmer⸗
wärme die doppelten Fenster bei, die in Petersburg wie in Ruß⸗
land überhaupt üblich sind. Kaum tritt im Oktober der erste
starke Frost ein, so rüstet man das ganze Haus zu, verpicht selbst
Augsburger Lesebuch, VI. Kl. — — 3
52. Auf der großen Brücke in Konstantinopel. ꝛ *
die kleinsten Offnungen und setzt überall doppelte Fenster ein,
deren Fugen mit Papier verklebt werden. Auch die Türen bleiben
nicht hinter den Feustern zurück; man findet nicht nur doppelte
sondern zuweilen selbst drei- und vierfache.
Die höchsten Kältegrade fallen gewöhnlich nur bei heiterem,
ruhigem Wetter ein und das prachtvolle Petersburg hat daher
in der Regel bei 35—400 0 Kälte seinen „schönsten, heitersten“
Tag; der Himmel ist hell, die Sonne leuchtet prächtig und zwar
um so prächtiger, da ihre Strahlen durch Millionen kleiner, blin—
kender Eiskristalle hindurchschießen, mit denen die Luft gleich
einem Diamantenstaub erfüllt ist. Aus allen Häusern und selbst
aus den geheizten Kirchen wirbeln dicke Rauchsäulen. Schnee
und Eis auf den Straßen und der Newa sind weiß und rein—
lich, als wäre alles aus Zucker gebacken. Das Wasser gefriert,
sobald man es ausgießt, und die Brunnen, die Pferdetränken,
die Schöpfanstalten, die Wasserfuhrleute und ihre Wägen er—
scheinen in Eis gekleidet.
Johann Georg Kobl.
52. Auf der großen Brücsie in Konslantinopel.
Um die Bevölkerung Konstantinopels zu sehen, muß man
auf die vielleicht eine Viertelmeile lange, schwimmende Brücke
gehen, die sich von der äußersten Spitze der Vorstadt Galata bis
zum entgegengesetzten Ufer des Goldenen Horns ausdehnt. Hier
kann man die Bevölkerung von ganz Konstantinopel in einer
Stunde kennen lernen. Zwei unerschöpfliche Menschenströme
begegnen einander und verwirren sich ohne Aufhören vom Son—
nenaufgang an bis zum Spätabend und bieten ein Schauspiel
dar, von dem die Märkte Indiens, die Messen Nishnij-Now—
gorods und die Feste Pekings sicher nur matte Abbilder sind.
Um etwas zu sehen, tut man am besten seine Augen nur
auf einen kleinen Punkt der Brücke zu richten; denn wenn man
sie umherschweifen läßt, so wird der Blick geblendet, die Ge—
danken verwirren sich. In unendlichen Wogen drängt sich die
Menge vorüber, jede Gruppe erglänzt in tausend Farben und
zeigt zugleich ein Gemisch verschiedener Völker. Die lebhafteste
Einbildungskraft kann sich kein Bild machen von der fabel—
haften Verwirrung, die hier ein Raum von zwanzig Schritten,
eine Zeit von zehn Minuten zeigt. Hinter einem Haufen tür—
kischer Lastträger, die mit schweren Packen beladen vorbei—
laufen, kommt eine mit Perlmutter und Elfenbein ausgelegte
—
82
9
52. Auf der großen Brücke in Konstantinopel. 2
Sänfte, aus der eine Armenierin hervorguckt. Zu beiden Seiten
gehen Beduinen, in weiße Mäntel gehüllt, und ein bejahrter
Türke im himmelblauen Kaftan, das Haupt von einem weißen
Turban bedeckt. Neben ihm reitet ein junger Grieche, den sein
Dolmetscher in reichgestickter Jacke begleitet, und ein Derwisch
mit großem, spitzem Hut, in dem Gewande von Kamelshaaren
drückt sich auf die Seite um den Wagen eines europäischen Ge—
sandten und dessen Vorreiter vorbeizulassen. Alles zieht an
den Augen vorbei, ohne daß man recht die Blicke darauf ruhen
lassen könnte. Ehe wir uns rückwärts wenden, sind wir schon
wieder von einer Schar Perser umgeben, deren zuckerhutförmige
Pelzkappen wir anstaunen, und wenn sie vorüber sind, so sehen
wir Juden in langem, gelbem, an den Seiten offenem Gewande,
eine rauhhaarige Zigeunerin, die ihr Kind in einem Sack auf
dem Rücken trägt, einen katholischen Priester mit Gebetbuch
und Stab.
Alle diese so verschiedenen Menschen begegnen sich oder
gehen aneinander vorüber ohne sich gegenseitig anzusehen; nie—
mand steht still, alle drängen eilig weiter. Der Albanese im
weißen Unterkleide, die Pistolen im Gürtel, geht an der Seite
des Tataren, der sich in sein Schaffell wickelt; der vornehme
Türke reitet neben buntgeschmückten Eseln zwischen zwei Reihen
Kamelen; hinter dem hoch auf einem arabischen Renner thro—
nenden Adjutanten eines Fürsten schwankt ein Lastwagen, mit
dem Baustoff eines türkischen Hauses beladen. Die Türkin zu
Fuß, die verschleierte Sklavin, die Griechin im roten Barett
und die Jüdin in dem alten Gewande Judäas befinden sich
oft in einer einzigen Reihe; aber das Bild fügt sich mit einer
Geschwindigkeit zusammen and löst sich in demselben Augen—
blicke wieder auf, so daß die Augen kaum folgen können.
Ganz besonders interessant ist es den Blick auf den Boden
der Brücke zu richten, auf nichts als auf die Füße zu sehen.
Alles Schuhzeug der ganzen Erde geht vorüber: die gelben Pan—
toffel der Türken, die roten der Armenier, die blauen der
Griechen, die schwarzen der Israeliten — Sandalen, Gama—
schen, Schuhe in tausend Farben, goldgestickte Pantoffel, Stiefel
von Atlas, von Stricken, von Lumpen, von Holz folgen sich
so dicht gedrängt, daß, wenn man auf das eine Paar blickt,
sich schon hundert andere dazwischenstellen.
Man muß vorsichtig sein um nicht bei jedem Schritt um—
gestoßen zu werden. Da ist ein Lastträger mit einem ungeheuren
Schlauch auf dem Rücken, hier eine russische Dame, dort ein
b
2*
8*
zꝛ 652. Auf der großen Brücke in Konstantinopel. ꝛ ꝛ *
Fähnlein kaiserlicher Soldaten, wie Zuaven gekleidet und an—
zuschauen, als ob sie zu einer Belagerung auszögen; hier eine
Schar armenischer Lastträger, die zu zweien auf den Schultern
lange Stangen tragen, an denen Ballen von Kaufmannsgütern
hängen, dort eine Menge Türken, die sich rechts und links über
die Brüstung schwingen um auf die Dampfschiffe zu gelangen.
Die Gestalten, die in dieser Figurenfülle am meisten in die Augen
fallen, sind die Zirkassier, die gewöhnlich zu zweien, dreien oder
fünfen langsamen Schrittes daherschreiten, bärtige Menschen
mit schrecklichen Gesichtern. Dann die Syrier, die Häupter in
goldverbrämte Tücher gehüllt, die Bulgaren in groben Tuch—
röcken mit pelzbesetzten Baretten — sie alle erregen unsere
Aufmerksamkeit, während doch das staunende Auge, durch neue
Erscheinungen abgezogen, nicht Zeit finden kann ihnen zu folgen.
Zuweilen passiert ein Pascha von drei Roßschweifen, in glän⸗
zendem Wagen ausgestreckt, gefolgt von seinem Pfeifenträger,
feiner Wache, einem Schwarzen zu Fuß, die Brücke und dann
grüßen alle Türken, indem sie sich Stirn und Brust berühren, und
Bettlerinnen stürzen an die Wagenfenster um Almosen zu er—
betteln. Bei jedem Schritt glänzt eine neue militärische Uniform.
Da sind Offiziere in Fes und roten Hosen, die Brust mit Orden
bedeckt, Stallmeister des Serails, die wie Generale aussehen,
Gendarmen mit einer ganzen Waffensammlung im Gürtel, Sol—
daten mit einem weißen, wallenden Federbusch auf dem Helm,
kaiserliche Wachen und Stadtwachen, mit Handschellen in den
Händen umherlaufend. Stiefelputzer, vergoldete Kasten tragend,
umherziehende Barbiere, Sessel und Becken in der Hand, Wasser—
und Süßigkeitsverkäufer drängen sich durch die Menge, alle in
griechischer und türkischer Sprache schreiend. Aus dem dumpfen
Gemuͤrmel der Menge heraus hört man das laute Schreien der
griechischen Knaben, mit Zeitungen jeder Sprache beladen, die
lauten Rufe der Lastträger, das schallende Lachen türkischer
Frauen, den Gesang der Blinden, die Verse aus dem Koran
singen, das leise Knarren der schwankenden Brücke, die Pfeifen
und Glocken von hundert Dampfschiffen, deren Rauch der Wind
zuweilen so dicht über die Menge treibt, daß man während
einiger Minuten nichts mehr sieht.
Diese Maskerade der Völker steigt in die Dampfboote,
die jeden Augenblick nach Skutari, den Dörfern am Bosporus,
den Vorstädten am Goldenen Horn abgehen, verbreitet sich über
Stambul, eilt in Basare und Moscheen und in die fernsten
Stadtviertel am Marmarameere. Edmondo de Amieis.
84
53. In Italien. 2ꝛ 2 2 2 2
b3. In Ilalien.
Neapel den 17. November 1840.
Hier habe ich nun die rauhen Berge des Thüringer
Waldes gegen die Ufer des neapolitanischen Golfs vertauscht,
die dunklen Tannen, die ihre Zweige unter der Last des Schnees
senkten, gegen lichtgrüne Zitronenbäume mit goldenen Früchten,
gegen Palmen und Oliven. Gerade vor meiner weitgeöffneten
Balkontür erhebt sich jenseit der Bucht der Vesuv, aus dessen
Lrater dichte weiße Wolken emporwirbeln. Weinberge und
Gärten bedecken seinen Fuß und längs des Ufers zieht sich eine
ununterbrochene Reihe von Häusern, Palästen und Ortschaften
hin. Weiter rechts ragt das Vorgebirge Sorrento ins Meer
und die Insel Capri hebt ihr zackiges Haupt aus der Flut. Un—
mittelbar unter den Fenstern das rege Treiben dieser volkreichen
Stadt. Alles ist hier lärmend, selbst die Brandung des Meeres
gegen die felsigen Ufer und hohen Kais scheint mir lauter
als anderswo. Die Austern- und Fischverkäufer mit ihren eß—
baren Seetieren, die Eseltreiber, die ungeheure Lasten von Ge—
müsen herbeiführen, die wir seit dem Frühjahr nicht gesehen,
die Blumen- und Weintraubenverkäufer, die Kutscher, die Bettler
und selbst die Faulenzer, die sonst nichts tun, schreien wenigstens.
Wenn ein Lazzarone Langeweile hat, so stößt er einen Schrei
aus und flugs sammelt sich eine Gesellschaft um ihn, die eben—
falls schreit, und alle sind zufrieden. Die Pferde vor den Wagen
tragen Schellen, und da alle ihre Lungen gleich sehr anstrengen,
kann keiner sich verständlicher machen, als wenn alle leiser
sprächen. Wirklich geht man mit einer Art von Betäubung
durch die Straßen; plötzlich fährt Dir ein Mietswagen quer
vor die Füße. „Wünschen Sie einen Wagen?“ ruft der Führer
aus allen Kräften und nötigt Dich einen Umweg zu machen,
wenn Du weitergehen willst. „Eccellenza!“ ruft ein anderer
und zeigt mit vorwurfsvollem Blick auf Deine Stiefel. Aller—
dings sind sie in der höchst unreinlichen Straße sehr beschmutzt,
und während Du den Blick darauf richtest, hat der Mann Dich
schon beim Fuße gepackt. Er stellt einen kleinen kastenartigen
Schemel unter und mitten im Gewühl von Menschen und Pfer—
den stellt er für 2 Soldi den völligen Glanz der Fußbeklei—
dung mit der Bürste wieder her. „Gehen wir zu Schiff!“
schreit ein kleiner Matrose und verrennt mir den Weg.
„Aus Barmherzigkeit, Herr!“ ruft ein Bettler und streckt die
—
B —
2 663 In Aalien · 222
Krücke aus, so daß Du hinübersteigen mußt. Wo Du Dich
hinwendest, beeinträchtigt jemand Deine Freiheit um Dich zu
veranlassen ihm einen Gewinn zu gönnen. Ein deutscher Bettler
öffnet Dir die Tür, ein italienischer macht sie zu, damit Du
das Aufmachen erkaufen sollst.
In Deutschland sucht ein Armer durch irgend eine Hilfe—
leistung Anrecht auf eine Unterstützung zu gewinnen; der ita—
lienische Bettler will Dich zwingen ihm etwas zu schenken und
macht sich so lästig und unleidlich wie möglich, damit Du Dich
seiner durch ein Almosen entledigen sollst. Er hält Dich an
den Kleidern fest, zeigt die ekelhaftesten Wunden und Verstüm—
melungen, schimpft, wenn Du ihm nichts gibst, und lacht Dich
aus, wenn Du ihm gegeben hast. Du darfst nur nach dem Namen
einer Straße fragen, so streckt, der Dir die Antwort gab, die
Hand nach einer Belohnung aus. Ein ganz wohlgekleideter
Mensch verfolgte mich durch Livorno um mir das Haus des
preußischen Konsuls zu zeigen, das ich mir schon hatte bezeich—
nen lassen. Ich sagte ihm, daß er sich nicht bemühen möge,
weil ich ihm nichts geben würde. „Dort in dem Hause im
dritten Stock,“ sagte der Mann und zog sich zurück. Erstaunt
über die Bescheidenheit, kletterte ich die hohen Stiegen hinan
und fand, daß der Konsul im Erdgeschoß wohnt. Eine Haupt—
regel ist, daß man dem Italiener nie auf einmal gibt, was
man ihm zugedacht. Gib ihm fünf Franken für die kleinste
Dienstleistung, so wird er sagen: „Es ist wenig.“ Gib ihm aber
erst einen Franken und dann einen halben, so ist er zufrieden.
Zum Merkwürdigsten, was man in Italien besehen
kann, zählt die ausgegrabene Stadt Pompeji. Wie durch
Zauber wird man aus der Gegenwart in die ferne Vorzeit, aus
dem neunzehnten in das erste Jahrhundert der christlichen Zeit—
rechnung versetzt. Die Zeit, die Völkerwanderungen und die
Kunstliebhaber zerstörten die prachtvollsten und solidesten Bauten
der Römer und Griechen. Von den gewaltigsten Tempeln und
Theatern sieht man heute meist nur noch einzelne Säulenschäfte
und halbversunkene Gewölbe. Aber Pompeji wurde durch ein
plötzliches Naturereignis an einem Tage mitten im dermaligen
Leben seiner Bewohner überrascht und für fast zwei Jahrtausende
eingesargt. Die Erde selbst war das Museum, in dem nicht nur
seine Kunstschätze, sondern die ganzen häuslichen Einrichtungen
der Bevölkerung sicher aufgehoben waren. Eine zehn bis zwanzig
Fuß hohe Decke von Asche und Bimssteinen sicherte alles dies
vor Zerstörung und zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
86 —
53. In Italien. ꝛꝛ e e ee ee
wußte man zwar, daß ein Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79
nach Christi Geburt Pompeji zerstört, nicht aber, wo diese Stadt
gelegen hatte. Einige beim Brunnengraben aufgefundene In—
schriften bezeichneten zuerst den Ort. Gegenwärtig ist etwa der
vierte und jedenfalls der interessanteste Teil der Stadt, auf
dem Weinberge und Landhäuser sich ausbreiteten, ans Tages—
licht gezogen. Denn ausgegraben sind: das Forum, zwei Theater,
die Straße der Handwerker und Kaufleute, der Zirkus vor dem
Tor, die Straße der Gräber und die Häuser bekannter Männer,
wie Cicero, Diomedes, Sallust u. s. w. Die Einwohner Pompejis
waren im Augenblick des Ausbruches gerade im Amphitheater
versammelt, das mit seinen Marmorstufen und Löwenzwingern
vor unserem Blicke aufgedeckt steht. Wahrscheinlich hatte der
größere Teil Zeit sich zu flüchten.
Jedoch findet man auch einen großen Teil Verunglückter.
Im Tempel der Isis lag in den unteren Gewölben ein Skelett
mit einer Brechstange. Der Mann hatte sich durch zwei dicke
Mauern durckgearbeitet. Ein weibliches Skelett hielt in seinen
Armen die Skelette zweier Kinder, die es gegen den Aschen—
regen hatte schützen wollen. Nichts überrascht so sehr als die
Frische der Farben, die zweitausend Jahre lang an diesen Kalk—
wänden kleben. Fast alle Fußböden der größeren Häuser sind
mit den zierlichsten Mosaiken bedeckt und die Springbrunnen mit
dem zerbrechlichen Schmuck von Schnecken und Seemuscheln
sehen aus, als ob sie eben fertig geworden. Man staunt über
die Richtigkeit der Zeichnung und den Glanz der Farben bei
den schwebenden Figuren auf rotem oder schwarzem Grund,
welche die Wände schmückten und jedesmal Bezug auf die Be—
stimmung des Ortes hatten. Ein Pfeiler im Hause eines Tuch—
fabrikanten zeigt das ganze Verfahren dieses Geschäftes. In den
Speisezimmern findet man Obst-, Blumen- und Jagdstücke. Die
Namen der Handwerker sowie die der Straßen sind mit schöner
Schrift, meist rot an den Häusern angeschrieben. Die Räder
der Wagen haben Geleise in das harte Lavapflaster gegraben,
an einigen Stellen liegen noch die Steine um bei Regenwetter
trockenen Fußes von einem Fußsteig auf den andern über die
Straße gelangen zu können. Man hat Brot, Mehl, Oliven,
Feigen, Bohnen, freilich verkohlt, Weinkrüge, zahllose Töpfer—
geschirre von der zierlichsten Form und mit den bekanntesten
Figuren auf schwarzem Grund, Kochöfen, Backherde, allerlei
Handwerksgeräte, Würfel, Schachspiele, musikalische Instru—
mente, Küchengeschirre und Wagschalen gefunden und alles
— 3z —
54. Das Mittelländische Meer.
unterscheidet sich von eben diesen jetzt gebräuchlichen Gegen—
ständen nur darin, daß es zierlicher und geschmackvoller ge—
arbeitet ist.
Aus einem Briefe Moltkes an seinen Vater.
54. Das Mittelländische Meer.
Das Mittelländische Meer ist das größte und schönste der
Europa einschließenden und in das Festland eindringenden
Meere. Ein ungeheures Becken, fünfmal so groß wie Deutsch—
land, trennt es Europa von Afrika. Erwägt man die Größe
der Ausdünstung einer so gewaltigen Wasserfläche unter einem
beinahe tropischen Himmel und hält man dagegen die im Ver—
hältnis geringfügigen Wassermassen, welche dem Meere durch
den Nil, den Po, die Etsch, die Rhone, den Ebro und die an—
deren kleineren Flüsse zugeführt werden, so müßte man ent—
weder auf eine Verringerung des Wassergehaltes schließen oder,
da dieser nicht nachgewiesen werden kann, auf einen ander—
weitigen Ersatz. Letzteres ist der richtige Schluß; denn begeben
wir uns an die Meerenge von Gibraltar und auch an den Bos—
porus, so können wir uns davon überzeugen, daß sowohl der
Atlantische Ozean als auch das Schwarze Meer ununterbrochen
Wasser in das Becken des Mittelmeeres entsenden. Am auf—
fallendsten ist dies am Bosporus zu sehen, wo ein Strom von
fast 4km Breite mit solcher Gewalt in das Mittelmeer eindringt,
daß die Schiffe nur mit sehr starkem Winde oder mit Dampf—
kraft ihm entgegenarbeiten können. Weniger leicht wahrzu—
nehmen ist die Zuströmung aus dem Atlantischen Ozean, da
diese unter der Oberfläche des Wassers stattfindet, während
an der Oberfläche ein Strom aus dem Mittelmeere in das
Atlantische zu bemerken ist, weshalb man auch früher glaubte,
daß das Mittelmeer nach diesem Ozean abfließe. Dieser an
der Oberfläche stattfindende Abfluß des um mehrere Grade
wärmeren Wassers des Mittelmeeres verschwindet aber fast
gegen den gewaltigen, 30 km breiten und Hunderte von Metern
tiefen kälteren Strom aus dem Ozeane in das Mittelmeer.
Am Mittelmeere unterscheiden wir ein östliches und ein west—
liches Becken, als dessen Grenzscheide ein unterseeischer Berg—
rücken zwischen Sizilien und der gegenüberliegenden afrikanischen
Küste anzusehen ist. Die Tiefe des Meeres über diesem Gurte
beträgt nur 10 bis 130 m und diese breite Bank zeigt deutlich
den früheren Zusammenhang Afrikas mit Europa. Rechts und
23
54. Das Mittelländische Meer. z3
links von ihr ist die Tiefe des Meeres sehr bedeutend, mit—
unter über 1800 m.
Die eingeschlossene Lage des Mittelmeeres, die ihm Schutz
gegen die Nordwinde gewährt und den Südwinden den Zugang
offen läßt, erhöht seine Temperatur dergestalt, daß sie an der
Oberfläche fast zwei Grade höher ist als unter gleicher Breite
im Ozean und seine Wärme nimmt auch nach der Tiefe zu
nicht so rasch ab wie in den offenen Meeren.
Mit dieser Erscheinung steht der große Salzgehalt des Mittel—
meeres in Verbindung. Die Gewässer des Atlantischen Ozeans sind
salzig; aber in dem Siedekessel des Mittelmeeres verden sie durch
die Verdunstung verdichtet. Daher ist das Wasser des Mittelmeeres
fast doppelt so salzreich wie das des Atlantischen Meeres.
Das Mittelmeer hatte stets hohe Bedeutung für die Kultur
und den Handel Europas. Die Phönizier eröffneten die Schiff—
fahrt auf dem Mittelmeere; später aber liefen die Römer ihnen
den Rang ab. In jenen Zeiten verkehrten an der afrikanischen
Nordküste 400 Städte miteinander, während jetzt dort kaum 20
von einiger Handelsbedeutung sind. Die Insel Sizilien, diese
Perle des Mittelmeeres, war einst mit so vielen großen und
volkreichen Städten besetzt, wie man jetzt im ganzen übrigen
Jtalien zusammen nicht findet. Das tätige Volk der Phönizier
richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Handel und Fa—
briken. Das Land, das sie bewohnten, trieb sie dazu an;
denn zum Landbau war es wenig geeignet und auch zu klein.
Ihr Handel ging teils zu Lande mittels der Karawanen teils
zur See, wozu sie die ersten Seeschiffe bauten. Arabien gab Weih⸗
rauch. Myrrhen, Zimt, Edelsteine und Elfenbein, Armenten Eisen,
Stahl und Pferde, Persien und Babylon Sklaven, Kupfer und
Putzwaren, Ägypten baumwollene Zeuge; Gold und Silber hol⸗
ten sie aus Spanien, Zinn von den britischen Inseln und Bern⸗
stein von der Ostseeküste. Das war das große Gebiet, welches
der phönizische Welthandel umfaßte, und das Triebrad desselben
war das Mittelmeer. Bei jedem Schritte vorwärts legte das
umsichtige Volk Kolonien an, damit den Kaufleuten die Wie—
derkehr gesichert war. So entstanden in Spanien Cadiz, Ma—
laga und Sevilla. Von Cadiz aus machte man Entdeckungs⸗
fahrten im Atlantischen Ozean, die nach England und an die
Küste Norddeutschlands führten.
Bis tief in das Mittelalter hinein blieb das Mittelmeer
das befahrenste Meer der Welt; namentlich waren es zwei
Städte, Genua und Venedig, die im Mittelalter lange Zeit
89 —
5
54. Das Mittelländische Meer. ꝛ e —
den Welthandel beherrschten. Indem sie die vielen über⸗
fahrten der Kreuzheere nach dem Heiligen Lande besorgten,
waren sie so reich und mächtig geworden, daß sie den
sämtlichen verbündeten Fürsten Europas trotzten. Beim
Beginne der Reformation stand Venedig auf dem Gipfel seiner
Maͤcht. Man kaufte zu jenen Zeiten die geschätzten Erzeugnisse
Ostindiens: Gold, Edelsteine, Gewürze, Elfenbein, Baumwolle,
Seide, Apotheker⸗ und andere Waren den arabischen Kaufleuten
ab, die sie nach dem Arabischen und Persischen Meerbusen brach—
ten, von wo aus sie auf Kamelen nach Alexandrien oder nach
den syrischen und kleingsiatischen Häfen geführt und nun durch
die Italiener weiter nach Europa vertrieben wurden.
Die Verteuerung der Waren durch diesen Zwischenhandel
trieb die Portugiesen zu Entdeckungsreisen an, welche zu der
Entdeckung des Seeweges nach Ostindien führten, wo Vasco
de Gama 1498 int Die Portugiesen eroberten und besetzten
Ormus am Persischen Meerbusen, Ceylon, Malakka und die
seoluen machten Goa zum Mittelpunkte ihres ostindischen
Handels, gingen mit China Handelsverbindungen ein und so
wanderte denn die Herrschaft auf dem Meere von Venedig und
Genua, den „Augen Italiens“, noch weiter westlich nach Por⸗
tugal, das nunmehr den Welthandel behauptete.
Auf die Portugiesen folgten die Spanier, Franzosen, Dänen,
Holländer und endlich die Engländer als Handelsherren der
Welt. Jetzt sind London, Antwerpen, Hamburg, Lissabon und
Amsterdam die Haupthandelsplätze Europas.
Daß das Mittelmeer jetzt wieder anfängt zu höherer Bedeu⸗
tung zu gelangen, verdankt es der im Jahre 1869 erfolgten
Eröffnung des Suezkanals und der dadurch hergestellten Ver⸗
bindung mit dem Roten Meere. Der Handelsweg um Afrika
weicht dem über Suez. Auf jenem Wege liegen London und
Bombay 11500 englische Meilen voneinander; dieser Weg ist
dagegen um 5300 Meilen kürzer. Die Holländer ziehen nun ihr
Jaba, ebenso die Engländer, Franzosen und Deutschen ihre asia⸗
schen Besitzungen auf viele Hunderte von geographischen Meilen
näher an sich. Die Erzeugnisse jener Länder kommen uns dadurch
natürlich auch um so viel näher und wir erhalten sie wohlfeiler
und in größerem Maße, wofür wir größere Massen von unseren
Erzeugnissen mit Vorteil absetzen. Darin besteht der eingetretene
große Umschwung der Handels- und Verkehrsverhältnisse, wo—
ei das Mitlelmeer als Hauptvermittler zwischen Europa, Asien
und Afrika an Bedeutung in hohem Grade gewinnt. Joseph Kitzen.
90
* *55 655. Der Zigeunerbube im Norden. 3
bb. Der Zigeunerbube im Norden.
1. Fern im Süd das schöne
Spanien ist mein Heimatland,
wo die schattigen Kastanien
rauschen an des Ebro Strand,
wo die Mandeln rötlich blühen,
wo die reife Traube winkt,
wo die Rosen schöner glühen
und das Mondlicht goldner blinkt.
Ind nun wandr ieh mit der Laute
brav⸗ hier von Haus zu Haus,
doca roin helles Auge schaute
freundlich noch nach mir heraus.
Spärlich reicht man mir die Gaben;
mürrisoh heibet man mieh gehn;
ach, den armen, braunen Knaben
will kein einziger verstehn.
Dieser Nebel drückt mich nieder,
der Sonne mir entlernt,
un e alten, lust'gen Lieder
hal a alle fast verlernt.
mwer in die Melodien
sehl tder eine Klang sich ein:
seimat möcht' ich ziehen,
and voll Sonnenschein!
beim letzten Erntefeste
w groben Reigen hielt,
h jüngst das allerbeste
memor Lieder aufgespielt.
Doch wie sich die Paare schwangen
in dr Abendsonne Gold,
sind auf meine dunkeln Wangen
heiße Tränen hingerollt.
5. Nein! Des Herzens sehnend Schlagen,
länger halt' ieh's nieht zurück;
will ja jeder Lust entsagen,
labt mir nur der Heimat Glück!
Fort zum Süden! Fort nach Spanien,
in das Land voll Sonnenschein!
Unterm Schatten der Kastanien
mub ieh einst begraben sein.
Emanuel Geibol.
9
56. Frankreich.
56. Frankreich.
Frankreich zerfällt seiner natürlichen Beschaffenheit nach
in zwei Teile. Das Land nördlich der Loire und der Berge
von Auvergne gehört schon dem Norden und nähert sich dem
Klima Deutschlands und Englands; das Land südlich der Loire
bis an das Mittelmeer und die Pyrenäen hat bereits die Natur
des Südens und doch ist es noch nicht ganz Südland wie der
größte Teil Italiens und Spaniens. Das Deutschland benach—
barte Frankreich bildet seiner Lage nach das Übergangsland
vom romanischen zum germanischen Europa. Romanen und
Germanen haben sich hier vermischt. Eine solche Doppelnatur
seiner eigenen Gesittung hat dieser sowohl in den Ländern
des Südens als in denen des Nordens leichten Eingang ver—
schafft. Daher war Frankreich in den letzten Jahrhunderten
neben seinem bedeutenden Einfluß in den politischen Verhält—
nissen auch zu einer gewissen geistigen Weltherrschaft über
Europa gelangt; seine Sprache war lange Zeit die Sprache der
Gebildeten der verschiedensten Völker.
Es springt sofort in die Augen, daß Frankreichs Fluß—
systeme höchst günstig für den Binnen- und Außenverkehr an—
geordnet sind. Nach verschiedenen Richtungen laufend, setzen
sie das Innere mit dem Atlantischen Ozean und dem Mittel—
meere sowie den Rheinlandschaften im Nordosten in leichte Ver—
bindung; da ihre Wasserscheiden überall Lücken und Senkungen
darbieten, so konnten die einzelnen Flüsse leicht untereinander
in Verbindung gesetzt werden. Infolge der früh erlangten poli—
tischen Einheit des Landes ist dies großartige, ganz Frank—
reich überspannende Kanalnetz schon längst vollendet, während
wir Deutsche erst in neuerer Zeit dem Kanalbau erhöhte Auf—
merksamkeit zuwenden. Doch hat die maßlos betriebene Ent—
waldung der Berge einen sehr ungünstigen Einfluß auf Wasser—
stand und Binnenschiffahrt ausgeübt. Mächtige Überschwem—
mungen infolge der Sommergewitter und zunehmende Ver—
sandung der Flußbette werden überall beklagt.
In Bezug auf den natürlichen Reichtum seines Bodens,
den hohen, alle Schichten der Bevölkerung weit gleichmäßiger
denn anderswo durchdringenden Wohlstand nimmt Frankreich
unbestritten die erste Stelle unter den europäischen Staaten
ein. Deshalb verdient dieses Land, welches freilich nicht die
vielgestaltige Mannigfaltigkeit Spaniens und Italiens besitzt,
mit vollstem Rechte den Namen das „schöne Frankreich“. Es
ist reich an herrlichem Wein, an Getreide und Obst. Man zieht
9
2
2—
2225725222 57. Deutschland über alles! 22 22 22 22 22222
im Süden schon den Olbaum und einzelne Südfrüchte, auch
den Maulbeerbaum mit der Seidenraupe. Da es die mittel—
europäische Zone mit der des Mittelmeeres in sich vereinigt,
so ist Frankreichs Pflanzenwelt sehr reich. Man pflegt das
Land in die Zone des Getreides, Nordfrankreich, des Maises,
Mittelfrankreich, und der Kastanie, der Feige und des Ol—
baumes, Südfrankreich, einzuteilen; die Hochgebirgspflanzen
der Alpen und Pyrenäen hat es mit den übrigen Alpenländern
gemeinsam.
Desgleichen stimmt seine Tierwelt im ganzen mit der von
Mittel- und Süd-Europa überein und zeigt Unterschiede nur
darin, daß Nordfrankreich mehr Rinder und Schafe zählt als
Südfrankreich, daß die Pferdezucht im allgemeinen dem Be—
darf nicht genügt, Wölfe und Wildschweine noch nicht aus—
gerottet sind und im Süden Frankreichs Bienen und noch mehr
die Seidenraupen eifrige Pflege finden. Das Meer liefert reich—
lichste Ausbeute an Fischen, besonders an Thunfischen, Heringen,
Sardinen, und an Seesalz. Auch der Boden birgt große
Schätze an Eisen, Blei, Stein- und Braunkohlen, Erdharz, Schie—
fer und dergleichen. Dazu kommen noch zahlreiche, in allen
höheren Gebirgen sprudelnde, sehr wirksame Mineralquellen.
Beschäftigt der Ackerbau auch noch die Mehrzahl der Bevöl—
kerung, so ist doch Frankreich im Laufe unserer Zeit auch ein
wichtiger Industriestaat geworden. Der Zahl der Baumwollen—
spindeln nach ist Frankreich das zweite Land Europas und
die Wolleverarbeitung liefert ansehnliche Ergebnisse. Vorzüg—
liches leistet der Gewerbefleiß in Luxuswaren. Unübertroffen
ist das Kunstgewerbe der Hauptstadt des Landes und die Pariser
Erzeugnisse, namentlich die der Mode, gehen gleich der Seide
von Lyon, dem Ol aus der Provence und den Weinen von
Bordeaux und der Champagne durch die ganze Welt.
Nach Buchholz.
57. Deutsohlaud über alles!
Manches Land hab' ich gesehen,
manches Volk hab' ich geschaut;
UÜbles müsse mir geschehen,
wollt' ich's nicht bekennen laut:
Nie hat mir gefallen
fremder Lande Brauch;
frei drum sag' ieh's auch:
Deutscher Brauch ist über allen!
953
ue e ee 57. Deutschland über alles! e e *
Von der Elbe bis zum Rhein,
von dem Rhein bis Ungerland
mag der Völker erstes sein,
die ich in der Welt erkannt.
Kraft und reine Minne,
Treue unverzagt,
Mut, der alles wagt,
Deutschland haält sie stets im Sinno.
Deutschland, du sollst mächtig sein
üher jedes Volk der Welt,
wie dein Eichenlaub im Hain
über alle Wipfel schwellt!
Mag in wildem Schwanken
Volk um Volk vergehn,
du bleibst feste stehn,
Deutschlands Stärke wird nieht wanken!
Gottfried Kinkel. nach Walter von der Vogelweide
94
274.4
— Ê ÊÜQ
in
— —c
Bild zu Lesestück Nr. 568: Die Familie Fugger.
IV. Aus der valerländischen Geschichte.
58. Die Jamilie Jugger.
Von den vielen mächtigen Geschlechtern, welche aus Augs—
burgs Mauern hervorgegangen sind, ist wohl am bekanntesten
und berühmtesten die Familie Fugger geworden.
Der erste urkundlich nachweisbare Stammvater der Fugger
hieß Hans Fugger; seine Heimat soll Graben am Lechfeld ge—
wesen sein. Wie die Augsburger Steuerbücher melden, wanderte
Hans Fugger im Jahre 1367 in Augsburg ein.
Hier führte seine Nachkommen in unaufhaltsamem Auf—
stieg der Weg aus der Werkstatt des Webers durch das Kontor
des weltbeherrschenden Kaufmanns bis in den prunkvollen
Fürstenpalast.
Hans Fugger arbeitete anfänglich als Weber; er war nicht
arm, aber noch weniger reich. Bald nach seinem Einzug in
— 95 —
zn ee e ee e 58. Die Familie Fugger. z33
Augsburg heiratete er die Tochter eines angesehenen Bürgers
und brachte es durch seine Tatkraft zu einigem Wohlstand; so
konnte er 1397 das stattliche Haus an der Marstraße, heute
Haus O 2 beim Judenberg, kaufen und dort in gzünstiger Ge—
schäftslage die Erzeugnisse seines Fleißes leicht absetzen. Was
er auf diese Weise an Geld erübrigte, verwendete er zum Ankauf
von kleineren Gütern außerhalb der Stadt.
Als er 1408 starb, soll er ein Vermögen von 3000 Gulden
hinterlassen haben, das wären nach unserem heutigen Geld—
werte etwa 100000 Mk., für einen Handwerksmann jedenfalls
eine stattliche Summe.
Die Söhne dieses Hans Fugger, Andreas und Jdakob,
dehnten das Geschäft bedeutend aus. Sie holten schon Güter
aus weiter Ferne und brachten sie in Augsburg auf den Markt.
Auch war bereits eine große Zahl von Handwerkern in ihrem
Dienste tätig. Ihr Vermögen wuchs beträchtlich an.
Der jüngere dieser beiden Brüder, Jakob, hatte drei Söhne,
Ulrich, Georg und Jakob, die das Geschäft so sehr erweiterten,
daß es damals seinesgleichen auf dem Erdenrunde nicht
mehr gab.
Die Seele des Geschäftes war Jakob Fugger, der 1459
geboren wurde und 1525 starb. Er trieb nur noch mit den
wertvollsten Waren, vorzüglich mit Edelmetallen, Handel; in
Tirol sicherte er sich durch Verträge mit dem Kaiser Marxi—
milian J. die Ausbeute an Silber und Kupfer, welche unge—
heuer groß war, ebenso erwarb er mit einer verwandten Familie
zusammen die ergiebigsten Bergwerke im ungarischen Erzge—
birge; ja durch seine Verbindung mit Karl V dehnte er fein
Handelsgebiet von den Karpathen bis zu den Queckfilbergruben
von Almaden in der Sierra Morena aus.
Die Folge davon war, daß das Vermögen Jakob Fuggers
ins Ungemessene wuchs und man begreift, wenn ein Zeitge—
nosse, der Benediktiner Clemens Sender, von ihm schreibt:
„Sein und seines Bruders Kinder Namen sind in allen König—
reichen und Ländern und auch in der Heidenschaft bekannt ge—
wesen. Kaiser, Könige, Fürsten und Herren haben zu ihm ihre
Botschaften geschickt, der Pabst hat ihn als seinen lieben Sohn
begrüßt und empfangen, die Kardinäle sind vor ihm aufge—
standen. Er ist eine Zierde gewesen des großen deutschen Landes
und besonders der Stadt Augsburg.“
Der Kaiser zeichnete Jakob Fugger durch viele Gnaden—
beweise aus; er ernannte ihn zum Geheimen Rat, verkaufte
96 —
ꝛ 2 2 58. Die Familie Fugger.
ihm 1507 die großen Herrschaften Kirchberg und Weißenhorn
und erhob ihn in den Adelsstand, nachdem schon der Vater
Kaiser Maximilians, Friedrich III., 1473 den Fuggern das Recht
die Lilie als Wappen zu führen, verliehen hatte.
Jakob Fugger erbaute das prächtige Fuggerhaus in der
Maximiliansstraße, in welchem nachmals öfters die deutschen
Kaiser abstiegen.
Doch Jakob verkehrte nicht nur mit den Großen der Erde;
er hatte auch ein Herz für die Armen. So stiftete er, um Gott
für den Segen zu danken, den er und seine Brüder im Handel
gefunden, im Jahre 1519 die Fuggerei in der Jakobervorstadt
mit 106 Wohnungen, damit dort arme, rechtschaffene, in Augs—
burg beheimatete Handwerker und Taglöhner um unbedeuten—
des Entgelt (1 Gulden jährlich) für ihren Lebensabend behag—
liche Unterkunft fänden. Später wurde bei diesen Häusern noch
eine eigene Kirche zu Ehren des hl. Markus erbaut.
Auch in seinem Testament bedachte Jakob Fugger die Armen
mit reichen Gaben.
Die Fuggerei hat die schweren Stürme der Zeit überdauert
und bildet heute noch die schönste Erinnerung an den reichen
und wohltätigen Handelsherrn.
Außer dieser „Stadt der Armen“ begründeten die Fugger
eine Reihe von Wohltätigkeitsstiftungen, deren reiche Mittel
den Notleidenden und Bedürftigen zufließen.
Jakob Fuggers Neffen, unter denen besonders Anton, ge—
boren 1493, gestorben 1560, hervorragte, setzten das Kaufmanns—
geschäft fort; sie begründeten mächtige Handelsniederlassungen
in Spanien und in den Niederlanden. Als Anton Fugger 1546
an die Auflösung des fast ins Unübersehbare angewachsenen
Geschäftes dachte, bezifferte sich das Betriebskapital auf fünf
Millionen Gulden, was einem Werte von rund 160 Millionen
Mark gleichgeschätzt wird. Für die damaligen Zeitverhältnisse
war das eine ungeheuerliche Summe.
Mehr und mehr aber wurden die Fugger aus Handels—
herren Edelleute. Sie kauften große Herrschaften und Güter,
so Babenhausen, Glött, Kirchheim, Oberndorf u. s. w, im ganzen
über 70, setzten durch ein Hausgesetz fest, daß der Besitz niemals
durch Verkauf der Familie entfremdet werden dürfe und erlangten
Aufnahme in den hohen Adel, der bei Verwaltung des Reiches
beteiligt war. Schon im Jahre 1530 hatte Kaiser Karl V.,
welcher Jakob Fugger hauptsächlich seine Wahl als Kaiser zu
Augsburger Lesebuch, VI. Kl.
97
22 22 255 222 22 559. Augsburgs einstiger Handel. 22 222322
verdanken hatte, den Fuggern die Würde von Reichsgrafen
erblich verliehen.
Anton Fugger wendete von der Stadt Augsburg großes
Unheil ab, als er im Jahre 1547 nach dem Schmalkaldischen
Kriege durch seine Fürbitte Kaiser Karl V. bestimmte von dem
geplanten Rachezug gegen Augsburg Abstand zu nehmen.
Von den späteren Nachkommen Anton Fuggers wurde
Anselm Maria, welcher die Herrschaft Babenhausen innehatte,
im Jahre 1803 in den erblichen Fürstenstand erhoben.
Die fürstliche Linie besitzt außer dem Fuggerhaus zu Augs—
burg, dem Schloß zu Babenhausen und anderen auch das Schloß
Wellenburg bei Göggingen.
Daneben besteht gegenwärtig noch die gräfliche Linie
Fugger⸗Glött-Kirchheim⸗Oberndorf, welcher die Schlösser in
Kirchheim und Oberndorf gehören und die gräfliche Linie
Fugger-Kirchberg-Weißenhorn, die in Württemberg begütert ist.
Einem Fugger, der sich um Kunst und Wissenschaft verdient
gemacht hatte, Hans Jakob Fugger, hat Bayerns kunstsinniger
König Ludwig J. in der Philippine Welserstraße ein Denkmal
gesetzt.
59. Augsburgs einstiger Handel.
Schon im Anfange des 10. Jahrhunderts unterhielt Augs—
burg Handelsbeziehungen zu Italien. Doch wurde der deutsch—
venetianische Verkehr erst im 14. Jahrhundert bedeutend. Von
den Kaisern mit verschiedenen Maut- oder Zollrechten aus—
gerüstet, hielt Augsburg damals die Hauptstraße nach Venedig
im Stande. Sie ging über Kempten, Füssen, Innsbruck und
den Brenner durch Welschtirol nach der Lagunenstadt. Nach
und nach erlangte Augsburg das umfassendste Vermittlungs—
und Verfrachtungsgeschäft für alle Waren, die aus Italien kamen
und nach Italien gingen. Regensburg hatte längst seine groß—
artige Stellung im italienischen Verkehr eingebüßt. Nürnberg
hingegen beteiligte sich seit dem 14. Jahrhundert lebhaft am
italienischen Warenzuge. Von Oberdeutschland gingen die mor—
genländischen Handelsartikel zu Land bis nach Polen oder zu
Wasser nach Flandern, von wo aus hanseatische Kaufleute sie in
die nordischen Reiche brachten. Die Kaufleute von Ulm, Augs—
burg und Nürnberg besuchten zahlreich die Märkte von Venedig
und Genua. Kaiser Albrecht J. begünstigte den Verkehr mit
Venedig sehr, indem er einige erschwerende Zölle abschaffte.
— 9
59. Augsburgs einstiger Handel. 22 e 2 e en ee—
Reiches Leben und massenhafter Verkehr kamen durch den üÜber—
landhandel mit Venedig nach Ulm und Augsburg. Bis ins
16. Jahrhundert behielt er seine Bedeutung. Auf ihren Reisen
nach Italien kehrten die Handelsherren aus Flandern, Bra—
bant und den Rheinlanden in den oberdeutschen Städten ein,
schlossen Geschäftsverbindungen und Verträge ab. Der Kaiser
überhäufte Augsburg mit Gnaden und besonderen Rechten.
Inmer stärker wurde die Ausfuhr an Erz, Holz, Fellen, Leder,
Leinwand, feinen Tüchern, Kurzwaren, Waffen und sonstigen
Metallwaren über die Alpen.
Der Hauptaustausch der Waren zwischen Italien und
Deutschland fand in Venedig statt. Hier, an der Rialto-Brücke,
in dem geräumigen „Hause der Deutschen“ war reichliche
Unterkunft für die deutschen Kaufleute und ihre Waren.
Brachten sie die Erzeugnisse deutscher Gewerbetätigkeit, die
Ausbeute deutscher Bergwerke, so fanden sie in Venedig
selbst Abnehmer dafür oder setzten sie an die nach Klein—
asien segelnden Galeeren ab. Hingegen kauften sie die Fabrikate
Venedigs, die Erzeugnisse Italiens und die von den Galeeren
aus Indien und Arabien durch das Rote Meer nach Ägypten
und von hier nach Italien geführten Gewürze, Farbwaren und
Seidenzeuge.
Das goldene Zeitalter für Augsburg und Nürnberg waren
das 15. und 16. Jahrhundert. Die genannten Städte waren
damals der Mittelpunkt des europäischen Landhandels und ver—
mittelten den Umsatz zwischen allen Himmelsstrichen Europas.
In regem Verkehr stand Augsburg mit Lyon, das im 16. Jahr—
hundert als der Mittelpunkt des Durchfuhrhandels zwischen
Italien, Frankreich, England, Flandern und Deutschland galt.
Auf den Augustmessen in Lyon erschienen die Augsburger Kauf—
leute gar zahlreich. Die rührigen Welser beschickten sie eifrig
und hatten hier wie die Fugger ihre Niederlagen. Die Kaufleute
von Augsburg, Nürnberg, Ulm und Memmingen machten große
Geldgeschäfte mit den Königen von Frankreich, die ihnen als
schwer verpflichtete Schuldner im 16. Jahrhundert große Han—
delsfreiheiten gewähren mußten.
Wie mit allen europäischen Hauptstädten standen die Augs—
burger auch mit den Niederlanden in reger Beziehung. Den
hauptsächlichsten Umsatz in Waren hatten die deutschen Häuser
im 16. Jahrhundert in Antwerpen. Dorthin wurden ihnen von
Lissabon aus die Kolonialwaren des Südens zum Verschleiße
in den deutschen und nordischen Ländern übersandt. Aber weit
59
5
n
2ꝛ 2 60. Die Belehnung Friedrichs J. mit der Mark Brandenburg. 3ꝛ 3
umfassender als ihr Einfuhrgeschäft wurde ihr Bankgeschäft,
das ihnen auch noch blieb, als ihnen die Niederländer nach
ihrer Erhebung gegen Spanien den Ausfuhrhandel abgenommen
hatten. Der Geldhandel war bis ins 16. Jahrhundert unlöslich
mit dem Warenhandel verbunden und lag zum großen Teil in
den Händen von Italienern. Jetzt wurde er allmählich zum
selbständigen Geschäfte. Unter den deutschen Städten nahm im
Geldhandel Augsburg den ersten Rang ein. Seit Ende des
15. Jahrhunderts rüsteten die Augsburger Handelsherren selbst
Schiffe aus und trieben unmittelbare Ausfuhrgeschäfte in Ver—
bindung mit Häusern in Genua und Venedig. Freilich waren
die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien große
Niederlagen für die oberdeutschen Städte. Anstatt Venedig
wurde Lissabon der Hauptmarkt für die indischen Handelswaren.
Aber das beugte ihren Unternehmungsgeist nicht. Sie wandten
sofort ihre Tatkraft den neuen Wegen des Völkerverkehrs zu
und beteiligten sich bei den indischen Ladungen portugiesischer
Schiffe, besonders bei dem Handel mit Pfeffer. Die großen
Augsburger und Nürnberger Handelsherren begriffen ihre Zeit.
Sie unternahmen zuerst von allen Deutschen für eigene Rech—
nung und auf eigenen Schiffen Fahrten nach Ostindien und
den neuentdeckten Ländern in Westindien und schütteten durch
ihre Niederlagen die Erzeugnisse des Morgenlandes über ganz
Europa aus.
Nach Dr. Artur Kleinschmidi.
60. Die Belehnung Friedrichs J. mit der Mark Brandenburg.
Im Jahre 1415 hatte Kaiser Sigismund die Markgrafschaft
Brandenburg dem Burggrafen Friedrich von Nürnberg aus dem
Hause Hohenzollern erb- und eigentümlich übertragen. Auf dem
Konzil zu Kostnitz sollte Friedrich nun die feierliche Belehnung
als Markgraf von Brandenburg empfangen. Diese merkwür—
dige Feier gestaltete sich folgendermaßen.
Vor dem Hause, das der „Hohe Hafen“ hieß, der Wohnung
des Königs, war eine breite Tribüne erbaut, auf der wohl
30 Menschen stehen konnten. Eine Treppe führte von der Straße
hinauf und eine Tür nach dem Innern des Hauses. Das Gerüst
war mit schönen, golddurchwirkten Tüchern bedeckt und an den
Seiten mit ebensolchen Teppichen behängt. Wenn einer von
unten hinaufsah, meinte er, es glänze alles von Gold. In der
Mitte stand ein Sessel, mit ähnlichen Teppichen und einem
Kissen belegt, rechts und links, etwas niedriger, eine Bank,
— 3—
.
m*60. Die Belehnung Friedrichs J. mit der Mark Brandenburg. z
jede hatte Platz für vier Personen. Am 18. April 1417, in der
Frühe des Morgens, ritten alle Posauner und Pfeifer, soviele
ihrer in der Stadt waren, durch die Straßen und Gassen; ihnen
folgte der ganze Anhang des Burggrafen: Herren, Freie, Ritter
und Knechte zu Pferde. Jeder trug an einer Stange ein rotes
Fähnlein. Unter ihnen taten sich zwei reichgeschmückte Ritter
hervor; der eine trug das Wappen des Markgrafen von Bran—
denburg, der andere den Schild des Burggrafen von Nürnberg.
Dreimal bewegte sich der Umzug durch die Stadt.
Um die neunte Stunde ordnete sich ein anderer Zug, an
dem alle Kurfürsten, Herzoge, Fürsten, Grafen, Freiherren,
Ritter und Knechte teilnahmen; denn alle wollten an diesem
Tage dem Markgrafen aufwarten. Dieser Zug bewegte sich
nach dem „Hohen Hause“ am Fischmarkte um den Markgrafen
abzuholen und zog, geführt von zwei Bannerträgern, ebenfalls
durch verschiedene Straßen. Der „Obere Markt“ war viel zu
eng die Menge der Reiter zu fassen; der Zug staute sich in
die anliegenden Straßen zurück. Es entstand ein solches Ge—
dränge, daß niemand zu Fuß durchkommen konnte. Alle Dächer,
Luken, Läden und Fenster, die auf den Markt hinausgingen,
waren voll von Menschen, Geistlichen und Laien, Männern und
Frauen. Da durfte man sich wohl wundern, daß weder Mann
noch Noß zu Schaden kam.
Tor dem Hause des Königs hielt der Markgraf an. Zu
gleicher Zeit trat Sigismund heraus um auf dem Sessel Platz
zu nahmen. Hinter ihm erschienen zwei Kardinäle, und nahmen
die Sitze neben dem Könige ein. Hinter diesem stellte sich der
Kanzler auf, eine mit Siegeln versehene Urkunde in der Hand
haltend. Darauf erschien der Pfalzgraf Ludwig mit dem Zepter
und der Herzog Rudolf von Sachsen mit dem bloßen Schwerte.
Rudolf legte das Schwert in den Schoß des Königs; als aber die
Handlung begann, nahm er es wieder und neigte die Spitze nach
des Königs Haupte. Beide Fürsten waren in geistlicher Tracht;
der König aber, mit einem roten Gewande angetan, trug die
Krone auf dem Haupte.
Der Markgraf war unterdes abgesessen und stieg nun die
Treppe hinan; zu jeder Seite schritt ein Bannerträger. Oben
angekommen, beugten alle drei das Knie, traten vor den König
und knieten vor ihm nieder. Nun las der Kanzler aus der
Urkunde vor, was des Markgrafen Pflicht und Amt sei, wie
er bei Erledigung des königlichen Thrones wählen solle und
den Wortlaut des Eides. Dann fragte der König den Mark—
191
61. Die erste Fahrt des Kolumbus über den Ozean. z *
grafen, ob er diesen Eid leisten wolle. Der antwortete: „Ja!“
Darauf nahm der König das brandenburgische Banner aus des
Trägers Hand und übergab es Friedrich, ebenso das zollernsche
Wappen, ferner Zepter und Reichsapfel. Zum Zeichen, daß die
feierliche Handlung nun beendet sei, erhob sich der König, nach—
dem der Herzog das Schwert von seinem Haupte zurückgezogen
hatte. Da fielen die Pfeifer und Posauner so kräftig ein, daß
niemand sein eigenes Wort hören konnte. An die Feier schloß
sich, wie es schon damals im deutschen Lande üblich war, ein
Mahl, an dem alle Festgenossen teilnahmen, die Kardinäle aus—
geschlossen, weil diese mit weltlichen Leuten nicht essen durften.
Der Markgraf beschenkte die Kanzler des Reiches, die Musikanten,
die Torhüter und andere Bedienstete so reichlich, daß sich nie—
mand beklagte.
So fand die feierliche Belehnung des Hauses Hohenzollern
mit der Mark Brandenburg ihren Abschluß.
R. Schillmann.
61. Die erste Fahrt des Kolumbus über den Ozean.
Am 3. August 1492, nachdem die Mannschaft vorher ge—
beichtet und das Abendmahl genommen hatte, verließen drei
Schiffe den Hafen von Palos um dem unbekannten Meere zu—
zusteuern. Kolumbus führte von Anfang an ein ausführliches
Tagebuch, von welchem Las Casos den größten Teil vielfach in
wörtlichen Auszügen der Nachwelt erhalten hat. Der Admiral
steuerte geradeswegs nach den Kanarischen Inseln. Da aber be—
reits am vierten Tage das Steuer der Pinta beschädigt wurde,
mußte man vier Wochen auf den Kanarischen Inseln festliegen.
Erst am 6. September setzte Kolumbus die Fahrt wieder fort und
steuerte mit dem Nordostpassat nach Westen. Schon am dritten
Tage, am 9. September, entschloß er sich, eine zweifache Be—
rechnung der täglich zurückgelegten Meilenzahl zu führen und
in dem jedermann zugänglichen Schiffsjournal kleinere Ziffern
aufzuführen, als er selbst die Entfernungen schätzte, um, wie
er sagte, die Mannschaft nicht durch die Größe der zurückgelegten
Meilenzahl zu erschrecken. Es ist dies wohl der einzige Fall,
daß bei einer großen Entdeckungsfahrt ein solches Mittel der
Täuschung zur Anwendung gekommen ist.
Am 16. September, wo die Schiffe zuerst in das Sargasso—
meer eintraten, glaubte er Anzeichen von der Nähe eines Lan—
des oder von Infeln zu bemerken. Am 18. September galt ein
— 10902—
IoL
61. Die erste Fahrt des Kolumbus über den Ozean. *2
dunkler Horizont als Zeichen von großer Nähe des Landes;
am 19. bildete sich ein Nebel ohne Wind, auch die schwimmenden
Tangmassen, welche häufig angetroffen wurden, galten als Be—
weis dafür. Dieses Tangmeer liegt zwischen 200 und 350 nörd—
licher Breite und reicht gegen Westen bis an den Rand des
Golfstroms. Das Kraut bedeckt die Oberfläche nicht in gleich—
mäßig dichten Massen, sondern treibt in langen Streifen in
der Richtung des herrschenden Windes Diese Streifen bestehen
aus mehreren Reihen von Krautbüscheln, höchstens einen Fuß
hoch; es sind vom Strande losgerissene Stücke, welche ab—
sterben und allmählich untersinken, so daß von einer Behin—
derung der Fahrt eines Schiffes nicht die Rede sein kann.
Der beständig günstige Fahrwind erregte die Besorgnis,
es werde wegen des herrschenden Ostwindes die Rückfahrt sehr
erschwert. Als am 23. September die Krautmassen wieder dichter
die Oberfläche des Wassers bedeckten und das Meer so ruhig
und glatt blieb, äußerte sich die Besorgnis des Schiffsvolks
laut, man werde in dieser Gegend niemals einen günstigen Wind
zur Rückkehr nach Spanien treffen. Als dann aber das Meer
sich erhob, ohne daß ein Wind wehte und eine rauhe See ent—
stand, waren alle höchst erstaunt. Die Erzählung von einer
Empörung und Verschwörung der Matrosen ist eine später ent—
standene Sage.
Am 7. Okltober gab die Nina, welche vorausgesegelt war,
durch einen Kanonenschuß das Signal, daß man Land sehe;
aber man mußte wiederum eingestehen, daß man sich getäuscht
habe. Am 9. Oktober spürte man einen frischen Hauch der
Luft. Am 11. Okltober fischte man bei dem Admiralschiff einen
frischgrünen Zweig, bei der Pinta einen mit Feuer bearbeiteten
Stab und einen Zweig mit roten Beeren aus dem Wasser. Am
späten Abend sah Kolumbus vom hohen Hinterkastell seines
Schiffes aus einen Lichtschein, der sich vorwärts zu bewegen
schien, als ob jemand eine Fackel trage; auch andere, die er
herbeirief, glaubten dasselbe zu erkennen. Man fand sich in
der Tat in der Nähe des Landes. Wenige Stunden später, am
12. Oktober morgens 2 Uhr, sah ein Matrose auf der Pinta
(Rodrigo v. Triana) einen flachen, sandigen Strand im Mond—
schein leuchten; denn man hatte sich dem Lande von der Seite
bereits bis auf zwei Seemeilen genähert. Ein Kanonenschuß
verkündigte die glückliche Entdeckung den beiden nachfolgenden
Schiffen, und sowie es Tag wurde, sahen sie eine anmutig grüne
Insel vor sich liegen.
103
8
61. Die erste Fahrt des Kolumbus über den Ozean.
Die üÜberfahrt von den Kanarischen Inseln hatte zweiund—
dreißig Tage gedauert.
Die Befehlshaber der Schiffe landeten nun mit bewaffneten
Booten. Unter fliegenden Fahnen stiegen sie ans Land und
warfen sich nieder um den Boden zu küssen.
Die braunen Insulaner scharten sich harmlos um die frem—
den, dem Meere entstiegenen Männer. Den ersten Verkehr mit
den Indianern schildert uns Kolumbus mit folgenden Worten:
„Da ich sah, daß die Leute eher durch Güte als durch Zwang
für unsern heiligen Glauben zu gewinnen waren, auch um ihr
Vertrauen zu erwerben, gab ich einigen von ihnen bunte Mützen
und Perlenschnüre, die sie um den Hals legten, und andere wert—
lose Gegenstände, die ihnen Vergnügen machten. Einige kamen
später an die Schiffsboote geschwommen und brachten Papa—
geien, Speere und viele andere Dinge und wir schenkten ihnen
dafür kleine Perlenschnüre und Glöckchen. Kurz, sie gaben gut—
willig her, was sie hatten. Im ganzen schien das Volk recht
arm. Es waren lauter junge Leute, keiner schien über zwanzig
Jahre alt zu sein, wohl gebaut, von sehr schöner Gestalt und
angenehmem Außern. Das Haar war so grob wie eine Pferde—
mähne und kurz. Nach vorn trugen sie es nur bis zu den Augen—
brauen; dagegen blieb es lang und ungeschoren im Nacken.
Einige hatten sich dunkel bemalt; aber in der Hautfarbe glichen
sie den Kanariern, weder schwarz noch weiß. Einige bemalten
sich weiß, einige rot oder sonstwie. Einige bemalten das Gesicht,
andere den Leib, andere nur die Augen, andere nur die Nase.
Sie haben keine Waffen und kennen auch keine. Als ich ihnen
einen Degen zeigte, griffen sie in die Klinge und verwundeten
sich aus Unwissenheit daran. Sie haben kein Eisen; ihre
Speere sind Stangen ohne Eisen. Einige haben an der Spitze
einen Fischzahn, andere eine andere harte Spitze.
Einige hatten, wie ich sah, an ihrem Leibe Wundnarben;
ich fragte sie durch Zeichen, woher die Narben kämen. Da gaben
sie durch Gebärden zu verstehen, daß von den benachbarten In—
seln bisweilen Feinde landeten um sie wegzuschleppen und daß
sie sich dagegen verteidigten. Ich vermute daher, daß vom Fest—
lande aus Menschenraub getrieben wird. Es müssen ganz brauch—
bare Sklaven sein; auch scheinen sie ganz guten Verstand zu
haben; denn sie sprechen sofort alles nach, was man ihnen sagt.
Ich glaube, sie lassen sich leicht zum Christentum bekehren, da
sie, wie es scheint, bis jetzt noch gar keine besondere Religion
haben. Wenn es Gott gefällt, werde ich bei meiner Abreise von
10
4
62. Kaiser Maximilian und seine Augsburger.
hier sechs von ihnen zu Euren Hoheiten mitnehmen, damit sie
Spanisch lernen. Auf der ganzen Insel habe ich außer Papa—
geien kein wildes Tier gefunden.“
Am nächsten Tage kamen die Indianer mit ihren Kanus,
aus einem hohlen Baumstamme gefertigte Nachen, die vier—
zig bis fünfzig Menschen aufnehmen können, ans Schiff
heran. Als Ruder bedienten sie sich einer Art Schaufel. Sie
kamen sehr rasch vorwärts. Wenn das Boot umschlägt, schöpfen
sie schwimmend das Wasser mit Flaschenkürbissen wieder aus.
Kolumbus forschte eifrig nach Gold, wovon er kleine Blättchen
als Nasenschmuck bei ihnen fand, und erfuhr durch Zeichen—
sprache, daß im Süden eine große Insel liege, deren König
große goldene Gefäße besitze. Er forderte sie auf mit ihm da—
hin zu segeln; aber sie hatten keine Lust dazu.
Das erste Land, das der Admiral betreten hatte, gehörte
seiner Meinung nach zu Indien; aber es war arm und das
gutherzige Volk konnte den Fremden nichts bieten, weder Gold
noch Edelgestein noch Gewürze. Und doch hat dieses arme
Eiland, nicht in den Zeiten der Entdeckung, wo es für die Folge—
zeit unbeachtet blieb, wohl aber für die Geschichte der Ent—
deckung eine besondere Bedeutung. Sophus Ruge.
962. Kaiser Maximilian und seine Augsburger.
Augsburg ragte zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts
über den Durchschnitt der deutschen Städte hinaus als ein
Hauptplatz des Welt-Großverkehrs. Schon der Handelsbetrieb
brachte es mit sich, daß täglich ein breiter Verkehrsstrom durch
die Tore ein und aus flutete. Wenn nun gar eines der großen
mittelalterlichen Freischießen in der Rosenau abgehalten wurde
oder die Herrengesellschaft ein Turnier ausschrieb oder der Kaiser
einen Reichstag in die Stadt berief, da verwandelte sich diese
auf Wochen, ja unter Umständen auf Monate in ein einziges
großes Fremdenlager. Da ging es dann hoch her bei feierlichen
kaiserlichen und fürstlichen Aufzügen, bei öffentlichen Staats—
handlungen mit Turnieren, mit Schaustellungen von Gauklern
und fahrendem Volk und mit Belustigungen aller Art. Es war
eine Ehrensache des hohen Rates, für Herberge und Wohlergehen
der Gäste und für Ordnung in der Stadt alle erdenkliche Sorge
zu tragen.
Das eigentümlichste Gepräge und großen Zug bekam das
Leben der Stadt aber hauptsächlich dadurch, daß Kaiser Maxi—
milian sie als Lieblingsaufenthalt erkor.
105
62. Kaiser Maximilian und seine Augsburger. 2
„Zu allen Zeiten sind Könige und Kaiser gerne in dieser
Stadt eingekehrt und haben darin ihr Kurzweil gehabt,“ rühmt
ein Geschichtsschreiber. Aber keiner fühlte sich so zu Hause in
Augsburg wie der ritterliche Maximilian. Schon als junger
Prinz war er mit seinem Vater Friedrich III. in der Stadt
gewesen. Als römischer König und als Kaiser kehrte er fast
alljährlich wieder, um Wochen und Monate hindurch zu bleiben.
Meist empfing man ihn mit Aufbietung aller Pracht und Feier—
lichkeit; es ereignete sich aber auch, daß Max mitten im Winter
in aller Stille im Schlitten zum Tore hereinfuhr.
Noch 1502 wohnte er bei dem reichen Kaufherrn Philipp
Adler zu Gaste. Dann kaufte er sich ein eigenes Haus beim
Kreuzertor. Der Rat aber ließ 1514 nahe dabei in die west—
liche Mauer ein besonderes Nachttor von ungemein künstlicher
Mechanik bauen, durch das der Kaiser jederzeit ungesehen ein
und aus konnte. Noch vor zwei Menschenaltern zeigte man
diesen „alten Einlaß“ als eine der seltsamsten geschichtlichen
Merkwürdigkeiten und als Beispiel erfinderischer Technik der
Altvordern.
In Augsburg pflegte Maximilian auszuruhen von den An—
strengungen der Regierungsgeschäfte und seiner Feldzüge. Im
Kreise der Bürger, der für ihn schaffenden Künstler und Ge—
lehrten und bei fröhlicher Jagd in den großen Forsten im
Westen der Stadt war ihm wohl zu Mute. Hans Holbein der
Ältere hat den Kaiser mit raschem Stift gezeichnet, wie er auf
müdem Pferd in nachlässiger Haltung sinnend seines Weges
reitet, angetan mit dem unscheinbaren Wams eines einfachen
Landedelmannes. So mögen ihn die Augsburger oft in den
Straßen ihrer Stadt gesehen haben, wenn er von seinen Jagd—
ausflügen zurückkehrte. Aber auch anders kannten sie ihn: in
blinkendem Harnisch, stolz zu Rosse sitzend, das ernste Gesicht
geradeaus gerichtet, ein Urbild kraftvoller Männlichkeit und
ritterlicher Würde. So mochte er sich an der Spitze der Lands—
knechte ausnehmen, die ihm der Schall der Werbetrommel in
den Straßen der Reichsstadt zuführte oder in den Turnier—
schranken, wenn er beim ritterlichen Spiele selber eine Lanze
brach. Dann wieder erschien er im vollen kaiserlichen Schmuck
zu einem wichtigen Staatsgeschäfte auf dem Weinmarkte, wie
etwa zur Belehnung eines Reichsfürsten.
Wie die Augsburger ihn auch zu Gesicht bekamen, er war
ihnen immer eine vertraute Gestalt, ein Fürst, dem sie keine
Liebe zu heucheln brauchten, weil sie sein Bild im Herzen trugen.
—
2
2
62. Kaiser Maximilian und seine Augsburger.
Denn „wohlauf und lustig“ verkehrte Max mit den Bürgern
und teilte die kleinen Freuden und Leiden ihres Daseins wie
einer der ihren, ging mit ihren Prozessionen und freute sich
mit ihnen beim hochzeitlichen Mahl und beim Feste oder ge—
leitete einen ihrer Toten mit zu Grabe. Für das Kleinste hatte
er Auge und Sinn und manch armer Teufel dankte seiner Gunst
Fürsprache und Wohltaten. Bei allen großen Angelegenheiten
konnte die Stadt der Anteilnahme des Kaisers sicher sein. So
hat er die Kirchenbauten von St. Urich und des Dominikaner—
klosters persönlich im Verein mit der Bürgerschaft aufs ange—
legentlichste gefördert.
Enge Beziehungen bestanden zwischen ihm und den reichen
Kaufleuten. Nicht wenige Augsburger hatte er als Räte in
seinen Diensten. Am weitesten brachte es dabei Matthäus Lang,
ein armer Bürgerssohn; aus einem Schreiberlein wurde er
Domherr und hernach Erzbischof zu Salzburg und Kardinal.
8 stand die Person Maximilians dem Fühlen aller Be—
völkerungskreise nahe; überall machte sie sich geltend, warm—
herzig mitfühlend, geistig und künstlerisch anregend. Es war
ein höchst eigenartiger Freundschaftsbund zwischen Kaiser und
Bürgern. Selbst die unter Freunden üblichen offenherzigen
Auseinandersetzungen fehlten nicht. Es kam mehr als einmal
vor, daß Rat und Bürger dem Kaiser nicht den Willen taten,
wenn ihre Ansicht dagegen ging und daß sich beide Teile dann
in wohlgesetzten Schriften gegenseitig deutlich die Meinung
sagten, bis der Zorn verraucht war.
Als der alte Kaiser nach dem Reichstage von 1518 gen
Innsbruck wegzog, soll er sich, von Todesahnungen ergriffen,
draußen am Burgfrieden nochmal gegen die Stadt umgewandt
und die bekannten wehmütigen Abschiedsworte gesprochen haben:
„Nun gesegne dich Gott, du liebes Augsburg und alle frommen
Bürger darinnen! Wohl haben wir manchen frohen Mut in
dir gehabt. Nun werden wir dich nicht mehr sehen.“/Etliche
Monde darnach lag der Kaiser auf der Totenbahre in der Pfarr—
kirche zu Wels und der Augsburger Dominikanerprior Dr. Jo—
hannes Faber hielt ihm die erste vom Schmerze des Freundes
durchzitterte Trauerrede.
„Er ist allezeit ein guter Augsburger gewesen,“ konnte ihm
mit Recht ein Geschichtsschreiber ins Grab nachrühmen. Die
Höflinge des Königs Franz J. von Frankreich aber taten dem
Kaiser wie den Bürgern der deutschen Reichsstadt gleichmäßig
10
242
z22 22 27527 63. Der reichste Fürst. ie 2 22
eine Ehre an, wenn sie hochmütig die Nase rümpfend Max als
den „Bürgermeister von Augsburg“ verspotteten.
Nach „Augsburg, von Dr. P. Dirr.
63. Der reiohste Fürst.
1. Preisend mit viel schönen Reden
ihrer Länder Wert und Zahl,
saben viele deutsche Fürsten
einst zu Worms im Raisersaal.
2. „Herrlich,“ sprach der Fürst von Sachsen,
„ist mein Land und seine Macht;
Silber hegen seine Berge
wohl in manchem tiefen Schacht.“
3. „Seht mein Land in üpp'ger Füllel
sprach der Kurfürst von dem Rhein,
„goldne Saaten in den Tälern,
auf den Bergen edlen Wein!“
4. „Grobe Städte, reiche Klöster,“
Ludwig, Herr zu Bayern, sprach,
„schaffen, dab mein Land den euern
wohl nicht steht an Schätzen nach.“
5. Eberhard, der mit dem Barte,
Württembergs geliebter Herr,
sprach: „Mein Land hat kleine Städte,
trägt nicht Berge silberschwer;
6. doch ein Kleinod hält's verborgen:
dab in Waldern, noch so grob,
ich mein Haupt kann kühnlich legen
jedem Untertan in Schob.“
7. Und es rief der Herr von Sachsen,
der von Bayern, der vom Rhein:
„Graf im Bart! Ihr seid der reichste!
Euer Land trägt Edelstein!“
Justinus Kerner.
108
64. Verkehrsmittel in früherer Zeit.
64. Verkehrsmittel in frühßerer Zeit.
Im Mittelalter gab es eine Einrichtung für den regel⸗
mäßigen Verkehr noch nicht. Einfache Leute, Pilger und fah—
rendes Volk, reisten zu Fuß, wohlhabende zu Pferde und mit
Waffen. Kaufleute benutzten schwerfällige Lastwagen, die wegen
der schlechten Wege nur durch vier Pferde fortzubringen waren.
Der Räuber und Fehden halber fuhren sie in Gesellschaften und
mit einem Geleite von Reisigen. Vornehme Frauen reisten,
wenn sie rüstig waren, zu Pferde oder auf Maultieren; waren
sie aber schwach oder alt, so ließen sie sich in Sänften tragen,
die später immer allgemeiner in Gebrauch kamen. Den Reisen—
den standen die Fruchtbäume und ihren Pferden die Wiesen
und Acker am Wege zur Erquickung frei; doch durfte nichts
von den Früchten mitgenommen werden. Gasthäuser waren
selten und schlecht. Man nahm deshalb meistens Lebensmittel
mit auf die Reise; oft mußte man im Freien übernachten. Fast
überall standen die Burgen den Sängern, Rittern und ihrem
Gefolge und die Klöster namentlich den Wallfahrern gastfreund⸗
lich offen.
Um Briefe von einem Orte zum andern zu befördern, be—
nutzte man in den ältesten Zeiten entweder eigens dazu bestellte
Boten oder Kaufleute, Pilger, umherziehende Mönche, Spiel—
leute, Handwerksburschen u. s. w. Allmählich fing man an in den
größeren Städten eigene Boten anzustellen, welche die Brief⸗
schaften besorgten. Da die Metzger zur Betreibung ihres Ge—
schäftes weit herumkamen und deshalb Pferde halten mußten,
so leg es nahe sie zur Bestellung von Nachrichten und Briefen
zu gebrauchen. In manchen Städten war der Postdienst der
Metzgerzunft sogar zur Pflicht gemacht. Die bald reitenden
bald fahrenden Metzgerknechte kündeten an allen Orten, wohin
sie kamen, ihre Ankunft und ihren Abgang durch das Blafen
bon Hörnern an, woher der noch heute übliche Gebrauch der
Posthörner stammen mag.
Den Grund zu einem allgemeinen, regelmäßigen Postverkehr
legte Kaiser Maximilian J. Seine weit ausgedehnten Bef itzungen
machten eine Einrichtung notwendig, durch die Briefe, Vefehle
und Nachrichten schnell und sicher von einem Orte zum andern
geschafft werden konnten. Da machte ein italienischer Edel—
mann, Francesco de Tassis, genannt Torriani, woraus später
der Name Thurn und Taxis wurde, dem Kaiser das Anerbieten
für regelmäßige Posten zwischen Wien und den Niederlanden
109
8
64. Verkehrsmittel in früherer Zeit.
**
zu sorgen, wenn er ihm die Einkünfte dieser Einrichtung über—
lassen wolle. Diese Erlaubnis wurde 1516 erteilt. Nun wurden
überall reitende und bald auch fahrende Boten angestellt. In
den Städten sorgten eigene Verwalter für den Empfang und
den richtigen Abgang der Briefe und bald blühte die neue
Einrichtung immer mehr auf. Sie dehnte sich besonders über
das südliche Deutschland schnell aus. Im Jahre 1615 wurde
ein Graf von Thurn und Taxis zum Generalpostmeister des
Deutschen Reiches erhoben und im Jahre 1744 wurde das
Generalpostamt als ein Reichsthronlehen erklärt. Neben den
Thurn und Taxisschen Postanstalten entstanden namentlich im
nördlichen Deutschland zahlreiche Landesposten. In Branden—
burg war schon unter Albrecht Achilles (1470 bis 1486) ein
eigener Postbotendienst eingerichtet worden.
Man bemerkte bald, daß durch die neuen Veranstaltungen
Briefe billig, schnell und sicher nach allen Richtungen hin beför—
dert werden konnten. Deshalb wurde der Briefverkehr immer
reger und die Einnahmen daraus steigerten sich bedeutend, so
daß beispielsweise in Brandenburg unter dem Großen Kurfürsten
aus dem Postwesen bereits ein Reingewinn von 20000 Talern
für den Staatssäckel erzielt wurde.
Gegen die heutigen Preise war das Porto aber noch recht
hoch. Für einen Brief von Leipzig nach Königsberg mußten
sechs Groschen bezahlt werden. Dabei geschah die regelmäßige
Beförderung der Briefe in verhältnismäßig großen Zwischen—
räumen. So fuhr noch im Jahre 1750 zwischen Dresden und
Berlin immer nur alle vierzehn Tage ein Postwagen.
Als das Postwesen sich weiter entwickelte, verband man
auch die regelmäßige Beförderung reisender Personen damit.
Noch im achtzehnten Jahrhundert war der Postwagen äußerst
unvollkommen. Er war ohne Federn, mehr für Lasten als
für Personen berechnet, und hatte keine Seitentüren, so
daß man über die Deichsel unter die Decke kriechen mußte. Hinten
im Wagen wurden die mitgeführten Waren hoch aufgestapelt.
Auch unter den Bänken lagen Pakete. Heringstönnchen und
andere bewegliche Sachen kollerten auf die Bänke der Reisen—
den, die genug zu tun hatten diese anspruchsvollen Begleiter
zurückzudrängen. Weil man die Füße wegen des Gepäcks nicht
ausstrecken konnte, hängten verzweifelte Reisende ihre Beine wohl
gar zur Seite des Wagens hinaus. Dabei dauerte eine Reise
unerträglich lange. Vom Rhein nach Berlin fuhr man elf Tage
und elf Nächte in tödlicher Langeweile, bis man endlich zerstoßen
110
ꝛ* 665. Kaiser Karls V. Einzug zum Reichstag in Augsburg im Jahre 1530. 33
und halb lahm ankam. Eine Fahrt auf einem Flusse war
bedeutend angenehmer. Zwar fuhr die Donau stromab noch das
altertümliche Bretterschiff, ohne Mast und Segel, von Pferden
gezogen; aber auf dem Rhein hatten die Fahrzeuge bereits ein
ebenes Verdeck mit Geländer, so daß man darauf spazieren
gehen konnte. Immerhin war die kleinfle Reise ein Unternehmen,
das weitgehende Vorbereitungen erforderte und wobei oft Leib
und Leben auf dem Spiele staänden.
August Böe.
65. Kaiser Karls V. Einzug zum Reichstag in Augsburg
im Jahre 1530.
Am 6. Juni 1530 brach Kaiser Karl V. von Innsbruck
aus zum Reichstag nach Augsburg auf. Er nahm seinen Weg
über München, wo er prächtig empfangen ward. Mit den welt—
lichen und geistlichen Fürsten von Osterreich und Bayern langte
er am 15. gegen Abend an der Lechbrücke vor Augsburg an.“
Schon ein paar Stunden wartete hier seiner die glänzendste
Versammlung von Reichsfürsten, die inan seit langer Zeit ge—
sehen: geistliche und weltliche, von Ober- und Niederdeutsch—
land, besonders zahlreich auch die jungen Fürsten, die noch nicht
zur Regierung gelangt waren. So wie der Kaiser sich näherte,
stiegen sie sämtlich vom Pferde und gingen ihm entgegen; auch
der Kaiser stieg ab und reichte einem jeden freundlich die Hand.
Der Kurfürst von Mainz begrüßte ihn im Namen der ver—
sammelten Glieder des Heiligen Römischen Reichs. Hierauf setzte
sich alles zu dem feierlichen Einzuge in die Reichsstadt in Be—
wegung. Voran zogen zwei Fähnlein Landsknechte, denen der
Kaiser, der nun als der gekommene Herr dieser kaiserlichen
Stadt betrachtet sein wollte, die Wache derselben anzuvertrauen
gedachte. Hierauf folgten die reisigen Mannen der sechs Kur—
fürsten. Die sächsischen führten nach altem Herkommen den
Zug an: ungefähr 160 Pferde, alle mit ihrem Schießzeug, in
Leberfarbe gekleidet. Es waren zum Teil das Hofgesinde, Fürsten
und Grafen, Vierrosser, Zweirosser und Einrosser, zum Teil
die Grafen, Räte und Edelleute, die vom Laude einberufen
waren Man bemerkte bereits den Kurprinzen, der das erste
Bündnis mit Hessen vermittelt. Dem sächsischen folgten die
pfälzischen, brandenburgischen, kölnischen, mainzischen und trieri—
schen Haufen, alle in ihrer besonderen Farbe und Rüstung.
Nach der Rangordnung des Reiches hätten die Bayern nicht
hierher gehört. Aber sie hatten, ehe man sie verhindern konnte,
111
1
22 65. Kaiser Karls V. Einzug zum Reichstag in Augsburg im Jahre 1530.
ihren Platz sich selber genommen und wenigstens stellten sie
sich vortrefflich dar. Sie erschienen alle in lichtem Harnisch,
mit roten Leibröcken; je fünfe ritten in einem Gliede; große
eeuhe kündigten sie von ferne an, es mochten 450 Pferde
sein.
Man bemerkte den Unterschied, als nun nach dieser so
durchaus kriegerischen Pracht die Höfe des Kaisers und des
Königs anlangten: voran die Pagen, in gelben oder roten
Samet gekleidet, dann die spanischen, böhmischen und deutschen
Herren in samtnen und seidnen Kleidexn, mit großen, goldnen
Ketten, aber fast alle ohne t sn ritten sie die
schönsten Pferde: türkische, spanische und polnische. Die Böhmen
versäumten nicht ihre Hengste wacker zu tummeln. Dem Geleite
folgten nun die Herren selbst. Ein paar Reihen Trompeter,
zum Teil in des Königs, zum Teil in des Kaisers Farben, Heer—
pauker mit ihren Trommelschlägern und Herolde kündigten
sie an
3 waren alle die mächtigen Herren, die in ihren weiten
Gebieten fast ohne Widerspruch herrschten, deren nachbarliche
Entzweiungen Deutschland mit Getümmel und Krieg zu erfüllen
pflegten: Ernst von Lüneburg und Heinrich von Braunschweig,
Georg von Sachsen und sein Schwiegersohn Philipp von Hessen,
die Herzoge von Bayern und ihre Vettern, die Pfalzgrafen, die
nach flüchtiger Annäherung sich wieder voneinander zu ent—
fernen begannen, neben den Brandenburgern die Herzoge von
Pommern, die jenen zum Trotz auf dem Reichstag zu einer un—
mittelbaren Belehnung zu gelangen gedachten. Jetzt erkannten
sie einmal sämtlich einen Höheren über sich an und erwiesen
ihm gemeinschaftliche Verehrung. Den Fürsten folgten die Kur—
fürsten, sowohl weltliche als geistliche. Nach ihnen endlich kam
ihr erkorener und nun gekrönter Kaiser unter einem prächtigen
dreifarbigen Baldachin, welchen sechs Herren vom Augsburger
Rate trugen, auf einem polnischen, weißen Hengste. Man be—
merkte, daß er allein in dieser Umgebung fremd erschien: vom
Kopf bis zum Fuß war er spanisch gekleidet) Er hätte seinen
Bruder auf der einen und den Legaten auf der andern Seite
neben sich zu haben gewünscht; denn diesem wollte er über—
haupt die höchste Ehre erweisen: die geistlichen Kurfürsten sollten
demselben den Vorrang n sui sie waren dahin nicht
zu bringen gewesen. Außerhalb des Baldachins ritten nun König
Ferdinand und der Legat nebeneinander. Ihnen folgten die
deutschen Kardinäle und Bischöfe, die fremden Gesandten und
115
3
66. Eine heldenmütige Frau. —Ee———e——————«——
Prälaten. An den Zug der Fürsten und Herren schlossen sich
aufs neue die Reisigen an: die des Kaisers alle in Gelb, die
des Königs alle in Rot gekleidet, mit denen hier die Reiter der
geistlichen und weltlichen Fürsten wetteiferten, jede Schar in
ihrer besondern Farbe, alle entweder mit Harnischen und
Spießen oder als Schützen mit Schießzeug bewaffnet!
Die Augsburger Mannschaften, die am Morgen ausgezogen,
den Kaiser zu empfangen, zu Fuß und zu Pferd, Söldner und
Bürger, machten bei dem Einzug den Beschluß.“
Denn das war überhaupt der Sinn der Feierlichkeit, daß
das Reich seinen Kaiser einholte. Bei St. Leonhard empfing
ihn die Geistlichkeit mit einem lateinischen Kirchengesange Die
Fürsten begleiteten ihn noch in den Dom, wo ein Tedeum ge—
sungen und der Segen über ihn ausgesprochen ward, und ver—
ließen ihn erst, als er in seiner Wohnung in der Pfalz ange⸗
kommen war.“
Am 20. Juni wurden die Verhandlungen eröffnet. In dem
Antrag, der an diesem Tage verlesen ward, drang der Kaiser
vor allem auf eine dem Zwecke entsprechende Rüstung gegen
die Türken; zugleich erklärte er aber seine Absicht die religiöfen
Irrungen in Milde und Güte beizulegen, und wiederholle die
Aufforderung des Ausschreibens, daß zu dem Ende ein jeder
seine Meinung und sein Gutbedünken ihm in Schriften über—
antworten mögel
Da der Reichsrat den Beschluß faßte zuvörderst die Re—
ligionssache vorzunehmen, so mußte sich der große Kampf sofort
eröffnen.
Leopold v. Ranke.
66. Eine heldenmütige Frau.
Als Kaiser Karl V. im Jahre 1547 nach der Schlacht
bei Mühlberg auf seinem Zuge nach Franken und Schwaben
auch durch Thüringen kam, wirkte die verwitwete Gräfin
Katharina von Schwarzburg, eine geborene Fürstin von
Henneberg, einen Schutzbrief bei ihm aus, daß ihre Unter—
tanen von der durchziehenden spanischen Armee nichts zu
leiden haben sollten. Dagegen verband sie sich Brot, Bier und
andere Lebensmittel gegen billige Bezahlung aus Rudolstadt an
die Saalbrücke schaffen zu lassen um die spanischen Truppen,
die dort übersetzen würden, zu versorgen. Doch gebrauchte sie
dabei die Vorsicht die Brücke, welche dicht bei der Stadt war,
Augsburger Lesebuch, VI. Kl.
1
117
2*
2
— e —
66. Eine heldenmütige Frau. 2 22 22 22
in der Geschwindigkeit abbrechen und in einer größern Ent—
fernung über das Wasser schlagen zu lassen, damit die allzu
große Nähe der Stadt ihre raublustigen Gäste nicht in Ver—
suchung führte. Zugleich wurde den Einwohnern aller Ort—
schaften, durch welche der Zug ging, vergönnt ihre besten
Habseligkeiten auf das Rudolstädter Schloß zu flüchten.
Mittlerweile näherte sich der spanische General, von Herzog
Heinrich von Braunschweig und dessen Söhnen begleitet, der
Stadt und bat sich durch einen Boten, den er voranschickte, bei
der Gräfin von Schwarzburg auf ein Morgenbrot zu Gaste.
Eine so bescheidene Bitte, an der Spitze eines Kriegsheeres
getan, konnte nicht wohl abgeschlagen werden. Man würde
geben, was das Haus vermöchte, war die Antwort; seine
Exzellenz möchten kommen und vorlieb nehmen. Zugleich
unterließ man nicht des Schutzbriefes noch einmal zu gedenken
und dem spanischen General die gewissenhafte Beobachtung
desselben ans Herz zu legen.
Ein freundlicher Empfang und eine gut besetzte Tafel
erwarten den Herzog auf dem Schlosse. Er muß gestehen, daß
die thüringischen Damen eine sehr gute Küche führen und auf
die Ehre des Gastrechts halten. Noch hat man sich kaum
niedergesetzt, als ein Eilbote die Gräfin aus dem Saal ruft.
Es wird ihr gemeldet, daß in einigen Dörfern unterwegs die
spanischen Soldaten Gewalt gebraucht und den Bauern das
Vieh weggetrieben hätten. Katharina war eine Mutter ihres
Volks; was dem ärmsten ihrer Untertanen widerfuhr, war ihr
selbst zugestoßen. Aufs äußerste über diese Wortbrüchigkeit
entrüstet, doch von ihrer Geistesgegenwart nicht verlassen,
befiehlt sie ihrer ganzen Dienerschaft sich in aller Geschwindig—
keit und Stille zu bewaffnen und die Schloßpforten wohl zu
verriegeln; sie selbst begibt sich wieder nach dem Saale, wo
die Fürsten noch bei Tische sitzen. Hier klagt sie ihnen in den
beweglichsten Ausdrücken, was ihr eben hinterbracht worden
und wie schlecht man das gegebene Kaiserwort gehalten. Man
erwidert ihr mit Lachen, daß dies nun einmal Kriegsgebrauch
sei und daß bei einem Durchmarsch von Soldaten dergleichen
kleine Unfälle nicht zu verhüten stünden. „Das wollen wir doch
sehen,“ antwortete sie aufgebracht. „Meinen armen Untertanen
muß das Ihrige wieder werden, oder, bei Gott! —“ indem sie
drohend ihre Stimme anstrengte, „Fürstenblut für Ochsenblut!“
Mit dieser bündigen Erklärung verließ sie das Zimmer, das in
wenigen Augenblicken von Bewaffneten erfüllt war, die sich,
114
2
67. Der Pilgrim von St. Just. ꝛ2 22 2 2 2 22
das Schwert in der Hand, doch mit vieler Ehrerbietigkeit, hinter
die Stühle der Fürsten pflanzten und das Frühstück bedienten.
Beim Eintritt dieser kampflustigen Schar veränderte Herzog
Alba die Farbe, stumm und betreten sah man einander an.
Abgeschnitten von der Armee, von einer überlegenen handfesten
Menge umgeben, was blieb ihm übrig, als sich in Geduld zu
fassen und, auf welche Bedingungen es auch sei, die beleidigte
Dame zu versöhnen? Heinrich von Braunschweig faßte sich
zuerst und brach in ein lautes Gelächter aus. Er ergriff den
vernünftigen Ausweg den ganzen Vorgang ins Lustige zu
kehren, und hielt der Gräfin eine große Lobrede über ihre
landesmütterliche Sorgfalt und den entschlossenen Mut, den sie
bewiesen. Er bat sie sich ruhig zu verhalten, und nahm es auf
sich den Herzog von Alba zu allem, was billig sei, zu vermögen.
Auch brachte er es bei dem letzteren wirklich dahin, daß er auf
der Stelle einen Befehl an die Armee ausfertigte das geraubte
Vieh den Eigentümern ohne Verzug wieder auszuliefern. So—
bald die Gräfin von Schwarzburg der Zurückgabe gewiß war,
bedankte sie sich aufs schönste bei ihren Gästen, die sehr höflich
von ihr Abschied nahmen.
Friedrich v. Schiller.
67. Der Pilgrim von St. Just.
1. Nacht ist's und Stürme sausen für und für;
hispanische Mönche, schliebt mir auf die Tür!
2. Labt hier mich rub'n, bis Glockenton mich weckt,
der zum Gebet mich in die Rirche schreckb!
3. Bereitet mir, was euer Haus vermag:
ein Ordenskleid und einen Sarkophag!
4. Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein;
mehr als die Hälfte dieser Welt war mein!
5. Das Haupt, das nun der Schere sich bequemt,
mit mancher Krone war's bediademt.
6. Die Schulter, die der Kutte nun sich bückt,
hat kaiserlicher Hermelin geschmückt.
7. Nun bin iech vor dem Tod den Toten gleich
und fall' in Trümmer wie das alte Reich.
August Graf v. Platen.
115
8*
.
223 223 68. Elias Holl, Augsburgs berühmter Baumeister. 2 2 ꝛ2*
68. Elias Holl, Augsburgs berühmter Baumeisler.
Ein Gang durch die Altstadt Augsburgs erweckt in uns
eine Fülle geschichtlicher Erinnerungen und auf Schritt und
Tritt begegnen wir den Spuren altdeutscher Städteherrlichkeit.
Neben den prächtigen Figurenbrunnen vom Ende des 16. Jahr—
hunderts sind es vor allem die Werke des großen Baumeisters
Elias Holl, die uns zurückführen in die Glanzzeit der alten
Reichsstadt.
Holls Wiege stand in Augsburg und soweit man seine
Vorfahren zurückverfolgen kann, trieben sie in der Stadt das
ehrsame Bauhandwerk. In seinem 17. Lebensjahre (1590) schuf
der junge Baukünstler sein Erstlingswerk, den heute noch er—
haltenen und viel bewunderten Erker des Hauses O 2 in der
unteren Maximiliansstraße. Schon hier sehen wir, daß ihm
die italienische Bauweise im Blute steckte. Bei dem geschickten
Schreiner Wendel Dietrich, der bei der Erbauung der Münchener
Michaelskirche eine Rolle spielte, scheint er schon einigen Begriff
davon bekommen zu haben. Aber erst als der reiche Kaufmann
Anton Garben im Winter 1600 den jungen Meister auf eine
Reise nach Italien mitnahm, ging diesem angesichts der Bauten
Palladios und anderer Künstler das tiefere Verständnis auf
für die Bauweise der Italiener, die weniger auf zierliche äußere
Ausgestaltung, sondern nach dem Vorbilde der alten Griechen
und Römer auf mächtige Wirkung des Gesamtbildes bedacht
war. „Besah mir in Venedig alles wohl und wunderliche Sachen,
so mir zu meinem Bauwerk ferner wohl ersprießlich waren.“
Diese wenigen, aber vielsagenden Worte schrieb er über die
Italienreise.
Bald bot sich Gelegenheit zu zeigen, was er in der Fremde
gelernt hatte. Als der alte Stadtwerkmeister sich zum Neubau
eines Gießhauses am Katzenstadel untauglich zeigte, half Holl
aus. Daraufhin erhielt er 1602 den Neubau des Bäckenhauses
von der Stadt verdingt. Während dieser Arbeit ernannte ihn
der Rat zum Stadtwerkmeister; nun bekam er die Bahn frei
für eine langjährige, erstaunlich fruchtbare Tätigkeit, der erst
der Dreißigjährige Krieg ein Ende bereitete. Noch im Jahre
1602 erbaute er den oberen Teil des Kirchturmes von St. Anna,
dann in rascher Aufeinanderfolge das Zeughaus, das Wertach—
bruckertor, das Siegelhaus, das mitten in der oberen Maxi—
miliansstraße stand, den Klinkertorturm, die beiden Wasser—
türme an der Jakobermauer, das Gymnasium bei St. Anna,
1965 —
2
*** 5r 68. Elias Holl, Augsburgs berühmter Baumeister. ꝛ
das Rote Tor und die Stadtmetzg. Den Gipfel seiner Kunst
erstieg er bei dem Bau des Rathauses, das in der Großartig—
keit der Anlage und in der Pracht der Innenausstattung feines—
gleichen sucht. Holl machte wohl ein halbes Dutzend Entwürfe
zum Rathausbau und man kann die Entwicklung seiner Bau—
gedanken noch genau verfolgen an den im Maximiliansmuseum
erhaltenen Plänen und Modellen. Es war ein weiter Weg
von den ersten Entwürfen, denen der Gedanke an den ober—
italienischen Stadtpalast zugrunde lag, bis zum endgültigen
Plane, dem der Meister während der Ausführung noch die beiden
Türme zufügte, die dem Bauwerk nach seiner Meinung vollends
ein „heroisches Ansehen“ gegeben haben. Aber ein großes Be—
denken hatten die Herren des Rates. Wohin sollte die städtische
Sturmglocke kommen, die seit urdenklichen Zeiten auf dem alten
Rathausturme hing, wenn dieser niedergebrochen würde? Lassen
wir den Künstler selbst erzählen, wie er da Rat und Tat wußte.
Die treuherzige und schlichte Lebensbeschreibung, die er uns
hinterließ, gibt uns nicht nur einen Einblick in die Sprachformen
der damaligen Zeit, sie ist uns auch ein Beweis, daß der große
Baumeister frei von Ruhmsucht und Eitelkeit, ein echter Sohn
der schwäbischen Reichsstadt, ein biederer Bürger und ein ein—
facher tüchtiger Werkmann war.
„Dies Jahr 1614,“ so erzählt Elias Holl, „saß ich einmal
mit Herrn Johann Jakob Rembold, Stadtpfleger, zu Mittag,
wurden des alten Rathauses hier zu Red und sagte ich: Ihr
Herren Ilten daran sein als ein bauverständiger Herr Ob—
mann alte und auf einer Seiten sehr baufällige Rathaus
zu verändern, abzubrechen und an dessen Statt ein schönes
neues Neathaus erbauen lassen; vermelde auch dabei, ich hätte
große Lust dazu, ein schönes bequem zu bauen, welches wohl
wäre. Dachte Herrn Stadtpfleger nicht übel zu sein und ant—
wortet, er wolle mit den Herrn des Rats davon reden und
ihre Gedanken darüber vernehmen; ich sollte eine Zeichnung
machen, in welcher Form und Größe ich es stellen wolle, und
meinen Herrn hernach vorweisen, so könnte man weiter der
Sache nachdenken.
Ich machte gleich etlich Zeichnungen und trieb diesen Bau
immer bei denen Herren Stadtpflegern; da wurd mir eine
Antwort von Herrn Rembolden folgendergestalt: Ihr treibt
mich immer mit dem neuen Rathausbau an, solches ist aber
hoch bedenklich Sache, zudem so ist unser Schlagwerk in dem
Rathausturm wohl geordnet und sehr nützlich, also bis ihr
117 —üf
z22 68. Elias Holl, Augsburgs berühmter Baumeister. ꝛ2ꝛ 3
mir einen Ort saget, da man das Schlagwerk zuvor und ehe
dieser Bau angefangen wird, füglich aufrichten könnte, so will
ich zu diesem Bau mithelfen. Da sprach ich: Wenn es nur
an diesem fehlt, so wollt ich bald ein tauglich Ort dazu finden.
War bald bedacht und ging auf den Perlachturm, besah mich
darinnen in allem wohl und fand diesen gar tauglich dazu;
allein mit der Schlagglocken wußte ich noch nicht, wie die—
selbe recht möchte geordnet werden, stieg also zu oberst in den
Perlachturm unter das Dach, dachte nach und fand, daß man
wohl 20 Schuh von lauter Steinwerk auf diesen Turm setzen
sollte, es werde aber mit Fleiß und Kunst geschehen müssen.
Ich wagte es und brachte den Plan zu meinen Herren, die
sprachen: es würde dieser Turm wohl schön und lustig stehen,
wäre aber nicht wohl zu wagen, weil dieser Turm schmal und
ganz frei stünde; sie wollten mir zwar vertrauen, ich sollte
aber zusehen, daß weder mir noch der Stadt kein Schaden
noch Spott daraus entstünde.
Ich sprach, ich habe meine Hoffnung zu Gott, daß es mir
wohl geraten solle, dachte ferner noch eine gute Zeit und habe
eine solche Rüstung erfunden, wie man im Werk bald spüren
wird. Meine Herren sollen mir nur diesen Bau vertrauen; ich
hatte eine herzliche Lust dazu und es werde meine Herren
auch nicht gereuen, auch der Stadt wohl anstehen. Geschah
also, daß mir dieser Bau bewilligt wird, ich sollte möglichst
Fleiß anlegen.
Den 10. November 1614 habe ich in dem Namen Gottes
an dem Perlachturm zu rüsten angefangen. Haben also fort—
gerüst bis unter den Gang, nämlich 160 Schuh hoch vom Boden
oder Pflaster an, auf den 13. Dezember des 1614. Jahres
ausgemacht, darnach wegen des Winters einstellen müssen und
ist an den sieben Gerüsten kein einziges Löchlein in den Turm
eingebrochen worden. Den 4. April 1615 haben wir im Namen
Gottes am Perlachturm angefangen zu rüsten über den Gang
hinauf und den Zug von Holzwerk aufgericht. Da hat ein
jeder Bub können mit dieser Winden den Zug mit samt der
Last, es sei so schwer gewesen wie es wolle, hinaufziehen. Es
wäre noch weiter von dieser Rüstung zu schreiben, ein jeder
verständige Mensch aber kann es von selbst erachten, daß was
besonderes zu solchem werde gehört haben. Den 7. Mai haben
wir angefangen das Steinwerk an diesem Turm aufzusetzen,
nämlich die 10 Pfeiler, welche also alle durchsichtig vie noch
vor Augen.
118
zꝛ z e 68. Elias Holl, Augsburgs berühmter Baumeister. ꝛꝛ
Ehe wir aber den ersten Ring beschlossen, mußten wir
die große Glocke, so wir auf dem kleinen Rathaus gelassen
hatten, hinaufziehen, da wir sonst nicht mehr hineinkommen
könnten, sintemalen die Glocke groß war und 45 Zentner wog.
Die Glocke ist am 1. Mai an einem Montag gegen Abend
um 4 Uhr hinaufgezogen worden, da eine stattliche Hochzeit war
ob der Bürgerstüben. Die Fenster waren alle offen, daß die
Hochzeitleute herübersehen konnten; waren beide Herren Stadt—
pfleger auch dabei, auch etlich Fugger und Räte und Bau—
herrn. Ich legte die Glocke selbst an den Zug, machte mich gar
hurtig und ordnete fein auf alle Gerüst Leut, also daß nichts
mangelte, und zogen auf. Da sahen alle Herren ob der Bürger—
stuben zu und war auch der Platz unten voller Leut; es ging
alles wohl von statten, daß diese Glocke in einer Stund über
den Turm aufkam. Habe gleich hernach auf die Stuben zu
meinen Herren gemüßt und denselben anzeigen müssen, wie der
Zug und alles beschaffen sei, auch wieviel diese Glocke gewogen
hat und anders mehr. Unterdessen brachten mir die Herren
und sonderlich die Herren Fugger einen Trunk über den andern,
sprachen mir freundlich zu, war also bei einer Stunde bei
ihnen, nahm darnach meinen Abschied und ging mit Freuden
von ihnen nach Haus.
Den 27. Juli war das Steinwerk mit samt dem Haupt—
gesims ganz aufgesetzt; den 28. darauf am Dachstuhl angefangen
aufzurichten und bis 14. August bei gutem herrlichem Wetter
wohl vollendet worden.
Den 17. August habe ich den Knopf selbst auf den Turm
gesetzt, war zwar der alte Knopf, so zuvor darauf gestanden,
aber erneuert und verguldet, ist zwei Schuh weit. Geschah
am Abend um 4 Uhr; habe meinen Sohn Elias, so eben 4 Jahre
alt war, in diesen Knopf gesetzt und denselben über ihm zuge—
deckt, ist eine gute Weil ohne Furcht darinn gesessen; hernach
als er eine gute Weil darin gesessen hat er zu mir gesagt:
Siehe Vater! wie viel Buben sind drunten auf der Gassen!
— Seine Mutter fürchtete sich sehr, die war im Turm bei der
Glocken und war übel zufrieden, weinet sehr und fürchtet, es
möchte dem Kinde etwas geschehen. Der Bub war fast eine
Stunde bei mir auf dem festen Gerüst, habe ihn darauf heim—
geschickt zu dem Ahnherrn, er soll ihm sagen, was er gesehen
habe und wo er gesessen.
Den 20. August habe ich das sitzend Bild, die Cisa genannt,
auch hinaufgesteckt. Da kamen meine Bauherrn auch hinauf
— 1
18
zn eeeee e e z 659. Die Schlacht bei Lützen. zꝛ e
in den neuen Turmbau. Da hatte ich einen Wein, schenkte
ihn in ein Gläschen und brachte dem Bauherrn Imhof, auf
dem Knopfe stehend, einen Trunk; war mein höchster Trunk
so ich jemalen getan habe.
Den 12. April haben wir den Perlachturm angefangen aus—
zubreiten an allen Seiten mit einem neuen Wurf, waren dazu
8 Maurer, auf jeder Seiten zwei. War bis 9. September bis
auf die Kramläden vollführt und durch Gottes Gnad glücklich
vollendet, daß nicht einem einzigen Menschen ein Schaden dabei
geschehen.
Die 4 Sonnenuhren habe ich an allen 4 Seiten gezeichnet.
Der Herr Kager hat sie gemalt, haben mir meine Herren dero—
wegen verehrt 20 Gulden. Ich habe auch den Engel Michael,
so alle Jahr an St. Michaeli herausgehet, durch die Schlag—
uhr also geordnet und angeben, daß er herausgehet und den
Drachen in den Rachen stößt.
Nach diesem verrichteten Werk, so ganzer Bürgerschaft wohl
gefallen, daß man also in der ganzen Stladt die Stunden ob
diesem Turm hat schlagen hören — da die Glocken um 80 Schuh
höher als im Rathausturm hangen — haben mir meine Herren
also wegen dieses wohl vollendeten Turmbaues 200 Reichs—
taler oder 300 Gulden verehrt.“
Das Rathaus stellt den eigentlichen, großartigen Abschluß
des Lebenswerkes Holls dar. Seine letzten Schicksale waren
ein Teil des Unglücks, das mit dem Dreißigjährigen Krieg
über seine Vaterstadt kam. Er, der für die geschichtliche Größe
derselben den treffenden künstlerischen Ausdruck gefunden hatte,
wurde nach der Besetzung der Stadt durch die Kaiserlichen von
seinem Amte enthoben. Als Gustav Adolf erschien, erhielt Holl
seine Stelle noch einmal, um sie dann 1635 endgültig zu ver—
lieren. Elf Jahre später starb er, wie sein Grabstein im Rat—
hause meldet. Der Name dieses kunstfertigen und schlichten Bau—
meisters wird in seiner Vaterstadt wie in der deutschen Kunst⸗
geschichte unvergessen bleiben.
Nach „Augsburg“ von Dr. P. Dirr und Elias Holls Selbstbiographie.
69. Die Schlacht bei Tützen.
Ein dichter Nebel bedeckte Dienstag den 16. November 1632
die Ebene von Lützen. Obgleich sehr nahe aneinander, konnten
sich die gegnerischen Scharen nicht sehen, bis das Gewölk sich
gegen 11 Uhr mittags zerteilte. Das schwedische Heer verrichtete
120
69. Die Schlacht bei Lützen.
sein Morgengebet. Der König selbst stimmte den Psalm
an: „Verzage nicht, du Häuflein klein!“ Um seinem Waffen—
volke Zuversicht einzuflößen, ritt er durch die Reihen und hielt
an jede Nation eine zündende Rede.
Wallenstein hat an diesem Tage nicht zu seinem Heere
gesprochen, obwohl er auch durch die Reihen ritt. Der strenge
Feldherrnblick, der Feigen unnachsichtliche Strafe, Tapferen
sichere Belohnung verkündigte, wirkte mehr als alle Reden.
Als die Sonne den Nebel zerriß, da schwang der König das
Schwert über dem Haupte und gebot: „Vorwärts!“
Es galt über die Landstraße und ihre beiden Gräben zu
dringen. Zur Linken des Heeres sah man die Stadt Lützen
brennen, welche die Kaiserlichen angezündet hatten um eine über—
flügelung zu verhindern. Zu gleicher Zeit rückte des Königs Unter—
feldherr, Herzog Bernhard von Weimar, mit dem linken Flügel
vor. Gewehrfeuer empfing sie vonseiten der Musketiere, die in
den Gräben lagen; auch die Kanonen aus beiden feindlichen Bat—
terien taten Schaden. Mehrere Kugeln fielen dicht bei Gustav
Adolf nieder, der während des Vorrückens sein Pferd wechselte.
Bei dem Graben angekommen, stutzten Gustav Adolfs Reiter
anfangs, folgten dann aber mutig dem Könige, der als einer
der ersten übersetzte.
Schnell kam es zum Gefechte mit Pikkolominis Kürassieren
und den Kroaten. „Greif mir die schwarzen Kerle an!“ sagte
Gustav Adolf zu Oberst Stahlhantsch, auf erstere deutend, „sie
werden uns übel bekommen.“ Währenddessen war das Fuß—
volk in der Mitte vorgedrungen, hatte die Gräben gesäubert,
die Landstraße überschritten, eine Batterie mit sieben Kanonen
erobert und gegen den Feind gerichtet. Aber die noch stehende
Reiterei fiel mit Übermacht auf die ermatteten Sieger, nahm
ihnen die Kanonen wieder ab und warf sie über die Landstraße
zurück.
Sobald der König, der auf dem rechten Flügel siegreich
focht, Nachricht davon erhielt, stellte er sich an die Spitze des
smaländischen Regimentes und eilte davon um den Fußtruppen
zu helfen. Allzu behend trug ihn sein edles Roß über die Gräben
hinüber; die Smaländer konnten nicht schnell genug folgen.
Zur nämlichen Zeit hatte sich der Nebel wieder dichter aus—
gebreitet und mit nur wenigen Begleitern geriet Gustav Adolf
unter einen Haufen feindlicher Kürassiere. Sein Pferd bekam
einen Pistolenschuß durch den Hals; ein zweiter zerschmetterte
des Königs linken Arm. Nun ersuchte der Verletzte den Herzog
121
2 2 2 e 609 Die Schlacht bei Lutzen. ꝛꝛ ꝛ ꝛꝛ 22
von Lauenburg ihn aus dem Gewühle zu bringen, erhielt aber
gleich darauf einen Schuß in den Rücken und fiel vom Pferde,
das ihn eine Strecke in dem Steigbügel fortschleppte. Der
Herzog floh samt den andern; von den beiden Reitknechten, die
noch in des Königs Gefolge gewesen, lag der eine tot, der andere
verwundet da.
Nur ein einziger Begleiter war bei dem Schwerverwundeten
geblieben, der Edelknabe Leubelfing. Dieser achtzehnjährige
Jüngling erklärte auf dem Sterbebette vor Zeugen, er sei, als
der König vom Pferde gefallen war, von dem seinigen herab—
gesprungen und habe es dem Monarchen angeboten; der König
habe auch beide Hände nach ihm ausgestreckt; allein er sei
nicht imstande gewesen die Last allein vom Boden aufzuheben;
darauf seien feindliche Kürassiere dahergekommen und hätten
mit dem Pistol den König durch den Kopf geschossen. Der
Leichnam wurde bis aufs Hemd ausgeplündert, ebenso der
Edelknabe, den die Kürassiere schwer verwundet und für tot
liegen ließen.
Währenddessen war es auch auf dem linken Flügel, wo
Herzog Bernhard den Befehl führte, blutig hergegangen. Mit
gewohnter Entschlossenheit vertrieb der Herzog die feindlichen
Musketiere aus den Gärten von Lützen und ließ auf die Bat—
terien an den Windmühlen Sturm laufen. Dieselben waren
mit 14 Kanonen besetzt, welche mörderisch unter den anrennen—
den Schweden wüteten. Unentschieden schwankte der Kampf.
Da wurde der linke Flügel von Isolanis Kroaten auch im
Rücken angegriffen. Nun flohen viele Schweden und es ent—
stand eine große Verwirrung, bis etliche Hilfsscharen die Kroaten
wieder verjagten.
Ungefähr um diese Zeit erhielt Bernhard Nachricht von
des Königs Tode. Vorsichtige Offiziere rieten zum Rückzuge.
Der Herzog aber erwiderte, daß nicht vom Weichen, sondern
nur von Rache, Sieg oder Tod die Rede sein könne. Nun ver—
breitete sich auch unter den Truppen die Kunde von dem großen
Unglück; denn man sah Gustav Adolfs lediges Pferd mit Blut
bedeckt die Front hinunterrennen. Ein Gemurmel: „Der König
ist gefangen oder tot!“ lief durch die Reihen. Mit unbeschreib—
licher Wut stürzten Reiter und Fußvolk ihn zu retten oder zu
rächen, von neuem auf die Landstraße los, alles vor sich her
zermalmend. So fürchterlich war der Andrang, daß die kaiser—
lichen Reiter auf den linken Flügel geworfen, die großen Vier—
ecke zerrissen wurden. Zum Unglück für Wallenstein kam Feuer
129
z 70. Plũnderung eines Bauernhofes im Dreißigjährigen Kriege.
unter seine Pulverwägen; mehrere flogen unter großer Ver—
heerung in die Luft. Ganze Reiterschwadronen rissen aus und
galoppierten davon, Leipzig zu; eine Menge Weiber, die sich
der Troßpferde bemächtigt hatte, folgte ihnen nach. Die Schlacht
schien für Wallenstein verloren. Da traf Pappenheim mit seinen
Reitern auf dem Schlachtfelde ein. Der Befehl Wallensteins
hatte ihn zu Halle erreicht; mit verhängten Zügeln war er an
der Spitze seiner Reiterei nach Lützen gesprengt.
„Vo kommandiert der König?“ war seine erste Frage, als
er auf dem Schlachtfelde ankam. Schnell bricht er auf dem
rechten Flügel der Schweden ein, voll Begierde persönlich mit
einem Gegner zu fechten, der nicht mehr am Leben war. Zwei
Qugeln trafen ihn; er mußte tödlich verwundet aus dem Ge—
wühle weggetragen werden. Allein seine Ankunft hatte den
Kampf erneuert. Wallenstein fand unter dem Schutze der Pap—
penheimischen Kürassiere Gelegenheit Fußvolk und Reiterei wie—
der zu sammeln. Ein Angriff, fürchterlicher als alle früheren,
erfolgte. Noch einmal wurden die Schweden über die Land—
straße zurückgetrieben; aber drüben hielten sie mit unerhörter
Tapferkeit stand.
Daher war Herzog Bernhard nicht wenig froh, als er bei
Lichtung des Nebels die Regimenter des Generalmajors Knipp—
hausen noch in guter Ordnung stehen sah. Kurze Zeit vor
Sonnenuntergang wurde es noch einmal auf eine halbe Stunde
hell. In diese Frist war jetzt die ganze Entscheidung des Tages,
Sieg oder Niederlage, zusammengedrängt. Mit verzweifelter
Anstrengung wurde von den Schweden die Landstraße zum
drittenmal genommen.
Indessen brach die Nacht über das blutige Gefilde herein.
Wallenstein ließ zum Rückzuge blasen, den er unverfolgt nach
Leipzig antrat. So endigte nach neunstündigem Kampfe die
Lützener Schlacht, welche ewig denkwürdig bleiben wird.
Nach August Friedrich Gförer.
70. Vlünderung eines Bauernhofes im Dreißigjährigen Kriege.
Grimmelshausen, dessen Jugend in die Zeit des Dreißig—
jährigen Krieges fiel, erzählt folgendes:
ꝗIch kam mit meinen Schafen, Schweinen und Ziegen in den
Wald und ließ sie daselbst nach Herzenslust weiden. Ich selbst
aß zuerst mein Brot und trank dazu klares Wasser aus dem
ache, dann legte ich mich aufs grüne, weiche Moos.
12
—
70O0. Plũnderung eines Bauernhofes im Dreißigjährigen Kriege. ꝛ ꝛ
Aber plötzlich sah ich mich samt meiner Herde von einem
Trupp Kürassiere umgeben. Ich wurde von einem der Reiter am
Kragen gepackt und ungestüm auf ein leeres Bauernpferd ge—
schleudert. Fort ging's in stetigem Trab, bis wir an meines
Vaters Hof angelangt waren. Ich schaute gar fröhlich nach
meinem Vater aus, ob nicht er oder meine Mutter uns bald
entgegenkommen und uns willkommen heißen wollten. Aber
vergebens; denn meine Eltern samt ihrem einzigen Töchterchen
Ursele hatten die Nahenden von weitem gemerkt, wollten die
schlimmen Gäste nicht erwarten und entwischten durch die Hinter—
tür ins Waldesdickicht.
Das erste, was jene Reiter taten, war, daß sie ihre Pferde
anbanden, dann ging jeder seiner besonderen Arbeit nach; aber
so verschiedenartig ihre Beschäftigungen waren, so hatten sie
doch alle den nämlichen Zweck: Untergang und Verderben.
Etliche fingen an Schafe, Ziegen und Schweine zu schlachten,
zu sieden und zu braten, daß es aussah, als sollte ein lustiges
Bankett gehalten werden; andere durchstürmten das Haus von
unten bis oben; andere packten von Tuch, Kleidern und allerlei
Hausrat große Ballen zusammen, als ob sie damit einen Trödel—
markt errichten wollten; was sie aber nicht mitzunehmen ge—
dachten, das ward zerschlagen. Etliche durchstachen mit ihren
Degen Heu und Stroh, als ob sie nicht Schafe und Schweine
genug zu stechen gehabt hätten. Etliche schüttelten die Federn
aus den Betten und füllten dafür Speck, gedörrtes Fleisch und
andere Dinge hinein, als ob dann besser darauf zu schlafen
wäre. Andere schlugen Ofen und Türen ein, als hätten sie
einen ewigen Sommer zu verkünden. Kupfer- und Zinngeschirr
traten und stampften sie zusammen und packten die verbogenen
und verdorbenen Stücke ein. Bettladen, Tische, Stühle und
Bänke verbrannten sie, während doch viele Klafter dürres Holz
im Hofe lagen. Töpfe und Schüsseln mußten alle entzwei
gemacht werden, entweder weil sie lieber am Spieße Gebratenes
aßen oder weil sie beabsichtigten allda nur eine einzige Mahl—
zeit zu halten.
Unsern Knecht, den die Reiter erwischt hatten, legten
sie gebunden auf die Erde, steckten ihm ein Sperrholz in
den Mund und schütteten ihm einen Melkkübel voll Mistlache
in den Leib. Das nannten sie einen schwedischen Trunk.
Sie ließen den armen Kerl erst los, als er versprach einige
von ihnen dahin zu führen, wo sie meine Eltern und das u
fänden, und brachten diese auch bald genug geschleppt. Nu
124
71. Friede auf Erden.
fingen sie an die Feuersteine von den Schlössern ihrer Gewehre
loszuschrauben und dafür meiner Mutter und Schwester ihre
Daumen aufzuschrauben. Damit quälten sie sie, als hätten ihnen
die armen Weiber ein schweres Unrecht getan, nur deshalb,
daß sie ihnen bekannten, wo sie etwa noch verborgene Schätze
hätten. Da aber beide vor Schmerzen die Sinne verloren, also
daß sie nicht zu reden vermochten, ließen sie sie los und fielen
wieder über den Knecht her, sperrten ihn in den Backofen und
zündeten Feuer darunter an, als ob er so besser reden könnte
als im Kühlen. Dann zerrten sie ihn wieder heraus, nachdem
er schon halb verbrannt war, warfen ihn beiseite und begannen
ihr Spiel mit meinem Vater. Dieser aber war nach meinem
damaligen Bedünken der glücklichste Mensch, dieweil er mit
lachendem Munde bekannte, was andere mit Schmerzen und
jämmerlicher Wehklage sagen mußten, und solche Ehre wider—
fuhr ihm ohne Zweifel darum, weil er der Hausvater war. Sie
setzten ihn nämlich neben ein Feuer, banden ihn, daß er weder
Hände noch Füße regen konnte, und rieben seine Fußsohlen mit
angefeuchtetem Salze ein, welches ihm unsere alte Geiß wieder
ablecken mußte. Dadurch kitzelte sie ihn so, daß er vor Lachen
hätte bersten mögen. Das nahm sich so lustig aus, daß ich zur
Gesellschaft, weil ich's nicht besser verstand, von Herzen mit—
lachen mußte. Er aber bekannte lachend seine Schuldigkeit und
zeigte ihnen den verborgenen Schatz, welcher an Gold, Perlen
und Kleinodien weit reicher war, als man hinter einem Bauer
hätte suchen sollen. Und mitten in diesem Elend wandte ich den
Peinigern die Braten am Feuer und half ihnen am Nachmittage
die Pferde tränken. Als ich bei dieser Beschäftigung in den
Stall kam, fand ich in einem Winkel, unter Stroh und Dünger
versteckt, unfere Magd, die bleich wie der Tod, mit stieren Augen
und zersträubtem Haar daraus hervorlugte und mir mit schwa—
cher Stimme zuflüsterte: „O Bub', lauf weg, was du laufen
kannst! Sonst nehmen dich die Reiter mit. Verrat mich nicht!
Gott behüt' dich, lieber Bub'!“ Mehr konnte sie nicht sprechen.
Die wenigen Worte aber öffneten mir plötzlich die Augen, daß
ich erst nun meine gefährliche Lage erkannte und mich aus
dem Staube machte. Gotthold Klee, nach Christoph v. Grimmelshausen.
71. Friede auf Erden.
Es gibt ein Dörflein, das liegt also fernab von aller Welt,
daß gute und schlechte Mär zwei Monate später dorthin kommt
als sonst an irgendeinen Fleck in deutschen Landen. So geschah
25 —
2 2 2 71. Friede auf Erden. —
es, daß man um die Weihnachtszeit des Jahres 1648 in selbigem
Dorf noch nicht wußte, daß nach dreißigjährigem Kriegsjammer
Friede worden im Vaterland, und doch hatten die Herren Ge—
sandten zu Münster und Osnabrück schon am 25. Oktober mit
umständlicher Feierlichkeit das letzte große Punktum gesetzt. Bald
nach Martini zwar ist ein fahrender Geselle gekommen, der
erzählte im Wirtshaus, es sei Fried' im Reich und er selber
habe gesehen, wie die Bauern drunten am Strom auf der
Heerstraße ihre Schweine zu Markt getrieben; aber niemand
glaubte es ihm. Einer holte den alten Schulmeister. Der fühlte
dem Fremden auf den Zahn durch allerlei Fragen. Als der
Geselle erzählte, daß er auf der Hohen Schule zu Padua gewesen
und daß man dort jetzt den Stoßdegen unter dem Rockschoße
trage, da raunte der Schulmeister den anderen zu: „Traut ihm
nicht, 's ist ein Lateinischer!“ und schier gar hätte der Wanders—
mann für seine Friedensbotschaft noch Schläge bekommen.
So wähnten sich die Leute mitten im Krieg. Wer etwas
in Feld oder Wald zu schaffen hatte, nahm einen guten Gesellen
mit. Abwechselnd trugen sie das Feuerrohr, und ehe sie an die
Arbeit gingen, suchten sie das Umland ab; während der eine
Holz machte oder ackerte, stand der andere auf Wache. Einigemal
hatten sich Gewaffnete gezeigt; die wurden durch Schüsse ver—
trieben. Ob es versprengte Soldaten waren oder Raubgesindel,
wußte man nicht. Allsonntäglich fügte der Pfarrer dem großen
Kirchengebet die Bitte um den edlen Frieden bei und fast alle
andermal ließ er sein Lieblingslied singen: „Ach, Gott vom
Himmel, sieh darein und laß dich es erbarmen!“ Er war
stimmlos, seit ihm die Kroaten den Schwedentrunk mit heißem
Wasser gegeben, und hatte seitdem keine gute Stunde mehr.
Aber er versah noch sein Dienstlein und die Leute verstanden
ihren Hirten, auch konnten sie sich alle nah zu ihm heransetzen;
Krieg, Pest und Hunger hatten aufgeräumt.
So war der Tag vor dem Christfest herangekommen.
Niemand dachte mehr an die Friedensbotschaft des Lateinischen.
Nur eine hatte sie nicht vergessen. Das war des Nachtwächters
alte Mutter. Sie hatte vor fünf Jahren ein böses Gelübde
getan. Das quälte sie jetzt; denn sie lag im Sterben. Es war
an einem Wintertag, da trugen sie ihr den Mann tot ins Haus.
Vorübersprengende Reiter hatten aus Mutwillen ihn geschossen,
als er auf einem gefällten Stamme saß und sein Brot verzehrte.
Damals fluchte sie dem Herrgott, weil er solch himmelschreienden
Greuel geschehen ließ, und sie gelobte nicht mehr zum Nachtmahl
— 126 —
Im
71. Friede auf Erden. 22 ee 2
zu gehen, solange der Krieg währe. Jetzt lag sie krank zu Bett
und wußte, daß sie sterben müsse, und sehnte sich nach der
heiligen Kost. Aber als der Pfarrer ihr zuredete, sie solle der
Sehnsucht Genüge tun, denn ihr Gelübde sei gottlos gewesen,
da wandte sie sich zur Mauer und gab keine Äntwort.
Heute nun warf sie sich unruhig auf ihrem Lager herum.
Der Husten quälte sie und noch etwas. „Mein Vater selig ist
auf den Christtag gestorben,“ sagte sie in der Frühe. Nach einer
Weile stöhnte sie auf. „Was ist Euch, Mutter?“ fragte der Sohn
und eilte ans Bett. „Man ist doch auch ein Christenmensch,“
flüsterte sie. „Morgen ist Nachtmahl in der Gemeinde,“ fing der
Sohn wieder an, „wollt Ihr nicht auch, Mutter?“ Da fragte sie
mit hastiger Stimme: „Ist Fried' im Land?“ Der Nachtwächter
schüttelte traurig den Kopf. „Wir erleben's nimmer, Mutter,
Ihr nicht und ich nicht.“ Und er ging zur Türe hinaus.
Da trat ihr Enkelsohn an das Bett, ein baumlanger Kerl.
Er war hinter dem Ofen gesessen und hatte an einem Span
geschnitzt. „Ich will in die Stadt gehen, Altmutter, und fragen,
ob Krieg oder Fried' ist. Morgen früh bin ich wieder da.“ „Ja,
geh,“ flüsterte die Kranke in fliegender Hast. „Geh, ehe dein
Vater kommt, er leidet's sonst nicht.“ — „Wen soll ich fragen,
Altmutter?“ — „Im Torturm wohnt der Weibel. Seine Frau
ist mein Patenkind. Die frag', die weiß es. Sie hat von mir ein
silbern Salzfaß zur Aussteuer. Das soll sie dir geben zum
Zeugnis der Wahrheit, wenn Fried' ist im Land. Geh, nimm
deines Vaters Spieß mit, der Volf —“ Aber der Junge hörte
nicht mehr. Schon eilte er den Berg hinab, der Waldschlucht zu.
Sechs Stunden war es bis zur Stadt. Der Weg dahin führte
durch einsame Heide und wilden Wald, vorbei an ausgebrannten
Mühlen und verlassenen Dörfern; dann stieg er hinunter ins
breite, offene Tal an den großen Strom, wo die Heerstraße lief
und die Städte lagen. Durch Wald und Heide trabte der Wolf
und durchs Tal zog Mordgesindel jahraus, jahrein, solches mit
der roten Feder und solches mit der Sturmhaͤube, Schnapphähne
und Soldaten.
Den Tag über lag die Alte still. Als der Sohn das
Mittagsmahl kochte — es war kein Frauensbild weiter im
Haus — fragte er: „Wo steckt denn der Bub'?“ Aber er fragte
mehr sich selbst als seine Mutter und diese schwieg. Der Abend
dämmerte. Da schaute der Mann besorgt nach in Stall und
Scheune, blickte die Dorfstraße hinauf und kehrie stumm in die
Stube zurück. Er setzte sich auf die Ofenbank. Es ward finster.
— 127 —
A. Friede auf Erden. z3 z
Die Mutter stöhnte. „Wollt Ihr was?“ fragte der Sohn von
der Bank her. „Er wird in der Stadt sein,“ jammerte die Kranke.
„Der Bub'?“ rief entsetzt der Mann. „Er will fragen, ob Fried'
ist im Land.“ „Mutter,“ schrie der Sohn, „Euch rechn' ich's zu,
wenn er mir verdirbt!“ Die Kranke murmelte Unverständliches.
Ihre Zähne schlugen zusammen. Beide schwiegen. Es ward
völlig nacht in der Stube. Nur die Augen der Hauskatze
leuchteten unter dem Ofen herauf. Als der Orion über das
Scheunendach schaute, stand der Mann auf, nahm das Horn
von der Wand und verließ wortlos die Stube. Die Katze strich
ihm nach bis an die Tür, dann sprang sie auf den Fenstersims.
Aber es wehte ein kalter Zug herein. Mit ein paar Sätzen war
sie wieder am Ofen, legte sich auf den alten Platz und ihre
Augen leuchteten nach dem Bett der Sterbenden hinüber.
Derweil stieg der Orion höher und höher und jetzt
schauten seine Sterne in die Waldschlucht hinein gleich unten
am Doͤrf. Wolfsloch hieß sie und die Leute wußten warum.
Das Sternenlicht drang hinab bis auf den schmalen, finsteren
Grund. Dort lag eine dunkle Masse, fast regungslos, Mensch
und Tier im Ringen auf Leben und Tod. Oben am Eingang
zur Schlucht stand der Nachtwächter und spähte hinab. Aber
der Blick ging über den Knäuel hinweg und der Kampf war
lautlos; der sausende Odem der Ringenden verwehte, ehe der
Lufthauch von dort heraufkam. In dem Augenblick, als der
Vater sich umwandte dem Dörflein zu, tauchte aus der Tiefe
der Schlucht ein irrer Blick in das blinkende Sternenlicht und
mit Himmelsgewalt schlug wie ein siegreicher Blitzstrahl ein
Seelenschrei in die Unendlichkeit: „Herr Gott, ich muß der
Altmutter, zum Nachtmahl helfen!“
Der Nachtwächter war langsam hinaufgestiegen auf den
Kirchhofhügel. Man sah dort am weitesten umher. Er spähte
in die schneelose Landschaft hinaus, sein Blick weilte ein wenig
bei den dunklen Tannen, die das Wolfsloch zudeckten. Dann
ging der Mann langsam über den hellen Friedhof. An einem
großen Grabhügel stand er stille. Hier lagen siebzehn, die auf
zwei Tage an der Pest gestorben. Darunter auch sein Weib und
zwei Mägdlein. Ein drittes, die Älteste, hatte das Kriegsvolk
mitgeschleppt. Sie war nimmer heimgekommen. Nimmer heim—
gekommen! Da schnürte es ihm das Herz zu. Er dachte an
seinen Buben. Aber wie er nun, um von neuem zu spähen und
zu lauschen, das Antlitz hob, leuchteten ihn die Sterne so mild
und tröstlich an, daß ihm die Augen feucht wurden. Er schaute
122 —
A. Friede auf Erden.
nach dem Stand der Gestirne. Es war um die halbe Nacht. Er
nahm sein Horn und blies die zwölfte Stunde. Dann schritt
er den Hügel hinab. sAls er von der sternhellen Höhe in die
finstere Dorfgasse getreten war, da sah er eine hohe Gestalt die
Dorfgasse heraufkommen. „So hochgewachsen ist nur einer,“
jauchzte sein Herz, „mein Bub'!“ Mit raschen Schritten ging
er ihm entgegen. Der Bursche kam langsam, er war barhäuptig,
die Arme über der Brust gefaltet. Im Schatten einer Scheune
stand er still. Halb freudig, halb verwundert trat der Vater
ihm nahe. Aber ehe er fragen mochte, rief ihm der Sohn mit
leiser, fremdartiger Stimme zu: „Vater, holt den Pfarrer, die
Altmutter kann zum Nachtmahl.“ Und flüsternd fügte er hinzu:
„s ist Friede!“ „Friede!“ schrie der Mann und taumelte zurück.
„Friede!“ wiederholte er und die Tränen stürzten ihm aus den
Augen und er zitterte wie im Fieberschauer. Eine Weile stand
er in sich versunken und murmelte vor sich hin immer nur das
eine Wort „Friede“. Dann raffte er sich auf und ging mit
großen Schritten dem Pfarrhause zu. Des Sohnes hatte er
vergessen.
Der ging langsam zurück. Oft blieb er stehen und preßte
die Hände auf die Brust. Aber nach kurzer Weile ging er weiter,
vorbei am letzten Hause, wo die sterbende Großmutter lag.
Zum Dorf hinaus dem Wolfsloch zu schleppte er si Was trieb
ihn an den grauenvollen Ort? Wollte er dem erw rgten Feinde
noch einmal ins verglaste, bluttriefende Auge schauen?
Derweil hatte der Nachtwächter mit der Klinge der
Hellebarde die Tür des Pfarrhauses aufgebrochen. Seinem
Klopfen war nicht geöffnet worden. Man kannte dies Pochen
zur Nachtzeit. Drinnen in der Stube lag der Pfarrer auf den
Knien und bat Gott um den Gnadenstoß. Da rief des Nacht—
wächters bekannte Stimme in die Stube hinein: „Friede!“ Der
Pfarrer sah mit stieren Augen hin, wie wenn er nichts begriffe.
„Meine Mutter will sterben. Gebt ihr das Nachtmahl! Fried'
ist im Land!“ Da ward dem alten Manne das Herz überwältigt.
Er brach in seinem stimmlosen Flüsterton in Schluchzen aus.
Es klang zum Erbarmen. Der Nachtwächter aber ging hinüber
zum Schulmeister. Mit dem Knopf der Hellebarde stieß er an
den Laden. „Ich bin's, macht auf!“ „Wo brenn's rief der
Schulmeister und öffnete den Laden. Da legte der Nachtwächter
seine Arme dem Mann um den Kopf, neigte das Antlitz ihm
an die Wange und flüsterte ihm ein Wort ins Ohr. Der Schul—
meister zuckte zusammen, dann weinten beide Männer Brust an
Augburger Lesebhuch, VI. Ni.
120
9
9
*
ꝛ2 22 2 2 2 2 22 71L Friede auf Erden. 2
Brust. „Ich muß läuten, laß mich los,“ sagte endlich der Schul⸗
meister. Wer sein Geselle war seiner nicht mehr mächtig.
Gewaltsam machte sich der Greis frei, weckte seine Söhne und
eilte zur Kirche hinauf, während der Nachtwächter sich wieder
zum Pfarrhaus wandte.
Seit vierzehn Jahren waren die Glocken stumm. Zum
letztenmal hatten sie geläutet am Weihnachtsfest nach der Nörd⸗
linger Schlacht. Dann schwiegen sie, daß nicht die Mordbuben
herbeigelockt würden. Und jetzt und jetzt schlugen sie wieder
zusammen! „Was macht so?“ fragten die Kinder. „Es läutet,“
fagten die Alten. „Steht auf, Kinder, 's ist Fried' im Land!“
„Ver ist der Fried'?“ fragten die Kinder, „nimmt uns der Fried'
die Geiß weg und schlägt er uns den Vater blutig?“ „Schweigt,
Kinder, und zieht euch an und betet!“ „Tut der Fried' so
sausen?“ fragten die Kinder furchtsam. Aber die Mutter gab
ihnen fürder keine Antwort. Da fingen sie an zu weinen und
verkrochen sich ein jedes in sein bekanntes Verstecklein und
lauschten angstvoll dem fremden Getön. übel klangen die
Glocken; die große war zersprungen. Gleich am Anfang des
Krieges hatten die Mansfelder sie und die mittlere, die nicht
mehr da war, zum Turm hinabgeworfen und mitgeschleppt. Die
große fand man später im Wald. Aber auch so klang es den
ÄAlten wie Himmelsgeläute. Und doch war keine rechte Freude.
Das Andenten an das erlittene Elend stand grausig auf. Jeder
gedachte seines Verlustes und die vielen Wunden der Seele
oͤluteten alle zusammen. Starr sahen sich die Leute an, verstört
standen sie auf der Gasse umher. Aber niemand zweifelte an
der Wahrheit der Botschaft.
Von zwei Männern gestützt, kam der alte Pfarrer die
Straße herab. „Die Lore geht zum Nachtmahl,“ sagten sich die
Leute. Viele schlossen sich an. Der Zug ging nach dem letzten
Haus. Der Pfarrer trat mit dem Nachtwächter und dem ältesten
Sohn des Schulmeisters in die Stube der Sterbenden. Ein
Spaͤn wurde angezündet und an der Wand befestigt. Der Sigrist
bereitete das Nachtmahltischlein am Bette der Kranken. Der
Pfarrer beugte sich nieder und wie ein starkes Geräusch keuchten
die klanglosen Worte: „Es ist Friede; wollt Ihr jetzt zum
Nachtmahl?“ Da suchte die Frau angstvoll mit den Augen und
tastete auf der Bettdecke herum. „Wollt Ihr?“ wiederholte der
Pfarrer. „Seht, Ihr müßt sterben. Macht Friede mit Eurem
Gott und ziehet hin im Frieden!“ Die Greisin riß die Augen
auf und sah den Pfarrer starr an. „Wo ist das Salzfaß?“
— 120 ü
2 2222222 73diiede auf Erden. ee e 2
flüsterte sie. Der Nachtwächter sagte: „Sie ist irr.“ Da trat
ein harter, verschlossener Zug auf das Antlitz der Sterbenden.
„Ich will —“ stöhnte sie. „Vas wollt Ihr, Mutter?“ fragte
der Sohn und nahm sie in den Arm. „Ich will so sterben,“
hauchte sie und deutete mit der Hand nach der Mauer. „Sie
will der Wand zu sterben,“ sagte der Sohn.
In diesem Augenblick ging die Tür auf . Ein Haufen
Männer stand draußen. „Sachte, langsam,“ riefen sie sich zu
und halb führten, halb trugen sie den Enkelsohn der Sterbenden
herein. Die Kleider hingen ihm in blutigen Fetzen vom Leib,
die Brust war eine Lache, aus der es dick und schwarz heraus—
quoll. Die Männer wollten ihn in die Kammer bringen; aber
mit starrem Blick sah der Todwunde nach der Großmutter Bett
und seine wankenden Beine strebten dorthin. Er sank nieder
auf das Bett, so daß es über und über mit Blut besudelt ward.
Er tastete nach der Hand, und als er sie gefunden, drückte er
ein Ding hinein, das seine Faust krampfhaft umschlossen
gehalten. „Da, Altmutter, da,“ murmelte er, „Euer Patenkind
läßt Euch grüßen und Euch sagen, es sei Fried' im Land. Da
ist das Salzfaß zum Zeugnis der Wahrheit.“ Das Pfand war
ihm entfallen im Kampfe mit dem Untier. Darum war er
nochmals zurückgekehrt. Darüber waren ihm die Wunden, die
er mit Moos zugestopft, aufgebrochen.
Die Sterbende betastete das Salzfaß. Da leuchtete es
in ihrem Antlitz selig auf. „Gott sei Dank,“ flüsterte sie, „Friede,
Friede!“ „Sie stirbt ohne Nachtmahl,“ rief der Sigrist. „Sie
feiert es droben im Licht,“ hauchte der Pfarrer. „Küßt Eure
Mutter noch einmal,“ raunte er dem Nachtwächter zu, „und
dann macht Euch bereit von Eurem Sohne Abschied zu nehmen.
Ihr bringt dem Frieden ein schweres Opfer.“
Sie legten den Burschen sacht auf den Boden. Frauen
wuschen ihm die Wunden. Der Vater legte sich neben ihn nieder
und sah ihm in die brechenden Augen. „Wie lieblich sind auf
den Bergen die Füße der Boten, die den Frieden verkündigen!“
raunte der Pfarrer. Da versagte ihm die Stimme. Er hatte
den Buben mit den trotzigen, blauen Augen lieb gehabt. Der
Todeskampf begann. Der Vater hielt seinen Sohn umschlungen.
Derweilen füllte sich die Stube mit Männern und Frauen. Der
Kampf war nicht schwer. Jetzt war es aus. Die Weiber fingen
an zu weinen. Der Pfarrer kniete nieder. Da schwiegen alle
und knieten gleichfalls. Nur der Nachtwächter blieb an der Seite
seines Sohnes liegen. Ein Schauer durchlief die Versammlung.
21
12
9
zꝛ 73. Kurfürst Maximilians 1. väterliche Ermahnungen an seinen Sohn. ꝛ *
Erschütternd gleich dem Glockengeläute, aber rein und klangvoll
schallte es durch die Stube: „Friede auf Erden und den Menschen
ein Wohlgefallen!“
Adolf Schmitthenner.
2
*
2. Der Friedo.
O schöner Tag, wenn endlich der Soldat
ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit,
zum frohen Zug die Fahnen sich entfalten
und heimwärts schlägt der frohe Friedensmarsch!
Wenn alle Hüte sich und Helme schmüchken
mit grünen Mai'n, dem letzten Raub der Felder!
Der Städte Tore gehen auf von selbst,
nicht die Petarde braucht sie mehr zu sprengen;
von Menschen sind die Wälle rings erfüllt,
von friedlichen, die in die Lüfte grüben;
hell Klingt von allen Türmen das Geläut',
des blut'gen Tages frohe Vesper schlagend.
Aus Dörfern und aus Städten wimmelnd strömt
ein jauchzend Volk, mit liebend emsiger
Zudringlichkeit des Heeres Fortzug hindernd.
Da schũttelt, froh des noch erlebten Tags,
dem heimgekehrten Sohn der Greis die Hände.
Ein Fremdling, tritt er in sein Eigentum,
das längstverlassne, ein; mit breiten Asten
deckt ihn der Baum bei seiner Wiederkehr,
der sich zur Gerte bog, als er gegangen,
und schamhaft tritt als Jungfrau ihm entgegen,
die einst er an der Amme Brust verlieb.
O glücklich, wem dann auch sich eine Tür,
sich liebe Arme sanft umschlingend öffnen!
Friedrich v. Schiller.
73. Kurfürst Naximilians J. väterliche Ermahnungen an seinen Sohn.
Als Maximilians Tage zu Ende gingen, befand sich sein
Sohn Ferdinand Maria noch in den Jünglingsjahren. Der gute
Vater hatte für eine treffliche Erziehung gesorgt und ihn sogar
selbst in die Regierungsgeschäfte eingeweiht; allein der Prinz
war noch zu jugendlich, als daß er des Vaters Unterweisung
hätte auffassen können. Da schrieb der Kurfürst ein Buch in
72—
2 —
58
74. Der Kurfürst vor Belgrad. zꝛ
lateinischer und deutscher Sprache, in welchem er seinem Sohne
die Pflichten an das Herz legte, die er gegen Gott, gegen sich
selbst und gegen seine Untertanen zu erfüllen habe. Einige
Stellen daraus sollen hier Platz finden.
„Wenn du einst die Herrscherwürde übernimmst, wirst du
eines Führers bedürfen. Da du dann meinen Rat nicht mehr
genießen kannst, so hinterlasse ich dir diese kurzen Ermah—
nungen; sie sollen meine Stelle bei dir vertreten.
Der einzige Herr und Herrscher über alles ist Gott, aus
dessen Hand alle Gewalt und Macht, aller Ruhm und Sieg
herkommt.
Nie hat ein Regent ohne Gott glücklich über ein Volk
geherrscht und wohl keiner beglücket seine Untertanen, der sich
nicht erst mit demütigem Herzen Gott unterworfen hat.
Alle Tage deines Lebens sollst du mit andächtigem Gebet
anfangen und enden.
Alle deine Geschäfte beginne, indem du Gott durch eifriges
Gebet um seinen Beistand bittest!
Dem Leibe sollst du nicht zu viel nachgeben, damit er nicht
durch Müßiggang und unordentliche Lustbärkeit Schaden leide.
Sei wahrhaft! Deine Worte sollen einem Eidschwur gleich
gehalten werden. Unternimm nichts, was nicht recht und er—
laubt ist!
Das unverrückbare Ziel aller deiner Sorgen sei dir das
Heil, der Wohlstand, die Sicherheit deines Volkes! Die mäch—
tigste Stütze des Thrones ist die Liebe und das Wohlwollen der
Untertanen.“ Michael Becker, nach Johann Michael v. Söltl.
74. Der Kurfürst vor Belgrad.
1. Max Emanuel, Stern der Ehre,
Heldendegen, stark und kühn!
Ewig bleibt im Bayernheere
dein Gedãchtnis lorbeergrün,
seit dein Fub vor Belgarad
in den Staub den Halbmond trat.
2. Morgens um die neunte Stunde
gab der Held zum Sturm Befehl;
da erscholl's aus jedem Munde:
„Gott mit uns, Emanuel!“
Antwort gab vom hestungswall
der Kartaunen Donnerhall.
133
75. Die Mordweihnacht von Sendling. ꝛꝛ e
3. Rot von Blut schon troff die Erde,
als man bis zum Graben drang;
doch der Kurfürst stieg vom Pferde,
sprang hinab, den Degen blank:
„Braves Bayerblut, mir nach,
folgt dem Schwert von Wittelsbachl“
4. Klimmt, ob rings der Tod auch knattert,
durch den Dampf zum steilen Rand,
und die Fahne, die da flattert,
reißt er aus des Faähnrichs Hand;
mitten dureh die Kugelsaat
zeigt den Seinen er den Pfad.
5. Wohl beim Schein der roten Blitze
brach manch tapfres Herze hier;
aber auf des Walles Spitze
pflanzt der Held sein Siegspanier:
Belgarad, jetzt bist du mein
und das Kreuz zieht mit uns ein!“
6. Huil wie stoben schreckverwundert
da die Türken, Mann und Rob!
Christensklaven vierzehnhundert
wurden ihrer Bande los.
„Dankt's dem Herrn, ich trug sein Schwert;
doch den Sieg hat Gott beschertl“
7. Kurfürst Max, gekrönter Sieger,
dieses war dein Ehrentag;
in der Brust der Bayernkrieger
schallt noch heut dein Feldruf nach:
„Schwert von Wittelsbach voran
und wir folgen Mann für Mannl“
Emanuel Geibol.
75. Die Mordweihnacht von Sendling.
Es war schon 11 Uhr vorüber, als der Vortrab der
Oberländer Bauern hinter Harlaching herankam und in die
Spitzen des Tannenwaldes vorrückte, welcher damals noch weit
gegen das Giesinger Bergkirchlein und die wenigen um das⸗
selbe gescharten Wohnhäuser heranreichte. Der Schein der
Sterne war hinter Wolken vollständig erloschen, die Nacht war
noch finsterer geworden und nur das Schneelicht diente den
— 124 —
5.
75. Die Mordweihnacht von Sendling.
rasch Voranrückenden zum Wegweiser. Als der Höhenrand er⸗
reicht war, von welchem die Isarebene und die Stadt in ihr
zu überschauen ist, lag es stumm und schwarz wie ein Grab
zu ihren Füßen; nur ganz scharfe Augen vermochten in schwa⸗
chen Umrissen die Rundkuppeln der Frauentürme und die Spitze
des Petersturmes zu unterscheiden. Auf den Türmen aber war
alles still und mit befremdeter Verwunderung dachte und fragte
mancher, warum sich noch kein Geläute hören lasse; es müsse
doch schon um die Zeit sein, zu welcher sonst das erste Glocken—
zeichen zum nächtlichen Gottesdienste gegeben zu werden pflegte.
Gauthier, der Anführer der Bauern, hatte den Befehl er—
lassen nur mit der äußersten Behutsamkeit vorzugehen und
alles unnötige Geräusch zu vermeiden; als aber die ersten
Schützen gegen die Felder vorrückten und eine Schar von Reitern
gewahrten, welche hinter Giesing Stellung genommen hatten,
waren Befehl und Vorsicht im Ungestüm der Kampfbegierde ver—
gessen und die ersten Schüsse knallten verräterisch durch die Nacht.
Mit Jubelgeschrei sahen die Schützen einige der Reiter stürzen,
die übrigen aber abschwenken und in die Nacht davonsprengen.
Im Sturmschritt und in gedrängten Haufen ging es den Gie—
singer Berg hinab, dann längs desselben unter den kurfürst⸗
lichen Jagdhaäuseln bis an das Paulanerkloster hin; bei diesem
sollte die erste Abteilung der Münchener stehen und die An—
kommenden empfangen. „Wer da?“ rief es hin und „Baye—
rische Landesverteidiger!“ scholl es zurück. Es war die streitbare
Schar der Zimmerleute aus der Vorstadt Au, welche mit Schurz⸗
fell und Beil sich bereit hielten, falls man ihrer bedürfen sollte
beim Brückensturme. Unangefochten erreichte man das Ende
der Vorstadt. Der Brückeneingang war unbesetzt, drüben ragte
der Rote Turm, ein viereckiges, festgefügtes Gebäude, unheim—
lich herüber; nichts regte sich als die Wellen der Isar.
Die Landesverteidiger standen fest wie Mauern und ge—
räuschlos wie Schatten — sie harrten der entscheidenden
Stunde und des Zeichens zum Angriffe. Jetzt hoben auf den
Türmen der Stadt nacheinander die Glockenhämmer aus und
die Schläge der Mitternacht hallten durch das Dunkel — dann
war es wieder still; kein Glockengeläute rief zur Mette; kein
Feuerzeichen stieg über den finstern Giebeln empor um zu ver—
künden, daß die Genossen bereit seien die Befreier zu emp—
fangen. Immer langsamer und bänger verstrichen den Harren⸗
den die Augenblicke und jede Viertelstunde schien sich zu
einer Ewigkeit zu erweitern; immer unruhiger schlugen
—
z2 75. Die Mordweihnacht von Sendling. ꝛꝛ 22 *
die Herzen und ein unheimliches Geflüster durchlief die
Reihen. „WVas hat das zu bedeuten?“ hieß es. „Nun
sind wir da — und nun lassen uns die Bürger im Stich?“
Es war aber nur ein einziger Augenblick des Zagens,
der die Gemüter beschlich; im nächsten ward es allen klar,
daß die Münchener sicherlich nicht wortbrüchig waren, daß es
also nur die Gewalt sein konnte, was sie verhinderte. Ein
riesenhafter Mann, welcher mit den Auer Zimmerleuten zu—
vorderst stand — der Volksmund nennt ihn den Kochler Schmied—
balthes — gab den Anschlag. Mit hochgeschwungener Eisen—
keule rief er: „Was besinnen wir uns lange? Wort halten
heißt's! Vorwärts, Kameraden! Mutter Maria, steh uns bei!“
Voran stürmten die Scharen, die Zimmerleute an der
Spitze; aber so still es im Roten Turm gewesen, schien man die
Ankommenden dennoch erwartet zu haben; denn kaum hatten die
ersten Reihen die Brücke betreten, als es aus allen Turmluken
aufblitzte und große und kleine Kugeln in die dichtgedrängte
Menge todbringend einschlugen. Viele stürzten, mancher, un—
fähig sich zu halten, taumelte über das niedere Geländer in den
Fluß hinab. In der ersten Verwirrung stockte der Anlauf;
aber die Vordersten hatten schon den Turm selbst erreicht: ge—
waltsam dröhnten und schmetterten die mächtigen Zimmer—
mannsbeile an das Tor und mit nur noch heftigerem An—
drange ging es vorwärts. Die Eisenbohlen des Tores ver—
mochten auf die Länge den Hieben nicht zu widerstehen, kra—
chend stürzten die Flügel nach innen. Aber den darüber Ein—
dringenden blitzte noch ein wilderer Kugelregen entgegen; denn
die Kaiserlichen hatten sich im Torwege geschart und ein wüten—
des Handgemenge begann. Da waren die Keulen, die ÄAxte und
Morgensterne an ihrem Platze; gegen sie fruchtete kein Wider—
stand; ehe eine halbe Stunde verging, lag die Turmbesatzung
erschlagen und die Landesverteidiger stürmten dem inneren,
dem eigentlichen Isartore zu; eine kleinere Abteilung
schwenkte rechts gegen das „Kosttörl“ ab, dessen Offnung
verheißen war. Am Isartore erwartete die Bauern ein weit
furchtbarerer Widerstand; die Brücke über den Graben war
aufgezogen und es galt nun vor allem sie niederzuzwingen.
Während einzelne versuchten durch den Graben zu schwimmen
um an den Mauern emporzuklimmen und die Brückenseile zu
durchhauen, mußten die Schützen sich darauf beschränken mit
ihren nie fehlenden Kugeln die Mauern von ihren Verteidigern
zu säubern; andere schleppten die beiden im Roten Turm er—
— 1355
—
9
75. Die Mordweihnacht von Sendling. zꝛ uz z 7
beuteten Geschütze herbei und begannen das Tor zu beschießen.
Schon war es einigen Wagehälfen gelungen in der Tiefe des
Grabens mit Leitern an Turm und Mauern zu gelangen, und
der begeisterten Todesverachtung der Bauern hätten auch diese
Bollwerke nicht mehr lange zu widerstehen vermocht. Da
dröhnte von fern ein Kanonenschuß durch die Nacht. Im Rücken
der Stürmenden begann es unruͤhig zu werden; das entnervende
Fluchwort: „Verrat! Verrat!“ wuͤrde immer lauter, immer häu—
figer. Das ganze Vorhaben, hieß es, sei den Kaiserlichen haar—
klein verraten gewesen; der Kriechbaum und der Wendt seien
von Anzing da und stünden den Angreifern im Rücken. Ver—
gebens bemühten sich die Führer zu halten und anzuspornen;
vom Gasteig begannen schon die Kugeln Wendts unter den
Bauern einzuschlagen, das Geschrei im Rücken von der Brücke
her wurde immer lauter und wilder, die Besatzung des Roten
Turmes, aus diesem gedrängt, warf sich auf die übrigen; schon
sah man die Säbel der Panduren über den hintersten blinken:
da sank auch die Brücke des Isartores herab, die Kaiserlichen
fielen wütend aus und von zwei Seiten sandten Grimm und
Erbitterung den Tod in die treue Schar. Ungeübt in regel—
mäßigem Kampfe, weit schwächer an Zahl und ungleich an Waf⸗
fen, vermochte diese nicht standzuhalten; aber sie floh nicht.
Mannhaft geschlossen, immerfort fechtend, zogen sich die Landes—
verteidiger Schritt um Schritt zurück, in ihrer Mitte Gauthier,
überall der erste, wo die Gefahr am höchfsten war, über ihren
Häuptern die Marienfahne. So zogen sie sich längs der Isar bis
an die Thalkirchner Fluren hin, aber nur um neuen Feinden
zu begegnen. Eine Abteilung Panduren war oberhalb über
den seichten Fluß gegangen und fiel ihnen jetzt in die Flanke;
so von allen Seiten umschwärmt und gedrängt, schwankte die
immer kleiner werdende Schar dem Höhenzuge von Send—
ling zu.
Die zweite Abteilung der Bauern, welche auf dem linken
Ufer der Isar gegen München vorgerückt war, hatte lange ver—
geblich vor dem Sendlingertor auf die verabredeten Zeichen
gewartet. Als diese ausblieben, vom Isartore aber das Schreien
und Schießen herüberhallte, unternahmen sie einen Angriff auf
das ebenfalls durch Graben und Zugbrücke gedeckte Tor. Eine
Abteilung des Wendtschen Korps, die bei Föhring über die Isar
gegangen war und die Stadt umflügelt hatte, faßte die Slür—
menden von der Seite und zwang sie nach hartnäckigem und
blutigem Gefechte zum Rückzuge. Der die Straße beherrschende
— — c —
zzeuze e ez ee eee 76. Prinz Eugenius. *
Sendlinger Kirchhof erschien vollkommen geeignet diesen zu
decken; er war rasch besetzt und die Straße durch einen Ver—
hau abgesperrt. Gauthier mit dem Reste seiner Schar kam
eben recht sich mit ihnen zu vereinigen. Es schlug eben sieben
Uhr auf dem Turme der Dorfkirche; aber es war fast noch
vollständig finster; denn die Winternacht weicht langsam und
spät von den Fluren der Hochebene.
Ein neuer, letzter Kampf begann, kurz und hoffnungslos;
denn die überlegene Zahl der Feinde hatte auch von der Lands—
berger Straße her die Anhöhe umgangen und umringte die
Bauern. Da der Verhau unhaltbar geworden, verblieb diesen
keine andere Schutzwehr als die Mauern des Kirchhofes. In
einem Winkel desselben stand bald der letzte Rest der Kämpfer
um Gauthier, darunter vierunddreißig Mann von den wackeren
Auer Zimmerleuten und ein letztes Häuflein derer aus Leng—
gries, Tölz und Jachenau; nur wenigen war es gelungen zu
entfliehen.
Es war kein Gefecht mehr, nur ein Gemetzel; auch die,
welche sich gegen Zusicherung des Lebens ergeben hatten, wurden
trotz der Zusicherung niedergehauen; bald stand kein Mann
mehr aufrecht im Kirchhofe von Sendling.
Endlich blitzte die Sonne des Weihnachtsmorgens empor
über dem leichenbesäten, blutgetränkten Schneegefilde; von der
Stadt tönte feierliches Glockengeläute und rief zu Gebet und
Gottesdienst in allen Kirchen; auf dem Kirchhofe hörte nie—
mand mehr den Ruf: sie ruhten aus; denn sie hatten wacker
geholfen sie mitzufeiern, die Mordweihnacht von Sendling.
Nach Hermann v. Schmid.
76. Prinz Bugenius.
1. Prinz Eugenius, der edle Ritter,
wollt dem Kaiser wiedrum kriegen
Stadt und Festung Belgarad.
Er lieb sehlagen einen Brucken,
dab man kunnt hinüberrueken
mit d'r Armee wohl für die Stadt.
2. Als der Brucken nun war geschlagen,
dab man kunnt mit Stueck und Wagen
frei passier'n den Donauflub:
bei Semmalin sehlug man das Lager
alle Türken zu verjagen
ihn'n zum Spott und zum Verdrub.
138
76. Prinz Eugenius.
3. Am einundzwanzigsten August soeben
kam ein Spion bei Sturm und Regen,
schwur's dem Prinzen und zeigt's ihm an,
daß die Turken futragieren
so viel, als man kunnt verspüren,
an die dreihunderttausend Mann.
4. Als Prinz Eugenius dies vernommen,
lieb er gleich zusammenkommen
sein' General und Feldmarschall.
Er tat sie recht instrugieren,
wie man sollt die Truppen führen
und den Feind recht greifen an.
5. Bei der Parole tät er befehlen,
dab man sollt die zwölfe zählen
bei der Ubr um NMitternacht,
da sollt all's zu Pferd aufsitzen
mit dem PFeinde zu scharmützen,
was zum Streit nur hätte RKraft.
6. Alles saß aueh gleich zu Plerde,
jeder griff nach seinem Schwerte,
ganz still rückt' man aus der Schanz
Die Musketier wie auch die Reiter
tãten alle tapfer streiten,
es war fürwahr ein schöner Tanz!
7. „Ihr Konstabler auf der Schanzen,
spielet auf zu diesem Tanzen
mit Kartaunen, grob und klein,
mit den groben, mit den Kleinen
auf die Türken, auf die Heiden,
dab sie laufen all davon!“
8. Prinz Eugenius wohl auf der Rechten
tãt als wie ein Lõwe fechten
als General und Feldmarschall.
Prinz Ludewig ritt auf und nieder:
„Halt' euch brav, ihr deutschen Brüder,
greift den Feind nur herzhaft an!“
uc
139
2ꝛ 2 77. Charakterzüge aus dem Leben Friedrichs des Großen. ꝛ *
9. Prinz Ludewig, der mubt aufgeben
seinen Geist und junges Leben,
ward getroffen von dem Blei.
Prinz Eugenius ward sehr betrũübet,
weil er ihn so sehr geliebet,
lieb ihn bringen nach Peterwardein.
Volbslied.
77. Charakterzüge aus dem Teben Friedrichs des Großen.
Gleich nach dem Abschlusse des Friedens zu Hubertusburg
begab sich der König nach Charlottenburg und ließ dort das
Tedeum anstimmen. Die Musiker und Sänger erwarteten den
ganzen Hof zu finden; zu ihrem Erstaunen aber erschien der
König allein, setzte sich und ließ die Musik ihren Anfang neh—
men. Als die Singstimmen einfielen, stützte er den Kopf auf
die Hand und verhüllte seine Augen um den Tränen des Dankes
freien Lauf zu lassen.
Seine erste Sorge war nun die Wunden zu heilen, die
der Krieg seinem Lande geschlagen hatte. Das Getreide, welches
er schon für den nächsten Feldzug hatte aufkaufen lassen, ver—
teilte er unter die verarmten Landleute und die Pferde, die
für das Geschütz und Gepäck bestimmt waren, schenkte er den
Dörfern, die durch den Krieg am meisten gelitten hatten. Das
schlechte Geld, das er in der Not hatte prägen lassen, zog er
allmählich ein und um die brotlosen Arbeiter der Hauptstadt
zu beschäftigen, begann er den Bau des neuen Palais am
Ende des Gartens von Sanssouci.“) Zugleich ließ er den Oder—
bruch entwässern, die unfruchtbaren Gegenden des Havellandes
in Acker und Wiesen umwandeln, die Niederungen der Warthe
urbar machen und die Havel mit der Elbe durch Kanäle ver—
binden. So wirkte er unermüdlich für die Wohlfahrt seines
Landes.
Eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften war die Herab—
lassung und Freundlichkeit, die er auch dem Geringsten seines
Volkes bewies. Als einst auf der Reise die Pferde gewechselt
wurden, drängte sich ein altes Mütterchen dicht an den Wagen.
„Was wollt Ihr?“ fragte sie der König. „Nur Ihr Angesicht
sehen und sonst nichts weiter,“ erwiderte die Alte. Der König
gab ihr einige Friedrichsdor und sagte: „Seht, liebe Frau, auf
diesen Dingern könnt Ihr mich ansehen, so oft Ihr wollt!“
V sprich: Sangsußie.
129
¶
ꝛ 2 77. Charakterzüge aus dem Leben Friedrichs des Großen. ꝛ
Friedrich hatte es sehr gern, wenn man ihm freimütig ant⸗
wortete, und war die Antwort nur treffend, so nahm er auch
ein dreistes Wort nicht übel. Einen Soldaten, dessen Gesicht
mehrere tiefe Narben hatte, die er bei Kolin geholt, fragte
er einst bei einer Musterung, in welcher Schenke er die Bier—
hiebe erhalten habe. „Bei Kolin,“ war die Antwort, „wo Eure
Majestät die Zeche bezahlt haben.“
Die Dreistigkeit durfte aber nicht in Unbescheidenheit
ausarten, zumal, wenn von ernsthaften Dingen die Rede
war. Ein junger Landrat hatte einst gemeldet, daß sich
in seinem Kreise ganze Scharen von Heuschrecken zeigten.
Das wollte der König nicht glauben und nun schickte der
Landrat zum Beweise eine große Schachtel mit lebendigen
Heuschrecken, die beim Offnen des Deckels lustig im Zimmer
des Königs umherflogen. Friedrich ließ den Vorfall un—
gestraft; der Domänenkammer aber schrieb er, man solle
nicht naseweise junge Leute zu Landräten machen, sondern lieber
gesetzte Männer und namentlich erfahrene Offiziere, die schon
wüßten, was sich schickte und wie sie ihrem Könige begegnen
müßten.
Alten, verdienstvollen Generalen hielt er schon was zu⸗
gute. Dem General Seydlitz, dem er vorzüglich den Sieg bei
Roßbach verdankte, sagte er einst bei einer Truppenschau: „Mein
lieber Seydlitz, ich dächte, sein Regiment ritt viel langsamer
als meine übrige Kavallerie.“ „Eure Majestät,“ erwiderte
Seydlitz, „das Regiment reitet heute noch so wie bei Roß⸗
bach.“ Der König vermied es seitdem Bemerkungen zu machen,
die den wackern General kränken konnten.
Geistesgegenwart und Mut besaß Friedrich wie wenige
Menschen. In der Schlacht bei Kolin führte er selbst mit
dem Degen in der Hand eine Kompanie gegen eine feindliche
Batterie. Die Leute flohen, als sie in den Bereich der feind⸗
lichen Kugeln kamen; Friedrich aber achtete nicht darauf und
ritt immer weiter, bis einer von seinen Adjutanten ihm zu—
rief: „Sire! Wollen Sie denn die Batterie allein erobern?“
Jetzt erst erkannte Friedrich seine mißliche Lage, hielt sein Pferd
an, betrachtete die Batterie durch ein Fernglas und ritt lang⸗
sam zu den Seinigen zurück.
Nach der Schlacht bei Leuthen ritt er mit wenigen Be—
gleitern nach Lissa und trat in das dortige Schloß ein, das
aber noch voll österreichischer Offiziere war. Diese kamen ihm
mit brennenden Lichtern entgegen, als er eben die Treppe hinauf⸗
141
z2 77. Charakterzüge aus dem Leben Friedrichs des Großen. ꝛꝛ e
stieg, und hätten ihn unmittelbar nach seinem schönsten Siege
gefaängennehmen können. Er aber redete sie unbefangen mit
den Vorten an: „Guten Abend, meine Herren! Sie haben
mich hier wohl nicht vermutet?“ Und dabei ging er furchtlos
durch die feindlichen Offiziere hindurch, die nichts als ein ehr—
furchtsvolles „Ah!“ erwiderten. Bald darauf erschien eine
Schwadron preußischer Husaren, welche die sämtlichen Oster⸗
reicher zu Gefangenen machte.
Einst kam Friedrich bei einem Ritte, den er unternahm
um die Gegend zu erforschen, einem feindlichen Vorposten zu
nahe. Ein Pandur legte auf ihn an; der König aber hebt
den Stock mit einem drohenden: „Du, du!“ in die Höhe und
bringt den Ungarn dermaßen in Verwirrung, daß dieser sein
Gewehr an den Fuß setzt und den König ruhig davonreiten läßt.
Dieselbe Unerschrockenheit, die Friedrich in allen Gefahren
bewies, verlangte er auch von seinen Offizieren. Einem seiner
Pagen wurde bei der Belagerung von Schweidnitz das
Pferd unter dem Leibe erschossen und er selbst erhielt eine
bedeutende Quetschung. Mit schmerzlichen Gebärden eilte er
davon; aber der König rief ihm zu: „Wo will Er hin, will
Er wohl den Sattel mitnehmen?“ Der Page mußte umkehren
und den Sattel abschnallen und durfte sich an die Kugeln nicht
kehren, die ihn und den König umsausten.
Die Beschwerden des Alters ertrug Friedrich mit großer
Geduld ohne etwas in seiner Lebensordnung zu ändern oder
in seiner Tätigkeit nachzulassen. Er war so arbeitsam, daß
er fich einmal den Schlaf ganz und gar abgewöhnen wollte
um noch mehr schaffen zu können. Noch ein Jahr vor seinem
Tode hielt der Greis beim stärksten Regen zu Breslau die
Musterung über seine Truppen ab und bis an sein Ende be—
sorgte er die Regierungsgeschäfte selbst. Als er endlich die An—
näherung des Todes fühlte, sah er ihm mit der Ruhe eines
Weisen entgegen; er verschied am Morgen des 17. August 1786.
Sein Tod, obwohl längst vorausgesehen, wirkte doch wie ein
erschütternder Schlag durch ganz Europa; denn Friedrich war
der Held seines Jahrhunderts, von den Königen geehrt und
geachtet, vom Volke verehrt und geliebt, von seinen Soldaten
angebetet. Sie nannten ihn bloß „den alten Fritz“; aber die
Geschichte nennt ihn Friedrich „den Großen“
August Wilhelm Grube.
14
2
2
78. Kurfürst Max' 1III. Herzensgüte.
78. Kurfürst Maa' III. Herzensgüte.
Im Frühjahre 1770 war über Bayern eine große Teue—
rung hereingebrochen. Sie war teils durch Mißwachs teils
durch gewissenlose Händler hervorgerufen worden, die um hohen
Preis das Getreide im Ausland verkauften. Wohl hörte der
Qurfürst von harten Zeiten; er sah, wie das Volk haufenweise
sich vor den Bäckerläden sammelte; aber seine Hofleute suchten
ihm die Größe der Not zu verbergen. Als jedoch der Fürst
eines Morgens aus der Messe zur Residenz fuhr, wurde sein
Wagen von einer bleichen, abgezehrten Menge umringt. Mit auf—
gehobenen Händen schrien die Leute: „Hilfe, gnädigster Herr,
Hilfe! Wir haben kein Brot, wir müssen Hungers sterben!“
Wie betäubt blickte Max auf das entsetzliche Schauspiel. „Be—
ruhigt euch, meine Kinder!“ rief er endlich; „ihr sollt Brot
haben; ich will für euch sorgen.“ Er gab ihnen Geld und befahl
sogleich die Getreideböden der ÄAmter zu öffnen. Alles war leer.
„Dem Volk muß geholfen werden,“ sprach er in schmerzlicher
Bewegung; „sein Elend muß enden! Mit Freuden gebe ich all
das Meinige hin; ich kann den furchtbaren Jammer nicht sehen.“
Sogleich ließ er für große Summen Getreide aus fremden
Ländern kommen und auf allen Schrannen des Landes um
niedere Preise verkaufen. Eine Menge Wild wurde auf Befehl
des Kurfürsten in seinen Parken geschossen und das Fleisch
unter die Armen verteilt. So linderte der edle Fürst mit eigenen
großen Opfern die Not seines Volkes und erwarb sich damit
das herrlichste Denkmal, das ein Fürst erhalten kann, die Liebe
seiner Untertanen.
Karl v. Spruner.
79. Bayerland.
1. Gott mit dir, du Bayerland,
und mit deinen Gauen,
die der Treue starke Hand
hält umfabt mit ihrem Band,
mit dem weib und blauen!
2. Ragend stehn voll Herrlichkeit
deines Ruhmes Zeichen;
deine Erde ist geweiht,
wo der Reben Blut gedeiht,
wo das Mark der Eichen.
145
—
zd 2 22 2 522 759. Bayerland. 22 22 2 2 2 222 *
3. Von der Alpen sechnee'gem Zug
bis zum Hort im Westen
blüh'n der Städte dir genug
und Erinn'rung weilt im Flug
über grauen Festen.
4. Uberall zur Seele spricht
eine traute Kunde,
sinnreich tönt sie, voll Gewicht
und doch wie die Herzen schlicht
fort von Mund zu Munde.
5. Doch am höchsten steigt die Glut,
die dein Stolz entfaltet,
wo seit alters hochgemut
unser edles Schyrenblut
schirmend hat gewaltet.
6. Gott mit dir, du Bayerland,
und mit deinen Gauen,
die der Treue starke Hand
hält umfabt mit ihrem Band,
mit dem weib und blauen!
Martin Greif.
144
V. Aus dem Nalurleben.
80. Frühlingsglaube.
Die linden Lüfte sind erwacht,
sie sauseln und weben Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun armes Herze, sei nicht bang;
nun mub sich alles, alles wenden!
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weib nicht, was noch werden mag;
das Blũhen will nicht enden.
Es blũht das fernste, tiefste Tal.
Nun, armes Herz, vergiß der Qual;
nun mub sich alles, alles wenden!
Ludwig Uhland.
Auasburger Lesebuch, VI. Kl.
145
10
z 81. Rätsel. — 82. Wanderlust. — 83. Der Löwenzahn. 5
81. Rãtsel.
Drauben auf dem Rain
steht einer in Regen und Sonnenschein;
mit Wind und Wetter spricht er,
wer ihm was tut, den sticht er.
Im Mai setzt er mit Fleibe
sich Röslein auf, schneeweibe.
Im Sommer geht er dunkelgrün;
im Herbste, wenn die Schwalben ziehn
und wenn die Blätter fallen,
trägt er ein Krönlein von Korallen.
Auch hat er viele Gäste,
die sagen von ihm das beste,
essen bei ihm manch gut Gericht,
zirpen und singen, gher zahlen nicht.
Jsohannes Trojan.
82. Wanderlust.
Der Mai ist gekommen,
die Baume schlagen aus,
da bleibe, wer Lust hat,
mit Sorgen zu Haus;
wie die Wolken dort wandern
am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn
in die weite, weite Welt.
Frisch auf drum, frisch auf drum
im hellen Sonnenstrahl,
wohl über die Berge,
wohl durch das tiefe Tall
Die Quellen erklingen,
die Baume rauschen all,
mein Herz ist wie 'ne Lerche
und stimmet ein mit Schall.
O Wandern, o Wandern,
du freie Burschenlust!
Da weht Gottes Odem
so friseh in die Brust;
da singet und jauchzet
das Herz zum Himmelszelt:
wie bist du doch so schön,
o du weite, weite Welt!
Emanuel Geibel.
83. Der Löwenzahn.
Alle Kinder pflücken gern auf dem grünen Anger die weißen,
wolligen Köpfchen des Löwenzahns ab, die auf glatten, runden
Stielen aus grünen Blättern hervorschauen. Sie blasen die
Laterne aus, wie sie es nennen, und werfen die kahlen Stümpfe
weg oder machen sich Ketten aus den hohlen Blütenstielen. Die
116 —
1 4
83. Der Löwenzahn.
vielen Samenkörnchen aber fliegen nach allen Seiten hin. Jedes
hat ein feines Stielchen und oben einen zarten, weißen Zeder—
kranz. So ziehen sie weithin durch die Luft. Die Blüte war
ihr Vaterhaus. Jetzt geht die Reise fort durch alle Welt. Die
einen lassen sich auf der Wiese, die andern am Wege nieder.
Jene ziehen sogar über den breiten Fluß, steigen heimlich über
den Zaun und schlüpfen in den verschlossenen Garten. Noch
andere bleiben auf der Mauer sitzen oder siedeln sich auf den
Straßen und Plätzen des Dorfes oder des Städtchens an.
Was tut das Samenkörnlein, wenn seine Reise zu Ende
ist? Das braune Körnchen ist mit zarten Widerhaken besetzt;
mit denen haftet's in der Erde. Bald wächst unten am Boden
ein Kranz von grünen Blättern, die wie die Strahlen eines
Sternes rund im Kreise herum stehen. Jedes dieser Blätter
ist lang und schmal, an beiden Seiten eingeschnitten und mit
großen Zähnen versehen. Davon hat das Pflänzchen auch den
Namen Löwenzahn erhalten; nur sind die Zähne weich und
unschädlich. Zur goldenen Blüte führt ein runder, glatter Stiel
hinauf. Nur schade, daß der weiße Saft, der beim Abbrechen
herauströpfelt, klebrig ist und Flecken in den Kleidern ver—
ursacht! Die Blume des Löwenzahns ist wohl aus mehr
als hundert kleinen Blüten zusammengesetzt. Sie ist eine
wahre Blütenstadt. Eine doppelte, grüne Mauer umgibt sie,
nämlich der innere, anliegende Kelch und zahlreiche zurück—
geschlagene Blättchen, die den äußeren Kelch bilden. Der weiße
Blütenboden ist das Straßenpflaster; es ist wie aus feinem
Porzellan. Die einzelnen Blüten sind die Häuser; sie sehen
aus, als wären sie aus purem Golde gefertigt. Käferlein und
Bienen vergnügen sich in dieser goldenen, honigreichen Stadt.
Aber nur bei schönem Wetter sind die Tore derselben geöffnet;
bei Regen und in der Nacht werden sie sorgsam verschlossen.
Dann findet wohl zuweilen eine kleine Fliege ihr sicheres Nacht—
quartier darin und verläßt die gastfreundliche Stadt erst am
Morgen nach süßem Schmause.
In solcher Blüte wachsen zahlreiche kleine Samenkörnchen
gerade wie das erste, aus dem die ganze Blume geworden ist.
Jedes streckt einen feinen Stiel nach oben; auf diesem steht
eine Federkrone, ein Schmuck und zugleich ein Flügel. Die
gelben Blüten fallen ab und wieder steht ein Wollkopf da,
von dem viele Samenkörner zu neuen Pflänzchen auf Reisen
gehen. Der Landmann sieht den Löwenzahn gern; denn er
ist für sein Vieh ein treffliches Futter. Er nennt ihn deshalb
— 147 —
10*
zu e 84. Das stille Tal. — 85. Von den Blumen. ꝛ:ꝛ ꝛ 2
auch wohl Kuhblume. Tausende von solchen Pflanzen gelangen
in den Leib der Kühe und die bittere Milch in den Blättern
und Stengeln wird hier zu fetter, süßer Milch. Sie gibt schöne
Butter und guten Käse. Hermann Wagner.
84. Das stille Tal.
Im schönsten Wiesengrunde
ist meiner Heimat Haus;
da zog ieh manche Stunde
ins Tal hinaus.
Dich, mein stilles Tal,
grüß' ich tausendmal!
Muß aus dem Tal jetet
scheiden,
wo alles Lust und Klang,
das ist mein herbstes Leiden,
mein letzter Gang.
Dich, mein stilles Tal,
grüß' ich tausendmal!
Sterb' ich, in Tales Grunde
will ich begraben sein;
singt mir zur letzten Stunde
beim Abendschein:
„Dir, o stilles Tal,
Grub zum letztenmall
Ganzhorn.
85. Von den Blumen.
Auf einer Wanderung in der Hohen Rhön kam ich einmal
durch ein kleines Dorf. Welchen Namen es führte, das weiß
ich heute nicht mehr. Es war ein Wort, das nach Not klang.
Der Name paßte für den Ort; denn Armut und Hunger waren
hier nicht fremd. Das merkte man den schmucklosen Hütten
aͤn; das sah man an den Menschen, die dazwischen hin und
wiederliefen, an den hageren, gebückten Männern, den ver—
kümmerten Frauen und sogar an den Kindern, die barfuß oder
in Holzschuhen in einer schmutzigen Gosse spielten. Es gefiel
mir nicht in dem armseligen Rhöndörflein und ich machte die
Schritte länger, um möglichst bald wieder hinauszukommen.
Nur noch wenige Häuser — und Wiese und Wald, Gottes
freie Natur, sollten mich wiederum aufnehmen. Da blieb ich
plötzlich stehen. Ich hielt an mit einem freudigen „Ah“ der
Bewunderung; denn das Häuslein, vor dem ich stand, war so
entzückend schön, daß ich nicht daran vorübergehen konnte, ohne
mich aus vollem Herzen zu freuen. Es war ein Haus, nicht
größer als die anderen auch. In gleicher Weise gebaut: ein—
stöckig, mit schindelbelegter Giebelwand, mit spitzwinkeligem
Dach — mehr Hütte als Haus. Die Zimmerleute, die seine
— 148 —
ꝛꝛ3 r e ee ee 85. Von den Blumen. z ——
Balken gefügt, die Maurer, die sein Fachwerk gefüllt hatten,
waren wohl dieselben, welche auch die übrigen Häuser gebaut
hatten. Und doch stand das kleine Häuslein wie eine geschmückte
Märchenprinzessin inmitten grauer Aschenbrödelschwestern.
Blumen waren sein Schmuck; bunte Bauernblumen: Gera—
nien, Pelargonien, Fuchsien, Astern, Nelken und wie sie alle
heißen mochten, die da in überreicher Pracht und Fülle die
grünen Blumenbretter vor den niederen Fenstern füllten oder
in dem kleinen Hausgärtchen zwischen hochragenden Königs—
kerzen und Sonnenblumen sich aneinanderreihten.
Es war ein kleines Paradies und man hatte unwillkürlich
das Gefühl: Hier ist gut wohnen. Man brauchte nicht erst
hineinzuschauen in die niedere Stube; man glaubte es ohne—
hin zu wissen, daß hinter solcher Blumenpracht auch alles Haus—
gerät blank gescheuert und geputzt sein müsse, daß hier Speis
und Trank appetitlich zubereitet würden, daß nur gute, liebe
Menschen hier wohnen können.
Das kalte graue Gemäuer wird warm und licht, wenn
Blumen es umranken; die ärmlichste Hütte lädt zum Bleiben,
wenn ein Blumengärtlein vor ihrer Tür sich ausbreitet.
Blumen sind wie lebendige Gedichte, einerlei, ob sie als Kranz
sich um ein lockiges Mädchenhaupt schlingen oder an der Mütze
oder im Knopfloch des Wanderburfchen stecken. Blumen er—
zählen von Lebenslust und Lebensfreude, von Licht und Sonne,
von Duft und Farbe. Blumen sind selbst Leben — Freudenspender.
Es ist etwas gar Eigenes um die Blumenpflege. Zum Wun⸗—
der wird ja alles Leben, wenn man es in seiner Entstehung, in
seinem stillen Wachsen, Blühen und Werden ungestört beob—
achten kann. Man gewinnt sie ordentlich lieb, die kleinen Pflan—
zenkinder, wenn man sie täglich vor sich sieht, wenn man an
jedem neuen Morgen gewahren kann, wie sie sich über Nacht
reckten und streckten, wie sie gedeihen, wie sie sich drehen und
wenden, um dem Lichte nahe zu kommen.
So ein kleines Pflänzlein hat oft mehr Verstand und Ge—
schick als mancher glaubt. Mit seinen winzigen Würzelchen weiß
es die besten Erdbröselchen zu finden. Mit seinen Blättchen
fängt es den kühlen Tau wie mit einer hohlen Hand. Seine
Blütenköpfchen wachen und träumen und erobern sich ihren
Platz an der Sonne. Sonnenkinder sind die kleinen Blumen;
darum wird es auch uns warm und sonnig zu Mute, wenn wir
uns ihrer annehmen. Unsere Pflegekinder brauchen Sonne, um
uns mit Sonnenfreude beschenken zu können.
— 149 —
zu z er ee e 86. Die Ameisen als Straßenräuber. ꝛ *
Wer das erfahren will, der muß ihnen nahe sein, den
kleinen Blumenkindern, der muß ihnen Vater und Mutter wer—
den. Nur wer sich ihrer recht von Herzen annimmt, dem er—
zählen sie ihre stillen Geheimnisse; denn so ein kleines Blumen—
leben ist reicher als mancher ahnt. Es gibt kluge, gelehrte
Männer, die ein ganzes Leben lang nicht müde werden, diesen
Geheimnissen nachzufragen. Sie hat auch ihre Freuden und
Leiden, ihre Stürme und ihre Festtage, die stille Blume; aber
nur wer ihnen täglich nahe ist, der sieht und hört am Ende
die Gräslein wachsen,
Blumen können zwar auch Sorgen und Arbeit machen;
aber es sind liebe Sorgen und es ist lohnende Arbeit, die Mühe
um einen reichen Blumenflor. Am Ende liebt und schätzt man
ja doch nur das in rechter Weise ein, was uns Arbeit und Sorge
bereitet hat, ehe es zur Vollendung gedieh. Eine Blume, die
man selbst aufgezogen hat, ist hundertmal mehr wert als eine
gekaufte oder als eine geschenkte; denn man hat Teil an ihrer
Schönheit. Ohne uns wäre sie nicht so hold geworden. Sie ist
nun nicht nur ein Stück Natur, sie ist mehr: Sie ist auch ein
Stück Menschenarbeit und Menschensorge. Sie ist ein Teil von
uns geworden durch unsere Liebe.
Nach Dr. Ernst Weber-München.
86 Die Ameisen als Straßenräuber.
Was nur der Auflauf bedeutete! Der ganze Platz war voll
von Hinzueilenden und Davonspringenden. Sie drängten und
wogten hin und her, sie stießen in der Hast aneinander; die
nicht schnell weiter konnten, wurden niedergedrückt, ja, hier und
da lief sogar eins über den Leib des andern hinweg. Ich ragte
wie ein Ungeheuer über der erregten Menge und zwar so hoch,
daß die kleinen Augen selbst mittels eines Ferngläschens kaum
imstande gewesen sein würden mein Haupt zu erblicken. So
bückte ich mich um zu sehen, was denn dieser Auftritt der
Ameisen auf dem sandigen Waldweg bedeute, und sah es bald.
Es war der Kampf der Ameisen mit einer Kieferraupe. Diese
mochte träge ihres Weges gekrochen sein. Da waren die Straßen—
räuber hervorgebrochen aus dem Laubgehölze des Heidelbeer—
krautes und hatten die Wallerin überfallen. Den ersten Anfall
hatte sie mit geschickten Wendungen und scharfen Bissen ab⸗
gewehrt, ihre braune Behaarung steifte sie zu einem Panzer—
hemde und eine und die andere der Angreisfenden trat sie sogar
15
MV
* 5 86. Die Ameisen als Straßenräuber. ꝛꝛ e e ee
mit ihren Pfoten zu Grunde. Aber immer mehr der Ameisen
sprangen herbei und packten die Raupe von hinten und vorn.
Sie richtete sich in der Mitte zu einem Bogen auf, da liefen
einige unter den Bauch, andere stiegen rasch auf den empor—
strebenden Rücken und drückten ihn nieder und sie setzten ihre
Zähne ins Fleisch des hilflosen Tieres. Der Hinterleib der
Raupe war bereits ganz umklammert, da bäumte sie sich noch
mit dem Vorderkörper zur Höhe wie ein unstetes Pferd und
schlug mit dem Haupte wild um sich. Alsogleich schossen ein
paar Ameisen unter ihre Brust und versetzten ihr mit den
Zangen wütende Bisse, wobei die Raupe noch einmal mit dem
ganzen Körper emporschnellte und ihre Angreifer über den
Haufen warf. Nun griffen diese noch hitziger an, ihrer zwanzig
rangen mit dem „Wurme“, bissen und schlugen ihn und spritzten
unter den verzweifeltsten Zuckungen des Tieres ihr heißes Gift
in die Wunden.
Ich hatte Mitleid mit der armen Raupe, die von aller
Welt verlassen gegen eine Unzahl von Feinden sich mit un—
erhörter Tapferkeit ihres Lebens wehrte. Rasch riß ich einen
steifen Rispenhalm ab und versuchte mit demselben die kleinen
Würger von der in Todesangst sich windenden Raupe wegzu—
schieben und wegzustechen. Nun wollten die erbitterten Ameisen
aber auch mit mir den Kampf beginnen; hastig kletterten sie
den Halm empor bis zu meinen Fingern, die bald das Prickeln
ihres scharfen Saftes zu spüren bekamen. Die anderen aber
klammerten sich so fest an das unterliegende Tier, daß ich den
schwachen Halm gegen einen dürren Baumzweig vertauschen
mußte um die Raupe mit Gewalt von den Räubern zu befreien.
Es war jedoch zu spät. Als die Ameisen fortgescheucht waren,
brach die Raupe zusammen und regte sich nicht mehr. Helle
Tröpfchen standen auf ihrem braunen, stellenweise stahlblau
schillernden Körper. Es tat mir leid um das Tier, das in
einem rechtlosen Streite, nur weil es der Schwächere war,
sein Leben lassen mußte, und mir kam zu Sinne die strafende
Vergeltung zu spielen und die hin und wieder schwärmenden
Ameisen, ja ihr ganzes, nur wenige Schritte entferntes Raub—
nest mit einigen Fußtritten zu zerstören. Ich tat es nicht und
ließ die Ameisen gewähren.
Die Menge hatte sich verlaufen. Die wenigen Zurückblei—
benden befaßten sich mit dem Fortschaffen der erleglen Beute.
Aber sie vermochten den Körper, der eine Ameise wohl dreißig—
mal überwog, nicht von der Stelle zu bringen. Da lief eine
— 61——
zn ae e e e e 87. Im Ahrenfeld. 22 2 12 2
davon und brachte bald Gefährten zur Hilfeleistung. Nun faßten
sie die tote Raupe an beiden Seiten an, einige krochen unter
den Körper, als wollten sie diesen heben und tragen, und bald
bewegte sich die Last weiter. Es ging rasch über den glatten
Boden hin. So ohne jegliches Hindernis aber sollte die Untat
doch nicht abgehen. Ich legte ein flaches Steinchen auf die
Raupe. Für den ersten Augenblick allerdings einige Verwirrung
und Verlegenheit bei den Ameisen. Bald hatten sie sich jedoch
unversehrt unter der Last hervorgearbeitet. Nun umkreisten sie
den Stein, stiegen auch darüber hin, prüften die Last und schienen
dann Rat zu halten, wie ihre Beute unter dem Steine heraus—
zukriegen wäre. Der Versuch den Stein wegzuwälzen, erwies
sich als vergeblich. Das etwa ein Achtelpfund schwere Stückchen
regte sich trotz aller Anstrengung der Ameisen nicht von der
Stelle. Was taten sie nun? Sie fingen an den Boden zu unter—
höhlen, gruben einen Kanal unter dem Stein, höhlten dann
die Raupe und unter derselben das Erdreich aus, was ich für
den Augenblick zwar nicht beobachten konnte, jedoch später sah,
und nach einer Viertelstunde zogen sie den Leichnam unter dem
Steine hervor.
Diese Tat erfüllte mich mit Hochachtung und ich legte den
kleinen Wesen nichts mehr in den Weg; ungesäumt schleppten
sie die Raupe dem Ameisenhaufen zu, wo sie dieselbe in eine
der Vorratskammern gebracht haben mögen. In wenigen
Wochen, so dachte ich, werden Kiefernspinner aus dem Ge—
schlechte der getöteten Raupe den Ameisenhaufen umgaukeln
und in ihrem Fluge höhnend niederblicken auf die krabbeln—
den Wesen. So geht das Spiel im Kreise der Natur.
Nach Peter Rosegger.
87. Im LIhrenfeld.
Seht, wie überall
reif die Ahre schwellt!
Welche goldne Pracht
in dem weiten Feld!
Hundertfach erfüllt sich
eines Kornes Saat;
tausendfach vergilt sich
eine gute Tatl
Robert Reiniek.
152
88. Rätsel. — 89. Silberfleck.
88. Rãtsel.
Von Perlen baut sich eine Brücke
hoch über einen grauen See;
sie baut sich auf im Augenblicke,
und schwindelnd steigt sie in die Höhb',
Der höchsten Schiffe höchste Masten
ziehn unter ihrem Bogen hin;
sie selber trug noch keine Lasten
und scheint, wie du ihr nahbst, zu fliehn.
Sie wird erst mit dem Strom — und schwindet,
sowie des Wassers Flut versiegt.
So sprich, wo sich die Brũücke findet
und wer sie künstlich hat gefügt!
Friedrich v. Schiller.
89. Silberssec.
Silberfleck war ein alter, weiser Krähenvater; er trug
seinen Beinamen wegen eines silberweißen Fleckes von der Größe
eines Groschens, der auf der rechten Seite gerade zwischen
Auge und Schnabel saß. Nur diesem Flecke verdanke ich es,
daß ich ihn aus den übrigen Krähen mit Leichtigkeit heraus—
finden konnte und mir seine Lebensschicksale bekannt wurden.
Krähen sind, wie bekannt, sehr kluge Vögel; sie wissen den
Wert einer geordneten Verbindung zu schätzen und sind ebenso
gedrillt wie Soldaten, sie sind immer auf der Wache, leben immer
auf Kriegsfuß. Ihre Führer sind gewöhnlich nicht nur die älte—
sten und klügsten der Bande sondern auch die stärksten und tap—
fersten; denn sie müssen jederzeit bereit und fähig sein mit un—
widerstehlicher Gewalt einen Aufruhr oder eine Meuterei nie—
derzudrücken. Die gemeinen Soldaten eines Krähenheeres setzen
sich aus den jüngsten und aus denjenigen zusammen, die mit
keinen besonders hervorragenden Gaben von der Natur be—
schenkt sind.
Der alte Silberfleck war kommandierender General einer
Armee, deren Hauptquartier auf einem fichtenbewachsenen Hügel
lag. Die Bande zählte ungefähr hundert Krähen. Silberfleck
war eine Krähe von Welterfahrung; sein Leben war an Er—
folgen reich und er lebte in einer Gegend, die, obwohl voll von
Gefahren, Nahrungsmittel in Fülle bot. Jedes Jahr wuchs in
seinem alten, verwitterten Nest eine junge, kräftige Brut heran
und dort verlebte er glückliche Zeiten mit seiner Gattin, die ich
15
3
z ee ee 835. Silberfleck. eeeee eee
leider von den anderen Krähen nicht zu unterscheiden vermochte.
Und wenn dann die Krähen sich wieder versammelten, wurde
er stets einstimmig zum unbeschränkten Führer und Herrscher
erwählt.
Die große Versammlung findet ungefähr Ende Juni statt;
die jungen Krähen mit ihren kurzen Schwingen, ihren flau⸗
migen Flügeln und ihren hohen Stimmen werden dann mit
Stolz von den Eltern herbeigebracht, denen sie fast an Größe
gleichen, und werden im alten Fichtenholz, ihrer Festung
und Bildungsstätte, der Gesellschaft vorgestellt. Hier fin—
den sie luftige, sichere Schlupfwinkel ohne Zahl, hier heginnt
ihre Erziehung und alle die wichtigen Geheimnisse und Regeln
des Kraͤhenlebens werden ihnen hier beigebracht. Und diese
sind von größter Wichtigkeit; denn ein einziger Mißerfolg im
Krähenleben bedeutet — Tod.
Die ersten zwei Wochen nach der Ankunft werden die
Jungen sich selbst überlassen um miteinander bekannt zu wer—
den; denn jede Krähe muß alle anderen, die zum Heere gehören,
persönlich kennen.
In einer Woche oder zwei beginnt dann die Zeit der
Mauserung. Die Alten sind während dieser Periode meistens
recht unberechenbar und launisch; aber dies hält sie nicht ab
die Erziehung der Jungen zu beginnen. Diese sind natürlich
nicht besonders entzüůckt von den Strafpredigten und Maßrege—
lungen, die sie über sich ergehen lassen müssen. Aber es geschieht
alles nur zu ihrem Besten und Meister Silberfleck ist ein aus—
gezeichneter Lehrmeister. Zuweilen scheint er einen ausführ—
lichen Vortrag an sie zu richten; was er sagt, kann ich leider
nicht verstehen; aber von dem durchschlagenden Erfolg und dem
Eindruck, den er auf seine Zuhörer macht, zu schließen, muß
es äußerst witzig sein. Jeden Morgen ist Kompanie-Exerzieren
und die Jungen üben in zwei oder drei Abteilungen, nach Alter
und Stärke geordnet. Den Rest des Tages tummeln sie sich
mit den Eltern auf der Futtersuche herum.
Wenn später der September anbricht, geht eine große
Veränderung mit ihnen vor. Der Schwarm der kleinen Krähen
fängt an verständig zu werden und das zarte Blau ihrer Kinder—
augen macht dem Dunkelbraun des Auges einer alten, gewiegten
Krähe Platz. Sie sind jetzt tadellos einexerziert und können
Vorpostendienste tun; sie wissen, was ein Gewehr ist, und haben
einen erfolgreichen Lehrgang in der Insekten- und Pflanzenkunde
hinter sich. Sie wissen ganz genau, daß eine dicke alte Bauern—
—
54
1
** e e et ee 39. Silberfleck. 22 222 e e e 22
frau, wenn auch massiger und größer, bei weitem harmloser
ist als ihr fünfzehn Jahre alter Tunichtgut von Sohn und
sie können einen Knaben von einem Mädchen unterscheiden.
Auch ist ihnen bekannt, daß ein Regenschirm keine Feuerwaffe
ist, und sie können schon bis sechs zählen, gewiß nicht übel für
junge Krähen, obwohl Silberfleck die Zahlen bis fast dreißig
meistert. Sie kennen den Geruch von Schießpulver und die
Tollkirsche und fangen bereits an sich auf ihre Weltweisheit
etwas zugute zu tun. Auch legen sie ihre Flügel stets dreimal
zusammen nach dem Niedersitzen um sicher zu sein, daß es
sorgfältig geschehen ist. Sie wissen, wie man einen Fuchs äng—
stigt, damit er die Hälfte seiner Beute aufgibt, und daß es
das beste ist sich in den nächsten Busch zu stürzen, wenn eine
Schar von Königsvögeln oder anderen lärmenden Sängern des
Waldes sie angreift. In allen diesen Dingen sind die jungen
Krähen schon bewandert; nur fehlt ihnen noch die Unterweisung
im Eiersammeln; denn dafür ist jetzt nicht die Jahreszeit. Auch
sind sie noch nicht bekannt mit Muscheln und haben weder
Pferdeaugen gegessen noch das Getreide wachsen sehen.
Auch mit den alten Krähen ist im September eine wich—
tige Veränderung vorgegangen; sie haben sich gemausert.
Doch jetzt prangen sie wieder in voller Federpracht und sind
stolz auf ihre neuen kleidsamen Röcke. Ihre Gesundheit ist
vorzüglich und damit auch ihre Laune gebessert. Selbst Ali—
Silberfleck, der eiserne Lehrmeister, wird beinahe lustig und
seine Schüler, die ihn schon seit langem achten, fangen an
ihn wirklich zu lieben und zu verehren.
All die langen Wochen hat er sie in harter Schule ge—
habt, sie alle gebräuchlichen Signale und Kommandoworte ge—
lehrt und jetzt ist es geradezu eine Lust sie am frühen Morgen
bei ihren Übungen zu beobachten. „Erste Kompanie!“ ruft der
alte General auf Krähisch und die Kompanie antwortet mit
lautem Geschrei. „Fliegt!“ und mit dem Führer an der Spitze
fliegen sie in gerader Linie davon. „Steigt!“ und im Augen—
blick wenden sie sich kerzengerade aufwärts „Zusammen!“ und
alle bilden eine undurchdringliche, schwarze Masse. „Schwärmt!“
und sie zerstreuen sich wie welke Blätter vor dem Wind „Lang!“
und sie dehnen sich wieder aus zur langen Linie ihrer gewöhn—
lichen Flugordnung. „Abwärts!“ und alle lassen sich herab fast
bis zum Erdboden. „Futter suchen!“ und sie verteilen sich zum
Futtersuchen, während zwei Sicherheitsposten, der eine auf einem
Baum zur Rechten, der andere auf einer Vogelscheuche zur
— 165 —
*
90. Das Ende eines Sommerstaates.
äußersten Linken, ausgestellt bleiben. Ein oder zwei Minuten
später ruft Silberfleck: „Ein Mann mit einem Gewehr!“ Die
Wachtposten wiederholen den Ruf und die ganze Kompanie
fliegt so schnell wie möglich nach den Bäumen. Einmal dort
in Sicherheit, formieren sie sich in Flugordnung und kehren
zu den heimatlichen Fichten zurück. Der Vorpostendienst wird
nicht der Reihe nach von allen Krähen bezogen, sondern eine
gewisse Anzahl, deren Wachsamkeit oft erprobt ist, bildet regel—
mäßig die Sicherheitsposten und man sieht es als selbstver—
ständlich an, daß sie zu gleicher Zeit wachen und Futter suchen.
Ernst Seton Thompson.
90. Das Ende eines Sommerstaates.
Im ersten Lenze war es gewesen. Wärmend brachen die
Strahlen der Aprilsonne zwischen den fliehenden Wolken her—
vor und in dem alten Birnbaum regte sich kräftiger das er—
wachende Leben. Und auch unten am Fuße seines morschen
Stammes, wo Vede, Moos und Flechten eine Höhlung ver—
deckten, wurde es lebendig.
Ein Wespenweibchen, das dort den Winter verschlafen hatte,
kroch hervor, setzte sich auf ein sonniges Fleckchen und putzte
sich fleißig, damit es schmuck und sauber aussah. Ein Heim
zu gründen, war seine erste Aufgabe. Frau Wespe flog hin
und her und entdeckte in der Nähe des Baumes ein verlassenes
Mäuseloch. Das genügte für den Anfang.
Aus morschen Holzfasern machte sie durch fleißiges Kauen
eine echte Holzpapiermasse und baute daraus ein kleines Nest,
eine Papiertüte, die an Wurzeln im Erdreich hing und im
Innern eine Wabe mit sechseckigen Zellen barg. In jede der
Zellen legte sie ein Ei. Es gab bald Larven, die sie fütterte,
und nach einem Monat flog das erste Dutzend junger Wespen
aus dem Neste. Es waren Arbeiterinnen, die der Mutter den
größten Teil der Sorgen abnahmen, so daß sie nun daheim—
bleiben und in die neu entstehenden Waben fleißig Eier legen
konnte. Größer und stattlicher wurde der Bau unter der Erde,
die Zahl seiner Bewohner stieg auf Hunderte und Tausende.
Im Hochsommer gesellte sich zu den Arbeiterinnen ein Schwarm
von Weibchen und Männchen, die sich pflegen und füttern ließen.
Der kleine Staat befand sich damals auf der Höhe seiner
Entwicklung, er zählte vielleicht zehntausend, vielleicht aber auch
dreißigtausend Einwohner.
156
90. Das Ende eines Sommerstaates.
In dem Papierballon unter der Erde herrschte in allen
übereinander errichteten Stockwerken oder Waben die peinlichste
Sauberkeit. Auch für die Gesundheit des Stammes sorgte man.
Kein Schwacher und Kranker wurde darin geduldet; erbar—⸗
mungslos wurde er getötet und in die breite Erdhöhle unter
dem Neste geworfen.
Dort befand sich der Friedhof. Verschiedene Fliegen be—
suchten ihn, legten dort ihre Eier und die Larven sorgten dann
dafür, daß die Leichen sich nicht anhäuften. Das ließen sich
die Wespen gefallen. Wehe aber der Fliege oder einem anderen
kleinen Wesen, das sich erdreistete in das Nest selbst einzu—
dringen und die Waben zu berühren! Augenblicklich wurde der
Eindringling gepackt mil dem Giftstachel durchbohrt, zerrissen
und in die Latakombe unter dem Papierneste geschleudert. Nur
einen Gast duldeten die kriegerischen Geschöpfe auch in ihren
innersten Gemächern, die kleine Larve einer Flatterfliege, die
auf den Waben herumkroch, von Zelle zu Zelle, sozusagen von
Wiege zu Wiege sich drängte und dort die Kleinen, die Larven
reinhielt, indem sie ihren Unrat verschmauste.
Draußen schien warm die Sonne. Die Arbeiterinnen flogen
aus und kehrten, reichbeladen mit Süßigkeiten oder auch Jagd—
beute, Fliegen und anderen Geschöpfen, die sie erhaschen
konnten, zurück. Und die fleißige Mutter legte in die Zellen,
aus denen die gereifte Brut gekrochen war, immer neue Eier.
Die Wespenstadt wuchs um neue Tausende.
Aber eine Tugend fehlt in diesem rührigen Staate, die
Vorsorge. Man lebt vom Überfluß, sammelt aber nicht für
schlimme Zeiten und diese brechen bald herein. Der Herbst
geht zu Ende, der Winter steht vor der Tür. Da werden die
Wespen hart von Kälte und Nahrungsmangel betroffen. Die
ältesten Arbeiterinnen, die im ersten Frühling das Licht der
Welt erblickt hatten, schwanken von Altersschwäche ergriffen.
Und als ob sie ihren Tod herannahen fühlten, verlassen sie die
Papierhülle des Nestes, setzen sich nieder in dem Abgrund des
Friedhofes oder auch vor dem Flugloch und sterben nach einigen
krampfhaften Zuckungen. Von Tag zu Tag wächst die Zahl
der Altersschwachen. Mit Hunderten von Leichen bedeckt sich
der Friedhof und all die Larven, die dort unten als Toten—
gräber walten, haben reichliche Arbeit.
Furchtbar sind schon die Reihen der Arbeiterinnen gelichtet
und nun beginnen auch die jüngsten Geschlechter, die Männ—
chen und Weibchen, abzusterben. Noch immer aber herrscht
— 67 —
90. Das Ende eines Sommerstaates.
die gewohnte Tätigkeit im Neste. Die Larven werden gefüttert,
man bessert die een aus und legt neue an. Eines Tages
aber bemächtigt sich eine große Unruhe des Schwarmes. Es
ist, als ob die Schwergeprüften alle Hoffnung verloren hätten
und in einen Wahnsinn verfallen wären. Die treuen Pflege—
rinnen stürzen sich auf die heranwachsende Brut. Die Larven
werden aus den Zellen gerissen, grausam zerfleischt, getötet
und in die Latatemben geworfen. Nach diesem Gemetzel räumt
der Tod schnell den Rest der Überlebenden auf.
Kälte und Nahrungsmangel beschleunigen zwar den Unter—
gang des Sommerstaates der Wespen; aber das große Sterben
beruht auf ihrer Anlage. Die Natur hat ihnen nur einen kurzen
Lebenslauf von wenigen Monaten beschieden. Ein vortrefflicher
Beobachter des Insektenlebens hat im Herbst mit Wespen besetzte
Nester in geheiztem Zimmer aufgestellt, ihnen Sonnenschein
und Nahrung geboten und trotzdem trat das Sterben ein,
trotzdem erfolgte der Massenmord der Brut. Gegen Weihnachten
waren in seinem Behälter nur noch einige Weibchen am Leben,
am 6. Januar endete das letzte.
In der freien Natur vollzieht sich der übergang früher.
Schon Ende November ist das Nest nur eine Totenhalle, in der
allerlei Gewürm aufräumt. Entdeckt eine Spitzmaus das Nest,
so sind die Leichen bald verzehrt. Es hängt nur noch der kunst—
volle Bau mit seinen Waben und nach Tausenden zählenden
Zellen. Aber auch dieser Sitz des Sommerstaates ist dem Ver—
derben geweiht. Motten, Larven von Speckkäfern finden sich
ein und zernagen die Stockwerke und die Hülle des Baues.
Ein Häufchen Staub, winzige Fetzchen grauen Papiers bil—
den schließlich, ehe der Frühling wiederkommt, die Überreste
der einst so belebten Wespenburg.
Nur wenige Weibchen, die das Nest verlassen und in Moos,
Erde, Schutt u. s. w. sich vergraben haben, a a den Winter.
Sie werden zu Gründerinnen neuer Staaten. Wer also im
zeitigen Frühjahr eine Wespe tötet, der erstickt im Keime einen
ganzen Schwarm. Man kann es ihm nicht verargen, wenn wir
auch den Wespen zu Dank verpflichtet sind, da sie ja den Sachsen
Friedrich Gottlob Keller gelehrt haben aus Holz Papier zu
bereiten.
M. Hegenbach.
158
5 5 91. Herbstbeginn. — 92. Der Bär. e e *
91. Herbstbeginn.
Es geht zum Herbst; die Luft wird seltsam blab,
die reifen Apfel fallen dumpf ins Gras,
die Störehe suchten längst den Wanderpfad,
die Nacht wird kalt und Allerseelen nabt.
Bald stirbt das Laub und so kommt eins zum ancleern.
Mein lieber Freund, wann müssen wir wohl wandern?
Karl Busse.
92. Der Bär.
Die Bären sind ziemlich gutmütige Tiere, namentlich die
schwarzen, die sich mehr von Pflanzeustoffen als von Fleisch
nähren. Den Winter über schlaäfen sie mehr als im Sommer
und liegen in ihren Höhlen, oft in einfachen Steinklüften, oft
in Nestern, die aus Reisig und Moos gebaut und von außen
zugestopft sind. Bei hoher Kälte schlafen sie dann vielleicht
etliche Tage ununterbrochen fort ohne zu erstarren; indessen
muß sie bald der Hunger wecken, der sich endlich doch ein—
stellen wird, wenn auch die Bären in den herberen Winter—
monaten weniger fressen als sonst. Sie kommen dann hervor
und fressen mit großem Behagen junges, fettes Gras, junges
Winterkorn, Gemüse, Wurzeln, Vogelbeeren, Staudenfrüchte,
auch Erdbeeren und Honig. Um zu Birnen und Trauben zu
gelangen, gehen die Bären im Herbst oft viele Stunden weit
in die Täler hinunter und kehren immer vor Tagesanbruch
wieder zu ihrem Aufenthaltsorte zurück.
Ungereizt und ohne vom Hunger gequält zu sein, greift
der große schwarze Bär weder Mensch noch Vieh an, eher der
braune, der manche Ziegenherde versprengt und abfichtlich in
die Abgründe jagt, in denen er dann das totgefallene Vieh ber—
zehrt. Man versichert mit Bestimmtheit, der schwarze Bär sei
so friedlich, daß er einem erdbeersuchenden Mädchen traulich
die Beeren aus dem Korbe geholt habe ohne das Kind zu ver—
letzen, daß er sich überhaupt von einem schreienden Kinde in
die Flucht schlagen lasse.
Gefährlich ist er nur, wenn er entweder aus dem Schlafe auf—
gestört wird, schwer verwundet oder recht hungrig ist, besonders
wenn er die Jungen bedroht sieht. Dann schreitet er hochaufge—
richtet auf den Feind zu, schlägt die Arme um denselben und sucht
ihn zu erdrücken; oft hilft er mit gelindem Beißen nach. Nicht
175
159
—52
92. Der Bär. z2r e e 5*
selten geschieht es, daß der angegriffene Bär dem Jäger Spieß
oder Flinte aus der Hand schlägt, ihn umarmt und mit ihm
bergab kollert, wobei indessen Meister Petz meist den kürzeren
zieht.
Da die Bären sehr gut klettern, besteigen sie gewöhnlich
einen hohen Baum, ehe sie auf die Jagd gehen um das Revier
zu untiersuchen und eine Beute ausfindig zu machen, wobei
ihnen ihr feiner Geruch und ihr scharfes Gehör zu Hilfe kommen.
Der Bär rührt keine Menschenleiche an, frißt nicht seines—
gleichen, streift nicht nachts in den Dörfern umher um ein
Kind zu erhaschen, sondern bleibt im Wald und auf der Alp
als seinem eigentlichen Jagdrevier.
Ist das Tier in Gefahr, so verändert sich seine Gutmütig—
keit bis zur reißendsten Wut. Ein kluger Jäger wird es nie
wagen einen jungen Bären zu schießen, wenn dessen Mutter
in der Nähe ist; sie würde ihn mit rasendem Geheule verfolgen
und zerfleischen; ebenso gefährlich ist der verwundete Bär. Nur
sehr selten flieht er; gewöhnlich wendet er sich um und geht
aufrecht auf den Verfolger los, und wäre derselbe noch so gut
bewaffnet. Er fordert ihn gleichsam zum Zweikampfe heraus,
umspannt ihn, wenn er nicht vorher einen Dolchstoß ins Herz
erhält, mit seinen mächtigen Pranken und ringt männlich mit
ihm, bis einer von beiden fällt.
Zu Bern werden seit Jahrhunderten in einer mit Quadern
ausgelegten Grube im Stadtgraben aus den Zinsen eines alten
Vermächtnisses mehrere Bären als lebendiges Sinnbild der
Macht Berns gepflegt. Dort hat man beobachtet, daß die
Bärinnen ein, zwei oder drei Junge werfen. Die niedlichen,
blinden und unbeholfenen Tiere sind nicht größer als eine
Ratte, von fahlgelber Farbe, um den Hals weiß, haben durch—
aus noch nicht das Aussehen eines Bären, doch eine ver—
hältnismäßig starke Stimme. Nach vier Wochen öffnen sich
ihre Augen; sie haben dann schon zollange Wolle und sind
doppelt so groß wie bei ihrer Geburt. Die Auglein liegen tief;
die Schnauze ist ganz spitz Nach vier Monaten sind die Bärchen
schon von der Größe eines Pudels, dabei ungemein possierlich,
geschickt im Klettern, immer miteinander spielend und balgend,
aber sehr furchtsam. Ihre gelbliche Farbe verliert sich immer
mehr ins Braune und Schwarze.
Die Tatzen sind bekanntlich ein Leckerbissen; das übrige
Fleisch wird von den Bergbewohnern einige Zeit in frisches
Wasser gelegt um ihm den süßlichen Geschmack zu nehmen,
— 1460 —
93. Das Renntier.
worauf es ähnlich wie zartes Schweinefleisch schmeckt. Die Haut
ist 16 bis 20 Fraͤnken wert. In mehreren Gegenden steht noch
ein besonderes Schußgeld auf der Erlegung dieses Raubtieres;
doch wird es noch lange dauern, ehe es in Europa ausgerottet ist.
Friedrich v. Tschudi.
93. Das Renntier.
Das Renntier weidet auf den hohen, wüsten Fjöllen Finn⸗
markens, auf jenen fürchterlichen Sümpfen, deren braune Dede
das bittere Renntiermoos trägt und neben dem die Moltebeere
als einzige Frucht reift. Wenn die Sommerhitze hier oben ein—
tritt, sieht es sich von zahllosen Mücken- und Fliegenschwärmen
verfolgt, welche Menschen und Tieren das Leben wahrhaft
unerträglich machen. Es dringt daher von selbst darauf, daß
seine Herren mit ihm an die kühle Meeresküste oder in die
tieferen Täler hinabziehen, wo die Wolken des Ungeziefers in
den Winden zerstieben. Kaum aber naht der Herbst, so erwacht
die Begierde nach dem Schnee der Berge und vergebens wäre
es dem Verlangen des Tieres zu wehren. Die ganze Herde der
ohnehin nur halbgezähmten Renntiere würde gewaltsam ent—
laufen um in wilder Freiheit mit ihren Brüdern die Gebirge
zu durchirren.
Zieht der Lappe im Herbste auf die Schneeberge zurück, so
werden die Renntiere mit allem Eigentume beladen, wie man
Pferde belädt. Es werden dazu die stärksten ausgesucht und
man verteilt möglichst die Last; denn das Renntiet trägt nicht
viel. Den großen Leittieren werden Glocken angehängt und so
wandelt die Karawane, die mindestens 200, zuweilen aber mehr
als 2000 Geweihe zählt, die öden Fjöllen aufwärts in die
unermeßlichen Wüsten, gefolgt von der Familie und umkreist
von den wachsamen Hunden. Der Hausvater bestimmt endlich
einen zur Winterrast geeigneten Ort. Hier baut er seine Hütte.
Dabei sucht er gerne die Nähe einer geschützten Schlucht, wo
Birke und Kiefer wächst, wo ein Bach niederstürzt, und er baut
dann diese Hütte etwas fester als das leichte Sommerzelt,
bedeckt sie von außen mit Rasen, bekleidet sie innen mit den
Fellen des Tieres, dem er alles verdankt, und erwartet nun,
umringt von seinen Vorräten, die weiße, warme Decke, welche
der Himmel ihm aus den Volken schickt. Der Schnee fällt
meterhoch; aber das Renntier achtet das nicht. Es weiß mit
seinen Hufen die Hülle fortzuschaffen, weiß die Kräuter und
Augsburger Lesebuch, VI. Kl. —
z1 —
16
1
2
—
93. Das Renntier.
Moose darunter zu finden und irrt auf diesen ungeheuren
Schneefeldern umher ohne je eines Stalles oder einer Wartung
zu bedürfen.
Neben dem Wohnplatze des Lappen steht meist noch ein Zelt.
Hier speichert er auf, was er an Mehl, Fellen und Geräten besitzt.
Gewöhnlich aber hat er nichts als einige hölzerne Schüsseln,
einen Kessel und einige Pelzdecken und an den Zeltstangen
hängen die Renntiermägen, worin er seinen Milch- und Käse—
vorrat verwahrt. Auf einer andern Seite der Hütte ist aus
Pfählen eine Art Hürde gemacht, in welcher die Renntiere zwei⸗
mal des Tages gemolken werden. Dies ist das Anziehendste für
den Fremden. Die Hunde und Hirten treiben die Herde herbei
und die schönen Tiere mit den klugen, sanften Augen bilden
einen Wald von Geweihen. Die Kälber umringen die Mütter;
die jungen Tiere erproben spielend und stoßend ihre Kraft und
unaufhörlich hört man jenes seltsame Knistern, das aus dem
Knacken der Kniegelenke des Renntiers entsteht. Beim Melken
wird jedem Tiere eine Schlinge übergeworfen, damit es stille
steht, und diesen Zügelriemen gebrauchen die Lappen mit bewun—
derungswürdiger Geschicklichkeit. Das Renntier gibt wenig
Milch, aber sie ist fetter als jede andere und außerordentlich
nahrhaft. Jedes Mitglied der Familie bekommt seinen Anteil;
ein anderer Teil wird zur täglichen Suppe verwendet, welche,
mit Mehl oder auch mit Renntierblut und Fleisch gemischt, eine
wohlschmeckende, stärkende Nahrung gewährt. Der Rest der Milch
wird zu Käse gemacht. Im Winter läßt man sie auch wohl
gefrieren, so daß man sie in Tafeln schneiden kann. Sie verliert
dabei durchaus nichts von ihrer süßen Frische und ist namentlich
auf Reisen ein sehr dienliches Nahrungsmittel. Fleisch und Milch
des Renntiers sind überhaupt die wichtigste Nahrung des Lappen
und nur durch die Kräftigkeit derselben wird es ihm möglich die
Furchtbarkeit des Winters zu überdauern.
Das Renntier ist ausgewachsen so groß wie ein starker
Hirsch und ein solches Tier kostet dort ungefähr 13-20 Mark.
Braten und Keule schmecken ähnlich wie Hirschbraten; das Fleisch
ist aber röter, weicher und saftiger. Die Keulen werden auch
geräuchert und als Renntierschinken weit versandt.
Mitleiderregend ist die grausame Weise, auf welche das
Renntier geschlächtet wird. Ist sein Tod beschlossen, so wird
es zuerst mit der Schlinge an den Hörnern gefesselt und fest—
gebunden. Dann setzt ein Lappe ihm das Messer an die Brust
und ein anderer klopft es gewöhnlich mit einem Steine bis
162
94. Der Heringsfang.
ans Heft hinein. Es muß so getroffen werden, daß die Brust⸗
höhle voll Blut läuft und daß es an dieser inneren Verblutung
stirbt. Das Messer bleibt stecken, damit kein Blut herausspritzt.
Der Anblick des Tieres, das geduldig und tief seufzend den Tod
erleidet, indem es seine großen, sanften Augen, hilfesuchend,
umherirren läßt, ist ein sehr trauriger. Nach fünf bis zehn
Minuten fängt es an zu zittern und auf den Füßen zu schwanken;
diese brechen zusammen und ein kurzer Todeskampf macht
seinem Leben ein Ende. In dieser Art des Tötens liegt eine
kluge Berechnung des möglichst großen Nutzens, aber auch eine
Unmenschlichkeit, der man entgegenwirken sollte.
Theodor Mügge.
94. Der Heringsfang.
Der Hering erscheint jährlich dreimal an der Küste von
Norwegen; aber der Hauptfang geschieht im Februar. Es ist
dies die Frühlingsfischerei; sie liefert die größte Menge und
die fetteste, größte Ari des Fisches. Auf einem kleinen Raum
sind oft im Februar wenigstens zweitausend Boote, die mit
zwölftausend Menschen bemannt sind, mit Heringsfang beschäf—
tigt. Die Fischer begeben sich Ende Januar auf die Inseln
hinaus, mieten Hütten und Plätze, tun sich nun in Gesellschaften
zusammen und lassen sich die Fischplätze anweisen, wo sie ihre
Netze auswerfen sollen. Auch treffen sie Verabredung mit dem
Empfänger ihrer Ware und erwarten dann die Heringsschwärme.
Schnelle und fürchterliche Wächter verkündigen den Heranzug des
Tieres. Einzelne Walfische streichen an der Küste hin und wer—
den mit lautem Jubel begrüßt; denn der Walfisch ist der sichere
Verkünder des Herings. Es ist, als habe er den Auftrag er—
halten den Menschen die Botschaft zu bringen sich zum An—
griff bereit zu machen. Hat der Walfisch seine Sendung voll—
bracht, so jagt er zurück zu seinen Gefährten und hilft ihnen
den geängstigten Hering rascher gegen die Küste zu treiben,
wo sich dieser zwischen die Inseln und Klippen drängt und
um grimmigen Feinden draußen zu entkommen andern, noch
schrecklicheren in die Hände fällt; denn hier erwarten ihn die
Fischer mit den Netzen, deren jedes Boor sechsunddreißig hat,
die meisten 4 m lang und halb so tief. Mehrere werden an
einandergeknüpft; denn der Hering steht so dicht zusammen,
daß, wenn der Fang gut ist, in jeder Masche des Netzes auch
ein Fisch steckt. Dabei ist seine Menge so ungeheuer, daß er
zuweilen eine Wand bildet, welche bis auf den Grund hinab—
163 —
14
95. Der Wolf. —Qe —
reicht und von deren Druck nach oben die Boote dann mehrere
Zentimeter gehoben werden.
Sobald die Fahrzeuge gefüllt sind, eilen die Fischer ans
Land. Dort eröffnet sich ein neues Schauspiel. Arbeiter karren
den Hering aus den Schiffen unter die weiten Durchgänge der
Häuser. Hier sitzt eine gehörige Anzahl Menschen, größtenteils
alte Frauen, die mit dem Messer in der Hand das Werk des Aus—
kehlens verrichten. Die Karren werden bei ihren Plätzen umge—
stürzt, so daß die Arbeiterinnen halb in Fischbergen begraben sind.
Die Frauen ergreifen einen Hering nach dem andern, schneiden
ihm die Kehle auf und reißen mit einem kunstgemäßen Zug Ge—
därme und Eingeweide heraus. Dann werfen sie ihn in die
bereitstehenden Kübel. Sobald diese gefüllt sind, werden sie von
anderen Arbeitern an den Platz des Einsalzens gefahren, dort
in die Fässer gepackt, mit der Salzlake begossen, vom Böttcher
geschlossen und nun sind die Heringe zur Ausfuhr fertig und
bereit. Der Fang geht ununterbrochen vier Wochen lang und
oft länger vor sich. Wie viele Fische auch täglich in dieser
ungeheuren Zahl von Netzen herausgezogen werden, die Masse
der übriggebliebenen scheint dadurch nicht vermindert. Immer
neu drängt sich das unermeßliche Heer herauf auf die Ober⸗
fläche und draußen liegen die Wale wie abgerichtete Schäfer—
hunde und scheuchen die furchtsame Herde zurück. Mensch und
Walfisch haben einen Bund geschlossen zur Vernichtung des
unglücklichen, widerstandslosen Gefangenen. n onm
2*
—22—
95. Der Wolf.
In den Tiefen des Hochwaldes, wo Felsen sich in steilen
Wänden, mächtigen Säulen erheben, wo stille, düstere Schatten
sich ergießen und der Strom in wilden Wellen seine Gestade um—
schlingt, da macht der Wolf dem Bären die Herrschaft streitig.
Er durchstreift die Wildnis, jagt das Reh und geht der Hirsch⸗
kuh unermüdlich nach; er lauscht auf Hasen und Füchse und er—
listet die Hühner. Spähend umschleicht er des Waldes Saum,
ob er wohl sicher sei; dann legt er sich lauernd ins Gebüsch, sieht
nach dem Lamme, welches sich von der Herde entfernt, und hält
das Auge zugleich auf den Hüter gerichtet. Jetzt ist der Augen⸗
blick ihm günstig, er springt hervor, er hat das Lamm gepackt
und jagt mit ihm davon. Ihm folgt bellend der Hund; doch
dieser kommt zu spät; der Räuber ist mit seiner Beute in den
Wald zur dunkeln Kluft entflohen; da weiß er sich sicher, fällt
— 34 —
95. Der Wolf.
gierig über seine Beute her und schält sie aus dem Felle. Dann
schleicht er wieder von anderer Seite zur Herde sie noch ein—
mal zu überfallen. Zwei Schafe in einem Mahle sättigen ihn
kaum. Aber so stark er ist, so schnell er läuft, wittern ihn schon
von ferne die Tiere und entgehen ihm; doch verschmäht er
auch Mäuse und Frösche nicht. Huͤngrig, macht er das Aas dem
Geier streitig, scharrt Leichen aus, verschlingt Gras und Lehm
und geht heulend auf Raub aus; dann greift er frech den
Wanderer an, springt mit weit geöffnetem Rachen an dem
Reiter hinauf. Vom Heißhunger getrieben, schleicht er des Nachts
aus dem Walde, schwärmt um die Wohnungen der Hirten, fällt
über die Gänse her, gräbt unter Türfchwellen durch, bricht in
den Stall ein und würgt Schafe und Rinder. Dann achtet er
nicht des nahenden Hirten, scheut nicht das Feuergewehr und
hält die Beute zwischen den Zähnen fest, entweicht nur mit
dieser oder erliegt in seiner Raserei.
Bei strengem Winter rotten sich die Wölfe zusammen; Heiß⸗
hunger treibt sie auf die freie Landstraße, heulend verfolgen
sie den Schlitten, wie eine Woge im Sturm schwingen sie sich
wütend über den Flüchtenden; haben sie die Beute zerrissen, ver—
schlungen, dann zerstäuben sie in die Wildnis. Nur der Hunger
macht den Tückischen frech und spornt ihn zur blinden Wut.
Wenn er gesättigt ist, ist er feige, fürchtet das Horn des Ochsen
und des Pferdes Huf. Er zittert vor dem Bären, der ihn zer—
drückt und mit seiner Tatze auf den ungelenken Rücken trifft;
er flieht vor dem Hunde, welcher ihn verjagt, überwindet, aber
verächtlich einem andern Wolfe zum Fraße überläßt. So fein
er im Erschleichen ist, so schnell im Jagen, grausam und blind
im Rauben, so bleibt er dennoch feig und scheu. Eine Geige
macht ihn zittern und heulen, er wagt nicht den Spieler anzu—
greifen, er traut seiner Herrschaft, seinem Gebisse nicht; druͤm
wittert er überall Gefahr. Türen sind ihm verdächtig und ge—
spannte Stricke versperren ihm den Weg; er setzt lieber über
Hecken und Bäche hinweg. Er fürchtet das Klirren einer Kette;
des Stahles Funken und ein Pulverkorn jagen ihn davon.
Und doch weist der Feige stets ein spitziges Gebiß, die
sangen Hakenzähne, hält den tiefgespaltenen Rachen immer offen
und reckt die lange Zunge weit hervor. Sein aufgerichtetes Ohr
erspürt den Gang des Rehes, seine Nase wittert die Hirsche
von ferne her, das schiefe, kleine Auge schießt den tückischen, leuch—
tenden Blick, seine Sinne alle sind auf den Fraß geschärft; der
braun gewellte Leib verhehlt ihn im dunkeln Gebüsche, und wenn
165
32 22 22 22 222 22 222 696. Der Seidenspinner. 22 2 2 22
er auf dem Boden liegt. Auf langen Füßen jagt er mit ge—
strecktem Leibe, mit buschigem, fliegendem Schweife davon.
Seine Brust ist stark; doch die Klauen sind stumpf und liegen
fest; er steht auf schwachen, unsicheren Füßen und ein Mutiger
wirft ihn leicht. Kann er dem Sieger entfliehen, dann schleicht
er scheu mit eingezogenem Schwanze ins Dickicht.
Die Wölfin jagt nie in der Nähe des Lagers und verbirgt
die Jungen vor der Gier des Wolfes. Sie werden blind geboren,
aber mit scharfem Gebisse, und kaum haben sie die Augen ge—
öffnet, sind sie auch schon lüstern nach Fleisch; in wenigen Wochen
fallen sie schon zankend über die Hühner und über die Hasen
her, welche die Wölfin ihnen bringt. Rudolf Meyer.
96. Der Seidenspinner.
An den Zweig des Maulbeerbaumes legt der Seidenschmet—
terling seine Eier. Diese sind noch nicht so groß wie der Kopf
einer Stecknadel. Die Sonne brütet sie aus. Wenige Tage
genügen um in dem erwärmten Ei ein kleines Räupchen zu
entwickeln. Es ist so klein, daß es im winzigen Ei hinlänglich
Platz hat. Jetzt aber wird ihm die Zeit zu lang, der Hunger
plagt es, der Aufenthalt im engen Raume gefällt ihm nicht
mehr; es sehnt sich hinaus.
Zwei tüchtige Freßzangen sind ihm verliehen; mit ihnen
zernagt es die Schale. Zum ersten Male erblickt es das Licht
der Welt, emsig beißt es weiter, bis das Loch so groß ist, daß
das kleine, schwarze Räupchen herausschlüpfen kann. Nun streckt
es sich und freut sich über den warmen Sonnenschein, die an—
genehme Luft und hauptsächlich übers grüne Maulbeerblatt.
Es fühlt großen Hunger, und da es zwei Auglein am Kopfe
hat und sechzehn Füße besitzt, so kriecht es auf das junge Blatt
uͤnd hält sein erstes Frühstück Nun macht es Tag und Nacht
nichts anderes, als daß es frißt. Doch so fleißig es auch Blatt
für Blatt vertilgt, der Maulbeerbaum ist doch noch fleißiger
und treibt immer neue Blätter, so daß es unserm Räupchen
nicht an Futter mangelt. Endlich, nachdem es 6 bis 7 Tage
gefressen, sitzt es still, wird blaß und scheint sterben zu wollen.
Sonderbar bewegt es den Kopf nach allen Seiten. Nach 1 bis
2 Tagen springt ihm seine Haut auf und heraus windet sich
das Räupchen und streift sein altes Kleid ab, welches ihm zu
enge geworden. Ist es nun nackt? Bewahre! Unter der alten
Haut ist bereits eine neue gewachsen. Das neue Kleid ist frischer
und munterer gefärbt, es ist auch weiter als das abgeworfene.
4 2
— 3
8
22 225222696. Der Seidenspinner. 22 22 22*
Nun geht das Speisen von neuem los, bis nach 7 Tagen
die Haut abermal zu eng ist und abgestreift wird. So macht
es die Raupe zum dritten und vierten Male. Jedesmal ist das
neue Kleid heller gefärbt und geräumiger als das vorige. Aus
dem kleinen Räupchen, das dem Ei entfloh, wird nach 5 bis
b Wochen eine Raupe, so lang wie ein kleiner Finger. Aus
dem Safte des Maulbeerblattes hat die weißgraue Raupe eine
Menge klaren Saft in ihrem Innern angesammelt. Sie hört
nun auf zu fressen und sucht ängstlich mit dem Kopfe eine Ecke
oder einen Winkel zu erreichen, wo sie den hellen, feinen Faden,
welcher ihrem Munde entquillt, ankleben kann. Nun dreht sie
sich im Kreise herum und zieht den Faden ähnlich einem Knäuel,
den ein Kind aus Garn oder Zwirn sich wickelt, nur mit dem
Unterschiede, daß das Kind bei seinem Knäuel von innen an—
fängt und nach außen wickelt, die Raupe aber die äußeren Fäden
zuerst spinnt und dann erst die inneren. Sie spinnt so 3 bis
4 Tage und bereitet ohne den Faden einmal abzureißen einen
länglichrunden Ball. Dieser Ball führt den Namen Kokon und
ist von weißer oder gelber Farbe. Der Faden, aus dem der
Kokon gewoben wird, zählt 300 m Länge. Ganz im Innern
läßt die Raupe einen leeren Raum, ein Kämmerchen. Hier
liegt sie nach vollbrachtem Werke müde und matt. Sechs Wochen
hat sie gefressen, viermal das Kleid gewechselt und nun 3 Tage
im Tanze sich gedreht um den prächtigen Seidenfaden zu spin—
nen. Nun ist sie schläfrig. Zum letzten Male streift sie den Ar—
beitsrock ab, aber mit ihm auch die sechzehn Beine, die beiden
Augen und die beiden Zähne; denn die Raupe hat nichts mehr
zu laufen, nichts mehr zu sehen im finsteren Kämmerlein und
nichts mehr zu beißen. So legt sie Haut und Haare, Augen,
Füße und Zähne auf ein Häufchen, wie der Arbeiter am Feier—
abend das Handwerkszeug und seine schmutzigen Kleider ab—
legt. Die Raupe, welche sich nun in eine Puppe verwandelt
hat, elnrben Finster ist es um sie her, kein Lüftchen
dringt zu ihr, sie liegt im Sarge und regt sich nicht. Und doch
ist sie gerade jetzt besonders fleißig und bringt das Schönste
hervor, was sie hervorzubringen vermag. Unter der harten
Schale der Puppe ordnen sich in der Zeit von 14 Tagen die Teile
der Puppe in angenehmster Weise. Die Hülle springt und ein
Schmetterling schlüpft aus. Zwei helle Augen stehen ihm am
Kopfe; ein weißes Pelzwams umhüllt seinen Leib und vier Flügel
machen es ihm möglich durch die Luft zu flattern; außerdem
besitzt er sechs Beine, die ihm zum Laufen und Sitzen dienen.
—A —
22 e e s 97. Der Slbaum. 22 22 22 2 2 2 22 *
Wie kommt er aber aus seinem Kerker heraus? Er müßte
rettungslos darin umkommen, wenn ihm nicht der weise Schöpfer
am Munde ein Bläschen mit einer scharfen Säure geschaffen
hätte, durch die er den Seidenkokon erweicht, ein Loch gewinnt
und durch dasselbe sich hindurchzwängt. Durch dies Loch wird
aber der Seidenfaden zerrissen und unbrauchbar. Man gestattet
daher nur den Schmetterlingen das Ausschlüpfen, welche zum
Eierlegen bestimmt sind. Ein Schmetterlingsweibchen legt 400
bis 500 Eier. In heißen Gegenden, wo die Seidenraupe zu Hause
ist und im Freien lebt, heftet der Schmetterling die Eier an
die Zweige der Maulbeerbäume, gerade wie unsere einheimischen
Schmetterlinge es tun; bei uns in den Seidenbau-Anstalten,
d. s. Stuben, in denen die Raupen gefüttert werden, läßt man
den Schmetterling die Eier auf ein Stück weicher Leinwand legen
und bewahrt sie an einem kühlen und trockenen Orte bis zum
nächsten Frühlinge auf um dann wieder kleine Räupchen aus—
schlüpfen zu lassen.
Die meisten Kokons aber, welche man der Seide wegen
benutzt, werden durch heiße Wasserdämpfe oder durch Ofen—
hitze zehn Minuten lang erhitzt um die innewohnende Puppe
zu töten.
Man wickelt nun mittels eines Haspels die in warmem
Wasser erweichten Kokons ab, dreht die Fäden in beliebiger Zahl
zusammen, färbt die Seide mit allerlei Farben und webt dann
aus derselben schöne seidene Kleiderstoffe, Tücher und Bänder.
Hermann Wagner.
97. Der lbaum.
Ein segensreicher und wichtiger Baum ist für das südliche
Europa der Olbaum. In Südfrankreich, in Spanien, Ita—
lien und Griechenland leben ganze Gegenden fast ausschließlich
vom Ertrage desselben. Wie unsere Kirschen- und Pflaumen—
bäume sich freundlich zu unseren Wohnungen gesellen, ist in
jenen warmen Ländern der Olbaum ein lieber Genosse auch
der ärmsten Hütte; aber an den felsigen Abhängen und in den
Weitungen der Berge bildet der Olbaum ganze Wälder, die
von der breitblättrigen Feige freundlich umsäumt werden. Frei—
lich kann sich das Laub des Olbaumes nicht mit dem des Feigen—
baumes messen; denn die schmalen, weidenartigen Blätter sind
mehr grau als grün. Die dünnen, schwanken Zweige sind nicht
sehr schön und fahren unregelmäßig nach allen Seiten in die
Luft hinein. Die Stämme sind meist krumm, knorrig und
163 —
22 22 2 2 22 22 22 077. Der Slbaum. 22 2e e e 22
zerspalten, als wären sie vom Blitze getroffen. Aber dafür
wohnt in dem segensreichen Baume eine unverwüstliche Kraft;
das Feuer kann ihn verzehren bis zur Wurzel und es treibt
diese doch wieder ihre frischen Sprossen und bald ist ein neuer
Baum erwachsen. In einem trockenen, steinigen Boden geraten
die Früchte am besten, wie schon Hiob sang: „Die Felsen gossen
mir Olbäche.“ Eben darum ist der Baum für jene trockenen,
warmen Länder, deren Bergen eine fette Erdrinde mangelt,
ein so unschätzbarer Wohltäter.
Die weißen Blüten kommen an den Flügeln der Blätter
in kleinen Büscheln hervor und bringen eine längliche, ovale
Frucht, die Olive, welche einen harten Stein enthält. Die Größe
der Oliven ist verschieden; einige gleichen den Kornelkirschen,
andere werden so groß wie unsere Pflaumen, nämlich die
spanischen Oliven. Ihre Farbe spielt vom helleren Grün ins
Schwarzgrüne, auch wohl ins Schwarzrote; das Fleisch ist
schwammig und hat einen bitteren, widerlichen Geschmack, da—
her man sie roh gar nicht genießen kann. Wohl aber macht
man die Oliven ein, besonders die abgefallenen und unreifen,
indem man sie 24 Stunden lang in einer Lauge von Asche und
ungelöschtem Kalk oder bloß in Salzwasser einweicht, dann
wieder etliche Tage in frisches Wasser legt und zuletzt mit
Fenchel, Koriander und anderen Gewürzen in Fässer packt oder
in Flaschen aufbewahrt. Dies ist aber nur der geringere Nutzen;
der Hauptgewinn bleibt das feine, kostbare, bei uns als
„Baumöl“ bekannte Olivenöl. Die Früchte, welche dazu dienen
sollen, müssen vollkommen reif sein. Sie werden auf einer
dazu bestimmten Mühle leicht zerrieben und sodann in die Presse
gebracht. Der erste gelinde Druck gibt das beste und feinste Ol,
das sogenannte Jungfernöl. Dasselbe ist weiß von Farbe, un—
gemein mild und süß von Geschmack und träufelt bloß aus dem
Fleische. Man nennt es auch wohl Gardasee-Ol, von den schönen
Oliven, die um den Gardasee wachsen. Auf die erste folgt eine
zweite, stärkere Pressung, wobei auch aus dem Kern und der
Schale das Ol gepreßt wird. Fließt kein Ol mehr, so gießt
man siedendes Wasser auf den Brei, rührt ihn um und preßt
aufs neue. Hierdurch erhält man Wasser mit Ol vermengt,
letzteres schwimmt obenauf und kann leicht abgeschöpft werden,
ist aber grün von Farbe und ziemlich unrein. Das Provencer—
öl, das aus der französischen Provence kommt, hat bei uns
den Ruf des besten und feinsten Baumöls erhalten; wir be—
kommen aber dasselbe, wie überhaupt die Olivenöle, im Handel
169
2 2 e 2 07. Der Olbbaum. ⸗ꝛ2 2
selten ganz rein; denn man mischt gar häufig andere Ole, wie
die von Bucheckern, Mohnsamen u. a. bei. Man erkennt jedoch
diese Vermischung beim Schütteln an den Luftblasen, welche
das reine Olivenöl nicht gibt.
Das Baumöl ist ein höchst wichtiger Handelsartikel, der
große Geldsummen nach der Heimat des Olivenbaumes führt.
In der Arzneikunst ist das Baumöl wegen seiner milden, zer—
teilenden Kraft von höchstem Nutzen und es ist besonders ge—
eignet scharfe, ätzende Gifte im menschlichen Körper unwirksam
zu machen. Den warmen Ländern ersetzt es die Butter und es
gibt da wenige Speisen, denen es nicht beigemischt wäre. Wie
der befruchtende Tau auf das dürre Erdreich fällt um es zu
erquicken, so muß zu dem Mehl auch das Fett kommen, damit
es eine wohltuende, erquickliche Speise werde. Darum durfte
bei den Juden auch das Olivenöl in den Speisopfern nicht
fehlen. Und weil in den heißen Ländern die Haut des mensch—
lichen Leibes durch das Ol geschmeidig und kräftig erhalten
wurde, bediente man sich desselben auch zur Salbung um
das Stärkende und Erfrischende des himmlischen Segens da—
mit anzudeuten.
Die Heimat des so merkwürdigen Olbaums scheint Syrien
zu sein, besonders war Palästina zu den Zeiten des Alten Bun—
des reich gesegnet mit der kostbaren Frucht. Noch jetzt wächst
die Olive wild und zwar in großer Menge um Aleppo und
am Libanon; durch die Phönizier mag der Olbaum nach Grie—
chenland gekommen, von Syrien aus nach Italien, Frankreich
und Spanien gewandert sein.
Wo der Olbaum wächst und gepflegt wird, da gedeihet
auch der Friede. Als Noah zum zweiten Male eine Taube
ausfliegen ließ um zu erkunden, ob die alles verheerende Wasser⸗
flut noch nicht gesunken sei, kam der Vogel mit einem frischen
Olblatt im Schnabel zurück. Dieses Blatt war dem Noah ein
holdes Zeichen der begonnenen Versöhnung zwischen Gott und
dem Menschen und sehr sinnig wählten die ersten Christen dieses
Friedensblatt im Schnabel der treuen Taube zu einem Sinn—
bild auf den Denksteinen ihrer Friedhöfe. Olzweige waren ein
Sinnbild des Friedens und freundschaftlichen Verkehrs. Die
Friedensgöttin der Griechen hielt in der rechten Hand einen
Olzweig, in der linken ein Füllhorn. So war auch die Viktoria
der Römer mit einem Olkranze geschmückt.
Der Olbaum stand im Altertum in so hoher Achtung, daß
man den mit den schwersten Strafen belegte, der ihn raubte
— 17) —
98. Das Quechksilber.
oder beschädigte. Es würde ein Verbrechen gewesen sein das
Holz der Olbäume als Brennholz zu benutzen; man verbrannte
es nicht einmal als Opfer auf den Altären der Götter.
August Wilhelm Grube.
98. Das Quecksilber.
Was sagst du dazu, daß es bei uns ein Metall gibt, das du
wie Wasser in ein Glas füllen, ja in Tropfen wieder heraus—
laufen lassen kannst, das aber in Ländern, die kälter sind als
unsere, auch fest wird, also daß es sich hämmern und zu Bechern
verarbeiten läßt. Dieses Metall ist das Quecksilber. Bei uns
erstarrt es nie, sondern bleibt stets flüssig, und fülltest du einen
Teich mit ihm aus, so könntest du mit einem schweren eisernen
Kahne auf demselben spazieren fahren. Wolltest du aber einen
Kahn von Silber nehmen, so würde es demselben ergehen wie
einem Stück Zucker, das du ins Wasser wirfst; er würde sich
in dem Quecksilberteiche auflösen und du würdest ängstlich nach
Hilfe rufen. Vor dem Naßwerden bräuchtest du dich freilich
nicht zu fürchten, auch nicht vor dem Untersinken; denn du
könntest in diesem flüssigen Metallteiche schwimmen ohne es
gelernt zu haben. Aber verschlucken dürftest du nicht ein Tröpf—
lein aus dem Teiche; es wäre sonst um dein Leben geschehen;
denn jeder Tropfen ist Gift.
Stellst du ein Gefäß voll Quecksilber aufs Feuer, so wird
das Quecksilber in Dämpfen in die Luft steigen, wie ja auch
das Wasser in Dämpfen in die Höhe geht. Wenn du aber einen
kalten Deckel auf den Wassertopf legst, damit kein Staub hinein—
fällt, so werden die Wasserdämpfe an dem Deckel wieder zu
Tropfen, was du gewiß schon gesehen hast. So werden auch
Quecksilberdämpfe wieder zu Tropfen, wenn man sie erkalten
läßt. Zur Wäsche kann man das Quecksilber freilich nicht
gebrauchen; denn es macht nicht naß; aber dafür leistet es eine
Menge anderer Dienste. Wie schon gesagt, löst es das Silber
in sich auf und ist demselben ein lieber Freund, den es gern
auffucht. Das Silber ist nämlich ein edles Metall und liegt
wie alles Edle nicht gleich so zutage, sondern steckt verborgen
in ganz unansehnlichen Steinen, gemengt mit anderen Stoffen,
z. B. mit Kupfer und Schwefel. Der Bergmann kennt diese
Steine gar wohl und läßt sich durch ihr Aussehen nicht irre—
machen. Er zerpocht sie, röstet sie und treibt dadurch den
— 171 —
98. Das Quechksilber. 1
Schwefel fort, der sich vor dem Feuer fürchtet wie vor einem
Feinde und davoneilt, sobald er warm wird. Wollte nun der
Bergmann aus dem zurückgebliebenen Gestein das Silber mit
den Fingern herauslesen, so würde er vergeblich danach suchen;
denn es steckt in so kleinen Spitzchen in dem Kupferstein, daß
es nicht zu sehen ist. Er zermahlt vielmehr das Gestein noch
zu Mehl, tut dieses Erzmehl in ein Faß, das sich wie ein Mühl—
stein dreht, und bringt nun den Freund des Silbers, das Queck—
silber, auch in das Faß. Lustig dreht sich dann das Quecksilber
in lauter kleinen Tropfen mit im Kreise herum. Ohne sich um
das Kupfer zu kümmern, ergreift es ein Spitzchen Silber nach
dem andern und schwenkt sich in dem drehenden Tanzboden so
lange herum, bis sämtliches Silber mit ihm tanzt. Dann erst
hat die Lust ein Ende. In einen Klumpen vereinigt, liegen
unsere Tänzer erschöpft da und werden nun in einem Gefäß
dem Feuer ausgesetzt, als ob sie jetzt auch zusammen warm
werden sollten. Aber da schlägt die Scheidestunde; denn die
Hitze treibt das arme Quecksilber als Dampf hinweg. Während
so das Silber verlassen und allein zurückbleibt, muß das Queck—
silber durch Röhren steigen, die in kaltem Wasser liegen, muß
hier sich abkühlen und dann von neuem wieder Silber aus
seinem Versteck aufsuchen. Sein Leben ist ein beständiges Fin—
den und Verlieren.
Auch zum Golde fühlt sich das Quecksilber hingezogen.
Selbst ein edles Metall, hält es sich am liebsten zu dem Edlen,
bleibt auch wie die edlen Metalle immer hübsch blank und
rein, während sich das unedle Kupfer zum AÄrgernis der Köchin—
nen am Wasser und an Säuren leicht verunreinigt. Gehst du
zum Goldschmied, so kannst du sehen, wie es selbst Freund—
schaft stiftet zwischen dem Silber und dem Golde, so innig
und fest, daß das Silber ganz Gold geworden zu sein scheint.
Beim Spiegelmacher kittet es sogar das Glas und das Zinn
freundschaftlich aneinander, gewiß darum, weil es ein Feind
des Schmutzes ist und will, daß du nachsiehst, ob nicht irgend
ein Fleck dein Gesicht verunreinigt.
Der Maler läßt es als schöne, rote Farbe prangen. Er
mischt nämlich auf eine künstliche Weise einen Teil Schwefel
unter sechs Teile Quecksilber und erhält, wenn er's recht macht,
jene schöne, scharlachrote Farbe, die man Zinnober nennt. Selbst
in die Büchsen der Apotheker läßt es sich schicken und wandert
von da in die Krankenhäuser um den Tod zu vertreiben, wenn
es geht.
17
2
z2 2 99. Wie ich das erste Mal auf einem Dampfwagen fuhr. e
In dünne, gläserne Röhren eingesperrt, hast du es gewiß
schon oftmals in der Stube am Fenster auf einem schmalen,
langen Brette hängen sehen. Da ist es gar ein Wetterprophet
und prophezeit dir, ohne daß es hinaussieht, was draußen für
Wetter eintreten wird, und sagt dir, ob du einen Sonnenschirm
oder einen Regenschirm auf deinem Spaziergang mitnehmen
sollst. Dem Schiffer auf dem Meere kündigt es einen bevor⸗
stehenden Sturm an, damit er seine Einrichtung danach treffe;
den Gebirgsreisenden und kühnen Luftschiffern aber sagt es
sogar, wie hoch sie über dem Meere sind.
Auch weiß das Quecksilber besser als du, wie warm es ist,
und während es als Wetterprophet oft ein Schalk ist und statt
Regen Sonnenschein ankündigt, womit es dann den Wäscherinnen
einen Streich spielt, so täuscht es als Wärmemesser niemals.
In eine kleine, oben und unten verschlossene Glasröhre ein—
gesperrt, steigt es gradweise höher, je wärmer die Luft wird,
und fällt, wenn die Wärme wieder nachläßt. Ohne diesen emp—
findlichen Wärmemesser würden wir nicht wissen, wie warm
oder wie kalt es in anderen Ländern ist und der Ofenheizer
eines Treibhauses würde immer in Angst sein, ob er seinen
Blumen auch wohl die rechte Luftwärme gäbe.
Siehe, fso wird ein Gift in der Hand des verständigen
Menschen sein treuer, gehorsamer Diener. Du begreifst nun
wohl, warum sich der Mensch auch in die dunkeln Tiefen der
Erde hinabläßt und dort im Schweiße seines Angesichts Tag
und Nacht arbeitet um diesen dienstbaren Geist aus seinem
Versteck an das Tageslicht zu beschwören.
Karl Gude.
99. Wie ich das erste Mal auf einem Dampswagen fuhr.
Mein Pate Jochem war ein Mann, der alles glaubte, nur
nicht das Natürliche. Als ich schon hübsch zu Fuße war, wollte
er mich einmal mitnehmen nach Mariaschutz, einer Wallfahrts⸗
kirche, etwa eine Tagereise von uns entfernt. „Meinetwegen,“
sagie mein Vater, „da kann der Bub' gleich die neue Eisen—
bahn sehen, die sie über den Semmering gebaut haben.“
Behül uns der Herr,“ rief der Pate, „daß wir das Teufels⸗
zeug anschauen! 's ist alles Blendwerk, 's ist alles nicht wahr.“
„Kann auch sein,“ sagte mein Vater und ging davon.
Ich und der Pate machten uns also auf den Weg. Wir
wählten absichtlich einen weiteren Weg um ja dem Tale nicht
1
172
n a 99. Wie ich das erste Mal auf einem Dampfwagen fuhr. ꝛ
nahe zu kommen, in welchem nach der Leute Reden der Teufels—
wagen auf und ab ging. Als wir aber auf dem Berge standen
und hinabschauten in den Spitalerboden, sahen wir eine scharfe
Linie entlang einen braunen Wurm kriechen und darüber ein
Rauchwölklein schweben.
hn hui!“ schrie mein Pate, „das ist schon so was! Spring,
Bub!⸗
Und wir liefen die entgegengesetzte Seite des Berges
hinunter.
Gegen Abend kamen wir in die Niederung; doch — ent—
weder war mein Pate nicht wegkundig oder es hatte ihn die
Neugierde überwältigt — anstatt in Mariaschutz zu sein, standen
wir vor einem ungeheuren Schutthaufen und hinter demselben
war ein kohlfinsteres, ungeheures Loch. Und da ging eine
Straße mit zwei eisernen Leisten daher und schnurgerade in
den Berg hinein.
Mein Pate stand lange schweigend da und schüttelte den
Kopf. Endlich murmelte er: „Jetzt stehen wir da; das wird
die neumodische Landstraßen sein. Aber derlogen ist's, daß sie
da hineinfahren!“
Weiterhin gegen Spital in der Abendsonne stand an der
eisernen Straße ein gemauertes Häuschen; davor ragte eine
hohe Stange, auf dieser baumelten zwei blutrote Kugeln. Plötz-
lich rauschte es an der Stange und eine der beiden Kugeln ging
wie von Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken baß.
Daß es hier mit rechten Dingen nicht zuginge, war leicht zu
merken.
„Pate Jochem,“ sagte ich leise, „hört Ihr nicht so ein Brum⸗
men in der Erde?“/
„Ja freilich, Bub',“ entgegnete er, „es donnert was; es ist
ein Erdbeben. F Auf der eisernen Straße heran kam ein kohl⸗
schwarzes Wesen. Es wurde immer größer und nahte mit mäch—
tigem Schnauben und Pusten und stieß aus dem Rachen gewal⸗
tigen Dampf aus. Und hinterher —
(„Jerum, jerum,“ rief mein Pate, „da hängen ja ganze
Häuser dran!“ Und wahrhaftig, wir sahen einen ganzen Markt⸗
flecken heranrollen und zu den e e lebendige
Menschenköpfe heraus und schrecklich schnell ging's und ein
solches Brausen war, daß einem der Verstand stille stand. Da
hob der Pate die beiden Hände empor und rief mit verzwei—
felter Stimme: „Höllisches Donnerwetter, jetzt fahren sie rich—
tig ins Loch!“
174
2 2 2 99. Wie ich das erste Mal auf einem Dampfwagen fuhr. ꝛꝛ 22 2
Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern
in der Tiefe verschwunden. Nur der Rauch stieg still und träge
aus dem Loche.
„Die sind hin!“ sagte mein Pate und meinte die Eisen—
bahnreisenden; „die übermütigen Leute sind selber ins Grab
gesprungen.“
Als wir die Bahn überschritten hatten und abwärts stiegen,
da sahen wir drüben in den wilden Schroffen unsern Eisen—
bahnzug gehen, klein wie eine Raupe, und über hohe Brücken,
fürchterliche Abgründe setzen, an schwindelnden Hängen gleiten,
bei einem Loch hinein, beim andern hinaus, ganz wunderlich.
„'s ist auf der Welt ungleich, was heutzutag' die Leut'
treiben,“ murmelte mein Pate.
Als wir nach Mariäschutz kamen, war es schon dunkel.
Der Pate besorgte seine Geschäfte und dann suchten wir beim
Wirt auf dem Heuboden unser Nachtlager. Ich konnte lange
nicht schlafen, vermutete jedoch, daß der Pate süß schlummere.
Da sagte er plötzlich: „Bub', mich reitet der Höllische!'s gibt
mir keine Ruh'; 's ist arg, Bub'.“
„Was denn?“ fragte ich.
„Na, morgen wird's leichter werden,“ beruhigte er sich.
„Tut Euch etwas weh, Pate?“
„'s ist eine Dummheit. Was meinst, Bübel, weil wir schon
so nahe dabei sind, probieren wir's?“
Ich verstand ihn nicht.
„Was kann uns geschehen?“ fuhr er fort. „Wenn's die
andern tun, warum nicht auch wir? Ich lass' mir's kosten.“
Ich horchte mit verhaltenem Atem.
„Da werden sie einmal schauen,“ fuhr er weiter, „wenn
wir heimkommen und sagen, daß wir auf dem Dampfwagen
gefahren sind.“
Freilich war ich gleich dabei.
Am andern Tage lenkten wir heimwärts. Der Pate meinte,
er wolle sich nicht viel, gar nichts vornehmen und nur den
Semmering-⸗Bahnhof anschauen.
Als wir dorthin kamen, hatten wir das Loch von der
andern Seite. Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Pate
unterhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser
geben und gleich hinter dem Berge, wo das Loch aufhört,
wollten wir wieder absteigen. mem
„Da hält der Zug nicht!“ sagte der Beamte Nchenhnn *
— 175 — bchulboe fosehung
Braunsae
Schulbucbiblothel
z2ꝛ2 99. Wie ich das erste Mal auf einem Dampfwagen fuhr. zꝛ 3 2
„Aber, wenn wir absteigen wollen!“ meinte Jochem.
„Ihr müßt bis Spital fahren. Ist für zwei Personen
32 Kreuzer.“
Der Pate zahlte mit schwerem Herzen; ich mußte 2 Kreuzer
beisteuern.
Mittlerweile kroch der Zug heran, zischte und spie und
ächzte — da stand er still. Der Schaffner schupfte uns in den
Wagen und der Zug wurde abgeläutet.
„Das ist meine Totenglocke,“ murmelte Jochem. Und als
er zum Fenster hinausschaute, rief er: „Gott's Wunder! Da
draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!“
Jetzt wurde es finster, an der Wand unseres Stübchens
brannte eine Ollampe, schauerliche Pfiffe hallten, wir reisten
unter der Erde.
„Jetzt geb' ich mich in alles drein,“ hauchte mein Pate,
„warum bin ich der dreidoppelte Narr gewesen.“
Als wir aber wieder ans Tageslicht kamen und im grünen
Tale fuhren, sagte er: „Du, Bub', jetzt hebt's mir an zu ge—
fallen. Richtig, wahr, der Dampfwagen ist was Schön's. Jegerl,
jerum, da ist ja schon das Spitaler Dorf. Und wir sind erst
eine Viertelstunde gefahren. Du, da haben wir unser Geld
noch nicht abgesessen. Ich denke, Bub', wir bleiben noch sitzen.“
Mir war's recht und weiter ging's.
„Mürzzuschlag!“ rief der Schaffner. Wir taumelten zur
Türe hinaus. Der Türsteher nahm uns die Papierschnitzel ab;
dann vertrat er uns den Ausgang.
„He, Vetter!“ rief er; „diese Karten gelten nur bis Spital.
Da heißt's nachzahlen, das Doppelte!“
Mein Pate war starr. „Bub',“ sagte er, „hast Du ein Geld
bei Dir?“ „Ich nicht,“ schluchzte ich. „Ich hab' auch kein's
mehr,“ entgegnete er tonlos.
Wir wurden in der Kanzlei verhört. Mein Pate mußte die
Taschen umkehren; es fand sich kein Kreuzer mehr.
Als wir durch den Ausgang des Bahnhofes schlichen, sagte
mein Pate: „Beim Dampfwagen da, 's ist doch der Teufel
dabei.“
Peter Rosegger.
176
Inhaltsverzeichnis.
Die Lesestücke in gebundener Form sind mit bezeichnet.
Ur. Seite
Überschrift der Lesestücke
Verfasser
l. Vom göttlichen Walten.
19
11
12
13
14
15
9
10
11
12
12
13
15
Preis des Schöpfers..
Morgenhꝛt
Lwended
Sternentrostt
Sonntag
Der alte Gott lebt noch.
Der Wanderer in der Sägemühle
Die Boten des Todeßs...
Stille Nacht, heilige Nacht..
Der Seelchenbaum
Meujahrslied
Msterzeiit
Die Einladung.
Pfingsten ..
Lied vom Stillesein
223
—2
1
— —
———
Christian Fürchtegott Gellert.
Friedrich v. Schiller.
Matthias Claudius.
Martin Greif.
Rudolf Löwenstein.
Ludwig Aurbacher.
Justinus Kerner.
Brüder Grimm.
Joseph Mohr.
Ferdinand Avenarius.
Johann Peter Hebel.
Martin Greif.
Albert Knapp.
Julius Sturm.
Julius Sturm.
II. Aus dem Menschenleben.
158
Vom Undank der Kinder
Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß
Die künstliche Orgel.
Der kleine Friedensbote
Aus dem Leben Gellerts
Der arme Musikant..
Dienertreue ·..
Er muß den weißen Spatz sehen.
Das Lied vom braven Mannen.
Der Soldara
Das Mãärchen vom guten Mägdlein
Die drei Freunde ..
Sprũche *
Das Huf —
Der Engel von Augsburg.
Philippine Welser .
Einer oder der ander·
Der Steinerne Mann zu Augsburg
25
27
29
32
33
34
A
Am
Al
A
29 40
30 42
311 45
8225
3312
18
õ
Augsburger Lesebuch, VI. Kl.
17
Karl Stöber.
Peter Rosegger.
Rich. v. Volkmann⸗Leander.
Karl Stöber.
Wilhelm Ortel v. Horn.
Wilhelm Ortel v. Horn.
Karl Heinrich Caspari.
Otto Glaubrecht (Rud. Oser).
Gottfried August Bürger.
Adelbert v. Chamisso.
Martin Greif.
Johann Gottfried v. Herder.
Johann Wolfgang v. Goethe.
Hans Nagel.
Kasimir Rebele.
Johann Peter Hebel.
Nach Schöppner.
12
Inhaltsverzeichnis.
Nr. Seite
341 49
35509
361651
3764
3865
391 58
Überschrift der Lesestücke
König Friedrich und sein Nachbar.
Ein gutes Rezept..
Wie der Tierarzt von Brunnenfeld seine
Buben studieren lehrte..
Kannitverstannn
Der geheillte Patien
Der Wegweise —
Verfasser
Johann Peter Hebel.
Johann Peter Hebel.
Joseph Wichner.
Johann Peter Hebel.
Johann Peter Hebel.
Johann Peter Hebel.
III. Aus fremden Landen.
19
4
438
44
*
6b
L
9
2
74
46
46
48
49) 76
50 78
511 80
A
85
5488
55 91
56 92
873
Des Knaben Bergliede
Der Vierwaldstätterseß
»Lieder aus „Wilhelm Tella
Wien m
Eine Wanderung durch die Pußta..
Beideblbo *
Die Holländer.. ——
Meeresleuchten bei Ostende..
Die Londoner Docks und ihre Waren—
haäusje *
Der blinde König. ... A.
Ein schwedisches Fischerdorf.
Der Winter in Petersburg...
Auf der großen Brücke in Konstanti—
nopel 7
In Aalien D
Das Mittelländische Meer....
*Der Zigeunerbube im Norden
Frankreich ...
*Deutschland über alleel..
Ludwig Uhland.
Michael Sommer.
Friedrich v. Schiller.
Julius Tischendorf.
Franz Woenig
Detlev v. Liliencron.
Ernst Moritz Arndt.
Johannes Kayser.
Max Falk.
Ludwig Uhland.
Klemens Dänhardt.
Johann Georg Kohl.
Edmondo de Amicis.
Aus einem Briefe Moltkes
an seinen Vater.
Joseph Kutzen.
Emanuel Geibel.
Nach Buchholz.
Gottfr. Kinkel, nach Walter
von der Vogelweide.
IV. Aus der vaterländischen Geschichte.
5895
9
6010
61
1
145
3
109
144
66 113
Die Familie Fugger...
Augsburgs einstiger Handel...
Die Belehnung Friedrichs J. mit der
Mark Braͤndenburß
Die erste Fahrt des Kolumbus über den
Ozen —
Kaiser Maximilian und seine Augsburger
Der reichste Fürt *
Verkehrsmittel in früherer Zeit...
Kaiser Karls V. Einzug zum Reichstag
in Augsburg im Jahre 1330 ...
Eine heldenmütige Frau
Nach Dr. Artur Kleinschmidt
R. Schillmann.
Sophus Ruge.
Pius Dirr
Austinus Kerner.
August Böe.
Leopold v. Ranke.
Friedrich v. Schiller.
178
Mhaltsverzelchnis.
Nr. Seite
67
68
115
116
69 120
70 123
195
2
74
4
78 8
790143
Überschrift der Lesestücke
Der Pilgrim von St. Just....
Elias Holl, Augsburgs berühmter Bau⸗
meister
Die Schlacht bei Lützen. 8*
Plunderung eines Bauernhofes im
Dreißigjãhrigen Kriege .
Friede auf Erden.
Der Fried
Rurfürst Maximilians J. väterliche Er—
mahnungen an seinen Sohn. ...
Der Kurfurst vor Belgrad
Die Mordweihnacht von Sendling ..
Prinz Eugenius..
Charakterzüge aus dem Leben Fried⸗
richs des Großen ..
Kurfürst Max' III. Herzensgüte
*Bayerland .
Verfasser
August Graf v. Platen.
Nach Dirr und Holl.
Nach Aug. Friedrich Gförer.
Gotthold Klee, nach Christoph
v. Grimmelshausen.
Adolf Schmitthenner.
Friedrich v. Schiller.
Michael Becker, nach Jo—
hann Michael v. Söltl.
Emanuel Geibel.
Nach Hermann v. Schmid.
Volkslied.
August Wilhelm Grube.
Karl v. Spruner.
Martin Greif.
V. Aus dem Naturleben.
80
81
82
83
115
1
1
1
84
85
86
150
152
153
153
156
159
159
161
182
2
9
187
88
89
90
91
92
938
94
95
96
97
98
99
13
Frühlingsglaube
Raͤtsel
*Wanderlust ..
Der Löwenzahn
Das still Tal
Von den Blumen..
Die Ameisen als Straßenräuber.
*Im Ahrenfeld ..
Rätsel —
Silberflech ..
Das Ende eines Sommerstaates. ..
Herbstbeginn . 2
Der Bꝛͤꝛrer c —
Das Renntier .. —
Der Heringsfang... ————
Der Woißf —— —
Der Seidenspinner.... —
Der Obbaun ——
Das Quecksilber
Wie ich das erste Mal auf einem Dampf-
wagen fuhr.
179
Ludwig Uhland.
Johannes Trojan.
Emanuel Geibel.
Hermann Wagner.
Ganzhorn.
Dr. Ernst Weber und Adols
Bergmann.
Nach Peter Rosegger.
Robert Reinick.
Friedrich v. Schiller.
Ernst Seton Thompson
M. Hegenbach.
Karl Busse.
Friedrich v. Tschudi.
Theodor Mügge.
Theodor Mügge.
Rudolf Meyer.
Hermann Wagner.
August Wilhelm Grube.
Karl Gude.
Peter Rosegger.
12*
Originaleinband von R. Oldenbourg in Mũunchen