¿0(?¿
Georg-Eckert-Institut BS78
1 019 334 0
'•■'•«y«*!
die Oberstufe mebrâkttssiger Schufen
herausgegeben
von
Dr. Ì. (s|)t. G. Klh»ii»lil», und Ijmnuuu Hiietr,
.«toitigl.' Semiuardirector zu Alfeld. erstem Leminarlehrer zu Hannover.
Mit Bildern von Professor Bürkner in Dresden u. A.
-------- —
Hannover.
Verlag von Carl Meyer.
(Gustav Prior.)
Georg-Eckert-lnsttaH
für mternationate
SchulbuchforschtlHf
Braunschweig
Schulbuchbibiiothel»
vDo/z-^T
‘feQifAë#)
Druik »on August Grimpe in Hannover.
Vorre - e.
Dieses neue Lesebuch für Volksschulen verdankt seine Ent-
stehung sowohl dem warmen Interesse, welches die Herausgeber für
die Ausgestaltung unserer deutschen Volksschule hegen, als auch den
Veränderungen, welche in Folge der allgemeinen Bestimmungen vom
15. October 1872 in Betreff der Lesebücher im Allgemeinen und
besonders in unserer Provinz vor sich gehen. Wir glaubten daher,
um der Schule zu dienen, es wagen zu dürfen, mit den bis jetzt
erschienenen guten Lesebüchern wetteifernd in die Schranken zu treten,
damit der Jugend die für sie geeigneten besten Schätze unserer
volksthümlichcn Literatur in Poesie und Prosa zu allseitiger Förde-
rung ihrer Bildung geboten werden.
Wir haben uns sorgfältig bemüht, solche Stücke zu wählen,
welche nicht allein der Fassungskraft der Schüler angemessen sind,
sondern welche auch ihrem Herzen und Gemüth einen bleibenden
Schatz für das Leben bieten, welche jedes Lcbensgebiet in seiner
eigenthümlichen Schönheit und Wahrheit erscheinen lassen und ge-
eignet sind, gesunden religiösen, vaterländischen und häuslichen Sinn
neben der edlen Freude an den Werken Gottes in der Natur und
Menschenwelt und neben der Treue und Zufriedenheit in dem
Stande und Berufe zu wecken und zu pflegen. Wir haben dabei
die hervorragenden Eigenthümlichkeiten unserer Provinz berücksichtigt,
haben aber auch den Blick über die Grenzen der engeren Heimath
besonders ans das neu erstandene deutsche Reich gelenkt, damit schon
von Jugend ans die Herzen in treuer Liebe sich an das theure
Vaterland anschließen. Wir hoffen, daß es dadurch uns möglich
VI
Nr.
Seite
Nr.
Seite
*75. Reineke Fuchs................. 90
*76. Häslein. F. Güll ............. 99
77. Der Wolf und das Geigerlein.
Schubert.....................100
*78. Räthsel um Räthsel. Wunderhorn 101
79. Der Wolf und der Mensch.
Br. Grimm....................102
80. Muhammed. Nach Th. Nöl-
deke.........................102
*81. Der Postillon. N. Lenau . . 106
82. Die Stimme des Gewissens.
Krummachcr...................107
*83. Tod und Leben. Fr. Rückert 107
84. Winsrieds Ende im Jahre 755.
G. Freytag..................108
*85. Gebet um Frieden. K. Immer-
mann.........................112
86. Die Ausbreitung des Christen-
thums durch die Mission. W.
Hosfmann ii. K. v. Raumer 112
*87. Ich sende euch. Gerok .... 114
88. DergeretteicJüngling. Herder 115
*89. Denksprüche. Fr. Rückert . . 116
00. Ein Brief Uber den Regen.
Gustav Jahn..................116
*91. Mai. N. Löwenstein...........117
92. Der Maulwurf. Hebel .... 117
*93. Eichhörnchen. Hosfmann v.
Fallersleben................110
94. Seltsamer Spazierritt. Hebel 119
*95. Ochs und Esel. Pfcffel . . . 120
96. Noch ein paar Freunde des Land-
manns. G log er.............120
97. Die Spinnen. Hebel .... 122
*98. Pipin der Kurze. Baur ... 124
99. Karl der Große. Köpke . . . 125
100. Karls des Großen äußere Er-
scheinung. Feld. Schmidt . . 128
*101. Roland Schildträger. L.Uhland 129
102. Der eiserne Karl. Br. Grimm 131
*103. Die Weser. F. Dingelstedt . 132
104. Der westfälische Hosschulze. K.
L. Jmmcrmanr^................133
*105. Wie Kaiser Karl Schulvisitation
hielt. Gerok.................137
106. Die Pfirsiche. Krummacher . 137
*107. Der Wandefer in der Sägemühle.
I. Kerner................... . 138
108. Schneewittchen. Eine Märchen-
Scene. Th. Storm.............138
109. Der Rosenstrauch zu Hildesheim.
Br. Grimm....................141
110. Dornröschen..................142
*111. Heidenröslein. Goethe .... 144
*112. Von dem Bäumlein, das andere
Blätterhat gewollt. Fr. Rückert 144
*113. Lied von den grünen Sommer-
vöglein. Fr. Rückert........145
114. Sprichwörter..................145
115. Spriekwürterdeutungen. K.
Enslin......................146
116. Macht des Gebets. Fliegende
Blätter aus dem Rauhen Hause 147
*117. Der Kuckuk. C. F. Geliert . 148
*118. Der Blinde u. der Lahme. C.
F. Geliert...................148
*119. Die Geschichte von Goliath und
David. M. Claudius .... 149
120. König Heinrich 1. der Städte-
erbauer. Andrä................. . 149
*121. Heinrich der Vogelsteller. I. N.
Vogl.........................151
*122. Der Jäger Abschied. I. v.
Eichendorfs..................152
123. Die Bewohner der Marschen.
H. A1 m e r s................152
*124. Erlkönig. W. v. Goethe. . . 156
*125. Ahnten intWater. Kl ausGroth 156
*126. De Koppweidag. Fr. Reuter 157
127. Die Krönung Otto's I. W.
Giesebrecht .................158
*128. Unser Vaterland. Wächter. . 159
129. Otto der Große und Hermann
Billung. L. Harms............160
130. Der Singer Mäuseturm. Br.
Grimm........................161
*131. Der Mäuseturm. Aug.Kopisch 161
132. Das Rad im Mainzer Wappen.
Br. Grimm....................162
*133. Die Kaiserwahl. L. Uh land . 162
134. Die Vögel. Lenz..............164
*135. Die Einladung. A. Knapp. . 167
136. Der Staar. Mas ins..........108
*137. Das Tischgebet. Güll........169
138. Die treue Gudrun. Nach dem
Volksbuche...................169
*139. Gudruns Klage. Geibel ... 184
*140. Die Rache. L. Uhland .... 184
141. Der Löwe. Brehm..............185
*142. Löwenritt. Freiligrath.. . . . 189
143. Der Lowe und die Maus. Äsop 190
*144. Der „gute Gerhard von Köln" 190
145. Die Eroberung Jerusalems durch
die Kreuzfahrer im Jahre 109!».
v. Raumer....................193
*146. Bethlehem und Golgatha.
Fr. Rückert..................198
*147. Der Schenk von Limburg.
L. Uhland....................198
*148. Schwäbische Kunde. L. Uhland 200
149. Der Libanon. F. Bässler . 200
150. Heinrich der Löwe. Br. Grimm 203
*151. Barbarossa. Fr. Rückert. . . 206
152. Nazareth. K. Graul..........206
*153. Beim Lesen der heiligen Schrift.
L. Hensel....................207
154. Der See Genozareth.
F. Bässler...................207
VII
Nr. Seite
*155. Belsazar. H. Heine.............209
150. Der hartgeschmiedete Landgraf.
Br. Grimm...................210
*157. Räthsel. K. Simrock, Deutsches
Räthselbuch.................210
Auflösungen:
1) Mond. 2) Schnee. :!) Feuer.
4)Wea. 5) Baum. V)Zucker. 7)Ei.
«) Hase. 9) Staar. IU) Leib mit
Armen:c. 11) Greis. 12) Bart.
13) Wagenräder. 14) Reiter »nd
sein Pferd. 15) Glocke. 16) Lineal.
17) L. 18) R.
158. Landgraf Ludwig der Eiserne
baut eine Mauer. Br. Grimm 212
159. Der Storch. Brehm..............212
*160. Rudelsburg. Fr. Kugler. . . 215
161. Die Vulkane. H. Nasius . . 215
162. Der Steinadler. Fr. v. Tschudi 218
163. Das Ritterthum im Mittelalter.
Weller.......................219
*164. Der Taucher. Schiller .... 223
*165. Der Länger. Goethe . . . . 225
166. Der Bär. Meyer................226
167. Die Wartburg. H. Schwerdt 228
*168. Schwert und Pflug. Wolfgang
Müller.......................230
*169. Des Sängers Fluch. L. Uhland 230
170. Die Eulen. „Calwer Jugend-
blätter“ ....................232
*171. Aus dem Walde. E. Geibel. 234
*172. Erntekranz. Hofsmann von
Fallersleben.................234
173. Der Dom zu Köln. Franz
Schmidt......................235
174. Die Sahara. It. Binder . . . 236
175. Das Kameel. Ende..............238
176. Der Strauß. G. Ch. Raff. . 240
177. Rudolf von Habsburg. Grube 242
*178. Der Graf v.Habsburg. Schiller 243
*179. Kaiser Rudolfs Bitt zum Grabe.
J. Kerner...................245
180. Brockenreise. H. Heine . . . . 246
181. Der Bergmann. „Haus und
Schule"......................248
*182. Bergmannslied. Fr. v. Harden-
berg ........................251
183. Die Köhler im Harze. I. G. Kohl 251
184. Der Edelhirsch. Brehm. . . . 255
*185. Der weiße Hirsch. L. Uhland 258
186. DasdeutscheTiefland. Fr.Keller 259
* 187. Wie der alte Schmied seinen Sohn
in die Fremde schickt. Fr. Reuter 260
*188. Der Rattenfänger. H. Kletke 261
189. Die Elbe. A. Lüben.........262
190. Das deutsche Landhuhn.
H. 0. Lenz................ 262
191. Der Zaunkönig und der Bär.
Br. Grimm....................264
192. Der König. Krummacher . . 266
Nr. > Seite
193. Das Reh. Wunderlich. ... 267
*194. Waldlteü (Ich möchte ein Jäger
sein). Th. Körner ...........268
195. Wilhelm Teil. F. Bässler . 269
*196. Schlltzenlied (Mit dem Pfeil, dem
Bogen). Schiller..............271
*197. Die Bürgschaft. Schiller . . . 271
*198. Der alte Landmann an seinen
Sohn. L. H. Chr. Hölty . . 273
199. Der hohe Staufen. O. Schulz 273
*200. Das treue deutsche Herz .... 275
201. Hohenzollern. O. Schulz . . . 275
*202. Frllhlingsgruß an das Vaterland.
M. v. Schenkendorf............276
203. Die Erfindung der Buchdrucker-
kunst. Rösselt................276
204. Buch und Schrift. El. Harms 279
*205. Wer nur den lieben Gott läßt
'walten. I. Sturm.............280
*206. Räthsel. Schiller.............280
207. Kolumbus, der Entdecker Amerikas.
I. K. Andrä.................281
*208. Die Auswanderer. Frei 1 ig -
rath.... .....................284
*209. Abschied von der Heimat.
Disselhof ...........'.......285
*210. Wer ist ein Mann? E.M.Arndt 285
211. Das Ei des Columbus. Curl-
man ..........................285
212. Die Baumwolle. „Buch der
Erfindungen“ .................286
*213. Pflanzensabeln. A. E. Fröhlich 288
214. Der Flachs. A. v. P erg er's
deutsche Pflanzensagen.......288
*215 Die alte Waschfrau. Ehamisso 290
216. Der Specht. Wagner .... 290
*217. Waldleben. Just. Kerner. . 291
*218. Frühlingslied. L.H. Chr. Hölty 292
219. Der Sprecwald. H.A.Danicl 292
220. Der Seidcnschmetterling.
H. Majius...................293
221. Der Thee. I. Kell.............294
222. Elcphantenjagd. Reisen des
Prinzen Waldemar v. Preußen 296
223. Die Eidechsen, liehe! . . . 298
*224. Der Kampf mit dem Drachen.
Schiller......................301
*225. Wanderlied. Just. Kerner. . 303
226. Sprichwörter .................303
227. Die Theile der Pflanzen.
I. P. Hebel.................304
*228. Die Milchfrau. Gleim ... . 306
229. Die Vermehrung der Pflanzen.
I. P. Hebel...................307
230. Die Hansa. G. Freytag . . 309
231. Das Rennthier. Kaup .... 311
*232. Das Habermus. I. P. Hebel 313
233. Der Walfisch und sein Fang. Fix 314
*234. Fischerleden. Overbeck .... 317
----Vili
Nr. Seite
*235. Das blinde Roß. Langbein . 317
*236. Der Olochenguss zu Breslau.
W. Müller....................318
237. Dienerireue. Caspar! .... 320
*238. Das Lied dam braven Mann.
G. A. Bürger.................321
*239. Der Bauer und sein Sohn.
C. F. Geller!................322
240. Till Eulenspiegel. Volksbuch . 323
241. Bis Honigbiene. K. Russ . 324
*242. Die Biene und die Taube.
I. B. Michaelis..............327
243. Die Großmutter entläßt ihren
Enkel zur Wanderschaft. Jer.
Gotthelf...............327
244. Die Kreuzotter. Roßmäßler. 328
245. Whittington u. s. Katze. Campe 330
*246. Graf Eberhard der Rauschebart.
L. Uhland....................331
247. Die Fische. Gude ............336
*248. Der reichste Fürst. Just. Kerner 337
249. EsistnochRaumda.Caspari 337
250. Luther in Worms. Ranke . . 338
*251. Huther und der Fleischer.
K. R. Ilagenbach ............341
252. Luther im „Schwarzen Büren*
vor Jena. Keßler ............342
*253. Kaiser Karl am Grabe Lutbers.
R. K. Hagenbach..............345
*254. Das Schlauraffenland. Hans
Sachs........................345
255. Der Königstiger. Brehm . . 346
*256. Sankt Peter mit der Geis.
HansSachs ...................347
257. Der Herr ist König. Münster-
berger Lesebuch..............348
*258. Der Liebe Dauer. Fr eilig rath 348
*259. Die fromme Magd. Ringwaldt 349
260. Melanchthon. L. Wipper mann 349
*261. Deutscher Rath. R. Reinikc . 351
262. Seid ihr der König oder der
Bauer? Hebel.......................351
*263. Der Wegweiser. Nach Hebel. 352
264. Der Herbst. Roßmäßler . . 352
*265 Herbstlied. E. G e i b e l .... 354
*266. Herbstlied. I. G. v. Salis . 354
267. Der Kiebitz. A. Lüben. . . . 355
268. Frau Holle. Br. Grimm . . 356
*269. Der Schnitter Tod. Volkslied.
mitgetheilt von Ludwig Erk 357
270. Das erste und das zweite
Kartoffelgericht. G. Schubert 358
*271. Frühlingsgruß. H. Heine . . 358
*272. Morgenwanderung. E. Geibel 358
273. Lianen und Schlingpflanzen der
Urwälder. M a r t i u s......359
*274. Der Wald. Emanuel Fröhlich 361
275. Der deutsche Jägerbursche.
Melos..............................361
Nr. Seite
*276. Jägerlied. W. Borne mann 362
277. Die Schlacht bei Lützen. Fr. v.
Schiller.......................362
278. Gustav Adolf. Fr. v. Schiller 366
279. Der westsälische Friede. Andrä 367
*280. Danklied für den Frieden (1648).
P. Gerhardt....................367
281. Die Seerose. Aus: „Deutsche
Pflanzensagen“ von A. v.
Perger.........................368
282. Gruitvan Steen. H.Sch ub er t 369
*283. Harre, meine Seele. F .Räder 373
*284. Lied der Treue. P.Flemming 373
285. Schmetterlings Leben.
Hermann Wagner..........373
*286. Aufmunterung zur Freude.
L. H. Chr. Hölty ....... 376
287. Ein Gesang über den Wassern.
Flieg. Blätter a. d. rauhen Hause 376
*288. Schiffahrt. Fr. Rückert ... 377
*289. Schifferlied. dohannesFalk 377
*290. Räthsel. Schiller...............378
*291. Zur Heuernte. G. Jahn ... 378
292. Der große Kurfürst. Hahn und
Schmid.........................378
*293. Fehrbellin. Minding..........382
294. Die Kurfürstin Luise Henriette
von Brandenburg. Ludw. Hahn 383
*295. Sommerlied. P. Gerhardt . . 381
296. Das Leben im Sommer. Jean
Paul Friedrich Richter . . 384
297. Von der Freundschaft. Matth.
Claudius ..................... 385
*298. Lied der Freundschast. Simon
Dach...........................386
299. Die drei Freunde. J. <1.
v. Herder......................387
*300. Wiegenlied. Adolf Krum-
niacher........................387
301. Die halbe Flasche. K. H. Cas-
par i ....................... 387
302. Die Wasserpumpe. Trappe . 388
303. Der Kaffee. M. Bach.........389
304. Der Frosch. H. Wagner. . . 391
305. Kannitverstan. I. P. Hebel . 393
*306. Schall der Nacht. Volkslied bei
Grimmelshausen ................395
307. Das Kochsalz. Julius Kell . 395
308. Die Lüneburger Heide. H. Stein-
vorth..........................396
*309. Abseits. Theodor Storra. 401
310. Peter Paasch in den Händen der
Türken. L. Harms...............401
*311. PrinzEugenvorBelgrad. Deutscher
Liederhort. Herausgegeben von
Ludwig Erck ...................401
*312. Die Tabakspfeife. Pfesfel. . 403
313. Die Krönung des ersten Königs
von Preußen. Ferd. Schmidt. 404
IX
Nr,
Seite
Nr,
Seite
314. August Hermann Francke (1698).
Vaterländisches Lesebuch.....405
315. Die Weser, Guthe...............407
316. Friedrich Wilhelm I. und seine
Soldaten, Hahn................409
*317. Der gute Kamerad. Uh land 410
318. Friedrich Wilhelm I. als Regent.
Hahn..........................410
*319. Der siebenzigste Geburtstag,
I o h, H, Voß.................411
320. Meister Hämmerlein, Schlez . 415
321. Deiche uuclFlute». Allmers 416
322. Herr von Münchhausen erzählt
einige Jagdgeschichten........418
*323. Am Abend. Güll.................419
324. Der Wettermacher. Hebel , . 420
325. Belehrung über das Wetterglas.
Hebel.........................421
326. Friedrichs des Großen Persön-
lichkeit, A. S a ch ..........423
*327. Seidlitz. TheodorFontane 427
328. Deutsche Witze, O. F. Gruppe 428
329. Die Schlacht bei Roßbach am
ö, Novbr, 1757, Nrchenholtz 428
*330. Der Choral von Leuthen, Besser 431
331. Wie schön leuchtet der Morgen-
stern, K. Heinrich...........431
*332. Wie schön leucht! uns der Morgen-
stern, I u l. S t u r m......433
*333. DieExecution. E, Scherenberg 434
*334. Ziethen, Fr. v. Sollet, , , , 435
335. König Friedrich und sein Nachbar.
Hebel.......................435
336. Das Feuer im Walde. Hölty 436
337. Friedrich II. und der Edelknabe.
Pustkuchen-Glanzow .... 437
338. Friedrich II. und sein Kammer-
diener Heise. R. Fr. Eilert . 438
339. Friedrich's Verkehr mit seinen
Loldate», Franz Otto ... 439
340. Rittmeister Kurzhagen. Pust-
kuchen-Glanzow ..............439
*341. Der alte Ziethen, Fontane . 440
342, Der Straßenbau im Steinthal.
Schubert...................441
343. Wo nichts ist, kommt nichts
hin. Was nicht ist, kann noch
werden. Hebel.........442
*344. Der Winter. M. Claudius . 442
*345. Die drei grossen christlichen
Feste, 3. Falk. ....... . 442
346. Geiz ist eine Wurzel alles Übels.
Ahlfeld....................443
347. Geiz und Verschwendung, I. P.
Hebel......................444
348. Unterschied zwischen Sparsamkeit
und Geiz. Rachow's Kinder-
sreund................444
349. Der Wirt muß voraus, I. Möser 445
350. Eine Geschichte vom Schweine-
hirten, Zschokke.....................445
351. Hier ist gegipst ..............446
352. Das gute Heilmittel, Hebel . 446
353. Das Känguruh. Straessle . 447
354. Die Kokospalme, Grube . . . 448
*355. Die Auferstehung. Klopstock 450
*356. Aus der Jugend Friedrich
Wilhelm's III, Eylert , , , , 450
357. Die Bauernhäuser im Osna-
brllckschen, I. Möser........451
358. Mutterliebe. Glaubrecht , , 452
*359. Wenn du noch eine Heimat hast,
A. Träger.....................452
*360. Die Muttersprache, M. von
Schenkendors..................453
361. Friedrich Wilhelm III. als Kron-
prinz und seine Gemahlin Luise.
F e r d, S ch m i d t.........453
*362. Gebet eines Kindes an den
heiligen Christ, E, M, Arndt 457
363. Jena und Tilsit. L, Stacke . 457
*364. Magdeburg, F r. R ü ck e r t , . 459
365. Ein Bries der Königin Luise aus
dem Jahre 1809 .............. 459
366, Luisens Krankheit und Tod
(19, Juli 1810). Adami , , , 463
*367. Luise, die Königin, M, von
Schenkendors..................464
368. Preußens Wiedergeburt,
Büttner.......................464
*369. Schill, Ein. Geibel............465
*370. Die Opfer zu Wesel. Ferd,
Schmidt.......................465
*371. Santwirt Hofer, Jul. Mosen 465
372, Der Schneider in Pensa. J.
P. Hebel......................466
*373. Freiheit. Max v. Schenken-
dors ..........................470
374. Das Vaterland, E, M. Arndt 470
375. Von Soldatenehre. E.M.Arndt 471
*376. Soldaten-Morgenlied, M, v.
Schenkendors..................471
377. Aufruf des Königs von Preußen 471
378, Preußens Erhebung im Frühjahre
1813. Heinrich Beitzke . . . 473
*379, Das eiserne Kreuz, Fr, Rückert 476
*380. Lied zur feierlichen Einsegnung
des preußischen Freicorps, Th,
Körner . .....................476
*381. Der Trompeter an der Katzbach,
Julius Mosen..................476
*382. Lützow's wilde Jagd. Th.
Körner........................477
*383. Auf Scharnhorst's Tod. Max
von Schenkendors..............477
*384. Des Deutschen Vaterland, E.
M. Arndt .....................478
■ *385. ffißrner’S Grab, Fr. Förster 478
X
Nr. Seite
386. Die Völkerschlacht bei Leipzig.
Den 18. und 1l>. Oktober 1813.
K,oh.lrausch ...................478
*387. Die Leipziger Schlacht. E. M.
Arndt..........................483
*388. Blücher. E. M. Arndt. . . . 484
*389. Reiters Morgengesang. Hauff 485
390. Der Rheinstrom. G.B. Men-
delssohn ..............................485
*391. Das Lied vom Rhein. M. v.
Schcnkendvrf...................486
*392. Lore Lei. H. Heine...............487
393. Belle-Alliance (18. Juni 1815).
Rach Hahn und Schmidt . . 487
*394. Belle-Alliance. I. Sturm . . 490
*395. Ein Wort vom alten Blücher.
Hesekiel .......................490
396. Regen, Schnee, Hagel, Thau und
Reis. A. Bernstein..............491
397. Der kleine Börsenhändler.
Junker..........................492
398. Die Korallen. Hartwig . . . 493
399. Vergeben — vergessen! Eylert 496
400. Der Blitzableiter. Müg ge. . . 497
401. Nutzen chemischer Kennt-
nisse. Stüekhardt ............ 498
402. Der Affe. Rach Curtman,
Walter und Martins. . . . 500
403. Das Gold. Schubert .... 502
404. Friedrich Wilhelms IV. Thron-
besteigung ....................504
*405. Heil dir im Sicgerkranz. Schu-
macher nach Harries............507
*406. Preußenlied. Thiersch .... 507
407. Vom Nutzen und Anbau der Obst-
bäume. „Die Natur"....................508
*408. Einkehr. Uhland..................509
409. Der Brand von Hamburg.
Curtmanu........................509
*410. Das Lied von der Glocke. Fr.
v. Sch iller....................511
411. Die Feuerspritze. Krüger . . 514
412. Eine Ansiedelung im fernen
Westen. Fr. Gerstäcker . . . 515
413. Wohin König Friedrich Wil-
helm IV. gehörte. Eylert . . . 518
414. Brief eines preußischen Soldaten __
an seinen Vater. Auerbach . 518
*415. Pfingstlied. 28. Hey...... 520
416. Der Tabak. Schweizer Hausbote 521
417. Die Steinkohle. A. VV. Grube 523
418. Das Eisen. A. W. Grube. . 525
*419. DerTag von Düppel. Fontane 528
420. Von der Gasbeleuchtung. Ka-
rassek........................529
421. Die Überschwemmungen der Hal-
ligen. Biernatzky..............530
Nr. Seite
422. Der Königsritt am Abend von
Königgrätz. Nach L. Schneider
und M. Lehmann.........531
423. Eisenbahn und Dampfmaschine.
LesebuchvonA uras u. G nerlich 534
424. Die Trichine, Bandwurm und
die Finne. Dr. Virchow . . . 537
425. Ebbe und Flut. Kohl .... 539
*426. Die Wacht am Rhein. Max
Schneckenburger. 1840 . 540
427. Die Schlacht von Gravelotte am
18. August 1870. Stacke . . . 540
*428. Die Rosse von Gravelotte.
K. Gerok.....................544
*429. Die Trompete von Vionville.
Fr. Freilig rath............ 544 .
430. Die Schlacht bei Sedan am
1. September 1870. Bries König
Wilhelms an die Königin
Augusta.............................545
431. Napoleon und Bismarck nach der
Schlacht von Sedan. Brief
Bismarck's an seine Gemahlin 547
*432. Am 3. Sept. 1870. E. Geibel 548
433. Der elektrische Telegraph.
Rach Steintheil.............549
434. Das Münster zu Straßburg.
„Globus"....................551
*435. Schäfers Sonntagslied. Uhland 553
*436. O Straßburg. Volkslied . . . 553
437. Der Luftballon. Fetisch ... 553
438. Die Verkündigung des deutschen
Kaiserreichs. Werner Hahn. 556
*439. Deutschland über alles. Hoff-
mann v. Fallersleben . . 560
440. Der Feldpostbrief. L. Schneider 560
441. Altes Gold. W. 0. v. Horn 561
*442. Barbarossa im Kysshäuser. H.
Hölty ........................561
443. Berlin. Nach Kutzner und
Daniel........................562
444. VomBau des menschlichen Körpers.
Bock .........................565
445. „Warum", „was" und „wie"
müssen wir essen und trinken?
Bock ...................567
446. Vom Waschen und Baden. 21.
Bernstein.....................570
447. Athmen und Einheizen. A.
Bernstein.....................572
448. Wanderlied. I. v. Eichendors 578
449. Die Fixsterne. Hebel .... 573
450. Die Heimat der Seele........57'
451. An meinen Sohn Johannes.
M. C l a u d i u s ...........571
452. Abschiedsrede eines Vaters an
seinen Sohn. I. Sturm. . . 578
.<#
Ips® 1. Das walte Gott.
EZas walte Gott, der helfen kann!
i ITIit Gott fang' ich die Arbeit an.
So Gott nicht hilft, so kann ich nichts;
Wo Gott nicht gibt, allda gebricht's.
Das walte Gott!
St. ©iravotf.
2. Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt.
„Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt!" Zum Beispiel, wenn
dich früh die Sonne zu einem neuen kräftigen Leben weckt, so bietet er dir:
„Guten Morgen". Wenn sich abends dein Iluge zum erquicklichen Schlum-
mer schließet: „Gute Nacht". Wenn du mit gesundem Appetit dich zur
Mahlzeit setzest, so sagt er: „Wohl bekomm's". Wenn du eine Gefahr noch
zur rechten Zeit entdeckst, so sagt er: „Nimm dich in Acht, junges Kind,
oder altes Kind, und kehre lieber um". Wenn du am schönen Mittag im
Blütenduft und Lerchengesang spazieren gehst, und es ist dir wohl, sagt er:
„Sei willkommen in meinem Schloßgartcn". Oder.du denkst an nichts, und
es wird dir auf einmal wunderlich im Herzen und naß in den Augen
und denkst, ich will doch anders werden als ich bin, so sagt er: „Merkst du,
wer bei dir ist?" Oder du gehst an einem offenen Grab vorbei und es
.schauert dich, so sagt er: „Gelobt sei Jesus Christ!" Also grüßt Gott
manchen, der ihm nicht antwortet und nicht dankt. H-bel.
3. Wo wohnt der liebe Gott?
1. Wo wohnt der liebe Gott? —
Sieh dort den blauen Himmel an,
Wie fest er steht so lange Zeit,
Sich wölbt so hoch, sich streckt so weit,
Daß ihn kein Mensch erfassen kann;
Und sieh der Sterne goldnen Schein,
Gleich als viel tausend Fensterlein:
Das ist des lieben Gottes Haus,
Da wohnt er drin und schaut heraus,
Und schaut mit Vateraugen nieder
Auf dich und alle deine Brüder.
2. Wo wohnt der liebe Gott? —
Hinaus tritt in den dunklen Wald;
Die Berge sieh zum Himmel gehn,
Die Felsen, die wie Säulen stehn,
Der Bäume ragende Gestalt;
Horch, wie es in den Wipfeln rauscht,
Horch, wie's im stillen Thale lauscht!
Dir schlägt das Herz, du merkst es
bald:
Der liebe Gott wohnt in dem Wald;
j Dein Auge zwar kann ihn nicht sehen,
Doch fühlst du seines Odems Wehen.
3. Wo wohnt der liebe Gott? —
Hörst du der Glocken hellen Klang?
Zur Kirche rufen sie dich hin.
Wie ernst, wie freundlich ist's darin!
j Wie lieb und traut und doch wie bang!
I Wie singen sie mit frommer Lust!
Wie beten sie aus tiefer Brust!
Das macht, der Herr Gott wohnet da;
I Drum kommen sic von fern und nah,
1
2
Hier vor sein Angesicht zu treten,
Zu flehn, zu danken, anzubeten.
4. Wo wohnt der liebe Gott? —
Die ganze Schöpfung ist sein Haus;
Doch wenn es ihm so wohlgefällt,
So wählet in der weiten Welt
Er sich die engste Kammer aus.
Wie ist das Menschcnherz so klein!
Und doch auch da zieht Gott herein.
O, halt' das deine fromm und rein,
So wählt er's auch zur Wohnung sein,
Und kommt mit seinen Himmelsfreuden
Und wird nie wieder von dir scheiden.
28- Hey.
4. Wie oft Gott zu danken sei.
Wie viel Körnlein sind im Meer,
Wie viel Sterne obenher,
Wie viel Thiere in der Welt,
Wie viel Pfenn’ge unterm Geld,
In den Adern wie viel Blut,
In dem Feuer wie viel Glut,
Wie viel Blätter in den Wäldern,
Wie viel Gräslein in den Feldern,
In den Hecken wie viel Dörner,
Auf dem Acker wie viel Körner,
I Auf den Wiesen wie viel Klee,
! Wie viel Stäublein in der Höh’,
| In den Flüssen wie viel Fischlein,
In dem Meere wie viel Müschlein,
Wie viel Tropfen in der See,
Wie viel Flocken in dem Schnee,
Wie viel lebendig weit und breit:
j So oft und viel sei Gott Dank
In Ewigkeit.
Aus „Des Knaben Wunderhorn“ (Sammt, deutsch.
Volkslieder von L. A. von Arnim).
1. Weißt du, wie viel Sterne stehen
An dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen
Weithin über alle Welt?
Gott, der Herr, hat sie gezählet,
Daß ihm auch nicht eines fehlet
An der ganzen großen Zahl.
2. Weißt du, wie vielMücklein spielen
In der heißen Sonnenglut?
Wie viel Fischlein auch sich kühlen
In der Hellen Wasserflut?
Gott sorgt auch für die Kinder.
Gott, der Herr, rief sie mit Namen,
Daß sie all' in's Leben kamen,
Daß sie nun so fröhlich sind.
3. Weißt du, wie viel Kinder frühe
Steh'n aus ihren Bettlein auf,
Daß sie ohne Sorg' und Mühe
Fröhlich sind ini Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
Seine Lust, sein Wohlgefallen,
Kennt auch dich und hat dich lieb.
W. Hey.
6. Das Hirtenbüblein.
Es war einmal ein Hirtenbüblein, das war wegen seiner weisen Ant-
worten, die es auf alle Fragen gab, weit und breit berühmt. Der König
des Landes hörte auch davon, glaubte cs nicht und ließ das Büblein kommen.
* Da sprach er zu ihm: „Kannst du mir auf drei Fragen, die ich dir vorlege,
Antwort geben, so will ich dich halten wie mein eigen Kind." Sprach das
Büblein: „Wie lauten die drei Fragen?" Der König sagte: „Wie viel
Tropfen Wasser sind im Weltmeer?" Das Hirtenbüblein antwortete:
„Herr König, laßt alle Flüsse auf Erden verstopfen, damit kein Tröpflein
mehr daraus ins Meer laufe, das ich nicht erst gezählt habe, so will ich
euch dann genau sagen, wie viel Tropfen im Meere sind." Sprach der
3
König: „Die andere Frage lautet: Wie viel Sterne stehen am Himmel?"
Das Hirtenbüblein sagte: „Gebt mir einen großen'Bogen weiß Papier!"
Und dann machte es mit der Feder so viele feine Pünktlein darauf, daß sic
kaum zu sehen und gar nicht zu zählen waren, und einem die Augen ver-
giengen, wenn man darauf blickte. Da sprach es: „So viel Sterne stehen
am Himmel, als hier Punkte auf dem Papiere; zählt sie nur!" Aber
niemand war dazu im Stande. Sprach der König: „Die dritte Frage lautet:
Wie viel Sekunden sind in der Ewigkeit?" Da sagte das Hirtenbüblein:
„In Hinterpommern liegt ein Demantberg, der hat eine Stunde in die Höhe,
eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe; dahin kommt
alle hundert Jahre ein Böglein und wetzt sein Schnäblein daran; und wenn
der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei."
Sprach der König: „Du hast die drei Fragen aufgelöst wie ein Weiser
und sollst fortan bei mir in meinem königlichen Schlosse wohnen und ich
will dich ansehen wie mein eigenes Kind." Márchen von den Brüdern Grimm.
7. Hirtenreigcn.
1. Was kann schöner sein,
Was kann edler sein,
Als von Hirten abzustammen,
Da zu alter Zeit
Arme Hirtenleut'
Selbst zu Königswürdcn kamen!
Moses war ein Hirt mit Freuden,
Joseph mußt' iu Sichem weiden;
Selbst der Abrahani
Und der David kam
Bon der Hürd' und grünen Weiden.
8. Das
Als noch verkannt und sehr gering
Unser Herr auf der Erde gieng,
Und viele Jünger sich zu ihm fanden,
Die sehr selten sein Wort verstanden,
Liebt' er sich gar über die Maßen,
Seinen Hof zu halten auf der Straßen,
Weil unter des Himmels Angesicht
Man immer besser und freier spricht;
Er ließ sie da die höchsten Lehren
Aus seinem heiligen Munde hören;
Besonders durch Gleichniß und Exempel
Macht' er einen jeden Markt zum Tempel.
So schlendert' er in Geistesruh
Mit ihnen einst einem Städtchen zu,
Sah etwas blinken auf der Straß',
Das ein zerbrochen Hufeisen was.
2. Ja, der Herr der Welt
Kam vom Hinunelszelt,
Um bei Hirten einzukehren.
Laßt uns jeder Zeit
Arme Hirtenleut'
Halten drum in großen Ehren!
Die auf Gold und Seid' sich legen,
Sollten billig dies erwägen:
Daß der Hirten Tracht
Christus nicht veracht't
Und in Krippen dagelegen.
I. Kalk.
Hufeisen.
Er sagte zu St. Peter drauf:
„Heb' doch einmal das Eisen auf!"
Sanct Peter war nicht aufgeräumt,
Er hatte so eben im Gehen geträumt
So was vom Regiment der Welt,
Was einem jeden wohlgefällt;
Denn im Kopf hat das keine Schranken,
Das waren so seine liebsten Gedanken.
Nun war der Fund ihm viel zu klein.
Hätte müssen Krön' und Scepter sein;
Aber wie sollt' er seinen Rücken
Nach einem halben Hufeisen bücken!
Er also sich zur Seite kehrt
Und thut, als hätt' er's nicht gehört.
Der Herr nach seiner Langmuth drauf
Hebt selber das Hufeisen auf,
1*
4
Und thut auch weiter nicht dergleichen.! Der Herr geht immer voraus vor allen,
Als sie nun bald die Stadt erreichen, i Läßt unversehens eine Kirsche fallen.
Geht er vor eines Schmiedes Thür, Sanct Peter war gleich dahinter her,
NimmtvondemManndreiPfennigdafür.! Als wenn es ein gold'ner Apfel wär;
Und als sie über den Markt nun gehn, D)as Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Sieht er daselbst schöne Kirschen stehn, Der Herr nach einem kleinen Raum
Kauft ihrer so wenig oder so viel, Ein ander' Kirschlein zur Erde schickt,
Als man für einen Dreier geben will, Wonach Sanct Peter schnell sich bückt.
Die er sodann nach seiner Art ! So läßt der Herr ihn seinen Rücken
Ruhig im Ärmel aufbewahrt. .Gar vielnial nach den Kirschen bücken:
Nun gieng's zum andern Thor hinaus Das dauert eine ganze Zeit.
Durch Wies' und Felder ohne Haus, Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
Auch war der Weg von Bäumen bloß, „Thät'st du zur rechten Zeit dich regen,
Die Sonne schien, die Hitz' war groß, Hälfst du's bequemer haben mögen.
So daß man viel an solcher Stätt' j Wer geringe Dinge wenig acht't,
Für einen Trunk Wasser gegeben hätt'. I Sich um geringere Mühe macht."
W. v. Goethe.
9. Deutschland.
Deutschland gehört zu den schönsten Ländern, welche die
Sonne begrüsst in ihrem ewigen Lauf.
Unter einem gemässigten Himmel, unbekannt mit der sengenden
Luft des Südens, wie mit der Erstarrung nördlicher Gegenden, in
der grössten Abwechselung, der reichsten Mannigfaltigkeit, köstlich
für den Anblick, erheiternd und erhebend für das Gemüth, bringt
Deutschland alles hervor, was der Mensch bedarf zur Erhaltung
und Förderung des Geistes, ohne ihn zu verweichlichen, zu ver-
härten, zu verderben. Der Boden ist fähig zu jeglichem Anbau.
Hier scheint sich die Zeugungskraft gesammelt zu haben, die dort
versagt ward. Unter dem bleibenden Schnee der Alpen dehnen
sich die herrlichsten Weiden aus, von der Wärme doppelt belebt,
die an jenem wirkungslos vorübergieng. An der kahlen Felswand
zieht sich ein üppiges Thal hinweg. Neben Moor und Heide, nur
von der bleichen Binse und von der Brombeerstaude belebt und
menschlichem F leisse nichts gewährend als die magere Frucht des
Buchweizens oder des Hafers, erfreuen das Auge des Menschen die
kräftigsten Fluren, geeignet zu den schönsten Saatfeldern und zu
den herrlichsten Erzeugnissen des Gartenbaus. Fruchtbäume pran-
gen in unermesslicher Menge und in jeglicher Art, vom sauern Holz-
apfel bis zur lieblichen Pfirsiche. Hoch auf den Bergen des Landes
erhebt unter Buchen und Tannen die gewaltige Eiche ihr Haupt
zu den Wolken empor und blickt über Abhänge und Hügel hinweg,
welche den köstlichsten Wein erzeugen, die Freude der Menschen,
in der Ferne wie in der Nähe gesucht und gewünscht von Hohen
und Geringen.
Kein reissendes Thier schreckt, kein giftiges Gewürm droht,
kein hässliches Ungeziefer quält. Aber Überfluss gewährt das Land
5
an nützlichem Vieh, an kleinem wie an grossem, für des Menschen
Arbeit, Zwecke und Genüsse. Das Schaf trägt Wolle für das feinste
Gespinst, der Stier verkündigt Kraft und Stärke in Bau und Ge-
stalt, das Pferd geht tüchtig einher im Fuhrwerke, prächtig vor
dem Wagen der Grossen und stolz als Kampfross unter dem Krie-
ger, hier ausdauernd und dort.
In ihrem Innern verbirgt die Erde grosse und reiche Schätze.
Aus vielen und unerschöpflichen Quellen sprudelt sie freiwillig den
Menschen Heilung zu und Gesundheit und Heiterkeit. Den fleissi-
gen Bergmann belohnt sie bald mit dem edelsten Gewürze, dem
Salze, bald mit Silber und Gold, hinreichend für den Verkehr und
die Verzierung des Lebens, bald mit Eisen in Menge, dem Manne
zur Waffe und Wehr, zu Schutz und Schirm dem Volke.
Ein solches Land, mit so reichen Gaben, Eigenschaften und
Kräften ausgestattet, ist von Natur unverkennbar bestimmt, ein
grosses und starkes Volk zu ernähren in Einfalt und Tugend und
eine hohe Bildung des Geistes in diesem Volke durch Übung und
Anstrengung zu erzeugen, zu erhalten, zu fördern.
Auch ist das Land nicht umsonst bestimmter Grenzen beraubt
gegen Morgen wie gegen Abend und selbst gegen Mitternacht. Die
Bewohner können sich gegen den Neid, die Habsucht und den Über-
muth fremder Völker auf nichts verlassen, als auf ihre eigene Kraft.
Es gibt für sie keine Sicherheit, als in ihrem festen Zusammen-
halten, in ihrer Einigkeit, in ihrer sittlichen Macht.
Endlich ist den Bewohnern dieses Landes durch grosse und
schöne Ströme das Meer geöffnet und der Zugang zur Welt. Aber
das Meer drängt sich nicht so verführerisch an sie hinan oder
zwischen sie hinein, dass sie verlockt und dem heimatlichen Boden
entfremdet werden könnten. Vielmehr kann der edlere Mensch dem
Gedanken an eine deutsche Erde und an einen deutschen Himmel
nicht entgehen, und dieser Gedanke scheint in ihm die Sehnsucht
erhalten zu müssen zu der Welt seiner Geburt und die Liebe zu
dem Boden seines Vaterlandes. nuden.
10. Gelübde.
1. Ich hab' mich ergeben
Mit Herz und mit Hand
Dir, Land voll Lieb' und Leben,
Mein deutsches Vaterland!
4. Ach Gott, thu erheben,
Mein jung Herzensblut
Will, Vaterland, dir bleiben
Auf ewig fest und treu!
2. Mein Herz ist entglommen,
Dir treu zugewandt,
Du Land der Frei'n und Frommen,
Du herrlich Hermannsland!
In Herz und in Hand,
Zu leben und zu sterben
Fürs heil'ge Vaterland!
Zu frischem, sreud'gem Leben,
Zu freiem, frommem Muth!
5. Laß Kraft mich erwerben
3. Will halten und glauben
An Gott fromm und frei!
Maßmann.
6
11. Die Eiche.
Wie man den Löwen mit Recht den König der Thiere nennt, weil
ihm der Schöpfer das Siegel der Kraft ans die Stirne gedrückt, so ist anch
unter allen unsern Waldbäumen die Eiche eine königliche Majestät, vor der
jede andere Baumgröße sich beugen, und welche der Mcnjch mit Ehrfurcht
betrachten muß. In der Eiche vereinigt sich Schönheit und Stärke mit
fast unvergänglicher Dauer; in ihr lebt eine Riesenkraft, die sich zwar lang
sam, aber sicher und majestätisch entwickelt. An Höhe mit den hohen Fichten
und schlanken Tannen wetteifernd, übertrifft sie an Stärke die stärksten; mit
ihr verglichen ist jeder andere Baum schwach. Man findet Eichen von 8 m
im Umfange und 40 m Höhc.^ Eine Eiche von 30 Jahren kann aber ein
Knabe noch mit seiner Hand umspannen, und erst nach 200 Jahren ist der
mächtige Baum völlig ausgewachsen. Dafür geht aber anch sein Alter noch
über fünf Jahrhunderte hinaus. Ein alter Eichbaum mit seiner rauhen,
geborstenen, von Moos durchfurchten Rinde steht inmitten der jungen, schnell
lebenden Baumwelt da, wie ein greiser Erzvater unter seinen Kindern, Kindes-
kindern und Urenkeln. Geschlechter auf Geschlechter sind entstanden und ver-
gangen wie eine Blume des Feldes; aber der Alte ist im Sturm der Jahr-
hunderte unerschüttert geblieben, eine wunderbare Gotteskraft hat ihn er-
halten zum lebendigen Zeugniß einer längst entschwundenen Zeit, von welcher
nur die Sage berichtet.
Was für Geschichten könnte manche Eiche erzählen, würde ihr die Rede
verliehen! Die Eiche, von deren Holze der alterthümliche Schrank und der
unverwüstliche Tisch, den du von deinen Großeltern überkommen hast, ge-
arbeitet wurde, sie hat vielleicht noch die alten heidnischen Sachsen, deine
Stammväter, unter ihrem Schatten lagern sehen, ihrem tapfren Streite
mit den mächtigen Franken zugeschaut und sich altdeutscher Größe und Herr-
lichkeit gefreut, wenn sie dem nervigen Arme des kriegslustigen Jünglings
einen festen Zweig darreichte zum Stiele für die wuchtige Streitaxt.
Wie die sinnigen Griechen die mächtige Eiche dem mächtigsten ihrer
Götter, dem erhabenen Donnerer, geweiht hatten, so war auch unseren Alt-
vordern dieser Königsbaum dem mächtigen Donnergott Thor geheiligt, der
im zuckenden Blitz und rollenden Donner sich den Sterblichen offenbarte.
Der heilige Eichenhain durfte nicht von Uneingeweihten, allein nur vom
opfernden Priester betreten werden, und wo eine heilige Eiche stand, würde
keines Menschen Hand gewagt haben, sie ihres Laubes oder ihrer Zweige
zu berauben oder gar umzuhauen. Dieses Recht hatte allein der ans der
Gewitterwolke zerschmetternd niederfahrendc Wetterstrahl ihres Gottes. Die
alten Deutschen, obwohl sie Heiden waren, hatten doch ein nicht minder
feines Gefühl für das Leben und Weben der unsichtbar in der Natur waltenden
Gotteskraft als wir, ihre christlichen Nachkommen. Von gemauerten künstlich
erbauten Tempeln wußten sie nichts; sie fanden die heilige Stätte für ihre
Gottesverehrung in jenen von Menschenhänden unberührten, durch göttliche
Allmacht erbauten Eichwäldern; dort, im gehcimnißvollen Dunkel und in
feierlicher Stille vernahmen sie das leise Wehen der Gottheit. Einzelne
ihrer Götter mochten ans Bergesgipfeln und Felsenhöhen und an Flußufern
wohnen; aber der allgemeine Gottesdienst des Volkes hat seinen Sitz im
7
grünen Hain, und nirgends anders hätte er auch einen würdigeren Platz
finden können. Denn tritt nur hinein in die erhabene Stille eines Eichen-
waldes; sei es in der Frühe des Morgens, wenn die hohen Laubkronen im
ersten Sonnenstrahl glänzen, oder am heißen Mittage, wenn auf dem schwellen-
den Moose in der grünen Dämmerung wechselnde Lichtringe spielen, oder
am Abend, wenn die gewaltigen Zweige von einem milden Goldschimmer
überzogen sind: ist es dir nicht auch, als spräche eine Stimme in dir und
zu dir: „Die Stätte, darauf du wandelst, ist eine heilige Stätte!" und
als flüsterten die Blätter, von sanft wehender Luft bewegt, geheimnißvolle
Worte einer höheren Offenbarung? — In dem heiligen Dunkel der deutschen
Eichenwälder saßen einst die Priesterinnen unserer Väter und lauschten dem
prophetischen Rauschen der Blätter, um der harrenden Menge den Ausspruch
der Götter zu verkünden. Hier barg man auch die geweihten Fahnen und
holte, sie mit Ehrfurcht hervor, wenn der Schlachtruf in den Gauen wider-
hallte und die Tapfern aufrief zum Streit. Und wer dann muthig ge-
fochten und den Sieg errungen hatte, den krönte ein Kranz von Eichenlaub,
und diese Blättcrkrone galt mehr als eine goldene Fürstenkrone. Desgleichen,
wenn die alten Deutschen über Krieg oder Frieden berathen wollten, so
versammelten sie sich nicht zwischen den vier engen Wänden eines Hauses,
sondern sie kamen zusammen in einem größeren und schöneren Saale, dessen
Boden ein grüner Teppich von Gras und Waldblumen und dessen Säulen
die hohen Eichbäume waren.
Jetzt ist dieses alte, tapfere und starke Geschlecht deutscher Männer aus
den Wäldern geschwunden; aber noch heute, wie vor einem Jahrtausend,
hebt mit kräftigem Wüchse die Eiche ihr stolzes Haupt in die Luft, und
herrliche Eichwälder sind noch immer unseres schönen Vaterlandes schönste Zier.
Aug. Grube.
12. Sinngrün nnd EPheu.
Das Sinngrün oder Immergrün mußte schon in sehr früher Zeit
dadurch auffallen, daß seine Blätter im Winter eben so saftig und frisch
blieben, als sie im Sommer waren; und der so gern deutelnde Germane
erblickte daher in demselben ein Sinnbild der Beständigkeit und Treue;
dazu kommt noch, daß die Pflanze schöne blaue Blüten trägt, und daß
diese Farbe auf die Ewigkeit deutet. Das Sinngrün war vorzüglich den
Jungfrauen geweiht und seine Blütenrankcn wurden Juugfrauenkronen
genannt. Die Mädchen schmückten sich damit, wenn sie zum Tanze giengen,
und in manchen Gegenden wurden keine Jungfrau und kein Jüngling ohne
einen Kranz von Sinngrün begraben, da dieser als Zeichen der Reinheit
und Unsterblichkeit galt, und man zugleich die Meinung hatte, daß ein solcher
Kranz das Antlitz vor Verwesung schütze und lange Zeit die Kenntlichkeit
erhalte. Der einst sehr berühmte Botaniker Hicronhmns Bock erzählt,
daß er im Jahre 1535 einen schon seit langem bestatteten Leichnam aus-
graben sah, der sammt seinem Sinngrünkranze noch ganz unversehrt war
— vermuthlich weil sich das Grab in sehr trockenem Sandboden befand.
Auch der Ep Heu hatte bei den alten Deutschen und den ersten Christen
seines Ausdauerns im Winter wegen eine sehr hohe Bedeutung, denn sie
legten ihre Leichen auf Epheuranken, die ihnen als das Sinnbild der Fort-
8
bauet nach dem Tode galten. Im Mittelalter aber verlor er an Werth;
man sah ihn, wenn er an einem gestürzten Banme fortgrünte, höchstens
als das Zeichen eines treuen Dieners an, der seinen gefallenen Herrn nicht
verläßt. Die Sage behauptet, daß wer mit Löffeln ißt, die aus Epheuholz
geschnitzt sind, vor Halsweh und Bräune geschützt sei, und wiederholt die
schon von den Römern ausgesprochene Meinung, daß das Epheulaub die
Berauschung verhüte. Sonst wissen nur noch Jäger zu erzählen, daß sich
die Wildschweine mit Ephen heilen, wenn sie verwundet sind. Der Ephcu,
welcher in der griechischen Sage so vielfältig erscheint, ist daher als eine ge-
fallene Größe zu betrachten und wurde erst in neuerer Zeit wieder beachtet,
wo man ihn am Fenster in Töpfen zieht, um im Winter doch einiges Grün
vor sich zu haben. Nur in Frankfurt a. M. wird er noch einigermaßen
geehrt, denn der Eschenheimer Turm, der unter Ludwig dem Baier im Jahre
1364 gebaut wurde, ist ganz mit Epheu umwachsen und bildet dadurch eine
alterthümliche Zierde der Stadt. Man wollte den Turm schon mehrmals
abtragen, allein nach einer alten Sage darf kein Stein weggenommen werden,
bis die herrlichen Epheuranken die Wetterfahne des Turmes erreichen.
„Deutsche Pslanzensagen" von A. v. Perger.
13. Wanderlust.
1. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen ans,
Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus;
Wie die Wolken wandern am himmlischen Zelt,
So steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt.
2. Herr Vater! Frau Mutter! daß Gott euch behüt'!
Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir noch blüht.
Es gibt so nianche Straße, da nimmer ich marschiert,
Es gibt so manchen Wein, den ich nimmer noch probiert.
3. Frisch auf drum, frisch auf im hellen Sonnenstrahl,
Wohl über die Berge, wohl durch das tiefe Thal;
Die Quellen erklingen, die Bäume rauschen all,
Mein Herz ist wie me Lerche und stimmet ein mit Schall
4. Und find' ich keine Herberg', so lieg' ich zu Nacht
Wohl unter blauem Himmel, die Sterne halten Wacht;
Im Winde die Linde, die rauscht mich ein gemach,
Es küsset in der Frühe das Morgenroth mich wach.
5. O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!
Da wehet Gottes Odem so frisch in die Brust;
Da singet und jauchzet das Herz zum Himmelszelt:
Wie bist du doch so schön, o du weite, weite Welt! g. ©eitel.
9
—
14. Wuotan.
Es braust der Sturm, es rauscht
das Meer,
Die Felsgebirge zittern:
Gott Wuotan reitet rasch einher
In schwarzen Ungewittern;
Gold ist sein Harnisch, weiss sein Ross,
Ein wucht’ger Speer sein Schlacht-
geschoss,
Zwei Raben sind ihm zur Seite,
Zwei Wölfe sein hungrig Geleite.
Er eilt zum wilden Waffentanz,
Die fremde Schmach zu ahnen,
Zu schmücken mit dem Eichenkranz
Die Stirne der Germanen.
Das Ross ist da mit ries’gem Sprung,
Laut saust der Speer in mächt’gem
Schwung:
Es stürzen die frechen Tyrannen;
Es jauchzen die wackern Mannen:
Sieg! Sieg! Und Wuotan sei gelobt,
Der uns den Sieg errungen! —
Der Donnersturm hat ausgetobt,
Der Schlachtruf ist verklungen;
Gott Wuotan steigt zum Himmel auf
Und lenkt der Welten ew’gen Lauf
Und schauet mit ernster Geberde
Aus seinem Fenster zur Erde —
Und streuet Segen Tag und Nacht
Von seinem Throne nieder
Und lehrt den Krieg und lehrt die
Jagd
Und spendet hohe Lieder
Und ist uns nah in Leid und Lust,
Durchströmt mit Muth die Krieger-
brust
Und nimmt nach ruhmvollem Ende
Die Helden in seine Hände.
Das ist Wuotan, der oberste der Götter, der Ordner und
Lenker der Welten, der Schöpfer der Menschen, der Freund der
Helden und Dichter. In ihm verehrten alle Germanen die geistigste
der Gottheiten, die alldurchdringende, schaffende und bildende
Macht, die höchste organische Kraft, die, aus der Erde erzeugt,
einst mit ihr untergeht, in ihm vornehmlich den Vater der Götter
und der Menschen, weshalb er besonders Altvater genannt, er be-
sonders mit dem wirklichen Altvater, der der rechte Gott ist, ver-
wechselt wurde. Seine Gemahlin ist die gütige Mutter Erde, Fricka,
Nirdu genannt, welche die Sprache aller Thiere und Pflanzen ver-
steht und aller Menschen Schicksal voraussieht, ohne es jemals zu
entdecken; sie ist dieselbe mit Frau Holle, dieser freundlichen,
milden, gnädigen Göttin und Frau, welche noch jetzt gleich Wuotan
im wüthenden Heere umzieht. Zu Donar, seinem mächtigen Sohne,
verhält er sich so, dass Wuotan der Gott des Himmels, Donar der
Gott der Erde ist. Doch wie Donar auch im Himmel zu walten
hat, wie er namentlich die Seelen der gewöhnlichen Menschen dort
unterbringt und bis zur Götterdämmerung versorgt und ordnet, so
hat sich auch Wuotan keineswegs der Herrschaft über die Erde
gänzlich begeben, sich vielmehr einen bedeutenden Theil derselben
und die Oberleitung gänzlich vorbehalten: er sieht aus seinem
Himmelsfenster auf die Erde nieder, verleihet den Menschen und
allen Dingen Gestalt und Schönheit, den Feldern Fruchtbarkeit,
den Schiffen günstigen Wind und ist vor allen Dingen der Ordner
und Lenker der Kriege und der Schlachten, als welchem ihm auch
die Erfindung der keilförmigen Schlachtordnung zugeschrieben wird.
10
Wie er aber der Vater des Sieges ist, des höchsten Geschenkes,
das unsere Väter nur kannten, so ist er auch der Gott des Heils
und der Wonne überhaupt; und weil er als der weise, kunsterfährene,
hehre Gott des Dichtens, des Masses, der Grenze, des Würfels und
des Eides erscheint, so dürfen alle Gaben, Schätze und Künste als
von ihm ausgegangen betrachtet werden. Wir finden demnach auch
hier wieder den mächtigen Drang der Heidenwelt, einen einzigen
obersten Gott anzuerkennen, der die Eigenschaften und Thätigkeiten
aller übrigen in sich trägt, auch hier wieder die Wirksamkeit des
tiefen und rührenden Zuges nach oben.
Als Himmelskönig sitzt er, das Antlitz gen Süden gewandt
— denn er ist ein nordischer Gott —, auf einem strahlenden gol-
denen Throne; seine Gesichtszüge sind ernst, sinnend, voll echt
göttlicher Majestät; sein mächtiges Haupt ist wie mit glänzendem
Bergschnee bedeckt; ein langer weisser Bart wallt ihm auf die
Brust herab; die Rechte ruht auf der Seitenlehne des Thrones, die
Linke auf einem Speer, auf der Rücklehne oder auf seinen Achseln
sitzen zwei Raben, Gedanke und Erinnerung genannt, die ihm ins
Ohr sagen, was sie vom Grauen des Morgens bis zur Zeit des
Frühstücks auf ihrem Fluge durch die Welt Merkwürdiges erfahren
haben; am Fusse des Thrones liegen zwei Wölfe, seine Jagdhunde.
Er ist einäugig, und dies eine Auge ist die wärmende und strah-
lende Sonne, weshalb er auch der Feueräugige heisst; das andere
musste er, als er einst durstig war und aus dem Brunnen der
Weisheit trinken wollte, dem Wächter desselben zum Pfande lassen,
und dies zweite Auge finden wir in dem Spiegel der Gewässer, in
den Bächen und Flüssen der Erde, in ihren Seen und vornehmlich
im erdumgürtenden Weltmeer. Sein Mantel ist der dunkelblaue
Himmel, mit dem er liebevoll auch seine Gemahlin, die Mutter
Erde, umhüllt; oft wird ihm jedoch ein bunt- oder vielfarbiger
Mantel beigelegt, der alsdann den Wolkenhimmel mit seinen wech-
selnden Farben, mit der Morgen- und Abendröthe, dem Nordlicht
und den verschiedenen Gebilden der Dunstmassen bezeichnet.
Das gewöhnliche Erdenregiment überlässt Wuotan getrost seinem
mächtigen und menschenfreundlichen Sohne Donar und die Leitung
gewöhnlicher Kriege und Schlachten geruhig seinem wilden, kampfes-
muthigen Sohne Zio; hiebei wirkt er nur weise rathend und unr-
und einsichtsvoll wägend. Wenn sich aber etwas Grosses, etwas
Ausserordentliches auf Erden ereignet oder ereignen soll, das seiner
eigenen Gegenwart und Beihülfe bedarf; wenn Riesen dräuend ein-
herschreiten und das Menschengeschlecht gefährden, Helden in des
Schiffbruchs Knirschen zagen und der Rahana (der Meeresgöttin) an-
heimzufallen drohen und bedeutende Kriege geführt oder schwere und
wichtige Schlachten geschlagen werden sollen; oder endlich wenn die
Erde von seinen Opfern dampft, von Liedern zu seinem Preise wider-
hallt, wie beim grossen Herbstopfer, dem freudigen Erntedankfest:
dann steigt er selber vom hohen Himmel hernieder, in Noth mit
krachendem Getöse und mit Blitzesschnelle, dass er, kaum gerufen,
11
da ist, bei ruhigen Anlässen zwar gleichfalls rasch, aber gemüth-
licher und geräuschloser. Th. coishom.
15. Wal-lied.
1. Ein sanfter Morgenwind durchzieht
Des Forstes grüne Hallen,
Hell wirbelt der Vögel muntres Lied,
Die jungen Birken wallen.
2. Das Eichhorn schwingt sich von
Baum zu Baum,
Das Reh durchschlüpft die Büsche,
Viel hundert Käfer im schattigen Raum
Erfreu'n sich der Morgenfrische.
3. Und wie ich so schreit' im lustigen
Wald
Und alle Bäum' erklingen,
Und um mich her alles singt und schallt,
Wie sollt' ich allein nicht singen?
4. Ich singe mit starkem, freudigem Laut
Den, der die Wälder säet,
Und droben die luftige Kuppel gebaut
Und Wärm' und Kühlung wehet.
Ebert.
16. Ein Brief I)i'. Luthers an feinen kleinen Sohn Hans.
(Juni 1530.)
Gnade und Friede in Christo, mein liebes Söhnchen! Ich sehe gerne,
daß du wohl lernest und fleißig betest. Thue also, mein Söhnchen und
fahre fort. Wenn ich heim komme, so will ich dir einen schönen Jahrmarkt
mitbringen. Ich weiß einen hübschen, lustigen Garten, da gehen viele Kinder
innen, haben güldne Röcklein an und lesen schöne Äpfel unter den Bäumen
und Birnen, Kirschen, Spillinge*) und Pflaumen, singen, springen und sind
fröhlich, haben auch schöne kleine Pferdlcin mit güldenen Zäumen und silbernen
Sätteln. Da fragte ich den Mann, des der Garten ist, wes die Kinder wären.
Da sprach er: Es sind die Kinder, die gerne beten, lernen und fromm sind.
Da sprach ich: Lieber Mann, ich habe auch einen Sohn, heißt Hänschen
Luther; möchte er nicht auch in den Garten kommen, daß er auch solche
schöne Äpfel und Birnen essen möchte und solche feine Pferdlcin reite» und
mit diesen Kindern spielen? Da sprach der Mann: Wenn er gerne betet,
lernet und fromm ist, so soll er auch in den Garten kommen; Lippus und Jost
auch, und wenn sie alle zusammen kommen, so werden sie auch Pfeifen, Lauten
und allerlei Saitenspiel haben, auch tanzen und mit kleinen Armbrüsten schießen.
Und er zeigte mir dort eine feine Wiese im Garten, zum Tanzen zu-
gerichtet: da hiengen eitel güldne Pfeifen, Pauken und feine silberne Arm-
brüste; aber es war noch früh, daß die Kinder noch nicht gegessen hatten;
darum konnte ich des Tanzes nicht erharren und sprach zu dem Manne:
Ach, lieber Herr! ich will flugs hingehen und das alles meinem lieben Söhn-
lcin Hänschen schreiben, daß er ja fleißig bete und wohl lerne und fromm
sei, auf daß er auch in diesen Garten komme; aber er hat eine Muhme
Lene, die muß er mitbringen. Da sprach der Mann: Es soll ja sein, gehe
hin und schreibe ihm also.
Darum, liebes Söhnlein Hänschen, lerne und bete ja getrost und sage
es Lippus und Josten auch, daß sie auch lernen und beten, so werdet ihr
') Gelbe Pflaumen.
12
miteinander in den Garten kommen. Hiermit sei dem allmächtigen Gott
befohlen und grüße Muhme Lene und gib ihr einen Kuß von meinetwegen.
Dein lieber Vater Martinus Luther.
17. Die Schönheit der Natur.
1. Freuet euch der schönen Erde,
Denn sie ist wohl werth der Freud'!
O was hat für Herrlichkeiten
Unser Gott da ausgestreut!
2. Und doch ist sie seiner Füße
Reich geschmückter Schemel nur,
Ist nur eine schönbegabte,
Wunderreiche Creatur.
3. Freuet euch an Mond und Sonne
Und den Sternen allzumal,
Wie sie wandeln, wie sie leuchten
Über unserm Erdenthal.
4. Und doch sind sie nur Geschöpfe
Von des höchsten Gottes Hand,
Hingesät aus seines Thrones
Weites, glänzendes Gewand.
5. Wenn am Schemel seiner Füße
Und am Thron schon solcher Schein:
O was muß an seinem Herzen
Erst für Freud' und Wonne sein!
Spitta.
18. Die Hermannsschlacht.
Unter vielen deutschen Jünglingen, die nach Rom gekommen waren,
hatte der Kaiser Augnstus zwei aus edeln Geschlechtern mit Gunst und
Ehren besonders ausgezeichnet: den Marbod aus dem mächtigen Stamme
der Sueven und den Armin oder Hermann aus dem Stamme der
tapferen Cherusker. Dieser erhielt das römische Bürgerrecht und die Ritter-
würde; doch ob er gleich die Sprache der Römer gelernt hatte, das Rau-
schen der deutschen Eichen vergaß Hermann in Rom nicht. Um diese Zeit
waltete diesseit und jenseit des Rheines als römischer Statthalter Qnintilius
Barns. Die Deutschen haßten ihn; denn Barns nahm ihnen nicht bloß
ihr Hab' und Gut, sondern hatte sich auch vorgesetzt, ihnen das gute alte
Recht aus der Hand zu winden und die theure Sprache der Väter aus-
zudrängen, damit sie, auch wenn sie unter einander redeten, immer daran
denken sollten, daß sie nichts weiter seien, als Knechte des römischen Kaisers.
Von allen Deutschen empfand keiner die Unterdrückung mit größerer Scham
und mit heißerem Grimme, als jener edle Cheruskerjüngling Hermann, der
Sohn Siegmars. Er hatte sein deutsches Herz rein und unverderbt aus
Rom heimgebracht, während sein Bruder fort und fort den Römern diente
und sogar seinen ehrlichen deutschen Namen für den römischen Flavius
aufgab. Nach dessen Sinnesart inaß nun Barns, welcher, von Stolz ge-
blendet, die Kraft der Deutschen schon für gebrochen hielt, auch das Dichten
und Trachten Hermanns, und zog ihn, wie einen ganz römisch gewordenen
Mann, sogar ins Vertrauen. Hermann ließ ihn bei seinem Glauben, bis
das Werk der Befreiung, das er im Herzen trug, zur Reife gediehen sei.
Denn heimlich hatte er indessen die Besten seines Stammes, die er treu
und sreiherzig erfunden, zusammen berufen und mit ihnen in stiller Wald-
einsamkeit ernsten Rath gepflogen. Alle erkannten, daß für die Deutschen
nur darin Heil sei, wenn sie alle Römer, die im Lande saßen, wie böse
Raubthiere auf einem einzigen Treibjagen erschlügen. Dazu lud er die
13
zwischen den Eidgenossen. Denn Hermann, die Seele des Bundes, hatte
zuvor bedacht, daß Varus in solchem Falle nicht säumen werde, mit aller
Macht ins Feld zu ziehen. Und so kam's auch. Der Römer beschloß, ohne
Verzug aufzubrechen und Rache zu nehmen. Stolzen Muthes zog er mit
drei erprobten Legionen in die Berge an der Weser, in die Gegend, wo jetzt
Herford liegt. Rasch bot Hermann den Heerbann auf, und freudig hoben
die Eidgenossen die Schwerter, die Freiheit zu rächen. Auf wohlbekannten,
benachbarten Bructerer und Marsen und viele andere Gauvölker ein, und
alle schlossen mit den Cheruskern eine Eidgenossenschaft auf Noth und Tod,
und alle hielten für gut, die stolzen Römer durch erheuchelte Demuth eine
Weile noch immer sicherer zu machen. Dies Vorhaben gelang ihnen. —
In seinem Sommerlager an der Weser saß Varus, als er die Kunde er-
hielt, ein deutscher Stamm an der Ems habe sich erhoben und alle Römer,
die in seinen Marken wohnten, erschlagen. Also war's verabredet gewesen
14
kürzeren Wegen führte Hermann sie hinter den Römern her und fiel plötz-
lich deren Nachhut an. Da gebot Varus dem Heere, Halt zu machen, sich
zu verschanzen, so gut es gienge, und zu verbrennen, was von Gepäck über-
flüssig sei und im Zuge nur hindern könne. Am andern Tage rückte das
Heer, immer von den Deutschen umschwärmt, weiter und kam in das dicht-
bewaldete, sumpfige Thal, das die Berlebecke durchrinnt, in die Gegend von
Detmold, wo die hohe Tentoburg ragte. Da ward auf einmal jeder Busch
lebendig; aus jeder Bergschlucht raschelte es wie viele hundert Schlangen
empor, und die uralten Bäume schüttelten, wie sonst nach dem Wetter Regen-
tropfen, jetzt Pfeile ohne Zahl auf die Römer herab. Der Himmel wollte
auch nicht feiern und half den Deutschen mit Sturm und Regen. Von den
Güssen unterwühlt, sank die deutsche Erde unter den Füßen des Römers
ein; im losen Erdreich schwankend, vom Sturm gerüttelt, stürzten die deutschen
Eichen über die Unterdrücker hin und zermalmten sie im Falle. Jetzt nahmen
die Deutschen in Waidmannslust so recht die fremden Eber auf's Korn, die
ihnen die heilige Erde des Vaterlandes so lange aufgewühlt. Pfeil an Pfeil,
Fall an Fall! Schritt für Schritt kämpft der Feind um den Boden, auf
dem er steht, um den Weg, um jeden Baum, um jeden Stein, und kommt
nicht eher zu Athem, als bis die Nacht hereinbricht. Da läßt Varus aber-
mals Lager schlagen, und ermattet sinken die Römer hin; in jedem Augen-
blicke scheucht der Deutschen Kriegsgchcul sie aus der kürzen Nachtruhe
empor. Als der dritte Tag sich anhebt, entdecken sie erst, wie licht cs in
ihren Reihen geworden. Mann au Mann geschlossen, brechen sic auf und
kommen auf's offene Land, das die Senne heißt. Da sehen sie mit Grausen
die ganze Macht der Eidgenossen vor sich entfaltet. Ringsum Deutsche,
nirgends ein Ausweg! Für alle Tapferkeit ist nichts mehr feil als der Tod.
Jauchzend stürzen jetzt die Eidgenossen in der verzweifelten Römer starre
Reihen. „Die Freiheit, die Freiheit!" schallt's wie Donner des Himmels
den Römern in die Ohren. Wie die Saat unter Hagelschlossen, so sinken die
Tapfersten unter den deutschen Hieben hin. Hermann selbst ist überall.
Hier ordnet er als Feldherr die Schlacht und ruft: „Drauf, Brüder,
drauf!" Dort kämpft er mit der Kraft von zehn Männern, Stirn an Stirn;
kein Eidgenosse, der nicht mit ihm um den Preis wetteifert! Des Feindes
Scharen sind zersprengt; nur wenige wilde Haufen ragen noch aus dem
Meere der Schlacht empor. Jetzt wird die Flucht allgemein; doch wer sich
retten will, rennt wie blind gerade recht in die Spieße der Deutschen. Da
faßt den Varus Verzweiflung, und um sein Unglück nicht als Schmach
überleben zu müssen, stürzt er sich in sein Schwert. Nur wenige von dem
ungeheuern Römerheere entrinnen glücklich nach der Feste Aliso; die meisten
liegen auf dem Wahlplatze. — Wer in die Gefangenschaft kam, ward ent-
weder den Göttern zum Dank für die wieder errungene Freiheit geopfert,
oder zu gemeinem Frohndienstc in die Gauen der Eidgenossen geschleppt.
Das war die große Schlacht im Teutoburger Walde, die geschlagen
ward im neunten Jahre nach Christi Geburt. Als der Kaiser Angustus
die Kunde erhielt, daß die drei Legionen gefallen, stieß er in Verzweiflung
die Stirn an die Wand seines Palastes und rief aus: „O Varus, Varus,
gib mir meine Legionen wieder!" Ganz Rom war voll Entsetzens vor den
Deutschen und glaubte mit jedem Tage, sic drängen in ungeheuren Heer-
15
scharen, wie einst die Cimbern und Teutonen, gegen Wälschland vor.
Grundlose -Furcht! Nicht an Eroberung dachten die Sieger; die theure
Freiheit erlöst und die Zwingburgen im Lande gebrochen zu haben, war
ihnen genug. Dun-r.
19. Baterlandslied.
(1812.)
1. Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte,
Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß
Dem Mann in seine Rechte,
Drum gab er ihm den kühnen Muth,
Den Zorn der freien Rede,
Daß er bestände bis auf's Blut,
Bis in den Tod die Fehde.
2. So wollen wir, was Gott gewollt,
Mit rechter Treue halten,
Und nimmer im Tyrannensold
Die Menschenschädel spalten,
Doch wer für Tod und Schande sicht,
Den hauen wir zu Scherben,
Der soll im deutschen Lande nicht
Mit deutschen Männern erben.
3. ODeutschland.heil'gesVaterland!
O deutsche Lieb' und Treue!
Du hohes Land! du schönes Land!
Dir schwören wir auf's neue:
Dem Buben und dem Knecht die Acht!
Der füttre Kräh'n und Raben!
So zieh'n wir ans zur Hermannsschlacht
Und wollen Rache haben!
20. Siegfri
1. IungSiegfried war ein stolzerKnab',
Gieng von des Vaters Burg hinab.
2. Wollt'rasten nicht in Vaters Haus,
Wollt' wandern in alle Welt hinaus.
3. Begegnet' ihm manch Ritter werth
Mit festem Schild und breitem Schwert.
4. Siegfried nur einen Stecken trug,
Das war ihm bitter und leid genug.
5. Und als er gieng im finstern Wald,
Zu einer Schmiede kam er bald.
6. Da sah er Eisen und Stahl genug,
Ein lustig Feuer Flammen schlug.
4. Laßt brausen, was nur brausen kann,
In hellen, lichten Flammen!
Ihr Deutschen alle Mann für Mann
Für's Vaterland zusammen!
Und hebt die Herzen himmelan!
Und himmelan die Hände!
Und rufet alle Mann für Mann:
Die Knechtschaft hat ein Ende!
5. Laßt klingen, was nur klingen kann,
Die Trommeln und die Flöten!
Wir wollen heute Mann für Mann
Mit Blut das Eisen rothen,
Mit Henkcrsblut, Franzosenblut —
O süßer Trost der Rache!
Das klinget allen Deutschen gut,
Das ist die große Sache.
6. Laßt wehen, was nur wehen kann,
Standarten weh'n und Fahnen!
Wir wollen heut' uns Mann für Mann
Zum Heldentode mahnen:
Auf! fliege, stolzes Siegspanier,
Voran den kühnen Reihen!
Wir siegen oder sterben hier
Den süßen Tod der Freien.
E. M. Arndt.
lds Schwert.
7. „ O Meister, liebster Meister mein!
Laß du mich deinen Gesellen sein!
8. Und lehr' du mich mit Fleiß und
_ Acht,
Wie man die guten Schwerter macht!"
9. Siegfried denHammerwohlschwin-
gen kunnt,
Ec schlug den Aniboß in den Grund.
10. Er schlug, daß weit der Wald
erklang
Und alles Eisen in Stücke sprang.
16
11. Und von der letzten Eisenstang
Macht er ein Schwert, so breit und lang.
12. „Nun hab ich geschmiedet ein
gutes Schwert,
Nun bin ich wie andre Ritter werth.
13. Nun schlag' ich, wie ein andrer
Held,
Die Riesen und Drachen in Wald und
Feld."
Uhl and.
21. Ans der Nibelungensage.
s. Wie Siegfried hörnen würd.
In Niedcrland wohnte in uralter Zeit ein König, Namens Siegmnnd,
der weithin berühmt war durch seine große Macht. Dessen Sohn hieß
Siegfried; der Knabe war aber von unbändiger Kraft, und all sein Trachten
gieng dahin, daß er in die Fremde zöge, um Abenteuer zu bestehen. Endlich
gab der König dem Wunsche seines Sohnes nach und ließ ihn ziehen.
Siegfried kam bald in ein Dorf, das vor einem Walde lag. Dort
verdang er sich bei einem Schmied, um sich Waffen schmieden zu lernen.
Aber er schlug so gewaltig auf das Eisen, daß dieses zersprang und der
Ambos in die Erde getrieben ward. Der Meister fürchtete sich deshalb
vor ihm und suchte des wilden Gesellen sich wieder zu entledigen. Er
schickte ihn daher in den nahen Wald zu einem Köhler; aber unterwegs
mußte Siegfried an der Höhle eines greulichen Drachen und Lindwurms
vorbei, und dieser, dachte der Meister, würde den jungen Helden tobten.
Wirklich fuhr der Drache auf den nichts ahnenden Wanderer los, aber Sieg-
fried wehrte sich und erschlug ihn. Darauf gieng er weiter und gcrieth bald
in eine Wildniß, in welcher es von Drachen, Kröten und anderem giftigen
Gewürm wimmelte. Ohne sich zu besinnen, riß er eine Menge der stärksten
Bäume aus der Erde, warf sie auf die Unthiere und zündete dann den
ganzen Holzstoß an. Aber von der Glut begann die Hornhaut der Unge-
thüme zu schmelzen, und ein Strom von dieser Masse floß unter dem brennen-
den Haufen hervor. Neugierig tauchte Siegfried seinen Finger hinein, und
siehe da! als er erkaltet war, hatte ihn eine nndurchdringlichc Hornhaut
überzogen. Da bestrich sich der Held den ganzen Leib ans diesem trägen
Strom, und so ward er ganz mit Horn überzogen, also daß ihn kein Schwert
verwunden könnte; nur zwischen den Schultern blieb auf dem Rücken eine
Stelle, die er nicht zu erreichen vermochte. An dieser sollte er frühzeitig
den Tod empfangen.
2. Wie Siegfried Ariemhildeu suchte.
Hierauf zog Siegfried auf weitere Abenteuer in die Ferne und kam
nach Worms, am Rheine, wo der König Gibich herrschte. Derselbe hatte
drei Söhne und eine wunderschöne Tochter, Namens Kricmhild. Gern hätte
Siegfried diese als seine Gemahlin heimgeführt, und auch sie war dem
herrlichen jungen Helden gewogen: aber eines Mittags, als sie, in Gedanken
verloren, in einem offenen Fenster stand, kam ein riesiger Drache durch die
Luft dahergeflogen und entführte sie, um sie zu seiner Gemahlin zu machen.
Bon dem Feuer, welches er ausathmete, ward die Burg so hell erleuchtet,
als ob sie in Flammen stünde. Er trug sie aber weit, weit weg in eine
17
ungeheure Berghöhle, wo er sie mit Speise und Trank reichlich versorgte
und ihr alle Liebe und Freundlichkeit erwies; aber die'Jungfrau weinte und
klagte und sehnte sich nach ihrem elterlichen Hause, und dabei fürchtete sie
sich vor dem greulichen Ungethüm, denn wenn es athmete, so zitterte und
bebte der Berg unter ihm.
Der König Gibich schickte Boten aus nach allen Richtungen, um seine
verlorene Tochter zu suchen, aber keiner fand eine Spur von ihr. Darüber
war viele, viele Tage lang großes Trauern und Klagen in der Königsburg.
Siegfried aber ward indessen ein gewaltiger Held von solcher Stärke, daß
er Bären lebendig erjagte und zum Spott an die Bäume hieng. Doch
auch er fand trotz seines rastlosen Suchens nirgends die geraubte Jungfrau.
Da verfolgte sein treuester Hund eine seltsame Spur, und Siegfried jagte
ihm eifrig nach, ohne an Schlaf oder Trank und Speise zu denken, bis er
endlich am vierten Tage in einen wilden, unwegsamen Wald gerieth und
sich völlig verirrte. Hier wäre er wohl verloren gewesen trotz aller seiner
Stärke; aber als er laut über sein Mißgeschick klagte, kam der Zwergkönig
Eugel auf kohlschwarzem Rosse daher. Sein Kleid war von weißer Seide
und mit Gold durchwirkt; auf dem Haupte trug er eine prachtvolle Krone
mit so glänzenden Edelsteinen, daß der dunkle Wald davon erleuchtet ward.
Er begrüßte Siegfried freundlich, als ob er ihn lange gekannt hätte, dann
aber gebot er ihm schnell zu fliehen, weil ganz in der Nähe ein Drache
hause, der eine schöne Jungfrau gefangen halle; „wenn dieser dich erblickt",
sagte er, „so mußt du dein junges Leben in diesem Walde verlieren." Da
freute sich Siegfried, der gefangenen Kriemhild so nahe zu sein, und er er-
klärte dem Zwerge, daß er gerade gekommen sei, um sie zu befreien, aber
erschrocken rief Engel: „Du willst dich solches Dinges unterfangen? Hättest
du auch den halben Erdkreis bezwungen, so würde dir das doch nichts helfen;
die Jungfrau müßtest du hier auf dem Felsen lassen. Denn den Schlüssel
zu demselben bewahrt der Riese Kuperan, und che du auf die Höhe ge-
langtest, müßtest du mit ihm einen Kampf bestehen, wie er ans Erden noch
nicht gekämpft worden ist." Gerade dies aber lockte den kühnen Siegfried,
und was auch der gute Engel sagte, um ihn zu warnen, so blieb er doch
fest entschlossen, die geraubte Kriemhild ans allen Gefahren zu erretten.
3. Wie Siegfried den Riesen besiegte.
Nun führte der Zwerg den Helden an die Seite des Felsen, wo des
Riesen Behausung war. Siegfried rief laut in die Höhle hinein. Sofort
trat Kuperan hervor, bewaffnet mit einer weit über die Bäume hinaus-
ragenden Stange von Stahl, deren vier Kanten messerscharf waren und
die einen Klang gab wie eine Kirchenglocke. „Was willst du, junger Bursch,
in diesem Walde?" sprach der Riese. „Ich will die Jungfrau erlösen",
antwortete Siegfried, „welche auf diesem Felsen gefangen sitzt." „Hoho!"
sagte jener, „du kleiner Wicht, da müßtest du erst noch einige Ellen wachsen."
Jetzt holte der Riese mit seiner Stange aus, um Siegfried niederzu-
schlagen; aber dieser sprang schnell und gewandt fünf Klafter weit zurück,
und sausend fuhr die Stange tief in die Erde hinein. Ehe Kuperan sie
aber wieder herausgezogen hatte, sprang Siegfried hinzu und schlug ihm
2
18
mit seinem scharfen Schwerte fürchterliche Wunden. Von Schmerz über-
wältigt, ließ der Riese seine Stange fahren und floh in die Höhle zurück.
Aber bald trat er schrecklich gewaffnet wieder hervor. Ein goldener
Harnisch deckte seine Brust; an der Seite trug er ein riesiges, scharfes
Schwert, in der Linken aber einen Schild so groß wie ein Thor und einen
Schuh dick, und auf dem Haupte hatte er einen Helm von hartem Stahl,
der leuchtete wie der Glanz der Sonne auf den Meereswellen. Und nun
begann wieder der harte Kampf zwischen den beiden. Laut hallten die
Schläge durch den dunklen Wald, und die Funken stoben aus den Helmen,
daß die Finsterniß davon erhellt ward. Aber Siegfried unterlief das lange
Schwert des Riesen und hieb ihm den Panzer in Stücke und brachte dem
Unhold sechzehn tiefe Wunden bei, sodaß ihm das Blut vom Leibe troff.
Da flehte Kuperan uni sein Leben, und Siegfried sagte: „Gern will ich
es dir schenken, wenn du mir schwörst, mir die Jungfrau gewinnen zu helfen."
Das schwur der Riese, und so war zwischen beiden Friede gemacht; Sieg-
fried riß sich selbst sein Untergewand vom Leibe und verband mitleidig seines
Feindes Wunden damit.
fl. Me der Riese wegen seiner Treulosigkeit getödtet ward.
Als der siegreiche Held auf den Felsen hinauf eilte, um Kricmhild
zu suchen, nahm der tückische Riese, der hinter ihm hcrgieng, die günstige
Gelegenheit war und schlug ihn unversehens mit einem Faustschlagc zu Boden.
Da lag der edle Siegfried betäubt unter seinem Schilde; rothes Blut guoll
ihm aus Mund und Rase, und er schien todt zu sein. Ehe sein Feind ihn
aber vollends mordete, sprang schnell der Zwerg Engel, der immer in der
Nähe geblieben war, herbei und deckte über Siegfried eine Tarnkappe, die
die wunderbare Eigenschaft hatte, jeden, den sic umhüllte, unsichtbar zu
machen. Kuperan tobte vor Wuth, daß sein Gegner verschwunden war,
aber wie er auch von Baum zu Baum suchte, er vermochte ihn nicht wieder-
zufinden.
Inzwischen suchte der gute Zwerg den bewußtlosen Helden wieder zu
beleben. Als er die Augen endlich wieder aufschlug und seinen Retter neben
sich sah, sprach er: »Lohne dir Gott, du kleiner Mann, was du an mir
gethan hast." — „Ja", erwiderte der Zwerg, „da hätte cs dir schlimm
ergehen können. Aber nun folge auch meinem Rath und gib es auf, die
Jungfrau zu befreien." — Da sagte Siegfried: „Nimmermehr! Und wenn
ich tausend Leben hätte, so wollte ich sie alle uni die Jungfrau wagen."
Sobald er sich also einigermaßen erholt hatte, warf er die Tarnkappe
fort und stürmte von neuem ans den Riesen ein. Wieder schlug er ihm
acht tiefe Wunden, bis er um Gnade flehte. Wohl hätte der Treulose sic
nicht verdient, aber Siegfried bedachte, daß er ohne ihn nicht an den Drachcn-
stein gelangen könnte, und so schenkte er ihm abermals das Leben, jetzt
aber war er vorsichtiger und ließ ihn vorangehen.
So gelangten sie endlich an den Drachenstein. Ein unterirdischer Gang
führte zu der Thür desselben; der Riese schloß sie auf, und Siegfried steckte
den Schlüssel zu sich. Bald waren sie oben auf dem Felsen. Der Drache
war zum Glück ausgeflogen, die Jungfrau aber erkannte den Helden und
fleug vor Freuden an zu weinen und sprach: „Willkommen, du edler Sieg-
19
fried! Wie geht es meinem Vater und meiner Mutter zu Worms, und
wie leben meine Brüder?" Siegfried erzählte ihr alles und daß er ge-
kommen wäre, sic zu befreien. Indessen trat der Riese heran und sagte:
„Hier in der Erde liegt ein Schwert, mit welchem allein cs möglich ist,
den Drachen zu bezwingen." Das war freilich Wahrheit, aber die Absicht,
die der Riese bei diesen Worten hatte, war eine schlimme. Denn als Sieg-
fried sich bückte, um das Schwert in der Erde zu suchen, sprang jener herzu
und versetzte ihm einen fürchterlichen Schlag in den Rücken. Zornig wandte
sich der Held um, und nun begann ein Ringen der beiden, daß der Fels
erbebte. Siegfried riß dabei dem Riesen die alten Wunden mit Gewalt
wieder auf, sodaß ihm das Blut in Strömen herunterlief; endlich bat der
Unhold wieder um Gnade, aber Siegfried rief: „Das kann nicht sein.
Ich bedarf deiner nicht mehr, und nun soll dir deine Untreue vergolten
werden." Mit diesen Worten gab er dem Riesen einen Stoß, daß er
vom Rande des Felsens hinab taumelte und in der Tiefe zerschmettert ward.
5. Wie Siegfried mit dem Drachen kämpfte.
Kriemhild hatte bei diesem schrecklichen Kampfe die Hände gerungen
und zu Gott um Hülfe gerufen; auch jetzt noch zitterte und weinte sie,
aber Siegfried trat zu ihr und sprach: „Nun sei getrost, holdselige Jung-
frau ; noch bin ich nnbezwungen, und mit Gottes Hülfe werde ich auch wohl
dich befreien." Aber Kriemhild sagte: „Ich fürchte, daß noch schwerere
Kämpfe dir kommen, als bisher." „Ja", erwiderte Siegfried, „schlimm
wär' cs, wenn ich jetzt sogleich mit dem Drachen streiten sollte, denn es ist
heute der vierte Tag, daß ich nicht gegessen und getrunken, noch auch ge-
schlafen habe." Das hörte der Zwerg Engel und sogleich ließ er durch
eine Schar seines Volkes köstliche Speisen und Getränke auftragen.
Aber kaum hatte Siegfried zu essen angefangen, da erhub sich ein Ge-
töse, als stürzten die Berge zusammen. Ängstlich fuhren die Zwerge aus
einander, sich zu verstecken, und Kriemhild sprach: „Jetzt edler Held wird
cs unser Ende sein. Nun naht der Drache heran, von seinem Schnauben
kommt das Getöse." Aber Siegfried blieb getrost und ermuthigte auch die
Jungfrau. Da sah man einen hellen Feuerschein, der kam ans dem Rachen
des noch meilenweit entfernten Ungeheuers. Ängstlich zog Kriemhild den
Jüngling in eine Höhle herein, um hier das Weitere zu erwarten. Da
erschien der Drache; wie er an den Felsen herauslog, bebte die ganze Erde
ringsumher. Sofort trat Siegfried ans der Höhle, mit der Rechten das
Schwert führend, das ihin der Riese gezeigt hatte. Fürchterliche Schläge
versetzte er dem Drachen, aber dieser riß ihm mit seinen Krallen den Schild
weg, und so fühlte er immer schrecklicher die Glut, die aus dem Rachen des
Ungethüms hervorgehaucht ward; sie erhitzte den Felsen so, als wär' er
glühendes Eisen. Unerträglich ward endlich die Qual, immer gieriger
züngelten rothe und blaue Flammen ihm entgegen. Endlich mußte er fliehen,
doch vergaß er nicht Kriemhildens; schnell zog er sie mit in eine kleine
Höhle hinein, in welche der Drachen ihnen nicht folgen konnte. Hier er-
blickte er einen unendlichen Schatz von Gold und Edelgestein; es war der
Hort des unterirdischen Zwergenvolkes, der Nibelungen, welche vor dem
20
Getöse des Kampfes ängstlich geflohen waren; Siegfried aber meinte, daß
es der Schatz des Drachen sei.
Nach einiger Zeit, als er sich erholt hatte, ergriff er wieder sein Schwert
und begann den Kampf von neuem. Die Glut der blauen und rothen
Flammen, die das Unthier gegen ihn spie, brachte ihn wieder in große Noth;
er mußte auf die Seite springen, aber nun versuchte das Ungeheuer mit
seinem Schwänze ihn zu umringet», und nur mit genauer Noth entgieng er
diesen Umarmungen. Von den wiederholten Schlägen aber und von der
gewaltigen Hitze begann allmählich die Hornhaut des Drachen weich zu
werden; als Siegfried das merkte, nahm er alle seine Kraft zusammen und
führte einen so gewaltigen Hieb auf das Thier, daß er es von oben bis
unten mitten hindurch spaltete und die eine Hälfte vvni Rande des Felsens
in die Tiefe sank.
6. Wie Siegfried und Uriernhild heimkehrten.
So war Kriemhild gerettet, und freudenvoll eilte sie auf ihren Be-
freier zu. Aber der war von der ungeheuren Anstrengung bis zum Tode
erschöpft; ohnmächtig sank er zusammen, und lange lag er bewußtlos da.
Darüber erschrak Kriemhild so, daß auch ihr die Sinne vcrgiengcn und sie
wie eine Todte neben dem Helden lag. Endlich nach langer Zeit schlug
Siegfried die Augen auf; als er aber die Jungfrau wie todt neben sich
sah, brach er in laute Klagen aus und rief: „O weh mir, daß ich dies
erleben soll! Die ich in Freuden ihrem Vater wieder heimführen wollte,
die muß ich nun todt ihm bringen? Des werd' ich ewig klagen müssen."
Das hörte der Zwerg Engel, der sich inzwischen, wie es stille auf dem
Felsen geworden war, wieder hervorgewagt hatte. Schnell kam er herbei
und sagte: „Sei nur getrost! ich will der Jungfrau ein Kraut eingeben,
daß sie bald wieder gesund wird." So that er, und alsbald schlug sie die
Augen wieder auf. Da fiel sie freudenvoll ihrem Retter Siegfried um den
Hals und küßte ihn auf den Mund. Engel aber sprach: „Du hast uns
Zwerge von dem bösen Riesen, dem wir dienen mußten, befreit; dafür wollen
wir nun auch dir dienen und dir helfen, wo wir können." Darnach führte
er Siegfried und Kriemhild in seine Wohnung, und hier erholten sie sich
bei köstlichen Speisen und Getränken vollends von den überstandcncn Mühen
und Ängsten. Dann nahmen sie Abschied von dem guten Zwerg, um gen
Worms zu reiten; denn sein treues Roß fand Siegfried noch unten ani
Fuße des Berges.
Als sie aber eine kurze Strecke geritten waren, fiel Siegfried ein, daß
der Schatz, den er im Berge gesehen hatte, ihm als dem Besieger des
Drachen gehöre, denn er wußte ja nicht, daß es der Hort der Nibelungen,
des guten Zwergvolkes, sei. So ritt er zurück und lud den Schatz auf
sein Roß. Derselbe brachte ihm aber kein Glück.
Am Hofe zu Worms wurden nun Siegfried und Kriemhild mit großen
Freuden empfangen, und bald ward ihre Vermählung mit aller Pracht ge-
feiert. Es war ein herrliches Königspaar, und sie regierten mit großer
Weisheit und Gerechtigkeit; mit ihrem Golde linderten sie, wo sic konnten,
jede Noth der Armuth.
21
Aber ihr großes Glück erregte bald den Neid von Kriemhildens Brüdern.
Sic stifteten den grimmigen und düsteren Hagen an, Siegfried zu ermorden.
Nach betn Volksbuchs.
7. Wie Siegfried erschlagen ward.
Sechzehntes Abenteuer aus dem Nibelungenliede.
1. Günther und Hagen, die Recken wohlgethan,
Beriethen mit Untreuen ein Birschen in den Tann.
Mit ihren scharfen Spießen wollten sie jagen gehst:
Bären, Schwein und Büffel; was konnte Kühnstes gescheh'n?
2. Da ritt auch mit ihnen Siegfried mit stolzem Sinn.
Man bracht' ihnen Speise mancherlei dahin.
An einem kalten Brunnen verlor er bald den Leib;
Brunhild hat es gerathen, Günther des Königes Weib.
3. Da gieng der kühne Degen, wo er Kriemhilden fand.
Schon war aufgesäumet das edle Birschgewand
Für ihn und die Gesellen: sic wollten über Rhein.
Da konnte Kriemhilden nicht übler zu Muthe sein.
4. Seine liebe Traute küßt er an den Mund:
„Gott lasse mich dich, Franc, noch wiedcrseh'n gesund,
Und mich auch deine Augen; mit holden Freunden dein
Verkürze dir die Stunden; ich kann nun nicht bei dir sein."
_ 5. Da gedachte sie der Märe, sic durft' es ihm nicht sagen,
Die sie Hagen sagte; da begann zu klagen
Die edle Königstochter, daß sie das Leben gewann:
Wie da manche Thräne dem wunderschönen Weib entrann!
6. Sie sprach zu dem Recken: „Laßt euer Jagen sein!
Mir träumte heut' von Leide, wie euch zwei wilde Schwein'
Auf der Heide jagten; da wurden Blumen roth.
Daß ich so bitter weine, das thut mir sicherlich noth.
7. „Ich fürchte sehr und bange vor Etlicher Verrath.
Hier sind gewißlich welche, die man erzürnet hat;
Die könnten uns verfolgen mit feindlichem Haß.
Bleibt hier, mein lieber Herrc, mit Treue rath' ich euch das."
8. „Meine liebe Traute, ich kehr' in kurzer Zeit;
Ich weiß nicht, daß hier jemand mir Haß trüg' oder Neid.
Alle deine Freunde sind insgemein mir hold;
Auch verdient' ich von den Degen wohl nimmer anderlei Sold."
9. „Nicht doch, lieber Siegfried, wohl fürcht' ich deinen Fall.
Mir träumte heut' von Leide, wie über dir zu Thal
Fielen zwei Berge, daß ich dich nie mehr sah;
Und willst du von mir scheiden, das geht mir inniglich nah."
10. Er nmfieng mit Armen das tngcndreichc Weib,
Mit holdem Kusse herzt' er ihren schönen Leib.
Dann nahm er Urlaub und schied in kurzer Stund';
Sie ersah ihn leider darnach nicht wieder gesund.
11. Da ritten sie von bannen in einen tiefen Tann.
Der Kurzweil willen folgte manch' kühner Rittersmann
Günthern dem Könige und Siegfrieden nach.
Geiselher der Ruhe daheim mit Gernoten pflag.
12. Manch Sanmroß zog beladen vor ihnen Überrhein,
Das den Jagdgesellen das Brot trug und den Wein,
Das Fleisch mit den Fischen und Speisen mancher Art,
Wie sie ein reicher König wohl haben mag auf der Fahrt.
13. Da ließ man Herbergen bei dem Walde grün
Vor des Wildes Wechseln die stolzen Jäger kühn.
Als sie da jagen wollten auf breitem Angergrnnd.
Da war auch Siegfried kommen: das ward dem Könige kund.
14. Von den Jagdgesellen ward umhergestellt
Die Wart allen an Enden: da sprach der kühne Held,
Siegfried der starke: „Wer soll uns in den Tann
Nach dem Wilde weisen? ihr Degen kühn nnd wohlgethan."
15. „Wollen wir nns scheiden", hub da Hagen an,
„Ehe wir beginnen zu jagen hier im Tann?
So mögen wir erkennen, ich und die Herren mein,
Wer die besten Jäger bei dieser Waldreise sein.
16. „Die Leute und die Hunde, wir theilen uns darein:
Dann fährt, wohin ihn lüstet, Jeglicher allein,
Und wer das Beste jagte, dem sagen wir den Dank."
Da weilten die Jäger bei einander nicht mehr lang.
17. Da sprach der Herre Siegfried: „Der Hunde hab' ich Rath,
Ich will nur einen Bracken, der so genossen hat,
Daß er des Wildes Fährte spüre durch den Tann:
Wir kommen wohl znm Jagen!" so sprach der Kriemhilde Mann.
18. Da nahm ein alter Jäger einen Spllrhnnd
Und brachte den Herren in einer kurzen Stund',
Wo sie viel Wildes fanden: was da vertrieben ward,
Das erjagten die Gesellen, wie heut' noch guter Jäger Art.
10. Was da der Bracke scheuchte, das schlug mit seiner Hand
Siegfried der kühne, der Held von Niederland.
Sein Roß lief so geschwinde, daß ihm nicht viel entrann:
Das Lob er bei dem Jagen vor ihnen Allen gewann.
20. Er war in allen Dingen mannhaft genug.
Das Erste von den Thieren, die er zu Tode schlug, _
Das war ein starkes Halbschwein, wohl mit eigner Hand;
Nicht lang darauf der Degen einen ungefügen Lenen fand.
21. Als den der Bracke scheuchte, schoß er ihn mit dem Bogen
Und dem scharfen Pfeile, den er darauf gezogen:
Der Len lief nach dem Schusse kaum dreier Sprünge lang.
Seine Jagdgesellen, die sagten Siegfrieden Dank.
22. Darnach schlug er wieder einen Büffel und einen Elk,
Vier starke Auer nieder und einen grimmen Schelk.
So schnell trug ihn die Mähre, daß ihm nichts entsprang:
Hinden und Hirsche wurden viele sein Fang.
23
23. Einen großen Eber trieb der Spürhund auf.
Als der flüchtig wurde, da kam in schnellem Lauf
Derselbe Jagdmeister und nahm ihn wohl auf's Korn:
Anlief den kühnen Degen der Eber in großem Zorn.
24. Da schlug ihn mit dem Schwerte der Kriemhilde Mann:
Das hätt' ein andrer Jäger nicht so leicht gethan.
Als er ihn gcfällct, fleug man den Spürhund.
Da ward sein reiches Jagen den Bürgenden alle kund.
25. Da sprachen seine Jäger: „Kann es füglich sein,
So laßt uns, Herr Siegfried, des Wild's ein Theil gedeih'n:
Ihr wollt uns heute leeren den Berg und auch den Tann."
Darob begann zu lächeln der Degen kühn und wohlgethan.
26. Da vernahm man allenthalben Lärmen und Getos.
Von Leuten und von Hunden ward der Schall so groß,
Dian hörte widerhallen den Berg und auch den Tann.
Viernndzwanzig Hunde hatten die Jäger losgcthan.
27. Da wurde viel des Wildes vom grimmen Tod ereilt.
Sie wähnten es zu fügen, daß ihnen zugetheilt
Der Preis des Jagens würde: das konnte nicht gescheh'n,
Als bei der Feuerstätte der starke Siegfried ward geseh'n.
28. Die Jagd war zu Ende, und doch nicht ganz und gar.
Die zu der Herberg' wollten, brachten mit sich dar
Häute mancher Thiere, dazu des Wild's genug.
Hei! was man zur Küche vor das Ingesinde trug!
29. Da ließ der König künden den Jägern wohlgeborn,
Daß er zum Imbiß wolle; da wurde laut in's Horn
Einmal gestoßen: also ward bekannt,
Daß man den edeln Fürsten bei den Herbergen fand.
30. Da sprach ein Jäger Siegfrieds: „Herr, ich hab' vernommen
An eines Hornes Schalle, daß mir nun sollen kommen
Zu den Herbergen: erwidr' ich's, das behagt."
Da ward nach den Gesellen mit Blasen lange gefragt.
31. Da sprach der König Siegfried: „Nun räumen wir den Wald."
Sein Roß trug ihn eben, die Andern folgten bald.
Sie verscheuchten mit dem Schalle ein Waldthier fürchterlich,
Einen wilden Bären; da sprach der Degen hinter sich:
32. „Ich schaff' uns Jagdgesellen eine Kurzweil.
Da seh' ich einen Bären: den Bracken löst vom Seil.
Zu den Herbergen soll mit uns der Bär:
Er kann uns nicht entrinnen und flöh' er auch noch so sehr."
33. Da lösten sie den Bracken, gleich sprang der Bär hindann.
Da wollt' ihn erretten der Kriemhilde Mann:
Er fiel in ein Geklüfte, da konnt' er ihm nicht bei:
Das starke Thier wähnte von den Jägern sich schon frei.
34. Da sprang von seinem Rosse der stolze Ritter gut
Und begann ihm nachzulaufen. Das Thier war ohne Hut;
Es konnt' ihm nicht entrinnen, er ficng es allzuhand;
Ohn' es zu verwunden, der Degen eilig es band.
24
35. Kratzen oder beißen konnt' cs nicht den Mann.
Er band es auf den Sattel, aufsaß der Schnelle dann;
Er bracht' cs zu dem Herde in seinem hohen Muth
Zu einer Kurzweile, der Degen edel und gut.
36. Er ritt zur Herberge in welcher Herrlichkeit!
Sein Spieß war ungefüge, stark dazu und breit;
Eine schmucke Waffe hieng ihm herab bis auf den Sporn;
Von rothcni Golde führte der Degen ein schönes Horn.
37. Von besserm Birschgewande hört' ich niemals sagen.
Ein Rock von schwarzem Zeuge sah' man ihn tragen
Und einen Hut von Zobel, reich war der genug.
Hei! was für Borten an seinem Köcher er trug!
38. Von einem Panther war darüber gezogen
Ein Vließ des Ruches wegen. Auch trug er einen Bogen,
Den man mit einer Winde mußte ziehen an.
Wenn man ihn spannen wollte; er hätt' es selbst denn gethan.
39. Von der Haut des Luchses war sein ganz Gewand,
Das man von Kopf zu Füßen bunt überstreuet fand.
Aus dem lichten Ranchwerk zu beiden Seiten hold
Schien an dem kühnen Jäger manche Borte von Gold.
40. Auch führt' er Balmungen, das breite schmucke Schwert:
Das war scharf und schneidig, nichts blieb unversehrt,
Wenn man es schlug auf Helme; seine Schneiden waren gut.
Der herrliche Jäger, der trug gar hoch seinen Muth.
4L Weil ich euch der Märe ganz bescheiden soll,
So war sein edler Köcher guter Pfeile voll.
Mit goldnen Röhren, die Eisen händebreit;
Wen er damit getroffen, dem war das Ende nicht weit.
42. Da ritt der edle Degen weidlich aus dem Tann.
Ihn sahen zu sich kommen die in Günthers Bann.
Sie liefen ihm entgegen und hielten ihm das Roß:
Da führt' er auf dem Sattel einen Bären stark und groß.
43. Als er vom Roß gestiegen, löst er ihm das Band
Vom Mund und von den Füßen: die Hunde gleich zur Hand
Begannen laut zu heulen, als sie den Baren sah'n.
Das Thier zum Walde wollte: das erschreckte manchen Mann.
44. Der Bär in die Küche von dem Lärm gerieth;
Hei! was er von dem Feuer die Küchenknechte schied!
Gerückt ward mancher Kessel, zerzerret mancher Brand;
Hei! was man guter Speisen in der Asche liegen fand!
45. Da sprangen von den Sitzen die Herren und ihr Bann.
Der Bär begann zu zürnen; der König wies sie an,
Der Hunde Schar zu lösen, die an den Seilen lag;
Und wär' es wohl geendet, sie hätten fröhlichen Tag.
46. Mit Bogen und mit Spießen, man versäumte sich nicht mehr,
Liesen hin die Schnellen, wo da gicng der Bär;
Doch wollte niemand schießen, von Hunden war's zu voll. •
So laut ward das Getöse, daß rings der Bcrgwald erscholl.
25
47. Der Bär begann zu fliehen vor der Hunde Zahl;
Ihm konnte niemand folgen als Kriemhilds Gemahl.
Er erlief ihn mit dem Schwerte, zu Tod er ihn da schlug.
Wieder zu dem Feuer das Gesind' den Bären trug.
48. Da sprachen, die cs sahen, er wär' ein starker Mann.
Die stolzen Jagdgesellen rief man zu Tisch heran;
Auf einem schönen Anger saßen ihrer genug.
Hei! was man Ritterspeise vor die stolzen Jäger trug!
49. Die Schenken waren säumig, sie brachten nicht den Wein;
So gut bedienet mochten sonst Helden nimmer sein.
Wären ihrer manche nicht so falsch dabei,
So wären wohl die Recken aller Schanden bar und frei.
50. Da sprach der Herrc Siegfried: „Mich verwundert sehr,
Man bringt uns aus der Küche doch so viel daher,
Was bringen uns die Schenken nicht dazu den Wein?
Pflegt man so der Jäger, will ich nicht Jagdgeselle sein.
51. „Ich hätt' es wohl verdienet, bedächte man mich gut."
Von seinem Tisch der König sprach mit falschem Muth:
„Man soll euch künftig büßen, was heut' uns muß entgeh'n;
Die Schuld liegt an Hagen, der will uns verdursten sehn."
52. Da sprach von Tronje Hagen: „Lieber Herrc mein,
Ich wähnte, das Birschen sollte heute sein
In dem Spcchtsharte: den Wein saudt' ich dahin.
Heut' gibt es nichts zu trinken; doch vermeid' ich's künftighin."
53. Da sprach der Niederländer: „Ich sag' euch wenig Dank!
Man sollte sieben Säumer mit Meth und Lautertrank
Mir hergesendet haben; konnte das nicht sein,
So hätte man uns besser gesiedelt näher dem Rhein."
54. Das wurde da nicht inne der vcrrath'ne kühne Mann,
Daß man solche Tücke wider sein Leben spann.
Er war in hoher Tugend alles Falsches bloß;
Seines Todes mußt' entgelten, der nie Gewinn davon genoß.
55. Da spräche von Tronje Hagen: „Ihr cdeln Ritter schnell,
Ich weiß hier in der Nähe einen kühlen Quell;
Daß ihr mir nicht zürnet, da rath' ich hinzugeh'n."
Der Rath war manchem Degen zu großer Sorge gescheh'n.
56. Siegfried den Recken zwang des Durstes Noth;
Den Tisch er wegzurücken so zeitiger gebot:
Er wollte vor die Berge zu dem Brunnen geh'n.
Da war der Rath aus Arglist von den Recken gescheh'n.
57. Man hieß das Wild aufsäumen und führen in das Land,
Das da verhauen hatte Siegfriedens Hand.
Wer es auch sehen mochte, sprach Ehr' und Ruhm ihm nach;
Hagen seine Treue sehr an Siegfrieden brach.
58. Als sie von dannen wollten zu der Linde breit,
Da sprach von Tronje Hagen: „Ich hörte jederzeit,
Es könnte niemand folgen Kriemhilds Gemahl,
Wenn er rennen wolle; hei! schauten wir das einmal!"
26
59. Da sprach von Niederlanden Siegfried der Degen kühn:
„Das mögt ihr wohl versuchen: wollt ihr zur Wette hin
Mit mir an den Brunnen? Wenn der Lauf geschieht,
Soll der gewonnen haben, welchen man gewinnen sieht."
60. „Wohl, laßt es uns versuchen", sprach Hagen der Degen.
Da sprach der starke Siegfried: „So will ich mich legen
Hier zu euren Füßen nieder in das Gras."
Als er das erhörte, wie lieb war König Günthern das!
61. Da sprach der kühne Degen: „Ich will euch mehr noch sagen:
All' mein Geräthe will ich mit mir tragen,
Den Speer sammt dem Schilde, dazu mein Birschgewand."
Das Schwert und den Köcher er um die Glieder schnell sich band.
62. Abzogen sie die Kleider von dem Leibe da;
In zwei weißen Hemden man Beide stehen sah.
Wie zwei wilde Panter liefen sic durch den Klee;
Man sah bei dem Brunnen den kühnen Siegfried doch eh.
63. Den Preis in allen Dingen vor manchem man ihm gab.
Da löst er schnell die Waffe, den Köcher legt' er ab.
Den starken Wurfspieß lehnt' er an den Lindenast:
Bei des Brunnen Flusse stand der herrliche Gast.
64. Siegfricdens Tugenden waren gut und groß.
Den Schild legt' er nieder, wo der Brunnen floß:
Wie sehr ihn auch dürstete, der Held nicht eher trank,
Bis der Wirt getrunken: dafür gewann er Übeln Dank.
65. Der Brunnen war lauter, kühl und auch gut;
Da neigt sich Günther hernieder zu der Flut.
Als er getrunken hatte, erhob er sich hindann;
Also hätt' auch gerne der kühne Siegfried gethan.
66. Da entgalt er seiner Tugend; den Bogen und das Schwert
Trug Hagen beiseite von dem Degen werth.
Tann sprang er schnell zurücke, wo er den Wurfspieß fand,
Und sah nach einem Zeichen an des Kühnen Gewand.
67. Als Siegfried der Degen aus dem Brunnen trank,
Schoß er ihm durch das Kreuze, daß aus der Wunde sprang
Das Blut seines Herzens hoch an Hägens Staat.
Kein Held begeht wieder also große Missethat.
68. Den Wurfspieß im Herzen ließ er ihn stecken tief:
Wie im Fliehen Hagen da so grimmig lief,
So lief er wohl auf Erden nie vor einem Mann!
Als sich der starke Siegfried der großen Wunde besann,
69. Der Held in wildem Toben von dem Brunnen sprang;
Ihm ragte von den Schultern eine Speerstange lang.
Nun wähnt' er da zu finden Bogen und Schwert,
So hätt' er Lohn Herrn Hagen wohl nach Verdienste gewährt.
70. Als der Todwunde das Schwert nicht wiederfand,
Da blieb ihm nichts weiter, als der Schildesrand.
Den hob er von dem Brunnen und rannte Hagen an;
Da konnt' ihm nicht entrinnen König Günthers Unterthan.
fj - / ~~ “ " \ 7 ’
27 ----
71. Wie wund er war zum Tode, so kräftig doch er schlug,
Daß von dem Schilde nieder rieselte genug
Des edeln Gesteines; der Schild zerbrach auch fast!
So gern gerochen hätte sich der herrliche Gast.
72. Gestrauchelt war da Hagen von seiner Hand zu Thal;
Der Anger von den Schlügen erscholl im Widerhall.
Hätt' er sein Schwert in Händen, so wär' es Hägens Tod.
Sehr zürnte der Wunde; es zwang ihn wahrhafte Noth.
73. Seine Farbe war erblichen, er konnte nicht mehr steh'n.
Seines Leibes Stärke mußte ganz zergeh'n,
Da er des Todes Zeichen in lichter Farbe trug.
Er ward hernach beweinet von schönen Frauen genug.
74. Da fiel in die Blumen der Kriemhilde Mann:
Das Blut von seiner Wunde stromweis niederraun.
Da begann er Die zu schelten, ihn zwang die große Noth,
Die da gerathen hatten mit Untreue seinen Tod.
75. Da sprach der Todwunde: „Weh', ihr bösen Zagen,
Was helfen meine Dienste, da ihr mich habt erschlagen?
Zch war euch stets gewogen und sterbe nun daran:
Ihr habt an euern Freunden leider übel gethan."
(Übersetzt von S i m r o ck.
8. Ariemhildens Rache.
Hagen verhehlte nicht, daß er Siegfried gctödtet habe, und Kriemhild,
die bei ihren Brüdern in Worms geblieben war, sann auf Rache.
Nach einer Reihe von Jahren kam der Markgraf Rüdiger nach Worms
und warb für Etzel, den Hunnenkönig, um Kriemhild; da ihr Rüdiger
versprach, ihr immer beizustehen, folgte sie ihm und ward Etzels Gemahlin;
sie gedachte aber immer noch daran, wie sie Siegfried rächen könne. Auf
ihre Bitte lud nach einiger Zeit Etzel die Burgunden zu einem großen Feste
I em; Hagen warnte und widerrieth den Zug, er wurde aber nicht gehört;
die drei Könige bereiteten sich zum Zuge, Günther und seine Brüder
Gernot und Giselher; es zogen mit Hagen von Trouje und sein
Bruder Daukwart, und Volker von Alz ei, ein tapfrer Ritter und
geschickter Spielmann, dazu ein ganzes Heer von Rittern und Knechten. Als
sie an die Donau kamen, fand Hagen Wasserweiber; die verkündeten ihm, daß
niemand lebend zurückkehren werde außer dem Kapellan des Königs. Hagen
, fand eine Fähre, erschlug den riesigen Fährmann, und setzte das ganze Heer
über. Sie zogen durch Baiern und kamen nach Bechlarn zu Markgraf
Rüdiger, der sie freundlich aufnahm; hier wurde die Verlobung Giselhers
mit Rüdigers Tochter Dietlinde gefeiert; Giselher aber sah seine Braut
nicht wieder.
Als sie an Etzels Hof kamen, ritt ihnen König Dietrich von Bern
entgegen und warnte sie vor Kriemhild, die Siegfrieds Tod noch nicht ver-
gessen habe; deshalb legten auch die Burgunden die Waffen nicht ab, ob-
wohl Kriemhild es verlangte. Diese wurde noch mehr dadurch gereizt, daß
Volker und Hagen, welche beide gelobt hatten, sich bis zum Tode nicht
28
mehr zu trennen, vor ihr nicht aufstanden, wobei noch Hagen Siegfrieds
Schwert über seine Knie legte.
Kriemhild bot nun große Schätze allen, die gegen die Burgunden
kämpfen wollten. Zuerst ließ sich Etzels Bruder Blödelin dazu bewegen,
der mit den Hunnen die Knechte in den Herbergen überfiel: sie wurden
nach tapferer Gegenwehr alle erschlagen, Btödelin aber wurde von Dank-
wart getödtet, der sich hindurchschlug und, mit Blut beronneu, in den Saal
kam, wo Etzel mit seinen Gästen au der Tafel saß. Da sprang Hagen
auf und schlug dem kleinen Sohne Etzels das Haupt ab, dann schlug er
den Spielleuten Werbel und Swemmelin die Hände ab, weil sie die
Einladung überbracht hätten; nun entstand im Saale ein allgemeiner Kampf,
bis Dietrich von Bern für sich und die Seinen freien Abzug begehrte:
unter seinem Schutze verließen auch Etzel und Kriemhild den Saal.
Darauf entbrannte der Kampf wieder und ruhte nicht eher, als bis
die Hunnen im Saale sämmtlich erschlagen waren. Kriemhild trieb aber
andere Dienstmannen zum Kampfe gegen die Burgunden, und Abends ließ
sie Feuer an das Gebäude legen, sodaß die Burgunden sich an die steinernen
Wände stellen und mit den Schilden gegen die herabfallenden brennenden
Balken schützen mußten. Am Morgen begann der Kampf anfs neue; auch
Rüdiger, der nicht gegen die Gäste kämpfen wollte, die er selbst au den
Hof geleitet hatte, mußte gegen sie streiten; er und Gernot erschlugen sich
gegenseitig.
Nun ließen sich auch Dietrichs Leute trotz seines Verbots zum Kampfe
verleiten, und da Dietrichs alter Waffenmeister Hildebraud sah, daß er
sie nicht zurückhalten könne, stellte er sich au die Spitze. Dietrichs Mannen
wurden alle erschlagen, Hildebrand selbst entkam nur mit einer Wunde;
aber von den Burgunden lebten nur noch Günther und Hagen. Als
Dietrich Hildebrands Wunde sah, rief er nach seinen Leuten, hörte aber
zu seinem Schmerze, daß Hildebrand allein noch übrig sei; er rüstete sich nun
zum Kampfe und überwand und band zuerst Hagen, dann auch Günther,
die Helden waren zu sehr ermattet; er führte beide zu Kriemhild und em-
pfahl sie ihrer Gnade. Kriemhild trat zuerst zu Hagen und fragte, ob
er jetzt sagen wolle, wo der Schatz im Rheine verborgen sei. Hagen er-
widerte: „Ich habe geschworen, den Ort nicht zu verrathen, so lange Günther
lebt." Da schlug Kriemhild ihrem Bruder das Haupt ab und trug es zu
Hagen, der aber rief: „Den Schatz weiß nun niemand, als Gott und ich
allein; er soll dir bösem Weibe immer wohl verhohlen sein!" Als sie nun
auch Hagen das Haupt abschlug, sprang der alte Hildebraud zornig hinzu
und todtete sie mit einem Streiche seines Schwertes; König Etzel aber be-
klagte all' die gefallenen Helden. Schone.
22. Kindesdank.
Ein Fürst traf aus einem Spazierritte einen fleißigen und frohen Land-
mann bei dem Ackergeschäfte an und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein.
Nach einigen Fragen erfuhr er, daß der Acker nicht sein Eigenthum sei,
sondern daß er als Tagelöhner um zwölf Groschen arbeite. Der Fürst,
der für sein schweres Regierungsgeschäft freilich mehr Geld brauchte und zu
verzehren hatte, konnte cs in der Geschwindigkeit nicht ausrechnen, wie cs
möglich sei, täglich mit zwölf Groschen auszureichen und noch so frohen
Muthes dabei zu sein, und verwunderte sich darüber. Aber der brave Mann
im Zwilchrocke erwiderte ihm: „Es wäre mir übel gefehlt, wenn ich so
viel brauchte. Mir muß ein Drittheil davon genügen. Mit einem Drit-
theil trage ich meine Schulden ab, und das letzte Drittheil lege ich auf
Kapitalien an." Das war dem guten Fürsten ein neues Räthsel. Aber
der fröhliche Landmaun fuhr fort und sagte: „Ich theile meinen Verdienst
mit meinen armen Eltern, die nicht mehr arbeiten können und mit meinen
Kindern, die es erst lernen müssen. Jenen vergelte ich die Liebe, die sie
mir in meiner Kindheit erwiesen haben, und von diesen hoffe ich, daß sie
mich einst in meinem müden Alter auch nicht verlassen werden.« War das
nicht artig gesagt, und noch schöner und edler gedacht und gehandelt? Der
Fürst belohnte die Rechtschaffenheit des wackern Mannes, sorgte für seine
Söhne, und der Segen, den ihm seine sterbenden Eltern gaben, wurde ihm
im Alter von seinen dankbaren Kindern durch Liebe und Unterstützung red-
lich entrichtet. P- Hebel.
23. Gottes Zucht.
1. Wenn alles eben käme.
Wie du gewollt es hast,
Und Gott dir gar nichts nähme,
Und gab' dir keine Last;
Wie wär's da um dein Sterben,
Du Menschenkind, bestellt?
Du müßtest gar verderben,
So lieb wär' dir die Welt.
2. Nun fällt — eins nach dem andern —
Manch süßes Band dir ab,
Und heiter kannst du wandern
Gen Himmel durch das Grab;
Dein Zagen ist gebrochen,
Und deine Seele hofft. —
Dies ward schon oft gesprochen,
Doch spricht man's nie zu oft.
de la Motte-Fouque.
24. Stand
1. Kennst du den Ackersmann?
Darfst nicht sein Kleid betrachten
Und seine Armuth «erachten;
Gott der Herr wies ihn an,
Daß er mit Fleiß das Feld
Ackert und wohl bestellt.
Gott der Herr selber giebt
Dann zu dem Werk das Gelingen,
Lässet es Früchte bringen,
Weil er den Bauer liebt;
Schenket ihm Brot für sich
Und auch dazu für dich.
2. K ennst du d cn H a nd w e r k s m a n n?
Hat wohl gar harte Hände,
Arbeit und Blüh' ohn' Ende.
Sieh' ihn nicht scheel d'rum an;
Gott der Herr ruft ihm zu:
Geh', meinen Willen thu'!
und Beruf.
Gott gab ihm ja die Hand,
Gab ihm Geschick und Kräfte,
Daß er kann sein Geschäfte
Treiben recht mit Verstand.
Und was er schafft und thut,
Mir kommt's und dir zu gut.
3. Kennst du den Hirten auch?
Hütet draußen die Herde,
Wacht mit vieler Beschwerde,
Kennt nicht der Städte Brauch.
Menschen verschmäh'n ihn gern;
Doch er gefällt dem Herrn.
Ist ja der selber ein Hirt,
Alle Geschöpfe zu weiden;
Sättiget sie mit Freuden,
Wacht, daß sich keines verirrt;
Nährt auch dich täglich neu,
Führt dich mit Hirtentreu'.
30
4. Hast du den Bettler geseh'n,
Mit zerrissenem Rocke,
Hinkend am schlechten Stocke,
Vor deiner Thüre steh'»?
Kind, so erbarm' dich sein,
Dann wirst du Gott erfreu'».
Alles von Gott hast du;
Sieh', nun schickt er den Armen,
Schaut, ob du mit Erbarmen
Jhnl eine Gabe reichst zu.
Und was du dem gethan,
Sollst du von ihm empfah'ii.
W. Hey.
25. Von den mancherlei Ständen.
Wir können nicht alle Fürsten und Herren sein, sondern es
müssen mancherlei Stände untereinander gehen. Das ist von Gott
also geordnet. Darum hat unter den Christen niemand zu klagen,
dass er arm oder geringes Standes sei. Lieber, hast du nicht so
viel als ein König oder Landesherr, goldene Krone, Gewalt, Gut,
Ehre, so hast du doch denselben Gott, Schöpfer Himmels und der
Erden, denselben Christum, Taufe, und sein ganzes Himmelreich:
wie St. Paulus von den Christen sagt, dass sie nichts innehaben
und doch alles haben; denn alles ist euer, spricht er 1. Kor. 3,
22. 23, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes. Darum bist
du unter diesem Herrn reich und selig genug, dass auch kein Kaiser
mehr haben kann, weder du. Allein, bleib in deinem Stande und
sei zufrieden, du sitzest oben- oder untenan.
Obwohl die Personen in grossen und geringen Ständen vor Gott
gleich sind und alles einerlei haben, einen Herrn, einen Glauben,
eine Taufe u. s. w., so lautet’s doch und gilt auch nichts, dass der
Ackerknecht hinter dem Pfluge oder eine Dienstmagd im Hause
wollte herfahren und sagen zu Herren und Frauen: „Ich bin vor
Gott so edel und so gut, wie du; darum darf ich dir nicht Unter-
than sein, noch gehorchen.“ Wie es jetzt leider auch gar überhand
genommen, dass auch die untern Stände die obern wollen überpochen,
als die Knechte und Mägde ihre Hausherren und Frauen, mit allem
Muthwillen, sonderlich wo sie sehen, dass man ihrer bedarf. Das
steht auch keinem Christen zu; denn es ist auch eben wider Christi
Kegel und Lehre.
Ein jeder Stand hat seinen Frieden und seine Last.
Dr. M- Luther.
26. Der Fuchs.
Der Regen verzieht; der Wald schüttelt die lauen Tropfen aus dem
Haupte, und von der Heide steigt's erfrischend und würzig in die Abendluft.
In allen Schlupfwinkeln regen sich Flügel und Füße. Die Mücken be-
ginnen ihre Tänze, die Ameisen kriechen hervor, ihre verschwemmten Straßen
wieder herzustellen, der Fink schmettert aus dem Buchenwipfel herab, der
Hase schießt Kapriolen, und auch der Fuchs verspürt ein heimliches Rühren.
Dort lauscht er zwischen den Wurzeln einer alten Eiche. Er „windet".
Alles ist sicher, die ganze Natur wiegt sich frühlingstrunken in dem er-
frischten Element. Mit einem Satze ist Reineke vor der Thür. Jetzt
könnt ihr ihn deutlich sehen. Wie er dasteht! so vornehm-läßig! so voll
31
Bewußtsein! Man erkennt auf den ersten Blick: cs rollt adliges Blut in
seinen Adern.
Der Fuchsschädel kann für einen Musterschädel gelten. Die Stirn
horizontal, mit straffangezogener, listigglatter Stirnhaut. Das Ohr, scharf
hcrausgespitzt, schiebt sich unten weit vor, um jeden Laut zu fassen. Es ist
gemacht, die über ihm auf Bäumen schlummernde Beute zu erspüren; das
leiseste Geräusch, das Zittern eines Blattes, das Zucken des träumenden
Vogels fällt in die horchend ausgespannte Öffnung. Nichts entgeht ihm.
Und nun diese Nase! Wie viel Bosheit und Anmuth, wie viel Geist liegt
in dieser feinen, langgestreckten und geschmeidigen Spitze! Scheint es nicht,
als giengen tausend unsichtbare Fühlfäden von dort aus, und als säße hier,
wie in ihrem Mittelpunkte, die ränkespinnende, schwänkesinnende Seele des
unvergleichlichen Schwindlers? — Aber das interessanteste Gesicht ist nichts
ohne die Augen. Schön darf man nun freilich das Fuchsauge nicht nennen.
Dian erkennt daran sogleich das nächtliche Raubthier; es spielt aus grau
in grün, liegt schief, halb in der Höhle versteckt, am Tage zur senkrechten
Spalte verengert, und hat weder die Waldfrischc, die uns aus dem Auge
des Rehs so munter anspricht, noch auch das rollende Funkeln, welches dem
Katzenblicke jenen magnetischen Reiz gibt; aber dennoch liegt unendlich mehr
Bedeutung für das Gesicht darin. Jetzt senkt es sich in demüthiger Er-
gebung, oder es blickt unschuldig und naiv umher; jetzt spielt ein spöttisches
Lächeln um seine Lider, und jetzt wieder zuckt ein Blick daraus hervor, spitz
und giftig, als träfe uns plötzlich der Stich einer Viper. Feucht vor un-
gestillter Gier, aufflammend in Mordlust, schmachtend in zärtlicher Liebe,
birgt es eine Welt voll Leidenschaft und List. Der Fuchs ist vielleicht der
größte Schauspieler, den das Thicrrcich auszuweisen hat.
Alle übrigen Theile des Gesichts wie des ganzen Körpers stimmen zu
diesem Bilde. Der Mund spaltet sich weit, denn der Fuchs ist ein Räuber;
ein sparsamer Bart stellt sich iu langen, zurückstrebenden Spitzen, wie eben
so viele Widerhaken um die Oberlippe; diese Lippen sind fein geschnitten
und geschlossen, deuten auf Energie und Selbstbeherrschung. Öffnen sie sich
aber, dann blicken scharf und grimm die Zacken des Gebisses, die nichts
Lebendes entrinnen lassen, oder es knistert halb höhnend und halb zorn-
knirschend ein heiseres, hustenartiges Bellen hervor. Den schlanken, Hangen-
den Leib tragen schnelle Füße fast spurlos über den Boden, und stattlich
schmückt ihn die buschige Schleppe. Ein schneeweißes Vorhcmdchcn hat er auf
der Brust, sein Pelz schimmert roth und goldig; daher ist er „vuhs“ ge-
heißen, d. i. der Feucrfarbcnc.
So schleicht, streicht und kreucht der Schlaue dahin, er schmiegt und
biegt sich, ist vorsichtig, geduldig, ausdauernd, behend, allzeit entschlossen; er
scheint den Abend in süßem Nichtsthun vertreiben zu wollen. Inzwischen
kommen ein paar junge Füchslcin neben ihm zum Vorschein. Klug forschend
äugeln sie umher, legen sich in die Sonne und beginnen allerhand Kurz-
weil. Das jüngste Söhnchen ist noch etwas täppisch. Es fängt Gras-
hüpfer und Käfer, zerzaust ihnen die Flügel, läßt sie zappeln, schnäufelt
daran umher, wirft sie weg, schlägt dann und wann einen linkischen Purzel-
baum. Der Alte sicht eben nicht auf ihn. Dessen Blicke sind ans die
beiden andern hoffnungsvollen Buben gerichtet, in denen er das väterliche
32
Talent mit sichtbarem Wohlgefallen wiedererkennt. Sie haben das leise
horchende Mäuslein erforscht nnd im Wettsprung das flüchtende gefangen.
Mit muthwilliger List werfen sie es der eine dem andern zu, kneipen es
hier, kneipen es da, bis sie, des Spielzeugs satt, es dem jüngsten überlassen.
Nun gilt's, ein Nest zu erspüren, eine Grasmücke zu beschleichen, den
schlüpfrigen Frosch zu packen, oder sie durchstöbern auch wohl den Palast
eines Erdwespenstammes; denn wie lecker sie auch sind, so will ihre Zunge
doch alles erproben.
Da tritt auch die Mutter aus dem Erdgeschoß, und der alte Fuchs
erinnert sich, daß es Zeit ist, die Familieuscene zu beenden. Er macht sich
auf; allein er eilt mit Weile. Gelassen schlendert er, den Schweif schleppend,
durch Busch und Kraut immer querfeldein. Denn wie das echte Genie
verschmäht, in fremde Fußstapfen zu treten, so läßt auch er die Heerstraße
und mag sich gern in Riedgras, Korn und Hag verlieren, wo bunte Blumen
blühen und muntere Vögel singen. Die rosigste Laune leuchtet aus seinem
Angesicht; Gedanken, Bilder/ Gesichte umschwirren ihn wie ein lustiges
Schneegestöber. Unterdessen ist er mitten im Waldbann. Er schleicht
langsamer, leiser, vorsichtiger. Der Abend haucht kühl aus Halm und
Blatt. Die Bäume heben ihre Wipfel regungslos in die Stille; nur die
Vogelkehlen sind noch laut. Die Drossel lockt mit hellem Ton, die Meise
schlüpft, ihr witzig-spitzes Liedchen schrillend, von Busch zu Busch, der Wald-
schreiner Specht hackt und hämmert am Eichenstumpf, dazwischen kreischt
mit einem wunderlich äffenden Schnörkel der Häher, und, ist dann auf
einmal alles still, so stöhnt aus dem Schoß der grünen Einsamkeit der
melancholische Ruf des Wiedehopfs. Reineke ist am Rande der Waldwiesc
angekommen. Er lauscht. Die Blnmen neigen ihre Kelche, da nnd dort
summt noch eine Biene, oder ein schwergepanzcrter Käfer schweift behaglich
erbrummend in geschwungenen Bogen dahin: ein Kreisels den die Elfen durch
die Lüfte jagen.
Jetzt knackt es in den Zweigen. Der Fuchs spitzt das Ohr, ein Pfeifen
läßt sich hören. Da tritt das Reh heraus, das Haupt keck emporgerichtet,
die Augen nach allen Seiten rollend. Wieder pfeift es, und im schlanken
Sprunge ist das Kälbchen der Alten zur Seite. In den drolligsten, anmuthigstcn
Sätzen tändelt es um die Mutter, ein Blatt, ein Kraut wie im Fluge ab-
streifend und dann sich niederwerfend, zu saugen. Die Mutter leckt ihm
kosend den Nacken. Plötzlich hebt die Ricke den Kopf. Ihre Lichter funkeln,
ein Zittern fliegt über die Flanken, sie macht ein paar Sprünge und stampft
zornig mit den Läufen. Es ist klar: sie hat den Räuber gewittert. Der
hat sich leisen Fußes herangestohlen, sacht, sacht, das Kitzlein unverrückt im
Auge. Es gilt einen kühnen Griff. Wenn ihm nur die Alte nicht soeben
den Weg verrannt hätte! Aber Reineke läßt sich nicht irren; er thut als
sei er in tiefen Gedanken. Träumerisch sinnend starrt er ins Blaue. Keine
Miene verräth, daß er der Beute ansichtig geworden. Er verschwindet, um
in weitem Bogen von einer andern Seite den Angriff zu versuchen. Allein
die wachsame Alte drängt sich dicht au das Junge; denn sie kennt des
Laurers Arglist. Dort streift er vorbei. Die Ricke pfeift wieder, und der
Fuchs schaut auf, als schrecke er plötzlich zusammen. Doch er ist inzwischen
dem Ziele seiner Wünsche nah und näher gekommen. Der Augenblick ist
33 -------
günstig und Verstellung nicht mehr nöthig. Reineke duckt sich nieder; wie
eine Katze schmiegt er sich an den Boden, die Lunte zuckt, die Augen starren
wild gierig auf das bebende Thier, er weist die mörderischen Reißer (Zähne),
hebt leise Fuß und Kopf zu Sprung und Biß — ein Moment noch — ein
Satz und — da stürzt sich die Mutter schnaubend auf den Räuber los,
mit den Füßen ihn zerstampfend. Das Kälbchen ist gerettet. Reineke
kehrt hinkend und zorugrimmig heim. Rache schwört er dem Flüchtling,
und es steht zu fürchten, daß er seinen Schwur zu lösen wissen werde.
3
34
Tritt dic Sonne in den Löwen, dann blüht dem Fuchs die goldene
Zeit. Üppige, reifende Stille liegt über der Erde, dic Aehren hangen
schwer und gelb, ein unabsehlicher Frnchtwald. Dahinein zieht's den Fuchs.
Dort lagern Hafen und Kaninchen, Rebhuhn, Wachtel und Lerche, kleine
Leutchen ohne Wehr und Waffen, die ein idyllisches, betriebsames Leben
führen. Ach, es wird ihnen übel ergehen! Der Verschlagene versteht zu
passen, zu fassen, zu kirren, zu irren mit Strichen und Schlichen, mit
Blicken und Tücken. Umsonst sind ihre kleinen Künste, er mordet bei Tag
und Nacht, und seine Brut wird dreist und feist. Wenn er sich gütlich
gethan hat, so winkt ihm auf sonniger Heide das Bienenhaus. Er springt
hinan, schleckt die würzigen Tropfen, und mag ihn das ganze Jmmenheer
zürnend umschwärmen: er lacht ihres Stachels, ladet sie sich auf den Pelz,
wälzt sich am Boden, zerdrückt sie, frißt sie, und am Ende müssen ihm
die fleißigen Schaffnerinnen die süße Labe überlassen sammt Haus und
Hof. Oder er schleicht zum Garten, wo aus dem Laube rothwangige Bir-
nen und schwarze Kirschen locken, versucht im Weinberg die Traube, öder-
er lauert am Bach, mit dem Fischreiher Halbpart zu machen, oder mit
seinem Wedel den Krebs zu kitzeln und ans der Wasserhöhle ans Licht
zu schmeicheln.
Aber die goldenen Tage sind bald vorüber. Die Felder stehen kahl,
der Wald entlaubt, auch dic letzten Wandervögel sind davongezogen, rauhe
Stürme brausen über die Oede, der Fuchs liegt in seiner Zelle, denn es
giebt wenig zu jagen; doch die gesammelten Vorräthe schützen ihn zunächst
noch vor Mangel. Es ist eine traurige, langweilige Zeit; er entwirft Pläne
für den Winterfeldzng, macht Sprnngübnngen und horcht wachsam den
Schüssen der Jagd, die dumpfwarnend in sein Lager hinunterdröhnen. In-
dessen drängt der Winter immer ungestümer heran. Bald liegt alles er-
starrt unter der weißen Decke, Seen und Bäche gefrieren tief hinab, die
Bäume krachen vom Frost zerspalten, das Wild ächzt hungrig in den dich-
testen Gründen, und Rabe, Krähe und Sperling haben längst die Straßen
der Städte und Dörfer gesucht. Reineke darf das nicht. „Wenn ich ein
Vöglein wär'!" seufzt er und streicht lungernd hinter einem Bauerngehöft
umher. Aber es läßt sich keine Feder spüren. . Die Noth treibt ihn dem
Walde zu, er ergeht sich in den düstersten Gedanken. Mit einemmale
hebt er die Nase. Seine Augen blitzen. Ein lieblicher Duft weht ihm
entgegen. Ha! was ist das? — Siehe da — mitten in der hungrigen
Wildnis ein süßgebratenes Stück von Kater Hinzcs Lende. Wie appetitlich!
Ohne Zögern ist cs verschlungen. Reineke fühlt seine Lebensgeister neu
erregt, "„seine Augen werden wacker", und, wie von unsichtbaren Banden
gezogen, trabt er fürbaß. Und wahrlich, da liegt ein zweites Stück! Es
ist kein Trugbild seiner Phantasie — es ist derselbe Duft, dasselbe Fleisch
und Bein. Reineke steht still, Überraschung und Argwohn in den Zügen.
Wer war, wer ist der unbekannte Spender? Kehren die Tage der Mär-
chen zurück? Er umschleicht ans scheuen Sohlen dic Stelle, steht wieder
still, legt sich, horcht, wirft die Augen spähend umher, springt wieder auf,
um wieder niederzukauern. Nirgends ein Laut, nur die alten Föhren
knarren; nirgends eine Spur, als dic flüchtigen Hieroglyphen, die des
Windes Finger in den Schnee geschrieben. Er betrachtet den Bissen noch
35
einmal: „Wär' es eine Falle? — die Menschenkinder sind voll Args! —
Schon mancher Edle fiel durch ihre List! — Aber nein — hinweg mit
solchen Gespenstern!" Und im Nu ist auch der zweite Brocken hinab.
O Reineke, Reineke! — Du bist verloren — denn dort liegt noch
ein dritter Bissen. In vollen Zügen schlürft der Hungcrgepeinigte das
berauschende Arom, starrt verglasten Blickes auf die Lockung. Doch der
innere Warner erhebt seine Stimme noch einmal. Und wieder umkreist
der Fuchs das leckere Mahl, wieder duckt er sich, legt das Gehör vorwärts,
rückwärts, spitzt es, „sichert" allenthalben. Und wieder ist alles stumm,
nur die Föhren knarren noch immer verdrossen. Es ist, als stocke der
Athem der Natur. Der Fuchs fängt an zu vernünfteln; aber je länger
er hinschaut auf das verhängnisvolle Gericht, desto wirrer werden seine
Gedanken, desto wirrer sein Blick. Es flimmert ihm vor den Augen, der
Duft betäubt ihn, er kann nicht los, er muß — und geilt’ es sein Leben
— er muß hinzu. In einem wilden Satze springt er darauf los — da
krach! schlägt das Eisen die zerschmetternden Zähne zusammen. —
So war der Schlaue doch nicht schlau genug! Er heult vor Wuth;
aber es ist nicht Zeit zu ohnmächtiger Klage; denn Gefahr droht im Ver-
züge. Es gilt eine böse That: er beißt sich den Fuß ab. — Einmal ge-
fangen, denkt er, und nimmer wieder! und er jagt davon, leicht und frei,
„als hätt' er eben nur den Stiefel ausgezogen." Die Niederlage muß sein
Genie neue Künste und neue Siege lehren. M°sius.
27. Der Fuchs und der Nabe.
Ein Rabe hatte einen Käse gestohlen und setzte sich aus einen Baum,
um ihn hier zu verzehren. Dies bemerkte ein Fuchs, schlich hinzu und
sprach: „O Rabe, du bist doch ein schöner Vogel! Dein Gefieder glänzt
wie die Federn des Adlers. Ist deine Stimme auch so schön, dann bist
du der schönste Vogel der Welt." Den Raben kitzelte dieses Lob, und er
sieng an zu schreien. Als er aber den Schnabel öffnete, entfiel ihm der
Käse. Der Fuchs sprang hinzu, schnappte ihn ans, verschlang ihn und
lachte den thörichten Raben ans. Ä,op.
28. Die Kinder im Walde.
Gar wohlgeuiuth und guter Ding
Zum Wald ein Kuab'und Mägdlein gieng.
Der Tag war draußen heiß und schwül,
Der Wald hingegen frisch und kühl.
Hier liefen sie die Kreuz und Quer
Und pflückten Erd- *ind Heidelbeer! —
Bald rief der Bruder: „Schwester, hier,
Die schönsten Beeren stehn bei mir!"
Bald sprach die Schwester: „Bruder, nein,
Hier werden noch viel schönre sein!"
Zum Bruder springt die Schwester drauf,
Ißt dort die schönsten Beeren auf;
Und mit ihr muß der Bruder gehn,
Wo ihre noch viel schönren stehn.
So stopfen sie die Beerelein
Fortan mit vollen Händen ein,
Bis jedes zu dem andern spricht:
„'s ist nun genug, mehr kann ich nicht!"
Und bis der kleine Bauch so schwer,
Daß fast ein Reif drum nöthig wär'.
Sie setzen sich an einen Baum;
Sie sprechen nichts, sie athmen kaum;
Und eins sich an das andre lehnt,
Und eines nach dem andern gähnt,
Bis daß der süße Schlaf sic leicht
Im kühlen Schatten überschlcicht.
3*
36
Und nah bei ihrer Schlummerstatt
Ein Häslein seine Jungen hat,
Die hüpfen aus dem Strauch heran •
Und sehen sich die Kinder an
Und spielen um das kleine Paar
Und fühlen mit dem Pfötchen gar
In stiller Lust und ohne Scheu,
Wie warm das rothe Bäckchen sei.
Und nah, wo Knab' und Mägdlein ruht,
Hat auch ein Zeisig seine Brut;
Die lauschet auch zum Nest hinaus
Und breitet ihre Flügel aus
Und sieht, wie sich die Häslein klein
Dort um die holden Kinder freun.
Da wagt sie sich in froher Hast
Auch bald hinab von Ast zu Ast
Und setzet sich in stiller Lust
Den Kindern ^ar auf Stirn und Brust,
Und wo der warme Athem weht,
Da wird das Köpfchen hingedreht.
Und Zeisig spricht: „Sagtuns geschwind,
Was das für liebe Thierchen sind.
Wir glauben, es sind Vöglein; doch
Die Federn wachsen ihnen noch!"
Die Häschen aber sprechen: „Nein,
Wo sollen Klau' und Schnabel sein?
Die Lippen sind so roth und weich;
Nein, die gehören nicht zu euch!
Viel eher könnten's Häschen sein,
Sind auch die Ohren etwas klein!"
Und Zeisig hebt sein Köpfchen drauf
Und ruft und singt: „Wacht auf! wacht
auf!
Ihr seid so wunderhold und schön,
Ähr müßt uns, wer ihr seid, gestehn;
Wir woll'n in Lieb' und in Vertrau'n
Euch in die offnen Äuglein schau'n!"
Und Häschen klopft auf Hand und Wang'
Und ruft: „Wacht auf! schlaft nicht
so lang!
Wir haben noch der Brüder viel;
Kommt mit, kommt mit zum frohen
Spiel;
Ähr seid so wunderhold und schön,
Wir woll'n mit euch zur Mutter gehn!"
Als sie so sprechen, naht sich bald
Die Mutter Häsin durch den Wald;
Die Mutter Zeisig flattert auch
Von Baum zu Baum, von Strauch
zu Strauch;
Und als sie hier die Kinder sehn,
Da bleiben sie erschrocken stehn
Und rufen ihre Jungen: „Fort!
Die Schläfer sind ja Menschen dort!
Erweckt sie nimmer, laßt sie ruhn,
Damit sie uns nichts Böses thun!
Es war ein Mensch, der in der Schling'
Mein armes Männchen gestern fieng! —
Es war ein Mensch mit Hund und Roß,
Der euren Vater hetzt und schoß! —
Der Mensch ist nur im Schlafe mild,
Doch wenn er wacht, oft hart und wild,
Hat kein Erbarmen mit dem Thier;
Drum laßt uns fliehen fort von hier!"
Und Häschen läuft, und Zeisig fliegt.
Doch Knab' und Mägdlein schlummernd
liegt;
Und beiden wie im Traum es kam,
Als ob die Thierchen, fromm und zahm,
Liebkosend sich an sie gewagt
Und manch' verständlich Wort gesagt.
Und als sie beide endlich wach,
Da schaun sie aller Seiten nach!
Doch still und leer ist Strauch undBaum.
„O weh! es war ein bloßer Traum;
Fort, Bruder, fort, ich fürchte mich!
's ist hier so öd' und schauerlich!"
Als Knab' und Mägdlein heimwärts
springt,
Hoch in der Luft das Vöglein singt:
„'s wär nirgends öd' um euch und leer,
Wenn nicht der Mensch so grausam wär',
Wenn er nicht selbst das Thier verscheucht,
Das sich vertrauend zu ihm neigt.
So aber geh' er hübsch allein,
HerrMensch, ich mag nichtbeiihmsein!"
Ihr, die ihr's kennt, und die ihr's wißt,
Wie süß der Funke Leben ist;
Die ihr ihn ehrt und sorgend schont,
Gleichviel in welcher Brust er wohnt;
Die ihr leichtsinnig nichts zerstört,
Selbst wenn's zu Thieres Lust gehört,
Und die ihr denkt, das kleinste Thier
Hat einen Vater doch mit mir:
37
Geht nur getrost durch Wald und Flur,
Euch grüßt mit Freuden die Natur;
Bor eurem freundlichen Gesicht
Entfliehen ihre Kinder nicht.
Doch, wo ich einen finden sollt',
Der anders dacht' und anders wollt',
Da stimmt' ich mit den Vöglein ein:
„ Herr Mensch, ich mag nicht bei dir sein!"
Christos Ernst ». Houwald.
29. Polykarpus.
„Was tobtet ihr die Glieder?" rief die Wuth
Des Heidenpöbels: „sucht und würgt das Haupt!"
Man sucht den frommen Polykarpus, ihn,
Johannes Bild und Schüler. Sorgsam hatten
Die Seinen ihn aufs Land geflüchtet. „Ich
Sah diese Nacht das Kissen meines Hauptes
In voller Glut", so sprach der kranke Greis,
„Und wachte mit besondrer Freude auf.
Ihr, Lieben, mühet euch umsonst, ich soll
Mit meinem Tode Gott lobpreisen." Da
Erscholl das Haus vom stürmenden Geschrei
Der Suchenden. Er nahm sie freundlich auf:
„Bereitet", sprach er, „diesen Müden noch
Ein Gastmahl, ich bereite mich indes
Zur Reise auch." Er gieng und betete,
Und folgete mit vielen Schmerzen ihnen
Zum Consul. Als er auf den Richtplatz kam,
Rief eine mächt'gc Stimme im Busen ihm:
Sei tapfer, Polykarp! — Der Consul, sieht
Den heitern, schönen, ruhigsanften Greis
Verwundernd. Schone, sprach er, deines Alters,
Und opfre hier, entsagend deinem Gott.
„Wie sollt' ich einem Herrn entsagen, dem
Zeitlebens ich gedienet und der mir
Zeitlebens Gutes that?" — Und fürchtest du
Denn keines Löwen Zahn? — Zermalmet muß
Das Weizenkorn doch einmal werden, sei's
Wodurch es will, zur künft'gen neuen Frucht."
Der Pöbel rief: „Hinweg mit ihm! er ist
Der Christen Vater; Feuer, Feuer her!"
Sie trugen Holz zusammen, und mit Wuth
Ward er ergriffen. „Freunde«, sprach er, »hier
Bedars's der Bande nicht; wer dieser Flamme
Mich würdigte, der wird mir Muth verleihn!»
Und legte still den Mantel ab und band
Die Sohlen seiner Füße los und stieg
Hinauf zum Scheiterhaufen. Plötzlich schlug
Die Flamm' empor, umwehend ringsum ihn
Gleich einem Segel, das ihn kllhlete,
Gleich einem glänzenden Gewölbe, das
Den Edelstein in seine Mitte nahm
38
Und schöner ihn verklärte; bis ergrimmt
Ihm eine freche Faust das Herz durchstieß.
Er sank, es floß sein Blut, die Flamm' erlosch,
Und eine weiße Taube flog empor.
Du lachst der weißen Taube? Soll einmal
Ein Geier dir, dem Sterbenden, die Brust
Durchbohren? dem Gestorbenen das Aug'
Ein Rab' aushacken? aus der Asche sich
Molch oder Natter winden? Spotte nicht
Des Bildes, das die Sage sich erschuf:
Nur Einfalt, Unschuld gibt im Tode Muth.
30. Sonntagsfrühe.
1. Gottesstille, Sonntagsfrühe,
Ruhe, die der Herr gebot!
Meine Seele, wach' und glühe
Mit im hellen Morgenroth.
2. Könnt' ich in dem Zimmer bleiben,
Wann das Volk zur Kirche wallt?
Könnt' ich Alltagswerke treiben,
Wann der Glockenruf erschallt?
3. Wo die holden Worte weilen,
Die der Herr auf Erden sprach,
Lasset auch das Brot mich theilen,
Das er seinen Jüngern brach.
4. O, das nenn' ich sel'ge Stunde,
Wo man dein, o Herr, gedenkt,
Wo man mit der frohen Kunde
Bon dem ew'gen Heil uns tränkt!
5. Neues Leben, neue Stärke,
Reiner Andacht frische Glut
Zu dem frommen Liebeswerke
Schöpf' ich aus der Gnadenflut.
6. Und von göttlichen Gedanken
Einen reichen Blütenstrauß
Trag' ich heinnvärts, Gott zu danken
In dem kleinen, stillen Haus.
7. Erde weit und ohne Grenzen!
Himmel drüber ausgespannt!
Reich an Sternen und an Kränzen,
Scheint ihr mir ein heilig Land.
8. Laß die Flammen stets mir brennen,
O mein Heiland Jesu Christ!
Laß es alle Welt erkennen,
Daß mein Herz dein Altar ist.
M. v. Schenkendorf.
31. Du sollst den Feiertag heiligen.
Ein ehrlicher Grobschmiedegescll kam auf seiner Wanderschaft in eine
Werkstatt, wo es recht tapfer hergieng mit Hämmern und Feilen bis zum
Abend; und es war ihm eben recht, denn er arbeitete gern. Als aber der
Sonntag kam, und das Hämmern nicht aufhörte, und keine andere Orgel
zu hören war als der Blasebalg, war's ihm nicht ganz recht, denn er wäre
gern in die Kirche gegangen, ein geistlich Lied mitzusingen. Aber der
Meister wollte aus seinem Eisen alle Taschen voll Gold schmieden und
dachte: „Warum soll mein Handwerk bloß am Sonntag keinen goldenen
Boden haben?"
Eine Weile hat sich's der Gesell eben gefallen lassen, weil er dem
Meister nicht wollte zuwider sein. Allein ohne den Sonntag schmeckte ihm
das Leben wie eine Wassersuppe, in der kein Salz ist. Also faßt er sich
ein Herz, geht zum Meister ins Hans und sagt: „Meister, ich kann ohne
39
Gottes Wort nicht länger bestehen, nnd wenn ich mich den Sonntag in
der Werkstatt abarbeite, bin ich in der Woche nur ein halber Mensch; dar-
um seid so gut und gebt mir den Sonntag meine Freiheit." Der Meister
sagt: „Nein, das geht nicht an; denn du hast die Aufsicht in der Werkstatt,
und außerdem, wenn einer fortgienge, könnten sie alle fortgehen, und dann
stände das Geschäft still." — „Aber ohne Gottes Wort verkomm' ich",
sagt der Gesell, „und es geht einmal nicht mehr. Ihr wißt, faul bin ich
nicht: aber was nicht geht, das geht nicht; und wofür bin ich ein Christ,
wenn ich keinen Sonntag habe?"
Dem Meister kam das wunderlich vor, und er hatte schon ein Wort
von Narrenspossen nnd dergleichen auf der Zunge. Wie er aber dem ehr-
lichen Gesellen ins Gesicht sah, besann er sich und sagte: „Nun meinet-
halben geh' in die Kirche, so viel du willst. Aber eins beding' ich mir aus:
Wenn viel zu thun ist, mußt du auch am Sonntag auf dem Platze sein."
— Wer war froher als unser Gesell! Am nächsten Sonntag zieht er
seinen blauen Rock an, nimmt das Gesangbuch unter den Arm und geht
in die Kirche. Solch einen schönen Tag hat er lange nicht gehabt; ihn
hat die Predigt und der Gesang ganz aufgeweckt, nnd unser Grobschmicd
war so munter wie ein Vogel. Nun vergeht die Woche; und als der
Sonnabend kommt, sagt der Meister: „Gesell, es ist viel zu thun; morgen
mußt du in der Werkstatt sein." — „Gut", sagt der Gesell, „wenn's nicht
anders sein kann." — Den nächsten Sonnabend sagt der Meister wieder-
um: „Es ist viel zu thun", nnd so auch den dritten.
Als aber nach dem dritten Sonntag der Gesell den Wochenlohn bekam,
fünf Thaler und fünfundzwanzig Silbergroschen, wie's ihm zukam, da
spricht er: „Das ist zu viel!" und schiebt die fünfundzwanzig Silbergroschen
zurück. „Warum?" sagt der Meister, „cs ist für die sieben Tage." —
Aber der Gesell spricht: „Nein; ich hab's mir bedacht, und für den Sonn-
tag nehme ich kein Geld mehr; denn der Sonntag ist nicht zum Geld-
verdienen, und wenn ich am Sonntag arbeite, so geschieht's Euch zu Liebe,
und Geld will ich nicht." Da sah der Meister den Gesellen groß an;
und seit dem Tage war die Schmiede jeden Sonntag verschlossen, und kein
Hammer noch Blasebalg mehr zu hören. — Merke: Man soll unserm
Herrgott nicht sein drittes Gebot ans dem Katechismus stehlen; nnd wer
in die Kirche will, der findet den Weg schon.
Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren.
Fliegende Blätter dcs rauhen Hauses.
32. Die Sonne nnd die Thiere.
„O Sonne, scheine nicht so heiß! Ich muß vor Mattigkeit und
Schweiß bei meiner Arbeit schier erliegen!" So rief der Esel. — „Dank
für deinen heitern Schein, o Sonne", rief die Schlange, „mit Vergnügen
leg' ich mich stundenlang hinein!" — Die Eule schrie: „Verschone mein
Gesicht mit deinem mir verhaßten Licht, o Sonne! Kann ich doch kein
Schlupfloch finden, wohin dein Strahl nicht dringt; ich werde noch er-
blinden!" — „Wohlthät'ge Sonne, Jet mir lange noch geneigt!" hub eine
Feldmaus au. „Es reifen meine Ähren; vollauf kann ich mich wieder
nähren." — Die Sonne hört es an, scheint fort nnd — schweigt.
Willamow.
40
33. Herrschaften und Dienstboten.
Knechte und Mägde sollen zusehen, dass sie ihren Herren und
Frauen nicht allein gehorsam seien, sondern sie auch in Ehren
halten, wie ihre Väter und Mütter, nicht aus Zwang und Wider-
willen, sondern mit Lust und Freuden, weil es Gottes Gebot ist und
ihm wohlgefällt. In solchem Stande können sie ein recht fröhliches
Gewissen haben und lauter güldene Werke thun, die besser sind,
als alle eingebildete Heiligkeit. Welch ein edler Beruf, in welchem
du die Zusage hast, dass dir’s zu allem Guten gedeihen, dir darin
wohlgehen soll! Du hast da alles Gut, Schutz und Schirm unter
dem Herrn, ein fröhliches Gewissen, einen gnädigen Gott, der dir’s
hundertfältig vergelten will, und bist in deinem Stande gar hoch
und gross, wenn du nur fromm und gehorsam bist. Wo aber nicht,
so hast du eitel Ungnade und Zorn vor Gott, keinen Frieden im
Herzen, darnach allerlei Plage und Unglück. Bedenke, dass Gott
mit dir redet und Gehorsam fordert. Gehorchst du ihm, so bist
du ein liebes Kind; verachtest du es aber, so hast du Jammer,
Schande und Herzeleid zum Lohn.
Mancher Knecht und manche Magd hat einen guten Dienst bei
ehrlichen, frommen Leuten, die nicht gern Unzucht und Leichtfertig-
keit an den Ihren sehen und leiden wollen. Aber da kommt nun
hier einer und da einer und spricht: „Wie lässest du dich so ein-
sperren und so hart halten? Du könntest es wohl besser haben,
könntest an einem Orte sein, da du mehr Lust hättest, nicht so
hart arbeiten müsstest und bessere Tage hättest.“ Mit solchen
Worten ist ein guter, einfältiger Mensch bald beredet, denkt nicht,
dass man’s übel mit ihm meine, ja hält solche honigsüsse Mäuler für
gute Freunde, so sie doch die ärgsten Feinde sind. Denn einem jungen
Menschen ist nichts schädlicher, denn so man ihm seinen Willen lässt
und nicht immerdar anhält und treibt zur Zucht und Arbeit.
Es ist wahrlich im Hausregiment eine grosse, treffliche Gabe,
wo man einen getreuen Knecht oder Magd haben mag. — Die
Herren sollen sich gegen ihre Knechte nicht als Tyrannen stellen;
denn es ist unmöglich, dass ein Knecht oder Magd nicht zuweilen
etwas versehe, zu wenig oder zu viel thue. Darum muss man einem
frommen Knechte viel zu gute halten. Denn so die Knechte ihren
Herren Gehorsam und Ehrerbietung zu leisten schuldig sind, so
sind auch wiederum die Herren den Knechten schuldig, Güte und
Gelindigkeit zu beweisen. Ephes. 6, 9. Dr. m. Luther.
34. Saat und Ernte.
Von unserm Gott allein.
Alle gute Gabe
Kommt her von Gott dem Herrn,
Drum dankt ihm, dankt!
Drum dankt ihm, dankt!
Und hofft auf ihn.
1. Wir pflügen und wir streuen
Den Samen auf das Land;
Doch Wachsthum und Gedeihen
Sieht in des Höchsten Hand.
Er sendet Dhau und Regen
Und Sonn’ und Mondeuschein;
Bon ihm kommt aller Segen,
41
2. Was nah ist und was ferne,
Von Gott kommt alles her,
Der Strohhalm und die Sterne,
Der Sperling und das Meer.
Von ihm sind Büsch' und Blätter,
Und Korn und Obst von ihm,
Von ihm mild Frühlingswetter
Und Schnee und Ungestüm.
Alle gute Gabe rc.
3. Er, er macht Sonnaufgehen,
Er stellt des Mondes Lauf;
Er läßt die Winde wehen
Und thut den Himmel auf.
Er schenkt uns so viel Freude,
Er macht uns frisch und roth,
Er gibt dem Vieh die Weide
Und seinen Menschen Brot.
Alle gute Gabe rc.
M. Claudius.
35. Der alte Gott lebt noch.
Es war an einem Sonntag-Morgen. Die Sonne schien hell und warm
in die Stube; linde Lüfte zogen durch die offenen Fenster; im Freien unter
dem blauen Himmel jubilierten die Vögel, und die ganze Gegend, in Grün
gekleidet und mit Blumen geschmückt, stand da, wie eine Braut an ihrem
Ehrentage. Aber während draußen überall Freude herrschte, brütete in dem
Hause dort nur Trübsal und Trauer. Selbst die Hausfrau, die sonst immer
gutes Muthes war, saß heute mit umwölktem Antlitz und mit nieder-
geschlagenem Blicke da beim Morgeubrot. Zuletzt erhob sie sich, ohne etwas zu
essen, vom Sitze, und eine Thräne aus dem Auge wischend, eilte sie der Thür zu.
Es schien aber auch, als wenn der Fluch auf diesem Hause laste. Es
war Theuerung iin Lande. Das Gewerbe gicng schlecht, die Auflagen wurden
immer drückender; das Hauswesen verfiel von Jahr zu Jahr mehr, und war
am Ende nichts abzusehen, als Armuth und Verachtung. Das hatte den
Mann, der sonst ein fleißiger und ordentlicher Bürger war, schon seit langer
Zeit trübsinnig gemacht, so daß er an seinem fernern Fortkommen ver-
zweifelte und manchmal daran dachte, er wolle sich ein Leid anthun und
seinem elenden Leben ein Ende machen. Da half denn auch kein Zureden
von Seiten seiner -Frau, und aller Trost seiner Freunde machte ihn nur
schweigsamer und trübsinniger. — Der geneigte Leser wird denken, da sei
es kein Wunder gewesen, daß denn zuletzt auch die Frau all ihren Muth
und ihre Freude verloren habe. Es hatte aber mit ihrer Traurigkeit eine
ganz eigene Bewandtnis, wie wir bald hören werden. Als der Mann sah,
daß auch sein Weib trauerte und nun forteilte, hielt er sie an und sprach:
„Ich lasse dich nicht aus der Stube, bis du mir sagst, was dir fehlt!"
Sie schwieg noch eine Weile; dann aber that sie ihren Mund auf, und in-
dem sie einen tiefen Seufzer holte, sprach sie: „Ach, lieber Mann, es hat
mir heute Nacht geträumt, unser lieber Herrgott sei gestorben und die
lieben Englein seien mit ihm zur Leiche gegangen." — „Einfalt!" sagte der
Mann; „wie kannst du denn so etwas Albernes für wahr halten oder auch
nur denken? Bedenke doch, Gott kann ja nicht sterben!" Da erheiterte
sich plötzlich das Gesicht der guten Frau, und indem sic des Mannes beide
Hände erfaßte und zärtlich drückte, sagte sie: „Also lebt er noch, der alte
Gott?" — „Ja freilich", sprach der Mann; „wer wollte denn daran
Zweifeln?" Da sah sie ihn an mit ihren holdseligen Augen, aus denen Zu-
versicht und Friede und Freudigkeit strahlten, und sprach: „Ei nun, Herzens-
uiann, wenn der alte Gott noch lebt, warum glauben und vertrauen wir
beim nicht auf ihn? Auf ihn, der unsere Haare gezählet hat und nicht
zuläßt, baß eines ohne seinen Willen ausfalle; der die Lilien auf dem Felde
bekleidet, der die Sperlinge ernährt und die jungen Raben, die nach Futter
schreien?" — Bei diesen Worten geschah es dem Manne, als fielen ihm
plötzlich Schuppen vom Auge und als lösete sich das Eis, das sich um sein
Herz gelegt hatte. Und er lächelte zum ersten Male wieder nach langer
Zeit; und er dankte seinem frommen Weibe für die List, die sie angewandt,
um seinen todten Glauben zu beleben und das Vertrauen auf Gott wieder
in ihm zu erwecken. Und die Sonne schien nun noch freundlicher in die
Stube auf das Antlitz zufriedener Menschen, und die Lüfte weheten erquick-
licher um die verklärten Wangen, und die Vögel jubilierten noch lauter und
stimmten ein in den Dank ihrer Herzen gegen Gott. sm° Erzählung
86. Alles ist vergänglich.
1. Alles ist vergänglich,
Währet kurze Zeit.
Die Armen und die Reichen
Müssen einander gleichen
In der Ewigkeit.
2. Keiner wird verschonet,
Keiner kommt davon.
Könige und Prälaten
Bitten um Genaden,
Keiner kommt davon.
3. Ich und du und alle
Müssen vor'« Gericht;
Müssen dort anhören
Mit Seufzen und mit Zähren,
Was der Richter spricht.
4. Heut' leb' ich in Freiheit
Und in Lustbarkeit;
Morgen muß ich scheiden,
Alle Wollust nieiden
In all' Ewigkeit.
5. Heut geh' ich spazieren
In den grünen Wald;
Morgen muß ich erfahren
Meine Todsgestalt.
Volkslied.
tAus Georg Scher er's Jungbrunnen.)
87. Aus den deutschen Alpen.
Die Art und Natur des deutschen Alpenlandes.
Die ganze Natur solches Alpenlandes, wie Deutschland in Mittag
zeigt, ist in allem abweichend vom Ftachlande, in Luft und Witterung,
Pflanzen und Thieren, Mineralien, Menschen und Gewerben, Sitte, Sprache
und Art; und diese ganze, so anziehende herrliche Erscheinung, gleichsam
eine neue Welt, geht hauptsächlich hervor aus der starken Emporragnug
über die unteren Luftschichten. Steigst du hier aus einem Thale zum
Gipfel einer Alpe hinan, so machst du nach den Wärmegraden in wenigen
Stunden eine Reise ans dem heißen Italien nach dem starren Nordpole,
in die Gebiete des ewigen Winters; du durchwanderst da jede Temperatur
von Neapel bis Spitzbergen. Du gehst durch Waldungen von Lanbholz,
aber weiter hinauf widersteht dessen wässeriger Saft nicht der härteren
Kälte, es verschwindet; ihm folgt weiter hinaus Nadelholz, dessen harziger
Saft sie besser erträgt. Da erscheint die sibirische Geber (Zirbelnuß). Aber
die Hochwaldung schwindet weiter hinauf, sie wird krüppelhaft neben dem
öl- und harzreichen niedrigen Krummholz. Immer mehr schrumpft die
43
Pflanzenwelt zusammen, nur kleine Alpenpflanzen, das Alpenröslein
(Rhododendron) nebst vielen anderen, deren Brüder- und Schwesterlcin
auch in Norwegens Norden auf Flächen des Lebens sich freuen, kleiden den
kalten Boden. Über ihnen hinauf folgen allerlei farbige Moose immer
kleinerer Art, bis sie endlich dem bloßen Auge kaum sichtbar. Aber von
hier an erstarrt die Pflanzenwelt, sie hört auf, ein anderes Wachsthum
beginnt. Es ist die Krystallisation der Gletscher oder Firnen und der feinen
Dünste zu Haareis, was aus der Luft herniederrieselt. Nur die oberen
Gegenden sind mit Schnee und mit weiten Schneefeldern überdeckt. Hier
vermag die Sonne nicht ihn wegznschmelzen, nur die jedesmalige Ober-
fläche schmilzt etwas an und wird zur Eiskruste; dies wiederholt sich oft
zu vielen Schichten; aber tiefer vermag die Sonne mehr, hier schmilzt zu
Zeiten der Schnee stark, das Schneewasser durchrinnt die Schneemassen,
die davon gefrieren und zu Gletschern oder Firnen werden. Nene Schnee-
massen lagern sich auf, gerinnen und gefrieren hinzu; so wächst hier der
Eisberg an Höhe und Umfang. Sein Scheitel wird Orten sichtbar, die
ihn sonst nie gesehen; er breitet sich ans und überlagert Wiesen und Weide-
land, ja oft geräth ein Firn, abhängig im Thale gelagert und von un-
endlicher Last gedrückt und geschoben, ins Gleiten, und die gefährliche Riesen-
masse gleitet tiefer und tiefer mit fürchterlich langsamem Nahen für die
unteren Gegenden. Dort zertrümmert sich das ewige Eis eines andern,
es stürzt ein Theil zu Thal, es dämmt den Thalfluß, da stcmnit sich das
Gewässer zum See auf — so entstand 1771 in Tyrol der Rofener Eis-
see — oder es füllt tiefer unten ein Thal und bildet Eisgruben, die nimmer
vergehen; so die berühmte Eiskapelle am Bartholomäussec in Berchtesgaden.
Unter den vielfachen Beispielen des Fortwachsens zeichnen sich die Elends-
alpen auf der Grenze Salzburgs und Kärnthens aus. Nach Sage aus
alter Zeit waren sie einst bewohnt, und reich an Getreide und Futter;
nun sind sie seit Jahrhunderten nur Schnee- und Eisfeld; denn es lebte
da die übermüthige, üppige Brut eines reichen Vaters; mit silbernen Kugeln
und Kegeln spielte sie, und rnndgebackene Kuchen, groß wie Kutschrädcr,
steckten sie an die Achsen. Der Sünden müde, kam ihnen der Herr ent-
gegen mit gewaltigem Schnee und Hagel, bis der üppige Alpentisch gar
anders gedeckt war, über die Brut und all' ihr Vieh her, so daß nie da-
von etwas zum Vorschein kam. Wir wissen, wie das zu verstehen. Am
Rande des ungeheuren Eisfeldes sammeln jetzt noch die Landdirnen schön-
blumiges Gras, und Schafe weiden bis dicht an den Rand des eisigen
Elends, das man jetzt nur mit Fußeisen besteigen kann und selbst im höchsten
Sommer der Kälte wegen nicht mag.
Der Wärmegrad dieser Alpenlande ist höchst mannigfaltig; man
schmachtet vor Hitze und zittert vor Kälte, ehe die Sonne den Bogen
vollendet. Unten im Thal, zwischen den erhitzten Gebirgswänden, glaubst
du oft im Anhauche eines Backofens zu wandeln, denn der Wärmemesser
zeigt von Mittag bis 3 Uhr hin 30 Grad Rvaumnr und oft noch darüber
hinaus. Da könnte nicht blos Mandel und Pfirsiche, nein, selbst die Gold-
frncht (Orange) jeder Art gedeihen; aber diesen afrikanischen Stunden ver-
derben andere solche Wirksamkeit völlig. An den mitternächtlichen Gebirgs-
seen, in den schattigen Thalgründen, am rauschenden Laufe eines Gieß-
44
bachs hinauf, lauert sehr merklich die Kühlung; früh und spät tritt sie selbst
in die wärmsten Thäler; mau friert, wo mau vor wenigen Stunden schmachtete.
Auch liegt in den schattigen Gründen der Schnee bis weit in den Lenz.
Wirksamer ist noch die ewige Eis- und Schneedecke der Hochalpen. Die
unendlich schöne Verklärung dieser Alpengebirge im Purpurglanze der sinken-
den Sonne gehört zu den schönsten Anblicken, welche die Natur nur irgend-
wo gewährt. Gutsmuths.
2. Auf der Alpe.
Mühsamer, als du es vielleicht dachtest, war der Weg herauf zu dem
ersehnten Ziele; mancher Schweißtropfen floß, ehe du zur Ruhe kamst. Nach
einiger Rast in der Sennhütte eilest du heraus und setzest dich aus ein kühn
vortretendes Felsenhorn, das über schwindelnder Tiefe schwebt. Schöner
Abend, die Sonne dem Untergange nahe; unter dir allenthalben dick in
Nadelholz gehüllte Berge, auf deren Köpfe du schauest, und in deren
Schluchten du die silbernen Bäche hinabeilen und stürzen siehst. Weithin
ist die Nacht dieser Wälder unter dir ausgebreitet; sie wird durchglüht
von dem Feuer der Abendsonne; nur in den Thälern und Schluchten nachtet
cs schon. Dort draußen aber breiten sich weithin unabsehbar die hügeligen
Ebenen des Flachlandes, die du bisher durchzogest, aus denen du herauf-
blicktest zu den duftigen Höhen; blaue Seespiegel füllen hier und da die
Tiefen aus. Ernst und majestätisch schauet die innere Gcbirgswclt her.
Jetzt ist die Sonne hinab, und tiefer, feierlicher Ernst liegt auf der nächt-
lichen Welt da unten; die zunehmende Dämmerung beengt immer mehr
den Gesichtskreis, nur das Zirpen einer Schneelerche oder das Geklingel
einiger noch zwischen Klippen und Krummholz umherirrenden Ziegen unter-
bricht die feierliche Stille. Da macht sich der Nachtwind aus seinem Lager
auf, du hörst ihn unten in ferner Tiefe die Wälder durchrauschen, und er
treibt auch dich unter dein Obdach, um dich zu neuen Beschwerden, aber
auch zu neuen Freuden und Genüssen zu stärken.
Kaum erwachst du, so kletterst du von dem Heulager unter dem Dache
herunter an die Thür, denn Fenster gibt es nicht, um nach dem Wetter
auszuschauen. Aber welcher traurige Wechsel! Dichte Nebelwolken trei-
ben über die benetzten Blöcke und das bcthaute Gras, der Nebel und die
Kälte treiben dich zurück in die Hütte, wo die Sennerin unterdes das
kräftige Morgenbrot bereitet hat. Dann geht es, durch mehrere Anzeichen
des Wetters aufgemuntert, frisch auf der schlüpfrigen Bahn aufwärts zum
Gipfel. Muthig kämpfst du dich durch das Labyrinth des Krunimholzes
hindurch und arbeitest dich über ein Klippenmeer hinan zu dem ersehnten
Gipfel, und zugleich aus dem Getreide der Wolken hinaus in den blauen
Äther. Die ganze Tiefe ist mit einem undurchdringlichen Wolkenmecre
bedeckt; nur die höchsten Felsengipfel starren als öde Felseneilande aus dem
Ocean; im Süden aber die ganze Gipfelreihe von Eisbergen, die ersten
Strahlen der Morgcnsonue vergolden sie schon. Abgeschnitten von aller
Welt, bist du auf ein ödes Felsenriff verschlagen, die ganze Welt liegt unter
dir begraben, du allein bist übrig geblieben. Mit dem ersten Gruß der
Morgensonne au den südlichen Eiszinnen erhebt sich der Morgenwind von
Norden nach Süden und setzt den Ocean unter dir in Bewegung. Wie
45
die Wogen der Brandung, schlagen die vom Nordwind gejagten Wolken
an den senkrechten nördlichen Absturz des Berges; doch nur als leichter
Flor berührt dich bisweilen ihr luftiger Schaum. In wilder Unordnung,
wie ein geschlagenes Heer, treiben sie unter dir hin. Plötzlich öffnet ein
heftiger Windstoß den Grund des aufgeregten Meeres; schwarz und blau
liegt es da unten, denn noch deckt Dunkel die Tiefen; du glaubst in die
ewige Nacht der Hölle zu blicken, und ein Paradies erscheint dein ödes
Eiland gegen die Nacht des Abgrundes; doch gleichsam nur um deine Neu-
gier zu erregen, deine Aufmerksamkeit zu spannen, zerriß der Wolkeuschleier;
denn noch ehe du die Tiefen beobachten kannst, verhüllt sie schon ein neues
Heer von Wolken. Jetzt geht auch für dich die Sonne auf, und schweigend
betrachtest du die weit ausgebreitete, wollige Wolkensteppe; fast unmöglich
dünkt es, daß du gestern da unten weiltest, daß du heute noch da hinab-
steigst. Von der Sonne aufgeregt wird das Getreide der Wolken wilder,
als vorher; du glaubst jetzt in den dampfenden Krater eines Vulkans hinab-
zusehen, wirbelnd steigen die Wolken, an die Felsenwand getrieben, gleich
Rauchsäulen empor, jeden Augenblick glaubst du von ihnen umhüllt zu
werden; doch kaum erreichen sie die Höhen deines Gestades, so zerrinnen
sie in nichts. In tiefe furchtbare Schluchten und Abgründe der Wolken
fällt dein Blick; eine finstere Nacht gähnt dir entgegen. Eben erwartest
du, daß sich der Abgrund öffne, um dir Feuer und Flammen entgegen-
zuschleudern, dich zu verderben. Da öffnet er sich wirtlich, wo er am
schwärzesten ist; aber statt des Verderbens, statt der Finsternis lacht dir
ein heiteres, reizendes Bild, ein Paradies aus dem Risse der Wolken ent-
gegen. Ein bunter, vielleicht nie gesehener Farbenwcchsel wird jetzt in
eben so bunter Reihenfolge unter dir hingezaubert; immer größer werden
die Risse der Wolken, immer mehr löst sich ihre Decke in einzelne Ab-
theilungen. Jetzt erst kannst du nach und nach das bunte Gewirr in
schwindelnder Tiefe cnträthseln; jetzt erst begreifst du die Erhabenheit deines
Standpunktes; in senkrechte, blaue Tiefe fährt die Felscnwand nieder, um-
lagert von den waldigen Verbergen; dort bricht mitten aus nächtlichem
Schlunde der blaugrüne Spiegel eines See's hervor, halb noch umstanden
von Steilwänden und dunkel sich spiegelnden Waldbergen, halb in die weite,
bunte Ebene des Flachlandes sich ausstreckend; im Süden baut sich eine
Mauer über die andere auf; jede sucht es der anderen durch starre Wild-
heit zuvorzuthun; stolz spiegeln' auch sie sich in prächtigen, unter ihnen aus-
gegossenen Seen. Rosenroth, fast mit dem Schnee, der sic umlagert, wett-
eifernd, überragen die Hörner des Hochkalkes die tiefern Gebilde. So
schroff ihre Umrisse sind, so grotesk ist der Wechsel von Licht und Schatten,
bis sie in der Tiefe das sanftere Kleid der Matten, oder das dunkle Ge-
wand der Wälder umhüllt; wie ein fernes silbernes Gewölk schwebt über
alten die mit Eis gepanzerte Kette der Tauern. Wiederum nach Norden
gewandt, breitet sich als Gegensatz zu dem Gezack, Gehörn der öden Fels-
gebirge, der Garten des Flachlandes aus, ein Horizontalgestreif von Blau,
Grün, Gelb und Roth in allen möglichen Tönen, je nachdem Äcker und
Wiesen, Getreide- und Saatfelder, Wälder und Moose nahe und ferne
mit einander wechseln; hier und da durchfährt ein glühender oder blauer
Streifen die duftende Ferne, einen See oder Fluß verrathend; die Häuser-
—
Nicht jeder Vieh besitzende Gcbirgsbaner „fährt selbst auf die Alp";
die Große seiner Herde entscheidet darüber. Wer 24 oder mehr Kühe
besitzt, heißt ein „Sennten-Bauer", weil diese Anzahl, besonders wenn ein
Zuchtstier dabei ist, ein „Senntum" genannt wird. Solch größere Vieh-
besitzer haben entweder eigene Alpweiden, oder sie nehmen deren in Lehen-
zins, oder sie benutzen die Gemeinde-Alpen. Kleinere Bauern, die nur
gruppen der Städte und Dörfer gleichen weißen Sandkörnern, in Unzahl über
die Fläche ausgestreut. Schwer hält die Trennung von einem Punkte, der in so
kurzer Zeit eine wahre Zaubcrwelt vor deinem trunkenen Auge vorüberführte.
Schaubach.
5. Sennenleben in den Alpen.
Die Alpcuwirtschaft ist ganz anders, als man sich dieselbe bisweilen
denkt. Sie existiert nur während des Spätfrühlings, im Sommer und bis
in die ersten Herbstmonate hinein. Während des Winters herrscht in den
Alpen eben so gut Stallwirtschaft, wie überall bei jedem Bauer. Derjenige
nun, welcher mit seiner Herde während der guten Jahreszeit ins Gebirge
hinaufzieht, ist ein Senn. ' In der Schweiz ist's Aufgabe der Männer, —
in den östlichen Alpen, im bayerischen Oberlande und in Oesterreich meist
Geschäft der Weiber, — der „Sennerin, Almerin".
Ein Senn ist, mit wenig Ausnahmen, ein ungemein prosaischer Ge-
birgsbauer. Sein Vieh ist sein Hauptbesitz, und darum die Quelle.seines
Lebensunterhaltes und Verdienstes, der Gegenstand seines Nachdenkens und
seiner größten Sorgfalt, sein Stolz, kurzum der Inbegriff seiner irdischen
Lebensaufgabe.
47
wenige Kühe besitzen, gehen im Frühling wohl persönlich in die Voralpen;
aber wenn das Vieh dann im Juli nnd August in die höheren Weiden
getrieben wird, so übergeben eine Anzahl von Nachbarn ihr Vieh einem
gemeinsamen Sennen, mit dem sie dann am Schluß der Alpenzeit (gewöhn-
lich Michaelistag) Abrechnung halten. Um aber eine solche Auseinander-
setzung des Käse- und Butter-Ertrages der verschiedenen Interessenten fest-
stellen zu können, da nicht eine Kuh so viel Milch gibt, als die andere,
so gehen sämmtliche Bctheiligte während der Dauer der Alpzcit an zwei
besonders hierzu bestimmten Tagen hinauf. Da wird in Gegenwart sämmt-
licher Antheilhaber eine jede Kuh gemolken, ihre Milch gemessen und nach
diesem Ergebniß der Bruchtheil des Einzelnen am gemeinschaftlichen Gewinn
festgestellt. Der mit der Milchwirtschaft beauftragte Senn besorgt nun
während der ganzen Alpzeit mit seinen Gehülfen alle Tagesgeschäftc und
empfängt dafür einen bedungenen Lohn oder Antheil am Ertrag.
Um jedoch die Alpenwciden in gutem Stande zu erhalten nnd bei
der größten Freiheit auf den Bergen dennoch Ordnung zu handhaben, der
jeder sich unterziehen muß, wählen alle Alpengenosscn einen „Alpenmeister",
eine Art Gcbirgspolizci, »der die Alp in Ehren halten, schützen nnd schirmen
soll, als wie sein eigen Gut, — der Weg und Steg machen und Acht
haben soll, daß Niemand im „Birg heue" (Wildheu mache) bis nach St.
Jakobstag, — der die Alpengenossen anhalte, jährlich einen Tag die Alp
zu säubern und zu steinen und Ähnliches mehr. So schreibt's das „Alp-
büchli" vor, eine von den Bauern in der „Alpgemeinde" selbst gegebene
Gesetzsammlung, die jährlich einmal verlesen und bestätiget oder je nach Be-
dürfnis durch Mehrheitsbeschluß abgeändert werden muß.
Der Winter verläuft einförmig nnd still. Die Alpendörfer sind tief
eingeschneit; oft fehlt die Verbindung von einem Thaldorf zum andern,
— oft sogar, wo die Häuser weit zerstreut im Grunde liegen, die Com-
munication der Wohnungen unter einander. Das einzige Geschäft, welches
die Thalbauern in die Höhe lockt, ist entweder das Herabschlitten des Holzes
oder des Wildheues.
Endlich zieht der Frühling auch ins Alpcnland ein. Es ist Ende
Mai! Der langersehnte Tag der Alpfahrt kommt, — des Aufcrstehungs-
festes im Wirtschaftskalender des Sennen. Schon mehrere Tage vorher
war er droben mit dem Knecht, hatte den Weg, wo er vielleicht durch
eine Lawine zerstört war, wiederhergestellt, das Dach nachgesehen, überhaupt
die nöthigsten Vorkehrungen zum Einzug der Gäste getroffen. Jetzt schmücken
sich die Sennen und alle, welche in die Berge mitziehen. Die Schwester
heftet dem Bruder, „'s Maideli" ihrem „Bnob" Blumensträuße mit Flitter-
gold oder Kränze von jungem Laub und Buchsbanm auf den Hut; bunte
Bänder flattern und winken, — das blendendweiße, hoch über die gebräunten
Arme hinaufgewickeltc Linncnhemd sticht gut gegen die scharlachrothe Tuch-
weste und die leuchtend-gelben, ledernen Kniehosen der Appenzeller und
Toggenburger ab.
Die Kühe sind gestriegelt, daß sie im goldigen Sonnenschein glänzen
und kein Wassertropfen ans den glatten Haaren haften würde. Mit Jauchzen
h"d „Zauren", die einen unverwüstlichen Humor bekunden, eröffnet da, wo
bloß Männer zur Alp „fahren", der „Zusenn", mit dem weißgescheuerten
— 48
oder buntbemalten Bielkcimerli ans der Schulter, den Zug. Ihm folgen
die schönsten und größten Kühe mit den fußhohen, messingblechenen „Trychlen"
(Glocken), die an breiten, ledernen, mit allerhand farbig ausgenähtem Putz-
werk versehenen Halsbändern hängen. Diese Glocken, deren gewöhnlich nur
drei bei einem Zuge sind, bauchen oberhalb am Henkel ziemlich breit aus,
oft einen Fuß im Durchmesser, laufen nach unten schmaler zusammen und
verursachen solch einen heillosen, trommelähnlichen-alarmierenden und doch
nicht unharmonischen Lärm, daß man ihn bei geeigneter Luft eine Stunde
weit hört. Man legt diese Riesenschellen den Kühen nur für die Dauer
an, während welcher der Zug durch die Dörfer geht, um Pracht mit der
Herde zu treiben und alles Volk herbeizulocken. Ist dieser Zweck erreicht,
dann wird dieses gewichtige Spectakel- Instrument den Kühen wieder vom
Halse genommen, weil erfahrungsgemäß das lange Tragen derselben den
Lungen der Thiere nachtheilig ist.
Jetzt entstehen in den Dörfern, durch welche der Zug kommt, völlige
Volksaufläufe; denn Alt und Jung will des „Franz-Antony-Lismer-Seppelis"
schönen „Chüena" (Kühe) die Revue passieren lassen und mit Kennermiene-
deren Bau und „G'schlachtheit" prüfen. Blökend und springend, gleich
als ob sie es wisse, daß es hinaufgehe zu den gcwürzigen, nahrhaften Alp- '
weiden, folgt nun, in lange Reihen aufgelöst, die ganze Herde der Kühe,
Galtlingc, Ziegen und Lämmer, — mitten darunter brummend und mürrisch'
der Zuchtstier, heute der Sündenbock des allgemeinen Spottes; denn der
Volkswitz bindet ihm altherkömmlich den Melkstuhl, mit Blumen geschmückt,
zwischen die Stirngabel der Hörner. Neben dem Zug gehen im leinenen
Futterhemd und in der groben Zwilchhose der „Gaumer" (Hirt) und der
„Handbub", dem Zusenn mit „Juchz'gen" und Jodeln secundierend. Den
Schluß endlich bildet das Saumroß mit den Käserei -Geräthschaften und
der Herdenbesitzer in unverkennbarem Selbstbewußtsein des augenblicklich
zu feiernden Triumphes.
Im allgemeinen bleiben Weiber und Kinder in den Thaldörfern zurück.
Aber es gibt in Graubünden, z. B. im Davos und in Mutten, sowie
in Wallis, Ortschaften, die mit Kind und Kegel ins Sommerdorf auswandern,
und ihren Winteraufenthalt, die Häuser verschlossen, vollständig verlassen;
— höchstens daß ein alter Mann als Wächter zurückbleibt. — So geht's
hinauf auf die Berge, in die Alpen.
Das ist die malerische, fröhliche Seite eines Alpenfahrt-Bildes. Aber
es gibt auch Herden-Expeditionen im Hochgebirge, bei denen es nicht nur
beschwerliche Passagen zu überwinden, sondern Kräfte und Umsicht zu
brauchen, ja sogar das Leben zu riskieren gilt. Dies ist vornehmlich der
Fall, wenn die Alpweide jenseit eines Gletschers liegt und es gilt, die
schlüpfrige Eisfläche mit ihren verborgenen Spalten und Schründen zu
überschreiten. Da bedarf es denn besonderer baulicher Vorkehrungen; mit
Hülfe des Pickels und der Axt hat man Stege und Bretterbrückcn ge-
baut, oder Wege durch die Eislabyrinthe gebahnt und mit sandigem Geröll
und Erde bestreut, um dem Vieh den Widerwillen gegen das ihm un-
heimliche, fremde und trügerische Element zu benehmen. Oft^ sträubt sich
die Herde mit unverwüstlichem Trotz, die glasige Eisspiegelfläche zu be-
treten, und die Sennen sind genöthigt, zu den verzweifeltsten Zwangsmitteln
49
zu greifen. Ja, es gibt sogar Alpen, zu denen ein Haupt Vieh nach dem
andern wie Waarcnballcn am Flaschcnzuge des Krahnen über hohe Felscn-
wände hinabgelassen werden müssen.
Schmucklos, einfach, wie ein Wurf aus freier Hand, traulich und ein-
ladend wie ein herzlicher Gruß des Willkommens auf den Matten, mitunter
sogar theatralisch-malerisch liegt das schützende Dach der stillen Sennhütten
im Kräutermeer der Alpweide da. Der ganze Ban ist in den wälder-
reichen Gegenden durchaus Blockhausconstrnction, also lediglich aus Holz
errichtet, das von der langjährigen Wirkung der Sonnenstrahlen tief ge-
bräunt wurde. Nur der wenige Fuß hohe Unterbau ist grobes Stein-
gefüge. Über diesem einstöckigen, kunstlosen Erdgeschoß, das seiner un-
gesuchten Natürlichkeit halber ganz mit der in ihrer Einfachheit majestätischen
und erhabenen Gebirgswelt harmoniert, ruht das flache, silbergrau-glänzende,
derbe Schindeldachs Es ist mit schweren Steinen belastet, damit der
wilde Föhn, des Älplers „ältester Landsmann", wenn er aus dem Süden
warm einherbraust, über die Felsenklippen niederstürzend sich in die Berg-
mulden einbohrt und
— „feine Donnerwürfe wirft,
Daß Wald und Fels herunterbricht erschrocken," —
die Friedenshütte unangetastet lasse. Diese ist des Sennen und seiner Ge-
hülfen Asyl während der Sommermonate. In denjenigen Alpen, wo gute
Ordnung herrscht und für das Vieh vorsorgliche Einrichtungen getroffen
wurden, sind nahe bei der Sennhütte „Gaden" oder Stallungen errichtet,
in denen die Heerde während der wilden Wetter eingestellt wird. Nicht
überall aber hat man solche Einrichtungen getroffen, und es gibt noch Alpen
genug, in denen die Wcttcrtanne der einzige Znfluchtswinkel des armen
Viehs während der Hitze und der furchtbaren Hochgewitter ist. Die dem
Gebirgsbewohner angeborene und anerzogene Lässigkeit vermag es nicht zu
überwinden, daß irgend eine Neuerung in der Alp vorgenommen werde.
Wie es zu „Pfuchhähni's" (Ur-Urgroßvaters) Zeiten war, so wird die
Alpenwirthschaft auch heute noch betrieben.
Jst's irgend thnnlich, so wird die Sennhütte an einen Felscnklotz gebaut
oder, wenn er überhängt, sogar zum Theil unter denselben geschoben, um
einen recht kühlen Platz für den Milchkeller zu gewinnen. Rinnt vollends
gar ein frischer Quell oder eisiger Gletschcrbach in der Nähe, so leitet
der Älpler das Wasser gern durch sein Magazin, um die von der Milch
gesäuerte Luft durch die entstehende Ventilation zu entfernen und dagegen
frische, dem Wasser entströmende Lufttheilchcn dem Gemache zuzuführen.
Die nächste Umgebung einer Sennhütte ist fast immer ein bodenloser Koth,
in dem Alpensauerampfer wuchernd wächst/ Das Innere entspricht in den
meisten Fällen dieser unsauberen Umgebung. Denn Reinlichkeit und Akkuratesse
sind allenthalben nichts weniger als hervorragende Eigenschaften viehzüchtender
Völker, und der Älpler bestrebt sich durchaus nicht, hierin als Ausnahme zu
erscheinen. Der leuchtende, farbenheitere Festtagsanzug, der das Auge bei
der Auffahrt so anregend ergötzte, ist verschwunden. Weite, derblcinene
Beinkleider, die in allen Schattirungcn der Stallbeschäftigung schillern, und
ein gleiches Futterhemd, d. h. eine blousenähnliche Jacke ohne Schlitz ans
4
50
der Brust, bstden mit den schweren klappernden Holzschuhcn und einem eng-
anliegenden Käppchen die ganze Bekleidung des Sennen.
Die Thür zum Innern der Sennhütte führt sogleich zu den innersten
Gemächern. Nach altgermanischer Sitte ist Wohnzimmer und Küche,
Speiselocal und Ankleidekammer zu einem Gesammt-Zimmer vereinigt, und
hier kann man buchstäblich am gastlichen „Herde" weilen. Letzterer und
der über ihm aufgehängte Milchkessel nehmen den meisten Raum ein und
bekunden dadurch ihre hohe Bedeutung. Hier ist die Stelle, wo der Scheidungs-
proceß vorgenommen wird, der die erste feste Grundlage zu den dclicaten
„Schweizerkäsen" legt. Bezeichnend wird darum auch diese Localität der
„Weller" (wo die Milch „erwellct" oder leicht aufgekocht wird) genannt.
Unter dem Herd darf man sich indessen keine eigentliche Kücheneinrichtung
denken, etwa so, wie man sie in alten Bauernhäusern findet, mit umfang-
reichem Schlotfang; — solche Weitläufigkeiten passen nicht zur Einfachheit
der Baukunst in den Alpen. Etwa so, wie es der gute Robinson Crusoe
aus Noth einrichtete, trifft heutiges Tages der Senn in den Schweizer-
Alpen seine Küchenvorkehrung; ein schwarzes, verkohltes Loch im vorderen
Winkel der Hütte mit einigen Steinen eingefaßt, ohne Rauchleitung, stellt
den Herd dar. Daneben steht ein senkrecht aufgerichteter, oben und unten
eingezapfter und deshalb drehbarer Baum mit langem, eisernem Arm, der
sogenannte „Turner", an den der große Milchkessel gehangen wird. Der
Rauch mag sehen, wo er seinen Ausweg findet, — cs steht ihm frei, zur
Thür, oder durch die Dachklinsen, oder durch die Ritzen zwischen dem Gebälk
hinauszuschleichen. Darum ist das Innere jeder Sennhütte auch wacker
cingeräuchert. Ist die Alpenluft rein, fein, dünn und wenig mit Wasser-
gesättigt, so werden die Dämpfe auffallend rasch verzehrt, so daß sic die
Lungen nicht sonderlich belästigen. Schneit's und regnet's aber, so daß die
Luft schwer aufs Dach drückt, dann ist der ohnehin zughafte, kalte Aufenthalt
in der Hütte des Rauches halber fast kaum erträglich. Die weiteren Be-
quemlichkeiten für die allerdringcndstcn täglichen Bedürfnisse sind: ein etwa
2 Fuß langer Klapptisch, der, in Angeln an der Wand befestigt, der Raum-
ersparnis halber nach dem Gebrauch zurückgeschlagen werden kann; dann eine
Truhe in Form einer Bank längs der Wand, ein Holzklotz, der die Dienste
eines Sessels zugleich vertreten, und ein Napfbrett, das die Stelle eines
Schrankes versehen inuß, ans dem allerlei Geräthschaften, Brot und Klei-
dungsstücke aufbewahrt werden. Außerdem hängt vielleicht eine Büchse im
Winkel, wenn der Senn zugleich Jagdliebhaber ist, und in den katholischen
Gebirgstheilen ist das Weihwasserkesseli mit dem „Nüster" (I'ntsi- irostoi-
oder Rosenkranz) nicht vergessen, welches vielleicht noch durch ein an das
Brettgctäfel geklebtes „Heiligenbild" zur Erhöhung der häuslichen Andacht
vermehrt wird. Alle übrigen in der Hütte vorkommenden Geräthschaften
gehören zur Butter- und Käse-Bereitung. Das Schlafgemach ist sehr ver-
schieden angebracht. Im Berner Oberlande, wo die Sennhütte an ihrer
Eingangsfront, eine Art kunstloser Vorhalle hat, der Melkgang genannt (weil
im Schutz desselben das Vieh bei schlechtem Wetter gemolken wird), befindet
sich das Ruhclager in diesem Dachvorban; in anderen Gegenden wurde
dasselbe über den Schweincstall verlegt. Welche Annehmlichkeiten für diesen
»Fall ans der unmittelbarsten Nähe der unruhigen, ewig grunzenden Schlaf-
51
kamcradcn und durch ihre Ausdünstungen erwachsen, ist begreiflich. Übrigens
steht das Lager selbst an Ursprünglichkeit seiner Einrichtung dem Charakter
und der Einfachheit der ganzen Hütte durchaus nicht nach; ein mit Wild-
heu ausgestopfter Matratzensack, die ungestörte Heimat einer Legion von
springenden Blutsaugern, und eine Wolleudecke oder, wie in Wallis und
Graubünden, eine aus Schaffellen zusammengesetzte Decke, bilden die ganze
Ausrüstung der Schlafstätte. Ist nun das Schindeldach nicht gut verwahrt,
so begegnet's, daß bei solidem, kräftigem Regenwetter der Schläfer einem
unfreiwilligen Tropfbade ausgesetzt wird, — oder wenn das flache Hütten-
dach an einen erklimmbaren Felsenklotz anlehnt, so klettern die naseweisen,
nie rastenden Ziegen nachts auf demselben herum und verursachen solch
einen Skandal, als ob der gehörnte Pferdefüßler da droben sein ungeheuerlich
Wesen triebe. So sieht's in den „idyllischen, romantischen Sennhütten"
aus, die auf der Bühne so reizend erscheinen.
In jeder einigermaßen großen Alpcnwirtschaft der Schweiz Hausen
gewöhnlich drei Älpler und ein Knabe. Weiber besorgen dieselben, wie
schon erwähnt, nur in den österreichischen und bayerischen Alpen, sowie in
einigen Thälern des Wallis. Der Senn, entweder selbst Herdenbesitzcr
oder Beauftragter einer Gesellschaft, führt das Regiment, besorgt die Käserei
sammt deren Magazine und ist zugleich Buchhalter des Geschäfts. Alle
Geschäftsbücher finden sich entweder in einem mit Papier durchschossenen
Quartkalcnder vereinigt, der hinter einem angenagelten Holzspan an der
Wand steckt, oder irgend ein kleines Taschen-Notizbuch enthält die Hiero-
glyphen der- ganzen Geschäfts-Abwickelung. Sein Beistand und Handlanger
ist der „Sennbub, Handbub", der wie der Senn den größten Theil der
Zeit in der Hütte zubringt; er hat die Gefäße zu reinigen ldie im Gegen-
satz zum beschriebenen Aussehen der Hütte auffallend sauber gehalten werden,
weil von diesem Umstande die Güte der zu gewinnenden Milchproducte ab-
hängt) und dem Senn unmittelbare Handhülfe zu leisten, ist aber nicht
immer ein 14- oder Ibjühriger Bube, sondern oft ein derber Gesell, der
seine ^Dreißig überwunden hat. Die Vermittclungspcrson zwischen Berg
und Thal, der Käse-Merkurius und Heimats-Telegraph, ist der „Zusenn",
welcher alle Alpenprodncte hinab und Holz sammt Bictualien heraufzu-
schaffen hat. Ihm steht, wo gute Einrichtungen getroffen sind, ein Sanm-
wß zu Diensten. Der eigentliche Hirt endlich ist der „Chüener, Gaumcr,
Kühbub oder Rinderer"; seine ausschließliche Obliegenheit ist's, das Vieh
auszutreiben und zu hüten. An sicheren Orten, wo kein Vieh stürzen
und kein Raubthier der Herde schaden kann, liegt er halbe Tage lang bei
gutem Wetter am Boden, schaut in die herrliche Gebirgslandschaft hinaus,
jodelt nach Herzenslust in die Thäler hinab und ist selig im träumerischen
Nichtsthun. Gilt's aber,-das Vieh auf steiler Alp zu hüten, dann muß
fr am schwindelnden Abgrunde gehen, zu äußerst, wohin das weidende Thier
sich nicht getraut, — und auf Schritt und Tritt geht der Tod dicht neben
chm. Beim Sturm und Hochgewitter, im strömenden Regen und zu jeder
Tageszeit muß er seinen lebensgefährlichen Beruf erfüllen, und da ist's
nicht selten, daß er Tage lang in völlig durchnäßten Kleidern verbleiben
muß. Dies ist die Kehrseite des so reizend geschilderten Hirtenlebens. Aber
auch der Senn bekommt sein Theil davon, wenn's Wochen laug regnet
4*
Nebel des Gebirges sich grau und unheimlich um die Hütte lagern, das
nasse Holz nicht brennen will und Wind und eisiger Luftzug durch die
Hütte fegen, daß die Glieder erstarren, oder wenn's gar im Juli schneit
und fußhoh Flocken wirft, daß das Vieh Tage lang kein Futter findet,
vor Hunger brüllt und keine Milch gibt. So auffallend und sichtbarlich
die Herde auf der Alp während eines guten Sommers sich mästet, so
sehr verelendet und magert sie in einem kalten, nassen Sommer ab.
Des Älplers Tagesordnung ist höchst einförmig, Sonntag und Wochen-
tag die gleiche; kein Glockenklang läutet die Sabbathrnhe ein, kein schmuckes
Kleid bezeichnet den Feiertag, kein Schluck Wein netzt am Wirtstisch den
durstigen Gaumen am Abend. Während die ganze Landschaft noch träumerisch
nebelblan dem frühen Morgen in den Armen ruht, die Thäler tief drunten
dämmernd dampfen und Streifen weißen Nebelrauches durch die Schluchten
streichen, während die Nacht durchs Mvrgcnsternlein ihren Scheidegrnß
sendet und des Himmels frohes Antlitz und der Eisberge Schnecgipfcl von
des Tages erstem Kusse leise erröthen, erhebt sich der Senn von seinem
harten Heulagcr und melkt, während der Handbub Feuer anzündet. Die
gewonnene Milch wird sogleich in dem großen Kessel erhitzt, und mit
„Etschcr" (saure Schotte) geschieden, daß ste gerinnt und sich ausscheidet in
„Käsbulderen" und Molke. Indessen ist auf morgenheiteren Schwingen
der volle Tag hcrabgeschwcbt. Das Sennenvolk hat zu Morgen gegessen,
der Hirt treibt aus, der Handbub säubert seine Geräthe, und der Senn
fährt fort, seine Milchprodukte zu bearbeiten. Häusliche Arbeiten füllen
den Tag reichlich aus. — Jst's dann Abend geworden, entschläft der müde
Tag allmählich, sinkt das ewige „Flammenherz der Welt", dre Sonne,
hinter den Bergen nieder, dann lockt der Hirt oder der Senn mit dem
„Kuhreihen" die Thiere zur Hütte, entleert die strotzenden Enter von der
fetten, rahmähnlichen Milch, und die Procedur vom Morgen, sammt
Abendessen und Reinigen der Geräthe, schließen die Tagesgeschäfte. Bei
einbrechender Nacht tritt dann in den katholischen Gegenden der Senn
vor seine Hütte hinaus, singt mit lauter Stimme durch einen großen
hölzernen Milchtrichter ein Gebet, meist Strophen aus dem Evangelium
Johannis, und den englischen Gruß. Die anderen Hirten im Gebirge und
die im Freien übernachtenden Wildhener oder Wurzelgräber, die cs hören,
knieen fromm nieder und beten ein Paternoster und Ave Maria dabei.
Dieser späte Ruf ersetzt in den stillen, einsamen Alpen die Abendglocke,
welche in den Thälern zum Dankgebet für die Segnungen des verlebten
Tages auffordert, und dient zugleich dem von der Nacht überraschten,
vielleicht verirrten Wanderer als gastfreundliche Einladung. — Mit der
Gastfreundschaft hat's indessen, namentlich in den wälschcn Alpen, mitunter
seinen Haken. Die Hirten in den entlegenen Alpen sträuben sich oft außer-
ordentlich, Fremde zu übernachten, aus Furcht, Verbrechern Untcrschlans
zu geben. Sie können sich's nicht denken, daß man Vergnügens halber oder
um der Wissenschaft willen in den Felsen herumklettert, sic wähnen, nur
Noth und Flucht treiben in die Berge hinein. In Tyrol halten sie Berg-
wanderer häufig für Abgesandte der Regierung, welche die Zustände des
Volkes, ihren Viehstand und Verdienst auskundschaften wollen. „Nun
wird's bald eine neue Steuer geben", ist gewöhnlich der Refrain der Un-
gläubigen. Andere Sennen auf Pacht-Alpen, oder solche, die von Ge-
sellschaften angestellt sind, verweigern aufs gewissenhafteste jede Spende,
oder geben nur um „Gottcswillcn" dem beinahe verschmachtenden Wanderer
etwas alten „Zieger" (trockenen Käse) und ein wenig Milch, nehmen
aber um keinen Preis Geld dafür, um nicht in den Verdacht der Ver-
untreuung zu kommen. Dies ist, wie gesagt, in den weniger von Tou-
risten durchstreiften Gegenden, namentlich in den Seitenthälern des Engadin
der Fall.
Ist in der Hütte alles dann beendet, so geht's zur Ruhe aufs Wildheu,
und ein kräftiger,, tiefer Schlaf stärkt die ermatteten Glieder dieser harm-
losen Naturmenschen.
Nur eine Unterbrechung tritt wie ein freundlicher Ruhcpunkt in das
Einerlei der Alpzeit ein. Es ist das Älplcrfest, die „Alpstubetc". In den
katholischen Gegenden ist bisweilen ein öffentlicher Vormittagsgottesdienst
damit verbunden. Nur sehr wenig Alpen haben Kapellen oder Gotteshäuser,
in denen während des ganzen Sommers einmal Gottesdienst gehalten wird.
Die größte Kapelle steht auf einer der schönsten Alpen, die es gibt, auf dem
Urner Boden; sie sieht einer stattlichen Kirche gleich, und der Pfarrhelfer
von Spiringen im Schächcnthal (Tell's Heimatsthal) liest dort den zahl-
reich versammelten Sennen die Messe.
Der originellste Tempel dieser Art ist das „Wildkirchli" im Appen-
zeller Lande. Eine Felsenhöhle an hoher senkrechter Bergwand (unter der
schönen Ebenalp), gibt die Hallen des Gotteshauses ab, — schlicht, kunstlos,
ein Raturgcwölbc, wie es aus der Hand der gestaltenden Schöpfung hervor-
ging. Kein Marmoraltar, kein Gebilde von Künstlerhand trägt die ge-
weihten Geräthe; — ein schlichter Schrägen, von des Zimmerers Beil be-
arbeitet, versieht den Dienst, — der Altar ist mit einem Teppich verhangen,
und neben frisch gepflückten Alpenrosen in den Vasen flackern die Kerzen
itn Zugwinde gegen die Tiefe der Höhle, das Marterkreuz andampfend, vor
dem die Menge in den Staub sinkt. Das „Wildkirchli" ist dem heiligen
Michael geweiht und alljährlich am Schutzengel-Fest hält ein Kapuziner
droben^ Gottesdienst. — Wir kehren zur Sennhütte zurück.
_ So entschiedene Abneigung der Senn gegen Reinlichkeit und Akkuratesse
in seinem Hanswesen hat, so sehr besorgt ist er dennoch um das Gelingen
seines Milchproductcs. Ihm widmet er die größte Sorgfalt und Pflege,
und wie der große Wein-Producent den Kenner mit Wohlbehagen in seinen
unterirdischen Räumen zwischen den Fässer-Alleen herumführt, so weiß sich
der tüchtige Senn etwas auf seine Käse-Speicher einzubilden. Der arme
Talpi, dem die Käse mißrathcn, verderben, bleibt Jahre laug Gegenstand
des Dorfgcspöttes, und cs gibt deren, die heutiges Tages noch von ihres
Großvaters Zeiten her einen Spitznamen tragen müssen. Es kann nicht
ausfallen, wenn man bedenkt, daß Käse für das gctreidcarmc Gebirgsland
ein wesentlicher Bestandtheil der täglichen Nahrung ist, und daß man die
gesammten Milchproducte des ganzen Alpenlandes, einschließlich Selbst-
verbrauch und Ausfuhr, jährlich auf mehr als hundert Millionen Gulden
schätzt. Tenn was die Schweiz allein an dem allenthalben so beliebten
Schweizerkäse versendet, erreicht die Höhe von mindestens acht Millionen
Franken.
54
Nicht die Sehnsucht zur Thalheimat, nicht der Diangel an Futter nöthigen
den Sennen zuni Rückzug von Staffel zu Staffel; es gibt viele Alpen, die
nicht eigentlich „abgeweidet" sind, wenn die Herde sie verläßt. Das Ein-
treten kälterer Nächte in diesen Höhen ist's, was ihn erfahrungsgemäß ver-
treibt; darum kommt's vor, daß in milden Jahrgängen ausnahmsweise der
Senn einige Wochen länger auf der Alp bleibt, als es sonst üblich ist. —
Herbstelet es nun entschieden, färben die Nachtfröste mit ihren Reifen Blatt
und Halm weiß, entfärben sich die Laubkronen und zieht der Wald sein
buntscheckiges Kleid an, dann mahnt's den Hirten, die „Alp zu entladen".
Vor seiner Hütte zündet er am Vorabend der „Abfahrt" ein lustiges, weit
ins Thalgelände hinableuchtendes Feuer au, das uralte Flammenzeichen der
Gebirgsvölker, durch das sie in ihren Freiheitskämpfen korrespondirten, und
übertaut jauchzend rollen sie die glühenden Klötze über die Felsenhänge hinab,
daß die Funken zerstiebend die Lüfte durcheilen. Das Thalvolk sieht's, und
lauscht und freut sich der Heimkehr der Herden.
Hin ist die Poesie des Hirtculebens fürs laufende Jahr, und im Besitz
des errungenen Gewinnes, im Andenken an die Freuden der Alpzeit, zieht
der Senn hinab und zehrt au der Erinnerung in der tief eingeschneiten
Winterhütte des Thales im Hoffen auf die Wiederkehr des Frühlings.
H. A. Berlepsch. -
88. Der Gemsenjäger.
Der Gemsenjäger verläßt früh, lange vor Anbruch des Tages seine
einsame Wohnung, damit er noch in der Dämmerung auf die höchsten Alpen-
weiden gelangen könne, wo mit den ersten Strahlen der Sonne die Herde
von Gemsen sich einfindet, um zu grasen. Sobald er von fern die Stelle
entdeckt, wo die Gemsen gemeiniglich sich einzufinden pflegen, steht er still,
zieht sein Fernglas aus der Tasche und erforscht genau die ganze Gegend'
Erblickt er keine Gemse, so fährt er fort zu steigen. Sieht er aber' eine
oder mehrere, so bemüht er sich, durch Umwege höher hinan zu klimmen
und über dieselben sich zu erheben. Gelingt^ihm dies, so kriecht er leise
neben den schrecklichsten Abgründen, auf losen Schieferfelscn und schlüpferigem
Rasen, hinter den Felsen herum, bis er den Gemsen so nahe kommt, daß
er deutlich ihre Hörner sieht.
Sobald sich der Jäger so weit genähert hat, daß er die Hörner der
Gemse deutlich erkennt, legt er seine Büchse am Felsen an, zielt und schießt.
Fällt die Gemse, so läuft er hinzu und schneidet derselben sogleich die Sehnen
an den Beinen ab, damit sie ihm nicht wieder entrinne. Dann erst be-
sinnt er sich und sieht sich um, wo er sich befinde. Ist der Weg zu steil
und zu gefährlich, um eine so schwere Beute nach Hause zu schleppen, so
zieht er dem Thiere die Haut ab und begnügt sich mit dem Felle. Ist es
aber nur irgend möglich, so bringt er die gctödtete Gemse auf seinen Schultern,
neben Schlünden und Abgründen, selten ohne Lebensgefahr, nach Hause,
wo er das Fleisch mit seiner Familie verzehrt und das Fell verkauft.
Weit öfter geschieht es aber, daß der Jäger von den Gemsen bemerkt
wird, bevor er zum Schusse kommen kann. Während diese Thiere im Grase
weiden, hält immer eins von ihnen auf einer benachbarten Anhöhe Wache
und wird alle Viertelstunden abgelöst. Bemerkt diese Schildwache irgend
etwas, das ihr bedenklich scheint, so gibt sie den übrigen durch starkes Pfeifen
ein Zeichen. Sogleich laufen dieselben alle herbei und untersuchen den Eirad
der Gefahr. Ist cs ein reißendes Thier oder ein Jäger, was der Schild-
wache in die Angen fiel, so setzt sich die erfahrenste Gemse als Anführerin
an die Spitze des Hansens, und dann eilen sie mit unglaublich großer
Schnelligkeit über Felsen und Abgründe und Gletscher und Schneegebirge
unzugänglichen Wildnissen zu.
Nun erst wird die Jagd beschwerlich und mit Gefahren verknüpft;
denn nun erst erwacht die Leidenschaft des Jägers. Unvorsichtig und ohne
Rücksicht auf die schrecklichen Gefahren, denen er sich aussetzt, verfolgt er
die Thiere, klettert ihnen nach die steilsten Felsenwände hinauf, springt ihnen
hach über unergründliche Abgründe, wo jeder Fehltritt der schrecklichste Tod
ist. verfolgt sie über die gräßlichsten Spalten der Gletscher, vergißt Hunger,
Durst, Ermattung, Weib und Kinder und behält nur immer nnverrückt das
vor ihm her entweichende Ziel vor Augen. Endlich geht die Sonne unter,
die Dämmerung bricht an; nun erst hält er still und überlegt, wo er die
Nacht zubringen will; denn er hat sich so weit verstiegen, daß jede Rückkehr
nach Hanse unmöglich ist. Es wird ihm schwer, ein Nachtlager zu finden;
denn hier findet sich nicht, wie in der Ebene, ein Baum, auf den er steigen,
eine Höhle, in die er sich legen könnte. Hier finden sich nur kahle, nackte
Felsen. Auf einem derselben, den er sich ausgesucht hat, legt er sich nieder,
allein oder in Gesellschaft seiner Mitjügcr. Da bringt er nun die Nacht
zu, im Finstern, ohne Licht, ohne Feuer. Sein Nachtessen, etwas Brot
und Käse, gewährt ihm seine Jägcrtasche; das Getränk dazu der Gletscher.
Das Brot, welches er mit sich führt, ist ans Hafermehl und so hart, daß
cr dasselbe entweder mit seiner Axt entzwei hacken oder zwischen zwei Steinen
56
zerschlagen muß. Ohne Axt geht er niemals ans, denn diese dient ihm,
Tritte in das Eis einzuhauen. So schläft er nun einige Stunden, und ein
Stein dient ihm zum Kopfkissen. In der Morgendämmerung steht er auf,
setzt seine Muskeln in Bewegung; um sich der Kälte zu erwehren, nimmt
er einen Schluck Branntwein, wirft die Jagdtasche über die Schulter, ergreift
die Flinte und geht auf neue Abenteuer aus. Eher geht er nicht nach
Hause, bevor er nicht etwas geschossen hat.
Indessen sind sein Weib und seine Kinder zu Hause in Angst und
Sorgen. Die schreckliche Möglichkeit, daß der Mann, der Vater verun-
glückt sei, daß er endlich das Ziel erreicht habe, dem selten ein Gcmsen-
jägcr entgeht, quält sic unaufhörlich bis zu seiner Zurückkämst. Und wenn
denn nun der Jäger nach langer vergeblicher Mühe endlich seinen Zweck
erreicht und eine geschossene Gemse init nach Hause bringt, so ist die Beute,
aufs höchste gerechnet, ungefähr 12 —15 Mark werth, denn so viel gilt
ungefähr das Fell mit dem Fleische. Welch eine klägliche Belohnung für
so viele Gefahren!
Der Gemsenjäger muß ein sehr guter Schütze sein; denn fehlt er ein-
mal, so gelingt cs ihm in den folgenden Tagen selten wieder, zum Schusse
zu kommen. Frei von Schwindel und Furcht muß sein Kopf sein; denn
überfällt ihn am steilen Abgrunde, oder an der Gletscherspalte auch nur
ein augenblickliches Gefühl der Gefahr, in welcher er schwebt, so glitscht er
aus und ist verloren. Öfters, wenn er an dem steilsten Abgrunde über
einer Tiefe schwebt, die sein Auge kaum ergründet, und wo er nur langsam
mit Hilfe seiner Fußeisen weiter fortkriecht, sieht er sich plötzlich mit einem
dichten Nebel umgeben. Dann kann er weder vorwärts noch rückwärts.
Unbeweglich klebt er an der steilen Felsenwand, wo er seinen Fuß kaum
halb festsetzen kann. In dieser gefährlichen Lage muß er unbeweglich so
lauge mit Geduld ausharren, bis der Nebel, der oft Stunden lang anhält,
sich verzogen hat. Trifft er die Gemsen in einem engen, mit Gletschern
und Eisbergen überall eingeschlossenen Thalc, welches nur einen Eingang
durch eine schreckliche Kluft hat (dergleichen. Thäler es in den Alpen viele
gibt), so ist seine Gefahr groß. ^Sobald die Gemsen ihn am Eingang ge-
wahr werden, stürzt die ganze Herde mächtig auf ihn zu und wirft ihn
durch einen mächtigen Stoß in den unergründlichen Abgrund.
Biele Menschen verlieren jährlich ihr Leben oder werden zu Krüppeln
auf dieser schrecklichen Jagd. Bald führt ein undurchdringlicher dicker Alpen-
nebel, welcher rund umher Berge, Felsen und Gletscher bedeckt, den Jäger
irre und führt ihn weit von seiner Heimat in unwegsame Eiswüsten, wo
Kälte und Hunger ihn tobten; bald führt ein plötzlicher Sturm Schneege-
stöber um ihn hin, so daß er den Pfad verliert und in dem heulenden
Schneestnrme elendiglich umkommt; bald nähert sich in schwarzen Wolken
ein Gewitter, welches mit Regengüssen herabfällt und die Felsen schlüpfrig
macht; bald trocknet eine brennende Hitze die Felsen so sehr aus, daß auf
den glatten Steinen der Fuß keinen sichern Halt findet und der gähnende
Abgrund alle Augenblicke den herabstürzenden Jäger als eine Beute zu ver-
schlingen droht.
Eben so merkwürdig als schauderhaft ist cs, einem beruischcn Gcmscn-
jäger zuzusehen, wenn er in den rauhesten Gegenden seiner vaterländischen
'57
Alpen wandert. Nichts vermag ihn aufzuhalten. Dem Fußsteig zu folgen,
verschmäht er. Überall, wo nur der Fels die kleinste Unebenheit hat,
findet er Raum genug, seinen Fuß hinzusetzen. Allein am merkwürdigsten
ist sein Abwärtssteigen. Hinter sich hält er seinen Stock, auf den er sich
stützt, und so glitscht er an der steilen Felswand schnell herunter, gleich als
stürzte er sich herab. Mit Schrecken sehen die Walliser zu, wenn die Berner
auf diese Weise die fast senkrechte Wand der Gemini hcruntersahren. Innerhalb
zehn Minuten kommen sie so weit, als man ans dem geradesten Fußsteige
kaum in einer Stunde kommen kann. Nöss-it.
89. De,
„Leb wohl, mein Weib, leb wohl,
mein Kind!
Ich muß hinaus, zu jagen.
Die Sonne scheint recht mild, der Wind
Ist lau und lind
Wie nicht seit langen Tagen.
Benutzt will solch ein Wetter sein,
Es ist nicht täglich Sonnenschein;
Vielleicht, daß wir die Strahlen
Mit langer Nacht bezahlen."
Der Älpler Rudi spricht's und nimmt
Gewehr und Rock und Tasche,
Geht, ruft von fern noch weichgestimmt,
Enteilt und klimmt,
Db er kein Wild erhasche;
Allein, die Gcmslcin, sonst so keck,
Ruhn heute, scheint's, im Felsvcrstcck
A»d lassen lang' ihn steigen,
sie sich neckend zeigen.
. Rösli, sein Weib, indes zu Haus
Hört seinen Ruf verhallen,
Blickt zag zum Fensterlein hinaus,
Das bunt und kraus
kimstarrt von Eiskristallen;
klnd wie sie nimmer ihn erblickt,
Fühlt sie sich wunderbar bedrückt
And hält mit innrem Bangen
Den kleinen Sohn umfangen.
Ta ricselt's plötzlich, rauscht und
braust
Wie von der Furka Gipfel;
Sie eilt zum Fenster hin, ihr graust;
So heult und saust
Älpler.
Kein Fön durch kahle Wipfel.
„Hilf, Gott! Es ist der Lauwe Macht,
Die nimmer rieselt, die schon kracht,
Schon donnert, schon entzügelt
Vom Horn herunterflügelt!"
Sie sieht nicht mehr, faßt nur den
Sohn,
Sinkt nur ins Knie, vernichtet;
Da bricht's herein im Wetterton
Und deckt sie schon
Mit Nacht, die nichts mehr lichtet.
Es ist vorbei, der Aufruhr schweigt,
Und regenbogenfarbig steigt.
Als wäre nichts geschehen,
Der Schneestaub in den Höhen.
Schon blickt aus leicht gewölktem Blau
Der erste Sturm hernieder;
Da kehrt, umdampft vom Nebelgrau,
Zu Kind und Frau
Der Alpenjäger wieder.
Ein Gemslein auf der Schulter, geht
Und klimmt er, hält oft an und steht
Und weiß ein banges Ringen
Im Herzen nicht zu zwingen.
So oft ein Uhu kreischt, ein Aar
Im Flug darüber hastet,
So oft erfaßt's ihn wunderbar
Und sträubt sein Haar
Und drückt auf ihn und lastet,
Mit jedem Fußtritt heimatwärts
Fühlt er beschwerter Kopf und Herz;
Wie Glocken hört er's summen
Und wieder hohl verstummen.
58
Erreicht nun hat er bald das Ziel,
Die heiß ersehnte Schwelle;
Er schaut — ist's eitel Sinnenspiel?
Nein, nein, es fiel
Wohl Schnee, auch täuscht die Helle,
Des Eises greller Widerschein,
Auch kann er noch daheim nicht sein;
Auch pflegt ja gern das Sehnen
Sein Ziel so nah zu wähnen.
Und weiter geht er, steht und schaut,
Mißt Firnen, Klüft' und Wipfel;
Was dort, turmartig aufgebaut,
Herniederschaut,
Ist ja der Furka Gipfel;
Und zwischen diesem Alpenrand
Und jener ries'gen Gipfelwand
Muß ja sein Hüttchen stehen,
Muß er ja doch es sehen.
Er sucht — und sieht nicht — Schnee,
nur Schnee —
Und Eis und Schnee nur wieder;
Er sieht's und denkt's und rennt die
Höh'
Hinan, schreit: „Weh!"
Und wirft sich heulend nieder.
Dann springt er auf, stürzt fort im
Lauf
Und schreit, daß Thal und Felsenknauf
Bon seinen Jammertönen
Nachjammernd widerdröhnen:
„Mein Weib, mein Kind, mein
Glück, mein All
Ist eingescharrt, verschüttet,
Zerschmettert vom Lawinenfall,
Bom Eiskristall
Vermauert und verkittet!
Auf, auf, vom Schlaf, Alphüttler, auf!
Zwei Leben, drei stehn hier zu Kauf!
Auf, auf, mit Hand und Spaten
Zu helfen und zu rathen!"
Und mit der Sonne wallt's hinan
In hülfbeflißncm Zuge,
Mit Hack' und Schaufel, Kind und Mann;
Er vorne dran,
Empor zum Felsenbuge.
Die Hände ruhn und rasten nicht,
Bis Scholl' um Scholle schmilzt und
bricht;
Doch wie die Mass' auch schwindet,
Ihr Schoß bleibt unergründet.
Drei Tage wechselnd wallt's hinan
In hülfbeflißnem Zuge,
MitHack' und Schaufel, Kind undMann,
Er vorne dran.
Und wühlt am Felsenbuge.
Umsonst, umsonst! Das Meer hat
Grund,
Hier aber schwindet Stund' um Stund',
Und ohne Gottes Segen
Bleibt alles Thun und Regen.
Da sinkt die Hoffnung jedem Sinn,
Abstehn sie alle klagend;
Nur er stürzt auf den Wall noch hin
Und gräbt darin
Und wühlt, noch nicht verzagend.
Und wühlt bei Tage, wühlt bei Nacht
Mit ewig neuer Kraft und Macht
Trotz allem Herzensklopfen,
Trotz allen Schwcißcstropfen.
Der nennte Tag geht auf, die Last
Des Schnees ist abgequollen;
Und wieder gräbt er ohne Rast
Und stößt mit Hast
Auf festem Grund als Schollen;
Stößt wieder ein, stößt wieder an
Und gräbt und schaufelt, was er kann —
Auftaucht's — ihr Hcil'gen Gottes! —
Es ist das Dach des Schlottcs.
Des Schlottes Dach, des Hauses
Mund,
Der führt zu seinem Herzen;
Er legt das Ohr an, horcht am
Schlund —
Es rauscht im Grund
Und seufzt wie Ruf der Schmerzen.
Und nochmal horcht er, nochmal tönt's
Und wieder, horch! und wieder
dröhnt's —
In unbewußter Eile
Langt er nach einem Seile.
59
Das knüpft er fest, dran knüpft er sich,
Steigt ein, läßt rasch sich nieder,
Langt an, blickt um sich; ,, Rösli — sprich!
Und — Seppi — dich!
Hab' ich euch wirklich wieder?
Jst's wahr? Und lebt und seid ihr's noch?
Und habt's ertragen, Gottes Joch?" —
Sie können ihn nicht grüßen,
Nur Weinen, nur ihn küssen.
Nur beten, flehn zu ihm, der sic
So wunderbar verklärte,
Der ihnen Kraft und Glauben lieh
Und spät und früh
Durch seinen Hauch sic nährte.
Doch, Gott, wie war's, als sie hervor
Ans Licht nun traten, und ihr Ohr
Wettbuhlte mit den Augen,
Das Leben cinzusaugen!
Wie schien, da alles neu und schön,
Die Luft, das Licht, die Sonne!
> Wie Melodie klang von den Höhn
! Für sie der Fön,
Die Adler kreischten Wonne;
j Die wüste, schneebedeckte Flüh
j War mehr als Frühlingsschmelz für sie
Geliebte Freunde schienen
| Die alten Tannen ihnen. —
Im nächsten Lenze stand bereits
Ein Mal am Felscnhangc,
Und jährlich zum geweihten Kreuz
Kam allerseits
Das Volk mit Sang und Klange;
Manch Bräutchen, so vorüber kam,
Sah's an und bat den Bräutigam,
Daß er so treu ihr bleibe
j Wie Rudi seinem Weibe. Seidl,
40. B e r g l i e d.
Am Abgrund leitet der schwindlige Steg,
Er führt zwischen Leben und Sterben;
Es sperren die Riesen den einsamen Weg
Und drohen dir ewig Verderben,
Und willst du die schlafende Löwin nicht wecken,
So wandle still durch die Straße der Schrecken.
Es schwebt eine Brücke, hoch über den Rand
Der furchtbaren Tiefe gebogen,
Sie ward nicht erbauet von Menschenhand,
Es hätte sich's keiner vermögen,
Der Strom braust unter ihr, spat und früh,
Speit ewig hinaus und zertrümmert sie nie.
Es öffnet sich schwarz ein schauriges Thor,
Du glaubst dich im gleiche der Schatten,
Da thut sich ein lachend Gelände hervor,
Wo der Herbst und der Frühling sich gatten:
Aus des Lebens Mühen und ewiger Qual
Möcht' ich fliehen in dieses glückselige Thal.
Bier Ströme brausen hinab in das Feld,
Ihr Quell der ist ewig verborgen,
Sie fließen nach allen vier Straßen der Welt,
Nach Abend, Nord, Mittag und Morgen,
Und wie die Mutter sic rauschend geboren,
Fort fliehn sie und bleiben sich ewig verloren.
60
■
Zwei Zinken ragen ins Blaue der Luft,
Hoch über der Menschen Geschlechter,
Drauf tanzen, umschleiert mit goldenem Duft,
Die Wolken, die himmlischen Töchter.
Sie halten dort oben den einsamen Reih'n,
Da stellt sich kein Zeuge, kein irdischer, ein.
Es sitzt die Königin hoch und klar
Auf unvergänglichem Throne,
Die Stirn umkränzt sie sich wunderbar
Mit diamantener Krone;
Darauf schießt die Sonne die Pfeile von Licht,
Sie vergolden sie nur und erwärmen sie nicht.
0 1 Schiller.
41. Der Hund von Tt. Bernhard.
Über den großen St. Bernhard führt ein Bergpaß aus der Schweiz
nach Italien. In dem öden, hohen Felscnthale, von Bergen umschlossen,
die ewiger Schnee bedeckt, steht die höchste menschliche Wohnung in der alten
Welt, das St. Bernhards-Kloster. Hier wohnen zehn bis zwölf arme
Mönche, deren einziges Geschäft cs ist, die Reisenden unentgeltlich zu be-
wirten und ihnen alle Hülfe angedcihcn zu lassen. In den acht oder neun
Monaten des Jahres, wo Schnee, Nebel, Ungewitter und Schneelawincn
den Weg sehr gefährlich machen, streifen diese Mönche oder ihre Diener
täglich umher um Verirrte aufzusuchen oder Versunkene zu retten. Schon
viele Jahre her bedienen sie sich zur Rettung der Verunglückten auch be-
sonders abgerichteter Hunde. Diese gehen entweder allein aus, oder sie
werden von den Mönchen mitgenommen. Sobald ein solcher Hund einen
Verunglückten ausgewittert hat, kehrt er in pfeilschnellem Laufe zu seinem
Herrn zurück und macht durch Bellen, Wedeln und unruhige Sprünge seine
Entdeckung kund. Dann wendet er um, immer zurücksehend, ob man ihm
auch nachfolge, und führt seinen Herrn nach der Stelle hin, wo der Ver-
unglückte liegt. Oft hängt man diesen Hunden ein Fläschchen mit Brannt-
wein oder andern stärkenden Getränken und ein Körbchen mit Brot um den
Hals, um es einem ermüdeten Wanderer zur Erquickung darzubieten. Ein
solcher Hund war Barry. Zwölf Jahre lang war er unermüdet thätig
und treu im Dienste der Menschheit, und er allein hat in seinem Leben
mehr als vierzig Menschen das Leben gerettet. Der Eifer, den er hierbei
bewies, war außerordentlich. Nie ließ er sich an seinen Dienst mahnen.
Sobald der Himmel sich bedeckte, Nebel sich einstellten oder die gefährlichen
Schneegestöber sich von weitem zeigten, hielt ihn nichts mehr im Kloster
zurück. Nun strich er rastlos und bellend umher und ermüdete nicht, immer
und immer wieder nach den gefährlichen Stellen zurückzukehren und zu sehen,
ob er nicht einen Sinkenden halten oder einen Vergrabenen hervorscharren
könne, und konnte er nicht helfen, so setzte er in ungeheuren Sprüngen nach
dem Kloster hin und holte Hülfe herbei. Als er kraftlos und alt war,
sandte ihn der würdige Prior'nach Bern, wo er starb und in dem Museum
aufgestellt wurde. Lenz.
61
42. Des Knaben Berglikd.
1. Ich bin vom Berg' derHirtenknab',
Seh' auf die Schlösser all' herab.
Die Sonne strahlt am ersten hier,
Am längsten weilet sie bei mir.
Ich bin der Knab' vom Berge!
2. Hier ist des Stromes Mutter-
haus,
Ich trink' ihn frisch vom Stein heraus;
Er braust vom Fels in wildem Lauf,
Ich fang' ihn mit den Armen auf.
Ich bin der Knab' vom Berge!
3. Der Berg' der ist mein Eigenthum.
Da ziehn die Stürme rings herum,
lind heulen sie von Nord und Süd,
So überschallt sie doch mein Lied:
Ich bin der Knab' vom Berge!
4. Sind Blitz und Donner unter mir,
So steh' ich hoch im Blauen hier;
Ich kenne sie und rufe zu:
Laßt meines Vaters Haus in Ruh'!
Ich bin der Knab' vom Berge!
5. Und wann die Sturmglock' einst
erschallt,
Manch Feuer auf den Bergen wallt,
Dann steig' ich nieder, tret' ins Glied,
Und schwing' mein Schwert und sing'
mein Lied:
Ich bin der Knab' vom Berge.
Uhland.
43. Herder an seine Kinder.
Bozen, den 1. September 1788.
Alle meine lieben Kinder, Gottfried, August, Wilhelm, Adelbert,
Luischen und Emil!
Ich bin jetzt nahe an den Grenzen Deutschlands und habe die großen
Tyroler Gebirge beinahe zurückgelegt. Es sind hohe Berge, ans einigen
war viel Schnee, und die sogenannte Pforte oder Klause, durch welche man
nach Tyrol kommt, ist besonders wild, schön und prächtig. Auch an der
Martinswand sind wir vorbeigekommen, wo der Kaiser Maximilian sich
verstieg, und haben in Innsbruck mitten in der Kirche ein sehr schönes
Monument von ihm gesehen, von dem ich Euch mündlich erzählen werde.
Jetzt bin ich nun in Bozen, wo heute eine unsägliche Menge Volks ist,
weil 19,000 Kinder gefirmelt werden sollen, da der Bischof in vielen Jahren
nicht gefirmelt hat. Da ist nun vor unserm Wirtshanse zur Sonne ein
solcher Obstmarkt, wie Ihr in Eurem Leben nicht gesehen habt: Birnen,
Zwetschen, Weintrauben, Nüsse, Feigen; denn hier wachsen schon Feigen,
und bald werden wir auch dahin kommen, wo die Pomeranzen- und Citronen-
bäume wachsen. O, daß Ihr hier mit mir wäret oder ich Euch einen Korb
solchen Obstes zuschicken könnte! Aber das schöne Obst faulte unterwegs,
wie zuweilen die schönsten menschlichen Hoffnungen von innen heraus ver-
wesen. — Auch gibt es hier schon platte Dächer, wie cs in Italien viele
geben soll, wo man denn weit umher sehen kann; und die Luft ist gar sanft,
warm und milde. Auf den Tyroler Bergen haben wir auch Gemsli springen
sehen, auch eins in Innsbruck gegessen und ein zahmes gesehen, das gar
niedlich war, seiner Nährerin, einer Bauersfrau, überall hin folgte und so
schlank war, wie ich mir Euch alle wünsche. Da wollte ich, daß Ihr dabei
gewesen wäret und es gesehen hättet; auch wünschte ich, daß Ihr die Tyroler
Berge einmal sehen und fröhlich bereisen möchtet. Lernet nur fleißig und
führt Euch gut auf! Lernt auch hübsch zeichnen, denn das beklage ich sehr,
62
daß ich's nicht kann. Es sind gar zu schöne Gegenden und tausend Wasser-
fälle zwischen den Bergen, die ein Strom, die Etsch, macht. Er fließt sehr
schnell zwischen den Gebirgen und hat insonderheit im Bischofthum Brixcn
schöne Bäume an seinen Ufern, Pappel-, Birken- und Weidenbäume. Wir
sind viele Stunden weit neben ihm gefahren; sucht nur hübsch auf der Karte
nach, da könnt Ihr unsere Fahrt finden. Morgen kommen wir nach Trient;
da finde ich vielleicht oder wohl gewiß Nachricht ,von Euch. — Lebt wohl,
liebe Kinder, habet mich lieb und seid gesund und lebt mit Eurer Mutter
und dem ganzen Hause wohl! Es ist jetzt spät und Ihr werdet schon meistens
in Euren Bettchen schlafen. Schlaft wohl!
Joh. Gottfr. v. Herder.
44. Heimweh.
Wenn der Schnee vom Gebirge niederthaut,
Aus dem See blau der Himmel niederschaut,
Wenn die Glöcklein läuten von den Almen her —
Schau' ich denn die Heimat nimmermehr?
Wenn das Alpenhorn von Firn' zu Firne klingt,
Und der Gemsbock von Klipp' zu Klippe springt,
Wo der Adler kreiset über'm Weltenmeer —
Schau' ich denn die Heimat nimmermehr?
Wenn das Thal blitzt in frischem Morgenglanz,
Aus der Dorfschenk' erschallt Musik und Tanz,
Wenn der Hirte jodelt um die Senn'rin her —
Schau' ich denn die Heimat nimmermehr?
Wo der Staubbach sich stürzet in die Kluft,
Donners Zornhall von Fels zu Felsen ruft,
Fern ertost der Schlaglawinen wildes Heer —
Schau' ich denn die Heimat nimmermehr?
Wenn die Nacht sinkt und rings die Alpen glühn,
Wenn der Tag winkt und Morgenroseu blühn,
O, mein Herz, mein Herz, was pochst du doch so schwer —
Schau' ich denn die Heimat nimmermehr? Schn-tzler.
45. Des Königs Grab.
Die Westgothen wollten durch Italien nach Afrika wandern, unterwegs
starb plötzlich Alarich ihr König, den sie über die Maße liebten. Da huben
sie an und leiteten den Fluß Barcnt, der neben der Stadt Consentina vom
Berge fließt, aus seinem Bette ab. Mitten in dem Bett ließen sie nun
durch einen Haufen Gefangener ein Grab graben, und in den Schoß der
Grube bestatteten sic, nebst vielen Kostbarkeiten, ihren König Alarich. Wie
das geschehen war, leiteten sie das Wasser wieder ins alte Bett zurück und
tödtetcn, damit die Stätte von niemand verrathen würde, alle die, welche
das Grab gegraben hatten. Deutsche Sagen von den Brüdern Grimm.
1.
46. Das Grab im Busento.
Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder,
Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt cs wider.
2. Und den Fluß hinauf, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Gothen,
Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Todten. —
3. Allzu früh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,
Während noch die Jugcndlocken seine Schulter blond umgaben.
4. Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette;
Um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.
5. In der wogenlceren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
Senkten tief hinein den Leichnam, mit der Rüstung, auf dem Pferde.
6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
Daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldcngrabe.
7. Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen:
Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.
8. Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf' in deinen Heldenehren!
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab versehren!"
9. Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gothenheere;
Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu. Meere!
21- u. Platen
47. Nothkäppchen.
Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der
sie nur ansah; am allerliebsten aber die Großmutter, die wußte gar nicht,
was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen
von rothem Sammet, und tveil ihm das so wohl stand, und es nichts anderes
mehr tragen wollte, hieß es nur das Rothkäppchcn. Da sagte einmal seine
Mutter zu ihm: „Komm', Rothkäppchcn, da hast du ein Stück Kuchen und
eine Flasche Wein, bring's der Großmutter hinaus: sie ist krank und schwach
und wird sich dran laben; sei aber hübsch artig, guck' nicht gleich in allen
Ecken herum, wenn du in die Stube kommst, und vergiß nicht „Guten
Morgen" zu sagen; geh' auch ordentlich und lauf' nicht vom Weg ab, sonst
fällst du und zerbrichst das Glas, dann hat die kranke Großmutter nichts."
Rothkäppchcn sagte: „Ich will schon alles gut ausrichten", und gab
der Mutter die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im
Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rothkäppchen in den Wald
kam, begegnete ihm der Wolf; Rothkäppchen aber wußte nicht, was das für
ein böses Thier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Roth-
käppchen", sprach er. — „Schönen Dank, Wolf." — „Wo hinaus so früh,
Rothkäppchen?" — „Zur Großmutter." — „Was trügst du unter der
schürze?" — „Kuchen und Wein; gestern haben wir gebacken; da soll sich
°w kranke, schwache Großmutter etwas zu gut thun und sich damit stärken." —
;>Nothkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?" —„Roch eine gute Biertel-
stunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr
64
Haus, unten sind die Nußhecken, das wirst du ja wissen", sagte Rothkäppchen.
Der Wolf dachte bei sich: „Das junge, zarte Mädchen, das ist ein fetter
Bissen; der wird noch besser schmecken als die Alte; du mußt es listig an-
fangen, damit du beide erschnappst." Da gieng er ein Weilchen neben Roth-
käppchen her, dann sprach er: „Rothkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen,
die rings umher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du
hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich
hin, als wenn du zur Schule gierigst, und es ist so lustig hanßen in dem Wald."
Rothkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnen-
strahlen durch die Bäume hin und her hüpften und alles voll schöner
Blumen stand, dachte es: „Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß
mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, daß
ich doch zu rechter Zeit ankomme", — sprang in den Wald und suchte
Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meint' es, weiter hinaus stünde
eine noch schönere, und lief darnach, und lief immer weiter in den Wald
hinein. Der Wolf aber gieng geradeswegs nach dem Hans der Großmutter
und klopfte an die Thür. — „Wer ist draußen?" — „Rothkäppchen, das
bringt Kuchen und Wein, mach' auf." — „Drück' nur auf die Klinke", rief
die Großmutter, „ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen!" Der Wolf
drückte auf die Klinke, trat hinein und gieng, ohne ein Wort zu sprechen,
geradezu an das Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann nahm er
ihre Kleider, that sie an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und
zog die Vorhänge vor.
Rothkäppchen aber war derweil nach den Blumen gelaufen, und als es '
so viel hatte, daß es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter
wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich,
daß die Thür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so
seltsam darin vor, daß es dachte: „Ei! du mein Gott, wie ängstlich wird
mir's heute zu Muth, und bin sonst so gerne bei der Großmutter." Es
sprach: „Guten Morgen", bekam aber keine Antwort. Darauf gieng es zum
Bett und zog die Vorhänge zurück, da lag die Großmutter und hatte die
Haube tief ins Gesicht gezogen, und sah so wunderlich ans. „Ei Großmutter,
was hast du für große Ohren!" — „Daß ich dich besser hören kann!" —
„Ei Großmutter, was hast du für große Augen!" — „Daß ich dich besser
sehen kaun!" — „Ei Großmutter, was hast du für große Hände!" —
„Daß ich dich besser packen kann!" — „Aber Großmutter, was hast du für
ein entsetzlich großes Maul!" — „Daß ich dich besser fressen kann!" Und
wie der Wolf das gesagt hatte, that er einen Satz ans dem Bette auf das
arme Rothkäppchen und verschlang es.
Wie der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett,
schlief ein und fimg an überlaut zu schnarchen. Der Jäger gieng eben vor-
bei und dachte des sich: „Wie kaun die alte Frau so schnarchen? Du mußt
einmal nachsehen, ob ihr etwas fehlt." Da trat er in die Stube, und wie
er vor das Bett kam, so lag der Wolf darin. „Finde ich dich endlich,
alter Grankopf?" sagte er, „ich habe dich lange gesucht?' Nun wollte er
seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter ge-
fressen haben, und sie wäre noch zu retten, schoß nicht, sondern nahm eine
Scheere und fieng an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie
65
er ein paar Schnitte gethan hatte, da sah er das rothe Käppchen leuchten,
und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: „Ach,
wie war ich erschrocken! was war's so dunkel in dem Wolf seinem Leib!"
und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte
kaum athmen. Rothkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit
füllte sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen,
aber die Steine waren so schwer, daß er gleich niedersank und sich todt fiel.
Da waren alle drei vergnügt, der Jäger nahm den Pelz vom Wolf,
die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rothkäppchen ge-
bracht hatte, und erholte sich wieder; Rothkäppchen aber dachte: „Du willst
dein Lebtag nicht wieder allein vom Weg ab in den Wald laufen, wenn
dir's die Mutter verboten hat/' Br. Grimm.
48. Gebet.
Herr, den ich tief im Herzen trage, sei du mit mir,
Du Gnadenhort in Glück und Plage, fei du mit mir;
Im Brand des Sommers, der dem Manne die Wange bräunt,
Wie in der Jugend Rosenhagc — sei du mit mir;
Behüte mich am Born der Freude vor Übermuth,
Und wenn ich an mir selbst verzage, sei du mit mir.
Gib deinen Geist zu meinem Liede, daß rein es sei,
Und daß kein Wort mich einst verklage, sei du mit mir.
Dein Segen ist, wie Thau den Reben —- nichts kann ich selbst,
Doch daß ich kühn das Höchste wage, sei du mit mir.
O du mein Trost, du meine Stärke, mein Sonnenlicht,
Bis an das Ende meiner Tage sei du mit mir!
E. Geibel.
49. Der Pilger.
In einem schönen Schlosse, von dem schon längst kein Stein auf dem
andern geblieben ist, lebte einst ein sehr reicher Ritter. Er verwandte sehr
viel Geld darauf, sein Schloß recht prächtig auszuzieren, den Armen that
er aber wenig Gutes.
Da kam nun einmal ein armer Pilger in das Schloß und bat um
Rachtherberge. Der Ritter wies ihn trotzig ab und sprach: „Dieses Schloß
ist kein Gasthaus." Der Pilger sagte: „Erlaubt mir nur drei Fragen, so
will ich wieder gehen." Der Ritter sprach: „Auf diese Bedingung hin mögt
ihr immer fragen. Ich will euch gerne antworten."
Der Pilger fragte ihn nun: „Wer wohnte doch wohl vor euch in
diesem Schlosse?" „Mein Vater!" sprach der Ritter. Der Pilger fragte
weiter: „Wer wohnte vor eurem Vater da?" »Mein Großvater!" ant-
wortete der Ritter. „Und wer wird wohl nach euch darin wohnen?" fragte
der Pilger weiter. Der Ritter sagte: „So Gott will, mein Sohn."
„Nun", sprach der Pilger, „wenn jeder nur seine Zeit in diesem Schlosse
wohnet, und immer einer dem andern Platz macht — was seid ihr denn
anders hier, als Gäste? Dieses Schloß ist also wirklich ein Gasthaus.
Verwendet daher nicht so viel, dieses Haus so prächtig auszuschmücken, das
66
euch nur kurze Zeit beherberget. Thut lieber den Armen Gutes, so bauet
ihr euch eine bleibende Wohnung im Himmel."
Der Ritter nahm diese Worte zu Herzen, behielt den Pilger über
Nacht und wurde von dieser Zeit an wohlthätiger gegen die Armen.
Die Herrlichkeit der Welt vergeht,
Nur was wir Gutes thun, besteht.
Christoph Schmid.
50. Johanna Sebus.
(Zum Andenken der siebzehnjährigen Schönen, Guten, aus dem Dorfe Brienen,
die am 13. Januar 1809 bei dem Bisgange des Rheins und dem grossen Bruche
des Dammes von Cleverham, Hülfe reichend, untergieng.)
Der Damm zierreisst, das Feld erbraust,
Die Fluten spülen, die Fläche saust.
„Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,
Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut.“
„„Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,
Die Hausgenossin, drei arme Kind!
Die schwache Frau! ... Du gehst davon!““ —
Sie trägt die Mutter durchs Wasser schon.
„Zum Bühle da rettet euch! harret derweil;
Gleich kehr’ ich zurück, uns allen ist Heil.
Zum Bühl ist’s noch trocken und wenige Schritt;
Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!“
Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.
Sie setzt die Mutter auf sichres' Land,
Schön Suschen gleich wieder zur Flut gewandt.
„Wohin? Wohin? die Breite schwoll;
Des Wassers ist hüben und drüben voll.
Verwegen ins Tiefe willst du hinein?“ —
„„Sie sollen und müssen gerettet sein.““
Der Damm verschwindet, die Welle braust,
Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.
Schön Suschen schreitet gewohnten Steg,
Umströmt auch gleitet sie nicht vom Weg,
Erreicht den Bühl und die Nachbarin;
Doch der und den Kindern kein Gewinn!
Der Damm verschwand, ein Meer erhraust’s,
Den kleinen Hügel im Kreis umsaust’s.
Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;
Das Horn der Ziege fasst das ein’,
So sollten sie alle verloren sein! —
Schön Suschen steht noch strack und gut:
Wer rettet das junge, das edelste Blut?
67
. Schön Suschen steht noch wie ein Stern ;
Doch alle Werber sind alle fern.
Rings um sie her ist Wasserbahn,
Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,
Da nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf.
Kein Damm, kein Feld! nur hier und dort
Bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort.
Bedeckt ist alles mit Wasserschwall;
Doch Suschens Bild schwebt überall. —
Das Wasser sinkt, das Land erscheint,
Und überall wird schön Suschen beweint.
Und dem sei, wer’s nicht singt und sagt,
Im Leben und Tod nicht nachgefragt.
W. v. Goethe.
51. Der geheilte Kranke.
Reiche Leute haben, trotz ihrer gelben Vögel, doch manchmal auch
allerlei Lasten und Krankheiten auszustehen, von denen gottlob der arme
Mann nichts weiß; denn es gibt Krankheiten, die nicht in der Luft stecken,
sondern in den vollen Schüsseln und Gläsern, und in den weichen Sesseln
und seidenen Betten; wie jener reiche Amsterdamer ein Wort davon reden
kann. Den ganzen Nachmittag saß er im Lehnsessel und rauchte Tabak,
wenn er nicht zu träge war, oder hatte Maulaffen feil zum Fenster hinaus,
aß aber zu Mittag doch wie ein Drescher, und die Nachbaren sagten manch-
mal: Ist draußen Wind, oder schnauft der Nachbar so? — Den ganzen
Vormittag aß und trank er ebenfalls bald etwas Kaltes, bald etwas Warmes,
ohne Hunger, aus lauter langer Weile bis an den Abend, also, daß man
bei ihm nie recht sagen konnte, wo das Mittagseffcn aufhörte, und das
Abendessen anfieng. Nach dem Abendessen legte er sich ins Bett und war
so müde, als wenn er den ganzen Tag Steine abgeladen oder Holz ge-
spalten hätte. Davon bekam er einen dicken Leib, der so unbeholfen war,
wie ein großer Getrcidesack. Essen und Schlaf wollte ihm nimmer schmecken,
und er war lange Zeit, wie es manchmal geht, nicht recht gesund und
nicht recht krank; wenn man aber ihn selber hörte, so hatte er 365 Krank-
heiten, nämlich alle Tage eine andere. Alle Ärzte, die in Amsterdam sind,
mußten ihm rathen. Er verschluckte ganze Eimer voll Tränkchen und
ganze Schaufeln voll Pulver und Pillen, wie Enteneier so groß, und man
nannte ihn zuletzt scherzweise nur die zweibeinige Apotheke. Aber alle
Arzeneien halfen ihm nichts, denn er befolgte nicht, was ihm die Ärzte be-
fahlen, sondern sagte: „Tausend, wofür bin ich ein reicher Mann, wenn ich
soll leben wie ein Hund, und der Doctor will mich nicht gesund machen für
mein Geld?" Endlich hörte er von einem Arzte, der 100 Stunden weit
weg wohnte, der sei so geschickt, daß die Kranken gesund werden, wenn er
Ne nur recht anschaue, und der Tod gehe ihm aus dem Wege, wo er sich
sehen lasse. Zu dem Arzte faßte der Mann ein Zutrauen und schrieb ihm
seinen Umstand. Der Arzt merkte bald, was ihm fehle, nämlich nicht
5*
68
Arzenei, sondern Mäßigkeit und Bewegung, und sagte: „Wart', dich will
ich bald geheilt haben." — Deswegen schrieb er ihm ein Brieflein folgen-
den Inhalts: „Guter Freund! Ihr habt einen schlimmen Umstand, doch
wird euch zu helfen sein, wenn ihr folgen wollt. Ihr habt ein böses Thier
im Bauche, einen Lindwurm mit sieben Mäulern. Mit dem Lindwurme
muß ich. selber reden, und ihr müßt zu mir kommen. Aber für's Erste
dürft ihr nicht fahren oder auf dem Rößlein reiten, sondern auf des Schuh-
machers Rappen, sonst schüttelt ihr den Lindwurm, und er beißt euch die
Eingeweide ab, sieben Därme auf einmal ganz entzwei. Für'S andere
dürft ihr nicht mehr essen, als zweimal des Tages einen Teller voll Ge-
müse, mittags ein Bratwürstlein dazu, und abends ein Ei, und am Morgen
ein Fleischsüpplein niit Schnittlauch darauf. Was ihr mehr esset, davon
wird nur der Lindwurm größer, also daß er euch die Leber erdrückt, und
der Schneider hat euch nicht mehr viel anzumessen, wohl aber der Tischler.
Dies ist mein Rath, und wenn ihr mir nicht folgt, so hört ihr im andern
Frühjahr den Kuckuk nimmer schreien. Thut, was ihr wollt!" — Als der
Kranke so mit sich reden hörte, ließ er sich sogleich den andern Morgen
die Stiefel wichsen und machte sich auf den Weg, wie ihm der Doctor be-
fohlen hatte. Den ersten Tag gieng es so langsam, daß wohl eine Schnecke
hätte können sein Vorreiter sein, und wer ihn grüßte, dem dankte er nicht,
und wo ein Würmlein auf der Erde kroch, das zertrat er. Aber schon
am zweiten und dritten Morgen kam es ihm vor, als wenn die Vögel
schon lange nicht mehr so lieblich gesungen hätten wie heut, und der Thau
schien ihm so frisch und die KornroscnAm Felde so roth, und alle Leute
die ihm begegneten, sahen so freundlich aus, und er auch; und alle Morgen,
wenn er aus der Herberge ausgieng, war's schöner, und er gieng leichter
und munterer dahin; und als er am l8ten Tage in der Stadt ankam und
den andern Morgen aufstand, war cs ihm so wohl, daß er sagte: „Ich
hätte zu keiner ungeschickteren Zeit können gesund werden, als jetzt, wo ich
zum Doctor soll. Wenn's mir doch nur ein wenig in den Ohren brauste, oder
das Herzwasser liefe!" Als er zum Doctor kam, nahm er ihn bei der Hand
und sagte: „Jetzt erzählt mir denn doch einmal von Grund aus, was euch
fehlt." Da sagte er: „Herr Doctor, mir fehlt gottlob nichts, und wenn
ihr so gesund seid, wie ich, so soll's mich freuen." Der Doctor sagte:
„Das hat euch ein guter Geist gerathen, daß ihr meinem guten Rath ge-
folgt seid. Der Lindwurm ist jetzt abgestanden. Aber ihr habt noch Eier
im Leibe, daher müßt ihr wieder zu Fuß heimgehen und daheim fleißig
Holz sägen, und nicht mehr essen, als euch der Hunger ermahnt, damit
die Eier nicht ausschlüpfen, so könnet ihr ein alter Mann werden", und
lächelte dazu. Aber der reiche Fremdling sagte: „Herr Doctor, ihr seid
ein feiner Kauz, und ich versteh' euch wohl", und ist nachher dem Rathe
gefolgt, und hat 87 Jahre 4 Monate 18 Tage gelebt, wie ein Fisch im
Wasser so gesund, und hat alle Neujahr dem Arzt 20 Dncaten zum Gruß
geschickt. Hebel.
52. Der Bote im Junius.
Aber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunderschön; wenn
der Dornstrauch blüht und die Erde mit Gras und Blumen pranget!
I
69
So ein heller Decembertag ist auch wohl schön und dankenswerth;
wenn Berg und Thal in Schnee gekleidet sind und in der Morgen-
stunde dem Wanderer den Bart bereift: aber die Lenzgestalt der
Natur ist doch wunderschön! Und der Wald hat Blätter, und der
Vogel singt, und die Saat schiesst Ähren, und dort hängt die Wolke
mit dem Bogen vom Himmel, und der fruchtbare Regen rauscht
herab —
Wach auf, mein Herz, und singe
Dem Schöpfer aller Dinge!
Es ist, als ob er vorüber wandle, und die Natur habe sein
Kommen von ferne gefühlt und stehe bescheiden am Wege in ihrem
Feierkleide und frohlocke. Matth. Claudius.
53. Das
1. Urahne, Großmutter, Mutter
und Kind
Rn dumpfer Stube beisammen sind. —-
Es spielet das Kind, die Mutter sich
schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl. —
Wie wehen die Lüfte so schwül! —
2. Das Kind spricht: „Morgen ist's
wtv , Feiertag:
«me will ich spielen im grünen Hag!
Wie will ich springen durch Thal und
Höhn!
Wie will ich pflücken viel Blumen schön!
Dem Anger, dem bin ich hold." —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
3. Die Mutter spricht: „Morgen
ist's Feiertag:
Da halten wir alle fröhlich Gclag;
Rch selber, ich rüste mein Feierkleid:
Das Leben, es hat auch Lust nach Leid;
Dann scheint die Sonne wie Gold."
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
54. Sankt
Als Kaiser Theodosius
Agierte mit Arkadius,
Einem Reiter aus Pannonia,
-Ait Namen Martin, dies geschah:
Er kan, in Sturm und Schnee einst niitten
-Zu einem Ort hinein geritten;
Gewitter.
4. Großmutter spricht: „Morgen
ist's Feiertag; —
Großmutter hat keinen Feiertag;
Sie kochet das Mahl, sie spinnet das
Kleid:
Das Leben ist Sorg' und viel Arbeit.
Wohl dem, der that, was er sollt'!"
Hört ihr's, wie der Donner grollt?—
5. Uhrane spricht: »Morgen ist's
Feiertag:
Am liebsten morgen ich sterben mag.
Ich kann nicht singen und scherzen mehr;
Ich kann nicht sorgen und schaffen
schwer.
Was thu' ich noch auf der Welt?" —
Seht ihr, wie der Blitz dort füllt? —
6. Sie hören's nicht, sie sehen's
nicht;
Es flammt die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl mit einander getroffen sind:
Vier Leben endet ein Schlag —
Und morgen ist's Feiertag.
G- Schwab.
Martinus.
Da fleht alsbald ein armer Mann
Um eine kleine Gab' ihn an.
Der Mann war elend, nackt und bloß,
Der Wind gieng auf die Haut ihm los.
Herr Martin hätt' ihm auf sein Leben
Gern Koller, Rock und Wams gegeben;
70
Allein ihr wißt wohl, ein Soldat
Sehr wenig zu, verschenken hat.
Doch hielt er an auf hohem Roß,
Worauf der Regen niederfloß,
Und sprach: „Der Mann ist nackt und
bloß;
Es muß ja grad' auch Geld nicht sein,
Ich will ihm dennoch was verleihn!"
Sein Schwert drauf mit der Faust gefaßt,
Haut er von seinem Mantel fast
Des einen Zipfels Hälft' herab,
Die er dem armen Manne gab.
Der Arme nimmt das Stück sogleich
Und wünscht dafür das Himmelreich
Dem guten, frommen Reitersmann,
Der sich nicht lange drauf besann.
Wie der gesagt sein Gratias,
So reitet dieser auch fürbaß
Zu einer armen Witwe Thür
Und legt daselbst sich ins Quartier,
Nimmt Speis' und Trank ein wenig ein -i-
Es wird nicht viel gewesen sein.
Nachdem er also trunken, gcssen
Und das Gebet auch nicht vergesien,
Legt er sich nieder auf die Streu.
Ob's Eins gewesen oder Zwei,
Das hat die Chronik nicht gemeld't;
Drum laß ich's auch dahingestellt.
Alsbald begibt sich's in der Nacht,
Daß er von einem Glanz erwacht,
Der zwingt das Aug' ihn auszuschließen.
Da steht ein Mann zu seinen Füßen,
Sein Haupt trägt eine Dornenkron';
Er ist's, er ist's, des Menschen Sohn!
Mit tausend Engeln, die ihm dienen,
Ist plötzlich unser Herr erschienen
In aller seiner Herrlichkeit,
Und mit dem Mantel, welchen heut
Der Martin aus Pannonia,
Der dessen gar sich nicht versah,
Geschenkt dem armen Bettelmann,
Ist unser Heiland angethan.
Und so der Herr zu Petrus spricht:
„Siehst du den neuen Mantel nicht,
Den ich hier auf den Schultern trage?"
Ans des Apostels weitrc Frage,
Wer ihm den Mantel denn geschenkt,
Das Aug' auf Martin hingcsenkt,
Mit einem sanften Himmelston
Fährt also fort des Menschen Sohn:
„Der Martin hier, der ist es eben,
Der diesen Mantel mir gegeben.
Ermuntre dich! steh' auf, mein Knecht,
Den ich erwählt, du bist gerecht!
Du warst bisher ein blinder Heide;
Das Schwert, das steck' nur in die Schcide!
Ein Streiter Gottes soll auf Erden
Mein frommer Bischof Martin werden."
Als dieses Wort der Herr gesagt,
So kräht der Hahn, der Morgen tagt;
Ein Engel küßt des Mantels Saum,
Und Martin ist erwacht vom Traum,
Denkt nach, klopft an ein Kloster an
Und ist, getreu nach Christi Worten,
Aus einem wilden Reitersmann '
Ein großer, frommer Bischof worden.
Johannes Fall.
55. Das Riesenspielzeug.
Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt,
Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Riesen stand;
Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer,
Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.
Einst kam das Riescnfräulein aus jener Burg hervor,
Ergicng sich sonder Wartung und spielend vor dem Thor.
Und stieg hinab den Abhang bis in das Thal hinein,
Neugierig zu erkunden, wie's unten möchte sein.
Mit wen'gen raschen Schritten durchkreuzte sie den Wald,
Erreichte gegen Haslach das Land der Menschen bald,
Und Städte dort und Dörfer und das bestellte Feld
Erschienen ihren Augen gar eine fremde Welt.
71
Wie jetzt zu ihren Füßen sie spähend niederschaut,
Bemerkt sie einen Bauer, der seinen Acker baut;
Es kriecht das kleine Wesen einher so sonderbar,
Es glitzert in der Sonne der Pflug so blank und klar.
„Ei! artig Spielzeug!" ruft sie, „das nehm ich mit nach Haus";
Sie knieet nieder, spreitet behend ihr Tüchlein aus
Und feget mit den Händen, was da sich alles regt,
Zu Haufen in das Tüchlein, das sie zusammen schlägt;
Und eilt mit freud'gen Sprüngen, man weiß wie Kinder sind,
Zur Burg hinan und suchet den Vater auf geschwind:
„Ei, Vater, lieber Vater, ein Spielding wunderschön!
So allerliebstes sah ich noch nie auf unsern Höhn."
Der Alte saß am Tische und trank den kühlen Wein,
Er schaut sie au behaglich, er fragt das Töchterlein:
„Was Zappeliches bringst du in deinem Tuch herbei?
Du hüpfest ja vor Freuden; laß sehen, was es sei."
Sie spreitet aus das Tüchlein, und fängt behutsam an,
Den Bauer aufzustellen, den Pflug und das Gespann;
Wie alles auf dem Tische so zierlich aufgebaut,
So klatscht sie in die Hände und springt und jubelt laut.
Der Alte wird gar ernsthaft und wiegt sein Haupt und spricht:
„Was hast du angerichtet? das ist kein Spielzeug nicht!
Wo du es hergenommen, da trag' es wieder hin,
Der Bauer ist kein Spielzeug, was kommt dir in den Sinn!
Sollst gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot;
Denn wäre nicht der Bauer, so hättest du kein Brot;
Es sprießt der Stamm der Riesen aus Bauernmark hervor,
Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!"
Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt.
Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Riesen stand,
Sie selbst ist nun zerfallen, die Stätte wüst und leer,
Und fragst du nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.
Adalbert v. Chamisso.
56. Das Nothkehlchen.
Das Rothkchlchcn ist ein munteres, lebensfrohes Vögelchen. Es kommt
inir vor, wie ein munterer, gesunder Bursche vom Gebirge, der immer frische
Gebirgsluft einathmet. Seine Augen glänzen von Lebenslust; munter springt
er den ganzen Tag umher und weiß nichts von Müdigkeit. So ist auch
das Rothkehlchen den ganzen Tag fröhlich und guter Dinge. Auch ist es
ganz so gekleidet, wie ein junger Gebirgsbewohner. Es trägt ein dunkles
Jäckchen und eine rothe Weste, und unter der Weste guckt sein weißes
Hemd heraus.
Voll Herzenslust jodelt es sein Liedchen schon am frühesten Morgen
und noch am späten Abende, wenn die meisten Vögel schon träumen, und
freut sich der schönen Natur. Es'denkt dabei: „Schlafen kann ich ja noch
genug, aber nicht singen." — Es sucht alle schönen Plätze seiner Umgegend
auf und besingt sie; daher hört man seine klare Stimme bald in einem
Garten von einem Baume herab, bald klingt sie in einem Gebüsche am Bache,
bald belebt sie ein trauliches, einsames Plätzchen in einein Walde. Kurz,
das Rothkehlchen ist überall zu finden, wo ddr liebe Gott eine schöne Stelle
geschaffen hat.
Seine Jungen tragen lange Zeit Kinderkleider, die mit seinen Kleidern
gar keine Ähnlichkeit haben; denn es hält es für unpassend, daß Kinder wie
Erwachsene gekleidet werden. Die Kleider der Jungen sind aus einem Stücke
dunklen, getupften Kattuns gemacht. Erst, wenn sie erwachsen sind, dürfen
sie auch eine Jacke und eine rothe Weste anziehen; dann jodeln sic aber
auch gleich, wie ihre Eltern.
Weil das Rothkehlchen so gar gerne bei uns ist, so vergißt cs bisweilen
im Herbste seine Reise in wärmere Länder anzutreten und wird vom Winter
überrascht. Da kommt es denn freilich in manche Verlegenheiten; aber es
läßt den Muth nicht sinken und weiß sich zn helfen. „Ich bleibe in der
Nähe von Menschen", denkt es, „und diese werden schon etwas für mich
übrig haben." — Es wird auch in seiner Hoffnung nicht getäuscht; denn
gern läßt man dem freundlichen Vögelchen etwas zukommen. Der Winter
geht glücklich vorüber, der liebliche Frühling kommt, und alles ist vergessen.
Das Rothkehlchen stimmt wieder seine heiteren Lieder an.
I. C. G. Walther.
57. Das Rothkehlchen.
Ein Rothkehlchen kam in der Strenge des Winters an das Fenster
eines frommen Landmanncs, als ob es gern hinein möchte. Da öffnete
der Landmann sein Fenster und nahm das trauliche Thierchen freundlich in
seine Wohnung. Nun pickte es die Brosamen und Krümchen auf, die von
des Landmanns Tische fielen. Auch hielten die Kinder im Hause das Vöglcin
lieb und werth. Aber als nun der Frühling wieder in das Land kam, und
die Gebüsche sich belaubten, da öffnete der Landmann sein Fenster, und der
kleine Gast flog wieder in das nahe Wäldchen, baute sein Nest und sang
sein fröhliches Liedchen.
Der Winter aber kehrte wieder, und siehe! da kam auch das Roth-
kehlchen abermals in die Wohnung des Landmannes und hatte sein Weib-
chen mitgebracht. Der Landmann sammt seinen Kindern freuten sich sehr,
als sie die beiden Thierchen sahen, wie sie aus den kleinen Äuglein zutraulich
umhcrschauten; und die Kinder sagten: Die Vögelchen sehen uns an, als
ob sic etwas sagen wollten. Da antwortete der Vater: Wenn sic reden
könnten, so würden sie sagen: Freundliches Zutrauen erwecket Zutrauen,
und Liebe erwecket Gegenliebe. Kr»mmach-r.
58. Die gefiederten Lehrmeister.
Die Vögelein fliegen vor unsern Augen über, uns zu kleinen Ehren,
daß wir wohl möchten unsere Hütlein vor ihnen abthun und sagen: „Mein
lieber Herr Doctor, ich muß ja bekennen, daß ich die Kunst nicht kann, die
73
du kannst. Du schläfst die Nacht über in deinem Nestlein ohne Sorge: des
Morgens fliegst du wieder aus, bist fröhlich und guter Dinge, setzest dich
auf die Bäumlein und singest, lobest und dankest Gott. Darnach suchest
du deine Nahrung und findest sie. Pfui, was hab' ich alter Narr gelernt,
daß ich's nicht auch thue, der ich doch so viel Ursache dazu habe?" Das
Pögelcin kann sein Sorgen lassen und hält sich in solchem wie ein lebendiger
Heiliger und hat dennoch weder Äcker noch Scheunen, weder Kasten noch
Keller. Es singet, lobet Gott, ist fröhlich und guter Dinge. Denn es
weiß, daß es einen hat, der für es sorget, der heißt: Unser Vater im
Himmel. Warum thun wir's denn nicht auch, die wir den Vortheil haben,
daß wir können arbeiten, das Feld bauen, die Früchte einsammeln, auf-
schütten und auf die Noth behalten? Darum sollten wir dies Exempel von
den Vögelein nicht vergessen. Sie sind ohne alle Sorge, fröhlich und guter
Dinge. Und warum sollten sie auch sorgen? Sie haben einen reichen
Küchenmeister und Kellner, der heißt der Vater im Himmel, und hat eine
Küche, die so weit als die Welt ist. Darum so fliegen sie hin, wo sie wollen,
und finden die Küche wohl bestellt. i-r.M. Luther.
59. Der
Heut' ist's Sonntag, heule sind
Gar so fröhlich Mutter und Kind.
Wenn die hellen Glocken klingen,
Geht die liebe Mutter fort
In die schöne Kirche dort,
Wo sie beten, wo sie singen;
Wo von Gott dem Herrn sie hören
Und vom lieben Jesus Christ,
Wie so treu und gut er ist.
Wie ihn alle Welt soll ehren.
Kommt nun meine Mutter wieder,
Lang' schon sah ich aus nach ihr,
69. Die war
Es war ein Kind, das wollte nie
Zur Kirche sich bequemen,
Und Sonntags fand es stets ein Wie,
Den Weg ins Feld zu nehmen.
Die Mutter sprach: Die Glocke tönt,
Und so ist dir's befohlen,
Und hast du dich nicht hingewöhnt,
Sie kommt und wird dich holen.
Das Kind,.es denkt, die Glocke hängt
Da droben auf dem Stuhle.
Sonntag.
Tritt sie schnell herein zu mir,
Setzt sich freundlich bei mir nieder;
Saget mir, was sie gesehen
Und gehört hat alles dort,
Und von Gott manch' gutes Wort,
Wie ein Kind es kann verstehen.
O wie hör' ich das so gerne,
Und wie gerne sagt sie's mir;
Welche Freude macht es ihr,
Daß ich recht drauf acht' und lerne!
Heut' ist's Sonntag, heute sind
Gar so fröhlich Mutter und Kind.
Hey.
ürlnde Glocke.
Schon hat's den Weg ins Feld gelenkt,
Als lief' es aus der Schule.
Die Glocke Glocke tönt nicht mehr,
Die Mutter hat gefackelt,
Doch welch ein Schrecken, hinterher
Die Glocke kommt gewackelt.
Sic wackelt schnell, mau glaubt es kaum.
Das arme Kind im Schrecken,
Es läuft, cs kommt, als wie im Traum,
Die Glocke wird es decken.
74
Doch nimmt es richtig seinen Husch,
Und mit gewandter Schnelle
Eilt cs durch Anger, Feld und Busch
Zur Kirche, zur Kapelle.
Und jeden Sonn- und Feiertag
Gedenkt es an den Schaden,
Läßt durch den ersten Glockenschlag,
Nicht in Person sich laden.
W. v. Goethe.
61. Das Wunderkästchen.
Eine Hausfrau hatte iu ihrer Haushaltung allerlei Uuglücksfällc, und
ihr Vermögen nahm jährlich ab. Da gieng sie in den Wald zu einem
alten Einsiedler, erzählte ihm ihre betrübenden Umstände und sagte: „Es
geht in meinem Hause einmal nicht mit rechten Dingen zu. Wißt ihr kein
Mittel, dem Übel abzuhelfen?" — Der Einsiedler, ein fröhlicher Greis,
hieß sie ein wenig warten, brachte über ein Weilchen ein kleines versiegeltes
Kästchen und sprach: „Dieses Kästlein müßt ihr ein Jahr lang, dreimal
des Tages und dreimal bei Nacht, in Küche, in Keller und Stallung und
allen Winkeln des Hauses herumtragen, so wird es besser gehen. Bringt
mir aber über's Jahr das Kästlein wieder zurück!"
Die gute Hausfrau setzte in das Kästchen ein großes Vertrauen und
trug es fleißig umher. Als sie den nächsten Tag in den Keller gieng, wollte
der Knecht eben einen Krug Bier heimlich herauftragen. Als sie noch spät
in der Nacht in die Küche kam, hatten die Mägde sich einen Eierkuchen
gebacken. Als sie die Stallungen durchwanderte, standen die Kühe tief
im Koth, und die Pferde hatten anstatt des Hafers nur Heu uud waren
nicht gestriegelt. So hatte sie alle Tage einen Feliler abzustellen.
Nachdem das'Jahr herum war, gieng sie mit dem Kästchen zu dem
Einsiedler und sagte vergnügt: „Alles geht nun besser. Laßt mir das
Kästchen nur noch ein Jahr; es enthält ein gar treffliches Mittel." — Da
lachte der Einsiedler und sprach: „Das Kästchen kann ich euch nicht lassen;
das Mittel aber, das darinnen verborgen ist, sollt ihr haben." Er öffnete
das Kästchen, und siehe, es war nichts darin, als ein weißes Papier, auf
dem geschrieben stand:
Du mutzt, soll's wohl im Haus- stehen,
Auf Sparsamkeit und Ordnung sehen!
Auerbacher.
62. Der Frosch und die Maus.
Eine Maus wäre gern über ein Wasser gewesen und könnte nicht und
bat einen Frosch um Rath und Hülfe. Der Frosch war ein Schalk und
sprach zur Maus: Binde deinen Fuß an meinen Fuß, so will ich schwimmen
und dich hinüber ziehen. Da sic aber aufs Wasser kamen, tauchte der
Frosch unter uud wollte die Maus ertränken. Indem aber die Maus sich
wehret und arbeitet, fliegt eine Weihe daher und erhaschet die Maus, zieht
aber auch den Frosch mit heraus und frißt sie beide. Siehe dich vor,
mit wem du handelst! Die Welt ist falsch und der Untreue voll; denn
welcher Freund den andern vermag, der steckt ihn in den Sack. Doch schlägt
Untreue allzeit ihren eigenen Herrn, wie dem Frosch hier geschieht.
Dr. M Luther »ach Äsop.
75
63. Der Hirtenhund.
Ein alter Hirtenhund, der seines Herren Vieh treulich bewachte, gehet
abends heim. Da kläffen ihn die Polsterhündlein auf der Gasse an. Er
trabt vor sich hin und sieht sich nicht um. Als er vor die Fleischbank
kommt, fragt ihn ein Fleischerhund, wie er das Gebell leiden könne, und
warum er nicht einen beim Kamm nähme? Nein, sagte der Hirtenhund,
es zwackt und beißt mich ja keiner; ich muß meine Zähne für die Wölfe haben.
Math es ins.
64. Das Pferd.
Munter hüpft das Füllen auf grünem Rasen, sträubt die kurze, krause
Mähne, schwingt sich leicht wie ein Hirsch über die Hecke, schlägt die kleinen
Hufe hoch in die Lüfte, und wie ergriffen vom Windstoß stürzt es fort,
steht plötzlich, und plötzlich wieder umkreist es die ruhig weidende Stute,
von ihren Blicken sorgsam bewacht. Schon verrathen die schlanken Glieder
künftige Kraft und Behendigkeit, sein dunkles, großes Auge Muth, sein Spiel
die Kampflust. Es wächst zum Helden, zum beharrlichen Gefährten, zum
Freunde des Menschen, treu bis zum Tode, heran.
Edel ist das Pferd: wie aus Erz gegossen, so fest steht es da und
dennoch schlank wie ein Reh und so friedlich. Sicher ist sein Gang: stolz
trägt es sein Haupt mit schön gewölbter Stirn und Nase; das runde, rege
Auge mit dem schwarzen Glanz erspäht den Feind, mit grünem Schein
erleuchtet es den dunklen Pfad. Es spielt mit dem spitzen Ohr, erfaßt
den verlornen Laut, stutzt und warnt seinen Reiter. ' Zur Seite des schlanken,
glatten Nackens fällt die seidcnschimmerndc Mähne. Seine Brust, voll und
weich wie die des Schwanes, stellt sich keck der Gefahr entgegen, und der
glatte Leib ruht sicher auf festen Lenden, auf nervigen Füßen. Die eisen-
festen Hufe stampfen ungeduldig den Boden; der volle, glänzend schwarze
Schweif fließt ruhig über das gewölbte Kreuz zur Ferse nieder.
Auf des Reiters Wink springt es auf wie ein Luchs, rennt davon,
den Hals gestreckt wie ein Adler im Flug; wie ein Adler leicht, berührt
es kaum die Erde, und es fliegt sein Schweif ihm nach. Die Bäume
fliehen wie Schatten vorüber, der Boden weicht, als stürzte er hinter ihm
in den Abgrund. Unter dem Hufe zerbersten die Kiesel, Funken sprühen
umher. So stürzt es mit dem Araber dem Löwen entgegen. Dieser wirft
die Mähne empor und weist grinsend und brüllend die Zähne; er schlägt
mit dem Schweife seine Lenden. Jetzt steht er, jetzt duckt er sich nieder
zum Sprunge; da schickt ihm rasch der Jäger die Lanze zu. Der Löwe
achtet nicht den tödlichen Stoß, mit zerbrochenem Schaft in der Brust
schwingt er sich dem Jäger entgegen; da funkeln des Pferdes Augen, die
Adern spannen sich, die Mähne fliegt, es dampfen seine Nüstern, die Mus-
keln spielen und schwellen, und zornwiehernd bäumt es sich aus, schlägt
aus; sein eherner Huf hat die Stirn des Löwen gespalten und ihn zu Boden
geschmettert.
Mit dem Krieger zieht das Pferd gegen den Feind, es beißt schäumend
in die Zügel, schüttelt die Mähne, scharrt den Boden, schnaubend und wiehernd
vor Kampflust. Da schmettern die Trompeten, cs erwartet nicht des Reiters
Sporn, sprengt entgegen den blitzenden Lanzenreihcn. Es ist eins mit seinem
76
Führer, ein Wille beherrscht beide, ein Held sind Roß und Reiter zusammen.
Das Roß ist des Reiters Schild, es ist sein Pfeil, mit dem er zugleich in
die Reihen der Feinde trifft. Des Rosses Mähne flattert, eine schwarze
Todesfahne, dem blinkenden Schwert des Reiters voran. Es steht vor der
Lanze, aber es zittert nicht, bleibt besonnen, unerschrocken und fest wie ein
Fels mitten im Rauch und im Donner des Geschützes. Nicht das Ge-
tümmel, nicht das Sausen der Kugeln, nicht der Wunden und Sterbenden
Klagen heißt es wanken. Ist sein Führer gefallen, es stellt sich in die Reihen
der Genossen, es stürzt allein in das Gewitter der Schlacht, lind bluten ihm
selber tiefe Wunden, nimmer vernimmt man von ihm einen Klageton, nimmer
ein Zeichen des Schmerzes, nur Freude, nur Kampflust wecken seine Stimme.
Ernst und langsam schreitet das Pferd hinter dem Trauerwagen des Helden,
den es trug, einher. Aber es gewinnt sein Muth, es erwacht sein Stolz,
wenn es unter dem Schall der Trompete den Triumphwagen zieht. Mit
goldenem Gebiß, mit funkelndem Zügel mit Purpurdecken geschmückt, schreitet
der Andalnsier feierlich einher, trägt hoch sein Haupt, zeigt hell den Blick,
denn auch ihm gehört der Lorbeer, und er weiß, daß er mit dem Herrn
der Erde ein Bündniß geschlossen hat.
Und wie das Pferd des Helden Schirm und Trutz in der Schlacht,
so auch sein Freund, sein Gehülfe im Frieden. Mit dem Krieger in die
Heimat zurückgekehrt, legt es ab die Rüstung, zieht den Pflug und den
Erntewagen. Es trägt den Reisenden über die rauhen Pfade der Alpen,
in die Eisfelder Sibiriens und durchrennt mit ihm die Ebenen von Amerika.
Der Zelter begleitet den Araber, wie dieser genügsam, in die brennenden
Wüsten, trägt alle seine Habe, ist das Spiel seiner Kinder, ruht getreulich
neben ihnen unter dem gleichen Dache. Stets bleibt das Pferd ein beharr-
licher, geduldiger Arbeiter, ein unermüdlicher, rüstiger Gänger, behender
Renner, ein offner, kühner Held, treuer Waffengenossc, ohne Falsch und
ohne Bosheit.
Es ist dem.Menschen ergeben, ihm geboren, gelehrig und folgsam, durch
ihn gehoben. Und wo es, seiner Leitung entzogen, frei umherstreift, in den
Steppen der Tartarci und Sibiriens, in den Llanos Amerikas, da ist cs
ein kleiner, struppiger Sohn der Wildnis geworden und jagt scheu mit seinen
Gefährten, als brausender, verheerender Strom, über die Ebene hin.
Nur eines Tyrannen Laune, Bosheit und Eigennutz erschlaffen den
Muth, erwecken Tücke in dem edlen Pferde, überspannen seine Kräfte und
machen es alt vor der Zeit. Der Grausame schont auch seines Alters nicht
und gedenket nicht der Beschwerden, nicht der Thaten eines feurigen Renners,
welcher siegte in den Schlachten, welcher den Stammbaum führt von
Mahomed's Zeiten her; die Loblieder sind verklungen, die ihm einst erschallten,
die Lorbecrkränze sind vermodert. Armes Thier! grausame Qualen sind
der Lohn, welcher deiner im Alter wartet. Undankbar verfährt gegen manches
Heldenroß der Mensch. Der Sporn hat mit Narben die Seiten des Pferdes
bedeckt, seine Schenkel sind angelaufen, die Fesseln steif von angestrengter
Arbeit, die Hufe durch die Nägel zerrissen, durch die Zügel, mit denen eine
harte Hand cs leitete, der Mund erschlafft. Zum elenden Gerippe hat das
Alter es abgezehrt, das Feuer seiner Augen ist erloschen; lebensmüde senkt
es sein Haupt. Und dennoch wird ihm keine Ruhe vergönnt, nicht die
77
freundlichen Winke des Reiters leiten es mehr; eine rohe Hand fesselt es
an den schweren Karren und führt die Peitsche mit grausamer Übung.
Kaum vermag es noch, im düstern, von Spinnweben ausgekleideten Stall,
aus moderiger Krippe sein hartes Futter zu zermalmen. Nur ein schmach-
voller Tod erlöst cs von seinen Leiden. R. Meyer,
65. Zeus und das Pferd.
„Vater der Thiere und der Menschen", so sprach das Pferd und nahte
sich dem Throne des Zeus, „man will, ich sei eines der schönsten Ge-
schöpfe, mit denen du die Welt geziert, und meine Eigenliebe heißt mich
es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch Verschiedenes an mir zu
bessern sein?" — „Und was meinst du denn, daß an dir zu bessern sei?
Rede, ich nehme Lehre an", sprach der gute Gott und lächelte. „Vielleicht",
sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger sein, wenn meine Beine
höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht
entstellen, eine breitere Brust würde meine Stärke vermehren, und da du
mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen,
so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der wohlthätige
Reiter auflegt."
„Gut", versetzte Zeus, „gedulde dich einen Augenblick." — Zeus, mit
ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in
den Staub, da verband sich organisierter*) Stoss, und plötzlich stand vor
dem Throne — das häßliche Kamcel. Das Pferd sah, schauderte und
zitterte vor Entsetzen und Abscheu. „Hier sind höhere und schmächtigere
Beine", sprach Zeus; „hier ist ein langer Schwanenhals, hier ist eine
breitere Brust, hier der anerschafsene Zattel! Willst du, Pferd, daß ich
dich so umbilden soll?" Das Pferd zitterte noch. — „Geh", fuhr Zeus
fort, „dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Ver-
messenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so — daure du fort,
neues Geschöpf" — Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das Kameel —
„und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern." Leinng.
66. Gesundheit ist ein großer Schaß.
Kunz ging einmal über Land und kam matt und verdrossen bei einem
Gasthofe an, wo er sich einen Krug Bier und ein Stück schwarzes Brot
geben ließ. Er war unzufrieden, daß er seine Reise zu Fuß machen mußte
und dabei nichts besseres essen konnde.
Kunz saß noch nicht lange im Gasthofe, da kam ein schöner Wagen
gerollt, in dem ein reicher Manu saß, der sich ein Stück kalten Braten
und eine Flasche Wein reichen ließ, was er in seinem Wagen verzehrte.
Kunz sah ihm hämisch zu und dachte: „Wer es doch auch so hätte!" Der
*) Organ (griech.) — Werkzeug, Theil eines Ganzen mit einer besonderen Function
(Verrichtung). Organismus — ein Ganzes, in verschiedene Theile sich gliedernd,
welche mit ihren besonderen Functionen alle einem obersten Zwecke dienen. Organi-
sieren ---- eine Masse oder Menge so gestalten und einrichten, daß sie ein solches lebens-
und zweckvolles Ganzes (einen Organismus) bildet.
78
Reiche merkte es und sagte zu ihm: „Hättest du wohl Lust, mit mir zu
tauschen?" — „Das versteht sich", antwortete Kunz, ohne sich lange zu
bedenken. „Steige der Herr nur aus und gebe mir alles, was er hat,
ich will ihm auch alles geben, was ich habe."
Jetzt befahl der Reiche seinen Bedienten, daß sie ihn aus dem Wagen
heben sollten. — Gott! welcher Anblick! Seine Füße waren gelähmt, er
konnte nicht stehen, sondern mußte sich von seinen Bedienten so lange halten
lassen, bis die Krücken herbeigebracht wurden, auf die er sich stützte. „Nun!"
fragte der Reiche, „hast du noch Lust, mit mir zu tauschen?"
„Bei Gott nicht!" gab der erschrockene Kunz zur Antwort. „Ich will
lieber schwarzes Brot essen und mein eigner Herr sein, als Wein und
Braten haben und mich wie ein kleines Kind von andern umherführen
lassen. Gott behüte euch!"
Mit diesen Worten stand er auf und gieng fort.
„Hast Recht!" rief ihm der Reiche nach. „Könntest du mir deine
gesunden Schenkel geben, du solltest meinen Wagen, meine Rappen, mein
Geld, alles dafür haben. Ein gesunder armer Mann ist glücklicher, als
ein reicher Krüppel." G°nh. S-uzmann,
67. Nach oben.
Nach oben zeigen die Wipfel all',
Nach oben steigt der Lerche Schall.
Nach oben schau'n die Blümelein,
Nach oben lockt sie der Sonne Schein.
Nach oben glänzen die Wasser mild,
Drum glänzt auf ihnen des Himmels
Bild.
Der stille Berg in die Lüfte klar
Strebt auf, ein riesiger Weihaltar.
In der Stadt geht kreuz und quer der
Lauf;
! Die Türme zeigen zum Himmel hin-
I' auf.
Im Grabe ruht der Todte fein;
Das Kreuz drauf ladet nach oben ein.
Nach oben ruft dich gar dringend das
Wort,
'Und du träumest immer hier unten fort.
O Mensch, gen Himmel fuhr Jesus
Christ:
Nach oben! Dein Wandel im Himmel
ist.
Ph. Spilta.
68. Johann, der Seifensieder.
Johann, der muntre Seifensieder,
Erlernte viele schöne Lieder,
Und sang mit unbesorgtem Sinn
Vom Morgen bis zum Abend hin;
Früh, mit den Lerchen in die Wette,
Spät, schon mit einem Fuß im Bette;
Und wenn er sang, so war's mit Lust,
Aus vollem Hals und freier Brust.
Man horcht, man fragt: „ Wer singt schon
wieder?
Wer ist's?" Der muntre Seifensieder.
Es wohnte diesem in der Nähe
Ein Sprößling eigennütz'ger Ehe,
Der, reich und stolz und lächerlich,
Im Schmause keinem Fürsten wich,
Ein Mann, der manche schöne Nacht
Beim Mahl, bei Spiel und Wein durch-
wacht.
Kaum hatte mit den Morgenstunden
Sein erster Schlaf sich eingefunden,
So ließ ihm den Genuß der Ruh'
Johann, der Sänger, nimmer zu.
-----------
79
„Zum Henker! lärmst du denn schon
wieder,
Vermaledeiter Seifensieder?
Ach, wäre doch zu meinem Heil
Der Schlaf hier wie die Austern feil!" —
Den Sänger, den er früh vernommen,
Läßt er am andern Morgen kommen
Und spricht: „Mein lustiger Johann,
Wie geht es euch? Wie fangt ihr's an.
Es rühmt ein jeder eure Ware;
Sagt, wieviel bringt sie euch im Jahre?"
„Im Jahre? Herr, mir fällt nicht bei,
Wie groß im Jahr mein Vortheil sei;
So rechn' ich nicht! Ein Tag beschert,
Was der, so auf ihn folgt, verzehrt.
Dies kommt im Jahr (ich weiß die Zahl)
Dreihundertfünfundsechzig Mal."
„Ganzrecht! doch könnt ihr mir nicht
sagen,
Was wohl ein Tag Pflegt einzutragen?"
„Mein Herr, ihr forschet allzusehr:
Der eine wenig, mancher mehr;
So wie's denn fällt; mich zwingt zur
Klage
Nichts als die vielen Feiertage.
Ja, wer sie alle roth gefärbt,
Der hatte wohl, wie ihr, geerbt;
Dem war die Arbeit wohl zuwider,
Der war gewiß kein Seifensieder."
Dies schien den Reichen zu erfreun.
„Hans", spricht er, „du sollst glücklich
sein!
Jetzt bis du nur ein schlechter Prahler,
Da hast du bare fünfzig Thaler!
Nur unterlass mir den Gesang,
Das Geld hat einen bessern Klang."
Er dankt und schleicht mit scheuem
Blicke,
Mit mehr als Diebesfurcht, zurücke,
Hält seinen Beutel dicht umfaßt,
Und herzt und wägt die schöne Last.
Dann wird, sobald er heimgekommen,
Des Beutels Inhalt vorgenommen,
Gezählt, mit stummer Lust beschaut,
Und einem Kasten anvertraut,
Den, allen Dieben Trotz zu bieten,
Ein dreifach Schloß und Bänder hüten,
Und den der karge Thor bei Nacht
Mit banger Vorsicht selbst bewacht.
Sobald sich nur der Haushund reget,
Sobald der Kater sich beweget,
Durchsucht er alles, weil er glaubt,
Daß ihn ein schlauer Dieb beraubt;
Bis oft gestoßen, oft geschmissen,
Sich endlich beide packen müssen.
Er lernt zuletzt, daß Gut und Geld
Nicht für die Freuden schadlos hält,
Die der Zufriedene genießet,
Dem Arbeit Kost und Schlaf versüßet,
Der braucht, was ihm sein Fleiß beschert,
Und nie vermißt, was er entbehrt.
Dem Nachbar, den er singend weckte,
Wenn kaum der Schlaf seine Auge deckte,
Dem stellt er bald aus Lust zur Ruh'
Den vollen Beutel wieder zu
Und spricht: „Herr, lehrt mich bessre
Sachen,
Als statt des Singes Geld bewachen;
Nehmt cuern Beutel wieder hin,
Und laßt mir meinen frohen Sinn.
Fahrt fort, mich heimlich zu beneiden,
Ich tausche nicht mit euern Freuden;
Der Himmel hat mich recht geliebt,
Daß er Gesang mir wieder giebt.
Was ich gewesen, werd' ich wieder:
Johann, der muntre Seifensieder."
Fr. ». Hagedorn.
69. Die Bremer Stadtmusikanten.
Es hatte ein Mann einen Esel, der schon lange Jahre die Säcke
unverdrossen zur Mühle getragen hatte, dessen Kräfte aber nun zu Ende
Stengen, so daß er zur Arbeit immer untauglicher ward. Da dachte der
80
Herr daran, ihn aus dem Futter zu schaffen; aber der Esel merkte, daß
kein guter Wind wehte, lief fort und machte sich auf den Weg nach Bremen;
dort, meinte er, könnte er ja Stadtmusikaut werden. Als er ein Weilchen
fortgegangen war, fand er einen Jagdhund auf dem Wege liegen, der
jappte wie einer, der sich müde gelaufen hat. „Nun, was jappst du so,
Packan?" fragte der Esel. „Ach", sagte der Hund, weil ich alt bin und
jeden Tag schwächer werde und auf der Jagd nicht mehr fort kann, hat
mich mein Herr wollen todt schlagen, da hab' ich Reißaus genommen; aber
womit soll ich nun mein Brot verdienen?" „Weißt du was", sprach der
Esel, »ich gehe nach Bremen und werde dort Stadtmusikant; geh mit und
laß dich auch bei der Musik annehmen. Ich spiele die Laute, und du schlägst
die Pauken." Der Hund war's zufrieden, und sie giengen weiter. Es
dauerte nicht lange, so saß da eine Katze an dem Weg und machte ein
Gesicht wie drei Tage Regenwetter. „Nun, was ist dir in die Quere
gekommen, alter Bartputzer?" sprach der Esel. „Wer kann da lustig sein,
wenns einem an den Kragen geht", antwortete die Katze, „weil ich nun
zu Jahren komme, meine Zähne stumpf werden, und ich lieber hinter dem
Ofen sitze und spinne, als nach den Mäusen herum jage, hat mich meine Frau
ersäufen wollen; ich habe mich zwar noch fortgemacht, aber nun ist guter
Rath theuer; wo soll ich hin?" „Geh mit uns nach Bremen, du verstehst
dich doch auf die Nachtmusik, da kannst du ein Stadtmusikant werden."
Die Katze hielt das für gut und gicng mit. Darauf kamen die drei Landes-
flüchtigen an einem Hof vorbei, da saß auf dem Thor der Haushahu und
schrie aus Leibeskräften. „Du schreist einem durch Mark und Bein",
sprach der Esel, „was hast du vor?" „Da hab' ich gut Wetter prophezeit",
sprach der Hahn, „weil unserer lieben Frauen Tag ist, wo sie dem Christ-
kindleiu die Hemdchen gewaschen hat und sie trocknen will; aber weil morgen
zum Sonntag Gäste kommen, so hat die Hausfrau doch kein Erbarmen
und hat der Köchin gesagt, sie wollte mich morgen in der Suppe essen,
und ich soll mir heut' Abend den Kopf abschneiden lassen. Nun schrei ich aus
vollem Hals, so lang' ich noch kaun." „Ei was, du Rothkopf", sagte der
Esel, „zieh lieber mit uns fort nach Bremen, etwas besseres als den Tod
findest du überall; du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen
musiciren, so muß es eine Art haben." Der Hcihn ließ sich den Vorschlag
gefallen, und sie giengen alle vier zusammen fort.
Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tage nicht erreichen
und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. Der Esel
und der Hund legten sich „unter einen großen Baum, die Katze und der
Hahn machten sich in die Äste, der Hahn aber flog bis in die Spitze, wo
cs am sichersten für ihn war. Ehe er einschlief, sah er sich noch einmal
nach allen vier Winden um; da däuchte ihn, er sehe in der Ferne ein
Fünkchen brennen, und rief seinen Gesellen zu, cs müßte nicht gar weit
ein Haus sein, denn es scheine ein Licht. Sprach der Esel: „So müssen
wir uns aufmachen und noch hingehen, denn hier ist die Herberge schlecht."
Der Hund meinte, ein paar Knochen und etwas Fleisch dran thäten ihm
auch gut. Nun machten sie sich auf den Weg nach der Gegend, wo das
Licht war, und sahen es bald heller schimmern, und cs ward immer größer,
bis sie vor ein hell erleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel, als der
81
größte, näherte sich beut Fenster und schaute hinein. „Was siehst dn,
Grauschimmel?" fragte der Hahn. „Was ich sehe?" antwortete der Esel,
„einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen
daran und lassen sich's wohl sein." „Das wäre was für uns", sprach der
Hahn. „Ja, ja, ach, wären wir da!" sagte der Esel. Da rathschlagtcn
die Thiere, wie sie es anfangen müßten, um die Räuber hinaus zu jagen,
und fanden endlich ein Mittel. Der Esel mußte sich mit den Vorderfüßen
auf das Fenster stellen, der Hund auf des Esels Rücken springen, die
Katze auf den Hund klettern, und endlich flog der Hahn hinauf und setzte
sich der Katze auf den Kopf. Wie das geschehen war, ficngen sie auf ein
Zeichen insgesammt an, ihre Musik zu machen: der Esel schrie, der Hund
bellte, die Katze miaute und der Hahn krähte; dann stürzten sie durch das
Fenster in die Stube hinein, daß die Scheiben klirrend nieder fielen. Die
Räuber fuhren bei dem entsetzlichen Geschrei in die Hohe, meinten nicht
anders, als ein Gespenst käme herein, und flohen in größter Furcht in
den Wald hinaus. Nun setzten sich die vier Gesellen an den Tisch, nahmen
mit dem vorlieb, was übrig geblieben war, und aßen, als wenn sie vier
Wochen hungern sollten.
Wie die vier Spielleute fertig waren, löschten sie das Licht ans und
suchten sich eine Schlafstätte, jeder nach seiner Natur und Bequemlichkeit.
Der Esel legte sich ans den Mist, der Hund hinter die Thür, die Katze
auf den Herd in die warme Asche, und der Hahn setzte sich auf den Hahnen-
balken; und weil f« müde waren von ihrem langen Weg, schliefen sie auch
bald ein. Als Mitternacht vorbei war, und die Räuber von weitem sahen,
daß kein Licht mehr im Haus brannte, auch alles ruhig schien, sprach der
Hauptmann: „Wir hätten uns doch nicht sollen ins Bockshorn jagen lassen",
und hieß einen hingehen und das Haus untersuchen. Der Abgeschickte fand
alles still, ging in die Küche, wollte ein Licht anzünden, und weil er die
glühenden, feurigen Angen der Katze für lebendige Kohlen ansah, hielt er
ein Schwefelhölzchen daran, daß es Feuer fangen sollte. Aber die Katze
verstand keinen Spaß, sprang ihm ins Gesicht, spie und kratzte. Da er-
schrak er gewaltig, lief und wollte zur Hinterthür hinaus, aber der Hund,
der da lag, sprang auf und biß ihn ins Bein; und als er über den Hof
an dem Miste vorbei rannte, gab ihm der Esel noch einen tüchtigen Schlag
mit dem Hinterfuß; der Hahn aber, der vom Lärmen aus dem Schlaf
geweckt und munter geworden war, rief vom Balken herab „kikeriki!" Da
lief der Räuber, was er konnte, zu seinem Hauptmann zurück und sprach:
„Ach, in dem Hause sitzt eine greuliche Hexe, die hat mich angehaucht und
mit ihren langen Fingern mir das Gesicht zerkratzt; und vor der Thür
steht ein Mann mit einem Messer, der hat mich ins Bein gestochen; und
auf dem Hof liegt ein schwarzes Ungethüm, das hat mit einer Holzkeule
auf mich losgeschlagen; und oben auf dem Dache, da sitzt der Richter, der
rief: „„Bringt mir den Schelm her."" Da machte ich, daß ich fortkam."
Von nun an getrauten sich die Räuber nicht weiter in das Haus, den vier
Bremer Musikanten gefiel's aber so wohl darin, daß sie nicht wieder heraus
wollten. Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.
Brüder Grimm.
t>
82
70. Der getreue Eikart.
„O wären wir weiter, v wär' ich zu Haus!
Sie kommen. Da kommt schon der nächtliche Grans;
Sie sind's, die unholdigen Schwestern.
Sie streifen heran, und sie finden uns hier.
Und trinken das mühsam geholte, das Bier,
Und lassen uns leer nur die Krüge."
So sprechen die Kinder und drücken sich schnell;
Ta zeigt sich vor ihnen ein alter Gesell:
„Nur stille, Kind! Kinderlein, stille!
Die Holden, sie kommen von durstiger Jagd,
Und laßt ihr sie trinken, wie's jeder behagt,
Dann sind sie euch hold, die Unholden."
Gesagt, so gescheh'n; und da naht sich der Graus,
Und siehet so grau und so schattenhaft aus,
Doch schlürft es und schlampst es aufs beste.
Das Bier ist verschwunden, die Krüge sind leer;
Nun saust es und braust es, das wüthende Heer,
Ins weite Gethal und Gebirge.
Die Kinderlein ängstlich gen Hause so schnell,
Gesellt sich zu ihnen der fromme Gesell:
„Ihr Püppchen, nur seid mir nicht traurig!" —
„Wir kriegen nun Schelten und Streich' bis aufs Blut."
„Nein, keineswegs! Alles geht herrlich und gut,
Nur schweiget und horchet, wie Mäuslein!
Und der es euch anräth, und der es befiehlt,
Er ist cs, der gern mit den Kindelein spielt,
Der alte Getreue, der Eckart.
Vom Wundermann hat nian euch immer erzählt,
Nur hat die Bestätigung jedem gefehlt,
Die habt ihr nun köstlich in Händen."
Sie kommen nach Hause, sie setzen den Krug
Ein jedes den Eltern bescheiden genug
Und harren der Schläg' und der Schelte.
Doch siehe, man kostet: „Ein herrliches Bier!"
Man trinkt in die Runde schon dreimal und vier,
Und noch nimmt der Krug nicht ein Ende.
^ Das Wunder, cs dauert zum morgenden Tag;
Doch fraget, wer immer zu fragen vermag:
„Wie ist's mit den Krügen ergangen?"
Die Mäuslein, sie lächeln, im stillen ergötzt,
Sie stammeln und stottern und schwatzen zuletzt,
Und gleich sind vertrocknet die Krüge.
I— -------------------------------------------;---------------------------------,
• 83
Und wenn euch, ihr Kinder, mit treuem Gesicht,
Ein Vater, ein Lehrer, ein Aldermann spricht',
So horchet und folget ihm Pünktlich!
Und liegt auch das Zünglein in peinlicher Hut,
Verplaudern ist schädlich, verschweigen ist gut;
Dann füllt sich das Bier in den Krügen. I. W.». Goethe.
71. Die Bekehrung des Augustinus.
In dem vierten Jahrhundert, welchem die großen Kirchenlehrer
Athanasius, Chrysostomus, Ambrosius und Hieronymus angehören, lebte
auch Augustinus, dem unter den Kirchenvätern des Abendlandes wohl un-
bestritten die erste Stelle eingeräumt wird.
Aurelius Augustinus wurde im Jahre 354 in der numidischen Stadt
Tagaste von römischen Eltern geboren. Sein Vater Patricius war ein
Manu von wohlwollendem, aber heftigem Charakter, zeigte aber kein ent-
schieden christliches Interesse. Seine Mutter Monica jedoch war von einer
tiefen Frömmigkeit beseelt. Von ihr cmpficng Augustinus schon in frühester
Kindheit die lebendigsten, christlichsten Eindrücke, und seine Empfänglichkeit
für das Christenthum konnte sich anfangs ungestört ausbilden. Seine
großen Anlagen wurden früh bemerkt, und Patricius hoffte, daß sein
Sohn eine glänzende Laufbahn in Reichthum und weltlicher Ehre machen
werde. Obgleich er kein beträchtliches Vermögen besaß, wollte er also nichts
an der Erziehung sparen, und sandte ihn auf die Schule zu Madaura,
worauf dann die weitere Ausbildung sich in Carthago anschließen sollte.
Vielleicht würde dieser Plan nicht ausgeführt sein, wenn nicht Augustinus,
nachdem sein Vater früh gestorben, an einem hochgestellten und reichbegüterten
Mann in Tagastc einen Gönner gefunden hätte, der durch Unterstützungen
die nicht ausreichenden Geldmittel Monica's ergänzte. Es war die Absicht,
daß Augustinus sich dem Lehrberufe der Redekunst widmen und auf diesem
Wege es zu einer ausgezeichneten Stellung im Leben bringen sollte. Während
er nun in Carthago mit Eifer studierte, gerieth er gleichzeitig in große Ver-
irrungen. Das sinnlich üppige Leben in der reichen und mächtigen Handels-
stadt, in welcher auch noch das Hcidcnthum einen ergiebigen Boden behalten
hatte, war für seine lebhafte und sinnliche Erregbarkeit verführerisch, und
ausschweifende Altersgenossen trugen das Ihrige dazu bei, um auch ihn in
sinnliche Ausschweifungen hineinzureißcn. Sein ungezügeltes Leben mußte
dazu gereichen, daß die frommen Eindrücke seiner Kindheit untergraben
wurden, und er der Gemüthsrichtung, welche seine Mutter in ihm zu fördern
gesucht hatte, entfremdet wurde.
Indessen tauchte doch hin und wieder die Sehnsucht nach einem andern
Leben, als er cs damals führte, bei ihm hervor, jedoch ohne daß er eine
ausdauernde Kraft in sich fand, diese besseren Regungen in Ausführung zu
bringen. Seine Mutter wurde durch seinen Zustand und seine Lebensweise
tief bekümmert. Sie folgte ihm nach Carthago und suchte ihn durch ihre
Bitten zu einem andern Wege zurückzuführen, aber vergeblich. — Inzwischen
hatte er sich als Lehrer der Redekunst in Carthago niedergelassen. Er hatte
viele anhängliche Schüler und unter diesen einen jungen Landsmann, Namens
l ....................................................................:
84
Alppius, der sein vieljähriger und vertrautester Freund wurde, aber im
Ganzen genügte ihm seine Wirksamkeit in Carthago nicht und er faßte
den Entschluß, in der Welthauptstadt eine größere und seinen Kräften an-
gemessene Thätigkeit zu suchen. Seine Mutter, deren zurückhaltende Bitten
ihm lästig waren, suchte er über seine'Abreise zu täuschen, und während sie
wehklagend zu Carthago sich zurückgelassen sah, führte ein Schiss ihn nach
Italien hinüber. Er suchte nur äußere Ehre; denn daran, daß der Mensch
die Wahrheit überhaupt finden könne, zweifelte er. Man erzählt, daß
damals Monica weinend einen Bischof um Trost wegen ihres scheinbar
verlorenen Sohnes angefleht habe, und dieser soll ihr gesagt haben: „Ein
Sohn so vieler Thränen kann nicht verloren gehen."
In Rom eröffnete er eine Schule der Redekunst, jedoch nicht mit dem
Erfolge, den er erwartet hatte. Zu seiner Unzufriedenheit mit seiner
Stellung traten neue geistige Kämpfe. Doch in dieser traurigen Lage kam
an ihn die Lebensfügung, welche für seine innere Umwandlung von der
größten Bedeutung ward. Durch den Einfluß einiger Freunde wurde er
als Lehrer nach Mailand berufen. Seine äußere Lage wurde dadurch ge-
sichert, auch seine Wirksamkeit als Lehrer fand größere Anerkennung, und
schon diese günstigen Umstände waren von Einfluß, ihn in eine ruhigere
Stimmung zu versetzen, aber auch das Vertrauen, daß dem Menschen die
Wahrheit nicht unzugänglich sei, wurde wieder bei ihm erweckt. Wo er
die Wahrheit zu suchen habe, blieb ihm freilich noch unklar; aber allmählich
gelangte er zu der. Zuversicht, daß er dieses in der Kirche thun müsse, und
Ambrosius, damals Bischof zu Mailand, wurde sein Führer zu dieser
Zuversicht. Ambrosius war einer der größten Kirchenlenker und Kirchenlehrer
des Abendlandes, ausgezeichnet auch in seinen Predigten. Augustinus fand sich
oft als Zuhörer zu den Predigten des berühmten Bischofs ein. Zunächst
besonders durch die schöne Form derselben angezogen, wurde er bald auch
durch den Inhalt derselben gezogen. Neue Gesichtspunkte zum Verständnis
der heiligen Schrift gieugen ihm auf. Die Kirche in ihrer Erhabenheit,
Einheit und Ausbreitung und ihrer Geschichte sonder Gleichen stellte sich
ihm dar als die von Gott gegründete Anstalt, in welcher der Mensch das
Leben und die Erkenntnis der Wahrheit finden solle. Durch die Kirche
wurde ihm auch die heilige Schrift als Urkunde der göttlichen Offenbarung
bezeugt, und so gab er sich dem Forschen in der Schrift, besonders der
Paulinischen Briefe hin. Unterdessen war Monica ihrem Sohne nach
Mailand gefolgt. Monica brachte mit erhöhter Zuversicht ihre Gebete für
seine Umkehr zu Gott dar. Doch sein Weg bis dahin war nur erst ein
halber Weg gewesen. Mit seiner Erkenntnis stand sein Wandel noch sehr
im Widerspruch; denn durch seine Erkenntnis war der Kampf zwischen dem
Geist und dem Fleisch erst recht zum Ausbruch gekommen. Er sehnte sich
nach einem Gott geweihten Leben, er wollte die ehrgeizigen Pläne und
fleischlichen Lüste von sich stoßen und sah sich doch immer aufs neue von
denselben gefesselt. Die Stunden tiefer Schwermuth nahmen bei ihm zu,
und seine Gesundheit begann zu leiden, so daß er vielleicht an ein nahes
Ende denken mochte. In solcher Stimmung befand er sich einst, als sein
Freund Pontitianus bei ihm eintrat, ein frommer und eifriger Christ. Auch
Alypius, der sich der Rechtswissenschaft gewidmet hatte, war bei ihm, als
I
85
Pontitianus ihn besuchte. Das Gespräch wandte sich bald auf das Mönch-
thum in Einsiedeleien und Klöstern, und Augustinus der bis dahin auf
das Mönchthum noch gar nicht aufmerksam gemacht worden war, wurde
tief ergriffen von der Weltverlengnung und der Hingebung an ein Gott
geweihtes-Leben. Er fand die Lebensweise, nach welcher er sich in noch un-
klarem Gefühl gesehnt hatte, in ihm verwirklicht, und beschämend war cs
für ihn, daß so viele, die ihm an Bildung und Erkenntnis keineswegs gleich-
kamen, mit ganzer Entschiedenheit dem Himmel zugewandt hatten, während
er bei seiner Sehnsucht nach einem Leben des Geistes doch noch fortwährend
den Lüsten des Fleisches gefröhnt hatte. Nachdem Pontitianus fortgegangen
war, stand er innerlichst ergriffen auf und eilte, die Paulinischen Briefe,
mit denen er sich vorher gerade beschäftigt hatte, mit sich nehmend, in den
Garten, welcher zu dem von ihm bewohnten Hause gehörte. Alypius be-
gleitete ihn. Schweigend saßen die beiden Freunde im Garten neben ein-
ander, und Augustinus ließ in bitteren Selbstvorwürfeu sein bisheriges Leben
an sich vorübergehen. Er bedachte, was er durch Gottes Gnade schon sein
könnte, und doch durch seine Schuld nicht geworden sei. Aber ans den
scharfen Schmerzen der Reue gicng bald eine mildere Stimmung hervor, in
welcher er fühlte, daß es für ihn noch nicht zu spät sei, daß er auch jetzt
noch des göttlichen Erbarniens inne werden und alsdann einen neuen Weg
des Lebens einschlagen könne. Als diese Stimmung über ihn kam, verließ
er seinen Freund, und sich einsam unter einem Feigenbaum zu Boden werfend,
schüttete er unter Thränen sein Herz vor Gott mit der Bitte um die Ver-
gebung seiner Sünden ans. Als er noch betete, vernahm er plötzlich die
Worte: „Nimm und lies", wie von der Stimme eines Knaben oder Mädchens
gesprochen und öfter wiederholt. Er wurde aufmerksam, und es gieng ihm
der Gedanke durch die Seele, daß ihm mit diesen Worten ein Zeichen von
Gott gegeben werde, nämlich in der Weise, daß er die Paulinischen Briefe,
die er neben Alypius zurückgelassen hatte, aufschlagen und in der ersten
ihm entgegentretenden Stelle den an ihn ergehenden göttlichen Willen ver-
nehnicn solle. Er kehrte zu Alypius zurück, ergriff das Buch und las
schweigend die Worte des Römerbriefes: „Nicht in Fressen und Saufen,
nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern zieht an
den Herrn Jesum Christum." Hiermit ward ihm die Vergebung seiner
Sünden besiegelt, und der Befehl gegeben, daß er den Lebensweg, nach
welchem er sich gesehnt hatte, nunmehr betreten solle. Er sprach dies
seinein Freunde aus, aber auch Alypius hatte ein Gefühl, daß auch für
ihn ein ähnlicher Wendepunkt des Lebens gekommen sei. Er las weiter
an der Stelle, wo Augustinus zu lesen aufgehört hatte, und die folgenden
Worte: „Den Schwachen im Glauben nehmet auf", ans sich beziehend,
war er entschlossen, sich von seinem Freunde, mit dem er bis dahin treu
verbunden gewesen war, auch bei dem jetzigen Schritte desselben nicht zu
trennen. Beide eilten jetzt zu Augustinus' Mutter, um ihr zu erzählen,
was sich mit ihnen begeben habe. Monica brach in Danksagungen und
Lobpreisungen ans. Ihre Gebete für ihren Sohn waren in größerem
Maße erfüllt, als sic gehofft hatte, da er nicht allein jetzt ein Glied der
Kirche werden, sondern auch den irdischen Hoffnungen entsagen wollte, um
desto ungethcilrer für Gott zu leben.
86
Es war im Herbst des Jahres 386 als dies geschah. Augustinus
kündigte jetzt seine Lehrerstelle auf. Er wünschte einige Zeit in der Einsamkeit
zuzubringen. Da bot ihm ein Freund in Mailand sein benachbartes Land-
gut zum Aufenthaltsorte an. Hier verlebte er in einem vertrauten Kreise
und in einer schönen Natur beglückende Tage in der Erinnerung an die
Führungen und Erbarmungen Gottes, und in dem Hinblick auf den nun
vor ihm liegenden und von ihm schon betretenen neuen Lebensweg.
Gegen das Osterfest des folgenden Jahres kehrte er nach Mailand
zurück, um mit Alypius die nächste Vorbereitung für die Taufe zu em-
pfangen, und in der Osterwoche wurden sie von dem Bischof Ambrosius
getauft. Bindemanii.
72.
1. Wie prangt im Feierkleide
Die grüne bunte Welt,
Und hat in Wald und Heide
Musik und Lust bestellt!
Wie klingt und spielt der Scherz
In Büschen rings und Bäumen
Von Edens Blütenträumen
Den Klang in jedes Herz!
2. Hinaus denn, meine Seele,
In voller Lust hinaus!
Verkünde, ruf', erzähle
Und kling' und sing' es aus!
Hinauf!
Du bist von Lerchenart,
Nach oben will mein Leben:
Laß fliegen, klingen und schweben
Die süße Himmelfahrt!
3. Auf, lüfte deine Schwingen
Zum frohen Heimatort!
Dein Trachten, Sehnen, Ringen,
Dein Weg, dein Lauf ist dort.
O, flieg' aus diesem Glanz
Der bunten Erdenlenze
Ins Land der ew'gen Kränze!
Da ist deiy Ziel, dein Kranz.
E. M. Arndt.
73. Hundert Zahr in einer Stunde.
In unserm Volke geht eine Erzählung im Schwange von einem
Mönche, Namens Petrus Forschegrund, der sich nicht in den Gedanken
finden konnte, daß im Himmel sollte ewige Freude sein und weiter nichts.
Er dachte oft: „Dort habe ich keine Hora mehr zu singen, nicht mehr zu
studieren, keine Kranke mehr zu besuchen und keinen Garten mehr zu bauen.
Ei, wie lang muß mir doch die Ewigkeit werden!" Mit solchen Gedanken
gieng er eines Tages aus den: Kloster in den Garten und aus dem Garten
in den Wald. Im Walde fand er eine liebliche, grüne Wiese, auf
welcher der freundlichste Sonnenschein ruhte. Neben der Wiese stand ein
Baum, und auf dem Baume sang ein Vogel so schön, wie Petrus Forsche-
grund noch keinen hatte singen hören. Er hörte, horchte und stand wie
angebunden. Als der Vogel in den Wald flog, gieng er ihm nach und
hörte ihm dort noch eine Weile zu. Endlich mahnte es ihn, daß die Zeit
um sei und er zu dem Stundengesange in sein Kloster zurückkehren müsse.
Er riß sich also los und eilte in den Garten zurück. Aber da war so
vieles anders, als er es verlassen hatte. Er kannte die Bäume nicht mehr.
So gieng es ihm auch im Kloster selbst; das Gebäude sah nicht ans wie
sonst. Aber noch mehr wunderte er sich, als ein anderer Pförtner an der
Thür stand, den er nicht kannte und der ihn nicht kannte, ihn auch nicht
87
einlassen wollte, sondern fragte, wer er sei. „Wer ich bin?" antwortete der
Mönch, „ich bin Petrus Forschegrund, Mönch in diesem Kloster, ich will
in meine Zelle gehen." „Das ist nicht wahr", antwortete der Andere, „ich
bin schon viele Jahre hier Pförtner, ich kenne alle Brüder, dich aber habe
ich nie gesehen." Er rief den Abt, und als dieser den Namen hörte, sagte
er, der Name sei ihm bekannt aus alten Büchern. Vor langer Zeit, wohl
vor hundert Jahren, sei ein Mönch dieses Namens aus dem Kloster ge-
gangen und nicht wiedergekommen. Er nahm aber den Fremden auf, wies
ihm' eine Zelle und ein Bett an, wo er ruhen konnte. In der Nacht
erschien ihm der Herr und sprach zu ihm: „Die Stimme eines Vogels
hat dich über hundert Jahre weggerückt. Was meinest du, kommt dir die
Ewigkeit, wo du die Chöre aller Engel und «seligen hörest und die Harmonie
alles göttlichen Rathes und der ganzen Gnadengeschichte verstehest, noch
lang vor?" „Nein, Herr", antwortete Petrus, „ich bin ein Thor gewesen
und habe geurtheilet, was ich nicht oerftaiib; vergib mir aus Gnaden."
Der Herr gieng, und der Mönch verkündete am andern Morgen den neuen
Bewohnern seine Geschichte und starb. F-rd. Datier, Sage».
74. Erratische Blöcke und Hünengräber.
in hohem Gracie nehmen auf der norddeutschen Ebene unsere
Aufmerksamkeit in Anspruch viele grössere und kleinere Blöcke und
Steine von Granit oder anderen krystallinischen Felsarten, die an
höhere Gebirgsgegenden erinnern. Sie sind Fremdlinge auf jenem
deutschen Gebiete, können auch nicht, wenigstens nicht in der bei
weitem grössten Mehrzahl, ihrer mineralogischen Beschaffenheit nach
von den benachbarten deutschen Gebirgen abstammen, sondern sie
sind, wie wir denn hier überhaupt von einer grossen nordischen
Schwemmbildung sprechen können, welche in Europa einen Flächen-
inhalt von wenigstens 4000 Quadratmeilen belegt, nach den Er-
mittelungen neuerer Geologen und Mineralogen, auf schwimmenden
Eisschollen aus Skandinavien und Finnland gekommen; daher werden
sie nordische Geschiebe, auch Irr-, Wander-, Findlings- oder erra-
tische Blöcke genannt. In der Sage des Volkes, bei welchem ein so
ungewöhnliches Vorkommnis in dem Flachlande einen tiefen Eindruck
hervorzubringen geeignet war, werden sie mit Riesen in Verbindung
gebracht; von diesen sollen sie an die Stelle, die sie einnehmen, im
Kampfe oder im Spiele geworfen oder zufällig fallen gelassen, häufig
auch im Zorne geschleudert worden sein. Natürlich bezieht sich
diese Vorstellung auf die ansehnlichsten derselben; denn sie finden
sich von der Grösse einer Linse oder Erbse bis zu einem Durch-
messer von 6—7 m.
Mit ihnen steht in engster Verbindung eine andere Erscheinung,
die uns in einem grossen Striche des nördlichen Europa, im nörd-
lichen Frankreich, in Grossbritannien, in Dänemark, im südlichen
Skandinavien und so namentlich in den Ebenen des norddeutschen
Tieflandes begegnet und deren wagerechte Gleichmässigkeit nicht
selten unterbricht; ja sie ist, was den Stoff anbelangt, grostentheils
88
mit ihnen eine und dieselbe; doch verdankt sie Ursprung und An-
ordnung nicht den Naturkräften, sondern dem Sinn und der Hand
des Menschen. Wir meinen hiermit jene bald kleineren, bald
grösseren steinernen Grabdenkmäler oder Hünengräber einer
Urbevölkerung
dieser Gegenden
aus vorgeschicht-
lichen Zeiten, von
deren Stamm Ein-
richtungen und
Lebensweise wir
sonst keine siche-
ren Spuren, ja
kaum eine Ah-
nung haben. Ein
Name für sie
kommt zuerst in
den Urkunden des
12. und 13. Jahr-
hunderts vor, in
denen sie,, Gräber
der Alten“ und
„Hügel der Hei-
den“ genannt
werden; doch erscheint im 13. Jahrhundert auch schon der Ausdruck
„Riesengräber“ und „Riesenhügel“ und macht im Laufe des späteren
Mittelalters mehr und mehr dem gleichbedeutenden Wort „Hunnen-
oder Hünengräber“ Platz. Indes diese Bezeichnung hat bei uns
nur Geltung für die Gräber, nicht für die menschlichen Gebeine,
welche sie enthalten. Nur jene sind riesig, nicht diese. Längst ist
die Vorstellung aufgegeben, dass die ältere Bevölkerung eine riesen-
hafte gewesen sei, und gerade solche uralte Gräber beweisen, dass
im Ganzen und Grossen die Verhältnisse des menschlichen Leibes
dieselben geblieben sind.
Gar manches Jahrhundert hindurch wurden diese, oft mit Erde
und Rasen überdeckten Monumente für heilig und unverletzlich ge-
halten, ja sie wurden so sehr als das eigentlich Dauerhafte und
Bleibende an der Erdoberfläche betrachtet, dass man gerade sie als
die sichersten Grenzmarken in Rechtsurkunden aufzuführen pflegte.
Allmählich eröffnete sie der Drang nach Wissen, häutiger noch
Habsucht oder Neugier, sodass wir schon aus der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts, wo sie allerdings noch bei weitem zahlreicher und
besser erhalten waren, von den in ihnen neben menschlichen Gebeinen
gefundenen Geschirren aus Thon, von Waffen, Hausgeräth und
Schmuck aus Stein, Bronze, Eisen und edlem Metall, viele und
meist vortrefflich ausgeführte Abbildungen besitzen.
Line ansehnliche Zahl solcher Stein-Monumente sind von be-
deutendem Umfange, ja einige bestehen aus so kolossalen Steinmassen,
89
dass ihre Zertrümmerung und Fortschaffung viel zu kostspielig sein
würde, und sie so durch sich selbst bisher gegeh das Bemühen des
vorigen und des jetzigen Jahrhunderts geschützt worden sind, welche
das Material für verschiedene Zwecke mit vielem Nutzen verwerthet
haben. Wir nennen aus diesen riesigen Werken, die auch gegen-
wärtig noch ganz oder theilweise in grosser Zahl vorhanden sind,
die sogenannten sieben Steinhäuser bei Fallingbostel in der Lüne-
burger Heide, das sehr interessante und berühmte Bützenbett (unfern
der Wesermündung im Norden von Bremerhafen), das, ohne das
einschliessende Oval der Umfassungssteine, einen Blockhaufen von
etwa 10 m. Länge, 31/2 m. Breite und beinahe 3 m. Höhe bildet,
und endlich die so ausgezeichneten Denkmälergruppen des Giers-
feldes (nicht ganz 4 Meilen nördlich von Osnabrück), eines etwa
2000 Morgen grossen Stückes Heide-Wüste von äusserst ausdrucks-
vollem und ernstem Aussehen, welches bisher noch gleichsam wie
ein Landesalterthum oder wie eine geweihte Stätte von dem um
sich greifenden Anbau geschont worden ist.
Wie der Gebrauch der Findlingssteine sich bereits in den
Hünenbetten, in den Opfersteinen und Altären uralter heidnischer
Zeiten auf der norddeutschen Ebene zeigt, ebenso später in und an
den Kirchen, Klöstern, Städtemauern und Türmen aus frühen
christlichen Jahrhunderten. Wir nennen hier beispielshalber unter
sehr alten Kirchen, welche aus solchem Material erbaut sind, die
von Dorum und Mulsum im Lande Wursten und die von Sinstorf
bei Harburg. Wo häufig, wie z. B. in der Lüneburger Heide, die
Kirchen selbst jetzt aus Backstein oder weithergeförderten Bruch-
steinen aufgeführt angetroffen werden, da sind wenigstens die Mauern
der Friedhöfe aus unbehauenen Granitblöcken zusammengesetzt.
In jenen Gegenden des germanischen Tieflandes, wo diese
nordischen Geschiebe gänzlich fehlen, wie im äussersten Westen,
auf angeschwemmten Landstrichen an der See oder an den Flüssen,
da hat man sie oft schwer vermisst, denn sie sind brauchbar für
die verschiedensten Zwecke, nicht bloss zum Häuser- und Strassenbau
und zur Pflasterung, sondern oft auch als ein höchst willkommener
Ersatz für Kalkflötze, die bisweilen weit und breit fehlen; ja sogar
der Künstler sucht eifrig unter ihnen umher, um die schönsten
Granit- und Gneussblöcke auszuwählen, die dann seine gewandte
Hand in Unterlagen für seine Kunstwerke oder wohl in solche selbst
verwandelt. Die herrliche Schale z. B. in Berlin vor dem Museum
im Lustgarten, die nicht, wie man gewöhnlich hört und liest, aus
Granit, sondern aus Gneuss besteht, ist aus dem grössten Theile eines
solchen Blockes gebildet, der, als er noch eingetheilt in den Bäuerischen
Bergen bei Fürstenwalde lag, unter dem Namen des Markgrafensteins
wie ein Landeswunder von Alters her berühmt war. Ebenso ist aus
einem erratischen Block das Denkmal Gustav Adolfs gebildet, der so-
genannte Schwedenstein auf dem Schlachtfelde bei Lützen, der diesen
Namen nicht bloss als Denkstein des berühmten Schwedenkönigs, son-
dern auch seines skandinavischen Ursprungs wegen verdient. Kutzen.
90
75. Reineke Fuchs.
l.
(Aus dem 1. und 2. Gesänge.)
1. Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten
Feld und Wald — auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neu ermunterten Vögel.
Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.
Nobel, der König, versammelt den Hof, und seine Vasallen
Eilen gerufen herbei mit großem Gepränge; da kommen
Viele stolze Gesellen von allen Seiten und Enden:
Lütke, der Kranich, und Markart, der Häher, und alle die Besten
Denn der König gedenkt mit allen seinen Baronen
Hof zu halten in Feier und Pracht; er läßt sie berufen
Alle mit einander, so gut die großen als kleinen.
Niemand sollte fehlen — und dennoch fehlte der eine,
Reineke Fuchs, der Schelm, der viel begangenen Frevels
Halben des Hofs sich enthielt. So scheuet das böse Gewissen
Licht und Tag, es scheute der Fuchs die versammelten Herren.
Alle hatten zu klagen, er hatte sie alle beleidigt,
Und nur Grimbart den Dachs, den Sohn des Bruders, verschont' er.
(Besonder« Ssegrimm, der Wolf, und Henning, der Hahn, verklagten ihn.)
Und es ließ der König darauf die Klügsten berufen,
Rath mit ihnen zu halten, wie er den Frevel bestrafte,
Der so klärlich vor ihn und seine Herren gebracht war.
Und sic ricthen zuletzt: man habe dem listigen Frevler
Einen Boten zu senden, daß er um Liebes und Leides
Nicht sich entzöge: er solle sich stellen am Hofe des Königs
An dem Tage der Herrn, wann sic zunächst sich versammeln.
Braun, den Bären, ernannte man aber zum Boten. Der König
Sprach zu Braun, dem Bären: „Ich sag' es, euer Gebieter,
Daß ihr mit Fleiß die Botschaft verrichtet; doch rath' ich zur Vorsicht.
Denn es ist Reineke falsch und boshaft; allerlei Listen
Wird er gebrauchen, er wird euch schmeicheln, er wird euch belügen,
Hintergehen, wie er nur kann." — „Mit nichte»", versetzte
Zuversichtlich der Bär, „bleibt ruhig! Sollt' er sich irgend
Nur vermessen und mir zum Hohne das Mindeste wagen,
Seht, ich schwör' es bei Gott, der möge mich strafen, wofern ich
Ihm nicht grimmig vergälte, daß er zu bleiben nicht wüßte!"
2. Also wandelte Braun auf seinem Weg zum Gebirge
Stolzen Muthes dahin durch eine Wüste, die groß war,
Lang und sandig und breit, und als er sie endlich durchzogen,
Kam er gegen die Berge, wo Reineke pflegte zu jagen;
«elbst noch Tages zuvor hatt' er sich dorten erlustigt.
Aber der Bär gieng weiter nach Malepartus; da hatte
Reineke schöne Gebäude. Von allen Schlössern und Burgen,
91
Deren ihm viele gehörten, war Malepartus die beste.
Reineke wohnte daselbst, sobald er Übles besorgte.
Braun erreichte das Schloß und fand die gewöhnliche Pforte
Fest verschlossen. Da trat er davor. und besann sich ein wenig;
Endlich rief er und sprach: „Herr Oheim, seid ihr zu Hause?
Braun, der Bär, ist gekommen, des Königs gerichtlicher Bote.
Denn es hat der König geschworen, ihr solltet bei Hofe
Vor Gericht euch stellen; ich soll euch holen, damit ihr
Recht zu nehmen und Recht zu geben keinem verweigert —
Oder es soll euch das Leben kosten; denn bleibt ihr dahinten,
Ist mit Galgen und Rad euch gedroht. Drum wählet das Beste,
Kommt und folget mir nach, sonst möcht' es euch übel bekommen!" —
Reineke hatte die Worte gehört, doch fürchtet' er klüglich,
Andre möchten noch neben dem Boten im Hinterhalt liegen.
Als er sich aber versichert, der Bär sei einzeln gekommen,
Gicng er listig hinaus und sagte: „Werthester Oheim,
Seid willkommen! Verzeiht mir, ich habe Vesper gelesen;
Darum ließ ich euch warten. Ich dank' euch, daß ihr gekommen;
Denn es nützt mir gewiß bei Hofe, so darf ich es hoffen.
Seid zu jeglicher Stunde, mein Oheim, willkommen! Indessen
Bleibt der Tadel für den, der euch die Reise befohlen;
Denn sie ist weit und beschwerlich. O Himmel, wie ihr erhitzt, seid!
Eure Haare sind naß und euer Odem beklommen.
Hatte der mächtige König sonst keinen Boten zu senden,
Äls den edelsten Mann, den er am meisten erhöhet?
Aber so sollt' es wohl sein zu meinem Vortheil; ich bitte,
Helft mir am Hofe des Königs, allwo man mich übel verleumdet.
Morgen setzt' ich mir vor trotz meiner mißlichen Lage
Frei nach Hofe zu gehen, und so gedenk' ich noch immer;
Nur für heute bin ich zu schwer, die Reise zu machen.
Leider hab' ich zu viel von einer Speise gegessen,
Die mir übel bekommt; sie schmerzt mich gewaltig im Leibe."
Braun versetzte darauf: „Was war es, Oheim?" Der andre
Sagte dagegen: „Was könnt' es euch helfen, und wenn ich's erzählte.
Kümmerlich frist' ich mein Leben; ich leid' es aber geduldig.
Ist ein armer Mann doch kein Graf! Und findet zuweilen
Sich für uns und die Unsern nichts Besseres, müssen wir freilich
Honigscheiben verzehren; die sind wohl immer zu haben.
Doch ich esse sie nur aus Noth; nun bin ich geschwollen.
Wider Willen schluckt' ich das Zeug — wie sollt' es gedeihen?
Kann ich es immer vermeiden, so bleibt mir's ferne vom Gaumen."
„Ei, was hab' ich gehört!" versetzte der Braune, „Herr Oheim!
Ei, verschmähet ihr so den Honig, den mancher begehret?
Honig, muß ich euch sagen, geht über alle Gerichte,
Wenigstens mir; o schafft mir davon, es soll euch nicht reuen!
Dienen werd' ich euch wieder." — „Ihr spottet", sagte der andre.
„Nein, wahrhaftig!" verschwur sich der Bär, „es ist ernstlich gesprochen."
„Ist dem also", versetzte der Rothe, „da kann ich euch dienen.
92
—
—
—
Denn der Bauer Rüstcviel wohnt am Fuße des Berges;
Honig hat er — gewiß, mit allein eurem Geschlechte
Saht ihr niemals so viel beisammen!" Da lüstet' cs Braunen
Übermäßig nach dieser geliebten Speise. „O führt mich",
Rief er, „eilig dahin! Herr Oheim, ich will cs gedenken;
Schafft mir Honig, und wenn ich auch nicht gesättiget werde."
„Gehen wir", sagte der Fuchs, „es soll an Honig nicht fehlen.
Heute bin ich zwar schlecht zu Fuße; doch soll mir die Liebe,
Die ich euch lange gewidmet, die sauern Tritte versüßen.
Denn ich kenne niemand von allen meinen Verwandten,
Den ich verehrte wie euch. Doch kommt! Ihr werdet dagegen
An des Königes Hof am Herrentage mir dienen,
Daß ich der Feinde Gewalt und ihre Klagen beschäme.
Honigsatt mach' ich euch heute, so viel ihr immer nur tragen
Möget." Es meinte der Schalk die Schläge der zornigen Bauern. —
Abend war es geworden, und Reineke wußte, gewöhnlich
Liege Rüste viel nun in seiner Kammer zu Bette,
Der ein Zimmermann war, ein tüchtiger Meister. Im Hofe
Lag ein eichener Stamm; er hatte, diesen zu trennen,
Schon zwei tüchtige Keile hineingetrieben, und oben
Klaffte gespalten der Baum fast ellenweit. Reineke merkt' es,
Und er sagte: „Mein Oheim, in diesem Baume befindet
Sich des Honiges mehr, als ihr vermuthet; nun stecket
Eure Schnauze hinein, so tief ihr möget. Nur rath' ich:
Nehmet nicht gierig zu viel; es möcht' euch übel bekommen."
»Meint ihr", sagte der Bär, „ich sei ein Vielfraß? Mit Nichten!
Blaß ist überall gut, bei allen Dingen." Und also
Ließ der Bär sich bethören und steckte den Kopf in die Spalte
Bis an die Ohren hinein und auch die vordersten Füße.
Reineke machte sich dran, mit vielem Ziehen und Zerren
Bracht' er die Keile heraus; nun war der Braune gefangen,
Haupt und Füße geklemmt; cs half kein Schelten noch Schmeicheln.
Vollauf hatte der Braune zu thun, so stark er und kühn war,
Und so hielt der Neffe mit List den Oheim gefangen.
Heulend plärrte der Bär, und mit den hintersten Füßen
Scharrt' er grimmig und lärmte so sehr, daß Rüstcviel aufsprang.
Was es wäre? dachte der Meister und brachte sein Beil mit,
Daß man bewaffnet ihn fände, wenn., jemand zu schaden gedächte.
Braun befand sich indes in großen Ängsten; die Spalte
Klemmt ihn gewaltig, er zog und zerrte brüllend vor Schmerzen.
Aber mit alle der Pein war nichts gewonnen; er glaubte
Nimmer von dannen zu kommen — so meint' auch Reineke freudig.
Als er Rüstevicl sah von ferne schreiten, da rief er:
„Braun, wie steht es? Mäßiget euch und schonet des Honigs!
Sagt, wie schmeckt es? Rüstcviel kommt und will euch bewirthen;
Nach der Mahlzeit bringt er ein Schlückchen, es mag euch bekommen!"
Da gieng Reineke wieder nach Malepartus, der Beste.
Aber Rüstcviel kam, und als er den Bären erblickte,
93
Lief er, die Bauern zu rufen, die noch in der Schxnke beisammen
Schmauseten. „Kommt!" so rief er; „in meinem Hofe gefangen
Hat sich ein Bär; ich sage die Wahrheit." Sic folgten und liefen,
Jeder bewehrte sich eilig, so gut er konnte. Der eine
Nahm die Gabel zur Hand, nnd feinen Rechen der andre,
Und der dritte, der vierte mit Spieß und Hacke bewaffnet
Kamen gesprungen, der fünfte mit einem Pfahle gerüstet.
Ja, der Pfarrer und Küster, sie kamen mit ihrem Geräthc.
Auch die Köchin des Pfarrers (sie hieß Frau Juttc, sie konnte
Grütze bereiten und kochen wie keine) blieb nicht dahinten,
Kam mit dem Rocken gelaufen, bei dem sie am Tage gesessen,
Dem unglücklichen Bären den Pelz zu waschen. Der Braune
Hörte den wachsenden Lärm in seinen schrecklichen Nöthen,
Und er riß mit Gewalt das Haupt aus der Spalte — da blieb ihm
Haut und Haar des Gesichts bis zu den Ohren im Baume.
Nein, kein kläglicher Thier hat jemand gesehen! Es rieselt'
Über die Ohren das Blut. Was half ihm das Haupt zu befreien?
Denn es blieben die Pfoten im Baume stecken; da riß er
Hastig sie ruckend heraus; er raste sinnlos, die Klanen
Und von den Fußen das Fell blieb in der klemmenden Spalte.
Leider schmeckte dies nicht nach süßem Honig, wozu ihm
Reineke Hoffnung gemacht; die Reise war übel gerathen,
Eine sorgliche Fahrt war Braunen geworden. Es blutet'
Ihm der Bart und die Füße dazu; er konnte nicht stehen,
Konnte nicht kriechen noch gehen. Und Rnsteviel eilte zu schlagen;
Alle fielen ihn an, die mit dem Meister gekommen;
Ihn zu tobten war ihr Begehr. Es führte der Pater
Einen langen Stab in der Hand und schlug ihn von ferne.
Kümmerlich wandt' er sich hin nnd her — cs drängt' ihn der Haufen,
Einige hier mit Spießen, dort andre mit Beilen; es brachte
Hammer und Zange der Schmied, es kamen andre mit Schaufeln,
Andre mit Spaten, sie schlugen drauf los und riefen nnd schlugen,
Daß er vor schmerzlicher Angst in eignem Unflat sich wälzte.
Alle setzten ihm zu, es blieb auch keiner dahinten:
Der krummbeinige Schlappe mit dem breitnasigen Ludolf
Waren die schlimmsten, und Gerold bewegte den hölzernen Flegel
Zwischen den krummen Fingern; ihm stand sein Schwager zur Seite,
Kückelrei war es, der Dicke — die beide» schlugen am meisten. —
Und nicht diese Genannten allein; denn Männer und Weiber,
Alle liefen herzu und wollten das Leben des Bären.
Nun sprang Rüsteviels Bruder hervor und schlug mit dem langen
Dicken Knüttel den Bären aufs Haupt, daß Hören und Sehen
Ihm vergieng, doch fuhr er empor vom mächtigen Schlage.
Rasend fuhr er unter die Weiber, die unter einander
Taumelten, fielen und schrien, und einige stürzten ins Wasser. —
Alle ließen für todt den Bären liegen und eilten
Nach den Weibern ans Wasser; man zog aufs Trockne die fünfe.
Da indessen die Männer am Ufer beschäftiget waren,
94
Kroch der Bär ins Wasser vor großem Elend und brummte
Vor entsetzlichem Weh. Er wollte sich lieber ersäufen.
Als die Schlüge so schändlich erdulden. Er hatte zu schwimmen
Nie versucht und hoffte sogleich das Leben zu enden.
Wider Vermuthen fühlt' er sich schwimmen, und glücklich getragen
Ward er vom Wasser hinab; es sahen ihn alle die Bauern,
Riefen: „Das wird uns gewiß zur ewigen Schande gereichen!"
Und sie waren verdrießlich und schalten über die Weiber:
„Besser blieben sic doch zu Hause! Da seht nun, er schwimmet
Seiner Wege." Sie traten herzu, den Block zu besehen,
Und sie fanden darin noch Haut und Haare vom Kopfe
Und von den Füßen und lachten darob und riefen: „Du kommst uns
Sicher wieder, behalten wir doch die Ohren zum Pfande!"
So verhöhnten sie ihn noch über den Schaden, doch war er
Froh, daß er nur dem Übel entgieng. Er fluchte den Bauern,
Die ihn geschlagen, und klagte den Schmerz der Ohren und Füße;
Fluchte Reineken, der ihn verrieth. Mit solchen Gebeten
Schwamm er weiter; es trieb ihn der Strom, der reißend und groß war,
Binnen weniger Zeit fast eine Meile hinunter.
Und da kroch er ans Land am selbigen Ufer und keuchte.
Kein bedrängteres Thier hat je die Sonne gesehen —
Und er dachte den Morgen nicht zu erleben.... Da lag er
Krank und elend und jammerte laut und sprach zu sich selber:
„Schlüge nur einer mich todt! Ich kann nicht gehen und sollte
Nach des Königes Hof die Reise vollenden und bleibe
So geschändet zurück von Reinekens bösem Verrathe.
Bring' ich mein Leben davon — gewiß, dich soll es gereuen!"
Doch er raffte sich auf und schleppte mit gräßlichen Schmerzen
Durch vier Tage sich fort, und endlich kam er zu Hofe.
Als der König den Bären in seinem Elend erblickte,
Rief er: „Gnädiger Gott! Erkenn' ich Braunen? Wie kommt er
So geschändet?" Und Braun versetzte: „Leider, erbärmlich
Ist das Ungemach, das ihr erblickt; so hat mich der Frevler
Reineke schändlich verrathen!" Da sprach der König entrüstet:
„Rächen will ich gewiß ohn' alle Gnade den Frevel.
Solch einen Herrn wie Braun, den sollte Reineke schänden?
Ja, bei meiner Ehre, bei meiner Krone! das schwör' ich:
Alles soll Reineke büßen, was Braun zu Rechte begehret.
Halt' ich mein Wort nicht, so trag' ich kein Schwert mehr, ich will es geloben!"
I. W. v. Goethe.
2.
HerrBraun, der Bär, zog stolz und kühn! Er war noch da den vorigen Tag,
Den Weg in das Gebirge hin, j Weil Malpertaus dort nahe lag;
Durch Wald und Wüste, weit entlang, | Denn Reineke hatte manches Haus,
Bis er vollbrachte seinen Gang, , Doch war das stärkste Malpcrtaus;
Und ein Paar Hügel vor ihm lagen, ! Daher er auch, so oft Gefahr
»Wo Reinke pflegte oft zu jagen. Ihm drohte, dort am liebsten war.
95
Wie Braun jetzt vor dem
stand,
Und noch das Thor verschlossen fand,
chlosse > „Willkommen, ljeber Oheim, hier.
Ich las jetzt eben mein Brevier;
Drum konnt' ich nicht geschwinder
Wo man pflegt' aus und ein zu gehn,
Blieb er erst eine Weile stehn,
Um sich auf Worte zu besinnen.
Dann rief er: „Reinhard, seid ihr
drinnen?
Ich, Braun, euer Ohm, bin hergesandt
Und mache hiermit euch bekannt,
Wofern ich euch nicht mit mir bringe,
Daß ihr euch stellet vor dem Dinge,
Recht zu empfangen und zu geben,
So wird's euch kosten Ehr' und Leben.
Der König droht euch ohne Gnade,
Wenn ihr nicht kommt, mit Galgen und
mit Rade;
Drum laßt euch rathen: kommt mit
mir."
Indes horcht' Reinhard an der Thür
Und merkte sich ein jedes Wort.
„Ach! (dacht' er) könnt' ich doch sofort
Dem stolzen Grobian sein Prahlen
Auf seinen eignen Kopf bezahlen!
Das Ding will wohl erwogen sein."
Er gieng tief in sein Schloß hinein;
Denn Malpertaus war voll von Zellen;
Da waren Vorrathskeller, Höhlen,
Verdeckte Wege, eng und lang,
Und mancher krumme Nebengang,
Den er verschloß, so oft Gefahr
Von Feindes Macht zu fürchten war.
Dort lag die Beute, die er machte,
Und wenn man nach ihm selber jagte
Von wegen mancher Missethat,
Fand er dort eine sichre Statt;
Wo er auch manches Thier ergriff,
Wenn's sich in seinen Bau verlief.
Nachdem er hatte ungestört
Des Bären Aufruf angehört,
War ihm erst bange, daß Gewalt
Ihm droht' in einem Hinterhalt;
Sobald er aber wahrgenommen,
Daß Braun war ganz allein gekommen,
Lwß die Besorgnis wieder nach;
Er gieng zu ihm hinaus und sprach:
. kommen.
Ich dank' euch; denn es wird mir
frommen,
Daß ihr zu mir gekommen seid.
Ich seh* euch gern zu jeder Zeit;
Doch weiß ich's denen keinen Dank,
Die euch bemüht mit diesem Gang,
Der euch wohl sehr beschwerlich war;
Denn euch trieft ganz von Schweiß
das Haar.
Hat denn der König, unser Herr,
Sonst keinen andern Boten mehr,
Daß auf den Edelsten von allen
Und Besten seine Wahl gefallen?
Doch, wie gesagt, mir wird es frommen,
Daß ihr seid selbst zu mir gekommen;
Denn niir kömmt euer kluger Rath
Gewiß bei Hofe sehr zur Statt."
„Wenn ihr den Gang nicht über-
nommen,
Wär' ich doch morgen hingekommen,
Wiewohl mir's heut' nicht möglich wär'
Zu reisen, ohne viel Beschwer;
Denn gestern aß ich mich so voll,
Daß mir davon der Magen schwoll.
Das macht das ungewohnte Fressen."
„Was habt ihr denn (fragt' Braun)
gegessen?"
Sprach Reineke: „Was hüls' euch das,
Wenn ich euch sagte, -was ich aß?
Der Bau'r ist ja kein Edelmann,
Man muß sich helfen, wie man kann.
Oft hab' ich hier mit meinem Weibe
Kaum eine arme Honigschcibe;
Die aßen wir vor Hunger bloß,
Und davon ward mein Leib mir groß;
Denn Speise, die man wider Dank
Und Willen essen muß, macht krank;
Drum, wenn ich es vermeiden kann,
So rühr' ich keinen Honig an."
„Ei, ei (fiel Braun ihm in die Rede)
Thut doch, Herr Ohm, nur nicht so
spröde.
96
I
Ist Honig euch so wenig werth,
Den mancher doch so sehr begehrt?
Für mich ist Honig eine Speise,
Die ich weit über alles preise.
Helft mir nur, davon zu bekommen;
Ich thu' euch wieder was zum Frommen! "
Sprach Reineke: „Ohm, ihr treibt
wohl Spott?"
„Das thu' ich nicht (sprach Braun),
bei Gott!"
„Ist denn der Honig euch so lieb
(Sprach Reineke, der rothe Dieb),
So wißt, es wohnt kaum eine Meil'
Von hier der Bauer Rustifeil,
Bei dem ihr euch wohl ans ein Jahr
Damit versorgen könnt, fürwahr."
„Führt mich zu ihm, mein Ohm
(sprach Braun),
Ich dien' euch gerne wieder, traun.
Sollt' ich mich satt in Honig essen,
So müßt' man ihn mir reichlich messen."
„Kommt mit (sprach Reinke) auf
die Fahrt!
Ein Schelm, der seinen Honig spart.
Zwar wird's mir etwas sau'r, zu gehen;
Doch sollt ihr meinen Eifer sehen,
Und wie ich stets mit Herz und Sinn
Vor andern euch ergeben bin.
Mit niemand mein' ich es so bieder;
Ich weiß, ihr dient mir gern auch
wieder,
Wenn meine Feinde in diesen Tagen
Am Hofe mich aus Neid verklagen.
Ihr sollt euch recht mit Honig mästen,
Und (merkt's euch) von dem allerbesten
Hab' ich euch eure volle Tracht
(Er -meinte Prügel) zugedacht."
„Möcht' es (dacht' Reinke) mir ge-
lingen,
Dich recht zum Honigmarkt zu bringen!"
Deswegen log der Schalk so sehr;
Und gläubig gab ihm Braun Gehör.
Sie kamen zu des Bauern Zaun,
Und höchlich freute sich der Braun;
Doch sollt' ihm bald der Spaß vergehn,
Wie manchen! Thoren oft geschehn.
Der Abend war herangekommen.
Und Reinke hatte wahrgenommen,
Daß Rustifeil in seinem Bette
Sich schon zur Ruh' begeben hätte.
Es war des Dörfchens Zimmermann
Ein Eichentrumm, den er begann
Zu spalten, lag schon halb gekloben
Auf seinem Hof; es steckten oben
Zwei glatte Keile in dem Stamm,
Die Reinke wohl in Obacht nahm;
Die Spalte klafft' an einer Seite
Fast bis zu einer Ellen Weite.
„Ohm (sprach der Schelm) seht diesen
Baum;
Was in ihm steckt, das träumt euch
kaum;
Er hält mehr Honig, als ihr glaubt.
Steckt nur recht tief hinein das Haupt;
Nehmt aber nicht zuviel des Süßen,
Daß ihr's nicht müßt mit Leibweh
büßen."
„Ich danke sehr für den Bericht
(Sprach Braun), doch Warnung brauch'
ich nicht;
Ich bin kein Freund von Übermuth,
Maß ist in allen Dingen gut."
Kurz, blindlings ließ sich Braun
zum Thoren
Gebrauchen; denn bis an die Ohren
Steckt in den Trumm sein Haupt der
Gauch
Und beide Vordertatzen auch.
Auf sprang der Fuchs und zog in
Eile
Heraus die beiden glatten Keile;
Da steckte Braun, der dumme Tropf,
Im Klotze fest mit Tatz' und Kopf.
War er gleich noch so groß und stark,
So fand er doch jetzt schweres Werk,
Wie Reineke ihn, eh' er's dachte,
So boshaft in die Falle brachte.
Laut heulend fieng er an zu kratzen
Mit seinen beiden Hintertatzen,
Womit er so viel Lärmen machte,
Daß Rustifeil davon erwachte.
Er gieng zu sehen, was es war,
97
Und nahm, aus Vorsicht vor Gefahr,
Sein Schlichtbeil mit. Er kam heran
Und traf den armen Bären an,
Der in der Klemme heult' und pfiff
Und laut vor Angst und Schmerzen rief;
Doch, gab er gleich sich alle Müh',
Erlöst' er Tatz' und Kopf doch nie.
Froh war der Fuchs, wie Rustifeil
Sich sehen ließ mit feinem Beil.
„Schmeckt euch (rief er) der Hqnig auch,
Ohm Braun? Füllt nicht zu sehr den
Bauch.
Dort seh' ich Rustifeilen kommen,
Der sich vermuthlich vorgenommen,
Mit einem Trunk euch zu bedenken,
Und euch zur Mahlzeit einzuschenken."
Damit lief Reineke nach Haus'
Und lacht' den armen Oheim aus.
Sobald als Rustifeil entdeckte,
Daß Braun fest in der Klemme steckte,
Eilt er, um in das Dorf zu laufen,
Wo er die Bauern noch bei Haufen
Versammelt fand beim Kirmeßbier.
„Kommt (rief er),Kinder, stracks mitmir.
Ein Bär ist in die Fall gegangen
Und, sitzt auf meinem Hof gefangen."
Sie folgten ihm und eilten sehr;
Ein jeder nahm, statt Blordgewehr,
Das erste Werkzeug in die Hand,
Das er in seinem Hause fand;
Der eine den Knittel, der andere den
Flegel;
Den Rechen dieser, und jener den
Schlägel;
Der Fuhrmann nahm den Wagen-
schwengel;
Der Küster griff zum Glockenbengel;
Des Pfarrers Hausmagd kam auf
Socken
Gerannt mit ihrem Spinnerocken,
(Bei welchem sie noch spät gesessen).
Um Braunens Fell damit zu messen.
Wie er den Lärm der Schar vernahm,
Die zahllos auf den Hals ihm kam,
Riß er mit aller Macht den Kopf
Aus seiner Klemme; doch vom Schopf
Gieng Haut und Haar dabei verloren
Und auch ein Theil von seinen Ohren;
Von Blut strömt' ihm sein Angesicht;
Nie sah man einen ärmern Wicht.
Jetzt hatt' er zwar sein Haupt erlöst;
Doch steckten noch die Tatzen fest.
Er zerrt' sie los, fast halb von Sinnen;
Allein die Klauen blieben drinnen
Bon seinen' beiden Vorderfüßen.
Der Honig war nicht von dem süßen,
Den Reineke ihm zugesagt.
Schlimm war der Gang, den er gewagt.
Und schlimm bekam ihm diese Fahrt.
Ihm floß das Blut in seinen Bart;
Vor Schmerzen konnt' er nicht mehr
gehn
Und kaum noch auf den Füßen stehn.
Doch jetzt griff Rustifeil ihn an
Mit seinem Beil, und jedermann
Fiel mit gezücktem Mordgewehr
Voll Ingrimm über den Armen her.
Der Pater selbst erhob den Stab
And drosch das Fell ihm damit ab.
Umsonst versucht er zu entlaufen;
Denn alles kam in dichten Haufen
Mit Stöcken, Stangen, Knütteln, Beilen;
Der Schmied mit Hämmern und mit
Feilen;
Die Weiber schlugen Ofenkrücken
Und Besenstiel' auf ihm zu Stücken;
Kurz, Prügel fielen Schlag auf Schlag,
Daß er sich hinten und vorn erbrach.
Die Großen droschen und die Kleinen;
Doch Schlcbbe mit den Säbclbcincn
Und Ludolf mit der breiten Fratze
Zerblenten meist ihm Haupt und Tatze.
Blatz Plumpfaust stand auch tapfer bei
Mit seinem Schwager Kukelrci.
Hier drosch dcö Pfarrers Magd, Frau
Jütte;
Dort traf ihn Talke mit der Bütte
Und gieng, nebst manchem andern Weibe,
Dem armen Bären arg zu Leibe.
Herr Braun empfieng von dieser Schar
Schlag über Schlag auf seinen Leib,
98
Womit ihn trafen Mann und Weib.
Rustifeils Bruder war der letzte,
Der ihm den schwersten Streich versetzte.
Er hieb so arg ihn übers Ohr,
Daß er das Hören und Seh'n verlor.
Halb rasend kam er zu dem Haufen
Der Weiber in der Angst gelaufen
Und fieng an, sie herum zu jagen,
Bis ihrer fünf im Bache lagen.
Der Strom war schnell, das Wasser
tief;
Der Pater sprang umher und rief:
„Ich bitt' euch, Kinder, helfet hier;
Ein ganzes Faß Octoberbier
Und zehn Jahr' Ablaß sollt ihr kriegen."
Stracks ließen sie den Bären liegen,
Um nur die Weiber erst zu retten;
Wie sie mit vieler Müh auch thäten.
> Doch war er froh, daß er entgieng.
Er flucht dem Trumme, der ihn fieng,
! Und Reinken, der ihn so verrieth,
| Daß er ward Haut und Ohren quitt.
Dies war sein frommer Morgen-
spruch,
Wie ihn der Strom hinunter trug.
Er trieb in einer kleinen Weile
Hinab, wohl eine gute Meile:
Dann kroch er mit betrübtem Sinn
Auf einen grünen Anger hin.
„Ich kann (stöhnt er) fast nicht mehr
leben.
Und muß hier wohl den Geist aufgeben,
Dank Reineken, dem Bösewicht.
Die Bauern auch vergaß er nicht,
Die ihm so arg den Pelz gewaschen,
Wie er den Honig dacht zu naschen.
Wie dies Getümmel Braun vernahm,
Kroch er ans Ufer hin voll Gram;
Bor Schmerz und Unmuth brummt er
sehr;
Ans Schwimmen dacht' er fast nicht
mehr,
Und wußt' nichts anders zu erdenken,
Als in dem Bach sich zu ertränken,
Um sich den Prügeln zu entziehn:
Doch rettete der Zufall ihn;
Er schwamm noch gut und griff sich an.
Wie dies von Fern die Bauern sah'»,
Erbosten sie vor Zorn und Gram.
„Das ist doch wahrlich Schand' und
Scham,
(Rief jeder aus vor Ungeduld);
Es ist der dummen Weiber Schuld;
Die gern die Ras' in alles stecken.
Fort schwimmt er, und wir stehn wie
Gecken."
Jetzt wurden sie den Trumm gewahr,
Worin der . Bär ließ Haut und Haar;
Und das war allen herzlich lieb.
Sie schrie'n: „Komm her, ehrloser Dieb;
Handschuh und Ohr stehn hier zu
Pfande."
So hatt' er zu dem Schmerz noch
Schande;
Der Fuchs der ihm den Streich
gemacht,
Und ihn zum Houigmarkt gebracht,
Erbrach indes ein Hühnerhaus
Und holt' ein fettes Huhu heraus,
Womit er längs dem Strom hinab
Zum leckern Frühstück sich begab
Und sich im Kühlen gütlich that.
Sobald er sich gesättigt hatt',
Gieng er zum Bach und trank dazu.
„Jetzt (dacht' er) hab' ich gute Ruh,
Da ich den Bären diese Nacht
Zum Bauern in den Hof gebracht.
Er hat sich oft an mir gerieben;
Das hab' ich ihm jetzt eingetrieben,
Denn sicherlich hat Rustifcil
Ihn derb empfangen mit dem Beil.
Ich nannt' ihn Ohm, doch nur zum
Spott;
Jetzt liegt er bei dem Trumme todt
Und wird in allen meinen Tagen
Am Hofe mich nicht mehr verklagen."
Indem der falsche Bösewicht
Dies sprach, kam er von Ungeschicht
Hin an den Ort, wo Braun, der Bär,
Verwundet lag. Es wurmt' ihn sehr,
Zu sehn, daß er am Leben war.
„Ach! (sprach er) Rustifeil, du Narr,
99
Du dummer, grober, plumper Wicht!
Mocht'st du den leckern Braten nicht,
So wohl genährt, so rund und fett,
Den mancher Junker gerne hätt',
Und der dir selbst lief in die Hand?
Doch ließ er (denk' ich) dir ein Pfand."
Dies sagt' er, als er sah, wie schwach
Und blutig Braun am Ufer lag.
Das freute den Berräther sehr.
„Ohm Braun (rief er), wo kommt ihr
her?
Habt ihr beim Wirth auch was vergessen?
Gern lauf' ich hin und lass' ihn wissen,
Wo ihr jetzt seid, wenn's euch gefällt.
Habt ihr ihn um den Schmaus geprellt
Und mit der Haut dafür bezahlt?
Wer euch den Bart so roth gemalt,
Der hat euch häßlich überkleckt.
Hat euch der Honig gut geschmeckt?
Ich weiß für solchen Preis noch mehr.
Sagt mir doch, lieber Ohm und Herr,
Wo habt ihr eu'r Gelübd' gethan,
Daß ihr so wie ein Ordensmann
Ein roth Barett tragt? Seid ihr Abt?
Hat man euch nach dem Ohr geschnappt,
Wie man die Platte euch geschoren?
Es scheint, ihr habt den Schopf ver-
loren
Und etwas Fell von euren Wangen,
Habt auch die Handschuh lassen hangen."
Wie Braun in seiner großen Noth
Noch hören mußte solchen Spott,
Und wußt' kein Mittel, sich zu rächen,
Konnt' er vor lauter Gram nicht sprechen.
Um nur des Spötters los zu sein,
Kroch er ins Wasser wieder hinein,
Trieb mit dem Strom noch weiter nieder
Und schwamm ans andre Ufer wieder.
Dort lag er krank und sehr unfroh
Und dachte bei sich selbst also:
„Ich kann vor Wund' und Brest (Ge-
brechen) nicht gehn,
Und muß die Reise doch bestehn,
Zum Könige nach Hofe hin,
So arg ich auch geschändet bin
Durch Reiuekeu, den tück'schen Dieb.
Dem Erzschclni wär's gewiß recht lieb,
Nach dem Verrath, den er getrieben,
Wenn ich wär' auf dem Platz geblieben."
Drauf hinkt' er fort mit Müh' und
Plage
Und kam gen Hof am vierten Tage.
Da Nobel sah, wie wund und lahm
Braun wieder von der Reise kam,
Rief er: „Ist das nicht Braun, der
Bär!
Hilf Gott, wie elend kommt er her!"
„Ach Herr! davon ist viel zu sagen
(Sprach Braun); laßt euch das Un-
glück klagen,
Worein durch tückischen Verrath
Mich Reineke gestürzet hat."
„Das räch' ich ohne Gnad' an ihm
(Rief König Nobel voll von Grimm).
Darf Reinhard einen solchen Herrn
Wie Braun verletzen? Das sei fern!
Ich schwör' es euch bei meiner Krone,
Daß ich die Frevelthat ihm lohne,
Wie Braun es selbst zu Recht begehrt.
Ich will nicht führen Scepter und
Schwert,
Wo ich ihm das nicht werde halten."
Soltau.
76. Häslein.
Unterm Tannenbaum im Gras
Gravitätisch sitzt der Has',
Wichst den Bart und spitzt das Ohr,
Duckt sich nieder, guckt hervor,
Zupft
Und leckt sich,
Rupft
Und reckt sich.
Endlich macht er einen Sprung:
„Hei, was bin ich für ein Jung'!
Schneller noch als Hirsch und Reh
Spring' ich auf und ab die Höh';
100
Aber 's Häslein hat sich jetzt
Wie ein Männlein hingesetzt,
Schaut nicht auf und schaut nicht um. —-
„Bst, wer kommt so still und stumm
Dort durch Busch und Dorn und Korn
Mit dem Stutz' und Pulverhorn?
Hu! der Jäger ist es schon;
Häslein, Häslein, spring' davon!"
's ist zu spät; cs blitzt und pufft,
Und der Rauch steigt in die Luft,
Und das Häslein liegt, o weh!
Todtgcschossen in deni Klee.
Friedr. Güll.
77. Der Wolf und das Geigerlein.
Vor nicht so gar langer Zeit gab es auch noch in unseren
deutschen Wäldern viele Wölfe, und mancher Bauer weiss noch
die Geschichte von jenem Geiger in der Wolfsgrube so gut, als
wäre sie gestern geschehen, obgleich sie ihm schon sein Grossvater
erzählt hat. Es gierig einmal ein Geigersmann von einer Kirchweih
nach Hause, auf welcher er den Leuten bis tief in die Nacht auf-
gegeigt hatte. Das Männlein gierig ohnehin nicht gern auf dem ge-
raden Wege und kam daher auch in dem dicken Forste, durch den
es musste, bald so weit zur Seite ab, dass es am Ende in eine
Grube fiel, welche der Jäger zum Wolfsfange gegraben hatte. Der
Schreck war schon gross genug für den Geiger, da er so ohne
weiteres von der ebenen Erde hinunter in die Tiefe fuhr, wurde
aber noch grösser, da er unten auf etwas Lebendiges auffiel, das
wild aufsprang; da merkte er, dass es ein Wolf sei, der ihn dann
mit glühenden Augen ansah. Der Mann hatte nichts in der Hand
als seine Geige, und in der Angst fängt er an, vor dem geöffneten
Wolfsrachen alle seine Stücklein aufzuspielen, die ihm aber dies-
mal selber gar nicht lustig vorkamen. Dem Wolf musste aber
diese Musik ganz besonders schön und rührend vorkommen; denn
das dumme Vieh frerrg an überlaut zu heulen, was wohl gesungen
heissen sollte, wie bei unseren musikalischen Hunden, wenn sie
Sang und Klang hören. Die anderen Wölfe draussen im Walde,
da sie ihren Kameraden drinnen in der Grube so singen hörten,
stimmten auch mit ein, und ihr Geheul kam manchmal so nahe,
dass das Geigerlein, an welchem kaum ein einziger Wolf satt ge-
worden wäre, geschweige zwei, jeden Augenblick fürchten musste,
es käme noch ein anderer, auch wohl ein dritter und vierter Gast
zu seinem bisschen Fleisch in die Grube herein. Unser Kapell-
meister in der Wüste guckte indes einmal übers andere in die
Höhe, ob’s noch nicht Tag werden wollte; denn das Geigen war
ihm sein Lebtag noch nicht so lang geworden und so ganz sauer
und niederträchtig vorgekommen, als da vor dem Wolfe, und er
Wer ist's, der mich fangen kann?
Tausend Hund' und hundert Mann
Gleich will ich's mit ihnen wagen,
Soll mich keiner doch erjagen.
Und der Graf auf seinem Schloß
Hat im ganzen Stall kein Roß
Und auch keinen Reitersknecht,
Der mir nachgaloppen möcht'." —
„Häslein, nimm dich doch in acht,
Hund und Jäger schleichen sacht!
Eh' du's denkst, da zuckt es roth,
Und die Kugel schießt dich todt."
101
hätte lieber Holz dafür hacken wollen zwanzig Jahre lang, alle
Wochentage. Eh aber der Morgen kam, waren schon zwei Saiten
an seiner Geige gerissen, und da es Tag wurde, riss die dritte, und
der Geiger spielte nun bloss noch auf der vierten und letzten, und
wäre die auch noch gerissen, so hätte ihm der Wolf, der durch
das viele Heulen die ganze Nacht hindurch nur noch hungriger
geworden war, keine Zeit mehr gelassen zum Wiederaufziehen,
sondern hätte ihn dabei aufgefressen. Da kam zum Glück der alte
Jobst, der Jäger, der den Wolf schon von weitem singen, den
Geiger aber in der Nähe geigen hörte. Dieser zog den Kapell-
meister gerade noch zur rechten Zeit von dem hungrigen Wolfe
heraus und erlegte dann diesen. Der Kapellmeister gieng aber
ganz still seines Weges und nahm sich vor, künftig lieber am Tage
und auf geradem Wege nach Hause zu gehen. Das Geigen im
Wirtshaus war ihm auch so ganz verleidet, dass er zu seinen
Kameraden sagte, er wolle sich lieber mit der Nähnadel, denn er
war ein Schneider, sein tägliches Brot ergeigen, und wenn er ein-
mal eins auf Saiten aufspielen wollte, so thäte er’s lieber in der
Kirche als im Wirtshaus; denn von dort sei ein gerader und
sicherer Weg nach Hause, sei auch nicht so weit dahin als vom
Mi lltshaUS. Schubert.
78. Räthsel um Räthsel.
Ei, Knabe, ich will dir
Was zu rathen aufgeben.
Und wenn du es rathest,
So kriegst du es eben.
Und was für Knechte
Haben keinen Lohn?
„Der Kartcnkönig
Ist ohne Thron;
Was für eine Straße
Ist ohne Staub?
Welcher grüne Baum
Ist ohne Laub?
Und die Stiefelknechte
Haben keinen Lohn?"
Welches schöne Haus
Hat weder Holz noch Stein?
„Die Straße auf der Donau
Ist ohne Staub;
Der grüne Tannenbauin
Ist ohne Laub."
Welcher große Strauß
Hat keine Blümelein?
Was für ein König
Ist ohne Land?
Was für ein Wasser
Ist ohne Sand?
„Das kleine Schneckenhaus
Hat weder Holz noch Stein;
Der große Vogel Strauß
Hat keine Blümelein."
„Der Zaunkönig
Ist ohne Land;
Das Wasser in dem Auge
Ist ohne Sand."
Was für ein Herz
Thut keinen Schlag?
Und was für ein Tag
Hat keine Nacht?
Was für ein König
Ist ohne Thron?
„Das todte Herz
Thut keinen Schlag;
Und der allcrjüngste Tag
Hat keine Nacht."
Des Knaben Wunderhorn.
102
79. Der Wolf und der Mensch.
Der Fuchs erzählte einmal dem Wolfe von der Stärke des
Menschen, kein Thier könnte ihm widerstehen, und sie müssten List
gebrauchen, um sich vor ihm zu erhalten. Da antwortete der
Wolf: „Wenn ich nur einmal einen zu sehen bekäme, ich wollte
doch auf ihn losgehen.“ „Dazu kann ich dir helfen“, sprach
der Fuchs, „komm nur morgen früh zu mir, so will ich dir
einen zeigen.“ Der Wolf stellte sich frühzeitig ein, und der Fuchs
gieng mit ihm an den Weg, wo der Jäger alle Tage herkam. Zu-
erst kam ein alter abgedankter Soldat. „Ist das ein Mensch?“
fragte der Wolf. „Nein“, antwortete der Fuchs, „das ist einer ge-
wesen.“ Darnach kam ein kleiner Knabe, der zur Schule wollte.
„Ist das ein Mensch?“ „Nein, das will erst einer werden.“ End-
lich kam der Jäger, die Doppelflinte auf dem Rücken und den
Hirschfänger an der Seite. Sprach der Fuchs zum Wolf: „Siehst
du, dort kommt ein Mensch, auf den musst du losgehen, ich aber
will mich fort in meine Höhle machen!“ Der Wolf gieng nun auf
den Menschen los; der Jäger, als er ihn erblickte, sprach: „Es ist
schade, dass ich keine Kugel geladen habe“, legte an und schoss
dem Wolf das Schrot ins Gesicht. Der Wolf verzog das Gesicht
gewaltig, doch liess er sich nicht schrecken und gieng vorwärts, da
gab ihm der Jäger die zweite Ladung. Der Wolf verbiss den
Schmerz und rückte dem Jäger doch zu Leibe, da zog dieser seinen
Hirschfänger und gab ihm links und rechts ein paar Hiebe, dass
er über und über blutend und heulend zu dem Fuchs zurücklief.
„Nun, Bruder Wolf“, sprach der Fuchs, „wie bist du mit dem
Menschen fertig worden?“ — „Ach“, antwortete der Wolf, „so hab’
ich mir die Stärke des Menschen nicht vorgestellt; erst nahm er
einen Stock von der Schulter und blies hinein, da flog mir etwas
ins Gesicht, das hat mich ganz entsetzlich gekitzelt, darnach pustete
er noch einmal in den Stock, da flog mir’s um die Nase wie Blitz
und Hagelwetter, und wie ich ganz nah war, da zog er eine blanke
Rippe aus dem Leib, damit hat er so auf mich losgeschlagen, dass
ich beinahe todt wäre liegen geblieben.“ „Siehst du“, sprach der
Fuchs, „was du für ein Prahlhans bist! du wirfst das Beil so weit,
dass du’s nicht wieder holen kannst.“ Brüder Grimm.
80. Muhammed.
Der Ursprung des Islam, der Religion, welche seit dem An-
fange des siebenten Jahrhunderts nach Christi Geburt sich über
ausgedehnte Theile Asiens und Afrika’s, ja zuletzt selbst Europa’s
verbreitete, ist in vieler Hinsicht dunkel. Aber wir haben nicht
nur das Buch, den Koran, welcher die Grundlage dieser Religion
bildet, sondern besitzen ausserdem noch über das Leben des Stifters,
namentlich über seine letzten zehn Jahre, sehr viele zuverlässige
Nachrichten. Muhammed lebte und wirkte seit seiner Flucht nach
103
Medina an der Spitze und vor den Augen einer zahlreichen An-
hängerschaft, welche auch die kleinsten Züge von ihm aufzubewahren
und den Nachkommen mitzutheilen suchte. Dagegen hatte er vor-
her in Mekka nur einer kleinen Gemeinde vorgestanden und keine
grossen Thaten vollführt; daher sind die Nachrichten über diesen
Zeitraum viel dürftiger. Aus der Zeit, wo er noch nicht als Pro-
phet aufgetreten war, haben wir nur sehr wenige sichere Angaben
über ihn. Die Sage füllt hier die Lücken der Überlieferung aus,
und seine Kindheits- und Jugendgeschichte ist nach und nach ganz
märchenhaft ausgeschmückt.
Muhammed war um das Jahr 570 in Mekka, einer Stadt in
Arabien, geboren, wo schon lange ein Heiligthum bestand, von seiner
Gestalt Alkaaba, d. h. der Würfel, genannt, welches von einem
grossen Theile der arabischen Stämme hoch verehrt ward. Die
Pilgerfahrten, welche nach der Kaaba gingen, führten jährlich eine
Menge Menschen hier zusammen, und es entwickelte sich dadurch
ein starker Handelsverkehr. Muhammed’s Familie war zwar mit den
angesehensten Geschlechtern verwandt, nahm aber selbst keinen
hohen Rang ein und war im Ganzen ohne Vermögen. Muhammed
war der Sohn Abdallah’s und der Amina. Sein Vater war kurz
vor oder kurz nach seiner Geburt gestorben. Auch seine Mutter
starb auf der Rückreise von Medina, wohin sie den etwa sechs-
jährigen Knaben mit sich genommen hatte. Der arme Waisenknabe
wurde von seinem Grossvater und,, als auch dieser starb, von seinem
edlen Oheim Abu Talib aufgenommen. Dieser nahm sich des
Sohnes seines Bruders bis zu seinem Tode zärtlich an, aber da er
selbst arm war, konnte er ihn nicht hinlänglich ernähren. Früh-
zeitig musste er sich daher selbst seinen Unterhalt gewinnen, in-
dem er für einen kärglichen- Lohn Schafe hütete. Als Jüngling
finden wir dann Muhammed wieder als untergeordneten Begleiter
einer Handelskarawane, mit der er nach Syrien und mit allerlei
Mönchen, Einsiedlern und jüdischen Rabbinen zusammengekommen
sein soll.
Als er 25 Jahre alt war, änderten sich seine Vermögens-
umstände auf einmal gänzlich durch seine Verheirathung mit der
reichen, schon zweimal verwittweten Chadidscha, in deren Dienst
er vorher gestanden hatte. Das eheliche Verhältnis zwischen dem
jungen Mann und der schon ziemlich bejahrten Frau war ein sehr
glückliches, und mehrere Kinder belebten das Haus, in welches
Muhammed auch Ali, den Sohn seines Oheims Abu Talib, der
seine zahlreiche Familie nur schwer zu ernähren vermochte, aufnahm.
Gegen sein vierzigstes Jahr trug sich, wir wissen nicht, auf
welche Weise, in ihm eine gewaltige Umwälzung zu und machte
ihn zum Propheten und Religionsstifter. Muhammed war bis dahin
Heide gewesen, aber es hatten sich schon damals einige Mekkaner
vom Götzendienste losgesagt. Auch Juden kamen des Handels
wegen mehrfach nach Mekka, und es ist sicher, dass sich Muham-
med mit ihnen angelegentlich über ihre Religion unterhielt. Auch
einige Christen lebten in Mekka, aber sie standen in untergeordneter
Stellung und batten vom Christenthume selbst nur geringe Kenntnis.
Daher kannte Muhammed Vom Christenthum, namentlich im An-
fange seiner prophetischen Laufbahn, nur wenige Einzelheiten,
einige mehr oder weniger verdrehte Legenden und Bruchstücke von
Glaubenssätzen. Er hat daher zwar den Anstoss zu seinem Auf-
treten von aussen, aber mehr von seinen Landsleuten, welche sich
vom Götzendienst abgekehrt hatten, empfangen. Der Satz: „Es ist
nur ein Gott“, entzündete seine Feuerseele; er trug ihn in sich
und hatte keine Ruhe mehr davor. Er zog sich in die Einsamkeit
zurück, Gesichte und Träume erschienen ihm, bis der zweite Ge-
danke ans Licht trat: „Muhammed ist sein Prophet.“ Durch eine
Traumerscheinung wurde ihm auch befohlen, seine Lehre zu ver-
kündigen und durch die Schrift seine Offenbarungen zu verbreiten.
So trat er 610 offen als Prophet auf.
Er glaubte an den einen allmächtigen Gott, der die Frevler
mit zeitlichen und ewigen Strafen belegt, den Guten aber die
himmlischen Freuden schenkt. Er glaubte, Gott habe ihn berufen,
diese Lehre zu verkündigen, wie er früher schon mehrere Propheten
berufen habe, darunter den Abraham, Moses und Jesus. Gebet,
Fasten und Almosen sind ihm Mittel, die Gnade Gottes zu erlangen,
aber er hielt auch die Befolgung der Gebräuche hoch, die sich an
die Kaaba knüpften; denn er sah diese als von Abraham gestiftet,
den damit verbundenen Götzendienst aber als spätere Entstellung
an. Er gab dabei auch allgemeine sittliche Lehren und eiferte
gegen Laster und üble Gebräuche, aber bis an seinen Tod war seine
Lehre noch stark im Flusse.
Die ersten Bekehrten waren seine Familienglieder, nämlich
seine Frau, seine Töchter, sein Pflegesohn Ali und sein Sclave
Zaid; ferner sein Freund Abu Bekr, ein Mann von edlem Gemüth
und grosser praktischer Klugheit, der von Anfang an die rechte
Hand, ja der Leiter seines Freundes war. Die übrigen Mekkaner
hörten ihm zuerst ruhig zu, da sie von ihm manches vernünftige
Wort hörten. Andere erklärten ihn einfach für verrückt, aber sie
liessen ihn doch ruhig gewähren. Von seinem Stamme, den Kurai-
schiten, traten nur einige zu ihm über, aber freudig kamen ihm
die Sclaven und Leute der niedrigsten Klasse entgegen. Die Stim-
mung für ihn und wider ihn schwankte hin und her, Und als die
Lage seiner Anhänger immer schlimmer ward, zogen viele aus, um
in dem christlichen Abyssinien eine Zuflucht zu suchen, sie kehrten
jedoch auf das Gerücht, dass ganz Mekka sich bekehrt habe, zurück.
Aber es war nicht so, der Widerstand wurde heftiger, und schlimme
Schläge trafen den Propheten durch den Tod seiner Gattin Chadidscha
und seines Oheims Abu Talib. Er wollte sich daher eine andere
Heimat suchen, aber er fand keine passende. Auch die Stämme,
denen er bei der Wallfahrt predigte, waren taub. Endlich aber
nahmen Pilger aus Jathrib seine Lehre an, welche sie daheim
weiter ausbreiteten mit glücklichem Erfolge. Muhammed forderte
105
daher alle Gläubigen auf, dorthin zu fliehen. Ungefähr 100 Männer
nebst einer Anzahl von Weibern und Kindern wanderten nach und
nach aus. Zuletzt machte sich auch Muhammed mit Abu Bekr
heimlich davon. Sie giengen, um die Aufmerksamkeit zu täuschen,
erst nach Süden zu und hielten sich hier einige Tage in einer Höhle
auf, wohin ihnen heimlich Nahrung geschafft wurde. Dann erst
zogen sie fort nach der neuen Heimat. Im Sommer des Jahres
622 kamen die beiden schon lange sehnsüchtig Erwarteten in dem
Orte Kuba, nicht weit von Jathrib an. Dies ist die Hidschra
oder Flucht, von der die Muslime ihre Jahre zählen. Jathrib aber
erhielt nun den Namen Medinat annabi, „Stadt des Propheten“, oder
Almedina, „die Stadt“.
Nun hatte Muhammed nicht bloss einen sichern Aufenthalt,
sondern ei* stand jetzt an der Spitze einer kriegerischen Gemeinde.
In der ersten Zeit hatte er viel mit der ersten Einrichtung der
Gemeinde zu thun. Er war nach Medina mit grossen Hoffnungen
auf die Juden gekommen, meinte, dass zwischen seiner und ihrer
Religion kein grosser Unterschied bestände und hoffte daher, dass
sie ihn als Prophet anerkennen würden. Um sie sicher zu gewinnen,
nahm er von ihnen einige religiöse Einrichtungen an, merkte aber
bald, dass er sich in seinen Hoffnungen auf ihre Bekehrung ge-
täuscht hatte. Über fünfzig Jahre war der Prophet alt geworden,
ohne je mehr als eine Frau gehabt zu haben; in seinen letzten
zehn Jahren mehrte sich aber die Zahl seiner Weiber von Jahr
zu Jahr. Er wurde ihnen immer leidenschaftlicher ergeben und
ihr Einfluss machte sich auch in seiner Geschichte bemerklich.
Bis an sein Ende führte Muhammed fortwährend Kriege zur
Züchtigung der ihm widerstrebenden Stämme und zur gewaltsamen
Ausbreitung seiner Religion. Auch Mekka nahm er 629 ein, und
als Muhammed starb, gab es nur wenige Bewohner des eigentlichen
Arabiens, welche seine Herrschaft nicht anerkannten. Noch zuletzt
ordnete er einen grossen Kriegszug gegen das griechische Reich,
wurde aber Ende April 632 krank und starb den 8. Juni desselben
Jahres.
Muhammed’s Offenbarungen sind in dem Koran, „Vorlesung“,
in 114 Suren, „Abschnitten“, gesammelt. Die wesentlichsten Züge
der von ihm verkündigten Glaubenslehren sind ziemlich einfach.
Es ist nur ein Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt. Er be-
stimmt alles, und dem Menschen bleibt nichts übrig, als sich blind
in seinen Willen zu ergeben. Daher der Name „Islam“, d. h. Er-
gebung (in Gottes Willen) und „Muslim“, d. h. der, welcher sich
ergibt. Wenn der Mensch den rechten Glauben hat und recht
handelt, soll er selig werden. Die Strafen für die Sünden und die
Belohnungen der Frommen sind stufenweise verschieden. Gott hat
nach und nach viele Propheten an die Menschen geschickt, um
diese zur Bekehrung aufzufordern. Der Prophet, der vor Muhammed
hergieng, war Jesus, grösser als alle seine Vorgänger. Bis Muham-
med erschien, war es Pflicht, seiner Lehre anzugehören, und die
106
Juden haben sich durch seine Zurückweisung schwer verschuldet.
Aber die Anhänger Jesu haben seine Lehre entstellt, daher er selbst
beim jüngsten Gericht gegen sie zeugen wird. Muhammed ist aber
der letzte Prophet, an den alle Menschen bis zur Auferstehung
glauben müssen. Haupttugenden sind : Ergebung in Gottes Willen,
Verträglichkeit, Wohlthätigkeit. Tägliche Gebete und Waschungen,
Fasten im Monat Ramadan und Wallfahrten sind vorgeschrieben.
Aber zu den Pfliçhten des Muslim gehört auch vor allem der heilige
Krieg gegen die Ungläubigen, und darum ist eine Versöhnung des
Islam mit der vollkommenen Menschlichkeit nicht möglich.
Th. Nöldeke. (Gekürzt.)
81. Der Postillon.
Lieblich war die Blaiennacht,
Silberwölkchen flogen.
Ob der holden Frühlingspracht
Freudig hingezogen.
Hingelehnt an Bergesrand
| War die bleiche Mauer,
j Und das Kreuzbild Gottes stand
Hoch in stummer Trauer.
Schlummernd lagen Wies' und Hain,
Jeder Pfad verlassen;
Niemand als der Mondenschein
Wachte auf den Straßen.
Leise nur das Lüftchen sprach,
Und es zog gelinder
Durch das stille Schlafgemach
All' der Frühlingskinder.
Heimlich nur das Bächlein schlich,
Denn der Blüten Träume
Dufteten gar wonniglich
Durch die stillen Räume.
Schwager ritt auf seiner Bahn
Stiller jetzt und trüber;
Und die Rosse hielt er an,
Sah zum Kreuz hinüber:
„Halten muß hier Roß und Rad,
Mag's euch nicht gefährden;
j Drüben liegt mein Kamerad
In der kühlen Erden!
Ein gar hcrzlieber Gesell!
Herr, 's ist ewig schade!
Keiner blies das Horn so hell
Wie mein Kamerade.
Rauher war mein Postillon,
Ließ die Geißel knallen,
Über Berg und Thal davon
Frisch sein Horn erschallen.
Und von flinken Rossen vier
Scholl der Hufe Schlagen,
Die durchs blühende Revier
Trabten mit Behagen.
Wald und Flur im schnellen Zug
Kaum gegrüßt — gemieden;
Und vorbei, wie Traumesflug,
Schwand der Dörfer Frieden.
Hier ich immer halten muß,
j Dem dort unter'm Rasen
| Zum getreuen Brudergruß
! Sein Lciblied zu blasen!"
Und dem Kirchhof sandt' er zu
Frohe Wandersänge,
Daß es in die Grabesruh'
Seines Bruders dränge.
Und des Hornes heller Ton
Klang vom Berge wieder.
' Ob der todte Postillon
Stimmt' in seine Lieder? —
Mitten in dem Maienglück
Lag ein Kirchhof innen,
Der den raschen Wanderblick
Hielt zu ernstem Sinnen.
Weiter gieng's durch Feld und Hag
Mit verhängtem Zügel;
Lang' mir noch im Ohre lag
j Jener Klang vom Hügel.
Nie. Lenau.
107
82. Die Stimme des Gewissens.
Ein reicher Mann, Namens Pohl, der mehrere Häuser besaß, befahl
seinen Dienern, aus einem derselben eine arme Witwe sammt ihren Kindern
zu vertreiben, weil sie die jährliche Miete nicht zu zahlen vermochte. Als
die Diener nun kamen, sprach die Witwe: Ach verziehet ein wenig! viel-
leicht daß euer Herr sich unser erbarme, ich will zu ihm gehen und ihn
bitten.
Darauf gieng die Frau mit den vier Kindern zu dem reichen Manne,
das eine aber blieb zu Hause, denn es war sehr krank. Alle flehten in-
brünstig, sie nicht zu verstoßen, und selbst das kleinste rief: „Bitte, bitte!"
— Pohl aber sprach: „Meine Befehle kann ich nicht ändern; es sei denn,
daß ihr eure Schuld sogleich bezahlet." Da weinte die Mutter bitterlich
und sagte: „Ach, die Pflege des kranken Kindes hat all' meinen Verdienst
verzehret und meine Arbeit gehindert." Und die Kinder flehten mit der
Mutter, sie nicht zu verstoßen. Aber Pohl wendete sich weg von ihnen,
gieng in sein Gartenhaus und legte sich auf das Polster, zu ruhen, wie er
pflegte. Es war aber ein schwüler Tag, und dicht am Gartensaale floß
ein Strom, der verbreitete Kühlung, und es war eine Stille, daß kein
Lüftchen sich regte. Da hörte Pohl das Gelispel des Schilfes am Ufer,
aber es tönte ihni gleich dem Gewinsel der Kinder der armen Witwe;
und er ward unruhig auf seinem Polster. Darnach horchte er auf das
Rauschen des Stromes, und es dänchte ihm, als ruhte er an dem Gestade
eines öden, großen Meeres, und er wälzte sich auf seinem Pfühle. Als
er nun wieder horchte, erscholl aus der Ferne der Donner eines aufsteigenden
Gewitters; da war ihm, als vernähme er die Stimme des göttlichen
Gerichtes.
Nun stand er plötzlich auf, eilte nach Hause und gebot seinen Knechten,
die arme Witwe wieder ins Haus zurückzuführen. Aber sie war sammt
ihren Kindern in den Wald gegangen und nirgend zu finden. Unterdeß
zog das Gewitter herauf, und es donnerte und fiel ein gewaltiger Regen.
Pohl aber war voll Unmuth und hatte keine Ruhe, wo er auch gieng, und
wo er auch saß. Am andern Tage vernahm er, das kranke Kind sei im
Walde gestorben, und die Mutter mit den andern hinweggezogen. Da ward
ihm sein Garten sammt dem Saale und Polster zuwider, und er genoß
nicht mehr die Kühlung des rauschenden Stromes. Bald darnach fiel er
in eine Krankheit, und in der Hitze des Fiebers vernahm er immer des
Schilfes Gelispel und den rauschenden Strom und das dumpfe Tosen des
aufsteigenden Wetters. Also verschied er. Krummachcr
83. Tod und Leben.
Es gieng ein Mann im Syrerland, Er lief und einen Brunnen sah
Führt' ein Kameel am Halfterband. Von ungefähr am Wege da.
Das Thier mit grimmigen Gebärden Das Thier hört' er im Rücken schnauben,
Urplötzlich anfieng, scheu zu werden, Das mußt' ihm die Besinnung rauben.
Und that so ganz entsetzlich schnaufen, j Er in den Schacht des Brunnens kroch,
Der Führer vor ihm mußt' entlaufen. Er stürzte nicht, er schwebte noch.
108
FF7
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
Aus des geborstnen Brunnens Bauche
Daran der Mann sich fest that klammern,
Und seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh' und sah
Dort das Kameelhaupt furchtbar nah,
Das ihn wollt' oben faßen wieder;
Dann blickt' er in den Brunnen nieder;
Da sah am Grund er einen Drachen
Aufgähnen mit entsperrtem Rachen,
Der drunten ihn verschlingen wollte,
Wenn er hinunter fallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte,
Da sah der Arme noch das Dritte:
Wo in die Mauerspalte gieng
Des Sträuchleins Wurzel, dran er
hicng,
Da sah er still ein Mäusepaar,
Schwarz eine, weiß die andre war;
Er sah die schwarze mit der weißen
Abwechselnde an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten.
Die Erd' ab von der Wurzel spülten,
Und wie sie rieselnd niederrann,
Der Drach im Grund' aufblickte dann,
Zu seh'n, wie bald mit seiner Bürde
Der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann in 'Angst und Furcht und
Noth,
Umstellt, umlagert und umdroht,
Im Stand des jammerhaften Schwedens,
Sah sich nach Rettung um vergebens.
Und da er also um sich blickte,
Sah er ein Zweiglein, welches nickte
Vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
Da konnt' er doch der Lust nicht
wehren: —
Er sah nicht des Kameeles Wuth,
Und nicht den Drachen in der Flut,
Und nicht der Mäuse Tückcspiel,
Als ihm die Beer' ins Auge fiel.
Er ließ das Thier von oben rauschen,
Und unter sich den Drachen lauschen,
Und neben sich die Mäuse nagen,
Griff nach den Beerlein mit Behagen.
Sie däuchten ihn zu essen gut,
Aß Beer auf Beerlein wohlgemuth,
Und durch die Süßigkeit im Essen
War alle seine Furcht vergessen. —
Du fragst: Wer ist der thörichtMann,
Der so die Furcht vergessen kann?
So wiß, o Freund: der Mann bist du;
Vernimm die Deutung auch dazu:
Es ist der Drach im Brunnengrund
Des Todes aufgesperrter Schlund;
Und das Kameel, das oben droht,
Es ist des Lebens Angst und Noth.
Du bist's, der zwischen Tod und Leben
Am grünen Strauch der Welt mußt
schweben.
Die Beiden, so die Wurzel nagen,
Dich sammt den Zweigen, die dich tragen.
Zu liefern in des Todes Macht,
Die Mäuse heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
Vom Abend heimlich bis zum Morgen,
Es nagt vom Morgen bis zum Abend
Die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus und Wust
Lockt dich die Beere Sinnenlust,
Daß du das Lastthier Lcbcnsnoth,
Daß du im Grund den Drachen Tod,
Daß du die Mäuse Tag und Nacht
Vergißest und auf nichts hast Acht,
Als daß du recht viel Beerlcin haschest,
Aus Grabes Brunnenritzen naschest.
Friedr. Rückert.
84. Winfrieds Ende im Jahre 755.
Im Hofe des Erzbischofs (zu Mainz) drängte sich an einem sonnigen
Maimorgen das Volk der Stadt und der Landschaft. Zunächst an den
Stufen des Palastes standen die geistlichen Brüder, auf der einen Seite
Priester und Diakonen, auf der anderen Mönche der Klöster, neben ihnen
bie_ hageren bärtigen Gestalten der Einsiedler, welche ihre Baumzellen ver-
lassen hatten, um den Segen des Erzbischofs zu empfangen. Haupt an
109
Haupt standen die Leute, aber es war eine feierliche Stille, bekümmert
waren alle Mienen, Thränen in vielen Augen wie bei dem letzten Heim-
gange eines Fürsten. Bon den Stufen des Palastes hoben die Schisisleutc
das Reisegeräth, vier Leviten trugen die Truhe des Herrn mit seinen
Büchern und dem Rcliquienschatz zu dem Rheinschiff, dessen Wimpel unter
dem Kreuzeszeichen lustig im Morgenwind flatterte; und bei jedem Stück,
das die Männer zum Rheine schafften, gieng ein banges Gesumm und
Seufzen durch die Menge. In dem Saal des Palastes stand Winfried
im Kreise derer, welche er lieb hatte, der Bischöfe, seiner Schüler und
seiner Landsleute aus Angelland', die wie er über das Meer gekommen
waren, um die Heiden zu lehren. Auch Frauen hatten sich versammelt,
mehre ihm blutsverwandt, die meisten geschleiert. Inmitten der gebeugten
Schar ragte hochaufgerichtct Winfried. Freundlich strahlte sein Auge, als
er von einem zum andern schritt, leise Worte der Lehre und des Trostes
spendend. Als er bei dem Haufen der Frauen auch Walburg *) begrüßte,
zog sie mit der Hand ihren Knaben hervor, warf sich zu seinen Füßen und
flehte: „Meinen Sohn, den jungen Gottfried, bringe ich dem Herrn; lege
noch deine Hand auf ihn, Vater, damit sein Leben gesegnet sei." Winfried
lächelte, als er den stattlichen Knaben betrachtete, und seine Hand berührte
das lichte Haar. Dann nahm er den Knaben, führte ihn zu einem Ver-
trauten, dem Abt Sturmi von Fulda, und wandte sich nach der Thür.
Alle Anwesenden sanken auf die Knie, und segnend schritt er zuin Ausgang.
Da fiel sein Blick auf die hohe Gestalt Ingram's, der in seinem Kriegs-
kleide nahe der Schwelle kniete. Er hielt an und sprach feierlich: „Dich,
Ingram, lade ich heut zu mir, willst du noch einmal der Führer meiner
Reise sein?"
„Ich will, Herr", antwortete Ingram aufstehend mit leuchtendem Blick.
„So nimm Abschied von Weib und Kind, denn du sollst für den Herrn
unter Schild gehen."
Unten im Hofe wogte das Volk wie Wellen des Meeres. Da der
Erzbischof heraustrat, fiel alles auf die Knie und die Arme aufhebend gieng
er langsam hindurch zum Schiffe. Dort wandte er sich noch einmal, grüßte
und segnete und lachte freundlich den Kindern zu, welche von den weinenden
Müttern aufgehoben wurden, damit sie den Mann Gottes schauten. Ingram
aber hielt seine Frau, welche stolz ohne Thränen neben ihm schritt, die
Augen fest auf ihn gerichtet, und mit der anderen Hand hielt er die Hände
seiner drei Söhne. Und als er sich am Ufer von den Seinen löste, faßte
er die Schwnrhand seines ältesten Sohnes, legte die Hand des Wolfram
hinein und sprach zu diesem: „Sei du ihm treu, wie du dem Vater
warst."
Die Schiffer lösten die Seile und rheinabwärts schwebte das Schiff,
am Ufer lag das Volk auf den Knien und sah dem Fahrzeug nach, bis es
hinter einer Biegung des Stromes verschwand.
Es war eine sonnige Fahrt, gleich einer langen Festreise. Wo eine
Kapelle stand auf den Höhen oder ein Kirchlein unten am Strom, da
i) Walburg war die Gattin des Thüringers Ingram, den Winfried dreißig Jahre
vorher für das Christenthum gewonnen hatte.
110
drängten sich die Leute und läuteten die Glocken, wenn das Schiff kam
und abfuhr. Jeden Abend legten die Reisenden an, wo fromme Christen
wohnten. Herr Winfried stieg an das Land, begrüßte die Gemeinden und
ruhte unter dem Dach derer, die ihm vertraut waren, während Ingram
am Maste unter dem Kreuzbanner lag und die Schiffswache hielt. So
fuhren die Reisenden den Rhein abwärts bis dahin, wo er zum See wird,
sie legten vor Utrecht an und nahmen den Bischof von Friesland, welchen
Winfried eingesetzt hatte, zu sich in das Schiff. Dann fuhren sie ostwärts
bis zur Grenze der heidnischen Friesen. Dorthin hatte Herr Winfried im
voraus das neubekehrte Volk geladen, damit er den Getauften die Hand
auflege und sie im Glauben befestige; seine Boten waren durch das ganze
Friesenland gegangen und hatten seine Ankunft verkündet. An der Mün-
dung des kleinen Flusses Borne, welcher die christlichen und heidnischen
Friesen trennt, landeten die Fahrenden kurz vor dem bestimmten Tage in
einer Bucht, wo die Flut einen Wall von zugetriebenen Baumstämmen
aufgehäuft hatte. Der Erzbischof stieg an das Land, wählte die Lagerstelle
und umschritt weihend den Raum; Ingram ließ die Zelte aufschlagen, den
Graben schütten und das angeschwemmte Holz zum Walle schichten.
Als er bei dem Wall stand, die Richtung maß und selbst die Pfähle
schlug, gieng Herr Winfried bei ihm vorüber und sprach: „Du mühst dich
emsig, uns mit Holz und Erde zu umschanzen, hast du auch darum gesorgt,
einen über uns nach seinem Willen zu fragen? Denn er zieht die Schitd-
bnrgen und zerwirft sie, ganz nach seinem Gefallen."
„Zürne nicht, Herr, daß ich den Hammer bis über das Abendgebet
schwinge, denn Warnung kam mir von den Leuten am Ufer, vieles Raunen
und wildes Gemurr verstört die Dörfer der Heiden, und klein ist die Zahl
der Schilde, welche dein Haupt schützt."
111
Winfried aber hörte gar nicht darauf, sondern fuhr fort, nach dem
Himmel blickend: „Dichter standen die Bäume im- Land der Thüringer.
Dort warst du der erste, welcher mir auf der Reise die Nachtpfähle hieb.
Damals, fiel der Eschensame herab auf den Boden, und der Same heil-
bringender Lehre sank in dein Herz- Sieh, ein neuer Baum ist im Schutze
Gottes erwachsen, nicht die unholden Schicksalsfrauen schweben darum, sondern
hohe Engel, die geflügelten Boten Gottes; vielleicht, daß sie auch dir jetzt
oder bald einmal eine gnadcnvollc Auffahrt bereiten."
Er segnete ihn und schritt in sein Zelt zurück, das inmitten der andern
sich stattlich erhob. Ingram legte den Hammer weg, er rüstete sichund
setzte sich mit Schild und Speer an das Lagcrthor zur Nachtwache. Über
die weite Ebene spähetc sein Blick, gleich dem Herrn Winfried sah er nach
der Nachtröthe, welche vom Norden her so hell schien, wie er sie noch
niemals geschaut. Er dachte an sein Weib und die blühenden Kinder, die
jetzt daheim in Frieden schliefen, und die er so herzlich lieb gehabt, er über-
legte das ganze glückliche Leben, das er mit seiner Hausfrau geführt, seine
ruhmvollen Kriegsfahrten und das Lob seiner Streitgesellen, auch Wolfram
und seine Rabenrosse kamen ihm in den Sinn, und er lachte und segnete
in Gedanken alle Häupter der Seinen und betete für jedes; leicht war ihm
das Herz und er sah immer wieder nach dem Himmelsrand, wo die Nöthe
langsam nach Osten zog, bis die Helle im Osten aufstieg und die kleinen
Wolken rosig leuchteten wie ein Thor der aufgehenden Sonne. Da erkannte
er, wie das Thor geöffnet wurde, durch das er selbst hinaufsteigen sollte
zu der Burg des Himmelsherrn als einer seinerKrieger, und er kniete
nieder und sprach das Gebet, welches -ihn Walburg gelehrt.
Wie er aufblickte, erkannte er fern im Dunst eine dunkle Masse, sie
schob sich heran, Speereisen und weiße Schilde. Er schloß den Eingang,
rief seinen Kriegsschrei und eilte zu dem Zelte des Bischofs und zu den
Hütten der Krieger. Aus dem Zelte tönte das Glöckchen, Winfried trat
hervor, das Wort des Herrn in der Hand, umdrängt von den Geistlichen.
Draußen am Graben erhob sich mißtönendes Geheul, die Heiden liefen
gegen das Pfahlwerk und rissen an den Hölzern. Ingram sprang den
Speer schwingend auf_fie und trieb seine Schildgenossen zum Kampfe. Über-
mächtig erscholl die Stimme Winfrieds: „Höret das Gebot des Herrn,
vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern Böses mit Gutem. Thut ab
Krieg und Kampf, denn der Tag ist gekommen, den wir lange ersehnten,
heut lohnt der große Gott des Himmels seinen Getreuen. Bereitet ist uns
der Hochsitz in himmlischer Halle, die Scharen der Heiligen geleiten uns
vor den Thron des Himmelsherrn."
Da warf Ingram sein Schwert den einbrechenden Heiden entgegen;
er trat mit ausgebreiteten Armen vor den Herrn Winfried und cmpfieng
die Todeswunde. Nach ihm der Erzbischof und darauf die übrigen, Geistliche
und Laien. Nur wenige aus dem Gefolge retteten sich über das Wasser
und berichteten von dem Ende der frommen Helden.
Die Gebeine Winfrieds führten fromme Väter den Rhein hinauf, dem
Thüringer Ingram aber schütteten christliche Friesen am Strande den Todten-
hügel und umschritten die Stelle mit Gebet.
Gustav Freytag.
85. Gebet um Frieden.
Du hoher Gott im Himmel,
Mach's gnädiglich mit mir!
Es ruft aus dem Getümmel
Dein armes Kind zu dir.
Das treiben wilde Wellen
Und treiben mit ihm Spiel.
Herr, laß mich nicht zerschellen,
Herr, weise mich zum Ziel!
Nur einen treuen Rather
Weiß ich in solchem Streit:
Das bist du, cw'ger Vater,
So nahe und so weit.
Ich will dich liebend fassen,
Du bist es, der mich hält;
Wirst mich ja nicht verlassen
In dieser wüsten Welt.
K. 3mmermann.
86. Die Ausbreitung des Christenthums durch die Mission.
Das Wort Mission bedeutet Sendung. Man bezeichnet damit
namentlich die Ausbreitung des Christenthums unter nicht christlichen Völkern
durch Aussendung von christlichen Predigern und Lehrern, die man eben
deswegen Missionare, d. i. Sendboten, nennt. Die Mission ist so alt
wie das Christenthum. Jesus selbst wählte sich in seinen zwölf Jüngern
zwölf Apostel, d. h. Missionare oder Sendboten; und ehe er gen Himmel
fuhr, hinterließ er den treu gebliebenen Elfen den Befehl: „Gehet hin in
alle Welt, und prediget das Evangelium aller Creatur!" Das haben sic
denn auch gethan und getreu ihrem Missionsberufe das Wort des Lebens
unter Juden und Heiden verkündigt.
Das erste Jahrhundert that die verhältnißmäßig größten Schritte in
der Ausbreitung des Christenthums. Anhebend zu Jerusalem, schritt die
Kirche Christi nach Kleinasien, Ägypten, Syrien und Babylonien fort.
Sie baute sich in Europa auf, wo sie Macédonien, Griechenland und Italien
mit der Predigt des Evangeliums erfüllte. Das war die jugendliche Blüte-
zeit, das apostolische Zeitalter der Kirche und Mission.
Im zweiten Jahrhundert wurde das jetzige Frankreich von der selig-
machenden Predigt durchschritten; auch wurde diese damals, ja vielleicht
schon früher, nach Britannien (dem heutigen England) verpflanzt. Das
nördliche Afrika mit seiner berühmten Hauptstadt Karthago beugte sich unter
die sanfte Macht des Evangeliums. Im Osten drang das Wort Christi
stärker nach den Ländern des Euphrat, und selbst in Indien oder doch in
den angrenzenden Ländern soll es erklungen sein.
Das dritte Jahrhundert ist durch keinen Siegcsschritt der Kirche in
neue Länder ausgezeichnet. Wohl aber war cs eine Zeit stiller Ausbreitung
innerhalb der bereits umzogenen Grenzen, in welchen immer noch die Heiden
die Überzahl bildeten.
Im vierten Jahrhundert gewann das Christenthum den Sieg über
das Heidenthum in Armenien, drang in Persien weiter vor, siedelte sich
gegen Mittag in Arabien an, besiegte gegen Abend das kräftige Volk der
Westgothen und wurde herrschend in England. Im fünften und sechsten
wurden germanische Völker dem Namen nach bekehrt: die Franken, die
Alemannen, die Angelsachsen. Zugleich wurde Irland durch Patrik ge-
wonnen, und die aus Asien vorgedrungenen Barbaren am schwarzen Meere
nahmen äußerlich das Christenthum an.
»
113
Mit dem siebenten Jahrhundert sehen wir die Blüten des nordischen
Frühlings sich öffnen. Jetzt strömen aus England, Schottland und
Irland Mönche und Geistliche, als Sendboten des Evangeliums aus. Das
Festland Europas ist ihr Ziel, damals ein eben so gefährlicher Boden,
wie es vor vierzig Jahren Neuseeland war. Es folgen drei Jahrhunderte
der Missionsarbeit unter den deutschen Stämmen. Da wirken ein Gallus,
Magnus, Fridolin, ein Willibrord, Bonifacius und andere Boten des Friedens
im echten Missionsgeiste. Deutschland und die Schweiz, Holland und
Belgien treten in den Beleuchtungskreis. Auch in der morgenländischen
Kirche erwacht zu gleicher Zeit ein heiliges Feuer der Liebe Christi. Von
den syrischen Christen gehen Sendboten ins Herz von Asien zu den Tatarcn-
horden, bis nach China und Indien.
Neun Jahrhunderte der Kirche sind durchlebt, und die dunkelste Zeit
derselben bricht an. Das Papstthum gelangte ans die Höhe seiner Macht,
aber zugleich schwand die Demuth und die Liebe immer mehr und mehr in
der Kirche. Selbst in dieser Zeit aber wirkte das Christenthum noch zur
Bekehrung der slavischen Völker in Polen, Ungarn, Rußland, in Pommern,
Preußen, Lievland und Litthanen, sowie der nordischen Stämme in Nor-
wegen, Finnland, ja, bis hinüber nach dem fernen Grönland.
Das Verderben der Kirche erreichte im fünfzehnten Jahrhundert
seinen Gipfel. Da erbarmte sich Gott über die Welt, und in der segens-
reichen Reformation des sechzehnten Jahrhunderts trat das lebendig-
machendc Evangelium in seiner Gotteskraft wieder ans Licht. Deutschland
zuerst, dann die Schweiz und England nebst Holland, Dänemark und Schweden
wurden davon beleuchtet. Alan las wieder die Bibel, mau wußte wieder,
was Christus gesagt hatte und was im alten und neuen Testamente von
den Heiden und ihrer Bekehrung steht. Die evangelische Kirche gab in
der Mitte des 16. Jahrhunderts ihr erstes Lebenszeichen für die Heiden-
welt, indem im Jahre 1556 vierzehn Sendboten von Genf aus nach Süd-
amerika sich wendeten, von Schweden aber drei Jahre später ein Missionar
nach Lappland zog. Es war das Jahrhundert der neuen Grundlegung der
Kirche. Ihm folgte das Jahrhundert der Vorbereitung der Mission, das
siebenzehnte. Jenseits des Weltmeers predigten Kolonisten, die um ihres
Glaubens willen aus England vertrieben worden waren, das Evangelium.
In Ceylon und ans den moluckischen Inseln bekehrten die Holländer die
Völker, und ein großer Haufe von Hcidenchristen ward gesammelt. In
England entstand im Jahre 1647 eine Gesellschaft für Heidenbe-
kehrung, die erste dieser Art. Auch Bibelübersetzungen in die Sprache
der Araber, Malayen und Indianer wurden begonnen.
Das achtzehnte Jahrhundert war die Zeit der Verbindung für die
Mission, bis in unsere Tage herein erstreckt sich sein Wirken. Die Eng-
länder schritten im Jahre 1701 voran mit der Gründung der Gesellschaft
für Verbreitung des Evangeliums im Auslande; der edle August Hermann
Francke zu Halle folgte im Jahre 1705, und die apostolischen Männer
Ziegcnbalg und Gründler begannen ihr Werk in Indien. Der unermüd-
liche Hans Egede gieng von Dänemark nach Grönland und arbeitete der
Brüdergemeinde vor. — Diese Gemeinde wurde hierauf die gesegnetste
Trägerin des Missionslebens in der Kirche. Im Jahre 1732 eilten ihre
8
!
114
ersten Boten nach Westindicn, und zehn Jahre später hatte sie schon in
Grönland und Nordamerika, in Südafrika, in der Tatarei, in Ceylon und
Lappland das Wort Gottes verkündigt. D.a entstand im Jahre 1786 die
Missionsgcsellschaft der Methodisten, 1792 die der Baptisten, 1795 die Lon-
doner, 1796 die niederländische und die schottische, 1801 die kirchliche Mis-
sionsgesellschaft in England und das Missionsseminar, die Bildungsschule
für Missionare zu Berlin.
L>o rücken wir denn in unser eigenes Jahrhundert, das neunzehnte,
herüber, das wir die Zeit der Missionsunternehmung und des Missions-
sieges nennen können. In rascher Aufeinanderfolge bildeten sich neue Missions-
gesellschaften und Missionsschulen: in Basel (im Jahre 1816), in Berlin
(1824), Barmen (1828), Hamburg und Dresden (1836); dann auch in
außcrdeutschen Ländern, wie Frankreich, Schweden, Norwegen. Die am
Cingange dieses Jahrhunderts errichtete britische und ausländische Bibel-
gesellschaft hat den Missionsgesellschaften von Anfang an treu und eifrig
in die Hand gearbeitet. — Die Gemeinde Hermannsburg in Hannover
unter dem Pastor Th. Harms wendet ihre angestrengte Missionsthätigkeit
auf das südliche Afrika.
Dieser Überblick zeigt zur Genüge, wie die christliche Kirche wirklich
sich zu allen Zeiten als eine Missionsanstalt angesehen und aus kleinem,
senfkornartigem Anfange ihre Zweige immer weiter ausgebreitet hat.
Wer könnte alle die guten Früchte des Christenthums zählen! Die
Chre, welche von Christen Gott in der Höhe gegeben ward, schuf Frieden
auf Erden, alles Irdische ward geheiligt. Unter frommem Regiment, bei
einem aufs Himmlische gerichteten Sinn blühten Künste und Wissenschaften.
Die Stärke der Völker wuchs, und der Herr gab dem kleinen christlichen
Europa die Herrschaft über die heidnischen Welttheile, um ihnen das
Evangelium zu bringen. Jeder Mißbrauch dieser Herrschaft wird schwer
gebüßt. Wenn Europa dessen vergißt, der ihm Stärke und
Segen verlieh, so wird seine Kraft zusammenbrechen und
der Legen weichen. W. Hofsmann u. K. v. Raumer.
87. Ich sende euch!
Matth. 10, 16-20.
1. Ich sende euch; geht hin, ihr meine Zwölfe,
Erobert mir die Welt,
Ich sende euch wie Schafe unter Wölfe,
Wehrlos zieht ihr ins Feld;
Doch wandelt muthig eure Bahnen,
Ihr ziehet mit geweihten Fahnen;
Steht wider euch des Satans ganzes Reich:
Ich sende euch!
2. Ich sende euch; ich bin's, der Herr und Meister,
Der euch vom Netz berief;
Ich sende euch; ich bin's, der Fürst der Geister,
Das euer Vollmachtsbrief!
115
Und sperrt man Thüren euch und Gassen,
So sprecht: „Wir können's doch nicht lassen,
Gott wiü's, drum Platz, o Welt! o Hölle, fleuch!"
Ich sende euch!
3. Ich sende euch; sie werden euch verdammen,
Gleichwie sie mir gethan;
Ich sende euch in Kerker, Blut und Flammen,
Doch geh' ich selbst voran;
Und schlägt die Welt euch einst mit Ruthen,
Dann denkt an eures Königs Bluten;
Ich, der am Fluchholz blutig hieng und bleich,
Ich sende euch!
4. Ich sende euch; sorgt nicht, was ihr sollt reden,
Ich geb' euch meinen Geist,
Der wunderbar die Zunge löst den Blöden
Und Thoren unterweist.
Er gibt zu rechter Zeit und Stunde
Dem Geist ein Licht, ein Wort deni Munde;
Zeuch, kleine Schar, mit meinem Segen zeuch!
Ich sende euch! G-r°r.
88. Der gerettete Jüngling.
Eine schöne Mcnschcnscele finden, ist Gewinn; ein schönerer Gewinn
ist, sie erhalten, und der schönst' und schwerste, sie, die schon vorloren war,
zu retten. Sanct Johannes, aus dem öden Pathmos wiederkehrend, war,
was er gewesen, seiner Herden Hirt. Er ordnet' ihnen Wächter, auf ihr
Innerstes aufmerksam. In der Menge sah er einen schönen Jüngling;
fröhliche Gesundheit glänzte vom Gesichte ihm, und aus seinen Augen sprach
die liebevollste Feuerseele. „Diesen Jüngling", sprach er zu dem Bischof,
„nimm in deine Hut! Mit deiner Treue stehst du mir für ihn! Hierüber
zeuge mir und dir vor Christo die Gemeinde." Und der Bischof nahm den
Jüngling zu sich, unterwies ihn, sah die schönsten Früchte in ihm blüh'n,
und weil er ihm vertraute, ließ er nach von seiner strengen Aufsicht. Und
die Freiheit war ein Netz des Jünglings. Angelockt von süßen Schmeicheleien,
ward er müßig, kostete die Wollust, dann Pen Reiz des fröhlichen Betruges,
dann der Herrschaft Reiz; er sammelt' um sich seine Spießgesellen, und
snit ihnen zog er in den Wald, ein Haupt der Räuber. Als Johannes
m bie Gegend wieder kam, die erste Frag' an ihren Bischof war: „Wo
'st mein Sohn?" — „Er ist gestorben!" „Wann und wie?" — „Er ist
Gott abgestorben, ist (mit Thränen sag' ich es) ein Räuber." „Dieses
Jünglings Seele", sprach Johannes, „fordr' ich einst von dir. Jedoch
wo ist er?" — „Auf dem Berge dort!" — „Ich muß ihn sehen!" Und
Johannes, kaum dem Walde nahend, ward ergriffen (eben dieses wollt' er).
„Führet", sprach er, „mich zu eurem Führer!" Bor ihn trat er. Und
d(r schöne Jüngling'wandte sich; er konnte diesen Anblick nicht ertragen.
„Fliehe nicht, o Jüngling, nicht, o Sohn, den waffenlosen Vater, einen
8*
Greis! Ich habe dich gelobet meinem Herrn und muß für dich antworten.
Gerne geb' ich, willst du es, mein Leben für dich hin; nur dich fortan
verlassen kann ich nicht! — Ich habe dir vertrauet, dich mit meiner
Seele Gott verpfändet." Weinend schlang der Jüngling seine Arme um
den Greis, bedeckte sein Antlitz, stumm und starr; dann stürzte statt der
Antwort aus den Augen ihm ein Strom von Thränen. Auf die Kniee
sank Johannes nieder, küßte seine Stirn und seine Wange, nahm ihn nen-
geschcnket vom Gebirge, läuterte sein Herz mit süßer Flamme. Jahre
lebten sie jetzt mit einander; in den schönen Jüngling goß sich ganz Johannes'
schöne Seele.
Sagt, was war es, was das Herz des Jünglings also tief erkannt'
und innig festhielt und es wiederfand und unbezwingbar rettete? Ein
Sanct-Johannes-Glaube, Zutrau'n, Festigkeit und Lieb' und
Wahrheit. Herder.
89. Denksprüche.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb' in Ewigkeit.
Bedenke, daß, wo du auch bist,
Doch Gott in deiner Nähe ist.
Eh' man noch ein Wörtchen spricht,
Weiß Gott schon, was uns gebricht.
Mit Gott fang' an, mit Gott hör' auf!
Das ist der beste Lebenslauf.
Geh' ohne Stab nie durch den Schnee!
Geh' ohne Steuer nicht zur See!
Geh' ohne Gottes Geist und Wort
Niemals aus deinem Hause fort.
Friedr. Rückert.
90. Ein Brief über einen Regen.
Lieber Vetter!
Hiermit füge ich Dir zu wissen, daß uns unser Herrgott nach langem
Warten heute mit einem gnädigen Regen heimsucht. Seit einer Stunde
rcgnet's in hellen Güssen und jetzt noch immerfort, daß das Land dampft.
Ich bin schon zehnmal in den Garten gelaufen, zu sehen, wie alles sich
in die Höhe gerichtet hat und frisch und fröhlich steht, und möchte es immer
wieder aufs neue thun, möchte sogar, wie in meinen jungen Jahren, vor
Freuden meinen Rock ausziehen und mich beregnen lassen, wenn's für meinen
grauen Kopf noch paßte. Denn was soll ich nun in der Stube anfangen?
Den 103. Psalm habe ich schon durch; aber es regnet immer noch fort!
— Ich weiß nichts Anderes, als ich setze mich hin und schreibe einen Brief
an Dich, damit ich nur meine Freude so etwas ausweiten kaun. —
Ihr Städter wißt eigentlich gar nicht, was ein Regen ist. Wenn bei Euch
unser Herrgott seinen Brunnen aufschließt, so spannt Ihr den Paraplü auf, daß
Euch kein Tropfen an den Leib kommt, und geht drunter weg; und auch von
Eurem Steinpflaster länft's so rasch ab, als es gekommen ist, und nach ein paar
Stunden sieht kein Mensch mehr, daß unser Herrgott dagewesen ist. Was läßt
denn die Erde bei Euch für allerhand grünes Kraut aufgehen? Höchstens habt Ihr
ein halb Dutzend Blumentöpfe im Fensterbrett, und die nehmt Ihr wohl gar
noch bei einem Regen herein und meßt ihnen ihr Deputat mit der Gießkanne zu.
Das ist bei uns anders. Da habe ich mich eben noch einmal in den
Garten gemacht und mit meiner Fcldhacke in den Gartenbeeten gescharrt,
wie tief der Regen schon gedrungen sei; und es geht bereits über Hand
117
und Daumen hoch durch und regnet immer noch! Letter, cs ist doch etwas
ganz anderes, wenn unser Herrgott die Gießkanne nimmt! Einmal geregnet
ist besser, als zehnmal gegossen, sagt der alte Baucrnspruch; denn beim
Regen kriegt jedes Hälmchen und Gräschen auf meilenweit sein Theil so
gut mit zugemessen, wie die Levkojen und der Goldlack auf dem Paradebcetc
mitten im Garten. Und wenn ich dann bei meinen Bohnen oder Kartoffeln
stehe, so kann ich nicht wegkommen; erst muß ich zusehen, wie alles mit
einem Male so frisch und dunkelgrün wird, was vor wenigen Stunden noch
ganz verschmachtet an der Erde lag, und wie der Regen auf die vollen,
straffen Blätter niederrauscht.
Hei, wie das jetzt wieder anhebt! — Nun, morgen muß ich durchs
Feld. Bin neugierig, was meine Kohlpflanzen dazu sagen, und ob's dem
Weizen nicht zu viel geworden ist! —
Jetzt läßt's nach. Gott sei Lob und Dank für alle seine Gaben!
Weun's nur allerwegen hingekommen ist! Hab' ich doch gehört, daß in
einigen Gegenden das Korn wegen der Dürre recht verkommen sein soll.
Sollte mir von Herzen leid thun; doch ist's vielleicht nicht so arg, wie
mau's macht. Bei uns steht noch alles fröhlich in Hoffnung. Unser Herr-
gott beschere uns eine gesegnete Ernte! — Ich will meinen 103. Psalm
noch einmal lesen, und dann muß ich hinaus in den Garten.
Leb' wohl! Wenn Du meinst, daß mein Brief diesmal das Postgeld
nicht werth sei, so hast Du Dich auch noch nicht von ganzem Herzen über
einen Regen gefreut. Dein getreuer Vetter Schulze Gottlieb.
, Gustav Jahn.
91. Mai.
Der Mai, der Mai kommt nun herbei.! Seid willkommen, liebe Gäste,
Frühlingsregen, Frühlingssegen! Zu dem schönen Frühlingsfeste!
Frische Keime, grüne Sprossen, ! Lehrt mich singen, Vögelein,
Duft und Blumen lachen wieder, I Lehrt mich danken hell und rein
Und der Bach kommt rasch geschossen. Dem, der aus des Himmels Bläue
I» den Lüften auf und nieder Auf mich schaut mit Lieb' und Treue!
Klingen wieder süße Lieder. I R. röwenst-in.
92. Der Maulwurf.
Unter allen Thieren, die ihre Jungen säugen, ist der Maulwurf das
einzige, das seiner Nahrung allein in den dunkeln Gängen unter der
Erde nachgeht.
Und an dem einen ist's zu viel, wird mancher sagen, der an seine
Felder und Wiesen denkt, wie sic mit Maulwurfshügeln bedeckt sind, wie
der Boden zerwühlt und durchlöchert wird, und wie die Gewächse oben
absterben, wenn das heimtückische Thier unten an den Wurzeln weidet.
Nun, so wollen wir denn Gericht halten über den Missethäter.
Wahr ist's und nicht zu leugnen, daß er durch seine unterirdischen
Gänge hin und wieder den Boden durchwühlt und ihm etwas von seiner
Festigkeit raubt.
Wahr ist es ferner, daß durch die herausgcstoßencn Grundhaufen viel
st'uchtbarcs Land bedeckt und die darunterliegenden Keime im Wachsthum
gehindert, ja erstickt werden können.
118
■
Dafür ist in einer fleißigen Hand der Rechen gut. — Aber wer hat's
gesehen, daß der Maulwurf die Wurzeln abfrißt? Wer kann's be-
haupten?
Run, man sagt so: „Wo die Wurzeln abgenagt sind und die Pflanzen
sterben, wird nian auch Maulwürfe finden, und wo keine Maulwürfe sind,
geschieht das auch nicht. Folglich thut's der Maulwurf!" — Der das
gesagt, ist vermuthlich der nämliche, der einmal so behauptet hat: „Wenn
im Frühling die Frösche zeitig quaken, so schlägt auch das Laub bei Zeiten 1
aus. Wenn aber die Frösche lange nicht quaken wollen, so will auch das
Laub nicht kommen. Folglich quaken die Frösche das Laub heraus!" Seht
doch, wie man sich irren kann!
Aber da kommt ein Advokat des Maulwurfs, ein erfahrener Landwirth
und Naturbeobachter, der sagt also:
»Nicht der Maulwurf frißt die Wurzeln ab, sondern die Würmer,
die Quaden oder Engerlinge, die unter der Erde sind, aus welchen
hernach die Maikäfer und andres Ungeziefer kommen, der Maulwurf aber
frißt die Engerlinge und reinigt den Boden von diesen Feinden."
Jetzt wird cs also begreiflich, daß der Maulwurf immer da ist, wo
das Gras und die Pflanzen krank sind und absterben; weil die Engerlinge
da sind, denen er nachgeht, und die er verfolgt. Und dann muß er's ge-
than haben, was diese anstellen, und bekommt für seine Wohlthat, die er
euch erweisen will, des Henkers Dank! —
Das hat wieder einer in der Stube erfuuden oder aus Büchern '
gelernt, werdet ihr sagen, der noch keinen Maulwurf gesehen hat!
Halt, guter Freund! Der das sagt, kennt den Maulwurf besser, als
ihr alle. Ihr könnt zweierlei Proben anstellen, ob er die Wahrheit sagt.
Erstlich, wenn ihr dem Maulwurf in den Mund schaut. Denn alle
die vierfüßigen oder Säugethiere, welche die Natur zum Nagen am Pflanzen-
werk bestellt hat, haben in jeder Kinnlade, oben und unten, nur zwei einzige -
und zwar scharfe Vorderzähne und gar keine Eckzähne, sondern eine Lücke
bis zu den Backenzähnen. Alle Raubthiere aber, welche andere Thiere
fangen und fressen, haben sechs und mehr spitzige Vorderzähne, dann Eck-
zähne auf beiden Seiten und hinter diesen zahlreiche Backenzähne. Wenn
ihr nun das Gebiß eines Maulwurfs betrachtet, so werdet ihr finden: er
hat in der obern Kinnlade sechs und in der untern acht spitzige Vorderzähnc
und hinter denselben Eckzähne auf allen vier Seiten; und daraus folgt: es
ist kein Thier, das an Pflanzen nagt, sondern ein kleines Raubthier, das
andere Thiere frißt.
Zweitens, wenn ihr einem getödteten Maulwurf den Bauch aufschneidet 1
und in den Magen schaut. Denn was er frißt, muß er im Magen haben,
und was er im Magen hat, muß er gefressen haben. Nun werdet ihr,
wenn ihr die Probe machen wollt, nie Wurzelfasern oder so etwas in dem
Magen des Maulwurfs finden, aber immer die Häute von Engerlingen,
Regenwürmern und anderm Ungeziefer, das unter der Erde lebt.
Wie sieht's nun ans?
Wenn ihr nun den Maulwurf fleißig verfolgt, und mit Stumpf und
Stiel vertilgen wollt, so thut ihr euch selbst den größten Schaden und den
Engerlingen den größten Gefallen. Da können sie alsdann eure Wiesen
119
und Felder verwüsten, wachsen und gedeihen, und im Frühjahr kommt als-
dann der Maikäfer und frißt euch die Bäume kahl wie Besenreis.
So sicht's ans! Heber
93. Eichhörnchen.
Ohne Ruh, ohne Rast,
Vom Zweig auf den Ast,
Voni Ast auf den Wipfel hoch in die
Luft,
Im Blättergesäusel und Blütendust.
Immerzu
Ohne Rast, ohne Ruh'!
Heut ist Kirmeß, heut ist Ball,
Spielet Drossel, Nachtigal,
Stieglitz, Amsel, Fink und Specht!
Pfeift und geigt und macht es recht!
Ich bin ein Mann,
Der tanzen kann;
Hänschen Eichhorn heiß' ich,
Was ich gelernt hab', weiß ich. —
Kommt der Jäger in' Wald hinein.
Will mir kein Vogel singen;
Hänschen läßt das Tanzen sein,
Tanzen, Hüpfen und Springen.
Häuschen schlüpft hinein zum Haus,
Hänschen schaut zum Haus heraus,
Hänschen lacht den Jäger aus.
Hoffmann v. Fallersleben.
94. Seltsamer Spazierritt.
^Ein Mann reitet auf einem Esel nach Haus und läßt seinen Bube»
Zu Fuß ucbeuhcr laufen. Kommt ein Wanderer und sagt: „Das ist nicht
recht, Pater, daß ihr reitet und laßt euren Sohn laufen; ihr habt stärkere
Glieder." Da stieg der Vater vom Esel herab und ließ ben Sohn reiten.
Kommt wieder ein Wandersmann und sagt: „Das ist nicht recht, Bursche,
daß du reitest und lässest deinen Vater zu Fuß gehen. Du hast jüngere
Beine." Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter
Wandersmann und sagt: „Was ist das für ein Unverstand, zwei Kerle
°uf einem schwachen Thier! Sollte man nicht einen Stock nehmen und
s^lch beide herabjagen?" Da stiegen beide ab und gicngen selbdritt zu
Mß, rechts und links der Vater und Sohn und in der Mitte der Esel.
Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: „Ihr seid drei curiose Ge-
jcllen. Jst's nicht genug, wenn zwei zu Fuß gehen? Geht's nicht leichter,
wenn einer von euch reitet?" Da band der Vater dem Esel die vorder»
Beine zusammen, und der Sohn band ihm die hintern Beine zusammen,
Zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße stand und trugen
den Esel auf der Achsel heim. — Soweit kann's kommen, wenn man es
allen Leuten will recht machen. Hebel.
Heißa, wer tanzt mit mir!
Lustig und munter!
Kopfüber, kopfuntcr
Mit Manier
Immerfort
Von Ort zu Ort,
Jetzo hier,
Jetzo dort, hopp!
120
95. £
Ochs und Esel zankten sich
Beim Spaziergang um die Wette,
Wer am meisten Weisheit hätte.
Keiner siegle, keiner wich.
Endlich kam man überein,
Daß- der Löwe, wenn er wollte,
Diesen Streit entscheiden sollte,
Und was konnte klüger sein?
chs und Esel.
Beide reden ticfgebückt
Bor des Thierbeherrschers Throne,
Der mit einem edlen Hohne
Auf das Paar hinunter blickt.
Endlich sprach die Majestät
Zu dem Esel und, dem Farren:
i Jhr seid alle beide Narren!
I Jeder gafft ihn an und geht. Psessel.
96. Noch ein Paar Freunde des Landmanns.
Die Fledermäuse nähren sich von Insekten, die in der Dunkelheit
umherfliegen und darum von den Vögeln übersehen werden. Dadurch bringen
sie dem Landwirthe großen Nutzen. Im Spätherbste wurden einst in der
Gegend von Hanau
viele knorrige 'Eich-
bäume gefällt, in deren
hohlen Stämmen
Fledermäuse ihren
Winterschlaf halten
wollten. Die armen
Thiere kamen meistens
vor Kälte um; aber
schon in den folgenden
Jahren zeigten sich
die schädlichen Prozessionsraupcn in so großer Menge, daß nicht bloß
die stehengebliebenen Eichen, sondern auch andere Bäume in der Umgegend
von ihnen verheert wurden. Es waren keine Fledermäuse mehr da, die
die Schmetterlinge vertilgen konnten, ehe sie Eier legten. — Auch der über-
großen Vermehrung der Maikäfer thun die Fledermäuse Einhalt. Ein
einziges Thier dieser Gattung kann in einer Mahlzeit ein Dutzend von
solchen schädlichen Käfern verzehren, weil es nur die weichen Theile ver-
speist, die Flügeldecken, Beine u. s. w. aber wegwirft.
Auch die Igel und Spitzmäuse, die wie der Maulwurf zu den
Ranbsängethiere» gerechnet werden müssen, nähren sich fast nur von schädlichen
121
Insecten und sind darum nützlich. Der Igel fängt jedoch auch Mäuse
und versteht vortrefflich die Kunst, diese lustigen Gesellen zu beschleichen.
Man würde ihn ans diesem Grunde sogar in Scheunen und Kellern als
Mäusejäger halten, wenn sein nächtliches Poltern nicht unangenehm würde.
Den Hauptuutzen stiftet er aber auch durch Vertilgung von Insecten und
Insektenlarven, Schnecken und Würmern, die er mit geringer Mühe aus
der Erde hervorscharrt. Und weil sein Magen sogar die merkwürdige
Eigenschaft besitzt, daß er giftfest ist, so darf er sich nicht bloß an die
Pflasterkäfer oder spanischen Fliegen wagen, wenn sie auf die Erde
kommen, um ihre Eier zu legen: er darf auch den Kampf mit der Kreuz-
otter aufnehmen, der einzigen Giftschlange, die bei uns zu finden ist.
Anderen Thieren und den Menschen ist der Biß dieser Schlange äußerst
gefährlich; der Igel aber braucht sich nichts daraus zu machen und geht
regelmäßig aus dem Streite als Sieger hervor. Weil das Thier so nützlich
ist, so hat cs auch in seinen Stacheln ein ganz besonderes Schutzmitel er-
halten; kommt ein Feind ihm nahe, so rollt es sich zu einer unantastbaren
Kugel zusammen. Es wegen dieser merkwürdigen Eigenschaft zu quälen, ist
höchst tadelnswerth.
Eine Spitzmaus versuchte man in der Gefangenschaft zu halten;
und siehe da, man mußte ihr jeden Tag wenigstens doppelt so viel Insecten,
Larven und Würmer zur Nahrung geben, als sie selbst wog. Als man
ihr weniger gab, verhungerte sie in kurzer Zeit. Wie viel Ungeziefer mag da
nicht ein einziges dieser Thiere das ganze Jahr hindurch verzehren! Und
doch werden viele Spitzmäuse während der Heu- und Getreideernte todtge-
schlagen, weil sie für schädlich gehalten werden, oder weil man sie für
andere Mäuse hält, von denen sic doch leicht zu unterscheiden sind. Denn
ihr Kopf ist lang und spitz und läuft in eine rüssclartige Schnauze aus.
Die Augen sind fast nicht zu bemerken; auch die Ohren sind klein, der
Schwanz aber ist immer lang.
Selbst unter den eigentlichen Raubthicren sind mehrere, die der
Landmann zu seinen Freunden zählen muß, wenn sie ihm auch hin und
wieder einigen Schaden zufügen. Die Wiesel
sind so recht dazu gemacht, Mäuse und junge
Ratten zu verfolgen. Ihres schlanken Baues,
ihres spitzigen Kopfes und ihrer kurzen Beine
wegen können sie diesen Thieren in ihre engen
Schlupfwinkel und verborgenen Höhlen folgen,
um ihnen den Garaus zu machen. Selbst im
dichtesten Buschwerke, unter Dornen und Hecken
und unter dem Schnee setzen sie ihre Jagd fort. Dabei sind sie so blut-
dürstig, daß sie eigentlich mehr Mäuse tobten, als sic zu ihrer Nahrung
nöthig haben. Ist die Zahl ihrer Feinde groß, so ziehen sic es vor, sich
bloß mit Blut zu sättigen und das Fleisch liegen zu lassen. Ja, öfters
tobten sie auch nur aus reiner Mordlnst.
Sogar der Iltis bringt mehr Nutzen als Schaden. In dem Hühner-
stalle begnügt er sich gewöhnlich mit einem Thiere, das er fortschleppt,
dagegen ist er nicht nur ein erbitterter Feind der Kreuzotter, wie der Igel,
sondern er macht auch fast unausgesetzt Jagd auf Mäuse und Ratten.
122
Namentlich macht er sich an den
Ufern der Teiche und Flüsse durch
Vertilgung der Wasser- und
Wanderratten sehr nützlich,
und auch dem Hamster weiß
er beizukommen. Denn seine fast
gar nicht gekrümmten Krallen
sind vortrefflich zum Scharren in
der Erde, dagegen nur wenig
zum Klettern geeignet, so daß
die ans den Bäumen schlafenden
Vögel vor ihm sicher sind. Man
sollte ihn darum auch mehr von
dem Marder unterscheiden, der
ein geschickter Kletterer ist und unter dem Geflügel aus reiner Mordlust
eben solche Verheerungen anrichtet, wie das Wiesel unter den Mäusen.
Gloger.
97. l)ie 8pinn6n.
vis Spinne ist ein verachtetes Thier, viele Menschen fürchten
sich sogar davor; und doch ist sie auch ein merkwürdiges Geschöpf
und hat in der Welt ihren Nutzen. Zum Beispiel, die Spinne hat
nicht zwei Augen, sondern acht. Mancher wird dabei denken, da
sei es keine Kunst, dass sie die Fliegen und Mücken, die an ihren
Fäden hängen bleiben, so geschwind erblickt und zu erhaschen
weiss. Allein das maclit’s nicht aus. Denn eine Flierge hat nach
den Untersuchungen der Naturkundigen viele hundert Augen und
nimmt doch das Netz nicht in acht, und ihre Feindin, die gross
genug darin sitzt. Was folgt daraus? Es gehören nicht nur Augen,
sondern auch Verstand und Geschick dazu, wenn man glücklich
durch die Welt kommen und in keine verborgenen Fallstricke ge-
rathen will. — Wie fein ist ein Faden, den eine Spinne in der
grössten Geschwindigkeit von einer Wand bis an die andere zu
ziehen weiss! Und doch versichern abermal die Naturkundigen,
dass ein solcher Faden, den man kauift mit blossen Augen sieht,
wohl sechstausend Mal zusammengesetzt sein könne. Das bringen
sie so heraus: Die Spinne hat an ihrem Körper nicht nur eine,
sondern sechs Drüsen, aus welcher zu gleicher Zeit Fäden hervor-
gehen. Aber jede von diesen Drüsen hat wohl an tausend feine Öff-
nungen, von welchen keine umsonst da sein wird. Wenn also
jedesmal aus allen diesen Öffnungen ein solcher Faden herausgeht,
so ist an der Zahl sechstausend nichts auszusetzen, und dann kann
man wohl begreifen, dass ein solcher Faden, obgleich so fein, doch
auch so fest sein könne, dass das Thier mit der grössten Sicherheit
daran auf- und absteigen, und sich in Sturm und Wetter darauf
verlassen kann. Muss man nicht über die Kunst und Geschicklich-
keit dieser Geschöpfe erstaunen, wenn man ihnen an ihrer stillen
und unverdrossenen Arbeit zuschaut, und an den grossen und weisen
123
Schöpfer denken, der für alles sorgt und solche Wunder in einem
so kleinen und unscheinbaren Körper zu verbergen weiss?
Das mag alles gut sein, denkt wohl mancher, wenn sie nur
nicht giftig wären und läuft davon oder zertritt sie, wo er sie
findet. Aber wer sagt denn, dass unsere Spinnen giftig seien? Noch
kein Mensch ist in unsern Gegenden von einer Spinne gebissen
worden. Gibt es nicht hie und da Leute, die sie aufs Brot strei-
chen und verschlucken? Wohl bekomm’s, wem es schmeckt! Auch
sonst thun diese Thierlein, die nur für die Erhaltung ihres eigenen
Lebens besorgt sind, keinem Menschen etwas zu Leide. Im Gegen-
theile leisten sie in der Natur einen grossen Nutzen, den man aber,
wie es oft geschieht, nicht hoch anschlägt, weil jede einzelne wenig
dazu beizutragen scheint. Es ist das Geringste, dass sie hie und
da einer Stubenfliege den Garaus machen. Für diese wäre
noch anderer Rath. Aber sie verzehren auch jährlich und täglich
eine grosse Anzahl anderer sehr kleiner.Mücklein, die uns durch
ihre Menge erstaunend beschwerlich und schädlich werden, und
welcher man sich nicht erwehren könnte, wenn sie überhand nähmen.
Sind nicht manchmal ganze Ackerfurchen mit Spinngeweben über-
zogen und glänzen im Morgenthau? Da geht manches Mücklein zu
Grunde, das die aufkeimende Saat vielleicht angegriffen und ver-
letzt hätte.
Ein Gefangener machte einst in seinem einsamen Kerker eine
Spinne so zahm, dass sie seine Stimme kannte und allemal kam,
wenn er sie lockte und etwas für sie hatte. Sie verkürzte ihm an
einem Orte, wo kein Freund zu ihm kommen konnte, manche trau-
rige Stunde. Aber als der Kerkermeister es merkte, brachte er sie
um’s Leben. Was ist nun verabscheuungswürdiger, ein solches
Thier, das doch noch einem Unglücklichen einiges Vergnügen machen
kann, oder ein solcher Mensch, der dem Unglücklichen auch dieses
Vergnügen missgönnt und zerstört?
Ein anderer Gefangener, der sonst nichts zu thun wusste, gab
lange Zeit auf die Spinnen acht und bemerkte, dass sie auch
Wetter-Propheten seien. Bald liessen sie sich sehen und arbeiteten,
bald nicht. Einmal spannen sie trag, ein andermal hurtig, lange
l aden oder kurze, einmal näher zusammen, ein andermal weit aus-
einander, so oder so, und endlich konnte er daran erkennen, was
für Wetter käme, Sturm, Regen oder Sonnenschein, anhaltend oder
veränderlich.
Also auch dazu sind sie gut; und wenn sich jemand verwundet
hat und findet geschwind ein Spinngewebe, das er auf die blutende
Wunde legen kann, so ist er doch auch froh darüber. Wenn es
rein ist, so kann es Blut und Schmerzen stillen. Wenn es aber
voller Staub ist, so schmerzt es noch mehr, weil der unreine Staub
in die Wunde kommt.
Dass es mancherlei Thiere dieser Gattung gebe, sieht man
schon an der Verschiedenheit ihres Gewebes in der freien Luft,
an Fensterscheiben, in den Winkeln, auf den Feldern, da und dort.
124
Manche spinnen gar nicht, sondern springen nach ihrer Beute. Im
Frühjahre und noch viel mehr im trockenen warmen Nachsommer
sieht man oft gar viele weisse Fäden in der Luft umherfliegen.
Alle Bäume hängen manchmal voll, und die Hüte der Wanderer
auf der Strasse werden davon überzogen. Man konnte lange nicht
errathen, wo diese Flocken und Fäden herkommen, und machte
sich allerlei wunderliche Vorstellungen davon. Jetzt weiss man ge-
wiss, dass es lauter Gespinnst ist von unzählig viel kleinen schwar-
zen Spinnen, welche deswegen die Spinnen des fliegenden Sommers
genannt werden. Da sieht man wieder, wie viel auch durch kleine
Kräfte kann ausgerichtet werden, wenn nur viele das Nämliche thun.
Aber eine gefürchtete Spinne lebt i" dem untersten heissen
Italien. Sie ist unter dem Namen Tarantel bekannt. Diese
soll wohl den Menschen heissen und durch den giftigen Biss krank
und schwermüthig machen. Ein Mittel dagegen soll ein gewisser
Tanz sein, die Tarantella genannt. Wenn die Kranken die Musik
dazu hören, so fangen sie an zu tanzen, bis sie vor Müdigkeit um-
fallen, und sind alsdann genesen. Es liesse sich wohl begreifen,
dass durch die heftige Bewegung das Gift aus dem Körper heraus-
getrieben werde. Allein es ist doch, wie man für gewiss weiss,
viel Einbildung und Übertreibung dabei, und wohl auch Betrug.
Ein anderes merkwürdiges Thier dieser Art lebt in einer Ge-
gend von Amerika und heisst Buschspinne. Diese nimmt nicht
mit Stubenfliegen oder Mücklein vorlieb. Nein, einer gewissen Art
von Vögeln geht sie nach, greift sie an und zwingt sie, tödtet sie
und saugt ihnen das Blut und die Eier aus.
Worüber soll man sich am meisten verwundern, über die grosse
Spinne oder über die kleinen Vögel? Hebel
98. Pipin drr Kurze.
Pipiu der Kurze mar nicht groß,
Doch Karls des Großen Vater,
In aller Weise fehlerlos,
Ein treuer Volksberather.
Der beste Held im Frankenreich,
Der Kirche Wohlgefallen,
An Weisheit nur sich selber gleich,
An Tapferkeit vor allen.
War nicht geboren auf dem Thron,
Doch für den Thron geboren.
Zum Herrscher war des Hammers Sohn
Von Gottes Gnad' erkoren.
Papst Zacharias sprach dies Wort:
„Des Königs Würd' und Namen
Gebührt der Völker starkem Hort!"
Und alle Welt sprach: „Amen!"
Doch unser Held, der Kurze, schien
Zu klein manch' kleinen Geistern,
Die maßen mit den Augen ihn
Und hatten viel zu meistern.
Des schwieg der Held, und ritterlich
Sinnt er den Hohn zu dämpfen,
Und lädt zum Spiele männiglich,
Wo wilde Thiere kämpfen.
Schon eilt das Volk herbei mit Drang,
Die stolzen Großen alle, .
Sie nahen beim Trompetcnklang
Mit lautem Waffenschalle.
Still sitzt Pipin, gedankenschwer,
Wie nahend Ungewitter
Wirft er nur Blitze um sich her. —
Da rauscht herauf das Gitter.
125
Ein grimmer Leu, ein wilder Stier,
Die stürzen in die Schranken,
Begegnen sich mit Kampfbegier,
Und keiner wollte wanken.
Jetzt aber faßt des Leuen Zahn
Den Ur in dem Genicke,
Und reißt ihn nieder auf den Plan,
Blut, Feu'r und Wuth im Blicke.
„Wer ist von euch", — so fragt Pipin
Und blitzte durch die Reihen —
„Wer ist von euch so stark und kühn,
Entreißt die Beut' dem Leuen?"
Da machen große Augen zwar
Ringsum die großen Leute;
Doch jeder bebt vor der Gefahr,
Und keiner will zum Streite.
Und wie noch alle schweigend stehn
Und an dem Kampf verzagen.
Sieht man Pipin zum Kampfplatz gehn,
Allein den Kampf zu wagen.
Er ruft den blut'gcn Löwen an
Mit donnergleicher Stimme;
Der stürzt auf ihn mit Wuth heran
Und brüllt vor wildem Grimme.
Und alles Volk sicht es mit Graus,
Pipin nur ohne Grausen;
Sein gutes Schwert zur Scheid' heraus
Läßt's durch die Lüfte sausen,
Und schlägt den Löwen in den Bart,
Daß todt er niederstürzet.
Das war ein Schlag nach Heldenart,
Mit Heldenkraft gewllrzet!
Nun rafft der wilde Ur sich auf,
Den neuen Feind er wittert,
Und rennt heran mit vollem Lauf,
Daß Schrank' und Boden zittert.
Doch unser Held steht mauerfest
Und wankt nicht von der Stelle.
Das Schwert er wieder sausen läßt
Und schwingt's mit Blitzesschnelle
Und trifft den Schnaubenden so gnt,
Dicht an des Nackens Rande —
Da spritzt zum Himmel schwarzes Blut,
Das Haupt stürzt hin zum Sande.
„Wie nun, ihr großen Recken ihr,
Was dünkt euch von dem Kleinen?
Mag nun der Held im Kampfrevier
Euch groß genug erscheinen?" —
Es stehn beschämt die Spötter werth,
Gesenkt die stolzen Blicke;
Pipin steckt ein sein gutes Schwert,
Dann tritt er schnell zurücke.
Des Volkes Jubel aber füllt
Ringsum die weiten Schranken,
Empor ihn hebend auf den Schild
Zeigt ihn der Frank' dem Franken.
Als König grüßt ihn alle Welt,
Die Spötter müssen schweigen
Und ihm, der Leu und Ur gefällt,
Demüthiglich sich neigen. Baur.
99. Karl der Große.
In Aachen, wo manchem deutschen Kaiser die Krone aufs Haupt ge-
setzt wurde, zum Wahrzeichen, daß er der vornehmste Herrscher sei in der
Christenheit, befindet sich in dem uralten Münster ein schlichter Grabstein,
darauf die Worte zu lesen sind: Karl der Große. Bei diesem Stein soll
jedermann, der in die Kirche tritt, des großen Kaisers gedenken, dessen
Name einst gepriesen und gefürchtet wurde unter Christen und Nichtchristen,
weil er ein siegreiches Schwert führte und groß und weise regierte. Mehr
als tausend Jahre sind seitdem verflossen und andere Herrscher haben seit-
dem die Welt mit ihrem Ruhme erfüllt, aber wenige leben wie er im
Gedächtnisse der Menschen fort. Legen doch auch bürgerliche Einrichtungen
und kirchliche Ordnungen in deutschen Landen und darüber hinaus lebendiges
Zeugniß ab von seinem Wirken. —
Als Karl im Jahre 768 nach dem Tode seines Vaters Pipin zur
Herrschaft gelangte, hatte im Lande der Franken das Licht des Christen-
thums schon lange die alte Finsterniß verscheucht, in den Städten erhoben
126
sich Kirchen und Kapellen, die Bischöfe nahmen der Lehre wahr, und den
Unwissenden wurde das Evangelium verkündigt. Aber rings umher bestand
noch das Heidenthnm. Da wohnte im Norden von Deutschland bis zur
Elbe das tapfere, zähe am alten Heidenthum festhaltende Volk der Sachsen;
über die Elbe hinaus saßen die heidnischen Dänen und Normannen, welche
dem Seeraub ergeben waren; tiefer
nach Osten hinein hausten die Slaven
und Wenden, Feinde der Deutschen
und Christen zugleich, weiterhin, im
heutigen Ungarn, die dem rohesten
Heidenthum ergebenen Avarcn; jen-
seits aber der Pyrenäen bestand das
große Reich der sich zum Glaube»
Muhammeds bekennenden Saracenen.
So war die fränkische Christenheit
rings von Heiden umgeben, und es
bedurfte eines tapfern Sinnes und
scharfen Schwertes, um sich ihrer zu
erwehren und überdies auch noch an-
dern Schutz zu gewähren. —
Zuerst rief der Papst Karls Hülfe
gegen den mächtigen König der Lango-
barden an, der ihn in seinem eigenen
Sitze bedrohte. Da überstieg Karl mit
seinem Heere die Alpen und lagerte
sich vor Pavia, der festen Hauptstadt
des Königs. Als dieser von einem
Turme der Stadt Karl zu Roß und
mit dem Speer in der Hand erblickte,
erfaßte ihn ein Schrecken vor dem ge-
waltigen Manne; Stadt und Reich
der Longobarden ward erobert, und
fortan gebot Karl auch über Italien.
Als Karl wenige Jahre darauf einen Reichstag zu Paderborn hielt,
erschienen Abgesandte des Statthalters von Saragossa und baten um Hülfe
wider den Chalifcn Abdcrhamau, der Spanien beherrschte; Karl erkannte
in ihrer Bitte den Ruf, die Kirche in Spanien wieder herzustellen. Er
zog über die Pyrenäen, eroberte Saragossa und unterwarf sich das Land
rings um. Als er aber auf dem Rückwege auf engen Pfaden zwischen den
steilen Felswänden des Hochgebirges einherzog, brachen feindliche Gebirgs-
völker hervor und viele tapfere Männer wurden erschlagen; doch Karl brach
sich Bahn und erreichte die Heimat wieder. —
Hier aber warteten seiner noch schwerere Kämpfe, denn bereits hatte
der Krieg mit den Sachsen begonnen, der 33 Jahre dauerte, weil dieselben
immer von neuem sich gegen die fränkische Herrschaft empörten. Wenn
dann die Sachsen in das Reich einfielen und die Kirchen verbrannten, so
drohten auch die heimlich dem Heideuthum Ergebenen im Innern mit Auf-
ständen. Lange Zeit wechselte Sieg und Niederlage, Bekehrung und Ab-
i
127
fall, aber der König ruhte nicht, bis er den harten Sinn der Sachsen ge-
brochen, wobei er leider auch sehr grausame Mittel anwandte. Endlich
empfiengen die vornehmsten Führer der Sachsen, darunter auch Wittekind,
die Taufe und das Volk nahm Glauben und Sitte an. Nun trug er das
Christenthum auch zu den Wenden und Böhmen hinüber und bändigte
daraus auch die Avaren. So stiftete Karl ein großes Reich, denn alle
deutschen Stämme gehorchten ihm nunmehr und dazu die Völker in Italien
und Frankreich, die Saracenen am Ebro, die Slaven au der Ebc und die
Avaren an der Raab. —
Abermals aber rief ihn der Papst um Hülfe, denn Leo HL wurde
schwerer Verbrechen beschuldigt und auf offener Straße in Rom bei einer
feierlichen Procession von seinen Feinden angefallen und verwundet. Als
aber seine Wunden geheilt waren, floh er nach Deutschland und flehte Karl
um Hülfe an. Karl versprach, in Rom Gericht zu halten und zog mit
starkem Gefolge nach Italien; der Papst reinigte sich durch einen Eid von
der Beschuldigung seiner Widersacher, und Karl setzte ihn wieder in seine
Würde ein und bestrafte die Thäter. Zwei Tage später, am Weihnachts-
tage des Jahres 800, wohnte er in der Pctcrskirchc dem Gottesdienste bei.
Als er nun ain Altare knieend betete, setzte ihm der Papst unerwartet eine
Krone auf und begrüßte ihn als Kaiser und Herrn der Christenheit, das
Volk aber erhob den Beifallsruf, welcher bei der Erhebung der römischen
Kaiser üblich war: Heil und Sieg dem erhabenen Karl, dem großen und
erleuchteten römischen Kaiser, den Gott gekrönet hat! Dann warf sich der
Papst mit allem Volk zur Erde und leistete Karl die Huldigung.
Im Innern seines Reiches ließ der Kaiser sich die Bildung und Er-
ziehung des Volkes angelegen sein. Er sorgte für Predigt und Gottes-
dienst, für den Unterricht und die Wissenschaft. Im sächsischen Lande schuf
er Bischofssitze zu Paderborn, Münster, Osnabrück und Bremen; den Avaren
wurde von Salzburg aus das Evangelium gebracht. Die Bischöfe ermahnte
er zu untadelichcm Wandel und zur Verkündigung reiner Lehre ^gemäß der-
heiligen Schrift. Zum Vorbilde für die Priester ließ er eine Sammlung
von Predigten der alten Kirchenlehrer machen. Aus Italien und England
zog er große Gelehrte, wie Alcuin und Paulus Diaconus, an seinen Hof
und ließ an den Bischofssitzen und in den Klöstern Schulen einrichten.
Auch die Kinder sollten im Glauben unterrichtet werden, und der Kaiser
achtete es nicht unter seiner Würde, in den Schulen in ihre Mitte zu
treten und sie zu loben oder zu tadeln. Zur Verbesserung des Kirchen-
gesanges ließ er berühmte Musiker ans Italien kommen und Orgeln in
den Kirchen aufstellen. Unter den Kirchen, welche er baute, ist der Dom
Lu Aachen am berühmtesten; die Säulen und andern Schmuck für denselben
^eß er aus Ravenna kommen.
War Frieden im Reiche, so pflog der Kaiser in seinem Palaste Um-
gang mit seinen Gelehrten und suchte von ihnen zu lernen. Noch in
späten Jahren lernte er fremde Sprachen und lernte schreiben. Er unter»
tebete sich gern über die Vorzeit, über die heilige Schrift, über Gott und
göttliche Dinge und rief manchmal aus: O daß mir Gott solche Männer
lenden möchte wie Hieronymus und Augustinus! Aus des letzter» Buch
vom Reiche Gottes ließ er sich öfter während der Mahlzeit vorlesen. —
128
In seiner Lebensweise war Karl ein schlichter Mann; dennoch aber er-
kannte jeder in ihm den Herrscher. Wenn auch sein Privatleben nicht
immer rein war, so war er doch an Weisheit und Hoheit des Sinnes der
erste unter den Fürsten seiner Zeit; weder verzagte er in der Gefahr, noch
erhob er sich im Glücke. Schon seine Zeitgenossen nannten ihn den Großen,
aber er sagte: Gott allein ist groß, ihm allein gebührt die Ehre! An
schweren Prüfungen fehlte es ihm auch nicht. Seine besten und tapfersten
Söhne, Karl und Pipin, starben früh, ein anderer trachtete ihm nach Leben
und Reich, so daß ihn der Vater zu ewigem Gefängnis verurtheilte; der
jüngste und am wenigsten befähigte, Ludwig, blieb so allein für den Thron
übrig. Ihn führte Karl zur Kaiserweihe nach Aachen, dort ermahnte er
ihn vor allen Großen des Landes und vor allem Volke, daß er Gott alle-
zeit vor Augen habe, die Kirche vor Unbill schütze, die Bischöfe ehre als
seine Väter, das Volk liebe als seine Kinder, den Frevlern aber ein strenger
Richter sei, und befahl ihm dann, sich die Krone vom Altare zu nehmen
und sie sich selbst aufs Haupt zu setzen. —
Nun schloß Karl mit der Welt ab, blieb still in seinen Gemächern
und las und betete viel. Als er sein Ende nahe fühlte, ließ er einen ge-
treuen Bischof kommen und cmpfieng aus seiner Hand das Abendmahl.
Am Morgen des 28. Januar des Jahres 814 war seine letzte Stunde ge-
kommen. Er bezeichnete sich mit dem Kreuze, faltete die Hände über die
Brust, schloß die Augen und betete mit leiser Stimme: Herr, in deine
Hände befehle ich meinen Geist! Dann verschied er. Überall war tiefe
Trauer und Klage. In der Kirche zu Aachen ward er bestattet, auf dem
Throne sitzend, auf seinen Knien das Evangelienbuch, zu seinen Füßen das
Scepter und den Schild. Köpr-.
100. Karls des Großen äußere Erscheinung.
Karl der Große war — nach Einhard's, seines Zeitgenossen, Schil-
derung — ein Mann von so hochgewachsener Gestalt, daß er nach dem
Maßstabe seines eigenen Fußes sieben Fuß maß. Eine Eisenlanze ans
seiner Zeit, die noch vorhanden ist, zeigt seine Größe au. Mit dieser un-
gewöhnlichen Größe standen auch die übrigen Verhältnisse seines Körpers
in vollkommenstem Einklänge. Der feste und sichere Schritt, mit dem er
auftrat, und die würdige Haltung, welche man, mochte er gehen, stehen
oder sitzen, stets an ihm wahrnahm, gaben seiner Natur schon etwas
Majestätisches; dazu kam der Ausdruck und die Würde einer sehr bedeu-
tenden Physiognomie. Unter der hochgewölbten Stirn trat die Nase kräftig
heraus, große und lebhafte Augen gaben seinem Gesicht etwas offenes und
heiteres, wenn er munter gelaunt war, aber einen vernichtenden und zu
Boden schmetternden Ausdruck, wenn die Blitze des Zornes daraus her-
vorschossen.
Seine gewöhnliche Bekleidung bestand in einem eng anschließenden
Rock von Leinwand, der am oberen und unteren Saum und desgleichen
vorn von oben nach unten herunter mit seidenen Streifen besetzt war. Die
Beine waren mehrfach beschützt, erst durch leinene Unterkleider, dann durch
eine Hose, welche von unten bis zum Knie mit Bändern reichlich umwunden
129
war. Schuhe bedeckten die Füße. Über dem Rock trug er einen meer-
grünen wollenen Mantel von ziemlicher Länge und an der Seite stets ein
Schwert mit silbernem Griff und Gehenk.
Am liebsten trug Karl Kleider, die seine Töchter ihm verfertigt hatten;
nur bei feierlichen und außerordentlichen Gelegenheiten erschien der Herr-
scher in einem prachtvolleren Anzuge, als sein gewöhnliches Hauskleid war.
Dann umgab ihn auch äußerlich der Glanz der Majestät: Krone, Kaiser-
mantel und Schwert starrten von Edelsteinen. Nur in solchen Fällen
wurde seine Tafel mit mehr als vier Gerichten besetzt; sonst bot das könig-
liche Haus das Bild der größten Einfachheit dar. Während die Töchter
sich unter der Aufsicht der Mutter zu Hause mit der Spindel oder dem
Weben beschäftigten, mußten die Söhne mit dem Vater auf die Jagd oder
in den Krieg. Übrigens cmpfiengen nicht bloß diese, sondern auch die
Töchter Unterricht in allen Wissenschaften und zwar durch den berühmtesten
Gelehrten der damaligen Zeit, den angelsächsischen Diakonus Alkuin, wel-
chen Karl zu diesem Zweck an seinen Hof berufen hatte. Fcrd, Schmidt.
101. Roland
Der König Karl saß einst zu Tisch
Zu Aachen mit den Fürsten,
Man stellte Wildpret auf und Fisch
Und ließ auch keinen dürsten.
Biel Goldgeschirr von klarem Schein,
Manch rothen, grünen Edelstein
Sah man im Saale leuchten.
Da sprach Herr Karl, der starke Held:
„Was soll der eitle Schimmer?
Das beste Kleinod dieser Welt,
Das fehlet uns noch immer.
Dies Kleinod, hell wie Sonnenschein,
Ein Riese trägt's im Schilde sein,
Tief im Ardenncnwalde."
Graf Richard, Erzbischof Turpin,
Herr Heimon, NaimS von Bayern,
Milon von Anglant, Graf Garin,
Die wollten da nicht feiern.
Sic haben Stahlgcwand begehrt
Und hießen satteln ihre Pferd',
Zu reiten nach dem Riesen.
Jung Roland, Sohn des Milon,
sprach:
„Lieb Vater! hört, ich bitte!
Vermeint ihr mich zu jung und schwach,
Daß ich mit Riesen stritte,
Doch bin ich nicht zu winzig mehr,
Euch nachzutragen euren Speer
Sammt eurem guten Schilde."
Schildträger.
Die sechs Genossen ritten bald
Vereint nach den Ardennen,
Doch als sie kamen in den Wald,
Da thäten sie sich trennen.
Roland ritt hinterm Vater her;
Wie wohl ihm war, des Helden Speer,
Des Helden Schild zu tragen!
Bei Sonnenschein und Mondenlicht
Streiften die kühnen Degen,
Doch fanden sie den Riesen nicht
In Felsen und Gehegen.
Zur Mittagsstund' am vierten Tag
Der Herzog Milon schlafen lag
In einer Eiche Schatten.
Roland sah in der Ferne bald
Ein Blitzen und ein Leuchten,
Davon die Strahlen in dem Wald
Die Hirsch' und Reh' aufscheuchten;
Er sah, cs kam von einem Schild,
Den trug ein Riese groß und wild,
Vom Berge nicdersteigend.
Roland gedacht im Herzen sein:
„Was ist das für ein Schrecken!
Soll ich den lieben Vater mein
Im besten Schlaf erwecken?
Es wachet ja sein gutes Pferd,
Es wacht sein Speer, sein Schild und
Schwert,
Es wacht Roland, der junge."
130
Roland das Schwert zur Seile band,
Herrn Milon's starke Waffen:
Die Lanze nahm er in die Hand
Und that den Schild aufraffen;
Herrn Milon's Roß bestieg er dann
Und ritt ganz sachte durch den Tann,
Den Vater nicht zu wecken.
Und als er kam zur Felsenwand,
Da sprach der Ries' mit Lachen:
„Was will doch dieser kleine Fant
Auf solchem Rosse machen?
Sein Schwert ist zwier so lang als er,
Vom Rosse zieht ihn schier der Speer,
Der Schild will ihn erdrücken."
Jung Roland rief: „Wohlauf zum
Streit!
Dich reuet noch dein Necken;
Hab' ich die Tartsche lang und breit,
Kann sie mich besser decken;
Ein kleiner Mann, ein großes Pferd,
Ein kurzer Arm, ein langes Schwert,
Muß eins dem andern helfen."
Der Riese mit der Stange schlug
Auslangend in die Weite,
'Jung Roland schwenkte schnell genug
Sein Roß noch auf die Seite.
Die Lanz' er auf den Riesen schwang,
Doch von dem Wunderschilde sprang
Auf Roland sie zurücke.
Jung Roland nahm in großer Hast
Das Schwert in beide Hände;
Der Riese nach dem seinen faßt',
Er war zu unbehcnde;
Mit flinkem Hiebe schlug Roland
Ihm unterm Schild die linke Hand,
Daß Hand und Schild entrollten.
Dem Riesen schwand der Muth dahin,
Wie ihm der Schild entrissen;
Das Kleinod, das ihm Kraft verliehn,
Mußt' er mit Schmerzen missen.
Zwar lief er gleich dem Schilde nach,
Doch Roland in das Knie ihn stach,
Daß er zu Boden stürzte.
Roland ihn bei den Haaren griff,
Hieb ihm das Haupt herunter,
Ein großer Strom von Blute lief
Ins tiefe Thal hinunter;
Und aus des Todten Schild hernach
Roland das lichte Kleinod brach
Und freute sich am Glanze.
Dann barg er's unterm Kleide gut
Und gieng zu einer Quelle,
Da wusch er sich von Staub und Blut
Gewand und Waffen helle.
Zurücke ritt der jung' Roland
Dahin, wo er den Vater fand
Noch schlafend bei der Eiche.
Er legt' sich an des Vaters Seit',
Vom Schlafe selbst bezwungen,
Bis in der kühlen Abendzeit
Herr Milon aufgesprungen:
„Wach' auf, wach' auf, mein Sohn
Roland!
Nimm Schild und Lanze schnell zur
Hand,
Daß wir den Riesen suchen!"
Sie stiegen auf und eilten sehr,
Zu schweifen in die Wilde;
Roland ritt hinterm Vater her
Mit dessen Speer und Schilde.
Sie kamen bald zu jener Statt',
Wo Roland jüngst gestritten hatt';
Der Riese lag im Blute.
Roland kaum seinen Augen glaubt',
Als nicht mehr war zu schauen
Die linke Hand, dazu das Haupt,
So er ihm abgehauen,
Nicht mehr des Riesen Schwert und
Speer,
Auch nicht sein Schild und Harnisch
mehr,
Nur Rumpf und blut'ge Glieder.
Milon besah den großen Rumpf:
„Was ist das für 'ne Leiche?
Man sieht noch am zerhau'nen Stumpf,
Wie mächtig war die Eiche.
Das ist der Riese, frag' ich mehr?
Verschlafen hab' ich Sieg und Ehr',
Drum muß ich ewig trauern." —
131
Zn Aachen vor dem Schlosse stund ; Der Graf Gariu that ferne schon
Der König Karl gar bange: Den Schild des Riesen schwingen.
5ind meine Helden wohl gesund?
Sie weilen allzu lange.
Doch seh' ich recht, auf Königswort!
So reitet Herzog Heimon dort,
Des Riesen Haupt am Speere."
Herr Heimon ritt mit trübem Muth,
Und mit gesenktem Spieße
Legt' er das Haupt, besprengt mit Blut,
Dem König vor die Füße:
„Ich fand den Kopf im wilden Hag,
Und fünfzig Schritte weiter lag
Des Riesen Rumpf am Boden."
Bald auch der Erzbischof Turpin
Den Riesenhandschuh brachte,
Die ungefüge Hand noch drin;
Er zog sie aus und lachte:
„Das ist ein schön Reliquienstück!
Ich bring' es aus dem Wald zurück,
Fand es schon zugehauen."
Der Herzog Naims von Bayerland
Kam mit des Riesen Stange:
„Schaut an, was ich im-Walde fand!
Ein Waffen stark und lange.
Wohl schwitz' ich von dem schweren Druck.
Hei! bayrisch Bier, ein guter Schluck,
Soll mir gar köstlich munden!"
Graf Richard kam zu Fuß daher,
Gieng neben seinem Pferde,
Das trug des Riesen schwere Wehr,
„Der hat den Schild, des ist die Krön',
Der wird das Kleinod bringen!"
„Den Schild hab' ich, ihr lieben Herrn!
Das Kleinod hätt' ich gar zu gern,
Doch das ist ausgcbrochen!"
Zuletzt that man Herrn Milon sehn,
Der nach dem Schlosse lenkte;
Er ließ das Rößlein langsam gehn,
Das Haupt er traurig senkte.
Roland ritt hinterm Vater her
Und trug ihm seinen starken Speer
Zusammt dem festen Schilde.
Doch wie sie kamen vor das Schloß
Und zu den Herrn geritten,
Macht er vom Vaters Schilde los
Den Zierrath in der Mitten;
Das Riesenklcinod setzt er ein,
Das gab so wunderklaren Schein,
Als wie die liebe Sonne.
Und als nun diese helle Glut
.Im Schilde Milon'S brannte,
Da rief der König frohgemuth:
„Heil Milon von Anglante!
Der hat den Riesen übermannt,
Ihm abgeschlagen Haupt und Hand,
Das Kleinod ihm entrissen."
Herr Milon hatte sich gewandt,
Sah staunend all' die Helle:
„Roland, sag' an, du junger Fant!
Den Harnisch sammt dem Schwerte: Wer gab dir das, Geselle?"
„Wer suchen will im wilden Tann, „Um Gott, Herr Vater! zürnt mir nicht,
Manch Waffenstück noch finden kann, Daß ich erschlug den groben Wicht,
Ist mir zuviel gewesen." Derweil ihr eben schliefet!"
L uhland.
102. Ter eiserne Karl.
Zur Zeit als König Karl den Lombardenkönig Desiderius befeindete,
lebte an des Letzteren Hofe Ogger, ein edler Franke, der vor Karls Un-
gnade das Land hatte räumen müssen. Wie nun die Nachricht erscholl,
Karl rücke mit Hecresmacht heran, standen Desiderius und Ogger auf
einem hohen Turm, von dessen Gipfel man weit und breit in das Reich
schauen konnte. Das Gepäck rückte in Haufen an. „Ist Karl unter diesem
großen Heer?" frug König Desiderius. „Noch nicht!" versetzte Ogger.
Nun kam der Landsturm des ganzen fränkischen Reichs: „Hierunter befindet
sich Karl aber gewiß", sagte Desiderius bestimmt. Ogger antwortete:
132
„Noch nicht, noch nicht!" Da tobte der König und sagte: „Was sollen
wir anfangen, wenn noch mehrere mit ihm kommen?" „Wie er kommen
wird", antwortete jener, „wirst dn gewahr werden; was mit uns geschehe,
weiß ich nicht." Unter diesen Reden zeigte sich ein neuer Troß. Erstaunt
sagte Desiderius: „Darunter ist doch Karl?" „„Immer noch nicht", sprach
Ogger. Nächstdem erblickte man Bischöfe, Äbte, Kapellane mit ihrer
Geistlichkeit. Außer sich stöhnte Desiderius: „O laß uns niedersteigen und
uns bergen in der Erde vor dem Angesichte dieses grausamen Feindes."
Da erinnerte sich Ogger der herrlichen, unvergleichlichen Macht des Königs
Karl aus bessern Zeiten her und brach in die Worte aus: „Wenn du
die Saat auf den Feldern wirst starren sehen, den eisernen Po und Tissino
mit dunkeln eisenschwarzen Meereswellen die Stadtmauern überschwemmen,
dann gewarte, daß Karl kommt." Kaum war dies ausgeredet, als sich
im Westen eine finstere Wolke zeigte, die den Hellen Tag beschattete.
Dann sah man den eisernen Karl in einem Eisenhelm, in eisernen Schienen,
eisernem Panzer um die breite Brust, eine Eisenstange in der Linken hoch
aufreckend. In der Rechten hielt er den Stahl, der Schild war ganz aus
Eisen, und auch sein Roß schien eisern an Muth und Farbe. Alle, die
ihm vorausgiengen, zur Seite waren und ihm nachfolgten, ja das ganze
Heer schien auf gleiche Weise ausgerüstet. Einen schnellen Blick darauf
werfend, rief Ogger: „Hier hast du den, nachdem du so viel frügest", und
stürzte halb entseelt zu Boden. Brüder Grimm.
108. Die Weser.
Ich kenne einen deutschen Strom,
Der ist mir lieb und werth vor allen.
Umwölbt von ernster Eichen Dom,
Umgrünt von kühlen Buchenhallen.
Ihn hat nicht, wie den großen Rhein,
Der Alpe dunkler Geist beschworen,
Ihn hat der friedliche Verein
Verwandter Ströme still geboren. —
So taucht die Weser kindlich auf
Von Hügeln traulich eingeschlosicn,
Und kommt in träumerischem Lauf
Durch grüne Au'n herabgeflosicn;
So windet sie mit leisem Fuß
Zum deutschen Meere sich hernieder
Und spiegelt mit geschwätz'gcm Gruß
Der Ufer sanften Frieden wieder. —
Doch hat sie in der Zeiten Flug
Auch manche große Mär erfahren,
Und ihre stille Woge trug
Biel Herrliches in fernen Jahren.
Sie sah in ihrer Wälder Schoß
Des Adlers Sicgerflügel wanken —
llnb vor der deutschen Arme Stoß
Der ew'gen Roma Säulen schwanken. —
Und als mit fester Eisenhand
Held Karl das deutsche Scepter führte,
Da war es, wo im Weserland
Sich manche Stimme mächtig rührte,
Da hörte man des Kreuzes Ruf
Mit hellem Klang an den Gestaden,
Und sah der Frankenrosse Huf
Sich in den nord'schen Wellen baden.
So meldet sie dir manchen Traum
Aus ihrer Vorzeit grauen Tagen
Und sieht dabei des Lebens Baum
Stets frisch an ihren Ufern ragen.
Es glänzen in der lichten Flut
Der Klöster und der Burgen Trümmer,
Des Mondes und der Sonne Glut,
Der Türme und der Segel Schimmer.
Und meerwärts durch ihr Felsenthor,
Durch ihre wechselnden Gefilde
Strömt sie die Wellen leicht hervor,
Wie jugendliche Traumgebilde;
In ihren Tiefen klar und rein
Hörst du es seltsam wehn und rauschen
Und kannst bei stillem Abendschein
Der Nixe Wundcrlied belauschen.
F. Dingelstedt.
133
104. Ter westfälische Hosschulze.
Im Hofe zwischen den Scheuern und Wirtschaftsgebäuden stand mit
aufgekrempten Hemdsärmeln der alte Hofschulze und schaute achtsam in ein
Feuer, welches, zwischen Steinen und Kloben am Boden entzündet, lustig
flackerte. Er rückte einen Ambos, der daneben stand, zurecht, legte sich
Hammer und Zange zum Griffe bereit, prüfte die Spitzen einiger großen
Radnägel, die er aus dem Bruststücke des vorgebundenen Schurzfells zog,
legte die Nägel auf das Bodenbrett des Leiterwagens, dessen Räder er
ausbessern wollte, und drehte die Stelle des Rades, von welcher ein Stück
Schiene abgebrochen war, vorsichtig nach oben, worauf er durch untergeschobene
Steine das Rad in seiner Stellung befestigte.
Nachdem er wieder ein paar Augenblicke in das Feuer gesehen hatte,
ohne daß seine hellen und scharfen Augen davon zu blinzeln begannen, fuhr
er rasch mit der Zange hinein, hob das rothglühcnde Eisen heraus, legte
es auf den Ambos, schwang den Hammer darüber, daß die Funken sprühten,
schlug das noch immer glutröthliche um das Rad, da, wo die Schiene
fehlte, schlug und schweißte cs mit zwei gewaltigen Schlägen fest und trieb
dann die Nägel, welche es in seiner weichen Dehnbarkeit noch immer leicht
hindurchließ, an ihre Plätze.
Einige der stärksten und heftigsten Schläge gaben dem eingefügten
Stücke das letzte Geschick. Der Schulze stieß mit dem Fuße die vor das
Rad gelegten Steine hinweg, faßte den Wagen bei der Stange, um das
geflickte Rad zu prüfen, und zog ihn ungeachtet seiner Schwere ohne An-
strengung quer über den Hof, sodaß die Hühner, Gänse und Enten, welche
sich ruhig gesonnt hatten, mit großem Geschrei vor dem rasselnden Wagen
entflohen und ein paar Schweine aus ihrem eingewühlten Lager grunzend
auffuhren.
Zwei Männer, von denen der eine ein Pferdehändler, der andere ein
Rendant oder Receptor war, hatten, unter der großen Linde vor dem Wohn-
hause fitzend und ihren Trunk verzehrend, der Arbeit des alten rüstigen
Mannes zugesehen. »Das muß wahr sein", rief jetzt der Pferdehändler,
»Ihr hättet einen tüchtigen Schmied abgegeben, Hofschulze!"
Der Hofschulze wusch in einem Stalleimer voll Wasser, welcher neben
dem kleinen Ambos stand, sich Hände und Gesicht, goß dann das Feuer
aus und sagte: »Ein Narr, der dem Schmied gibt, was er selber ver-
dienen kann." Er nahm den Ambos auf, als sei er eine Feder, und trug
ihn nebst Hammer und Zange unter einen kleinen Schuppen zwischen Wohn-
haus und Scheuer, in welchem Hobelbank, Säge, Stemmeisen und was
sonst zum Zimmer- und Schrcinergcwerk gehört, bei Holz und Brettern
mancher Art stand, lag oder hieng.
Indem der Alte sich unter dem Schuppen noch zu schaffen machte,
sagte der Pferdehändler zu dem Receptor: »Wollen Sie glauben, daß der
auch alle Pfosten, Thüren und Schwellen, Kisten und Kasten im Hause mit
eigner Hand flickt, oder, wenn das Glück gut ist, auch neu zuschneidet? Ich
meine, wenn er wollte, könnte er auch einen Kunstschreiner vorstellen und
würde einen richtigen Schrank zu Wege bringen."
»Da seid ihr im Irrthum", sprach der Hofschulze, der das Letzte gehört
134
hatte und, das Schurzfell jetzt abgethan, im weißleincnen Kittel aus dem
Schuppen trat. Er setzte sich zu den beiden Männern an den Tisch, eine
Magd brachte ihm auch ein Glas, er that seinen Gästen Bescheid und fuhr
dann fort: „Zu einem Pfosten, zu einer Thür und Schwelle gehören nur ein
Paar gesunde Augen und eine firme Faust; aber ein Schreiner braucht mehr.
Ich habe mich einmal vom Hochmuth verleiten lassen und wollte, wie Ihr
es nennt, einen richtigen Schrank zu Wege bringen, weil mir Hobel und
Meißel und Reißschiene auch bei dem Zimmergewerk durch die Hände ge-
gangen waren. Ich maß und zeichnete und schnitt die Hölzer zu, auf Fuß
und Zoll hatte ich alles abgepaßt; aber als es nun an das Zusammen-
fügen und Leimen gehen sollte, war alles verkehrt. Die Wände standen
windschief und klafften, die Klappe, vorn war zu groß und die Kasten für
die Öffnungen zu klein. Ihr könnt das Gemächt noch sehen, ich habe es
auf der Diele stehen lassen, mich vor Versuchung künftig zu wahren; denn
es thut dem Menschen immer gut, wenn er eine Erinnerung an seine
Schwachheit immer vor Augen hat."
In diesem Augenblicke ließ sich ein lustiges Wiehern ans dem Pserdc-
stalle gegenüber vernehmen. Der Pferdehändler räusperte sich, spuckte aus,
schlug sich Feuer an, blies dem Receptor eine starke Dampfwolke in das
Gesicht, sah sehnsüchtig nach dem Stalle und dann gedankenvoll vor sich
nieder. Hierauf spuckte er noch einmal aus, nahm den lackirtcn Hut vom
Kopfe, strich mit dem Arme über die Stirn und sagte: „Noch immer eine
schwüle Witterung." — Dann schnallte er seine lederne Geldkatze vom Leibe,
warf sie mit Getöse ans den Tisch, daß der Inhalt klang und klirrte, lösetc
die Riemen und zählte zwanzig blanke Goldstücke hin, bei deren Anblick die
Augen des Receptors zu funkeln anfiengen, und nach denen der alte Hof-
schulze gar nicht hinsah. „Hier ist das Geld!" rief der Pferdehändler, die
Faust geballt auf den Tisch stemmend, „krieg' ich die braune Stute dafür?
Sie ist, weiß Gott, nicht einen Heller mehr werth."
„Dann behaltet euer Geld, damit ihr nicht zu Schaden kommt", ver-
setzte der Hofschnlze kaltblütig. „Scchsundzwanzig, wie ich gesagt habe und
keinen Stüber darunter. Ihr kennt mich nun die Jahre her, Herr Marx,
und solltet daher wissen, daß das Dingen und Feilschen bei mir nicht ver-
schlägt, weil ich nie von meiner Sprache abgehe. Ich begehre, was mir
eine Sache werth ist, und schlage niemals vor. Es konnte ein Posaunen-
engel vom Himmel dahergefahren kommen, er kriegt die Braune nicht unter
sechsundzwanzig."
„Aber Sackerlot", schrie der Pferdehändler erbost, „ans Fordern und
Bieten besteht doch der Handel, und meinen eignen Bruder überfrage ich,
und wenn kein Vorschlagen mehr in der Welt ist, so hört alles Geschäft auf!"
„Im Gegentheil", erwiderte der Hofschulzc, „das Geschäft kostet dann
weit weniger Zeit und ist schon um deshalb profitlicher; aber auch außerdem
haben beide Theile von einem Handel ohne Vorschlagen vielen Nutzen. Ich
habe es immer erlebt, daß, wenn vorgeschlagen wird, sich die Natur erhitzt
und zuletzt niemand mehr recht weiß, was er redet oder thut. Ist aber
gar keine Rede vom Ablassen, dann bleiben beide schön ruhig und wahren
sich vor Schaden."
„Da ihr so vernünftig redet, so werdet ihr meinen Antrag jetzt besser
>
135
erwogen haben", hob der Receptor an. „Wie gesagt, die Regierung will
alle Korngefällc der Höfe in hiesiger Gegend in Geld umwandeln. Sie
hat allein den Schaden davon, denn Korn bleibt Korn, aber Geld ist heute
so viel und morgen so viel werth; indessen ist cs nun einmal ihr Wille,
um der Last des Aufspeicherns quitt zu werden. Ihr thut mir also den
Gefallen und unterschreibt diese neue, auf Geld lautende Urkunde, die ich
zu diesem Behufe schon mitgebracht habe."
„Durchaus nicht", antwortete der Hofschulze eifrig; „es ist ein Glaube
hier im Lande, daß, wer seinem Hofe eine Last auflegt, dafür zur Strafe
nach dem Tode auf seinem Hofe umgehen muß. Ich weiß nicht, wie es
damit beschaffen ist, aber das weiß ich: vom Oberhofe sind seit vielen hundert
Jahren nur Körner an die Gotteszelle gegeben worden, und damit wolle
sich also das Rentamt begnügen, wie das Stift sich damit begnügt hat.
Wächst Geld ans meinem Acker? Rein! Körn wächst darauf, deshalb muß
alles beim alten bleiben!"
Er gieng in sein Hans. — „Das ist ein alter Racker!" rief der Pferde-
händler, als er seinen Hausfreund nicht mehr sah, indem er den lackirttn
Hut verdrießlich wieder "auf den Kopf stülpte. „Wenn der nicht will, so
bringt ihn der Teufel nicht herum. Das Schlimmste ist, daß der Kerl die
besten Pferde in der Gegend zieht und sie im Grunde, so zu sagen, billig
genug losschlägt."
„Ein starres, widerhaarigcs Volk hier zu Laude!" sagte der Receptor;
,.ich bin erst vor kurzem aus Sachsen her versetzt und merke den Abstand.
Dort wohnen die Leute beisammen, und deshalb müssen sie schon höflich
und nachgiebig und bethnlich mit einander sein. Aber hier sitzt jeder auf
seinem Kampe, hat sein Holz, sein Feld, seinen Wicsenwuchs um sich, als
gäbe es sonst nichts in der Welt. Darum halten sie auch so steif auf ihre
alten Schnurren und Faxen, die doch anderwärts überall abgekommen sind.
Was für Mühe habe ich schon mit den andern Bauern wegen der dummen
Umschreibereicn gehabt, aber dieser hier ist der schlimmste."
„Das kommt daher, Herr Receptor, weil er so reich ist", bemerkte
der Pferdehändler; „mich wundert, daß Sie es mit den andern in der
Baucrschaft ohne ihn durchgesetzt haben; denn der hier ist der General und
Advocat und alles. Sie richten sich in jeglicher Sache nach ihm, er bückt
sich vor keinem." „Woher hat er cs denn?" fragte der Receptor. ,,O!"
rief der Pferdehändler, „wenn Sie dort durch das Eichholz hindurch sind,
gehen Sie eine geschlagene halbe Glockenstnnde durch seine Felder. Und
alles bestellt, daß es nur so eine Art hat. Ich bin mit meiner Koppel
vorgestern durch den Roggen und Weizen geritten, und ich will nicht ehrlich
sein, wenn was anderes als die Köpfe von den Pferden über die Ähren
hinübersahen.
„Das Erdreich ist von uralter Zeit zusammengeblieben. Und sparsam
und fleißig ist der Nichtsnutz von jeher gewesen, das muß man ihm lassen.
Sic sahen ja, wie er sich abäscherte, nur um dem Schmiede die paar
Groschen Verdienst zu nehmen. Und blicken Sic nur um sich; ist cs denn
hier nicht, als ob man bei einem Grafen wäre?"
Während der letzten Reden hatte der verdrießliche Pferdehändler sachte
in die Geldkatze gegriffen und den zwanzig Goldstücken, gleichgültig thuend,
136
noch sechs hinzugefügt. Der Hofschulze trat wieder in die Thür, und der
andere sagte brummend, ohne ihn anzusehen: „Da liegen die sechsundzwanzig,
weil es einmal nicht anders sein soll."
Der alte Bauer lächelte schalkhast und sprach: „Ich wußte wohl, daß
ihr das Pferd kaufen wurdet, Herr Marx; denn ihr sucht für den Ritt-
meister zu Unna eins zu dreißig Pistolen, und mein Brännchen paßt euch
dazu wie bestellt. Ich gieng auch nur in das Haus, um die Goldwage zu
holen und konnte vorher sehen, daß ihr euch unterdessen besonnen haben
würdet."
Der Alte, welcher in seinen Bewegungen bald etwas ungemein rasches,
bald wieder die größte Bedächtigkeit zeigte, je nachdem das Geschäft war,
was er trieb, setzte sich an den Tisch, wischte langsam und sorgfältig seine
Brille ab, spannte sie über die Nase und fleug an, die Goldstücke genau zu
wägen. Zwei oder drei musterte er als zu leicht aus, worüber der Pferde-
händler ein heftiges Gezeter erhob, welchem der Hofschulze schweigend und
kaltblütig, die Wage in der Hand behaltend, zuhörte, bis der andere statt
der verworfenen Münzen vollwichtige hervorholte. Endlich war die Sache
beendigt, der Verkäufer packte bedächtig das Geld in ein Papier und gieng
mit dem Pferdehändler nach dem Stalle, um ihm das Pferd zu überliefern.
Der Receptor wartete die Rückkunft der beiden nicht ab. „Mit solchem
Klotz ist nichts anzufangen", sagte er, „aber wenn du uns nur nicht so
ordentlich auf die Termine bezahltest, wir wollten dich!" — Er fühlte nach
seinen urkundlichen Papieren in der Tasche, merkte an dem Knittern, daß
sie noch darin seien und schlich vom Hofe.
Aus dem Stalle traten der Roßkamm, der Schulze und ein Knecht,
welcher zwei Pferde, das des Roßkammes und die erkaufte braune Stute,
hinter sich herführte. Der alte Schulze sagte, indem er die letztere zum
Abschiede streichelte: „Es thut einem immer leid, wenn mau eine Creatur,
die man aufzog, losschlägt, aber wer kann dawider?" — „Nun, halte dich
brav, Brännchen!" rief er und gab dem Thiere einen heftigen Schlag auf
die runden, glänzenden Schenkel.
Der Pferdehändler war mittlerweile aufgestiegen und sah mit seiner
langen Figur, der kurzen Schoßjacke und dem breitkrempigen lackirteu Hute,
mit seinen erbsengelben Hosen über den dürren Lenden und den hochhinauf-
reichenden, ledernen Gamaschen, mit seinen Pfnndsporen und seiner Peitsche
wie ein Wegelagerer ans. Er ritt, ohne Lebewohl zu sagen, fluchend und
wetternd davon,- die Braune am Leitzaume nachziehend. Keinen Blick wandte
er nach dem Gehöfte zurück; die Braune dahingegen drehte mehreremale
den Hals um und wieherte wehmüthig, als wollte sie klagen, daß ihre gute
Zeit nun vorüber sei. Der HofschulA blieb, die Arme in die Seite ge-
stemmt, mit dem Knechte stehen, bis der Zug durch den Baumgarten ver-
schwunden war. Dann sagte der Knecht: „Das Vieh grämt sich." „Warum
sollte es nicht?" erwiderte der Hofschulze, „grämen wir uns doch auch.
Komm auf den Futterboden, wir wollen Hafer messen!"
K. L. 3 nun ermann.
137
105. Wie Kaiser Karl Lchnlvisitation hält.
Als Kaiser Karl zur Schule kam und wollte visitieren,
Da prüft' er scharf das kleine Volk, ihr Schreiben, Buchstabieren,
Ihr Vaterunser, Einmaleins, und was man lehrte mehr;
Zum Schluffe rief die Majestät die Schüler um sich her.
Gleichwie der Hirte schied er da die Böcke von den Schafen,
Zu seiner Rechten hieß er stehn die Fleißigen und Braven;
Da stand im groben Leinwandkleid manch' schlichtes Bürgerkind,
Manch' Söhnlein eines armen Knechts von Kaisers Hofgesind'.
Dann rief er mit gestrengem Blick die Faulen her, die Böcke,
Und wies sie mit erhob'ner Hand zur Linken in die Ecke;
Da stand im pelzverbrämten Rock manch' feiner Herrensohn,
Manch' ungezog'nes Mutterkind, manch' junger Reichsbaron.
Da sprach nach rechts der Kaiser mild: „Habt Dank, ihr frommen Knaben,
Ihr sollt an mir den gnäd'gen Herrn, den güt'gen Vater haben.
Und ob ihr armer Leute Kind und Knechtesöhne seid,
Än meinem Reiche gilt der Mann und nicht des Mannes Kleid."
Dann blitzt sein Blick zur Linken hin, wie Donner klang sein Tadel:
„Ihr Taugenichtse, bessert euch! ihr schändet euren Adel;
Ihr seid'nen Püppchen, trotzet nicht auf euer Milchgesicht!
Ich frage nach des Manns Verdienst, nach seinem Namen nicht."
Da sah man manches Kinderaug' in frohem Glanze leuchten
Und manches stumm zu Boden sehn und manches still sich feuchten.
Und als man aus der Schule kam, da wurde viel erzählt,
Wen heute Kaiser Karl gelobt, und wen er ausgeschmält.
Und wie's der große Kaiser hielt, so soll man's allzeit halten
Äm Schulhaus mit dem kleinen Volk, im Staate mit den Alten.
Den Platz nach Kunst und nicht nach Gunst, den Stand nach dem Verstand,
So steht es in der Schule wohl und gut im Vaterland. Ger°r.
106. Die Pfirsiche.
Ein Landmann brachte ans der Stadt fünf Pfirsiche mit, die schönsten,
die man sehen konnte. Seine Kinder aber sahen diese Frucht zum ersten-
mal, deshalb wunderten und freuten sie sich sehr über die schönen Äpfel
mit den röthlichcn Backen und zartem Flaume. Darauf vertheilte sie der
Bater unter seine vier Knaben, und eine erhielt die Mutter.
Am Abend, als die Kinder in das Schlafkämmerlein giengen, fragte
der Vater: „Nun, wie haben euch die schönen Äpfel geschmeckt?"
„Herrlich, lieber Vater", sagte der älteste. „Es ist eine schöne Frucht,
sv säuberlich und so sanft von Geschmack. Ich habe mir den Stein sorg-
>am bewahrt und will mir daraus einen Baum erziehen."
, , „Brav!" sagte der Vater, „das heißt haushälterisch auch für die Zu-
mnft gesorgt, wie cs dem Landmann geziemt!"
„Ich habe die weinige sogleich aufgegessen", rief der jüngste, „und den
Stein fortgeworfen, und die Mutter hat mir die Hälfte von der ihrigen
gegeben. O, das schmeckte so süß und zerschmilzt einem im Mund."
„Nun", sagte der Vater, „du hast zwar nicht sehr klug, aber doch
natürlich und nach kindlicher Weise gehandelt. Für die Klugheit ist auch
noch Raum genug im Leben."
Da begann der zweite Sohn: „Ich habe den Stein, den der kleine
Bruder fortwarf, gesammelt und aufgeklopft. Es war ein Kern darin,
der schmeckte so süß wie eine Nuß. Aber meine Pfirsich hab' ich verkauft
und so viel Geld dafür erhalten, daß ich, wenn ich nach der Stadt komme,
wohl zwölfe dafür kaufen kann."
Der Vater schüttelte den Kopf und sagte: „Klug ist das wohl, aber
— kindlich wenigstens und natürlich war es nicht. Bewahre dich der
Himmel, daß du kein Kaufmann werdest!"
„Und du, Edmund?" fragte der Vater. — Unbefangen und offen
antwortete Edmund: „Ich habe meine Pfirsich dem Sohn unseres Nach-
bars, dem kranken Georg, der das Fieber hat, gebracht. Er wollte sie
nicht nehmen. Da hab' ich sie ihm auf das Bett gelegt und bin hinweg-
gegangen."
„Nun!" sagte der Vater, „wer hat denn wohl den besten Gebrauch
von seiner Pfirsich gemacht?"
Da riefen sie alle drei: „Das hat Bruder Edmund gethan!"—
Edmund aber schwieg still. Und die Mutter umarmte ihn mit einer
Thräne im Auge. Fr. 9t. Krummacher.
107. Der Wanderer in der Sägemühle.
Dort unten in der Mühle
Saß ich in süßer Ruh
Und sah dem Räderspiele
Und sah den Wassern zu.
Sah zu der blanken Säge,
Es war mir wie ein Traum,
Die bahnte lange Wege
In einen Tannenbaum.
Die Tanne war wie lebend,
In Trauermelodie,
Durch alle Fasern bebend,
Sang diese Worte sic:
Du kehrst zur rechten Stunde,
O Wanderer, hier ein,
Du bist's, für den die Wunde
Mir dringt ins Herz hinein.
Du bist's, für den wird werden,
Wenn kurz gewandert du,
Dies Holz im Schoß der Erden,
Ein Schrein zur langen Ruh.
Vier Bretter sah ich fallen,
Mir ward's ums Herze schwer,
Ein Wörtlein wollt' ich lallen,
Da gieng das Rad nicht mehr.
I. Kerner.
108. Schneewittchen.
Eine Märchen-Scene.
(Zwergenwirtschast. Links ein- Thür zur Schlaskammer der Zwerge: im Hintergrund eine Thür- und
Fensteröffnung. Von außen Wald und Sonnenschein. Drinnen steht ein kleiner Tisch mit sieben Schüsseln).
Die sieben Zwerge
(kommen singend nach einander herein mit Kräuter-
säcken aus dem Nacken, werfen die Säcke in den
Winkel, treten an den Tisch und stutzen).
Zwergenältester.
Wer hat auf meinem Stühlchen sessen?
Zweiter Zwerg.
Wer hat von meinem Tellerlein essen?
139
Dritter Zwerg.
Wer hat von meinem Müschen pappt?
Vierter Zwerg.
Wer hat mit meinem Gablern zutappt?
Fünfter Zwerg.
Wer hat aus meinem Becherlein trunken?
Sechster Zwerg.
Wer hat mein Löfflein eingetunken?
Siebenter Zwerg
(schaut in die Nebenkammer).
Wer drückt' in meinem Bett das
Dällchen?
Zwergenältester.
Wer rückt' an meinem Schlafgestellchen?
Zweiter Zwerg.
Wer schlief auf meinem Lagerstättchen?
Dritter Zwerg.
O weh! liegt einer in meinem Bettchen!
Vierter Zwerg.
Ein Mägdelein!
Fünfter und sechster Zwerg.
Laß schaun, laß sehn!
Siebenter Zwerg.
Ei Gott! wie ist das Kind so schön!
Ältester.
O weckt sie nicht! o schreckt sie nicht!
Geschlossen ist der Äuglein Licht,
Hinabgerollt die Locken dicht;
Über des Mieders blanke Seide
Gefaltet fromm die Hände beide.
Zweiter Zwerg.
Wer mag sie sein? wo kam sie her?
Der Wald wächst in die Kreuz und Qner.
Dritter Zwerg.
Wie fand das liebe Tausendschön
Den Weg durch Dorn und Moor und
Seen?
Vierter Zwerg.
Ist alles so gar lieb und fein,
So rosenroth, schneeweiß und rein!
. Ältester.
Bis sie erwacht, bleibt mäuschcnsacht,
Das helle Glöcklein nehmt in acht,
Bleibt ruhig in den Schühlein stehn,
Laßt leis das Zünglein ummegehn!
Vierter Zwerg.
Schau, schau! die Wimper regte sich.
Fünfter Zwerg.
Das Mündlein roth bewegte sich.
Sechster Zwerg.
Das blonde Köpfchen reckt sich auf,
Zwei blaue Äuglein schlägt sie auf.
Siebenter Zwerg.
Sie schaut sich um ein stummes Weilchen.
Ältester.
Schweigt nun, ihr Mühlchen, ihr
Plappermäulchen!
Erschreckt sie nicht, geht fein bei Seit'!
Sie sah wohl Zwerglein nicht bis heut.
Schneewittchen
(erscheint scheu an der Thür).
Ältester.
Ei, grau dich nicht, tritt nur herein;
Du sollst uns fein willkommen sein,
Willkommen in der Zwerge Hüttchen!
Doch sprich, wie heißt du denn?
Schneewittchen.
Schneewittchen!
So hat die Mutter mich genannt.
Mein Vater ist König über dies Land.
Ältester.
Schneewittchen, Königstöchterlein,
Wo ließest du die Pagen dein?
Wo ließest du die Wagen und Rosse?
Wie kamst du von des Königs Schlosse?
Schneewittchen.
Ach, ich bin kommen arm und bloß!
Mütterlein schläft in Grabes Schoß;
Der König freite die zweite Frau;
Die schlug mich oft und schalt mich rauh;
Schickte mich dann mit dem Jäger zu
Walde,
Sollte mich tobten auf Berges Halde,
140
Und der Königin als Zeichen
Sollt' er mein blutend Herze reichen;
Doch ich bat ihn so lange, so lang
auf den Knien —
Da schoß er den Eber und ließ mich
» fliehn.
Ältester.
Schneewittchen, Königstöchterlein,
Wie fandst du den Weg und Steg allein?
Wer zeigte dir die sieben Berge?
Wie kamst du in das Reich der Zwerge?
Schneewittchen.
Sprangen zwei Rehlein mir voran,
Sahn mit den blauen Augen mich an;
Saßen im Walde die Vöglein zu Haus,
Schwangen zwei Vöglein sich vor mir
auf;
Am Himmel zog ein Stern vor mir —
Und wie ich folgte, so bin ich hier.
Ältester.
Schneewittchen, Königstöchterlein,
Schlag auf die blauen Äugelein,
Laß springen dein Herzlein wohlgemuth;
Sollst bleiben hier in unsrer Hut,
Im grünen Reich der sieben Berge.
Schneewittchen.
Wie kann ich euch danken, ihr guten
Zwerge?
Ältester.
Kannst die Wirtschaft uns versehen,
Wenn wir tags in die Berge gehen;
Unsern Haushalt kannst du führen.
Schneewittchen.
O wie will ich mich tummeln und
rühren!
Bin wohl behend in allen Stücken;
Sprecht nur, was soll ich imnier be-
schicken? *
Ältester.
Morgens im Dämmerschein
Fegst du das Kämmerlein,
Bahnest die Stühlchen,
Lockerst die Pfühlchen,
Schüttelst zurechte die Schlafestättchen.
Zweiter Zwerg.
Und für dich selber das weichste Bettchen.
Ältester.
Gehn wir zu Walde, hlltst du das
Stübchen,
Deckest das Tischchen, kochest die
Süppchen.
Dritter Zwerg.
Doch von den Süppchen und von den
Speischen
Das schönste für dich, Prinzeß Schnee-
weißchen!
Vierter Zwerg.
Schau nur, die Dornen 'zerrissen mein
Röcklein.
Fitnster Zwerg.
Streiften mir ab von dem Käppchen
das Glöcklein.
Ältester.
Besserst das Röcklein,
Heftest das Glöcklein,
Setzest auf Jäckchen
Saubere Fleckchen;
Doch in das Hitttchen —
Bist du allein —
Läßt du, Schneewittchen,
Niemand herein!
Schneewittchen.
Aber die Rehe, die süßen Rehe!
Wenn ich sie morgens durchs Fensterlein
Draußen im goldenen Sonnenschein
Springen und spielen und nahen sehe?
Ältester.
Rehlein stehn in hohen Gnaden,
Sind gar tapfre Kameraden,
Kannst sie immer zu Gaste laden.
Schneewittchen.
Aber die Vögel, die bunten Flämmchen,
Stieglitz mit dem rothen Kämmchen,
Ammer niit dem goldenen Latz,
Und der Staar, der possierliche Matz,
Und vor den andern Vögeln allen
Die süßen Sänger, die Nachtigallen!
141
Wenn sie draußen durch die Zweiglem
Schauen mit den klugen Äuglein,
Wenn sie dann mählich näher schlüpfen,
Neugierig auf die Schwelle hüpfen?
Ältester.
Vöglein stehen in hohen Gnaden,
Sind gar lust'ge Kameraden,
Darfst sie immer zu Gaste laden.
Schneewittchen.
Aber die Sonne, der himmlische Schein!
Wenn sie morgens ins Fensterlein
Durch die grünen funkelnden Blätter
Sendet das goldene Sommerwetter?
lind abends, wandert die Sonne von
dannen,
Der Mond steigt über die schwarzen
Tannen!
Der wohnt am Himmel allein nicht gern,
Bringt mit sich alle die tausend Stern';
Mond und Sonne und Sternelein
Schauen alle zu mir herein,
Wie ich die Wirtschaft mag treiben
und leiten —,
Sie kennen mich alle seit langen Zeiten.
Ältester.
Rehlein laß um dich spielen und springen,
Böglein flattern und schmettern und
singen,
Laß Mond- und Sonnenschein herein;
Nur vor den Menschen hüte dich fein.
(Zu den Anderen:)
Nun kommt, ihr wackern Brüderlein,
Drei Gänge fürder noch waldein!
Dreimal noch füllt mit weichem Moos
Die Säcklein aus des Waldes Schoß,
Und richtet fein in unserm Hüttchen
Ein achtes Bettchen für Schneewittchen.
Die sieben Zwerge
(gehen singend ab).
„Da ging die Katz die tripp die trapp,
Da schlug die Thür die klipp die klapp,
Frau Füchsin, sind sie da?
Ach ja, mein Kätzchen, ja!"
Schneewittchen
(allein).
Morgens im Dämmerschcin
Feg' ich das Kämmerlein,
Bohne die Stühlchen,
Lockre die Pfühlchcn,
Mache die Bettchen,
Die Schlummerstättchen,
Nähe das Röcklein,
Hefte das Glöcklein,
Setz auf die Jäckchen
Saubere Fleckchen;
Rehlein und Vögelein,
Alle die Thierelein,
Flattern durchs Fensterlein,
Schlüpfen zur Thür herein;
Sonne und Mondenschein,
Sternlein, die hellen,
Sind alle meine Spielgesellen.
Th. Storni.
109. Der Rosenstrauch zu Hildesheim.
Als Ludwig der Froinmc des Winters in der Gegend von Hildcsheiin
jagte, verlor er sein mit Heiligthum gefülltes Kreuz, das ihm vor allem
lieb war. Er sandte seine Diener aus, um es zu suchen; und gelobte, an
dem Orte, wo sie es finden würden, eine Kapelle zu bauen. Die Diener
verfolgten die Spur der gestrigen Jagd auf dem Schnee und sahen bald
aus der Ferne mitten im Wald einen grünen Rasen, und darauf einen
grünenden wilden Rosenstrauch. Als sie ihm näher kamen, hieng das ver-
lorne Kreuz daran; sie nahmen es und berichteten dem Kaiser, wo sie es
gefunden. Alsobald befahl Ludwig, auf der Stätte eine Kapelle zu er-
bauen und den Altar dahin zu setzen, wo der Rosenstock stand. Dieses
geschah, und bis auf diese Zeiten grünt und blüht der Strauch und wird
von einem eigens dazu bestellten Manne gepflegt. Er hat mit seinen
Ästen und Zweigen die Rundung des Domes bis zum Dache umzogen.
Brüder Grimm (Deutsche Sagen).
142
110. Dornröschen.
Vor Zeiten mar ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag:
„Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!" und kriegten immer keins. Da
trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus
dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach: „Dein Wunsch soll erfüllt
werden; ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen."
Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein
Mädchen, das war so schön, daß der König vor Freude sich nicht zu lassen
wußte und ein großes Fest anstellte. Er ladete nicht bloß seine Verwandte,
Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit
sic dem Kinde hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in
seinem Reiche; weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen
sie essen sollten, so mußte eine von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward
mit aller Pracht gefeiert, und als cs zu Ende war, beschenkten die weisen
Frauen das Kind mit ihren Wnndergaben: die eine mit Tugend, die andere
mit Schönheit, die dritte mit Reichthum, und so mit allem, was ans der
Welt nur zu wünschen ist. Als elf ihre Sprüche eben gethan hatten,
trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, daß sie
nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief
sie mit lauter Stimme: „Die Königstochter soll. sich in ihrem fünfzehnten
Jahr an einer Spindel stechen und todt hinfallen." Und ohne ein Wort
weiter zu sprechen, kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren
erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch,übrig hatte,
und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern
konnte, so sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundert-
jähriger, tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt."
Der König, der sein liebes Kind vor so großem Unglück gern bewahren
wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß die Spindeln im ganzen Königreich
sollten verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die Gaben der
weisen Frauen sämmtlich erfüllt; denn es war so schön, sittsam, freundlich
und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es
geschah, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt ward, der
König und die Königin nicht zu Hause waren, und das Mädchen ganz allein
im Schlosse zurückblieb. Da gieng es aller Orten herum, besah Stuben
und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten
Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf und gelangte zu einer
kleinen Thür. In dem Schlosse steckte ein verrosteter Schlüssel, und als
es umdrehte, sprang die Thür auf, und saß da in einem kleinen Stübchen
eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs. „Guten
Tag, du altes Mütterchen", sprach die Königstochter, „was machst du da?"
„Ich spinne", sagte die Alte und nickte mit dem Kopf. „Was ist das für
ein Ding, das so lustig herumspringt?" sprach das Mädchen, nahm die
Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel an-
gerührt, so gieng der Zaubcrspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit
in den Finger. In dem Augenblicke aber, wo sie den Stich empfand, fiel
sie auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf.
Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der König und
143
die Königin, die eben heimgekommen und in den. Saal getreten waren,
sanken nieder und schliefen ein und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da
schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf
dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde
flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln,
und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den
Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich,
und auf den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die
jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und darüber
hinauswuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne
auf dem Dach. Es gicng aber die Sage in dem Land von dem schönen,
schkafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, also daß
von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloß
dringen wollten. Es war aber alle Mühe vergeblich, denn die Dornen,
als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben
darin hängen, konnten sich nicht wieder los machen und starben eines jämmer-
lichen Todes. Rach langen, langen Jahren kam wieder einmal ein Königs-
sohn in das Land und hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke
erzählte, es sollte ein Schloß dahinter stehen, in welchem eine wunderschöne
Königstochter, Dornröschen genannt, schon seit hundert Jahren schliefe, und
mit ihr schliefe der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er
wußte auch von feinem Großvater, daß schon viele Königssöhnc gekommen
wären und versucht hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie
wären darin hängen geblieben und eines traurigen Todes gestorben. Da
sprach der Jüngling: „Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und daS
schöne Dornröschen sehen." Der gute Alte ricth ihm ab, aber er hörte
nicht auf seine Worte.
Nun waren gerade die hundert Jahren verflossen, und der Tag war
gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn
sich der Hecke näherte, waren es lauter große, schöne Blumen, die thaten
sich von selbst aus einander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter
ihm thaten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. Im Schlvßhof sah
er die Pferde und die scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen; auf dem
Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt.
Und als er ins Hans kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch
in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den Jungen anpacken, und
die Magd saß vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden. Da
gieng er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen,
und oben bei dem Throne lag der König und die Königin. Da gicng er
noch weiter, und alles war so still, daß einer seinen Athem hören konnte,
und endlich kam er zu dem Turm und öffnete die Thür zu der kleinen
Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag cs und war so schön, daß
er die Augen nicht abwenden konnte, und er konnte es auch nicht lassen,
bückte sich und gab ihn, einen Kuß. Kaum hatte er es mit dem Kuß be-
rührt, so schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz
freundlich an. Da gicngen sie zusammen herab, und der König erwachte
und die Königin und der ganze Hofstaat und sahen einander mit großen
144
Augen an. Und die Pferde im Hofe standen auf und rüttelten sich; die
Jagdhunde sprangen und wedelten; die Tauben auf dem Dache zogen das
Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld; die
Fliegen an den Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob sich,
flackerte und kochte das Essen, der Braten fleug wieder an zu brutzeln,
und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, daß er schrie; und die Magd
rupfte das Huhu fertig. Und da ward die Hochzeit des Königssohnes mit
dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an
ihr Ende. Brüder Grimm.
111. Heidenröslein.
1. Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgeuschön.
Lief er schnell, es nah' zu sehn,
Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
2. Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!»
Röslein sprach: „Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will's nicht leiden."
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
3. Und der wilde Knabe brach
'S Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihr doch kein Weh und Ach,
Mußt' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
W. v. Goethe.
112. Bon dem Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt.
Es ist ein Bäumlein gestanden im
Wald,
In gutem und schlechtem Wetter,
Das hat von unten bis oben halt
Nur Nadeln gehabt statt Blätter;
Die Nadeln, die haben gestochen,
Das Bäumlein, das hat gesprochen:
Alle meine Kameraden
Haben schöne Blätter an,
Und ich habe nur Nadeln,
Niemand rührt mich an;
Dürft' ich wünschen, wie ich wollt',
Wünscht' ich mir Blätter von lauter Gold.
Wie's Nacht ist, schläft das Bäum-
lein ein,
Und früh ist's aufgewacht;
Da hatt' cs goldene Blätter fein,
Das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht: Nun bin ich stolz,
Goldne Blätter hat kein Baum im Holz.
Aber wie es Abend ward,
Gieng der Jude durch den Wald,
Mit großem Sack und großem Bart,
Der sieht die gold'nen Blätter bald;
Er steckt sie ein, geht eilends fort
Und läßt das leere Bäumlein dort.
Das Bäumlein spricht mit Grämen:
Die gold'nen Blättlein dauern mich;
Ich muß vor den andern mich schämen,
Sie tragen so schönes Laub an sich;
Dürft' ich mir wünschen noch etwas,
Sowünscht'ichmirBlättcrvonhellemGlas.
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
Und früh ist's wieder aufgewacht;
Da hatt' es glasene Blätter fein,
Das war eine Pracht!
Das Bäunilein spricht: Nun bin ich froh,
Kein Baum im Walde glitzert so.
Da kam ein großer Wirbelwind
Mit einem argen Wetter,
Der fährt durch alle Bäume geschwind
Und kommt an die glasenen Blätter;
Da lagen die Blätter von Glase
Zerbrochen in dem Grase.
145
Das Bäumlein spricht mit Trauern:
Mein Glas liegt in dem Staub,
Die andern Bäume dauern
Mit ihrem grünen Laub;
Wenn ich mir noch was wünschen soll,
Wünsch' ich mir grüne Blätter wol.
Da schlief das Bäumlein wieder ein,
Und wieder früh ist's aufgewacht,
Da hatt' es grüne Blätter fein;
Das Bäumlein lacht,
Und spricht: Nun hab ich doch Blätter auch,
Daß ich mich nicht zu schämen brauch'.
Da kommt mit vollem Euter
Die alte Geiß gesprungen;
Sie sucht sich Gras und Kräuter
Für ihre Jungen;
Sie sieht das Laub und fragt nicht viel,
Sie frißt es ab mit Stumpf und Stiel.
Da war das Bäumlein wieder leer;
Es sprach nun zu sich selber:
Ich begehre nun keiner Blätter mehr,
Weder grüner,' noch rother, noch gelber!
Hätt' ich nur meine Nadeln,
Ich wollte sie nicht tadeln.
Und traurig schlief das Bäumlein ein,
Und traurig ist cs aufgewacht;
Da besieht es sich im Sonnenschein
Und lacht und lacht!
Alle Bäume lachen's aus,
Das Bäumlein macht sich aber nichts
draus.
Warum hat's Bäumlein denn gelacht,
Und warum denn seine Kameraden?
Es hat bekommen in einer Nacht
Wieder alle seine Nadeln,
Daß jedermann es sehen kann;
Geh 'naus, sieh's selbst, doch rühr's
nicht an.
Warum denn nicht?
Weil's sticht. Friedr. RLckert.
113. Lied von den grünen Sommervöglein.
1. Es kamen grüne Bögelein
Geflogen her vom Himmel
Und setzten sich im Sonnenschein
In fröhlichem Gewimmel
All' an des Baumes Äste
Und saßen da so feste,
Als ob sie angewachsen sei'n.
2. Sie schaukelten in Lüften lau
Auf ihren schwanken Zweigen;
Sic aßen Licht und tranken Thau
Und wollten auch nicht schweigen;
Sie sangen leise, leise
Auf ihre stille Weise
Von Sonnenschein und Himmelblau.
3. Wenn Wetternacht auf Wolken saß,
So schwirrten sie erschrocken;
Sie wurden von dem Regen naß
Und wurden wieder trocken;
Die Tropfen rannen nieder
Vom grünenden Gefieder,
Und desto grüner wurde das.
4. Da kam am Tag der scharfe Strahl,
Ihr grünes Kleid zu sengen,
Und nächtlich kam der Frost einmal,
Mit Reif es zu besprengen.
Die armen Böglein froren,
Ihr Frohsinn war verloren,
Ihr grünes Kleid war bunt und fahl.
5. Da trat ein starker Mann zum Baum
Und hub an, ihn zu schütteln,
Vom obern bis zum untern Raum
I Mit Schauer zu durchrütteln:
Die bunten Böglein girrten
Und aus einander schwirrten,
Wohin sie flogen, weiß man kaum.
Friedr Rückert,
114. Sprichwörtliche Redensarten.
1. Sein Schäfchen aufs Trockene bringen. 2. Fünf gerade sein
lassen. 3. Den Bock zum Gärtner machen. 4. Mit der Thüre ins
Haus fallen. 5. Die Pferde hinter den Wagen spannen. 6. Einem ein
10
146
I
£ für ein U machen. 7. Öl ins Feuer gießen. 8. Vom Regen unter die
Traufe kommen. 9. Nicht auf einen grünen Zweig kommen. 10. Wasser
mit einem Siebe schöpfen. 11. Einen Mohren weiß waschen wollen.
12. Jemand ein Dorn im Auge sein. 13. Zwei Fliegen mit einer
Klappe schlagen. 14. In den Wind reden. 15. Sich etwas hinters Ohr
schreiben. 16. Zwischen Thür und Angel stecken. 17. Die Nase hoch
tragen. 18. Leeres Stroh dreschen. 19. Um den Brei herum gehen.
20. In ein Wespennest greifen. 21. Jemand den Brotkorb höher hängen.
22. Nach jemandes Pfeife tanzen. 23. Mit der Wurst nach dem Schinken
werfen. 24. Den Mantel nach dem Winde hängen. 25. Das fünfte
Rad am Wagen sein. 26. Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen.
27. Haare auf den Zähnen haben. 28. In einen sauren Apfel beißen.
29. Aus der Hand in den Mund leben. 30. Das Hasenpanier ergreifen.
31. Vom Pferde auf den Esel kommen. 32. Im Trüben fischen. 33. Das
Gras wachsen hören. 34. Aus der Noth eine Tugend machen. 35. Die
Katze im Sacke kaufen. 36. Wider den Strom schwimmen. 37. Einem
das Wort aus dem Munde nehmen. 38. Jemand bei der Nase herum-
führen. 39. Tauben Ohren predigen. 40. Die Rechnung ohne den Wirt
machen. 41. Arm wie eine Kirchenmaus sein. 42. Jemand Sand in
die Augen streuen. 43. Jemand über die Achsel ansehen. 44. Durch die
Blume reden. 45. Mit einem blauen Auge davon kommen. 46. Die
Hände in den. Schoß legen. 47. Etwas auf die lange Bank schieben.
48. Etwas in den Schornstein schreiben. 49. Jemand klaren Wein ein-
schenken. 50. Eine Sache übers Knie brechen. 51. Brief und Siegel
geben. 52. Mit dem Kopfe durch die Wand rennen. 53. Jemand den
Stuhl vor die Thür setzen. 54. Lange Finger machen. 55. Kein Blatt
vor den Mund nehmen. 56. Etwas auf dem Korne haben. 57. Aus
einer Mücke einen Elephanten machen. 58. Den Kopf aus der Schlinge
ziehen. 59. Den Kopf verlieren. 60. Den Nagel auf den Kopf treffen.
115. Sprichwörterdeutungen.
1. Erst wieg’s, dann wag’s.
Frisch gewagt ist wohl halb gewonnen, kann aber auch leicht
halb — oder seihst ganz verloren sein. Ohne vorherige Überlegung
blind drein zu stürzen, kann möglicherweise ganz gut ablaufen,
wird’s aber nicht immer. Besser ist’s: man überlegt, erwägt, wiegt
die Sache vorher, ob sie die Kräfte nicht weit übersteigt und oh
eine Möglichkeit des Gelingens vorhanden. Und dann frisch ange-
packt und nicht schläfrig. Mit dem Wiegen und Erwägen ist’s
freilich auch so eine Sache. Mancher kommt vor lauter Rath zu
keiner That, vor lauter Überlegung nicht zum Handeln. Und bis
er all seine grossen, mittleren, kleinen und kleinsten Bedenklichkeiten
bedacht und abermals bedacht hat, ist’s schon lange zu spät für
die Ausführung. Also vergiss nicht über dem Wagen das Wiegen,
aber auch nicht über dem Wiegen das Wagen.
I
147
2. Gleich und Gleich gesellt sjch gern.
Das gilt von gut und bös. Sage mir, mit wem du umgehst,
so will ich dir sagen, wer du bist. Ja, dein guter Freund kann
dein ärgster Feind sein, wenn er dir auch weiter nichts zu leide
thut — wenn er aber ein schlechter Mensch ist; denn die andern
Leute sehen dich auch dann gar leicht als einen solchen an, ohne
dass du einer sein magst — bloss deines Umganges wegen. Des-
halb gib dich nicht mit jedermann ab. Wer gar sehr viel gescheiter
oder gar sehr viel dümmer ist als du, der wird zu deiner Gesell-
schaft nicht passen. Wer sehr viel mangelhafter oder sehr viel
tugendhafter — doch ja, den letzten den such' auf; und will er
sich zu dir gesellen, nun denn, in Gottes Namen.
3. Sprichwort — wahr Wort.
Jedoch nur für den, der es recht versteht. Man muss die
W ahrheit heraus zu finden wissen, und die wahre, rechte Anwendung
auch. Dann aber trifft’s den Nagel auf den Kopf, besser als stunden-
lange Reden. Sprichwörter werden von Kaisern und Bettlern an-
gewendet, von Hochgelehrten und Ungebildeten — und sie stehen
jedem, freilich immer vorausgesetzt, dass jeder sie versteht. Sprich-
wörter sind oft der Entscheid von Streit und Händeln, die letzten
Trümpfe, die Zusammenfassung und Besiegelung von vielem Vorher-
gegangenen. Den rechten Augenblick der Anwendung freilich muss
man selbst finden, aber in diesem, rechten Augenblick ist sicherlich
ein Sprichwort — ein wahr Wort. k. Ensim.
116. Macht des Gebets.
Das Schiff „Cornelia" befand sich ans einer Reife im Weltmeere
und war bereits weit von der amerikanischen Küste entfernt, als ein Heftiger
Sturm losbrach, der fünf Tage lang anhielt und das Schiff in eine solche
Gefahr brachte, daß die Mannschaft sich fast für^verloren ansah. Gerade
als das Unwetter am wütheudsten tobte und das Schiff wie einen Spielball
haushoch hinauf- und hinabschleuderte, kam oben das Takelwerk am Haupt-
mast in Unordnung, und der Schaden mußte zurechtgebracht werden. Doch
in dem Tumult des Sturmwindes auf den Mast zu klettern, schien fast
unmöglich; es war ein Wagestück auf Leben und Tod. Der Steuermann
befahl kurzweg einem Schiffsjungen, er solle hinauf. Der war ein junger,
zarter Bursche, kaum dreizehn Jahre alt. das einzige Kind einer armen
Witwe, welche ihr Liebstes hatte in die Welt gehen lassen, weil sie selber
kaum satt zu essen hatte.
Als der Junge den Befehl vom Steuermann empfangen, hob er seine
Mütze auf, blickte hinauf nach der Spitze des Mastes und wieder hinab
in die schäumenden Wellen, die wie mit Ruthen gepeitscht übers Verdeck
schlugen und nach ihm die Wasserarme ausstreckten; und dann sah er den
Steuermann an. Er schwieg einen Augenblick; darauf sagte er: Ich komme
gleich! — Und er sprang übers Verdeck fort in die Kajüte. Eine Minute
10*
148
I
vergieng, dann kehrte er zurück, und nun gieng's die Strickleiter hinauf,
flink und entschlossen.
Der Mann, welcher diese Geschichte erzählt hat, stand unten am Maste,
und seine Blicke folgten dem Kinde, bis ihm schwindelte. Er fragte den
Steuermann: Warum schickst du den hinauf? Er kommt nicht lebendig her-
unter! — Der Steuermann antwortete: Männer fallen, Jungen stehn.
Der klettert wie 'ne Eichkatze!
Der andere sah wieder hinauf; noch stand der Junge! Jetzt hieng er
ani Mastkorb; jetzt stieg er weiter. Der Sturm raste und tauchte den
Mast in die Flut ein; der Junge hielt sich. — In einer Viertelstunde
war er unten, wohlbehalten und frisch, und lachte fröhlich. — Gott sei ge-
dankt! rief jener; vor Angst hatte das Herz ihm stille gestanden.
Denselben Tag noch suchte er den Jungen zu sprechen. Er fragte
ihn, ob ihm nicht bange gewesen sei. Ja, sagte der Junge. — Ich merkte
es wohl, sagte der andere; du hast es dir auch erst in der Kajüte bedacht.
— Bedacht nicht, sprach jener; ich wollte erst beten. Ich dachte, herunter
komme ich nicht wieder lebendig; da habe ich beten gemußt. Hmiach war
ich nicht bange. — Der Mann fragte ihn, wo er das Beten gelernt habe.
— Wie ich noch zu Hause war, sagte der Junge; die Mutter hat es mich
gelehrt. Als ich fortgieng, sagte sie, ich solle es immer thun, damit Gott
mich vor Gefahren bewahre, und ich kann es auch nicht lassen.
Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause.
117. Der Änckuk.
Der Kuckuk sprach mit einem Staar,
Der aus der Stadt entflohen war.
„ Was spricht man", ficng er an zu schreien,
„Was spricht mau in der Stadt von
unsern Melodeien?
Was spricht man von der Nachtigal?" —
„Die ganze Stadt lobt ihre Lieder." —
„Und von der Lerche?" rief er wieder. —
„Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme
Schall." —
„Und von der Amsel?" fuhr er fort.
„Auch diese lobt man hier und dort." —
„Ich muß dich doch noch etwas fragen:
Was", rief er, „spricht man denn von
mir?" —
„Das", sprach der Staar, „das weiß
ich nicht zu sagen;
Denn keine Seele spricht von dir." —
„So will ich", fuhr er fort, „mich an
dem Undank rächen
Und ewig von mir selber sprechen."
C. F. Kellert.
118. Der Blinde und der Lahme.
Bon ungefähr muß einen Blinden ! Dann wird dein starker Fuß mein Bein,
Ein Lahmer auf der Straße finden; Mein helles Auge deines sein."
Sogleich hofft jener freudenvoll, Der Lahme hängt mit seinen Krücken
Daß ihn der andre leiten soll. Sich auf des Blinden breiten Rücken.
„Dir",sprichtderLahmc, „bcizustehen? Vereint wirkt jetzo dieses Paar,
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen; Was einzeln keinem möglich war.
Doch scheint's, daß du zu einer Last ! Du hast das nicht, was andre haben,
Roch sehr gesunde Schultern hast. ! Und diesen fehlen deine Gaben.
Entschließe dich, mich fortzutragen, ! Aus dieser Unvollkommenheit
So will ich dir die Wege sagen: ! Entspringet die Geselligkeit.
C. F. Geliert.
I
149
119. Tie Geschichte von Goliath und David.
(In Reime
War einst ein Riese Goliath,
Gar ein gefährlich Mann!
Er hatte Tressen auf dem Hut
Mit einem Klunker dran,
Und einen Rock von Golde schwer,
Wer zählt die Dinge alle her!
Auf seinen Schnurrbart sah man nur
Mit Gräsen und mit Graus,
Und dabei sah er von Natur
Gar wild und grimmig aus.
Sein Sarras war, man glaubt es kaum,
So groß schier als ein Weberbaum.
Er hatte Knochen wie ein Gaul
Und eine freche Stirn
Und ein entsetzlich großes Maul
Und nur ein kleines Hirn;
Gab jedem einen Rippenstoß
Und flunkerte und prahlte groß.
So kam er alle Tage her,
Und sprach Israel Hohn.
„Wer ist der Mann? Wer wagk's mit
mir?
gebracht.)
Sei's Vater oder Sohn,
Er komme her, der Lumpenhund,
Ich box'n nieder auf den Grund."
Da kam in seinem Schäferrock
! Ein Jüngling zart und fein;
Cr hatte nichts als seinen Stock
Als Schleuder und den Stein,
Und sprach: „Du hast viel Stolz und
Wehr,
Ich komm' im Namen Gottes her."
Und damit schleudert' er auf ihn,
Und traf die Stirne gar;
Da fiel der große Esel hin,
So lang und dick er war.
Und David haut' in guter Ruh'
Ihm nun den Kopf noch ab dazu.
Trau nicht auf deinen Tressenhut,
Noch auf den Klunker dran!
Ein großes Maul es auch nicht thut:
Das lern' vom langen Mann;
Und von dem kleinen lerne wohl:
Wie man mit Ehren fechten soll.
Matth. Claudias.
120. Koma Heinrich I. der Stadtcerbaner.
(911—936.)
_ Die Sage erzählt, daß der fromme, mächtige Herzog Heinrich von
wachsen, als die Gesandten der Fürsten ihm die Botschaft von seiner Wahl
zum König gebracht hätten, gerade beim Vogelfang beschäftigt gewesen sei.
Daher hat man ihm den Beinamen der Finkler oder Vogelsteller ge-
geben. Aber er verdiente wohl eher noch der Große zu heißen. Denn dieser
Heinrich I., mit dem nun die Reihe der Kaiser aus dem Stamme der
Sachsen beginnt, war ein gar trefflicher Herrscher. Er wußte die trotzigen
deutschen Herzöge zum Gehorsam zu zwingen. Dann galt es, die äußeren
Feinde zu bekämpfen, vor allen die schrecklichen Ungarn. Aber dazu war
Heinrichs Macht anfänglich noch zu gering; er mußte das Volk zuerst zu
dem schweren Kampfe tüchtig machen. Daher schloß er zunächst einen
neunjährigen Waffenstillstand mit den Ungarn, den er freilich mit einem
jährlichen Zins an die Feinde bezahlen mußte. Allein nun hatte er doch
für's erste Ruhe vor ihren plündernden Einfällen. Und diese Zeit der
Ruhe benutzte er aufs beste. Es fehlte damals in Deutschland noch an
festen Plätzen. Die Orte lagen offen da, ohne Mauern, ohne Gräben,
niemand konnte beim Eindringen der Feinde seine Habe in Sicherheit
bringen. Daher legte Heinrich jetzt befestigte Städte an; man nannte sie
150
Burgen und ihre Einwohner Bürger. Aber es hielt schwer, Leute zu
finden, die in diesen Städten wohnen mochten, denn die Deutschen liebten
von Alters her das Wohnen auf dem Lande und sagten: „Sollen wir uns
ins, Gefängnis setzen? Die Städte mit ihren engen Mauern sind nichts
anderes als Gefängnisse." Da befahl Heinrich, die Leute sollten losen,
und jeder neunte Mann vom Lande sollte in die Stadt ziehen. In der
Stadt aber wurde ein Theil des Ertrages der Felder in Vorrathskammern
aufbewahrt und dem Landmanne in Kricgszeiten eine sichere Zuflucht
gewährt.
Allmählich blühten diese Städte empor. Die Bürger, welche im Kriege
die Waffen zu führen hatten, trieben im Frieden Handel und allerlei Ge-
werbe, und so fanden sie hinter ihren Stadtmauern nicht nur Schutz vor
Gefahr, sondern gelangten auch nach und nach zu erhöhtem Wohlstände.
Heinrich aber wollte sein Land nicht bloß durch Festungen vor den
Räubereien der Ungarn schützen; er wollte den wilden Feinden auch eine
wohlgerüstete Kriegsmacht entgegenstellen. Daher verbesserte er das Heer-
wesen und übte seine Scharen aufs eifrigste in den Waffen. Namentlich
schuf er eine tüchtige Reiterei. Denn gerade durch ihre raschen Pferde
waren die Ungarn am meisten gefährlich. Nachdem sich Heinrich so auf
den Krieg vorbereitet hatte, zog er, ehe noch der Waffenstillstand mit den
Ungarn abgelaufen war, zuerst gegen die S l a v e n aus. Mitten im Winter
rückte er über das Eis gegen ihre Hauptstadt Brenn ab or (jetzt Bran-
denburg) au der Havel heran und eroberte sie sammt dem umliegenden
Lande. Dann gieng er auf die Normannen los, besiegte sie und nahm
ihnen das Land Schleswig weg.
151
Jetzt gedachte Heinrich, es auch mit den gefürchteten Ungarn auf-
zunehmen. Der neunjährige Waffenstillstand war zu Ende. Da^ kamen
ungarische Gesandte und forderten wieder den alten Zins. Aber Heinrich
wies sie zurück. Ja, man erzählt, er habe ihnen einen räudigen, an Schwanz
und Ohren verstümmelten Hund reichen lassen, um die Übermüthigen recht
zu verhöhnen. Alsbald brachen nun die Feinde in zahlloser Menge, gleich
einem Heuschreckenschwarmc alles verheerend, ins Land ein. Aber cs gicng
nicht mehr wie früher. Die Bauern konnten jetzt ihr Vieh und ihre son-
stigen Habseligkeiten in die ummauerten Städte flüchten, wo die Ungarn
nicht einzudringen vermochten. König Heinrich aber sammelte seine muthigen
Krieger um sich und ermunterte sie zur Schlacht. „Gedenket des Elends",
rief er, „das die wilden Feinde über euch gebracht; gedenket daran, wie
sie eure Hütten verbrannt, eure Habe geraubt, eure Frauen und Kinder
gemordet, eure Kirchen und Altäre zerstört haben. Krieger! der Tag der
Vergeltung ist gekommen. Seid Männer und betet zu dem dort oben, der
Hülfe sendet in der Stunde der Noth!" Und Gott sandte Hülfe. Nicht
weit von der Stadt Merseburg in Sachsen kam es zur Schlacht. Der
König selbst führte seine Scharen zum Kampfe; vor ihm flatterte die große
Reichsfahnc mit dem Bilde des Erzengels Michael. Und als nun das
wohlbewaffnete, stattliche Heer gegen die Raubhorden losstürmte, da war
der Sieg bald entschieden. So schnell sie konnten, ergriffen die erschrocke-
uen Feinde die Flucht. Aber Heinrich war rasch hinter ihnen her und
ließ alle, welche Widerstand leisteten, niederhauen, die Gefangenen aber als
Räuber und Mörder an den Bäumen aufknüpfen.
Das Lager der Ungarn sammt allem Raube, den sie dort zusam-
mengeschleppt hatten, fiel in die Hände der Deutschen. Da sank der fromme
Heinrich sammt seinem ganzen Heere auf die Knie und dankte Gott. für
lstn herrlichen Sieg. Das deutsche Volk aber frohlockte und pries seinen
König als Retter und Vater des Vaterlandes. Und durch alle Lande ver-
breitete sich der Ruf von Heinrichs Tugend und Tapferkeit. Denn er
">ar cs, der Deutschland aus schwerer Bedrängnis wieder aufgerichtet und
zu Macht und Ehren gebracht hatte. «nfcrä
121. Heinrich der Vogelsteller.
Herr Heinrich sitzt am Vogelhcrd
Recht froh und wohlgemuth;
Aus tausend Perlen blinkt und blitzt,
Der Morgenröthe Glut.
In Wies' und Feld, in Wald und Au',
Horch, welch' ein süßer Schall!
Der Lerche Sang, der Wachtel Schlag,
Die süße Nachtigall
Herr Heinrich schaut so fröhlich drein:
„Wie schön ist heut' die Welt!
Wasgilt's, heut gibt's 'ncngutenFang!"
Er lugt zum Himmelszelt.
Er lauscht und streicht sich von der Stirn
Das blondgelockte Haar;
„Ei doch! was sprengt denn dort herauf
Für eine Reiterschar?"
Der Staub wallt auf; der Hufschlag
dröhnt;
Es-naht der Waffen Klang;
„Daß Gott! die Herr'n verderben mir
Den ganzen Vogelfang!
Ei nun, was gibt's?" — Es hält
der Troß
Vorm Herzog plötzlich an;
152
Herr Heinrich tritt hervor und spricht:
„Wen sucht ihr da, sagt an!"
Da schwenken sie die Fähnlein bunt
Und jauchzen: »Unsern Herrn!
Hoch lebe Kaiser Heinrich! hoch
Des Sachsenlandes Stern!"
Dies rufend, knien sie vor ihm hin
Und huldigen ihm still
122. Der J>
Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch da droben?
Wohl den Meister will ich loben,
So lang' noch mein' Stimm' erschallt.
Lebe wohl,
Lebe wohl, du schöner Wald!
Tief die Welt verworren schallt,
Oben einsam Rehe grasen,
Und wir ziehen fort und blasen,
Daß es tausendfach verhallt!
Lebe wohl,
Lebe wohl, du schöner Wald!
Und rufen, als er staunend fragt:
„'S ist deutschen Reiches Will'!"
Da blickt Herr Heinrich tief bewegt
Hinauf zum Himmelszelt:
„Du gabst mir einen guten Fang,
Herr Gott, wie dir's gefällt!"
fl. N. Vogl,
ger Abschied.
Banner, der so kühle wallt,
Unter deinen grünen Wogen
Hast du treu uns auferzogen!
Frommer Sagen Aufenthalt.
Lebe wohl,
Lebe wohl, du schöner Wald!
Was wir still gelobt im Wald,
Wollen's draußen ehrlich halten,
Ewig bleiben treu die Alten!
Deutsch Panier, das rauschend wallt,
Lebe wohl,
Schirm' dich Gott, du schöner Wald!
Jos. v. Eichendorss.
123. Hie Bewohner der Marschen.
(Gekürzt.)
Der erfahrene und aufmerksame Beobachter unterscheidet
meistens sofort den Marschbewohner, namentlich den aus echtem
Friesenblute entsprossenen, von seinem Geestnachbar. Eine derbe,
breitschultrige, fleischige, oft stark ins Corpulente1) gehende Gestalt,
mehr gross als klein, Hände und Füsse stark und breit, das Haar
schlicht oder nur schwach gekräuselt und blond, der Bart röthlich
und nicht sehr dicht, das Auge hellblau oder grau und das geröthete
Gesicht von rundlichem Schnitte — das ist der rechte Friesentypus.
Der niedersächsische Geestmann ist dagegen durchgehends
magerer, schmächtiger und aufgeschossener, von kurzem Oberbau
und langen schmalen Beinen, wenn auch mitunter starkknochig und
sein Gesicht häufig von Schürfern und eckigem Umrissen. Da wo
die Geest an die Marsch grenzt, sind diese Gegensätze freilich noch
nicht sehr hervorstechend. — Fast noch bedeutender ist der Unter-
schied zwischen Geest und Marsch hinsichtlich des geistigen Cha-
rakters ihrer Bewohner. So ist der Geestmann leicht zu erregen,
gelehrig, erfinderisch und bei seinen Festen heiter bis zur lärmen-
den Lustigkeit. Ganz anders dagegen der friesische Marschbewohner.
!) corpulent, wohlbeleibt, click; die Corpulenz. die Wohlbeleibtheit.
153
Viel weniger empfänglich für äussere Eindrücke ist er fast nie
wahrhaft begeistert. Seine kaltblütige Ruhe und sein würdevoller
Ernst verlassen ihn nur äusserst selten. Alle Feste, Hochzeiten,
Jahrmärkte werden von ihm auffallend still begangen, so dass man
dieselben fast todt nennen kann. Darum ist sehr schwer auf ihn
einzuwirken, alte Gewohnheiten zu vernichten und neues bei ihm
einzuführen. Hat er aber einmal eine neue Sitte angenommen,
dann hält er daran mit viel grösserer Zähigkeit und Ausdauer fest
als der Geestmann. Selbstgefühl und Stolz sind hervorstechende
Züge im Charakter des Marschbewohners, namentlich des wohl-
habenden. Vor allem stolz ist der Marschbauer auf seine frucht-
bare Heimat, die er um keinen Preis mit einer andern vertauscht,
am allerwenigsten mit der nahen Geest, auf welche er nur mit
einer gewissen Verachtung und mit Bedauern herunter- oder viel-
mehr hinaufsieht. Äusserst charakteristisch ist daher die bekannte
Anekdote *) von jenem alten Marschbauer, wie er seinen reiselustigen
Sohn mahnend an die Hand nahm und ihn davon abzubringen suchte.
„Sü, Jung“, sprach er, „hier is de Marsch, un de ganze anner Welt
is man Geest. Wat wullt du dumme Jung nu in de Welt maken?“
Noch stolzer erscheint der reiche Marschbauer auf seinen Stand
als freier Grundbesitzer oder, wie es hier heisst, als Hausmann.
Diese angesehensten und ältesten Hausmannsfamilien vertreten den
in den meisten Marschen fehlenden Adel in ihrer Art völlig. Den
weniger Besitzenden,' den Köthner, pflegt der Marschbauer meist
nur über die Schulter anzublicken und ihn nicht anders zu nennen
als den „litten Mann“ (geringen Mann). Daher verbinden sich die
Hausmannsfamilien fast ausschliesslich mit Ebenbürtigen. — Mag
dieser Stolz des Marschbauers immerhin sehr zu tadeln sein, tausend-
mal jedoch wird man mit ihm versöhnt durch das mächtige und
wahre Ehrgefühl, das ihn begleitet. Eine Kränkung seiner Ehre,
und komme sie, von wem sie wolle, erfüllt ihn mit dem lebendigsten
und anhaltendsten Zorne. Eigentliche Verbrechen kommen daher
in den friesischen Marschen gar nicht vor. Gefängnissstrafe, und
sei sie auch noch so milde, hält der Marschbewohner für so
schmachvoll, dass er alles daran setzt, ihr zu entgehen; er würde
oft lieber Tausende geben, würde lieber fliehen und auswandern, als
im Gefängnisse sitzen. Auch das Soldatenleben sah man in den
Marschen lange als das bedauernswürdigste Dasein an, und wer
nur irgend konnte, suchte sich durch Auswandern, Vorschützen
leiblicher Fehler oder Stellvertretung davon zu befreien. Jene Ab-
neigung ist jedoch mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
sehr geschwunden, und schnell hat der gesunde Sinn des Volks
sich mit der neuen Einrichtung befreundet. Namentlich wirkte der
letzte grosse Kampf gegen den alten Erbfeind Deutschlands auch
in den Marschen kräftigend und erfrischend, und die Söhne derselben
sind wahrlich nicht die schlechtesten in den Reihen der Siegreichen
*) Anekdote, unterhaltendes Geschichtchen.
154
gewesen. Dem Friesenjüngling behagt indessen ein rüstiges Schiffer-
leben noch besser; hier ist er ganz in seinem Elemente. Mit dem
zähen hartnäckigen Charakter des Friesen hängt noch seine Process-
lust, seine Unversöhnlichkeit, die selbst mitunter in die kleinlichste
Rachsucht übergeht, zusammen. Streitsüchtig ist er nicht, allein
rechthaberisch bis zum Eigensinn. Sehr häufig geschieht es, dass
ganze Familien oft zeitlebens um geringer Sachen willen auf ge-
spanntem Fusse leben. — Hoch in Ehren wird fast überall das
Verhältnis der Nachbarschaft gehalten und höher als Freundschaft,
denn „en goden Naber is beter as en faren Fründ“ >), heisst das
überall beliebte Sprichwort, und der Landbewohner überhaupt ist
viel zu praktisch, um den Werth rascher Hülfsleistung in schleunigen
Fällen nicht hoch zu schätzen, wenn z. B. sein Pferd im Graben
sitzt oder Feuer in seinem Hause ausbricht, und wahrhaft wohl-
thuend ist es zu sehen, mit welcher uneigennützigen Bereitwilligkeit
jedesmal solche Hülfe geleistet wird. — Eine traurige Schattenseite
ist der gänzliche Mangel an Gemeinsinn, welcher in einigen Marsch-
gegenden herrscht und allen öffentlichen, gemeinsamen Verbesse-
rungen hemmend entgegentritt. Daher kommt denn der unglaublich
schlechte Zustand so vieler öffentlichen Anstalten und Dinge, wie
der Kirchen- und Schulgebäude, der Begräbnisplätze, der Wege
u. s. w., oft mit der Wohlhabenheit der Gegend und der Stattlichkeit
der Wohnungen im grellsten Contraste2). Als vor Jahren in den
oldenburgischen Marschen die schönen trockenen Fusswege von Dorf
zu Dorf angelegt wurden, deren noch heutiges Tages die hannoverschen
so schmerzlich entbehren müssen, fand diese so einleuchtende und
nothwendige Verbesserung dennoch bei manchen alten Hausleuten
den entschiedensten Widerstand, ja einige trieb wirklich ihr starrer
Eigensinn dahin, dass sie, nachdem die schönen Fusspfade vollendet
waren, lieber nebenher im fusstiefen Klei3) giengen, als den ver-
hassten Weg der Neuerung zu betreten. Zum Schluss dieser all-
gemeinen Charakterschilderung muss jedoch bemerkt werden, dass
man keineswegs die sämmtlichen Marschbewohner über einen und
denselben Kamm scheren darf. Wie jede einzelne Marsch in ihrem
ganzen äusseren Ansehen, in ihren Wohnungen, Sitten, Einrichtungen
u. s. w. ihre Eigenthümlichkeit hat, so findet dies auch in den
hervorstechenden geistigen und sittlichen Zügen ihrer Bewohner
statt. Ebenso verschieden ist der Culturzustand der Marschen.
Die Osterstader, Wührder, Wurster, Vierländer und namentlich die
Altländer Bauern haben ihre alte Einfachheit noch am meisten be-
wahrt, und selbst die allerreichsten liessen oft noch bis zu den
letzten Zeiten ihre Kinder selten anderswo als in ihren heimatlichen
Dorfschulen unterrichten; denn gegen den gebildeten oder soge-
nannten lateinischen Bauern waltet das entschiedenste Vorurtheil ob.
]) „Ein guter Nachbar ist besser als ein ferner Freund.“
2) Contrast, Gegensatz.
3) Der Klei, die fette thonige Erde der Marschen.
155
Wiederum hat hier der grosse Umschwung der letzten Jahre,
die Annexion1) der hannoverschen und Schleswig-holsteinischen
Marschen durch Preussen, namentlich das militärische Institut des
einjährig-freiwilligen Dienstes ausserordentlich segensreich auf die
Hebung der Intelligenz2) eingewirkt, und das Streben darnach wird
mit jedem Tage allgemeiner und lebendiger. Auch das Innere der
Häuser trägt in den eben erwähnten Bezirken nur selten Spuren
moderner Eleganz3), und die alten, braunen grossväterlichen Haus-
geräthe werden noch hoch in Ehren gehalten. Anders ist es im
Stedinger-, Stad- und Butjadingerland. Hier findet man in der
That elegante4) Wohnungen; hier sendet man die Söhne häufig auf
höhere Bürgerschulen, während die Töchter nach ihrer Confir-
mation ein Jahr in der Residenz Oldenburg oder in Bremen
zubringen, um hochdeutsch sprechen zu lernen und sich den
Firniss feinen Benehmens anzueignen. Vor allem aber legt man
Werth auf gediegene, zierliche Kleidung, die namentlich beim
weiblichen Geschlecht oft luxuriös5) wird, was man am besten
auf den Jahrmärkten beobachten kann, zu denen man sich in jeder
möglichen Weise herauszuputzen sucht. Von allen Marschen steht
das Land Hadeln, wo es sich um modernen Luxus handelt, oben
an. Die glänzenden Staatszimmer, die herrlichsten parkähnlichen
Gärten, das kostbare Porzellan- oder Silbergeräth und die eleganten
Equipagen der Hadler Bauern sind weit umher bekannt, fast sprich-
wörtlich geworden. Freilich trifft man hier auch die gebildetsten
und intelligentesten aller Marschbauern. Man kann dort junge
Bauern in groben Arbeitskleidern hinter ihrem Pfluge finden, die
englisch und französisch sprechen und treffliche geographische,
historische und literarische Kenntnisse besitzen. Indessen haben in
die Marschen Luxus und moderne Sitten erst in den letzten Jahr-
zehnten Eingang gefunden. Zu Anfang unseres Jahrhunderts finden
wir zum Theil noch wahrhaft patriarchalische6) Verhältnisse, selbst
bei den reichsten angesehensten Familien. Kein Hausmann liess
sich einfallen, hochdeutsch sprechen zu wollen. Nicht speisten in
dieser Stube die Herrschaft und in jener Knecht und Mägde, wie
heute fast durchgängig Gebrauch, sondern des Mittags versammelte
sich das ganze Haus an einer mächtigen, mit derber Hausmanns-
kost beladenen Tafel, wobei vom Hausherrn oder auch von dessen
Kindern nach uralter Sitte das einfache Tischgebet vor und nach
dem Essen gesprochen wurde. Und Sonntags zog meistens das
ganze Haus zur Kirche, höchstens ein einziges weibliches Mitglied
blieb daheim, um nach dem Kohltopfe zu sehen, denn Kohl war
die stehende Sonntagskost. Das sind jetzt überwundene Standpunkte.
') annectieren, hinzufügen, einverleiben.
2) Intelligenz, geistige Kraft, Geistesbildung, Einsicht.
3) Eleganz, Zierlichkeit, geschmackvolle Form des äusseren Erscheinens.
4) elegant, geschmackvoll, zierlich, auserlesen.
5) luxuriös, üppig, prunkend, verschwenderisch.
6) patriarchalisch, erzväterlich, altvaterisch.
156
Nur hie und da essen noch kleine Bauern mit ihren Leuten an
einem Tische zusammen. Bei den eigentlichen Hausleuten dagegen
wird überall in zwei Stuben und aus zwei Töpfen gespeist. Das
Tischgebet ist ebenso verschwunden, nur in Hadeln und Kehdingen
ist es noch einzeln Sitte am Gesindetische, an welchem der Junge
vorbeten muss. Das alte Land ist die einzige Marsch, wo Einfachheit
und alte Sitten sich bis auf den heutigen Tag und trotz der Nach-
barschaft des grossen Hamburgs in seltener Reinheit erhalten haben.
Hermann Allmers.
124. Erlkönig.
Wer reitet so spät durch Nacht und
Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
„Mein Sohn, was birgst du so bang
dein Gesicht?"
„ „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Krön'und Schweif?""
„Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif."
„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir;
Manch' bunte Blumen sind an deni
Strgnd;
Meine Mutter hat manch gülden Ge-
wand."
„„Mein Vater, mein Vater, und
hörest du nicht,
Was Erlkönig mir leise verspricht?""
»Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind."
„Willst, feiner Knabe, du mit mir
gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen
Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich
ein."
„„Mein Vater, mein Vater, und
siehst du nicht dort
Erlkönigs Tochter am düstern Ort!""
„Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es
genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau."
„Ich liebe dich, mich reizt deine
schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch' ich
Gewalt."
„„Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt
er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids gethan.""
Dem Vater grauset's, er reitet ge-
schwind,
Er hält in den Armen das ächzende
Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Noth;
In seinen Armen das Kind war todt.
W. v. Ooetlje.
125. Ahnten int Water.
Ahnten int Water, wat vern Gesnater!
Ahnten in Dik, wat vern Musik!
De Wart is wat heesch*): Wat wat wat schüll wie eten?
Muri2), inne Murt, inne Grund is bat fett!
Höja! De graute fangt lud an to reden:
Quark3) un warm Water! un alle ropt mit.
i) heiser. 2) Morast, ch Entengrün,
157
Ahnten int Water, wat vern Gesnater!
Ahnten en Dik, wat vern Musik!
De Rünnsteen hentlank all int Trünneln l) un Snappeln!
Barbeent un plattföt, un jümmer vergnügt!
Hier is de Käkenguß! Beersupp mit Appeln,
Wackeli, gackelt — siih, wa se sökt!
Ahnten int Water, wat vern Gesnater!
Ahnten in Dik, wat vern Musik!
Nu oppcn Wall! un nn ropt wi de Günner!")
Nu kamt se an, un nu gisst bat en Snack.
Nu fleegt wi dal, un nu dukt wi uns ünner!
All dat warm Water löppt blank vunne Nack!
Ahnten int Water, wat vern Gesnater!
Ahnten in Dik, wat vern Musik!
Wat wat wat wüllt wi? nu wüllt wi na'n Misten.
Hör! se döscht Wecten! wi krupt dör de Rill!
Kamt man! man sachden! op Töntjen3), mit Listen,
Rückt mit den Kopp, un et't gau, un swigt still!
Ahnten int Water, wat vern Gesnater!
Ahnten in Stroh — wat vern Halloh!
Dar kunimt de Käksch! ueiht man nt, brukt de Flanken!
Hoch äwern Tun, un koppheister na'n Dik!
Swimmen as de Poggen, un fleegen as Lunken,
Klok as en Minsch — nu so dick! un so dick!
Ahnten int Water, wat vern Gesnater!
Ahnten in Dik, wat vern Musik! Klaus Gr°th.
126. De KoPPweidag.
„Gun Morgen, Herr Apteiker! seggen f mal,
Wat is woll gaud vor Koppweidag?"
„„Min Sahn, dat is de düllste Qual,
Dat is 'ne nicderträcht'ge Plag.
Ra seit di man en beten dal.
Du büst wohl her ut Frugenmark." “
„Sa, Herr! Ik dein dor up den Hofs."
„„Na, fund de Koppweidag denn stark?""
„Ja, Herr! sei maken't gar tau grow."
„„Na, denn kumm her und dau
Mal irst din beiden Ogcn tau.
Süh, so is't recht! Nun rük mal swinn
All, wat du kannst, in dese Buddel rin.""
De Bengel bett ok ganz genau,
Wat hei ein heit: makt irst de Ogen tan
Un rükt recht düchtig rinner dünn.
Bauz füllt hei rügglings von den Staut herun.
_________As hei nun wedder sik besunn,
') rollen. 2) die Entfernteren. 3) auf den Zehen.
158
©eggt de Apteiker: „„Sahn, nu segg,
Sünd dine Koppweidag nu weg?""
„Äh, Herr, von mi is nich de Frag',
Uns Frölen het de Koppweidag." Fritz R-ut-r.
1L7. Die Krönung Otto's I.
(936 n. Chr.)
Am 8. August dos Jahres 936 stand in der Säulenhalle zu Aachen,
welche die Kaiserpfalz mit dem Münster verband — beide hatte Karl der
Große erbauen und Marmor und Säulen dazu aus Rom und Ravenna
herbeischaffen lassen — der Marmvrstuhl Karls des Großen, der Erzthron
des Reichs; hier versammelten sich die Großen aus allen deutschen Landen,
erhoben Otto auf den Thron und gelobten ihm unter Handschlag Treue
aus immerdar und Beistand gegen alle seine Widersacher. So huldigten
sie ihm nach alter Sitte auf fränkischer Erde als Karls des Großen Nach-
folger und König der Franken. Deshalb hatte Otto auch sein weites säch-
sisches Kleid mit dem knappen fränkischen Gewände vertauscht. Nur als
Franke und auf fränkischem Boden, meinte man damals und hat mau noch
lange nachher gemeint, könne der neue König die Krone empfangen. In
feierlichem Zuge, von den Herzögen, Grafen und Herren begleitet, begab
sich daun Otto zum Münster.
Wer nach Aachen kömmt, wird dieselbe Kirche noch heute dort sehen.
In der Gestalt eines Achteckes steigt sie zu mächtiger Höhe empor, und
oben umkreist sie ein zwiefacher Umgang von Arkaden, welche mit Säulen
geziert sind; in der Mitte aber auf dem Boden ist die Stelle bezeichnet,
wo Kaiser Karl sein Grab gefunden. Die Gänge oben erfüllte damals
dicht gedrängt das Volk, das von weit und breit zum großen Feste herbei-
geströmt war. In dem unteren Raume aber erwartete der Erzbischof Hil-
dcbert von Mainz — der sich erst nach langem Hader mit den Erzbischöfen
von Köln und Trier das Recht der Krönung erstritten hatte — mit allen
Erzbischöfen, Bischöfen und Priestern, die sich eingestellt hatten, den jungen
König. Als dieser an der Pforte erschien, schritt er ihm entgegen, den
Krummstab in der Rechten und führte ihn mit der Linken bis in die Mitte
des Münsters, wo Kaiser Karls Grabstein liegt und Otto von allen Seiten
erblickt werden konnte. Hier wandte er sich um und rief laut zu dem Volke:
„Sehet, ich führe euch Otto zu, den Gott zu eurem König erwählt, König
Heinrich bestimmt und alle Fürsten erhoben haben! Gefällt euch solche Wahl,
so erhebt eure Rechte zum Himmel!" Alle erhoben die Hände, und donnernd
hallte es in der Runde: „Heil und Segen dem neuen Herrscher!"
Darauf schritt der Erzbischof mit Otto bis zum Altare vor, wo Schwert
und Wehrgchenk, Mantel und Spange, Scepter, Stab und Diadem, die
Zeichen der königlichen Würde, bereit lagen. Zuerst nahm er Schwert und
Wehrgehenk und sprach, zum Könige gewendet: „Nimm hin dies Schwert
und triff damit alle Feinde des Herrn, Heiden und schlechte Christen! Denn
darum hat dir Gottes Wille alle Gewalt über das Reich der Franken
verliehen, daß die ganze Christenheit sicheren Frieden gewinne." Dann er-
griff er den Mantel mit den Spangen und legte ihm denselben an mit
159
folgenden Worten: „Die Säume dieses Gewandes, die bis zur Erde herab-
wallen, sollen dich mahnen, bis an das Ende auszuharren im Eifer für den
Glauben und in der Sorge für den Frieden." Und als er ihm Scepter
und Stab überreichte, sprach er: „An diesen Zeichen lerne, daß du väterlich
züchtigen sollst, die dir untergeben sind!" „Vor allein aber", fuhr er fort,
»strecke deine Hand aus voll Barmherzigkeit gegen die Diener Gottes wie
gegen die Witwen und Waisen, und nimmer versiege auf deinem Haupte
das Öl des Erbarmens, auf daß du hier und dort die unvergängliche Krone
zum Lohn empfangest!". Mit diesen Worten nahm er das Olhorn, salbte
ihn mit dem heiligen Öle, das die Kirche als ein Zeichen der Barmher-
zigkeit ansieht, und setzte ihm unter Beihülfe des Erzbischofs Wikfried von
Köln das goldene Diadem auf das Haupt. Als so die Krönung vollbracht
war, stieg Otto schon im Glanze der Krone zu dem Throne empor, der
zwischen zwei Marmorsäulen von wunderbarer Schönheit erhöht war, von
wo er das ganze versammelte Volk überblickte und von allen gesehen werden
konnte. Hier blieb er, während die Messe gehalten wurde; dann stieg er
vom Throne herab und kehrte zur Pfalz Karls des Großen zurück.
Hier war inzwischen an marmorner Tafel das Königsmahl mit aus-
erlesener Pracht bereitet. Mit den Bischöfen und Herren setzte sich der
neue Herrscher zu Tisch; es dienten ihm aber beim Krönungsmahle die
Herzöge der deutschen Länder. So ist es damals zuerst geschehen und oft
dann in der Folge; cs war ein Zeichen, daß die Herzöge der einzelnen
Länder den König, der über das ganze Volk gesetzt war, als ihren Herrn
erkannten, daß sie nichts anderes sein sollten und wollten als die ersten
seiner Dienstleute. Denn wie an dem Hofhält der deutschen Fürsten von
altersher die mächtigsten und angesehensten unter den Dienstlcuten als Mund-
schenk, Kämmerer, Truchseß und Marschall die Person des Fürsten umgaben
und seiner warteten: so leistete damals der Lothringerherzog Giselbert, in
dessen Gebiet Aachen lag, die Dienste des Kämmerers und ordnete die ganze
Feier; der Frankenherzog Ebcrhardt sorgte als Truchseß für die Tafel, der
Schwabenherzog Hermann stand als oberster Mundschenk den Schenken vor,
und Arnulf von Bayern nahm für die Ritter und ihre Pferde als Marschall
Bedacht, wie er auch die Stellen bezeichnet hatte, wo man lagern und die
Zelte aufschlagen konnte. Denn die Stadt reichte nicht ans, die Zahl aller
der Herren, die nach Aachen geritten waren, in sich zu fassen. Als die
Festlichkeiten beendet waren, lohnte Otto einem jeden der Großen mit reich-
' lichcr Gunst und großen Geschenken, und froh kehrten alle in die Heimat
zurück. W. Giesebrechl.
128. Unser Vaterland.
1. Kennt ihr das Land, so wunder-
schön
In seiner Eichen grünem Kranz?
Das Land, wo auf den sanften Höhn
Tie Traube reift im Sonncnglanz? —
Das schöne Land ist uns bekannt;
Es ist das deutsche Vaterland.
2. Kennt ihr das Land, vom Truge
frei.
Wo noch das Wort des Mannes gilt?
Das gute Land, wo Lieb' und Treu'
Den Schmerz des Erdenlebens stillt? —
Das gute Land ist uns bekannt;
Es ist das deutsche Vaterland.
160
3. Kennt ihr das Land, wo Sitt-
lichkeit
Im Kreise froher Menschen wohnt?
Das heil'ge Land, wo unentweiht
Der Glaube an Vergeltung thront? —
Das heil'ge Land ist uns bekannt;
Es ist ja unser Vaterland.
4. Heil dir, du Land, so hehr und
groß
Vor allen auf dem Erdenrund!
Wie schön gedeiht in deinem Schoß
Der edlern Freiheit schöner Bund!
Drum wollen wir dir Liebe weihn
Und deines Ruhmes würdig sein.
Wächter.
129. Otto der Große und Hermann Billung.
Es war um das Jahr 940 nach Chr. G., da hütete nicht weit von
Hermannsburg ein vierzehnjähriger Knabe die Herde seines Vaters auf
der Weide. Da kam ein prächtiger Zug von gewappneten Rittern daher
gezogen, stolz zu Roß. Der Knabe sieht mit Lust die blinkenden Helme
imd Harnische, die glänzenden Speere und die hohen Reitersleute an. Die
aber biegen plötzlich von der sich krümmenden Straße ab und kommen
querfeldein auf die Stelle zugeritten, wo er das Vieh weidet; und das
Feld ist doch keine Straße, und es gehört doch seinem Vater! Er besinnt
sich kurz, geht kühn auf die Ritter zu, stellt sich ihnen in den Weg und
ruft ihnen entgegen: „Kehret um; die Straße ist euer, das Feld ist mein!"
Ein hoher Mann, ans dessen Stirn ein majestätischer Ernst thront, reitet
an der Spitze des Zuges und sieht verwundert den Hirten an, der es
wagt, ihin entgegenzutreten. Er hält sein Roß zurück und hat seine Freude
an dem muthigcn Knaben, der so kühn und furchtlos seinen Blick erwidert
und nicht vom Platze weicht. „Wer bist du, Knabe?" — „Ich bin Her-
mann Billungs ältester Sohn und heiße auch Hermann, und dies ist. meines
Vaters Feld; ihr dürft nicht hinüberreiten!" — „Ich will's aber, Knabe»,
erwidert der Ritter mit drohendem Ernst; „weiche, oder ich stoße dich
nieder!" Dabei erhebt er den Speer. Der Knabe aber bleibt furchtlos
stehen, sieht mit blitzendem Auge zu dem Ritter hinauf und spricht: „Recht
muß Recht bleiben, und ihr dürft nicht über das Feld reiten, ihr reitet
denn über mich hinweg!" — „Was weißt du vom Recht, Knabe?" —
„Mein Vater ist der Billung (Hüter der Gesetze), und ich werde es nach
ihm; vor einem Billung darf niemand das Recht verletzen!" — Da ruft
der Ritter noch drohender: l,Jst denn das Recht, Knabe, daß du deinem
Könige den Gehorsam versagest? Ich bin Otto, dein König!" — „Ihr
seid Otto, unser König, Deutschlands Hort und der Sachsen Zierde, von
dem mein Vater uns so viel erzählt? Otto, Heinrichs des Sachsen Sohn?
Rein, ihr seid es nicht! Der König schützt das Recht, und ihr brecht
das Recht! Das thut Otto nicht, sagt mein Vater!" — „Führe mich zu
deinem Vater, braver Knabe!" antwortete der König, und eine ungewöhn-
liche Milde und Freundlichkeit erglänzte auf seinem ernsten Angesicht. —
„Dort ist meines Vaters Hof, ihr könnt ihn sehen", sagt Hermann; „aber
die Rinder hier hat mein Vater mir anvertraut, ich darf sie nicht verlassen,
kann euch also nicht führen. Seid ihr aber Otto, der König, so lenket
ab vom Felde auf die Straße; denn der König schützt das Recht!"
Und der König Otto, der Große genannt, gehorcht der Stimme des
Knaben, denn der Knabe hatte Recht, und reitet zurück auf die Straße.
161
Bald aber wird Hermann vom Felde heimgeholt; der König ist bei seinem
Vater eingekehrt und hat zu ihm gesagt: „Billung, gib mir deinen ältesten
Sohn mit, ich will ihn bei Hose erziehen lassen; er wird ein treuer Mann
werden, und ich brauche treue Männer!" Und welcher treue Sachse konnte
einem Könige wie Otto eine Bitte versagen?
So sollte denn der muthige Knabe mit seinem Könige ziehen, und als
Otto ihn fragte: „Hermann, willst du mit mir ziehen?" da antwortete
der Knabe freudig: „Ich will mit dir ziehen; du bist der König, und du
schützest das Recht!"
Und Hermann Billung wurde nachmals Otto's treuer Freund und
schützte wie sein König das Recht. Und als Otto die Ungarn darnicder-
geworfen, alle seine Feinde bezwungen und Italien zum Reiche gebracht
hatte, als sein Haupt mit der römischen Kaiserkrone geschmückt worden war,
da verlieh er das väterliche Herzogthum seinem wackern Kampfgenossen,
dem Hermann Billung. Anderthalb Jahrhunderte hat dessen Geschlecht im
Sachsenlandc geblüht. L. Harms.
130. Der Binger Mäuseturm.
Bei Bingen ragt mitten aus dem Rhein ein hoher Turm, von dem
nachstehende Sage umgeht. Im Jahre 970 ward große Theuerung in
Deutschland, daß die Menschen aus Noth Katzen und Hunde aßen, und
doch viele Leute Hungers starben. Da war ein Bischof zu Mainz, der
hieß Hatto der Andere, ein Geizhals, dachte nur daran, seinen Schatz zu
mehren und sah zu, wie die armen Leute auf der Gasse niederfielen und
bei Haufen zu den Brotbänken liefen und das Brot mit Gewalt nahmen.
Aber kein Erbarmen kam in den Bischof, sondern er sprach: „Lasset alle
Arme und Dürftige sammeln in einer Scheune vor der Stadt, ich will sie
speisen." Und wie sie in die Scheune gegangen waren,-schloß er die Thür zu,
Ikeckte die Scheune mit Feuer an und verbrannte sie mit den armen Leuten,
Jung und Alt, Mann und Weib. Als nun die Menschen unter den
Flammen wimmerten und jammerten, rief Bischof Hatto: „Hört, hört,
wie die Mäuse pfeifen!" Allein Gott der Herr plagte ihn bald, daß die
Mäuse Tag und Nacht über ihn liefen und an ihm fraßen, und vermochte
sich mit aller seiner Gewalt nicht wieder sie zu behalten und zu bewahren. Da
wußte er endlich keinen andern Rath, als daß er einen Turm bei Bingen
mitten in den Rhein bauen ließ, der noch heutiges Tages zu sehen ist, und
meinte sich darin zu fristen, aber die Mäuse schwammen durch den Strom
heran, erklonimcn den Turm und fraßen den Bischof lebendig auf.
Brüder Grimm.
131. Der Mäuseturm.
Am Mäuseturm um Mitternacht
Des Bischofs Hatto Geist erwacht;
Er flieht um die Zinnen im Höllenschein,
Und glühende Mäuslein hinter ihm drein.
11
162
Der Hungrigen hast du, o Hatto gelacht,
Die Scheuer Gottes zur Hölle gemacht;
Drum ward jedes Körnlein im Speicher dein
Verkehrt in ein nagendes Mäuselein!
Du flohst auf den Rhein in den Jnselturm,
Doch hinter dir rauschte der Mäusesturm!
Du schlossest den Turm mit eherner Thür,
Sie nagten den Stein und drangen hcrfür.
Sie fraßen die Speise, die Lagerstatt,
Sie fraßen den Tisch dir und wurden nicht satt.
Sie fraßen dich selber zu aller Graus
Und nagten den Namen dein überall aus.
Fern rudern die Schiffer um Mitternacht,
Wenn schwirrend dein irrender Geist erwacht;
Er flieht um die Zinnen im Höllenschein,
Und glühende Mäuslein hinter ihm drein. Aug. Kopisch.
132. Das Rad im Mainzer Wappen.
Im Jahre 1009 wurde Willegis, ein frommer und gelehrter Mann,
zum Bischof von Mainz gewählt; er war aber von geringer, armer Her-
kunft, und sein Vater ein Wagnersmann gewesen. Deß haßten ihn die
adligen Domherren und Stiftsgenossen, nahmen Kreide und maleten ihm
verdrießweise Räder an die Wände und Thüren seines Schlosses; gedachten
ihm damit eine Schmach zu thun. Als der fromme Bischof ihren Spott
vernahm, da hieß er einen Maler rufen; dem befahl er, mit guter Farbe
in alle seine Gemächer weiße Räder in rothe Felder zu malen, und ließ
einen Reim dazu setzen, der sagte: „Willegis, Willegis, denk woher du
kommen sis." Daher rührt, daß seit der Zeit alle Bischöfe zu Mainz
weiße Räder im rothen Schild führen. Andere fügen hinzu, Willegis habe,
von Demüthigkeit wegen, ein hölzernes Pflugrad stets an seiner Bettstättc
hangen gehabt. BrÄder Grimm.
133. Die
Der fromme Kaiser Heinrich war ge-
storben,
Des sächsischen Geschlechtes letzter
Zweig,
Das glorreich ein Jahrhundet lang ge-
herrscht.
Als nun die Botschaft in das Reich er-
gieng,
Da fuhr ein reger Geist in alles Volk,
Ein neu Weltalter schien heraufzuziehn,
Da lebte jeder längst entschlafne Wunsch
Und jede längst erloschne Hoffnung auf.
Kaiscrwahl.
! Kein Wunder jetzo, wenn ein deutscher
Mann,
Dem sonst so Hohes nie zu Hirne stieg,
Sich heimlich forschend mit den Blicken
maß!
Kann's doch nach deutschem Rechte wohl
geschehn,
Daß, wer dem Kaiser heut den Bügel hält,
Sich morgen selber in denSattelschwingt.
Jetzt dachten unsre freien Männer nicht
Au Hub- und Haingericht nnd Mark-
geding'),
9 Hub, Hain und Mark — Hufe (Feld), Wald und Grenze. Geding — Vertrag.
T
163
Wo man um Esch' und Holztheil Sprache
hälr:
Nein! stattlich ausgerüstet, zogen sie
Aus allen Gauen, einzeln und geschart,
Ins Maienfeld J) hinab zur Kaiserwahl.
Am schönen Rheinstrom, zwischen Worms
und Mainz,
Wo unabsehbar sich die ebne Flur
Auf beiden Ufern breitet, sammelte
Der Andrang sich, die Mauern einer
Stadt
Vermochten nicht das deutsche Volk zu
fassen.
Am rechten Ufer spannten ihr Gezelt
Die Sachsen sammt der slavschen Nach-
barschaft,
Die Bayern, die Ostfranken und die
Schwaben;
Am linken lagerten die rhein'schen
Franken,
Die Ober- und Nieder-Lothringer.
So war das Mark von Deutschland hier
gedrängt,
Und mitten in dem Lager jedes Volks
Erhub sich stolz das herzogliche Zelt.
Da war ein Grüßen und ein Händeschlag,
Ein Austausch, ein lebendiger Verkehr!
Und jeder Stamm verschieden an Gesicht,
An Wuchs undHaltung, Mundart, Sitte,
Tracht,
An Pferden, Rüstung, Waffenfertigkeit,
Und alle doch ein großes Brüdervolk,
Zu gleichem Zwecke festlich hier vereint!
Was jeder im besondern erst berieth,
Im hüllenden Gezelt und im Gebüsch
Der Jnselbuchten, mählich war's gereist
Zum allgemeinen offenen Beschluß.
Aus vielen wurden wenige gewählt,
Und aus den wenigen erkor man zween,
Allbeide Franken, fürstlichen Geschlechts,
Erzeugt von Brüdern, Namensbrüder
JmKreis derFürsten, sichtbar allcmVolk,
Die beiden Männer, die ans freier Wahl
Das deutsche Volk des Thrones werth
erkannt
Vor allen, die der deutsche Boden nährt,
Bon allen Würdigen die Würdigsten
Und so einander selbst an Würde gleich,
Daß fürder nicht die Wahl zu schreiten
schien,
Und daß die Wage ruht' im Gleichgewicht.
Da standen sie, das hohe Haupt geneigt,
Den Blick gesenkt, die Wange scham-
erglüht,
Von stolzer Demuth überwältiget.
Ein königlicher Anblick war's, ob dem
Die Thräne rollt' in manches Mannes
Bart.
Und wie nun harrend all die Menge stand
Und sich des Volkes Brausen so gelegt,
Daß man des Rheines stillen Zug ver-
nahm, —
Denn niemand wagt' es, diesen oder den
Zu küren mit dem hellen Ruf der Wahl,
Um nicht am andern Unrecht zu begehn,
Noch aufzuregen Eifersucht undZwist — :
Da sah man plötzlich, wie die beiden
Herrn
Einander herzlich faßten bei der Hand,
Und sich begegneten im Bruderkuß.
Da war es klar, sic hegten keinen Neid
Und jeder stand dem andern gern zurück.
Der ErzbischofvonMainz erhub sich jetzt:
'Weil doch', so rief er, ^einer es muß sein,
So sei's der Ältrc.' Freudig stimmten bei
Gesammte Fürsten, und ant freudigsten
DerjüngreKnnrad; donncrgleich erscholl,
Oft wiederholt, des Volkes Beifallsruf.
Als der Gewählte drauf sich niederließ,
Ergriff er seines edlen Vetters Hand
Und zog ihn zu sich auf den Konigssitz.
Und in den Ring der Fürsten trat sofort
Die fromme Kaiserwitwe Kunigund;
Glückwünschend reichte sie dem neuen
D , *
ibunrade, längst mit gleichem Ruhm
genannt.
König
Da standen nun auf eines Hügels Saum, I Die treu bewahrten Reichskleinvde dar.
i) Die alten Maiversammlungen der Deutschen fanden auf großen und freien Auen
m der Nähe eines Flusses statt. Jene bei Kamp, einem nun entschwundenen Flecken,
Oppenheim gegenüber.
11*
1G4
Zum Festzug aber scharten sich die Reihn,
Voran der König, folgend mit Gesang
Die Geistlichen und Laien, so viel Preis
Erscholl zum Himmel nie an einem Tag.
Wär' KaiserKarl gestiegen aus der Gruft,
Nicht freudiger hätt' ihn die Welt begrüßt.
So wallten sie den Strom entlang nach
Mainz,
Woselbst der König im erhabnen Dom
Der Salbung heil'ge Weihe nun em-
pfieng.
Wen seines Volkes Ruf so hoch gestellt,
Dem fehle nicht die Kräftigung von Gott!
Und als er wieder aus dem Tempel trat,
Erschien er herrlicher als kaum zuvor,
Und seine Schulter ragt' ob allem Volk.
L. Uhland.
134. Die Bügel.
Kleine Vögel legen, so lange ihre Legezeit dauert, jeden Tag, meist
des Morgens, ein Ei; große ruhen meist einen Tag um den andern, oder
jedesmal nur den dritten Tag. Zu brüten beginnt der Vogel erst, wenn
er seine volle Zahl gelegt hat. An der Seite des Eidotters liegt ein weißes
Fleckchen, Narbe genannt. Wird das Ei vom Vogel bebrütet, so bekommt
die Narbe durch die anhaltende Wärme (welche man auch künstlich geben
kann) Leben. Es bildet sich in ihm ein kleines Vögelchen, von dessen Herz-
chen Blutadern nach derjenigen dünnen Haut hingehen, welche rings unter
der Kalkschale liegt. So tritt das Blut mit der Himmelsluft in Verbindung.
Werden die feinen Löcherchen der Eierschale mit irgend etwas, das keine
Luft durchläßt, zugeschmiert, so muß das sich entwickelnde Junge sterben,
ersticken. Wenn daher die Eier mit dem Inhalte eines zerbrochenen Eies
beschmutzt werden, so muß man sie mit lauwarmem Wasser sorgfältig ab-
waschen. Nach und nach füllt das Thierchen das ganze Ei aus. Ist es
vollständig ausgebildet, so ritzt es vermittelst eines harten Körnchens, das
auf der Schnabelspitze sitzt und später abfällt, von innen die Schale. Durch
die so entstandene Öffnung beginnt cs zu athmen, dehnt sich dabei aus,
stemmt sich mit Füßen und Schultern gegen die Eierschale und bricht her-
vor (kriecht aus). Die Dauer der Brütezeit richtet sich ziemlich nach der
Größe des Vogels. Bei den Kolibris dauert sie zwölf Tage, bei unsern
kleinen Singvögeln zwei Wochen, beim Huhn drei, bei der Gaus vier, beim
Schwan fünf Wochen. Das Geschäft des Brütens wird vom Weibchen
besorgt. Bei vielen paarweis lebenden Arten wird dasselbe um Mittag
einige Stunden vom Männchen abgelöst. Beim Brüten fallen vielen Vögeln
die Federn der Unterseite zum Theil ans, wodurch die kahlen sogenannten
Brntflecken entstehen. Der Kuckuk brütet gar nicht selbst, sondern legt seine
Eier in fremde Nester.
Die Jungen der Singvögel kommen nackt aus dem Ei, haben nur
einzelne Flaumfedern und geschlossene Augen. Sie werden von der Mutter
sorgsam im Neste gewärmt, bis sie befiedert sind. Die jungen Raubvögel,
sowie die meisten Hühner, Stelz- und Schwimmvögel kommen dicht mit
Flaum bekleidet ans dem Ei. Viele von ihnen bleiben im Nest; viele aber
laufen oder schwimmen alsbald mit der Mutter davon. Denjenigen jungen
Vögeln, welche das Nest gleich verlassen, wird die Nahrung von der Mutter
nur gezeigt, und sie müssen dann selbst zulangen. Die Raubvögel tragen
die Beute herbei und zerreißen sie, wenn sie groß ist, auf dem Rande des
Nestes. Die Jungen greifen mit den Schnäbeln selbst nach den Fetzen und
165
würgen sic, oft mit vieler Mühe, hinab. Vögel, welche ihre Jungen mit
Körnern füttern, wie die Hänflinge und Tauben, sammeln sich erst den
Kropf voll, erweichen das Futter darin, und speien cs dann den Kinderchen
in den weit aufgesperrten Mund. Störche sammeln den Hals voll Käfer,
Frösche u. s. w., Reiher sammeln ihn voll Fischchcn und speien bann die
Sammlung in den Mund der Kleinen. Bachstelzen und alle kleinen Vögel,
die mit Kerbthieren füttern, tragen diese einzeln im Schnabel zum Reste
und stecken die Speise in den weit aufgesperrten Schnabel der Jungen.
Die Nester sind sehr verschieden. Der Ziegenmelker legt seine Eier
geradezu auf den Sand, der Eisvogel in ein sclbstgehacktes Erdloch aus
den bloßen Boden, der Specht in ein Baumloch auf mürbes Holz. Das
Haushuhn legt auf etwas Stroh, der Buchfink baut ein wunderschönes,
oben offenes Ncstchen auf Bäume, die Beutelmcisc hängt ihr Rest au Äste
und gibt ihm sehr künstlich die Gestalt eines Beutels mit engem Eingang
an der Seite. So hat jede Vogelart beim Nestbau etwas Eigenthümliches.
Es ist sehr anziehend, sie bei diesem Geschäfte zu beobachten. Mancher
Knabe, welcher (ohne selbst recht zu wissen, warum) Vogelnester zerstört,
könnte sich einen weit höheren Genuß verschaffen, wenn er die Thierchen
ungestört nisten ließe und ruhig dabei von fern beobachtete. Schon die
bloße Annäherung eines Menschen an ein Rest, noch mehr aber das An-
tasten desselben, bestimmt viele Vögel, es zu verlassen. Merkwürdig ist
auch die Reinlichkeit, welche manche kleine Vögel bei ihrem Nest beobachten,
wie z. B. der Hänfling, der den Mist seiner Jungen weit wegträgt.
Hinsichtlich des Winteranfcnthaltcs nennt man diejenigen Vögel,
welche ihren Geburtsort gar nicht verlassen, Standvögel. Hierhergehört
der Sperling, Goldammer, Zaunkönig, Kolrabc und das Rebhuhn. Die-
jenigen, welche — wie Stieglitze, Hänflinge, Zeisige und Kreuzschnäbel —
iu ihrem Vaterlande umherstreifen, heißen Strichvögel. Die, welche ganz
auswandern und nach Suden ziehen, Zugvögel. In den heißen Ländern
gibt es keine einheimischen Zugvögel, aber die meisten Vögel der kalten
Länder wandern im Herbst nach Süden und kehren im Frühling nach dem
Norden zurück. Die ihnen zur Nahrung dienenden Thiere (Fische, Amphi-
bien, Inscctcn u. s. w.) sind im Norden nur während des Sommers, in
heißen Ländern nur während des Winters (während der Regenzeit) in
Menge zu haben. Viele Vögel ziehen bei Tage, die meisten ziehen bei
Nacht; manche ziehen sowohl bei Tag als bei Nacht. Einige ziehen fami-
licnweis oder einzeln, andere in großen Scharen. Was bei Nacht wandert,
fliegt hoch durch die Luft; und das thun selbst Vögelchen, welche sonst durch
keinen Zwang dahin zu bringen sind, sich bei Tage hoch in die Luft zu
wagen. Was bei Tage zieht, fliegt entweder ebenfalls hoch oder zieht von
Baum zu Baum, von Busch zu Busch. — Manche Vögel des hohen Nor-
dens, wie die Krammetsvögel, bringen den Winter bei uns in Deutschland
zu. Einige von den deutschen Vögeln überwintern im südlichen Europa
und kehren mit dem Frühling (oft zu voreilig) zu uns zurück. Andere,
wie die Störche, Schwalben und Nachtigallen, ziehen nach Afrika. — Je
früher ein Vogel im Herbste wegzieht, desto später kehrt er im Frühjahr
wieder. Der Wandertrieb ist angeboren, also ein Naturtrieb (Jnstinct).
Selbst der Zugvogel, den man in der warmen Stube hält, ist während
166
der ganzen Zugzeit unruhig, und man kann an dieser Unruhe im Herbst
und Frühjahr beobachten, wie lange seine Art zu ziehen pflegt. Manche,
welche nicht weit ziehen, lassen diese Unruhe wenig oder gar nicht merken;
weit wandernde hingegen toben während der Zugzeit sehr arg. Die bei
Tage ziehenden toben des Tags, die bei Nacht ziehenden des'Nachts.
Selbst jung in der Gefangenschaft ausgezogene Vögel sind zur Zeit, wo
ihres Gleichen zu ziehen pflegt, unruhig. — Im Frühling kehrt jeder Vogel,
wenn er den Gefahren der Reise glücklich entronnen ist, wieder an denselben
Platz zurück, wo er geboren und erzogen wurde. Der Finke sucht seinen
Baum, die Nachtigal ihren Busch, der Storch und die Schwalbe ihr Nest
wieder auf. Die Bachstelze, der Steinschmätzer und der Pieper, welche
Island als Auswanderer verlassen hatten, kehren in ihre Heimat zurück,
ohne sich durch das Brausen der nordischen Meereswogen schrecken zu lassen.
Wenn man eine Vogelart an einem Orte ausrottet, so dauert es viele
Jahre, ehe die Gegend wieder von dieser Art bevölkert wird. Denn nur
nach und nach siedeln sich wieder Vögel dort an, welche zufällig aus ihrem
Geburtsort ausgebissen oder durch Zerstörung ihrer Wohnplätze vertrieben
sind. Bei uns, in Mitteldeutschland, geht der Zug der Vögel immer von
Nordosten nach Südwesten, nicht von Norden gerade nach Süden, Im
Frühling geht er von Südwesten nach Nordosten zurück. Es scheint, als
ob keiner unserer Zugvögel während seiner Abwesenheit im Süden brütete;
wenigstens bringt keiner Junge mit zurück. Mehrere aber kommen frisch
vermausert wieder und zwar solche Arten, welche sich auch in der Gefangen-
schaft während des Winters mausern. Bon vielen Vögeln kehren zuerst
die Männchen und später,die Weibchen zurück.
Es gibt im allgemeinen nur wenige Vögel, die man für durchaus
schädlich erklären könnte. Bei weitem die meisten Vögel sind durchaus
nur nützlich. Sehr viele erfreuen den Menschen durch Schönheit, anmu-
tiges Wesen und Gesang. Das Fleisch und die Eier der meisten größeren
Vögel geben dem Menschen eine wohlschmeckende und nahrhafte Speise. Die
Federn liefern Betten und Schreibwerkzeug. Am größten ist jedoch der
Nutzen, welchen die Vögel durch Vertilgung des Ungeziefers gewähren.
Spechte, Baumrutscher, Finken, Sperlinge, Goldammern, Staare, Gras-
mücken, Meisen und Goldhähnchen reinigen die Wälder und Obstbäume
von verheerenden Kerbthieren. Schwalben, Fliegenschnäpper, Rothschwänz-
chen und Bachstelzen schnappen Fliegen, Bremsen und Mücken weg. Hichmr
suchen die Eier, Larven und Puppen der Fliegen aus dem Miste hervor;
Enten verzehren die in Pfützen schwimmenden Larven der Mücken; Raben
reinigen die Felder von Kerbthieren, Würmern und Mäusen; Bußarde
verzehren unzählige Mäuse; Eulen vertilgen Mäuse, Maikäfer und Nacht-
schmetterlinge u. s. w.
Bei keinem Vogel läßt sich so bequem beobachten, wie viel Nutzen er
thut, wie beim Staar, keiner läßt sich durch menschliche Kunst so leicht
vermehren. Mau hat auf Grund sorgfältiger Beobachtungen berechnet, daß
von einer einzigen Staarfamilie täglich über dreihundert schädliche Schnecken
(ober anderes verderbliches Ungeziefer) vertilgt werden. Wie viel beträgt
das den Sommer über! Und wie große Massen von Staarcn kann man
herbeilocken, wenn man ihnen an Häusern und Bäumen zweckmäßig einge-
167
richtete Brutkasten anbringt. Dieselben müssen 40'Cm. hoch und 12 Cm.
breit und tief sein. Das Flugloch muß wenigstens 6 Cm. Durchmesser
haben. Es wird am besten ganz oben am Kasten gebohrt, damit der Raum
für die Jungen dunkel ist und nicht so leicht von kleinen Raubthieren er-
reicht werden kann. Dicht unter dem Flugloch befestigt man eine kleine
Sitzstange. r-nz.
135. Die Einladung.
Ein frommer Landmann in der Kirche saß,
Den Text der Pfarrer aus Johanne las
Am Ostermontag, wie der Heiland rief
Vom User: „Kindlein, habt ihr nichts zu essen?"
Das drang dem Landmann in die Seele tief,
Daß er in stiller Wehmnth dagesessen.
Drauf betet er: „Mein liebster Jesu Christ!
So fragest du? O wenn du hungrig bist,
So sei am nächsten Sonntag doch mein Gast
Und halt' an meinem armen Tische Rast.
Ich bin ja wohl nur ein geringer Mann,
Der nicht viel Gutes dir bereiten kann;
Doch deine Huld, die dich zu Sündern trieb,
Nimmt auch an meinem Tische wohl fürlieb."
Er wandelt heim und spricht sein herzlich Wort
An jedem Tag die ganze Woche fort.
Am Samstagmorgen läßt's ihn nimmer ruhn.
„Frau", hebt er an, „nimm aus dein bestes Huhn,
Bereit' es kräftig, fege Flur und Haus,
Stell' in die Stub' auch einen schönen Strauß;
Denn wisse, daß du einen hohen Gast
Aus morgen Mittag zu bewirten hast.
Putz unsre Kinderlein, mach alles rein!
Der werthe Gast will wohl empfangen sein."
Da springen alle Kindcrlein herzu:
„O Vater, wer? wie heißt der liebe Mann?"
Die Mutter fragt: „Nun, Vater, sage mir,
Gar einen Herren ludest du zu dir?"
Der Vater aber lächelt, sagt es nicht,
Und Freude glanzt in seinem Angesicht.
Am Sonntag ruft der Morgenglockenhall;
Zum lieben Gotteshausc ziehn sie all',
Und immer seufzt der Vater innerlich:
„O liebster Jesu, komm, besuche mich!
Du hast gehungert; ach, so möcht' ich gern
Dich einmal speisen, meinen guten Herrn!"
Wie die Gemeinde drauf nach Hause Acht,
Die Mutter bald am Herde wieder steht,
168
Das Huhn ist weich, die Suppe dick und fett;
Sie deckt den Tisch, bereitet alles nett,
Trägt auf und denkt beim zwölften Glockenschlag:
„Wo doch der Gast so lange bleiben mag?"
Es schlägt auch eins; da wird's ihr endlich bang':
„Sprich, lieber Mann, wo weilt dein Gast so lang'?
Die Suppe siedet ein, die Kinder stehn
So hungrig da, und noch ist nichts zu sehn.
Wie heißet denn der Herr? Ich glaube fast,
Daß du vergeblich ihn geladen hast."
Der Vater aber winkt den Kinderlein:
„Seid nur getrost! er kommt nun.bald herein."
Drauf wendet er zum Himmel das Gesicht
Und faltet zum Gebet die Hände, spricht:
„Herr Jesu Christe, komm, sei unser Gast
Und segne uns, was du bescheret hast!"
Da klopft es an der Thüre. Seht, ein Greis
Blickt .matt herein, die Locken silberweiß!
„Gesegn' euch's Gott! Erbarmt euch meiner Noth!
Um Christi willen nur ein Stücklein Brot!
Schon lange bin ich hungrig umgeirrt.
Vielleicht, daß mir bei euch ein Bissen wird."
Da eilt der Vater: „Komm, du lieber Gast!
Wie du so lange doch gesäumet hast!
Schon lange ja dein Stuhl dort oben steht;
Komm labe dich, du kommst noch nicht zu spät."
Und also führet er den armen Mann
Mit hellen Augen an den Tisch hinan.
Und „Mutter, sieh doch! seht, ihr Kinderlein,
Den Heiland lud ich vor acht Tagen ein. '
Ich wußt' es wohl, daß, wenn man Jesum lädt,
Er einem nicht am Haus vorübergeht.
O Kinder, seht! in diesem Ärmsten ist
Heut' unser Gast der Heiland Jesus Christ." 21. Knapp.
136. Der Staar.
Der Staar ist allerwärts zu Hause und überall ein gern gesehener
Frühlingsbote. Er ist gern in Gesellschaft; zu Hunderten sicht man ihn
bisweilen auf einem Baume sitzen im fröhlichen Gewimmel. — Vom Nest-
bau hält er nicht viel; ein Loch und wenige Federn, Haare, Halme genügen
ihm und den Seinen. Aber desto mehr gibt er anfs Esse»; kaum daß
ihn der Seidenschwanz, welcher als der gefräßigste aller Vögel verschrieen
ist, an Eßlust übertrifft. Deshalb ist er auch immer auf Wanderschaft
und Jagd bedacht. Selbst die Jungen verläßt er und zieht auf Acker- und
Viehtriften, mit Krähe und Bachstelze gemeinsam. Noch lieber lagert er
sich in Kirschgärten und Weinbergen. Oft fliegen mehrere Hunderte zu-
sammen in einer Wolke schnurrend und wirbelnd daher; immer kreiset der
169
eine um den andern; so wälzen sie sich lärmend, und schwärmend fort.
Vergebens krümmt der Habicht seine Fänge nach dem rollenden Rade; das
Ungethüm würde ihn widerstandslos Hinwegreißen. Sind die Unermüdlichen
endlich des Schwedens müde geworden, so schwenken sie sich hinab auf die
Weide, oder stürzen lachend ins Schilf. Da hüpfen sie durcheinander,
Pfeifen und singen.
Ein seltsamer, drolliger Vogel ist der Staar, anstellig, listig und zu-
traulich, wenn er gezähmt in der Stube lebt. Der Hausfrau fliegt er auf
den Spinnrocken, dem Manne auf die Mütze, und geht's zum Essen, so ist
er der erste an der Schüssel. Er lernt aber auch was. Bald flötet er
wie eine Amsel; bald gackert er wie eine Henne; bald ruft er: „So, so,
lala" oder »du Tolpatsch"; bald pfeift er: „Heil dir im Siegerkranz."
Masius.
137. Das
Ander Tafel im Gasthaus zum goldnen
Stern
Waren beisammen viel reiche Herrn,
Vor ihnen standen aus Küch' und Keller
Gar lieblich lockend die Flaschen und
Teller.
Schon saßen sie da in plaudernden
Gruppen,
Die Kellner reichten die dampfenden
Suppen,
Und mehr noch begann Gemüf und
Braten
Mit süßem Wohlgeruch zu laden.
Da kam zur Thüre still herein
Ein Fremder mit seinem Töchterlein
Und setzten sich unten am langen Tisch,
Um auch zu kosten von Wein und Fisch.
Oben klirrten die Löffel und Messer,
Klangen die Gläser und scherzten die
Esser.
Da tönt auf einmal gar hell und fein
Eine Stimme in den Lärni hinein,
Wie wenn von fern ein Glöcklein klingt,
Wie wenn im Wald ein Vogel singt.
Und wie auch der Strom der Rede
rauscht,
Still wird es rings, und jeder lauscht:
Tischgebet.
Der Krieger, der von den Schlachten
erzählt,
Der Kaufmann, der über die Zölle
geschmält,
Die Reisenden, die von Abenteuern
Gesprochen und von Ungeheuern,
Die Stutzer, die von Pferd und Wagen
Und Hunden und Moden so vieles
sagen.
Und wie sie schauen nach dem Orte,
Von woher dringen die lieblichen
Worte,
Mit gefalteten Händen das Mädchen
steht
Und spricht sein gewohntes Tischgebet.
Und wie beseelt von höherem Geist
Falten auch sie die Hände zumeist
Und horchen alle mit rechtem Fleiße
Auf des betenden Kindes Weise.
Drauf setzt es sich nieder mit stiller
Freude
Und achtet nicht auf all' die Leute.
Die aber, ergriffen im tiefsten Innern,
Mußten sich oft noch dran erinnern,
Und mancher hat wieder gebetet fortan,
Was er schon lange nicht mehr gethan.
Güll.
138. Die treue Gudrun.
(Nordseesage.)
s. ll)ie Gudrun mit Herwig verlobt ward.
In alten Zeiten herrschte über die Friesen, welche den Festlandssaum
und die Inseln der Nordsee bewohnten, der mächtige König Hettel. Seine
170
Gemahlin war die schöne Hilde von Irland, Tochter des gewaltigen Hagen,
dem er sie mit List und Gewalt entführt hatte. Denn unter seinen Dienst-
mannen waren nicht nur kühne und starke Helden, wie vor allen Wate
von Stürmen, der Riese mit dem ellenbreiten Barte, sondern auch solche,
die mit verwegener List ihr Ziel zu erreichen wußten, wie die Dänen Frute
und Horand. Der letztere hatte bei Hildens Entführung besonders durch
seine wunderbare Sangeskunst geholfen; wenn er seine Weisen anhub, so
ließen die Thiere im Walde und die Fische im Wasser ihre Fährten, und
die menschlichen Gemüther wußte er so zu bezaubern, daß sie ganz willen-
los ihm folgten. So hatte auch Hilde seiner Verlockung nicht widerstehen
können: heimlich war sie mit ihm ins Friesenland gefahren, um König
Hettel's Gemahlin zu werden, und als ihr starker Vater ihr nachgesegclt
war, hatte vor allen der riesige Wate durch seine ungeheure Kraft ihn
zurückgeschlagen.
Zwei herrliche Kinder waren ihnen herangeblüht: die liebliche Gudrun,
die noch schöner war, als einst ihre Mutter; aber weil ihr niemand etwas
davon gesagt hatte, so wußte sie nichts davon, und frisch und fröhlich sah
sie aus ihren blauen Augen in die Welt hinein; ihr etwas jüngerer Bruder
war der rasche und kräftige Ortewin, den der greise Wate zu aller Helden-
tugend erzogen hatte.
Die Kunde von Gudruns Schönheit und von dem Reichthum und der
Macht ihrer Eltern lockte bald von nah und fern zahlreiche Freier herbei.
Zuerst kam Siegfried von Moorland und begehrte Gudrun zum Weibe,
aber die stolzen Eltern wiesen ihn ab, weil er nicht mächtig genug sei.
Ebenso ergieng es dem Normannenfürsten Hartmut, dem Sohn des reichen
Königs Ludwig. Und als zu dritt der edle und starke König Herwig aus
Niederland kam, verweigerten auch ihm die Eltern ihre Tochter; aber da
rückte er mit einem großen Heere vor Hettel's Burg und bewies täglich
durch kühne Thaten, daß er ein echter Held sei. Das gefiel dem König
Hettcl wohl, und als nun auch Gudrun bat, um ihretwillen nicht mehr Blut
zu vergießen, so ward Versöhnung gestiftet, und die stolzen Eltern gestatteten
endlich die Verlobung ihrer Tochter mit dem wackeren Herwig.
2. Wie Gudrun entführt ward.
Diese Kunde entflammte die beiden verschmäheten Könige zum heftig-
sten Zorn. Siegfried von Moorland fiel verwüstend in Herwig's Reich
ein, und Hettcl mußte mit allen seinen Mannen diesem zu Hülfe eilen.
Aber während so die Friesenburg von Vertheidigern fast ganz entblößt war,
benutzte der Normanne Hartmut schlau die günstige Gelegenheit. Seine
böse Mutter Gerliude, die über die Zurückweisung ihres Sohnes grollte,
hatte täglich ihn und seinen Vater Ludwig zur Rache getrieben: jetzt er-
schien er plötzlich mit einer mächtigen Flotte vor Hildens wehrlosem Schlosse,
um die schöne Gudrun mit Gewalt zu entführen. Zuerst suchte er durch
Schmeichelei und Drohungen die Jungfrau zu bewegen, daß sie ihm in die
Normandie folgte; als aber Gudrun immerfort bei dem Worte blieb:
„Durch feste Eide gehöre ich als Braut dem König Herwig", da stürmte
Hartmut die Burg, verbrannte sic und entführte Gudrun mit zweiund-
sechzig Frauen.
171
So erlebte die stolze, schöne Hilde ein ähnliches Schicksal, wie sie es
einst ihren Eltern bereitet hatte. Sie sandte Boten an ihren Gemahl in
Herwig's Land, um ihm das schwere Unglück zn melden und ihn zur Ver-
folgung der Räuber aufzufordern. Sogleich schlossen Hettel und Herwig
Frieden mit dem bedrängten Siegfried, und alle drei Könige vereinigten
sich, zu Schiffe den flüchtigen Normannen nachzusetzen. Aber in ihrer Hast
versäumten sie, den Todten die letzte Ehre zu erweisen; statt die Leichen
der Gefallenen fromm zn begraben, warfen sie dieselben rasch ins Meer,
um sich, ihrer nur zu entledigen und begaben sich dann auf die Verfolgung.
Diese Übereilung sollte ihnen theuer zu stehen kommen.
3. Wie sie auf dem Wülpensande kämpften.
Die Normannen waren indessen auf ihrer Rückfahrt an eine wüste
und einsame Insel der Nordsee, den Wülpensand, gekommen, und da es
ihnen nicht einfiel, daß sie von den Friesen noch eingeholt werden könnten,
so beschlossen sic, hier sich einige Tage von den Anstrengungen der Seereise
auszuruhen. Plötzlich erschienen die sie verfolgenden Könige. Ein grimmiger
Kampf erhob sich um die Landung: die Friesen sprangen bis an die Achsel
ins Wasser, um das Ufer zu gewinnen, aber vom Lande her flogen die
Pfeile so dicht, wie wenn Schneeflocken vom Sturme getrieben werden,
und das Wasser röthete sich vom Blute der Verwundeten. Vor allen
glänzten der kühne Wate und König Herwig durch Tapferkeit. Endlich
erreichten sie das Ufer, indem sic die Normannen mehr und mehr zurück-
drängten, aber die Nacht brach herein, ehe die Feinde überwältigt waren.
Da schlossen die Kämpfenden Waffenstillstand, und beide Heere lagerten
die Nacht hindurch neben einander ans dem Wülpensande.
Schon mit Tagesanbruch begann der Kampf von neuem. Hin und
her wogte der Streit: bald waren die Normannen, bald die Friesen im
Vortheil, voran aber kämpften stets die Könige und ihre Haupthelden.
Da stieß Hettel ausüben alten Normannenkönig Ludwig, den Vater Hart-
mut's, und obwohl er an riesigem Wuchs ihm nicht gleich kam, so sprang
er doch unverzagt auf ihn ein, um seinen Todfeind niederzuschlagen. Fürch-
terlich rasselten die Hiebe auf die Helme und die Panzer der beiden; in
ängstlicher Spannung sahen die Heere ans den Zweikampf ihrer Führer
und vergaßen fast der eigenen Arbeit. Endlich aber erspähete Ludwig eine
Blöße an seinem Gegner; sein Schwert drang tief in Hettel's Seite hinein
und streckte ihn todt zu Boden. Da erhoben die Friesen ein Wuthgeheul,
und um ihren König zu rächen, stürmten sie mit unwiderstehlicher Gewalt
auf die Normannen ein. Vor allen tobte Wate, einem wüthenden Eber
vergleichbar; die Funken sprühten unter den unablässigen, wuchtigen Schlägen
seines Schwertes. Wohl wurden die Normannen weiter zurückgedrängt,
aber auch dieser Tag brachte noch keine Entscheidung; bis tief in das Abend-
dunkel hinein kämpfte man, denn die Friesen wollten aus Zorn über den
Fall ihres Königs nichts von Waffenstillstand hören, und erst als der
Sänger Horand im Kampfgewühl statt eines Feindes seinen eigenen Neffen
erschlagen hatte und schmerzlich ausrief: „Hier wird die Schlacht zum
Mord", erst da ward den Feinden für die Nacht Waffenruhe gewährt.
Wahrscheinlich würde nun der dritte Tag den Friesen völligen Sieg
und die Befreiung der entführten Jungfrauen gebracht haben; aber in der
Nacht schifften mit feiger List die Normannen sich ein und führten Gudrun
und ihre Gefährtinnen mit sich hinweg, indem sie drohten, sie zu ertränken,
wenn sie einen Laut von sich gäben. Am frühen Morgen gewahrten die
Friesen den schändlichen Betrug: Wate ließ laut sein Heerhorn erklingen,
daß man es meilenweit hörte, und der junge Ortewin drängte, den Aus-
reißern sofort nachzusetzen, aber der kluge Frute prüfte Wind und Wellen
und fand, daß die Normannen schon einen viel zu großen Vorsprung ge-
wonnen Hütten, als daß man sie noch einholen könnte; in ihren befestigten
Burgen aber die Feinde anzugreifen, seien die Friesen viel zu sehr ge-
schwächt. So mußten sie nach langer Berathung den schweren Entschluß
fassen, unverrichteter Sache nach Hanse zu fahren und die Rache, sowie die
Befreiung der Entführten auf eine spätere Zeit zu verschieben, wo die,
welche jetzt noch im Knaben- und Jünglingsalter ständen, zu Männern
herangewachsen wären. Vorher aber begruben sie mit lauter Klage ihre
Todten, und namentlich dem geliebten König Hettel schütteten sie einen ge-
waltigen Grabhügel auf; auch den von den Normannen zurückgelassenen
Leichen erwiesen sic die letzte Ehre.
4. Me <8udrun in die Normandie kam.
Die entflohenen Räuber näherten sich unterdessen ihrer Heimat. Als
sie von ferne die Burgen derselben gewahrten, redete König Ludwig Gudrun
zu, daß sie seinen Sohn heirathe; aber empört durch die Niederträchtigkeit
ihrer Entführer und in tiefem Schmerz über den Tod ihres Vaters er-
klärte sic heftig, eher würde sie sterben, als daß sie Hartmut zum Gemahl
nähme, sie hasse ihn und seine ganze feige Sippe. Da ergrimmte Ludwig;
er erfaßte die Jungfrau an ihrem langen, blonden Haar und schleuderte sie
mit starker Faust weithin ins Meer. Sogleich sprang jedoch Hartmut ihr
nach und rettete sie in eine Barke. Gndruns Herz aber konnte er dadurch
nicht gewinnen.
Als sic nun in der Normandie das Land betraten, kamen ihnen er-
wartungsvoll Hartmuts Mutter, die böse Gerlinde, und seine liebliche
Schwester Ortrun entgegen. Die letztere küßte die heimatlose Gudrun und
zeigte durch Thränen ihr tiefes Mitgefühl, sodaß sich vom ersten Augen-
blick an eine innige Freundschaft zwischen den beiden Jungfrauen entspann.
Als nun aber auch die arglistig lauernde Gerlindc herantrat, um Gudrun
zu begrüßen, stieß diese sie heftig zurück; denn in ihr sah sic die Haupt-
anstifterin ihres Unglücks, und in ihrem Blicke fühlte sie eine böse Seele.
Von da an warf das arge Weib einen tödtlichen Haß auf die arme Jung-
frau, und sie dachte mehr darauf, dieselbe zu quälen, als sie der Hcirath
mit ihrem Sohne geneigt zu machen.
5. Me Gudrun als Magd gehalten ward.
Hartmut erneuerte seine Bewerbungen um Gudrun; da sic dieselben
aber entschieden zurückwies, so empfahl er sic der liebevollen Fürsorge seiner
Mutter und zog für eine Reihe von Jahren auf Abenteuer aus. Gcrlinde
begann nun, Gudrun nach ihrer Weise zu erziehen; sie hielt sie kärglich
173
und strenge und zwang ihre Gefährtinnen, die niedrigsten Mägdcdienstc zu
verrichten. Unter den mit der Königstochter geraubten Jungfrauen befand
sich eine Namens Hergart, die schönste und vornehmste nächst ihr selber;
diese mußte Wasser tragen und im Winter die Öfen heizen, aber bald
ward dadurch ihr Muth gebrochen, und sie beugte sich den Unterdrückern
und ward ihrer, Gebieterin untreu. Desto fester hielten die anderen Frauen
zu ihrer Herrin, und besonders war die treue Hildburg eine feste und
sichere Stütze für Gudrun. Diese selbst trug ihre bitteres Los ohne Klage,
aber keinen Augenblick wankte sie in der Treue gegeu den ihr verlobten
Herwig; ob auch Monde auf Monde und Jahre auf Jahre während ihrer
Erniedrigung dahinschwanden, so ließ sie doch die Hoffnung auf ihre end-
liche Befreiung nicht fahren, und ihren Peinigern blieb sie kalt und fremd,
wie sie es von Anfang an gewesen war. Nur gegen die Freundlichkeit der
lieblichen Ortrun, der freilich nur selten gestattet war, sich ihr zu nahen,
fühlte und zeigte sie warme Dankbarkeit.
Im siebenten Jahre kehrte Hartmut aus der Fremde zurück; er hoffte
Gudrun jetzt zur Vermählung willig zu finden, aber ihre Treue war un-
wandelbar. Seiner Mutter machte er schwere Vorwürfe über ihre Härte
gegen die Jungfrau; jene versprach, sic wolle hinfort es anders machen,
aber kaum hatte Hartmut sich abermals auf Seeabenteuer hinausbegeben,
so begannen auch die Mißhandlungen schlimmer als jemals. Die friesische
Königstochter mußte täglich Gerlindens Kammer auskehren und im Winter
die Öfen darin heizen, wobei es nicht an den schlimmsten Scheltworten
fehlte. Auf Augenblicke mochte Gudrun wohl verzagen und alle Hoffnung
auf Befreiung aufgeben; aber wenn sie sich an der Brust ihrer treuen
Hildburg ausgeweint und ein Gebet zum Himmel emporgesandt hatte, dann
kam ihr wieder Ruhe und Heiterkeit der Seele. Ohne Murren that sie
alles, was man ihr hieß, aber ihr Herz war bei den Lieben daheim.
So vergiengen wieder Jahre. Da kehrte Hartmut gegen den siebenten
Winter abermals zurück, nunmehr fest entschlossen, auf alle Fälle Gudrun
zu seiner Gemahlin zu machen. Er gieng in ihre Kammer und stellte ihr
alle Herrlichkeit vor, die sie als Königin des Landes zu erwarten habe;
aber mit Hoheit erwiderte sie: „Ihr wißt, daß euer Vater Ludwig meinen
Vater erschlug; wie könnte denn zwischen uns Freundschaft sein?" Als
endlich alle seine Überredungskunst sich unnütz erwies, wandte er sich an
feine Schwester Ortrun und bat sie, ihre Freundin zur Nachgibigkeit zu
bewegen. Freudig erwiderte jene: „O wie gern will ich ihr dienen! mein
Haupt will ich ihr neigen, daß sie wo möglich ihres Leides vergesse." So
ward Gttdrun zu Ortrun geführt und wieder fürstlich gehalten, aber auch
die holde Güte des einzigen Wesens im Normannenlande, dem sie herzlich
zugethan war, vermochte nicht sie wankend zu machen; ihr Schlußwort auf
alle Mahnungen der Freundin blieb immer: „Einem Könige bin ich längst
mit festen Eiden zum ehelichen Weibe verlobt und zugesagt; ehe er ge-
storben ist, werd' ich nie einem andern angehören." Da also auch der
Aufenthalt bei Ortrun, obgleich er viele Wochen dauerte, keine Änderung
in ihren Entschlüssen hervorbrachte, gab endlich Hartmut unwillig und ver-
drossen seine Versuche, sic durch Güte zu bewegen, auf und überließ sie
wieder seiner Mutter. Da begannen die Mißhandlungen wieder schlimmer,
174
als zuvor. Gudrun mußte am Meeresstrande im rauhcstcu Wetter Ger-
lindens Kleider waschen; aber auch diese äußerste Demüthigung ertrug sie,
um ihrem Herwig treu zu bleiben. Freilich erweckte die Verzweiflung in
ihr bisweilen harten Trotz, sodaß sie sprach: „Ich soll einmal nicht glück-
lich sein, so wollte ich denn, ihr behandeltet mich noch schlechter"; aber einen
Trost hatte sie doch an der treuen Hildburg, die durch vieles Bitten die
Erlaubnis erlangte, täglich Gudrun an den Meeresstrand zu begleiten.
6. Wie die Friesen ausführen, um Gudrun zu befreien.
Im Friescnlande wuchs unterdessen ein neues Geschlecht heran, und
Königin Hilde, der die Sorgen das Haar gebleicht hatten, sann unablässig auf
den Rache- und Befreiungszug. Endlich, als das vierzehnte Jahr seit Gudruns
Entführung herankam, sandte Hilde Boten an Herwig und ihren Sohn Ortewin
und alle ihre Dicnstmannen, vor allen an Wate, Frute und Horand, und
berief ein gewaltiges Heer, das mit einer wohlgerüsteten Flotte gleich nach
Anfang des Jahres die Fahrt nach der Normandie antrat. Aber die
kampfmulhigen Krieger hatten mit vielen Schwierigkeiten zu ringen, ehe sie
jenes Land erreichten. Zuerst wurden sic von widrigen Winden hoch nach
Norden in das finstere und unbewegliche Lebcrmeer verschlagen, wo der
Magnetberg sie für immer festzuhalten drohte; endlich nach langen Tagen
verzog sich der Nebel, und ein günstiger Luftzug trieb sie wieder in klares
und flüssiges Wasser. Aber da erhob sich ein schwerer Sturm, der sie
endlich nach vielen Gefahren an eine unbekannte Küste warf; hier mußten
sie, um sich von den überstandenen Mühseligkeiten zu erholen, sich eine Rast
von einem Tage gönnen. Als aber einer der Krieger einen riesigen Baum
erkletterte und in weiter Ferne Ludwigs Burg erkannte, da ließ es Ortewin
und Herwig nicht länger Ruhe: sie erboten sich, während das übrige Heer
noch rastete, in Fischerklcidung in die nahe Normandie zu gehen, um zu
erfahren, ob Gudrun und die mit ihr Entführten noch am Leben seien.
Dringend rieth selbst Wate von dem verwegenen Unternehmen ab, aber
in Ortewin und Herwig war die Sehnsucht zu mächtig, und gerade die
Gefahr lockte die Helden.
7. Wie Gudrun am Ärande wusch.
Der armen Gudrun war ihr Los inzwischen nicht erleichtert worden.
Aber als sie eines Tages, um den Eintritt der Frühlingszeit, wieder mit
Hildburg am Strande wusch, kam ein Schwan geschwommen, der
begann mit menschlicher Stimme zu reden und gab Gudrun rmf ihre
Fragen Auskunft über Hilde und alle Helden in der Heimat; zugleich ver-
hieß er ihr für den folgenden Morgen das Eintreffen zweier Boten aus
dem Friesenlande. Das war die erste Freude seit langer Zeit, und fröh-
lich nahmen die beiden Jungfrauen abends ihr kärgliches Nachtmahl ein
und legten sich dann getros! auf ihre harten Bänke. Aber sie konnten nicht
schlafen, mit zu großer Ungeduld erwarteten sie den nächsten Morgen. Als
der Tag eben graute, sah Hildburg hinaus. Da war ein tiefer Schnee
gefallen, und schon seit einiger Zeit waren ihnen die Schnhe genommen.
Um Gudruns willen ging deshalb die treue Freundin zu Gerlinde, die sich
175
noch im warmen Bette behaglich dehnte, und bat,, sie möge ihnen doch
heute wenigstens Schuhe erlauben. Aber mit harten Worten schlug das
böse Weib ihr Begehren ab. So wanderten die beiden armen Frauen bar-
fuß durch den Schnee an den Strand und begannen, vor Kälte zitternd,
zu waschen. Lange harrten sie vergeblich der verheißenen Boten.
Nach dcm Volksbuche.
8. N)ie Ortwein und Herwig zu ihnen kamen.
Fünfundzwanzigstes Abenteuer.
1. Nach langem Harr'n und Warten, da sahn sie auf dem Meer
Zwei in einer Barke und anders niemand mehr.
Da sprach Frau Hildeburg zu Gudrun der reichen:
„Tort sch ich zweie schwimmen: deinen Boten scheinen die zu gleichen."
2. Da sprach die Iammersreiche: „O weh ich arme Maid;
Jammer schafft mir alles, die Freude wie das Leid.
Sind es Hildens Boten, sollen die mich finden
Waschen auf dcm Griese, die Schande könnt' ich nimmer überwinden.
3. „Ich arme Gottvcrlaßne, ich weiß nicht, was ich thu:
Traut Gespiel, Hildeburg, gib deinen Rath dazu.
Soll ich von hinnen weichen oder mich hier finden
Lassen in der Schande? Lieber hieß ich immer Ingesinde."
4. Da sprach Frau Hildeburg: Ihr seht wohl, wie cs steht:
In so hohen Dingen fragt nicht, was Hildburg räth.
Ich leiste mit euch gerne alles, was ihr thut:
Ich will bei euch verbleiben, cs ergeh' euch übel oder gut."
5. Da wandten sie sich beide und giengcn eilends fort:
Doch waren schon so nahe die Männer jenem Ort,
Daß sie die Wäscherinnen sahen an dein Strande;
Da wurden sie wohl inne, daß sie wollten fliehn von den Gewänden.
6. Sie sprangen aus der Barke und riefen ihnen nach:
„Ihr schönen Wäscherinnen, warum ist euch so jach?
Wir sind fremde Leute, das mögt ihr an uns spüren;
Scheidet ihr von hinnen, die reichen Kleider werdet ihr verlieren."
7.. Sie stellten sich, als hätten sie nichts davon vernommen,
Obwohl zu ihren Ohren die Stimme war gekommen;
Zu laut gesprochen hatte Herwig der König. ■
Daß er seiner Trauten so nah wär', deß versah der Held sich wenig.
8. Da sprach der Held von Seeland: „Ihr Mädchen minniglich,
Wem gehören diese Kleider? deß bcschcidet mich. \
Hört ohne Falsch uns bitten: zu Ehre» allen Maiden,
Ihr minniglicheu Frauen, sollt ihr nicht von dem Gestade scheiden."
9. Da sprach die edle Gudrun: „Ich deuchte mich geschmäht,
Da ich ein Mädchen heiße, und ihr mich habt gefleht
Bei aller Mädchen Ehre, wenn ich euch bitten ließe",
So sprach zu ihm die hehre: „drum müssen meine Augen überfließen."
10. Sie giengen in den Hemden; die waren naß zu schaun;
Besser einst gekleidet sah' man die edeln Frau'n.
176
Vor Kälte mußte beben das arme Ingesinde;
Kläglich war ihr Leben; sie umwehten kalte Märzenwinde.
11. Es war in den Tagen, da der Winter Abschied nimmt
Und der Vogel mit Zagen die Kehle wieder stimmt,
Daß er singe seine Weise, wenn der März entschwunden.
In Schnee und in Eise wurden die armen Waisen gefunden.
12. Mit gesträubten Haaren kamen sie heran.
Wie ihnen beiden waren die Häupter wohlgethan,
Doch sah man ihre Locken zerzaust vom Märzenwinde;
Ob es regnete oder schneite, weh war dem armen Ingesinde.
13. Das Meer allenthalben noch mit dem Eise floß,
Das sich zerlassen wollte; ihre Sorge, die war groß.
Durch die Hemden schienen weiß wie der Schnee
Die minniglichen Glieder; ihnen schuf die Scham vor Fremden Weh.
14. Herwig der edle ihnen guten Morgen bot:
Wohl war den Heimatlosen ein guter Morgen noth.
Von ihrer bösen Meisterin hörten sie nur Schelten;
Guten Morgen, guten Abend kam den minniglichen Maiden selten.
15. „Ihr sollt uns hören lassen", sprach Herr Ortewein,
„Wem diese reichen Kleider auf dem Strande sei'u,
Oder wem ihr waschet? Ihr beiden seid so schöne.
Wer thut euch das zu Leide? Daß ihn Gott vom Himmel immer höhne!
16. Ihr seid so schön, ihr dürftet wohl die Krone tragen
Und einem reichen König als Erbinnen behagen.
Landesfrauen heißen solltet ihr mit Ehre;
Dem ihr so schmachvoll dienet, hat er so schöner Wäscherinnen mehre?"
_ 17. Da sprach mit trübem Muthe das schöne Mägdelein:
„Er hat noch manche schöner, als wir mögen sein.
Nun fraget, was ihr wollet; wird es die Meist'rin inne,
Es möcht' uns schlinnn bekommen, säh' sie uns mit euch sprechen von den
Zinnen."
18. „Laßt es euch nicht verdrießen und nehmet unser Gold,
Guter Spangen viere; das sei euer Sold,
Daß ihr schöne Frauen uns Kunde möget sagen:
Wir geben sie euch gerne, daß ihr Bescheid uns gebt auf unsre Fragen."
19. „Gott laß euch eure Spangen selber wohlgedeihn,
Wir nehmen nichts zu Lohne", sprach das Mägdelein;
„Fragt was ihr wollt, wir müssen schnell von hinnen;
Säh' man uns mit euch reden, das wär' mir leid von Herzen und von Sinnen."
20. „Wem ist dieses Erbe und dieses reiche Land,
Dazu die guten Burgen? Wie ist er genannt,
Der euch ohne Kleider läßt so schmachvoll dienen?
Wollt' er auf Ehre halten, euch anders zu behandeln würd' ihm ziemen."
21. Sie sprach: „Der Fürsten einer heißet Hartmut:
Dem dienen weite Lande und feste Burgen gut;
Der andre heißet Ludwig von Normandie der Reiche,
Ähnen dienen viel der Helden; sie sitzen ruhmvoll hier in ihrem Reiche."
177
22. „Gerne möchten wir sie sehen", sprach da Ortwein.
„Könnt ihr uns bescheiden, ihr schönen Mägdelein,
Wo wir die Fürsten beide in ihrem Lande finden?
Wir sind an sie gesendet, selber eines Königs Ingesinde."
23. Gudrun die hehre sprach zu den Helden da:
„Ich ließ sie in der Veste; heute Morgen sah
Ich sie zu Bette liegen wohl mit vierzig hundert Mannen;
Ich weiß nicht zu sagen, ob sie seitdem geritten sind von dannen."
24. Da sprach der König Herwig: „Könnt ihr uns denn sagen,
Vor wem die Kühnen so große Sorge tragen,
Daß sie so viel Helden halten zu allen Zeiten?
Zog' ich damit zu Felde, ich möchte wohl ein Königsland erstreiten."
25. „Das tonnen wir nicht sagen", sprachen die Frau'n,
„Wir wissen nicht, wohin sie nach andern Ländern schaun.
Ein Land liegt in der Weite, das heißet Hegelingen;
Sie fürchten zu allen Zeiten, das möcht' ihnen grimme Feinde bringen."
26. Noch zitterten vor Kälte die schönen Mägdelein.
Da sprach der König Herwig: „Möchte das doch sein,
Daß es euch minnigliche deuchte keine Schande,
Wenn ihr edeln Mädchen unsre Mäntel trüget auf dem Strande."
27. Da sprach Hildens Tochter: „Gott laß euch selbst gedeih»
Eure Mäntel beiden! An dem Leibe mein
Sollen nicmands Augen Manneskleider sehen."
Wenn sie sich erkennten, ihnen könnte Lieb'res nicht geschehen!
28. Oftmals blickte Herwig die Jungfrau forschend an;
Sie schien so schön dem Degen und auch so wohlgethan.
Daß es ihn im Herzen oft zum Seufzen brachte;
Sie glich so sehr der Einen, an die er oft gar inniglich gedachte.
25. Da sprach von Ortland wieder der König Ortwein:
„Ich frag' euch Mädchen beide, sollt' euch bekannt nicht sein
Ein fremdes Ingesinde, das kam zu diesem Land?
Eine war darunter, die wurde Gudrun genannt."
30. „Das hab' ich wohl erfahren", sprach die schöne Maid,
„Es kam ein fremd' Gesinde hierher vor langer Zeit;
Nach starker Heerfahrt brachte man sie zu diesen Reichen.
Den geraubten Frauen sah man das Antlitz großen Jammer bleichen."
31. Sie sprach: „Die ihr da suchet, die hab' ich wohl gesehn
In großen Mühsalen, das will ich euch gestehn."
Sie war der Mädchen eine, die da Hartmut brachte;
Ja Gudrun war sie selber, daher sie dieser Dinge wohl gedachte.
^ 32. Da sprach König Herwig: „Nun seht, Herr Ortewein:
Sollt' eure Schwester Gudrun noch am Leben sein
In irgend einem Lande von allen Erdcnrcichen,
So schwirr' ich, diese wär' es: niemals sah ich ihr ein Weib so gleichen."
33. Da sprach König Ortwein: „Sic ist gar minniglich;
Jedoch mit meiner Schwester nicht vergleicht sie sich.
Aus unser beider Jugend gedenk' ich wohl der Stunde,
Da hätte man auf Erden kein so schönes Mägdelein gefunden."
12
178
34. Da er ihn also nannte, der kühne junge Mann,
Mit seinem Namen Ortwein, da sah ihn wieder an
Gudrun die arme; ob es ihr Bruder wäre,
Das wüßte sie so gerne; so würd' erleichtert ihres Herzens Schwere.
35. Sie sprach: „Wie ihr auch heißet, ihr seid untadelig.
Einem, den ich kannte, gleicht ihr seltsamlich;
Er war geheißen Herwig und war von Seelanden;
Wenn der Held noch lebte, so löst' er uns aus diesen strengen Banden.
36. „Ich bin auch ihrer eine, die mit Hartmuts Heer
Im Streit gefangen wurden und geführet über Meer.
Ihr suchet Gudrnnen: das thut ihr ohne Noth,
Die Magd von Hegelingen fand vor großem Leid den Tod."
37. Da thränten Ortweinen seine Augen licht;
Die Kunde ließ auch Herwig unbeweinet nicht.
Als sie das vernahmen, daß gestorben wäre
Die Magd von Hegelingen, das belud ihr Herz mit großer Schwere.
38. Als sie die Helden beide vor ihr weinen sah,
Die geraubte Jungfrau sprach zu ihnen da:
„Ihr gehabt euch also bei dieser Trauermäre,
Als ob die edle Gudrun euch verwandt, ihr guten Helden, wate."
39. Da sprach der König Herwig: „Wohl traur' ich um die Maid,
Sie ist mein Weib gewesen auf alle Lebenszeit.
Sie war mir zugeschworen mit Eiden fest und stäten;
Nun hab' ich sie verloren durch des alten Ludwigs grimme Räthe."
40. „Ihr wollt mich betrügen", sprach die arme Magd,
„Von Herwigens Tode ward mir oft gesagt.
Die höchste Wonn' auf Erden sollt' ich in ihm gewinnen;
Wär' der noch am Leben, so hätt' er längst mich geführt von hinnen."
41. Da sprach der edle Ritter: „So seht meine Hand,
Ob ihr dies Gold erkennet: Herwig bin ich genannt.
Mit diesem Mahlschatz sollt' ich Gudrnnen mimten; _
Seit ihr denn meine Gattin, wohlan, ich führ' euch minniglich von hinnen."
42. Wie nach der Hand sie schaute und nach dem Ringelein,
Da lag in dem Golde von Abale der Stein,
Ter beste, den sie je gesehn all ihres Lebens Tage;
Einst hatt' ihn Gudrune, die schöne, selber an der Hand getragen.
43. Sie lächelte vor Wonne; da sprach das Mägdelein:
„Das Gold erkenn' ich wieder, vor Zeiten war es mein.
Nun sollt ihr dieses sehen, das mein Gebieter sandte,
Da ich armes Mädchen mit Freuden war in meines Vaters Lande."
44. Wie nach der Hand er schaute und das Gold ersah,
Herwig der edle sprach zu Gudrun da:
„Dich hat auch anders niemand als Königsblnt getragen;
Nun hab' ich Freud' und Wonne gesehn nach langem Leid und bösen Tagen."
45. Da umschloß er mit den Armen die herrliche Maid;
Was sie gesprochen hatten, gab ihnen Lieb und Leid.
Auch bedeckt' er mit Küssen den Mund, die niemand zählte,
Ihr und Hildebnrgeu, der minniglichen Magd, der auserwählten.
179
46. Ortwein begann zu fragen die herrliche Maid —
Sie schämte sich darüber, es war ihr selber leid —,
Ob sie nicht anders dienen könnten hier im Lande,
Als daß sie Kleider zu allen Zeiten wüschen hier am Strande.
47. „Nun sagt mir, Frau Schwester, wem ihr die Kinder gabt,
Die ihr dem König Hartmut seitdem getragen habt,
Daß ihr so alleine waschet auf dem Griese?
Seid ihr des Landes Königin, das läßt man euch gar übel hier genießen."
48. Sie sprach zu ihm mit Weinen: „Wo nähm' ich Kinder her?
Wohl wissen alle Leute in König Hartmuts Heer,
Daß er mir vergebens solches stets geheißen,
Daß ich ihn nehmen sollte; drum muß ich saurer Arbeit mich befleißen."
49. Da sprach der König Herwig: „Wohl mögen wir gestehn,
Uns ist auf dieser Reise so großes Glück geschehn,
Besser konnt' es wahrlich nimmer uns gelingen;
Nun laßt uns nur eilen, daß wir sie weg von diesem Strande bringen."
50. Da sprach der Degen Ortwcin: „Nicht doch, daß thu' ich nie;
Und hätt' ich hundert Schwestern, all' sterben ließ ich sie,
Eh' ich mich in der Fremde so feige wollte hehlen,
Die mit Gewalt sie nahmen, meinen grimmen Feinden wegzustehlen."
51. Da sprach der Held von Seeland: „Mir schasst die Sorge Pein,
Wird man unser innen, daß man die Mägdelein
So weit von hinnen führe (drum mag uns Hehlen frommen),
Daß sie uns all' ihr Leben nimmer.wieder vor die Augen kommen."
52. Da sprach aber Ortwein: »Wie so verließen wir
Das edle Ingesinde? Es hat so lange hier
Geharrt im fremden Lande, es mag sie wohl verdrießen.
Meiner Schwester Gudrun sollen ihre Mädchen all' genießen."
53. Da sprach König Herwig: »Was hast du wohl im Sinn?
Meine Herzgclicbte, die führ' ich mit mir hin!
Thun wir, was wir können, hernach für jene Frauen."
Da sprach der Degen Ortwein: „Eh laß ich mit der Schwester mich zerhauen."
54. Da sprach die Tiefbetrübte: „Was hab' ich dir gethan,
Lieber Bruder Ortwein? deine Augen sahn
Sie je mich so gebühren, daß man mich dürfte schelten?
Ich weiß nicht, welcher Dinge du edler Fürst mich heute läßt entgelten."
55. „Ich thu' es, liebe Schwester, nicht aus Haß zu dir;
Doch deine edeln Maide nur also retten wir.
Ich kann dich nicht von hinnen führen als in Ehren;
Du sollst unbescholten Herwig deinem Liebsten Minne gewähren."
56. Sie giengen zu den Schiffen: da klagte laut die Maid.
Sie sprach: „O weh mir Armen! Nun ist endlos mein Leid;
Auf die ich immer hoffte, da mich die verschmähen,
Daß sie mich lösen würden, wann soll ich dann die Heimat wiedersehen?"
57. Die kühnen Degen eilten zum Gestade jach;
Gudrun die arme rief Herwigen nach:
„Einst war ich die beste, ~ nun gelt' ich für die böste!
Wem läßt du mich, und wessen soll ich arme Waise mich getrosten?"
12*
180
58. „Du bist nicht die Löste, du sollst die beste sein;
Edle Königin, hehle für jetzt die Reise mein;
Eh morgen scheint die Sonne, lieg' ich hier zu Felde,
Das glaub' auf meine Treue, vor dieser Burg mit achtzigtausend Helden."
59. So schnell als sie konnten, fuhren sie hindann.
Da hub ein härt'res Scheiden zwischen Freunden an
Als je Freunde thaten, das darf man mir wohl glauben.
Sie begleiteten die Boten so fern als sie nur konnten mit den Augen.
60. Der Wäsche nun vergaßen die herrlichen Frau'n.
Wohl konnt' es aus der Ferne die böse Gerlind schaun,
Daß sie müßig waren da unten auf dem Strande.
Da zürnte sie gewaltig; ihr lagen sehr am Herzen die Gewände.
61. Da sprach die schöne Hildburg, die Maid aus Irland:
„Was laßt ihr, Königstochter, liegen das Gewand,
Daß ihr Ludwigs Degen zu waschen säumt die Kleider?
Und wird das Gerlinde inne, so that sie uns mit Schlagen niemals leider."
62. Da sprach die Tochter Hildens: „Dazu bin ich zu hehr,
Der bösen Gerlind waschen will ich nimmermehr,
Nun verschmäh' ich Dienste zu leisten so geringe,
Da mich zwei Könige küßten und mit den Armen herzend mich umfiengen."
63. „Ihr dürft mir nicht verdenken", hub Hildburg wieder an,
„Daß ich zum Waschen rathe; wir thäten klüger dran,
Als daß wir so die Kleider in die Kammer tragen,
Sonst wird uns beiden der Rücken übel heute noch zerschlagen."
64. Da sprach die Enkelin Hagen's: „Freude nahet mir,
Trost und hohe Wonne; ob sie bis morgen hier
Mich mit Besen schliigen, daran würd' ich nicht sterben;
Doch die uns so mißhandeln, deren müssen viele bald verderben.
65. „Ich will diese Kleider tragen zu der Flut;
Es soll ihnen frommen", sprach das Mägdlein gut,
„Daß ich mich vergleichen darf mit Königinnen;
Ich werfe sie ins Wasser, daß sie lustig fließen von hinnen."
66. Was auch Hildburg redete, Gudrun trug hindann
Frau Gerlindens Linnen; zu zürnen hub sie an,
Sie schwang sie aus den Händen weit in die Wogen.
Sie schwebten eine Weile; ich weiß nicht, ob sie je hervor sie zogen.
67. Die Nacht begann zu dunkeln, da längst der Tag zerrann.
Hildeburg gieng traurig zu der Burg hindann:
Sie trug drei Kleider und schöner Tücher sieben;
Bei ihr gieng Ortweins Schwester; die war der Wäsche ledig heut' geblieben.
68. Es war schon spät geworden, da kamen sie ans Thor
Der Veste König Ludwigs; da fanden sie davor
Die üble Gerlind' harren auf ihr Ingesinde.
Die edeln Wäscherinnen grüßte sie mit Worten ungclinde.
69. „Wer hat euch das erlaubet", sprach des Königs Weib,
„Schmerzlich soll es büßen euer beider Leib,
Daß ihr so spät am Abend euch mögt am Strand ergehen;
Nicht ziemt es Königsfrauen, in ihrer Kammer euch hinfort zu sehen."
181
70. Sie sprach: „Nun laßt mich hören, warum thut ihr das?
Ihr verschmähet Könige und tragt zu ihnen Haß
Und koset am Abend mit gemeinen Knechten;
Wollt ihr Ehr' erwerben, so scheinen solche Wege nicht die rechten."
71. Da sprach die hehre Jungfrau: „Was klagt-ihr mich an?
Da doch solchen Willen ich Arme nie gewann;
Niemand lebt aus Erden, mit dem ich sprechen wollte,
Es wären denn Verwandte, mit denen ich auch billig reden sollte."
72. „Schweig, du böse Galle! Lügen strafst du mich?
Das wird an dir noch heute gerochen sicherlich,
Daß sich dein Zorn nicht wieder so laut hervor soll wagen;
Eh' ich nachlasse, soll es fürwahr dein Nucken schwer beklagen."
73. „Das will ich widerrathen", sprach die Jungfrau hehr,
„Daß ihr mich mit Ruthen schlaget nimmermehr;
Bin ich doch viel hehrer als ihr mit all den enern;
So ungefüger Züchtigung möchte man nun wohl bei Zeiten steuern."
74. Da sprach die Wölfische: „Wo sind die Kleider mein?
Daß du so gewunden hast die Hände dein,
Recht wie ein Müssiggänger in deinem Schoß gefalten.
Leb' ich noch eine Weile, ich will dich anders lehren Dienst verwalten."
75. Da sprach die Enkelin Hägens: „Ich ließ sie liegen dort
Unten am Gestade; da ich sie wollte fort
Mit mir zu Hofe tragen, war mir zu schwer die Bürde;
Mich sollt' cs nicht kümmern, wenn, man sic nicht wieder finden würde."
76. Da sprach die böse Teufelin: „Das kommt dir nicht zugut;
Eh' ich mich schlafen lege, wie übel man dir thut!"
Da ließ sie Dornen brechen und zu Besen binden;
Es wollte nicht entrathen so ungefüger Züchtigung Gcrlinde.
77. An ein Bettgestelle sie die Schöne binden hieß
In einer Kemenate, wo sie niemand zu ihr ließ,
Da wollte sic die Haut ihr vom Gebeine schlagen;
Die Frauen, die das wußten, huben an zu weinen und zu klagen.
78. Listig sprach da Gudrun: „Das will ich euch sagen:
Werd' ich mit diesem Besen heute hicp geschlagen,
Sieht mich dann je ein Auge bei reichen Königen stehen,
Auf dem Haupte die Krone, gar übel wird cs dem dafür ergehen.
79. „Drum rath' ich, daß mich keiner zu berühren wagt;
Ich will ihn jetzo minnen, dem ich bisher versagt.
Man soll mich als Königin der Normandie erschauen;
Und herrsch' ich da, so thu ich, was mir niemand möchte zugetrauen."
80. Da sprach Frau Gerlinde: „So ließ ich meinen Zorn;
Und hättest du mir tausend Linnen auch verlor'n,
Die wollt' ich verschmerzen; wohl sollt' cs dir frommen,
So du Hartmuten von Normandie dir zum Gemahl genommen."
81. Da sprach die schöne Jungfrau: „Erholen muß ich mich;
Alle diese Qualen sind zu fürchterlich.
Rufet mir den König von Normandie hieher!
Was mir der gebietet, ich leiste willig sein Begehr."
Übersetzt von Sinirock.
182
9- Wie Gudrun die letzte Nacht in der Normandie verlebte.
In der Burg verbreitete sich das Gerücht, daß Gudrun jetzt Königin
der Normandie werden wolle. Auch zu Hartmut drang es, und freudig
eilte er zu der Geliebten, um sie zu umarmen. Aber stolz trat sie zurück
mit den Worten: „Halt! das wäre für euch eine Schande, eine arme,
schlecht gekleidete Wäscherin zu umarmen; steh' ich erst im königlichen
Schmucke, dann ziemt es euch, mich als euresgleichen zu begrüßen." Da
befahl Hartmut, daß Gudrun gebadet und prächtig gekleidet würde; auch
wurden "ihre Schicksalsgefährtinnen (natürlich mit Ausnahme der ungetreuen
Hergart) zu ihr gelassen und glänzend bewirtet. Diese aber waren traurig
über den vorgeblichen Entschluß ihrer Herrin, in der Normandie zu bleiben.
Da lachte die schalkische Gudrun, die sich jetzt so glücklich fühlte, hell auf,
sie, der doch seit dreizehn Jahren das Lachen fern gewesen war. Lauscher
hinterbrachten dies Gerlinden, und diese gerieth in große Angst wegen des
unbegreiflichen Lachens; wohl kam sie jetzt auf den Gedanken, ob die Feinde
in der Nähe sein sollten, aber Ludwig und Hartmut beruhigten sie.
Gudrun hatte inzwischen die Aufwärter fortgeschickt und die Thüren
verriegelt und offenbarte sich jetzt ihren Freundinnen. „Hört", sagte sie,
„ich habe heute Herwig und Ortewin geküßt; morgen früh sind sie mit
Heeresmacht vor der Burg. Diejenige von euch, die mir zuerst am frühen
Morgen die Feldzeichen der Friesen erblickt, werde ich königlich belohnen."
10. Wie die Friesen die Normannenburg nahmen.
Beim ersten Grauen des Tages war wirklich die Burg rings einge-
schlossen. Der Türmer blies; Gerlindc fuhr aus unruhigem Schlaf empor
und rüttelte Ludwig auf: „Gudruns Lachen", rief sie, „werden deine
Helden heute mit dem Leben bezahlen." Nachdem sic von der Mauer aus
die Massen der Feinde beobachtet hatte, bat sie Hartmnt, sich nicht gegen
jene ins Freie zu wagen, man könne ja von oben herab Steine schleudern
und mit Armbrüsten schießen; aber ihr ritterlicher Sohn hielt nur den
Kampf im offenen Felde für ehrenwerth und weigerte sich, ans die Rath-
schläge der Mutter einzugehen.
Man zog aus den Burgthoren. Nun begann aber Wate zum Angriff
zu blasen: dreißig Meilen weit hörte man cs längs dem Strande klingen,
und als er zum dritten Male blies, da wallten die Meercswellen und der
Ufergrund wankte und die Ecksteine wollten aus den Mauern springen. Im
ersten Anlauf verwundete Hartmut Ortewin und den ihm zu Hülfe eilenden
Horand. An einer andern Stelle trafen Herwig und Ludwig auf einander.
Der starke Alte schlug seinen Gegner so, daß er zu Boden sank, aber
Herwig raffte sich schnell wieder auf, und indem er mit Scham emporblickte,
ob Gudrun auch seine Schmach gesehen habe, sammelte er alle seine Kraft,
verfolgte Ludwig und schlug ihm das Haupt herunter.
In der Burg verkündete der Wächter den Fall des Königs, und
Schreien und Wehklagen erscholl. Das hörte Hartmut, und von schlimmen
Ahnungen erfüllt, wollte er jetzt die Seinen hinter die festen Mauern zurück-
führen. Aber er fand das Thor vom riesigen Wate besetzt. „Das ist mir
ein schlimmer Pförtner", rief Hartmnt, aber unverzagt warf er sich auf den
183
Feind, und ein furchtbarer Zweikampf erhub sich. Als dieser endlich wegen
der Erschöpfung der Gegner auf einen Augenblick ruhte, hörte Hartmut von
dem oberen Mauerrande der Burg einen Angstschrei: ein Diener, von der
bösen Gerlinde dazu angestiftet, nahte sich eben der dem Kampf von oben
zuschauenden Gudrun, um sie hinterrücks zu durchbohren. Aber mit Donner-
worten scheuchte Hartmut den heimtückischen Schurken zurück und rettete so
Gudrun zum zweiten Male das Leben; dann nahm er den Kampf mit dem
fürchterlichen Wate wieder auf. Das sah von oben die liebliche Ortrun,
die eben erst die Kunde vom Tode ihres Vaters vernommen hatte, und mit
rührender Klage warf sie sich Gudrun zu Füßen. „Gedenke", rief sie,
„wie dir zu Muthe war, als man deinen Vater erschlug. Nun sieh, mein
Vater und meine Freunde sind todt; würde mir auch mein Bruder Hartmut
erschlagen, so wäre ich ganz eine Waise. Vergilt nun alle Liebe, die ich
dir erwies, und rette meinen Bruder vor dem schrecklichen Helden, mit
dem er jetzt kämpft." Gern wollte Gudrun die Bitte ihrer Freundin er-
füllen, aber der tobende Wate hörte sie nicht. Da gewahrte sie Herwig,
winkte ihn heran und bat ihn, die beiden Kämpfer von einander zu scheiden.
Aber Wate verweigerte in seiner wilden Aufregung Herwig's Begehren, und
da dieser dennoch zwischen die Streitenden sprang, versetzte er ihm einen
Schlag, daß er hintanmelte. Darüber entstand ein Getümmel, in welchem
Hartmut lebendig gefangen genommen ward.
Nun gewann Wate stürmend die Burg. Horand pflanzte Hildens
schneeweißes Banner auf der Zinne auf. Im Schloß aber tobte Wate
gleich einem Würgengel, selbst die Kinder in der Wiege mordete er, um
nicht ein Geschlecht von Rächern heranwachsen zu lassen. Ortrun und viele
von ihren Mägden und Dienern flüchteten sich in Gudrun's Schutz; als
aber auch Gcrlinde sich ihr zu Füßen warf und um Gnade flehte, sprang
Wate mit knirschenden Zähnen und blitzenden Augen heran, schleppte die
zitternde Königin mit den Worten: „Nun soll meine Jungfrau nimmermehr
eure Kleider waschen", hinaus und schlug ihr das Haupt ab. Dann suchte
er die ungetreue Hergart; Gudrun flehte, ihr das Leben zu schenken, aber
der rasende Held rief: „Das kann nicht sein, hier bin ich Zuchtmeister",
und er legte der Bcrrätherin das Haupt vor die Füße. Auch die Burg
wollte er verbrennen, doch Frutc wehrte es; dieser ließ die Todten hinaus-
tragen und das Blut abwaschen und übergab Horanden die Frauen' zur
Obhut.
U. lüie Gudrun heimkehrte.
Jetzt gieng cs heim ins Friescnland. Boransgcsandte Boten brachten
Hilden die frohe Kunde. Als diese erfuhr, daß König Ludwig erschlagen
wäre, jauchzte sie auf in befriedigtem Rachcgefühl. Aber sogleich fragte sie
ängstlich, wie es Gudrun und ihren Mägden ergehe; die Mutterliebe war
doch mächtiger, als der Feindcshaß. Und als sie nun ihre Tochter selbst
umfieng und küßte, da hätte alles Gold der Welt ihr die Freude nicht
ausgewogen. Dankbar neigte sie sich vor dem gewaltigen Wate und küßte
ihn, ebenso ihren Ortewin. Als aber auch Ortrun ihr vorgeführt ward,
wandte sie sich strenge von der Tochter ihres Feindes ab, und erst Grll>runs
Bitten und Thränen vermochten endlich ihren Zorn soweit zu mildern, daß
184
sie dieselbe umarmte. Aber Hartmut ward in Ketten geworfen, und erst
nach einigen Tagen erreichten die Frauen durch vereinigte Bitten soviel von
der Königin, daß er frei am Hofe umhergehen durfte.
Bald folgte nun die fröhliche Vermählung Herwig's und Gudrun's.
Beim festlichen Mahle nahm die glückliche Braut, die gern alles um sich
her beglücken wollte, ihren Bruder bei Seite und stellte ihm vor, wie wohl
er berathen wäre, wenn er die liebliche Ortrun zum Weibe nähme. Gern
willigte er ein, und auch Ortrun sagte freudig zitternd Ja. Zwar sträubte
sich noch die strenge Hilde dagegen, aber endlich überredeten Herwig und
Frute sie. So ward aller Haß versöhnet. Der greise Horand aber sang
an diesem Tage seine schönsten Lieder und Weisen. Nach d°m B°irsb»ch-.
139. Gudruns Klage.
1. Nun geht in grauer Frühe
Ter scharfe Märzenwind,
Und meiner Qual und Mühe
Ein neuer Tag beginnt.
Ich wall' hinab zum Strande
Durch Reif und Dornen hin,
Zu waschen die Gewände
Der grimmen Königin.
2. Das Meer ist tief und herbe,
Doch tiefer ist die Pein,
Von Freund und Heimatscrbe
Allzeit geschieden sein;
Doch herber ist's, zu dienen
In fremder Mägde Schar,
Und hat mir einst geschienen
Tie güldne Krön' im Haar.
3. Mir ward kein guter Morgen
Seit ich dem Feind verfiel,
Mein' Speis' und Trank sind Sorgen
Und Kummer mein Gespiel.
Doch berg' ich meine Thränen
In stolzer Einsamkeit;
Am Strand den wilden Schwänen
Allein sing' ich mein Leid.
4. Kein Dräuen soll mir beugen
Den hochgemuthen Sinn;
Ansduldend will ich zeugen,
Von welcheni Stamm ich bin.
Und so sie hold gebahren,
Wie Spinnweb acht' ich's nur;
Ich will getreu bewahren
Mein Herz und meinen Schwur.
5- O Ortwin, trauter Bruder,
O Herwig, Buhle werth,
Was rauscht nicht euer Ruder,
Was klingt nicht euer Schwert!
Umsonst zur Meereswüste
Hinspäh' ich jede Stund';
Doch naht sich dieser Küste
Kein Wimpel, das mir kund.
6. Ich weiß es: nicht vergessen
Habt ihr der armen Maid;
Doch ist nur kurz gemessen
Dem steten Gram die Zeit.
Wohl kommt ihr einst, zu sühnen;
Zu retten, ach, zu spät,
Wann schon der Sand der Dünen
Um meinen Hügel weht.
7. Es dröhnt mit dumpfem Schlage
Die Brandung in mein Wort;
Der Sturm zerreißt die Klage
Und trägt beschwingt sie fort.
O möcht' er brausend schweben
Und geben euch Bericht:
„Wohl lass' ich hier das Leben,
Die Treue last' ich nicht!" G-ibel.
149. Die Rache.
1. Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn;
Der Knecht wär' selber der Ritter gern.
2. Er hat ihn erstochen im dunklen Hain
Und den Leib versenket im tiefen Rhein.
185
3. Hat angeleget die Rüstung blank,
Auf des Herren Roß sich geschwungen frank.
4. Und als er sprengen will über die Brück',
Da stutzet das Roß und bäumt sich zurück.
5. Und als er die güld'nen Sporen ihm gab,
Da schleudert's ihn wild in den Strom hinab.
6. Mit Arm, mit Fuß er rudert und ringt;
Der schwere Panzer ihn niederzwingt. s. uhland.
141. Der Löwe.
Ein einziger Blick auf den Leib des Löwen, auf den Ausdruck seines
Gesichtes, genügt, um der uralten Auffassung aller Völker, welche das könig-
liche Thier kennen lernten, von Grund des Herzens zuzustimmen. Der
Löwe ist der König der Raubthiere, ist der Herrscher im ganzen
Reiche der Säugethiere. Sein Hauptkennzeichen liegt in dem stark gebauten,
kräftigen Leibe mit der kurzen, glatt anliegenden, einfarbigen Behaarung,
in dem breiten, kleinäugigen Gesicht, in dem Herrschermantel der wallenden
Mähne, welcher sich um seine Schultern schlägt, und in der Quaste, welche
seine Schwanzspitze ziert. Im Vergleich zu den anderen Katzen ist der
Rumpf des Löwen kurz, der Bauch eingezogen, und der ganze Körper er-
scheint deshalb wohl kräftig, nicht aber plump. Die Augen sind klein und
haben runde Sterne, die Schnurren sind in sechs bis acht Reihen geordnet.
Vor allem ist es die Mähne, welche die männlichen Löwen auszeichnet und
ihnen das stolze, königliche Ansehen verleiht.
Diese Mähne bekleidet in vollster Ausbildung den Hals und die Vordcr-
brust, ändert aber so verschieden ab, daß man aus ihr allein die Heimat
des Löwen erkennen kann.
In früheren Zeiten waren die Löwen weit verbreiteter, als gegenwärtig,
wo sie aus den stark bevölkerten Gegenden schon gänzlich verdrängt worden
sind. Sie fanden sich noch zu den Römerzeiten nicht nur in ganz Afrika
und dem südwestlichen Asien, sondern auch in Griechenland und Macédonien,
wo sie bereits seit mehr als anderthalbtausend Jahren vollständig verdrängt
worden sind. Der Löwe der Berberei lebte früher im ganzen nordöstlichen
Afrika und war in Ägypten fast ebenso häufig als in Tunis oder in Fez
und Marokko zu treffen. Die Zunahme der Bevölkerung und Bildung aber
verdrängte ihn mehr und mehr, so daß er jetzt schon im ganzen untern
Nilthale und fast an der ganzen südlichen Küste des Mittclmcers nicht mehr
getroffen wird. Aber noch heutiges Tages ist er in Algier und Marokko
keine Seltenheit und in Tunis und der Oase Fezzan wenigstens noch eine
ständige Erscheinung. Namentlich in Algier ist er gegen früher dünn ge-
worden; die häufigen Kriege der Franzosen mit den Arabern haben ihn
verdrängt, und die französischen Löwenjäger haben seine Reihen sehr gelichtet.
Im Betragen sind die verschiedenen Löwen vollkommen gleich, und wir
kennen deshalb die Lebensweise von allen, wenn wir die von einer Art oder
Abart kennen gelernt haben.
186
Der Löwe lebt einzeln, und nur von der Paarung an bis zu einem
gewissen Alter seiner Jungen hält er sich zu seinem Weibchen. Außer dieser
Zeit bewohnt jeder Löwe sein eigenes Gebiet, ohne jedoch der Nahrung
wegen mit andern seiner Art in Streit zu gerathen. Vielmehr kommt es
HLufig?vor, daß sich zu größer» Jagdzügen mehrere Löwen vereinigen: — die
Paare gehen regelmäßig in Gemeinschaft ans die Jagd aus. Doch ist der
Löwe nirgends häufig, und dies ist auch sehr leicht zu erklären; denn er
bedarf so viel Nahrung, daß sich eine große Anzahl seines Gleichen in einer
Gegend nicht lange würde ernähren können. Breite waldige Thäler an
Flüssen sind seine Lieblingsorte; ans Gebirgen scheint es ihm weniger zu
behagen.
Im Ganzen ähneln seine Gewohnheiten denen anderer Katzen, doch
weicht er auch in vielen Stücken sehr wesentlich von denselben ab. Er ist
träger als alle übrigen Mitglieder der Katzenfamilie, und liebt größere
187
Strcifzüge durchaus nicht, sondern sucht es sich so.bequem als möglich zu
machen.
Seine Lebensweise ist eine rein nächtliche; denn nur gezwungen verläßt
er am Tage sein Lager. Bei Tage begegnet man ihm äußerst selten; im
Walde kaum zufällig, sondern erst dann, wenn man ihn durch Hunde von
seinem Lager auftreiben läßt; dagegen sieht man ihn einzeln, obgleich selten,
von einem erhabenen Punkt Umschau über die Gegend halten, wahrscheinlich
um die Beute auszukundschaften. Erst mit der Nacht zeigt er sich allgemein
und kündet zunächst durch donnerartiges Brüllen sein Wachsein und den
Beginn seiner Streifzüge an.
Ich möchte wohl meine Leser bitten, sich mit mir im Geiste in eins
der Steppendörfcr Ostsudans oder in die Umzäunung eines Lagers der
Nomaden zu versetzen, um eine jener durch ihn gestörten Nächte kennen zu
lernen.
Mit Sonnenuntergang hat der Nomade seine Herde eingehürdet in
jenem acht bis zehn Fuß hohen und drei bis vier Fuß dicken, äußerst dichten,
aus den stachlichsten Ästen der Mimosen geflochtenen Zaune, dem sichersten
Schutzwalle, welchen er bilden kann. Dunkel senkt sich die Nacht auf das
geräuschvolle Lager herab. Die Schafe blöken nach ihren Jungen, die Rinder,
welche bereits gemolken wurden, haben sich nicdergethan. Eine Meute
wachsamer Hunde hält die Wacht. Mit einem Male bellt sie hell auf, im
Nu ist sie versammelt und stürmt nach einer Richtung in die Nacht hinaus.
Man hört den Lärm eines kurzen Kampfes, wüthend bellende Laute und
grimmig heiseres Gebrüll, sodann Siegesgcbell — eine Hyäne umschlich das
Lager, mußte aber vor den muthigen Wächtern der Herden nach kurzer
Gegenwehr die Flucht ergreifen. Einem Leoparden würde es kaum besser
ergangen sein. Es wird stiller und ruhiger, der Lärm verstummt, der Frieden
der Nacht senkt sich auf das Lager herab. Weib und Kind des Herdcn-
besitzers haben in dem einen Zelte die Ruhe gesucht und gefunden. Die
Männer haben ihre letzten Geschäfte abgethan und wenden sich ebenfalls
ihrem Lager zu. Bon den nächsten Bäumen herab spinnen die stufcnschwäu-
zigen Ziegenmelker ihren Nachtgesang, oder tragen fliegend ihre Federschlcppe
durch die Lüfte. Sonst ist alles still und ruhig. Selbst die kläffenden Hunde
sind verstummt, nicht aber lässig oder schlaff geworden in ihrem treuen
Dienste.
Urplötzlich scheint die Erde zu dröhnen; — in nächster Nähe brüllt
ein Löwe! Jetzt bewährt er seinen Namen „Essed", d. i. der Aufruhr-
erregende; denn ein wirklicher Aufruhr und die größte Bestürzung zeigt sich
in dem Lager. Die Schafe rennen wie unsinnig gegen die Dornhecken an,
die Ziegen schreien laut, die Rinder rotten sich mit lautem Angstgestöhn zu
wirren Haufen zusammen, das Kameel sucht, weil es gern entfliehen möchte,
alle Fesseln zu zersprengen. Die muthigen Hunde, welche Leoparden und
Hyänen bekämpften, heulen laut und kläglich und flüchten sich jammernd in
den Schutz ihres Herrn, welcher selbst rath- und thatlos, au seiner eigenen
Stärke verzweifelnd, sich der ihm übermächtigen Gewalt unterordnend, in
seinem Zelte zittert. Er wagt cs nicht, nur mit seiner Lanze bewaffnet, einem
so furchtbaren Feinde gegenüberzutrcten, und muß cs geschehen lassen, daß
der Löwe näher und näher heran kommt, und daß die leuchtenden Augen zu dem
188
Schrecken der Stimme noch einen neuen fügen. — Er muß es geschehen
lassen, daß der Löwe auch noch einen zweiten seiner arabischen Namen
„sabaa", d. i. „Würger der Herden", bethätigt.
Mit gewaltigem Satze überspringt der Mächtige die acht, ja selbst zehn
Fuß hohe Dornenmauer, um sich ein Opfer auszuwählen. Ein einziger
Schlag seiner furchtbaren Pranken fällt ein zweijähriges Rind; das kräftige
Gebiß zerbricht dem widerstandslosen Thiere die Wirbelknochen des Halses.
Dnmpfgrollend liegt der Räuber auf seiner Beute; die großen Augen funkeln
hell vor Siegeslust und Raubgier; mit dem Schwänze peitscht er die Luft.
Er läßt das verendende Thier auf Augenblicke los und faßt es mit seinem
zermalmenden Gebiß von neuem, bis es sich endlich nicht mehr regt. Dann
tritt er seinen Rückzug an. Er muß zurück über die hohe Umzäunung und
will auch seine Beute nicht lassen. Seine ganze ungeheure Kraft ist er-
forderlich, um mit dem Rind im Rachen den Rücksprung auszuführen. Aber
er gelingt. Ich habe selbst einen neun Fuß hohen Zaun gesehen, über welchen
der Löwe mit einem zweijährigen Rind im Rachen hinweggesetzt war; ich habe
selbst den Eindruck noch wahrgenommen, welchen die schwere Last auf der
Firste des Zaunes bewirkt hatte, und auf der andern Seite noch die Ver-
tiefung im Sande bemerkt, welche das herabstürzende Rind zurückließ, bevor
es der Löwe weiter schleppte. Mit Leichtigkeit trägt er eine solche Last
seinem vielleicht eine halbe Meile weit entfernten Lager zu, und man sieht
die Furche, welche ein so geschlepptes Thier im Sande zog, oft mit der
größten Deutlichkeit bis zum Platze, an welchem es zerrissen wurde.
Erst nach Abzug, des Löwen athmet alles Lebende in dem Lager freier
auf; denn es schien geradezu durch die Furcht gebannt zu sein.--------------------
Ganz anders als bei Angriffen aus zahme Thiere benimmt sich der
Löwe, wenn er es mit Wild zu thun hat. Er weiß, daß dieses ihn auf
ziemliche Entfernung hin wittert und schnellfüßig genug ist, ihm zu ent-
kommen. Deshalb lauert er aus die wildlebenden Thiere oder schleicht sich,
oft in Gesellschaft mit anderen seiner Art, äußerst vorsichtig unter dem
Winde an sie heran. Namentlich die Wasserplätze in den Steppen Mittel-
und Südafrikas sind crgibige Iagdorte für ihn.
Wenn der heiße Tag vorüber ist und die kühle Nacht sich allmählich
herabsenkt, eilt die zierliche Antilope oder die mildäugige Giraffe, das ge-
streifte Zebra oder der gewaltige Büffel, um die lechzende Zunge zu er-
frischen. Vorsichtig nahen sie sich alle der Quelle oder der Lache; denn
sie wissen, daß gerade diejenigen Orte, welche ihnen die meiste Labung bieten
sollen, für sie die gefährlichsten sind. Ohne Unterlaß witternd und lauschend,
scharf in die dunkle Nacht äugend, schreitet das Leitthier der Antilopenherdc
dahin. Keinen Schritt thut es, ohne sich zu versichern, daß alles still und
ruhig sei. Die Antilopen sind meistens schlau genug, ebenfalls unter dem
Winde an die Quelle zu gehen, und so bekommt das Leitthier die Witterung
oft noch zur rechten Zeit. Es stutzt, es lauscht, cs äugt, es wittert —
noch einen Augenblick — und plötzlich wirft cs sich herum und jagt in
eiliger Flucht dahin. Die anderen folgen; weitaus greifen die zierlichen
Hufe, hochanf schnellen die federnden Läufe der anmuthigen Thiere. Über
Busch und Grasbüschel setzen die Behenden dahin und sind gerettet. So
naht sich auch das kluge Zebra, so naht sich die Giraffe: aber wehe ihnen,
189
wenn sie diese Vorsicht versäumen. Wehe der Giraffe, wenn sie mit dem
Winde zur umbuschten Lache schreitet, wehe ihr, wenn sie über der Begierde,
die heiße, schlaffe Zunge zu kühlen, ihre Sicherheit auch nur einen Augen-
blick vergißt! Dann wird Freiligrath's hochdichterische Beschreibung im
„Löwenritte" fast zur vollen Wahrheit.
Gewöhnlich erliegt ein von dem Löwen gefaßtes Thier schon dem ersten
Angriffe. Mißlingt aber der Sprung, so. verfolgt der Löwe seinen Raub
nicht, sondern kehrt fast wie beschämt nach seinem Hinterhalt zurück, Schritt
für Schritt, als ob er die rechte Länge abmessen wollte, bei welcher ihm
der Sprung gelungen wäre. A. E, Brehm,
142. Löwenritt.
1. Wüstenkönig ist der Löwe; will er sein Gebiet durchfliegen,
Wandelt er nach der Lagune *), in dem hohen Schilf zu liegen.
Wo Gazellen und Giraffen trinken, kauert er im Rohre;
Zitternd über dem Gewalt'gen rauscht das Laub der Sykomore.3)
2. Abends, wenn die hellen Feuer glühn im Hottentottenkraale,
Wenn des jähen Tafelberges bunte, wechselnde Signale
Nicht mehr glänzen, wenn der Kaffer einsam schweift durch die Karroo 3), .
Wenn im Busch die Antilope schlummert und am Strom das Gnu:
3. Sieh, dann schreitet majestätisch durch die Wüste die Giraffe,
Daß mit der Lagune trüben Fluten sie die heiße, schlaffe
Zunge kühle; lechzend eilt sie durch der Wüste nackte Strecken,
Knicend schlürft sie langen Halses aus dem schlammgefüllten Becken.
4. Plötzlich regt eS sich im Rohre; mit Gebrüll auf ihren Nacken
Springt der Löwe; welch ein Reitpferd! Sah man reichere Schabracken
In den Marstallkammern einer königlichen Hofburg liegen,
Als das bunte Fell des Renners, den der Thiere Fürst bestiegen?
5. In die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne;
Um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe Mähne.
Mit dem dumpfen Schrei des Schmerzes springt es auf und flieht gepeinigt;
Sieh! wie Schnelle des Kameeles es mit Pardelhaut vereinigt!
6. Sieh! die mondbestrahlte Fläche schlägt es mit den leichten Füßen!
Starr aus ihrer Höhlung treten seine Augen, rieselnd fließen
An dem braungefleckten Halse nieder schwarzen Blutes Tropfen,
Und das Herz des flücht'gen Thieres hört die stille Wüste klopfen.
7. Gleich der Wolke, deren Leuchten Israel im Lande Uemen
Führte, wie ein Geist der Wüste, wie^ein fahler, luft'ger Schemen,
Eine sandgeformte Trombe^) in der Wüste sand'gem Meer,
Wirbelt eine gelbe Säule Sandes hinter ihnen her.
9 Vertiefung, mit stehendem Meerwasser und Schlamm ausgefüllt. 2) Maulbeer-
Jeigenbaum. 3) fpr. Karu, eine dürre Steppenfläche. 4) Eigentlich Wasserhose, hier
Sandfäule.
180
58. „Du bist nicht die Löste, du sollst die beste sein;
Edle Königin, hehle für jetzt die Reise mein;
Eh morgen scheint die Sonne, lieg' ich hier zu Felde,
Das glaub' auf meine Treue, vor dieser Burg mit achtzigtausend Helden."
59. So schnell als sie konnten, fuhren sie hindann.
Da hub ein härt'res Scheiden zwischen Freunden an
Als je Freunde thaten, das darf man mir wohl glauben.
Sie begleiteten die Boten so fern als sie nur konnten mit den Augen.
60. Der Wäsche nun vergaßen die herrlichen Frau'n.
Wohl konnt' es aus der Ferne die böse Gerlind schaun.
Daß sie müßig waren da unten auf dem Strande.
Da zürnte sie gewaltig; ihr lagen sehr am Herzen die Gewände.
61. Da sprach die schöne Hildburg, die Maid aus Irland:
„Was laßt ihr, Königstochter, liegen das Gewand,
Daß ihr Ludwigs Degen zu waschen säumt die Kleider?
Und wird das Gerlinde inne, so that sie uns mit Schlagen niemals leider."
62. Da sprach die Tochter Hildens: „Dazu bin ich zu hehr,
Der- bösen Gerlind waschen will ich nimmermehr,
Nun verschmäh' ich Dienste zu leisten so geringe,
Da mich zwei Könige küßten und mit den Armen herzend mich umfiengen."
63. „Ihr dürft mir nicht verdenken", hub Hildburg wieder an,
„Daß ich zum Waschen rathe; wir thäten klüger dran,
Als daß wir so die Kleider in die Kammer tragen,
Sonst wird uns beiden der Rücken Übel heute noch zerschlagen."
64. Da sprach die Enkelin Hageu's: „Freude nahet mir,
Trost und hohe Wonne; ob sie bis morgen hier
Mich mit Besen schlügen, daran würd' ich nicht sterben;
Doch die uns so mißhandeln, deren müssen viele bald verderben.
65. „Ich will diese Kleider tragen zu der Flut;
Es soll ihnen frommen", sprach das Mägdlein gut,
„Daß ich mich vergleichen darf mit Königinnen;
Ich werfe sie ins Wasser, daß sie lustig fließen von hinnen."
66. Was auch Hildburg redete, Gudrun trug hindann
Frau Gerlindens Linnen; zu zürnen hub sie an,
Sie schwang sie aus den Händen weit in die Wogen.
Sie schwebten eine Weile; ich weiß nicht, ob sie je hervor sie zogen.
67. Die Nacht begann zu dunkeln, da längst der Tag zerrann.
Hildeburg gieng traurig zu der Burg hindann:
Sie trug drei Kleider und schöner Tücher sieben;
Bei ihr gieng Ortweins Schwester; die war der Wäsche ledig heut' geblieben.
68. Es war schon spät geworden, da kamen sie ans Thor
Der Veste König Ludwigs; da fanden sie davor
Die üble Gerlind' harren ans ihr Ingesinde.
Die edeln Wäscherinnen grüßte sie mit Worten ungelinde.
69. „Wer hat euch das erlaubet", sprach des Königs Weib,
„Schmerzlich soll es büßen euer beider Leib,
Daß ihr so spät am Abend euch mögt am Strand ergehen;
Nicht ziemt es Königsfrauen, in ihrer Kammer euch hinfort zu sehen."
181
70. Sie sprach: „Nun laßt mich hören, warum thut ihr das?
Ihr verschmähet Könige und tragt zu ihnen Haß
Und koset am Abend mit gemeinen Knechten;
Wollt ihr Ehr' erwerben, so scheinen solche Wege nicht die rechten."
71. Da sprach die hehre Jungfrau: „Was klagt ihr mich an?
Da doch solchen Willen ich Arme nie gewann;
Niemand lebt auf Erden, mit dem ich sprechen wollte,
Es wären denn Verwandte, mit denen ich auch billig reden sollte."
72. „Schweig, du böse Galle! Lügen strafst du mich?
Das wird an dir noch heute gerochen sicherlich,
Daß sich dein Zorn nicht wieder so laut hervor soll wagen;
Eh' ich nachlasse, soll es fürwahr dein Rücken schwer beklagen."
73. „Das will ich widerrathen", sprach die Jungfrau hehr,
„Daß ihr mich mit Ruthen schlaget nimmermehr;
Bin ich doch viel hehrer als ihr mit all den euern;
So ungefüger Züchtigung möchte man nun wohl bei Zeiten steuern."
74. Da sprach die Wölfische: „Wo sind die Kleider mein?
Daß du so gewunden hast die Hände dein,
Recht wie ein Müssiggänger in deinem Schoß gefallen.
Leb' ich noch eine Weile, ich will dich anders lehren Dienst verwalten."
75. Da sprach die Enkelin Hägens: „Ich ließ sie liegen dort
Unten am Gestade; da ich sie wollte fort
Mit mir zu Hofe tragen, war mir zu schwer die Bürde;
Mich sollt' cs nicht kümmern, wenn man sie nicht wieder finden würde."
76. Da sprach die böse Teufelin: „Das kommt dir nicht zugut;
Eh' ich mich schlafen lege, wie übel man dir thut!"
Da ließ sie Dornen brechen und zu Besen binden;
Es wollte nicht entrathen so ungefüger Züchtigung Gerlinde.
77. An ein Bettgestelle sie die Schöne binden hieß
In einer Kemenate, wo sie niemand zu ihr ließ,
Da wollte sie die Haut ihr vom Gebeine schlagen;
Die Frauen, die das wußten, huben an zu weinen und zu klagen.
78. Listig sprach da Gudrun: „Das will ich euch sagen:
Werd' ich mit diesem Besen heute hiep geschlagen,
Sieht mich dann je ein Auge bei reichen Königen stehen,
Auf dem Haupte die Krone, gar übel wird cs dem dafür ergehen.
79. „Drum rath' ich, daß mich keiner zu berühren wagt;
Ich will ihn jetzo minnen, dem ich bisher versagt.
Man soll mich als Königin der Normandie erschauen;
Und herrsch' ich da, so thu ich, was mir niemand möchte zugetrauen."
80. Da sprach Frau Gerlindc: „So ließ ich meinen Zorn;
Und hättest du mir tausend Linnen auch verlor'n,
Die wollt' ich verschmerzen; wohl sollt' cs dir frommen,
So du Hartmuten von Normandie dir zum Gemahl genommen."
81. Da sprach die schöne Jungfrau: „Erholen muß ich mich;
Alle diese Qualen sind zu fürchterlich.
Rufet mir den König von Normandie hieher!
Was mir der gebietet, ich leiste willig sein Begehr." übersetzt von Simr°s.
192
4. Dazu hab' ich erworben
Ein Lob, das ewig währt:
Die Wenden und die Sorben
Hab ich zu dir bekehrt,
Bisthümer dann gestiftet
Ob allem Slavenland,
Die reichlich hat begiftet
Mit Gülten i) meine Hand.
5. Des ließ sich nicht begnügen
Mein Herz, der Milde voll,
Daß bis zum fernen Rügen
Dir Preis und Ehre scholl:
Sieh hier im Land der Sachsen
Auf meiner Väter Grund
Ein Bisthum ist erwachsen
Zum Zeugnis unserm Bund.
6. Das soll zu dir versammeln
Die neuen Völker all,
Die deinen Namen stammeln
Bis an der Dänen Wall,
Ich ziert' es aus mit Gaben,
Es ist im alten Reich,
In Bayern, Franken, Schwaben
Kein Erzbisthum ihm gleich.
7. Der Bischof ist gefretet* 2)
Vor aller Fürsten Macht,
Der selber Fahnen leihet,
Ein Fürst mit Fürstenpracht.
Auch ich cmpfieng sein Lehen,
Der Kaiser, als sein Mann,
Mit seiner Fahne gehen
Muß ich dem Heer voran.
8. Als Chorherrn ihm zu Füßen
Sitzt manches Fürstenkind,
Die ihn als Herren grüßen,
Zu Dienst ihm willig sind.
Und wenn dem Reich zur Steuer
Man Kaiser wählt hinfür.
So sitzt vor andern theuer
Der Bischof an der Kür.
9. Das that ich dir zu Ehren,
Gott Vater, Sohn und Geist,
Dein Reich bei uns zu mehren
Fliß ich mich allermeist.
! Es lebt zu diesen Zeiten
Kein König sicherlich
In aller Länder Breiten,
Der solches that für dich.
10. Nun laß mich heut' erfahren,
Der du im Himmel wohnst
Mit deinen Engelscharen,
Wie du dem Dienste lohnst.
Der Dienst, du hast's ermessen,
War groß vor deinem Thron,
Und bist du nicht vergessen,
So wird auch groß der Lohn."
11. Da so vor allem Volke
Der Kaiser hat gefleht,
Mit mancher Weihrauchwolke
Drang aufwärts sein Gebet.
Der aller Himmel waltet,
Vor dessen Angesicht
Sich jedes Herz entfaltet,
Vernahm's in Gnaden nicht.
12. Der Kaiser stand des Lohnes
Gewärtig am Altar
Des Vaters und des Sohnes,
Des Geistes auch fürwahr,
Da hört' er eine Stimme
Erschallen Himmelher
Beinahe wie im Grimme,
So ernst erschvll's und hehr.
13. „O Kaiser", sprach der Engel,
Den ihm der Herr geschickt,
„Es hat auf große Mängel
In dir Gott nicht geblickt,
Er hat die höchste Würde
Auf Erden dir verliehn
Zu mancher schweren Bürde:
Was thatest du für ihn?
14. Doch stand in seiner Nähe
Dir schon ein Stuhl bereit,
Wenn er dich immer sähe
In Herzenslauterkeit.
Den hast du umgestoßen,
Da du vor Gott geprahlt:
Mit deinem Ruhm, dem großen,
Hast du dich selbst bezahlt.
0 jährlichen Zinsen, Jahreseinkommen.
2) auserwählt, unabhängig, hat besondere Rechte und Freiheiten.
193
15. Ward es um Ruhm gegeben,
So hast du deinen Lohn;
Hoch preist das Volk dein Leben
Und jauchzt um deinen Thron.
Gott suchet Herzensreine,
Die hat am Himmel Theil,
Für die ist ihm alleine
Die ew'ge Krone feil.
16. Wie sehr du dich gepriesen,
Vor Gott hat sich dein Lob '
So preislich nicht erwiesen,
Als es dein Mund erhob.
Dich möchte wohl gelüsten,
Daß es im Himmelreich
Die Engel Gottes wüßten
Dem eines Kaufmanns gleich.
17. Sein Nam' im Buch des Lebens
Erglänzt in goldner Schrift,
Darin man deines Gebens
Nicht eine Zeile trifft.
Du mußt dem Himmel büßen
In Demuth reuevoll,
Wenn er dereinst dich grüßen
Um dein Almosen soll."
18. Der Kaiser stand betroffen:
„Herr Gott, der Weg zu dir
Wär' einem Kaufmann offen
Und schlösse sich vor mir?
So sei, Herr.Gott, aus Gnade
Sein Name mir genannt.
Daß ich auf gleichem Pfade
Mag wandeln in dein Land."
19. Da sprach der Gottcsbote:
Der gute Gerhard heißt,
Der sich mit Ell und Lothe
Gerechten Wandels fleißt.
Sie nennen ihn den guten
Zu Köln, denn immer neu
Kann er sein Herz ermuthen
Zn Milde, Lieb und Treu. —
20. Was that er, zu behagen,
Herr Gott, dir allsosehr? —
Fahr hin, ihn selbst zu fragen:
Ich sage dir nicht mehr. —
Ich will ihm Boten senden;
Ich hör's aus ihrem Mund. —
So wirst du es nicht enden,
Er thut es niemand kund.
21. Und wenn du selber kämest,
Du hättest große Noth
Eh du's von ihm vernähmest:
Er wäre lieber todt.
Doch dann gestehst du gerne,
Er hat so viel gethan,
Daß dein Verdienst von ferne
Nicht reicht an seins hinan.
Rudolf von Ems.
145. Die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer im
Jahre 1099.
1. Als die Kreuzfahrer um Pfingsten (1099) von Cäsarea über
Lydda, Ramla und Emmaus hinziehend den Bergrücken erreichten, wo zu-
erst Jerusalem sichtbar ward, da fielen sie in heißer Andacht auf die Kniee,
vergossen Frendenthränen und priesen Gott mit Lobgesängen. Aber die
Eroberung der festen und mit allen Bedürfnissen reichlich versehenen Stadt,
die von einer zahlreichen streitbaren Besatzung vertheidigt wurde, war eine
schwere Aufgabe für das geschwächte, ermattete und aller Belagerungswerk-
zeuge entbehrende Pilgerhecr. Die unermeßlichen Kriegsscharen (600,000
Mann), die vor drei Jahren in der Ebene von Nicäa sich zusammen-
gefunden, waren so zusammengeschmolzen, daß die Zahl der Streiter vor
Jerusalem kaum mehr als 20,000 Mann betrug, während der feindliche
Befehlshaber innerhalb der Stadtmauer eine dreifach stärkere Kriegsmacht
in den Kampf führen konnte. Mangel an Lebensmitteln und Trinkwasser
und die verzehrende Glut der Sonne wirkten noch verderblicher als die
13
194
Pfeile der Feinde. Ein prophetischer Spruch verkündigte den Kreuzfahrern
die Einnahme der Stadt; als sie aber versuchten, ohne Maschinen und
Sturmleitern die Mauern einzustoßen oder zu ersteigen, wurden sie zurück-
geschlagen; mit jedem Tag wuchs die Noth und Gefahr. Erst als man
von einigen in Joppe gelandeten Schiffen Brot, Wein und Arbeitsgeräthe
erhalten, als Tankred durch einen glücklichen Zufall in einer entlegenen
Grotte tief versteckt gewaltige Stämme entdeckte, die schon früher den
Ägyptern zur Berennung der Stadt gedient hatten, als von einem Einge-
borncn vier Meilen vom Lager gegen Sichem hin den Kreuzfahrern ein
Wald gezeigt wurde, aus dem sie durch gefangene Saracenen und Kameele
Holzwerk herbeischaffen und zum Bau von Maschinen und Türmen ver-
wenden konnten; da nahm der Belagerungskrieg einen besseren Fortgang.
Religiöser Eifer erregte den Muth und die Zuversicht auf himmlischen
Beistand. Das ganze Pilgerhcer zog aber zuerst in feierlicher Procession
mit entblößten Füßen und in heißer Andacht längs der Mauer nach dem
Olberg, begleitet von den Hohnreden, Schmähungen und Pfeilen der
Belagerten. Weber.
2. Gleich nach der Rückkunft von jener heiligen Wanderung begannen
die Christen nähere Vorbereitungen zum Angriffe. Der Herzog Gottfried
von Lothringen, Robert von Flandern und Robert von der Normandie be-
merkten hiebei, daß die Stadt ihrem Lager gegenüber nicht allein durch die
Mauern, sondern auch durch die stärkste Besatzung und das tüchtigste Kriegs-
195
zeug, besser als an allen anderen Seiten gedeckt sei; deshalb veränderten
sie klüglich ihre Stellung in der Nacht vor dem beschlossenen Sturme,
legten mit großer Mühe die Bclagerungswerkzeuge auseinander, trugen sic
morgenwärts, wo die Mauer niedriger und der Boden ebener war, und
setzten dann alles mit großer Anstrengung wiederum zusammen.
Ein viereckiger, ans Thal Josaphat stoßender Stadtturm befand sich
nunmehr zu ihrer linken, das Stephansthor zu ihrer rechten Hand. Er-
staunt sahen die Muhammedaner beim Anbruche des Tages, daß des Herzogs
Lager verschwunden war, und wähnten, er sei davon gezogen; bald nachher
entdeckten sie ihn aber mit dem Bclagerungswerkzeuge an der gefährlichen
Stelle. Gleichzeitig hatte der Graf Raimund von Toulouse mit großem
Kostenaufwandc eine Vertiefung ausfüllen lassen, welche sich zwischen den
Mauern und dem von ihm errichteten Turme hinzog, sodaß dieser nun-
mehr ohne Mühe der Stadt genähert werden konnte. Es waren aber die
Türme des Herzogs von Lothringen und des Grafen Raimund von gleicher
Bauart, hoch, vierseitig und vorn mit einer doppelten Bedeckung von starken
Brettern versehen. Die äußere Bedeckung konnte man oberwärts ablösen
und einer Fallbrücke gleich auf die Mauern niederlassen; die innere mit
Häuten überzogene schützte dann noch hinlänglich gegen Wurfgeschosse und
Feuer.
Jetzt begann der Sturm. Zuerst schleuderten die Christen aus all
ihrem Geschütz Pfeile und große Steine gegen die Mauer, allein ihre Kraft
gieng an den Säcken voll Stroh und Spreu, an dem Flechtwerk und an-
deren weichen Gegenständen verloren, welche die Belagerten zum Schutz
aufgehängt hatten. Kühner, als könnte persönlicher Muth allein entscheiden,
nahten hierauf die Pilger den Mauern; aber Steine und Balken schmetter-
ten sie zu Boden, brennende Pfeile setzten ihr Kriegszeug in Brand, hinab-
gcworsene Gefäße, mit Schwefel und kochendem Öle angefüllt, vermehrten
die Glut, und durch unaufhörliches Gießen von Wasser, durch Anstrengungen
aller Art konnte man die Gefahren nicht besiegen, sondern kaum hemmen,
so vergieng der erste Tag ohne Entscheidung, und nur ein Umstand er-
höhte den Muth der Christen: daß die Saracenen ungeachtet aller Be-
mühungen nicht im Stande waren, ein heiliges Kreuz zu verletzen, welches
man auf dem Turme Gottfrieds von Bouillon errichtet hatte. Die Nacht
verfloß in gegenseitiger Furcht eines Überfalles, und die Wachen wurden
verdoppelt; wenigen aber war cs gegeben, sich nach solcher Anstrengung
und in der nahen Aussicht auf größere Thaten durch ruhigen Schlaf zu
stärken. Auch erneute sich mit der Morgenröthe der Kampf, heftiger noch
als am vergangenen Tage; denn die Christen waren erbittert, daß ihre
früheren Hoffnungen getäuscht worden, und die Saracenen ahnetcn ihr
Schicksal im Falle der Eroberung Jerusalems. Deshalb beschlagen die
lctztcrn einen ungeheuren Balken ringsum mit Nägeln und eisernen Haken,
befestigten zwischen diesen Werg, Stroh und andere brennbare Dinge, gossen
Pcch, Dl und Wachs darüber hin, steckten alles an mehreren Stellen zu-
gleich in Brand, und warfen dann den Balken mit ungeheurer Anstrengung
Zhw Turme des Herzogs von Lothringen. Schnell wollten ihn die Christen
hinwegziehcn; es mißlang jedoch, weil die Belagerten eine starke Kette um
dessen Mitte geschlungen hatten und ihn festhielten. Da hoffte man wenig-
13*
196
stens die Flammen zu löschen, welche gewaltig um sich griffen und alle
Werkzeuge der Pilger zu zerstören drohten; aber kein Wasser minderte die
Glut, und erst durch den glücklicherweise für solche Fälle herbeigeschafften
Essig wurde der Brand gehemmt. So dauerte das Gefecht schon sieben
Stunden ohne Erfolg, und viele Christen wichen ermüdet zurück. Der
Herzog von der Normandie und der Graf von Flandern verzweifelten au
einem glücklichen Ausgange und riethen zur Rastung bis auf den folgenden
Tag; der Herzog von Lothringen hielt nur mit Mühe seine Mannschaft
beisammen, und die Belagerten freuten sich schon der Errettung: da winkte
ein Ritter vom Ölberge her mit leuchtendem Schilde gegen die Stadt.
„Seht ihr", rief der Herzog, „seht ihr das himmlische Zeichen, gewahrt
ihr den höheren Beistand?" Und alle drangen rastlos wieder vorwärts;
selbst Kranke, selbst Weiber ergriffen die Waffen, um die heilbringenden
Gefahren zu theilen. In demselben Augenblicke warf das Geschütz der
Franken mit furchtbarer Gewalt die größten Steine über die Mauern,
und weil andere Mittel fruchtlos blieben, so wollten die Belagerten durch
Zauberei dagegen wirken; aber ein Stein tödtete die beiden herzugerufcnen
Bcschwörerinnen nebst dreien Mädchen, welche sie begleitet hatten; und
dies galt den Pilgern für ein zweites Zeichen des Himmels. Binnen
einer Stunde war die äußere Mauer gebrochen, der Boden geebnet und
des Herzogs Turm der inneren Mauer genähert. Alle Säcke, Balken,
Stroh, Flechtwerk oder was die Belagerten sonst zum Schutze aufgehängt
hatten, ward in Brand gesteckt; der Nordwind trieb mit Heftigkeit den
Rauch und die Flammen gegen die Stadt, und geblendet und fast erstickt
wichen alle Vertheidiger. In höchster Eile ließen die Pilger nunmehr jene
Fallbrücke vom Turme des Herzogs auf die Mauer nieder und stützten sie
mit Balken; zwei Brüder aus Flandern, Ludolf und Engelbert, betraten
aus dem mittlere» Stockwerke des Turmes zuerst die Mauern; ihnen folg-
ten, aus dem oberen Stockwerke herbeieilend, Herzog Gottfried und Eusta-
thius sein Bruder, dann viele Ritter und geringere Pilger. Man sprengte
das Stephansthor, und mit dem Rufe: „Gott will es, Gott hilft uns!"
stürzten die Christen unaufhaltsam in die Straßen.
Unterdessen war der Graf von Toulouse an der andern Seite der
Stadt auf das äußerste bedrängt und sein Turm so beschädigt worden,
daß ihn keiner mehr zu besteigen wagte. In diesem Augenblicke der höchsten
Gefahr erhielten aber die Türken Nachricht, von dem Siege des Herzogs,
und schnell versprachen sie dem Grafen die Übergabe des Turmes „David"
gegen künftige Lösung und sicheres Geleit bis Ascalon. Raimund bewilligte
ihre Forderungen, erfuhr aber später wegen dieser löblichen Milde den un-
gerechten Tadel der Kreuzfahrer. Mit solcher Eile drangen nunmehr auch
die Provenzalen in die Stadt, daß sechzehn von ihnen im Zionsthor er-
drückt wurden. Unkundig der Straßen, gelangte Tankred fechtend bis zur
Kirche des heiligen Grabes, hörte erstaunt das „Herr, erbarme dich unser!"
singen, fand hier die jerusalemischen Christen versammelt und gab ihnen
eine Wache zum Schutz gegen etwaige Anfälle der Saracenen. Aber schon
retteten sich diese fliehend von den Straßen in die Häuser, vor allem an
zehntausend in den Tempel und dessen von Mauern eingeschlossenen Bezirk.
Auch dahin drangen die Christen. „Alle sind Frevler und Heiligthums-
197
schänder, kein einziger werde verschont!" so riefen das Volk, die Fürsten
und die Geistlichen; und man metzelte, bis das Blut die Treppen des
Tempels hinabfloß, bis der Dunst der Leichname selbst die Sieger betäubte
und forttrieb. Doch bemächtigten sie sich vorher mit gieriger Hast der
großen Tempelschätze, welche einen dauernden Reichthum hätten begründen
können, wenn gewaltsamen Erwerbern die Geschicklichkeit des Erhaltens
nicht allemal zur Strafe ihrer Frevel versagt wäre.
Von dem Tempel eilte man zur Synagoge, wohin sich die Juden ge-
rettet hatten; sie wurden verbrannt. Aufgehäuft lagen jetzt die Leichen
selbst in den abgelegensten Straßen, schrecklich war das Geschrei der Ver-
wundeten, furchtbar der Anblick der einzelnen, zerstreut umhergeworfenen
menschlichen Glieder; dennoch kehrte höhere Besinnung noch immer nicht
zurück! Es war schon früher zur Mehrung der Grausamkeit und des
Eigennutzes der Grundsatz angenommen und vor der Eroberung Jerusalems
nochmals ausdrücklich bestätigt worden, daß jeder eigenthümlich behalten sollte,
was er in Besitz nähme. Deshalb theilten sich die Kreuzfahrer, nach Auscin-
anderspreugung der größeren Massen ihrer Feinde, in einzelne kleinere Raub-
horden. Kein Haus blieb unerbrochen, Greise und Weiber, Hausgesinde
und Kinder wurden nicht bloß getödtet, sondern mit wilder Grausamkeit ver-
höhnt oder gemartert. Man zwang einige von den Türmen hinabzuspringen;
man warf andere zu den Fenstern hinaus, daß sie mit gebrochenem Genick
auf der Straße lagen; man riß die Kinder von den Brüsten der Mütter
und schleuderte sic gegen die Wände oder Thürpfosten, daß das Gehirn
umherspritzte; mau verbrannte mehrere an langsamem Feuer; man schnitt
anderen mit wilder Gier den Leib auf, um zu sehen,' ob sic nicht Gold
oder Kostbarkeiten der Rettung wegen verschluckt hätten. Von 40,000
oder, wie morgenländischc Geschichtschreiber melden, von 70,000 Saracenen
blieben nicht so viele am Leben, als erforderlich waren, ihre Glaubens-
genossen zu beerdigen. Arme Christen mußten nachher bei diesem Geschäfte
Hülfe leisten, und viele Leichname wurden verbrannt, theils damit sich nicht
bei längerer Zögerung ansteckende Krankheiten erzeugen möchten, theils weil
man hoffte, selbst in der Asche noch Kostbarkeiten aufzufinden.
Endlich war nichts mehr zu morden und zu plündern; da reinigten
sich die Pilger vom Blute, entblößten Haupt und Füße und zogen unter
Lobgesängen zur Leidens- und Auferstehungskirche. Feierlich wurden sie
hier von den Geistlichen empfangen, welche mit tiefer Rührung für die
Lösung aus der Gewalt der Ungläubigen dankten, keinen aber mehr er-
huben, als Peter den Einsiedler, weil dieser ihnen vor fünf Jahren Hülfe
zugesichert und sein Wort gehalten hatte. Alle Pilger weinten vor Freuden,
konnten sich nicht satt scheu an den heiligen Stätten, wollten jegliches be-
rühren, beichteten ihre Sünden und gelobten Besserung mit lauter Stimme.
So feurig war der Glaube, daß viele nachher beschwuren, sie hätten Ge-
stalten der in den früheren Schlachten umgekommenen Brüder neben sich
wandeln gesehen, ja der Bischof Adcmar von Puy hat einem erstaunt Fra-
genden geantwortet, nicht er allein, sondern alle verstorbenen Kreuzfahrer
wären auferstanden, um an dem Kampfe und au den Freuden des Sieges
theilzunehmen. Der Himmel sei allen erworben, Gott sei allen gnädig
--- 198
für das große Werk: das war die feste Überzeugung, die unwandelbare
Hoffnung!
So ward Jerusalem erobert am neununddreißigsten Tage der Um-
lagerung, am fünfzehnten Julius des Jahres 1099. ». Raumer.
146. Bethlehem und Golgatha.
1. Er ist in Bethlehem geboren, der uns das Leben hat gebracht,
Und Golgatha hat er erkoren, durchs Kreuz zu brechen Todes Macht.
Ich fuhr vom abendlichen Strande hinaus, hindurch die Btorgenlande,
Und Größeres ich nirgends sah, als Bethlehem und Golgatha.
2. Wie sind die sieben Wunderwerke der alten Welt dahingerafft!
Wie ist der Trotz der ird'schen Stärke erlegen vor der Himmelskraft!
Ich sah sie, wo ich mochte wallen, in ihre Trümmer hingefallen,
Und stehn in stiller Gloria nur Bethlehem und Golgatha.
3. Erdparadies am Rocknabade^), Flur aller Rosen von Schiras,
Und am gewürzten Meergestade du Palmengarten Jndia's!
Ich seh' auf euern lichten Fluren noch gehn den Tod mit dunklen Spuren.
Blick auf! Euch konimt das Leben da von Bethlehem und Golgatha.
4. Du Kaaba, schwarzer Stein der Wüste, an den der Fuß der halben Welt
Sich jetzt noch stößt, steh' nur und brüste dich, matt von deinem Mond erhellt!
Der Mond wird von der Sonn' erbleichen, und dich zerschmettern wird das Zeichen
Des Helden, dem Victoria ruft Bethlehem und Golgatha.
5. O, der du in der Hirten Krippe ein Kind geboren wolltest sein,
Und, leidend Pein am Kreuzgerippe, von uns genommen hast die Pein!
Die Krippe dünkt dem Stolze niedrig, es ist das Kreuz, dem Hochmuth widrig;
Du aber bist der Demuth nah' in Bethlehem und Golgatha.
6. Die Kön'ge kamen anzubeten den Hirtenstern, das Opferlamm,
Und Völker haben angetreten die Pilgerfahrt zum Kreuzesstamm.
Es gieng in Kampfes Ungewitter die Welt, doch nicht das Kreuz in Splitter,
Als Ost und West sich kämpfen sah um Bethlehem und Golgatha.
7. Mit Pilgerstab und Muschelhute nach Osten zog ich weit hinaus;
Die Botschaft bring' ich euch, die gute, von meiner Pilgerfahrt nach Haus:
„O, zieht nicht aus mit Hut und Stabe nach Gottes Wieg' und Gottes Grabe!
Kehrt ein in euch und findet da sein Bethlehem und Golgatha!"
8. O Herz, was hilft es, daß du kuieest an seiner Wieg' im fremden Land?
Was hilft es, daß du staunend siehest das Grab, aus dem er längst erstand?
Daß er in dir geboren werde, und daß du sterbest dieser Erde
Und lebest ihm, — nur dieses ja ist Bethlehem und Golgatha!
Fr. Rlickert.
147. Der Schenk von Limburg.
Zu Limburg auf der Veste
Da wohnt' ein edler Graf,
Den keiner seiner Gäste
Jemals zu Hause traf.
! Er trieb sich allerwegen
Gebirg und Wald entlang,
Kein Sturm und auch kein Regen
Verleidet ihm den Gang.
*) Ein kleiner Fluß, an dem Schiras in Persien liegt.
199
Er trug ein Wamms von Leder
Und einen Jägerhut
Mit mancher wilden Feder,
Das steht den Jägern gnt.
Es hieng ihm an der Seiten
Ein Trinkgefäß von Buchs;
Gewaltig konnt' er schreiten
Und war von hohem Wuchs.
Wohl hat er Knecht und Btannen
Und hat ein tüchtig Roß,
Gieng doch zu Fuß von dannen
Und ließ daheim den Troß.
Es war sein ganz Geleite
Ein Jagdspieß, stark und lang,
An dem er über breite
Waldströme kühn sich schwang.
Nun hielt aus Hohenstanfcn
Der deutsche Kaiser Haus.
Der zog mit hellen Haufen
Einstmals zu jagen aus.
Er rannt auf eine Hindc
So heiß und hastig vor,
Daß ihn sein Jagdgesinde
Im wilden Forst verlor.
Bei einer kühlen Quelle
Da macht' er endlich Halt;
Gezieret war die Stelle
Mit Blumen mannigfalt.
Hier dacht' er sich zu legen
Zu einem Mittagschlaf:
Da rauscht' es in den Hägen,
Und stund vor ihm der Graf.
Da hub er an zu schelten:
„Treff ich den Nachbar hie?
Zu Hause weilt er selten,
Zu Hofe kommt er nie!
Bi an muß im Walde streifen,
Wenn man ihn sahen will,
Man muß ihn tapfer greifen,
Sonst hält er nirgend still."
Als nun ohn' alle Fährde
Der Graf sich niederließ,
Und neben in die Erde
Die Jägerstangc stieß,
Da griff, mit beiden Händen
Der Kaiser nach dem Schaft:
„Den Spieß muß ich mir pfänden,
Ich nehm' ihn mir zur Haft.
Der Spieß ist mir verfangen,
Des ich so lang' begehrt!
Du sollst dafür empfangen
Hier dies mein bestes Pferd.
Nicht schweifen im Gemälde
Darf mir ein solcher Mann,
Der mir zu Hof und Felde
Viel besser dienen kann."
„Herr Kaiser, wollt vergeben,
Ihr macht das Herz mir schwer.
Laßt mir mein freies Leben,
Und laßt mir meinen Speer!
Ein Pferd hab' ich schon eigen,
Für euers sag' ich Dank;
Zu Rosse will ich steigen
Bin ich mal alt und krank."
„Mit dir ist nicht zu streiten,
Du bist mir allzu stolz!
Doch führst du an der Seiten
Ein Trinkgefäß von Holz:
Nun macht die Jagd mich dürsten,
Drum thu mir das, Gesell,
Und gib mir eins zu bürsten
Aus diesem Wasserquell!"
Der Graf hat sich erhoben,
Er schwenkt den Becher klar,
Er füllt ihn an bis oben,
Hält ihn dem Kaiser dar.
Der schlürft mit vollen Zügen
Den kühlen Trank hinein
Und zeigt ein solch Vergnügen,
Als wär's der beste Wein.
Dann faßt der schlaue Zecher
Den Grafen bei der Hand:
„Du schwenktest mir den Becher
Und fülltest ihn zum Rand,
Du hieltest mir zum Munde
Das labende Getränk:
Du bist von dieser Stunde
Des deutschen Reiches Schenk."
L. Uhland.
200
148. schwäbische Kunde.
Als Kaiser Rothbart lobesam
Zum heil'gen Land gezogen kam.
Da mußt' er mit dem frommen Heer
Durch ein Gebirge, wüst und leer.
Daselbst erhub sich große Noth,
Biel Steine gab's und wenig Brot,
Und mancher deutsche Reitersmann
Hat dort den Trunk sich abgethan.
Den Pferden war's so schwach im Magen,
Fast mußt' der Reiter die Mähre tragen.
Nun war ein Herr aus Schwaben-
land,
Von hohem Wuchs und starker Hand,
Deß Rößlein war so krank und schwach,
Er zog es nur am Zaume nach,
Er hätt' es nimmer aufgegeben,
Und kostet's ihm das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
Hinter dem Heereszug zurück.
Da sprengten plötzlich in die Quer
Fünfzig türkische Reiter daher,
Die huben an, auf ihn zu schießen,
Nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht' sich nit,
Gieng seines Weges Schritt vor Schritt,
Ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
Und thät nur spöttlich um sich blicken,
Bis einer, dem die Zeit zu lang,
Auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein
Blut,
Er trifft des Türken Pferd so gut,
Er haut ihm ab mit einem Streich
Die beiden Vorderfüß' zugleich.
Als er das Thier zu Fall gebracht,
Da faßt er erst sein Schwert mit Macht,
Er schwingt es auf des Reiters Kopf,
Haut durch bis auf den Sattelknopf,
Haut auch den Sattel noch in Stücken
Und tief noch in des Pferdes Rücken;
Zur Rechten sieht man, wie zur Linken
Einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus,
Sie fliehen in alle Welt hinaus,
Und jedem ist's, als würd' ihm mitten
Durch Kopf und Leib hindurchgeschnitten.
Drauf kam des Wegs 'ne Christenschar,
Die auch zurückgeblieben war,
Die sahen nun mit gutem Bedacht,
Was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Kaiser vernommen.
Der ließ den Schwaben vor sich kommen,
Er sprach: „Sag' an, mein Ritter werth!
Wer hat dich solche Streich' gelehrt?"
Der Held bedacht' sich nicht zu lang:
„Die Streiche sind bei uns im Schwang',
Sie sind bekannt im ganzen Reiche,
MannenntsiehaltnurSchwabenstreiche."
8. Uhland.
149. Der Libanon.
Wer an der Insel Cypern vorbeigefahren ist, der gewahrt im
Osten schon in einer Entfernung von zwanzig Meilen die zacken-
losen Höhen des Libanon, die nördlichen Grenzmarken des heiligen
Landes. Wer dann bei Beirut landet, den empfängt das Morgen-
land auf einem seiner herrlichsten Punkte. Die Stadt selber lagert
sich auf einem schönen Hügel, der sich zum Meere hin sanft ab-
dacht. Aber an der Landzunge und den Felsenriffen, die sich weiter
hinausstrecken, brechen sich die Wogen der Brandung mit Gewalt;
schäumend spritzen sie hervor und sinken in Millionen farbiger
Staubfunken in das Meer zurück. Alle die umliegenden Hügel und
die Landzunge vor dem Hafen sind mit dem üppigsten Pflanzenwuchs
überkleidet. Die Luft ist erfüllt vom Dufte der Myrten; Maul-
beerpflanzungen und Gärten, mit Hecken von seltsam gestalteten
201
Fackeldisteln umschlossen, ziehen sich in weiten Kreisen um die
Stadt, und über das ganze Meeresufer hin breiten die majestätischen
Gipfel der Brotbäume, dunkelgrünende Cypressen, weitästige Pla-
tanen , Feigen-, Orangen- und Granatbäume mit ihren lockenden
Früchten den wundervollen Schleier ihres Laubwerkes. Weiterhin
sind die untersten Abhänge des Gebirges mit Olivenhainen bedeckt.
Ungefähr eine halbe Stunde von Beirut öffnen die vorderen Berge
► des Libanon ihre tiefen Schlünde, in deren Dunkel das Auge sich
verliert. Rauschende Flüsse brechen aus ihnen in verschiedenen
Richtungen hervor und stürzen in kurzem Laufe dem Meere zu.
Lebhafte Thätigkeit regt sich im Hafen. Maroniten und Drusen,
die schönen, kraftvollen Söhne des nahen Gebirges, bewegen sich in
geschäftigem Getümmel im Glanze ihrer Waffen, in ihren maleri-
schen Trachten hin und her. Barken mit Waren aus Bagdad
und Damaskus stossen vom Lande und eilen zu den Schiffen, die
in einiger Entfernung vom Ufer vor Anker liegen. Verworrenes
Geschrei der Männer, untermischt von dem kläglichen Ächzen der
Kameele, die genöthigt werden, sich auf die Knie niederzulassen, um
ihre Lasten aufzunehmen, erfüllt die Luft. Und dieses lebensvolle
Bild der Gegenwart ist doch nur ein nackter Schatten im Vergleich
mit den Zeiten des Mittelalters, als Damaskus, dessen blühender
Hafen Beirut war, noch in seiner Blüte stand.
. Eber die steile Küste führen alte Kunststrassen, an deren Fel-
senwänden sich noch Überbleibsel von Inschriften und Bildwerken
zeigen. Beschwerliche und gefahrvolle Wege führen ins Gebirge,
bald an entsetzlichen Abgründen hin, bald durch finstere Schluchten
an schäumenden Flüssen entlang, deren Ufer mit Zuckerrohr be-
pflanzt ist. Überall stellt sich neben die wilde Grösse und Erhaben-
heit der Natur die Anmuth menschlichen Fleisses. Von tief unten
bis nahe an den wellenförmigen Scheitel des Gebirges steigen ge-
mauerte Terrassen mit edlen Reben und Maulbeerpflanzungen oft
hundertfach über einander empor. Zwischen den Abhängen und dem
relsengeröll fliesst das überströmende Wasser in tausendfachen Win-
dungen in die Tiefe; überall hangen an den Felsenwänden Klöster
und Dörfer wie Schwalbennester über den Schlünden der Thäler,
und die Häuserreihen liegen nicht selten so dicht über einander,
da,ss die platten Dächer der unteren den oberen zur Gasse dienen.
Mit solcher fast ängstlichen Sparsamkeit ist jeder Fuss breit des kost-
baren Bodens benutzt. Keine Mühseligkeit in seiner Bebauung,
keine Gefahr, welche den Wohnungen durch die reissende Gewalt
der die Felsen unterhöhlenden Bäche droht, kann den Bewohnern
des Libanon ihre Heimat verleiden; denn nur auf diesem unzugäng-
lichen Gebirge gibt es eine Freiheit, wie man sie sonst im ganzen
Morgenlande vergeblich sucht.
Die Masse des Libanon, dessen Name weisserBerg bedeutet,
besteht aus weisslichem Kalkstein, in welchem man auch Muscheln
und Versteinerungen von Geschöpfen der Vorzeit findet. Sein Gipfel
erhebt sich bis zu einer Höhe von 3200 Metern und ist mit der
202
Schneedecke eines ewigen Winters umgeben, während die engen
Schluchten seiner unteren Thäler die Glut der Sommersonne ge-
fangen halten. So stufen sich auf den verschiedenen Höhepunkten
des Gebirges verschiedene Zonen ab. Jede bringt ihre eigenthüm-
lichen Erzeugnisse; unten Getreide im Überfluss; in der Mitte
der heitere Anblick immergrüner Bäume, Gärten mit den schönsten
Früchten Syriens, eine milde Luft und reiche Bewässerung; oben
das unbewohnbare Gebiet der Wolken und des Eises. Darum singen
arabische Dichter in ihrer blumenreichen Sprache von diesem Ge-
birge: Es trägt auf seinem Haupte den Winter, auf seinen
Schultern den Frühling, in seinem Schosse den Herbst;
der Sommer aber schlummert zu seinen F ü s s e n am Meeresstrande.
Kein anderes Gebirge der Erde, mit Ausnahme des Sinai,
ist so ehrwürdig und berühmt geworden, kein anderes ist von den
Sängern und Propheten des alten Bundes so verherrlicht worden,
wie der Libanon. Moses sehnte sich, ihn vor seinem Ende zu
schauen. Das hohe Lied redet von den Brunnen lebendiger
Wasser, die vom Libanon Hiessen, H o s e a verkündet dem bussfertigen
Israel die Verheissung Gottes: „Ich will Israel wie ein Thau sein,
dass er blühen soll wie eine Rose, und seine Wurzeln sollen aus-
schlagen wie Libanon, und seine Zweige sich ausbreiten, dass er sei
schön wie ein Ölbaum.“ — Vor allem finden wir die Ledern
dieses Gebirges in der heiligen Schrift bewundert und gepriesen,
sie, die der Herr gepflanzet hat (Ps. 104, 16), ein Bild der Herr-
lichkeit und Kraft. So vergleicht der Prophet Hesekiel die ge-
waltige Macht des assyrischen Reiches den Gedern: „Siehe, Assur
war eine Leder auf dem Libanon, schön von Asten, ein schattendes
Dach und hoch von Wuchs, und unter dichtbelaubten Zweigen war
sein Wipfel. Wasser machte ihn gross, die Flut ihn hoch; sein
Wuchs war höher als alle Bäume des Feldes.“ Dazu kam die
Werthschätzung des edlen Baumes unter allen Völkern des Alter-
thums und seine Verwendung zu ihren bewundertsten Werken. Die
Schiffe von Tyrus trugen Masten von Ledernstämmen; in Kisten
aus eisenfestem, wohlriechendem Ledernholze führten die Kaufleute
Phöniziens ihre Purpurgewänder, ihre seidenen und gestickten Tücher
auf die Märkte; von Ledern erbaute sich David einen Palast auf
Zion, Ledern des Libanon erbat sich Salomo von Hiram, dem
Könige von Tyrus, für den prachtvollen Ausbau des Tempels zu
Jerusalem. Noch jetzt ehren alle Bewohner des Morgenlandes die
Leder höher als alle Bäume der Wälder. Ihr Holz, sagen sie, sei
unverweslich, ihr Wachsthum unauslöschlich. Noch jetzt wandert
die christliche, wie die muhammedanische Bevölkerung der benach-
barten Thäler jährlich einmal im Brachmonde zu den Ledern hin-
auf, um an ihrem Fusse einen feierlichen Gottesdienst zu halten
und unter dem erhabensten Tempel der Natur ihre Gebete zu Gott
emporzusenden.
Der noch jetzt vorhandene Gedernwald, einer von den
wenigen Resten jenes Urwaldes, der vormals vielleicht den ganzen
203
Libanon bedeckte, liegt an dem westlichen Abhange des Gebirges,
nahe an dem höchsten Bergrücken, in einer Höhe, in der sonst jeder
Baumwuchs aufhört. In einem weiten, kesselförmigen Thale, welches,
von drei Seiten umschlossen, nur nach der vierten hin einem Wald-
bache sich öffnet, erheben sich diese stolzen, weitschattigen, ihre
Wipfel wie Pyramiden gen Himmel hebenden Nadelbäume. Es sind
ihrer an dieser Stelle nur noch gegen 400 Stämme. Da aber bei
dem langsamen Wüchse der Leder die Dicke einer hundertjährigen
nur sehr massig ist, so hat man berechnet, dass sich unter den vor-
handenen noch lebendige Zeugen des salomonischen Zeitalters be-
finden müssen. Hat doch die stärkste unter ihnen über 12 Meter im
Umfange; die gewaltigen Äste breiten sich über 32 Meter weit
aus und ihre Höhe beträgt, nach dem Schatten berechnet, mehr
als 20 Meter. Ferd. Bässler.
150. Heinrich der Löwe.
Zu Braunschweig steht aus Erz gegossen das Denkmal eines Helden,
zu dessen Füßen ein Löwe liegt; auch hängt im Dome daselbst eines Greifen
Klaue. Davon lautet folgende Sage.
Vorzeiten zog Herzog Heinrich, der edle Welf, nach Abenteuern aus.
Als er in einem Schiffe das wilde Meer befuhr, erhub sich ein heftiger
Sturm und verschlug den Herzog; lange Tage und Nächte irrte er, ohne
Land zu finden. Bald fieng den Reisenden die Speise an auszugehen, und
der Hunger quälte sie schrecklich. In dieser Noth wurde beschlossen, Lose
in einen Hut zu werfen, und wessen Los gezogen ward, der verlor das
Leben und mußte der andern Mannschaft mit seinem Fleische zur Nahrung
dienen. Willig unterwarfen sich diese Unglücklichen und ließen sich für den
geliebten Herrn und ihre Gefährten schlachten. So wurden die übrigen
eine Zeit lang gefristet; doch schickte es die Vorsehung, daß niemals des
Herzogs Los herauskam. Aber das Elend wollte kein Ende nehmen; zu-
letzt war bloß der Herzog mit einem einzigen Knechte noch auf dem ganzen
Schiffe lebendig, und der schreckliche Hunger hielt nicht stille. Da sprach
der Fürst: „Laß uns beide losen, und auf wen es fällt, von dem speise
sich der andere." Über diese Zumuthung erschrak der treue Knecht, doch so
dachte er, es würde ihn selbst betreffen und ließ es zu; sieh, da siel das Los
auf seinen edlen, liebwerthcn Herrn, den jetzt der Diener todten sollte. Da
sprach der Knecht: „Das thu' ich nimmermehr, und wenn alles verloren
ist, so hab' ich noch ein anderes ausgesonnen; ich will euch in einen leder-
nen Sack einnähen, wartet dann, was geschehen wird!" Der Herzog gab
seinen Willen dazu; der Knecht nahm die Haut eines Ochsen, den sic vor-
dem auf dem Schiffe gespeist hatten, wickelte den Herzog darein und nähte
sie zusammen; doch hatte er sein Schwert neben ihn mit hineingesteckt.
Nicht lange, so kam der Vogel Greif geflogen, faßte den ledernen Sack in
die Klauen und trug ihn durch die Lüfte über das weite Meer bis in sein
Nest. Als der Vogel dieses bewerkstelligt hatte, sann er auf einen neuen
Fang, ließ die Haut liegen und flog wieder aus. Mittlerweile faßte Herzog
Heinrich das Schwert und zerschnitt die Nähte des Sackes; als die jungen
204
Greifen den lebendigen Menschen erblickten, fielen sie gierig und mit Ge-
schrei über ihn her. Der theure Held wehrte sich tapfer und schlug sie
sämmtlich zu Tode. Als er sich aus dieser Noth befreit sah, schnitt er eine
Greifenklaue ab, die er zum Andenken mit sich nahm, stieg aus dem Neste
den hohen Baum hernieder und befand sich in einem weiten, wilden Walde.
In diesem Walde gieng der Herzog eine gute Weile fort; da sah er einen
fürchterlichen Lindwurm wider einen Löwen streiten, und der Löwe schwebte
in großer Noth zu unterliegen. Weil aber der Löwe insgemein für ein
edles und treues Thier gehalten wird und der Wurm für ein böses, giftiges,
säumte Herzog Heinrich nicht, sondern sprang dem Löwen mit seiner Hülfe
bei. Der Lindwurm schrie, daß es durch den Wald erscholl, und wehrte
sich lange Zeit; endlich gelang es dem Helden, ihn mit seinem guten Schwerte
zu tödten. Hierauf nahte sich der Löwe, legte sich zu des Herzogs Füßen
neben den Schild auf den Boden und verließ ihn nimmermehr von dieser
Stunde an. Denn als der Herzog nach Verlauf einiger Zeit, während
welcher das treue Thier ihn mit gefangenem Hirsch und Wild ernährt hatte,
überlegte, wie er aus dieser Einöde und der Gesellschaft des Löwen wieder
unter die Menschen gelangen könnte, baute er sich eine Horde aus zu-
sammengelegtem Holz, mit Reis durchflochtcn, und setzte sie aufs Meer.
Als nun einmal der Löwe in den Wald zu jagen gegangen war, bestieg
Heinrich sein Fahrzeug und stieß vom Ufer ab. Der Löwe aber, welcher
zurückkehrte und seinen Herrn nicht mehr fand, kam zum Gestade und er-
blickte ihn aus weiter Ferne; alsobald sprang er in die Wogen und schwamm
so lange, bis er auf dem Flosse bei dem Herzog war, zu dessen Füßen
er sich ruhig niederlegte. Hieraus fuhren sie eine Zeit lang auf den Meeres-
wellen, bald überkam sie Hunger und Elend. Der Held betete und wachte,
hatte Tag und Nacht keine Ruhe; da erschien ihm der böse Teufel und
sprach: ..Herzog, ich bringe dir Botschaft; du schwebst hier in Pein und
'Noth auf dem offenen Meere, und daheim zu Braunschweig ist lauter Freude
und ^od^scit; heute an diesem Abend feiert ein Fürst aus fremden Landen
die Vermählung mit deinem Weibe; denn die gesetzten sieben Jahre seit
deiner Ausfahrt sind verstrichen." Traurig versetzte Heinrich, das möge
wahr sein, doch wolle er sich zu Gott lenken, der alles wohl mache. „Du
redest noch viel von Gott" — sprach der Versucher — „der hilft dir nicht
aus diesen Wasserwogen; ich aber will dich noch heute zu deiner Gemahlin
führen, wofern du mein sein willst." Sie hatten ein lang Gespräche, der
Herr wollte sein Gelübde gegen1 2) Gott, dem ewigen Licht, nicht brechen;
da schlug ihm der Teufel vor, er wolle ihn ohne Schaden sammt dem Löwen
noch heut' Abend auf den Giersberg vor Braunschweig tragen und hinlegen,
da solle er seiner warten; finde er ihn nach der Zurückkunft schlafend, so
sei er ihm und seinem Reiche verfallen. Der Herzog, welcher von heißer
Sehnsucht nach seiner geliebten Gemahlin gequält wurde, gieng dieses ein
und hoffte auf des Himmels Beistand wider alle Künste des Bösen. Als-
bald ergriff ihn der Teufel, führte ihn schnell durch die Lüfte bis vor
1) Hochzeit, in der alten Bedeutung für unser: Festlichkeit.
2) gegen regierte bis Ende des 17. Jahrhunderts fast immer den Dativ; auch bei
neueren Schriftstellern begegnet man demselben, besonders bei der Bedeutung von: gegenüber.
205
Braunschweig, legte ihn auf dem Giersberg nieder und ries: „Nun, wache,
Herr! Ich kehre bald wieder." Heinrich aber war aufs höchste ermüdet,
und der Schlaf setzte ihm mächtig zu. Nun fuhr der Teufel zurück und
wollte den Löwen, wie er verheißen hatte, auch abholen; es währte nicht
lange, so kam er mit dem treuen Thiere daher geflogen. Als nun der
Teufel, noch aus der Luft herunter, den Herzog, in Müdigkeit versenkt,
auf dem Giersberge ruhen sah, freute er sich schon im voraus; allein der
Löwe, der seinen Herrn für todt hielt, hub laut zu schreien au, daß Heinrich
in demselben Augenblicke erwachte. Der böse Feind sah nun sein Spiel
verloren und bereute es zu spät, das wilde Thier herbeigeholt zu haben;
er warf den Löwen aus der Luft herab zu Boden, daß es krachte. Der
Löwe kam glücklich auf den Berg zu seinem Herrn, welcher Gott dankte
und sich aufrichtete, um, weil es Abend werden wollte, hinab in die Stadt
Braunschweig zu gehen. Nach der Burg war sein Gang, und der Löwe
folgte ihm immer nach, großes Getöne scholl ihm entgegen. Er wollte in
das Fürstenhaus treten, da wiesen ihn die Diener zurück. „Was heißt das
Getön und Pfeifen?" rief Heinrich aus. — „Sollte doch wahr sein, was
mir der Teufel gesagt hat? Und ist ein fremder Herr in diesem Haus?"
— „Kein fremder" — antwortete man ihm — „denn er ist unserer gnädigen
Frauen verlobt und bekommt heute das Braunschweiger Land." „So bitte
ich" — sagte der Herzog — „die Braut um einen Trunk Weins, mein
Herz ist mir ganz matt." Da lief einer von den Leuten hinauf zu der
Fürstin und hinterbrachte, daß ein fremder Gast, dem ein Löwe mitsolgc,
um einen Trunk Wein bitten lasse Die Herzogin verwunderte sich, füllte
ihm ein Geschirr mit Wein und sandte cs dem Pilgrim. „Wer magst du
wohl sein" — sprach der Diener — „daß du von diesem edlen Weine zu
trinken begehrst, den man allein der Herzogin einschenkt?" Der Pilgrim
trank, nahm seinen goldenen Ring und warf ihn in den Becher und hieß
diesen der Braut zurücktragen. Als sie den Ring erblickte, worauf des
Herzogs Schild und Name geschnitten war, erbleichte sie, stand eilends auf
"nd trat an die Zinne, um nach dem Fremdlinge zu schauen. Sie ward
den Herrn inne, der da mit dem Löwen saß; darauf ließ sie ihn in den
Saal entbieten und fragen, wie er zu dem Ringe gekommen wäre, und
warum er ihn in den Becher gelegt hätte. „Von keinem hab' ich ihn be-
kommen, sondern ihn selbst genommen; es sind nun länger als sieben Jahre,
und den Ring hab' ich hingelegt, wo er billig hingehört." Als man der
Herzogin diese Antwort hinterbrachte, schaute sie den Fremden an und fiel
hör Freuden zur Erden, weil sie ihren geliebten Gemahl erkannte; sie bot
ihm ihre weiße Hand und hieß ihn willkommen. Da entstand große Freude
im ganzen Saal, Herzog Heinrich setzte sich zu seiner Gemahlin an den
Tisch; dem jungen Bräutigam aber wurde ein schönes Fräulein aus Franken
angetraut. Hierauf regierte Herzog Heinrich lange und glücklich in seinem
Reich. Als er in hohem Alter verstarb, legte sich der Löwe auf des Herrn
Grab und wich nicht davon, bis er auch verschied. Das Thier liegt auf
der Burg begraben, und seiner Treue zu Ehren wurde ihm eine Säule
errichtet. Brüder Grimm.
206
Der alte Barbarossa,
Der Kaiser Friederich,
Im unterird'schen Schlosse
Hält er verzaubert sich.
Er ist niemals gestorben,
Er lebt darin noch jetzt;
Er hat im Schloß verborgen
Zum Schlaf sich hingesetzt.
Er hat hinabgenommen
Des Reiches Herrlichkeit
Und wird einst wiederkommen
Mit ihr zu einer Zeit.
Der Stuhl ist elfenbeinern,
Darauf der Kaiser sitzt;
Der Tisch ist marmelsteinern,
Worauf sein Haupt er stützt.
152.
Barbarossa.
Sein Bart ist nicht von Flachse,
Er ist von Feuersglut,
Ist durch den Tisch gewachsen,
Worauf sein Kinn ausruht.
Er nickt als wie im Traume,
Sein Aug', halb offen, zwinkt,
Und je nach langem Raume
Er einem Knaben winkt.
Er spricht im Schlaf zum Knaben:
„Geh' hin vors Schloß, o Zwerg,
Und sieh', ob noch die Raben
Herfliegen um den Berg.
Und wenn die alten Raben
Noch fliegen immerdar,
' So muß ich auch noch schlafen
Verzaubert hundert Jahr'.
Friedr- Rückert.
Nazareth.
Ein jäher Hohlweg führte uns in den Felsenkcssel hinab, in welchem
Nazareth wie begraben liegt, und freundliche Christengesichter sahen uns
aus allen Häusern neugierig an und grüßten uns mit einer gewissen Herz-
lichkeit und mit einer Miene, als wollten sie sagen: Ihr müßt nicht denken,
daß wir Moslim sind; wir sind Christen wie ihr; cs wird euch bei uns
gefallen. Wie wohl war uns, daß wir in der Stadt dessen, der nicht hatte,
wohin er sein Haupt legte, in dem lateinischen Kloster ein heimisches Ruhe-
plätzchen und in dem Vorsteher des Klosters einen treuherzigen Tyroler
fanden, mit dem es sich in jeder Beziehung deutsch reden ließ. Der folgende
Tag war der Tag des Herrn; er brachte süße Ruhe für Leib und Seele.
Nachdem wir alle die heiligen Orte gesehen hatten, welche die oft sehr un-
gereimte klösterliche Überlieferung ausweist, eilten wir zur engen, winkeligen
Stadt hinaus und die freien Berge hinan, die ja unzweifelhaft dieselben
waren wie damals, als der Herr hier wandelte. Eine große Anzahl naza-
renischer Frauen, und darunter einige ganz anmuthige Gestalten, kamen uns
von dem sogenannten Marienbrunnen mit gefüllten Krügen auf den Köpfen
entgegen und verfolgten mit ihrer freundlichen Zudringlichkeit meine Frau
so lange, bis sie den Schleier lüftete und sich vom Kopfe bis zum Fuße
beschauen ließ. Sie glaubten wohl als morgenländische Christinnen eine
Art Recht zu haben, ihrer abendländischen Schwester einmal ordentlich ins
Gesicht zu sehen und zu lachen. Sie drückten die dargebotene Hand ganz
herzlich. Angelangt auf der Höhe der ziemlich steilen Berge, von deren
einem der wüthende Volkshaufen den Herrn hinabstürzen wollte — welch'
eine prachtvolle Aussicht eröffnete sich da! In der Ferne und in der Nähe
ein wahres Meer von Gebirgen! Im Süden die Gebirge Samarias, im
Norden die Berge Safcds, jener „Stadt auf dem Berge"; im Westen der
2 07
langgestreckte Karmel; im Osten die den Sec Genezareth umwallenden Höhen-
züge; dann in nächster Nähe der anmnthigc Tabor und ein Theil des kleinen»
Hermon; in weitester Ferne aber die königliche Gestalt des großen Hermon.
Zur linken dämmerte das Mittelmeer herüber, und ringsum lagerte sich
die, zwar jetzt von allem natürlichen Grün entblößte, aber dafür im Immer-
grün glorreicher Erinnerungen prangende Ebene Jesreel, von deren nördlichem
Ende in einer Entfernung von etwa drei Stunden Kanah-el-Djelil herdäm-
merte, — in aller Wahrscheinlichkeit jenes Kana in Galiläa, wo der Herr
zum ersten Male feine Herrlichkeit offenbarte. Dicht zu unseren Füßen endlich
lag tief unten im Felsbeckcn wie eingeschmiegt Nazareth, ein wahres
„Veilchen Galiläas"; einzelne Öl- und Feigenbäume aber, und hier und
da auch ein von dichtem Cactus eingehegter Garten belebten die grauen
Wände des Felscnbeckens, während würzige Kräuter uns in nächster Nähe
süß umdufteten. K.Graul.
153. Beim Lesen der heiligen Schrift.
Immer muß ich wieder lesen
In dem alten heil'gen Buch,
Wie der Herr so sanft gewesen,
Ohne Arg und ohne Trug.
Wie er hieß die Kindlein kommen,
Wie er hold auf sie geblickt,
Und sie in den Arm genommen
Und an seine Brust gedrückt.
Wie er Hülfe und Erbarmen
Allen Kranken gern bewies
Und die Blinden und die Armen
Seine lieben Brüder hieß.
Wie er keineni Sünder wehrte,
Der mit Reue zu ihm kam,
Wie er freundlich ihn bekehrte,
Ihm den Tod vom Herzen nahm.
Immer muß ich wieder lesen,
Les' und weine mich nicht satt,
Wie der Herr so treu gewesen,
Wie er uns geliebet hat.
Hat die Herde mild geleitet,
Die sein Vater ihm verstehn;
Hat die Arme ausgebreitet,
Alle an sein Herz zu ziehn.
Laß mich knien zu deinen Füßen,
Herr, die Liebe bricht mein Herz: -
Laß in Thränen mich zerfließen,
Untergehn in Wonn' und Schmerz!
L. Hensel.
154. Der See Genezareth.
Dieser freundliche Landsee, welcher auch der galiläische
oder der See von Tiberias genannt wird, ist drei Meilen lang
und bis zu anderthalb Meilen breit. Er bildet eine der anmutig-
sten Gegenden des heiligen Landes. Der runde Spiegel seines
dunkelblauen Gewässers blickt klar und glänzend zwischen den
Bergen hervor; darum nennt ihn der bildersinnige Morgenländer
„das Auge der Gegend“. Im Süden, wie im Norden begrenzen ihn
fruchtbare Ebenen; im Osten und Westen dagegen umschliessen ihn
Hügel und Berge von schönen Formen; aus ihren steilen, maleri-
schen Schluchten treten rasche Bäche hervor und ergiessen sich in
das Becken des „Meeres von Galiläa“. Zuweilen bringen jäh aus
diesen Bergen hervorbrechende Zugwinde und Windwirbel das fried-
liche Gewässer mit der Gewalt des schweizerischen Lohns in wilden
208
Aufruhr, der aber gewöhnlich sehr bald zur früheren Stille sich be-
sänftigt. Der Reichthum des’galiläischen Sees an trefflichen Fischen
ist sehr gross, sein Wasser rein, kühl und süss, sein Grund und sein
Ufer sandig. Klima und Erdreich der umliegenden Landschaft be-
günstigen die Pflege der trefflichsten Südfrüchte, der Datteln, Citro-
nen, Pomeranzen, der Trauben und Melonen, wie den Anbau des
Getreides und des Indigo; und bei grösserer Betriebsamkeit der
Menschen würde der tiefe Bergkessel dieses Sees ein natürliches
Treibhaus sein, in welchem die edlen Gewächse Ägyptens und selbst
Arabiens gedeihen könnten. Dichter Baumwuchs und Buschwerk,
mit Saatfeldern wechselnd, umkränzt das nordwestliche Ufer; wie
„ein Morgenroth der Tiefe“ ergiesst sich das rosenfarbige Blüten-
meer der Oleanderbäume über Hügel und Thal; aus den Gebüschen
ertönt das Lied der Blaudrossel und Nachtigal und aus den Felsen-
höhlen von Magdala die Stimme der wilden Taube, die hier in
Scharen zu hunderten umherfliegt und an den stechapfelförmigen
Früchten der zahlreichen Nebek- oder Lotusbäume gute Kost hat.
In diesem gesegneten Seethale drängte sich sonst eine uner-
messliche Volksmenge im rührigsten Verkehre. Blühende Städte und
gewerbreiche Flecken, wie Capernaum, Chorazim, Bethsaida,
Magdala und Liberias, sammt ihren reizvollen Gärten, Feldern
und Obsthainen, welche zu jeder Zeit des Jahres reife Früchte
lieferten, umgürteten im lieblichsten Wechsel den See, wie die kost-
bare Einfassung einen köstlichen Juwel. Gegen zwölfhundert Fischer
fanden hier ihre Nahrung; drittehalbhundert Fahrzeuge: Fischerkähne,
Reisebarken, lustfahrende Gondeln und Lastschiffe durchkreuzten
den Wasserspiegel nach allen Richtungen und machten ihn zum ge-
meinsamen Tummelplatz aller umliegenden Städte und Dörfer. Hier
war der heitre, gesegnete Schauplatz „des angenehmen Jahres des
Herrn“. In Capernaum hatte er seine Wohnung. Hier erlas er
sich mit jenem durchdringenden Blicke und Geiste, der wohl wusste,
was im Menschen war, aus der geschäftigen Menge die tüchtigsten
seiner Apostel; hier und im ganzen Umkreis dieser Gestade warf
der erhabene Menschenfischer unermüdet das Netz seiner herzge-
winnenden Rede und seines holdseligem Wesens aus, in den Schulen
und Häusern, auf den blühenden Uferhügeln und vom Borde des
Schiffes, vor dem Schmerzenslager der Kranken und vor den
Schreckensklüften der Besessenen.
Jetzt liegt ein Schleier des. Witwenthums über diese reizvolle
Landschaft gebreitet. Von Capernaum, „die bis an den Himmel
erhoben war“, vom Chorazim und Bethsaida ist keine Spur zu fin-
den, als wären sie „bis in die Hölle hinuntergestossen“. Die Wälder
und Weingärten sind von den Hügeln verschwunden; Palmen-, Feigen-
und Olivenbäume stehen nur noch vereinzelt umher; die Balsam-
staude, welche vormals die feinsandigen, kiesreichen Ufer des Sees
umgrünte, findet sich nirgends mehr, und statt jener hunderte von
Fahrzeugen ziehet jetzt ein einziges Boot mit weissem Segel von
Zeit zu Zeit seine Furche durch den Spiegel des stillen Gewässers,
um von dem östlichen Gestade Holz nach Tiberias herüberzuholen.
An der Stelle der Fischer treibt nur noch der Pelikan sein ein-
sames Geschäft. Fera' Bässlcr'
155. Belsazar.
Die Mitternacht zog näher ^chon;
In stummer Ruh' lag Babylom
Nur oben in des Königs Schloß,
Da flackert's, da lärmt des Königs Troß.
Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.
Die Knechte saßen in schimmernden Reih'n
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht';
So klang es dem störrigen Könige recht.
Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwuchs ihm kecker Muth.
Und blindlings reißt der Muth ihn fort,
Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.
Und er brüstet sich frech und lästert wild;
Die Knechteschar ihm Beifall brüllt.
Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.
Er trug viel gülden Geräth auf dem Haupt,
Das war aus dem Tempel Jehovah's geraubt.
Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis zum Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
Und rufet laut mit schäumendem Mund:
„Jehovah! dir künd' ich auf ewig Hohn, —
Ich bin der König von Babylon!"
Doch kaum dies grause Wort verklang,
Dem König ward's heimlich im Busen bang'.
Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichcnstill im Saal.
Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kam's hervor wie Menschenhand
Und schrieb und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knieen und todtenblaß;
Die Knechteschar saß kalt durchgraut
Und saß gar still, gab keinen Laut.
Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsazar ward aber in selbiger Nacht
Bon seinen Knechten umgebracht.
H. Heine.
210
156. Der hart geschmiedete Landgraf.
Zu Ruhla im Thüringer Wald liegt eine uralte Schmiede, und sprich-
wörtlich pflegte man von langen Zeiten her einen strengen, unbiegsamen
Mann zu bezeichnen: er ist in der Ruhla hart geschmiedet worden.
Landgraf Ludwig zu Thüringen und Hessen war anfänglich ein gar
milder und weicher Herr, demüthig gegen jedermann; da huben seine Junker
und Edelinge an, stolz zu werden, verschmähten ihn und seine Gebote; aber
die Unterthanen drückten und schätzten sie aller Enden. Es trug sich nun
einmal zu, daß der Landgraf jagen ritt auf dem Walde und traf ein Wild an;
dem folgte er nach so lange, daß er sich verirrte, und ward von der Nacht
überrascht. Da gewahrte er ein Feuer durch die Bäume, richtete sich danach
und kam in die Ruhla, zu einem Hammer- oder Waldschmiede. Der Fürst
war mit schlechten Kleidern angethan, hatte sein Jagdhorn umhängen. Der
Schmied frug, wer er wäre? „Des Landgrafen Jäger." Da sprach der
Schmied: „Pfui des Landgrafen! wer ihn nennt, sollte allemal das Maul
wischen, des schwachherzigeu Herrn!" Ludwig schwieg, und der Schmied sagte
zuletzt: „Herbergen will ich dich heut'; in dem Schuppen da findest du Heu,
magst dich mit deinem Pferde behelfen; aber um deines Herrn willen will
ich dich nicht beherbergen." Der Landgraf gieng beiseit, konnte nicht schlafen.
Die ganze Nacht aber arbeitete der Schmied, und wenn er so mit dem
großen Hammer das Eisen zusammenschlug, sprach er bei jedem Schlag:
„Landgraf, werde hart! Landgraf, werde hart wie dies Eisen!" und schalt
ihn und sprach weiter: „Du böser, unseliger Herr! was taugst du den
armen Leuten zu leben? Siehst du nicht, wie deine Räthe das Volk plagen
und mähren dir im Munde?" Und erzählte also die liebe lange Nacht, was
die Beamten für Untugenden mit den armen Unterthanen übten: klagten
dann die Unterthanen, so wäre niemand, der ihnen Hülfe thäte; 'denn der
Herr nähme cs nicht an, die Ritterschaft spottete seiner hinterrücks, nennten
ihn Landgraf Metz und hielten ihn gar uuwerth. Unser Fürst und seine
Jäger treiben die Wölfe ins Garn, und die Amtleute die rothen Füchse
(die Goldmünzen) in ihre Beutel. Mit solchen und andern Worten redete
der Schmied die ganze lange Nacht zu dem Schmiedegesellen; und wenn
die Hammerschläge kamen, schalt er den Herrn und hieß ihn hart werden
wie das Eisen. Das trieb er bis zum Morgen; aber der Landgraf faßte
alles zu Ohren und Herzen und ward seit der Zeit scharf und crnsthaftig
in seinem Gemüth, begann die Widerspenstigen zu zwingen und zum Ge-
horsam zu bringen. Brüd-r Grimm.
157. Räthsel.
1.
Mein Gesicht
Ist geschmückt mit fremdem Licht;
Schmückt mich nicht das fremde Licht,
Siehst du nicht mein Angesicht.
2.
Es flog ein Vogel federlos
Auf einen Baum blattlos:
Da kam die Frau mundlos
Und aß den Vogel federlos.
3.
Ich mache hart, ich mache weich,
Ich mache arm, ich mache reich;
Man liebt mich, doch nicht allzunah;
Zu nah wird alles von mir aufgezehrt,
Und alles stirbt, wo man mich ganz entbehrt.
I
211
4.
Es ist weg und bleibt weg,
Ist Tag und Nach: weg,
Und jedermann sieht es doch.
5.
Im Lenz erquick' ich dich,
Im Sommer kühl' ich dich,
Im Herbst ernähr' ich dich,
Im Winter wärm' ich dich.
6.
Als Pflanze steig' ich aus der Erde,
Du quälest mich zu hartem Stein,
Und soll ich dir recht nutzbar sein,
So machst du, daß ich Wasser werde.
7.
Es ist ein kleines Klösterlein,
Geht weder Thür noch Fenster hinein,
Und wächst doch Fleisch und Bein darin,
Davon hat mancher guten Gewinn.
8.
Ein Jäger weiß ein Thier,
Es lebt und hat kein Blut,
Es hört und hat keine Ohren,
Es läuft und hat keine Beine.
9.
Man läßt ihn sprechen,
Man läßt ihn stechen;
Er ist ein Vogel
Und ein Gebrechen.
10.
Es ist ein Stamm, und an dem
Stamm, da sind zwei Äste,
Und an den Ästen zwei Zwciglein,
und das Schönste und das Beste
In der Welt ist bloß die Frucht der
Zweiglein und der Äste.
11.
Wer hat die Füße in der Hand,
Die Zähne in der Tasche,
Die Augen im Beutel?
12.
Kaum erwachs' ich wieder,
Mäht der Schnitter mich nieder;
Macht er's aber nicht gut,
So vergießt der Acker sein Blut.
13.
Zwei Kleine mit zwei Großen
Laufen auf allen Straßen;
Laufen die Großen auch noch so sehr,
Die Kleinen kommen doch noch eh'r.
14.
Zwei Kopfe, zwei Arme,
Sechs Füße, zehn Zehen:
Wie soll ich das verstehen?
15.
Ich rede ohne Zunge,
Ich schreie ohne Lunge,
Ich hab' auch kein Herz
Und nehm' doch Theil an Freud' und
Schmerz.
16.
Ich mag mich, wie ich will, vor dir
Links- oder rechtshin drehen,
Folgt deine Hand getreulich mir,
So mußt du gerade gehen.
17.
Der Himmel hat's, die Erde nicht,
Die Mädel haben's, die Weiber nicht,
Der Teufel hat's, und Gott nicht,
Der Lorenz zuerst, der Michel zuletzt.
18.
Es ist nicht in Spanien,
Sondern in Oranien,
Es ist nicht in Wien,
Sondern in Berlin,
Es ist nicht im Main,
Wohl aber im Rhein,
Es ist nicht in Meißen,
Wohl aber in Preußen,
Es ist kein Dorf so klein,
Dies Ding muß drinne sein.
K S imrock. Teutsches Räthselbuch.
14*
212
158. Landgraf Ludwig der Eiserne baut eine Mauer.
Einmal führte der eiserne Landgraf den Kaiser Friedrich Rothbart,
seinen Schwager, nach Naumburg aufs Schloß. Da ward der Kaiser, von
seiner Schwester freundlich empfangen und blieb eine Zeit lang bei ihnen.
Eines Morgens lustwandelte der Kaiser, besah die Gebäude und ihre Ein-
richtung und trat hinaus auf den Berg, der sich vor dem Schlosse aus-
breitete. „Eure Burg", sprach er, „behagt mir wohl; doch vermisse ich
Mauern hier vor der Kemnate, welche doch auch befestigt sein sollte." Der
Landgraf erwiderte: „Um die Mauern sorge ich nicht; die kann ich schnell
schaffen, sobald ich ihrer bedarf." Da fragte der Kaiser: „Wie bald kann
denn eine gute Mauer hier gebaut werden?" — „Dazu bedarf's nicht ein-
mal drei Tage", antwortete Ludwig. Der Kaiser lachte und sprach: „Das
wäre ja ein Wunder und möchte kaum geschehen, wenn auch alle Stein-
metzen des deutschen Reiches hier beisammen wären." Es war aber die
Zeit, wo der Kaiser zu Tische gieng; da entbot der Landgraf durch eiligst
ausgesandte Boten allen Grafen und Herren in Thüringen, daß sie zur Nacht
mit wenigen Leuten, jedoch in ihrer besten Rüstung und ihrem schönsten
Schmuck auf die Burg kämen. Das geschah, und bei Tagesanbruch stellte
Ludwig die Mannschaften auf. Ein jeder mußte, gewaffuet und geschmückt
in Gold, Silber, Sammet oder Seide, wie man zum Streite auszieht, an
den Rand des Burggrabens treten; jeder Graf oder Edelmann hatte einen
Knappen vor sich, der ihm das Wappen, und einen andern hinter sich, der
ihm den Helm trug, so daß man deutlich jedes Wappen und Kleinod erkennen
konnte. So standen nun alle Dienstmannen rings um den Graben, bloße
Schwerter und Äxte in den Händen haltend, und wo ein Mauerturm
emporragen sollte, da stand ein Graf oder Freiherr mit dem Banner. Als
Ludwig dies alles in der Stille angeordnet hatte, gieng er zu seinem Schwager
und sagte: „Die Mauer, welche ich gestern bauen zu können mich rühmte,
steht bereit und fertig." Da sprach Friedrich: „Ihr wollt mich täuschen",
und segnete sich, wenn er es etwa mit Hülfe der schwarzen Kunst zuwege
gebracht haben möchte. Als er aber an den Graben hinaustrat und so
viel Schmuck und Pracht erblickte, brach er in die Worte aus: „Nun, eine
köstlichere, edlere, theurere und bessere Mauer habe ich zeitlebens noch nicht
gesehen; das will ich Gott und euch bekennen, lieber Schwager. Habt
immer Dank, daß ihr mir eine solche gezeigt habt." Brüder Grimm.
159. Der Storch.
Der Storch gehört unzweifelhaft zu den ausgezeichnetsten Sumpfvögeln,
wobei freilich berücksichtigt werden muß, daß wir keinen anderen seiner Ver-
wandten so genau kennen als ihn. Er bekundet in seinem Betragen etwas
sehr Würdevolles. Sein Gang ist langsam und gemessen, die Haltung dabei
ziemlich aufgerichtet, der Flug, welcher durch wenige Sprünge eingeleitet
wird, verhältnißmäßig langsam, aber doch leicht und schön, namentlich durch
die prachtvollen Schraubenlinien ausgezeichnet. Im Stehen pflegt er den
Hals etwas einzuziehen und den Schnabel mit der Spitze nach unten zu
richten. Höchst selten sieht er sich veranlaßt, seinen Gang bis zum Rennen
213
zu steigern; diese Bewegung scheint ihn auch balb- zu ermüden, während er,
in seiner gewöhnlichen Weise dahinwandelnd, stundenlang in Thätigkeit sein
kann. Der Flug ermüdet ihn nicht; er bewegt die Flügel selten und auch
nicht oft nacheinander, weiß aber den Wind oder jeden Luftzug so geschickt
zu benutzen, daß er schwebend nach Belieben steigt und fällt, und sein L-teuer
so trefflich zu handhaben, daß er jede Wendung auszuführen vermag.
Seine übrigen Fähigkeiten müssen ebenfalls als hoch entwickelte be-
zeichnet werden. Sein Verstand ist ungewöhnlich ausgebildet. Er weiß
sich in die Zeit und in die Leute zu schicken, übertrifft darin fast alle übrigen
Vögel und ist keinen Augenblick darüber in Zweifel, wie die Menschen an
diesem oder jenem Orte gegen ihn gesinnt sind. Er merkt gar bald, wo
er geduldet und gern gesehen ist, und der wenige Tage früher in einer
fremden Gegend angekommene, schüchterne und vorsichtige, dem Menschen
ausweichende, allem mißtrauende Storch hat nach der Einladung, die ein
zur Grundlage seines zukünftigen Nestes auf ein hohes Dach oder auf einen
Baumkopf gelegtes Wagenrad ist, sofort alle Furcht verloren, und nachdem
er Besitz von jenem genommen, ist er nach wenigen Tagen schon so zuthunlich
geworden, daß er sich furchtlos aus der Nähe begaffen läßt. Bald lernt
er seinen Gastfreund kennen und von anderen Menschen, oder den ihm wohl-
wollenden überhaupt von mißgünstigen und gefährlichen Personen unter-
scheiden. Er weiß, ob man ihn liebt und gern sieht, oder ob man ihn
nur mit Gleichgültigkeit betrachtet; denn er beobachtet aufmerksam und
macht keine Erfahrung umsonst.
Fern vom Neste zeigt sich der Storch ebenso scheu wie alle seine Ver-
wandten. Er kennt die Bauern, Hirten und Kinder sehr gut als ungcfähr-
214
I
liche Menschen, leidet aber doch keine Annäherung und macht es dem Jäger,
welcher ihn erlegen will, in der Regel sehr schwer, schußgerecht anzukommen.
Noch viel vorsichtiger, scheuer zeigt er sich auf dem Zuge oder überhaupt,
wenn er mit andern seiner Art sich vereinigt; denn dann sticht jeder einzelne
den anderen an Vorsicht zu übertreffen. Nach Afrika scheint er das Be-
wußtsein der Gefährlichkeit des weißen Menschen mitzubringen; er flieht
seine Landsleute stets aus größerer Entfernung als die braunen Eingeborncn.
Gewöhnlich betrachtet man den Storch als einen harmlosen und gut-
müthigen Vogel; diese Eigenschaften besitzt er aber durchaus nicht. Seine
Art sich zu ernähren, macht ihm das Morden zur Gewohnheit, und diese
kann sogar zu Zeiten auf seinesgleichen übergehen. Man hat Beispiele, daß
Störche von anderswo herkamen, das Nest stürmten, über die Jungen her-
fielen und trotz der verzweifelten Gegenwehr ihrer Eltern sic endlich doch
ermordeten, dies auch bei mehreren in der Gegend so machten. Man
weiß auch, daß sie Kranke vor dem Wegzüge umbringen, oder Gezähmte,
welche sie mitnehmen wollen, wenn sie sich weigern, tödten.
Der zahme Storch geht, gereizt, seinem Widersacher unter Umständen
zu Leibe; der angeschossene wehrt sich tapfer, und bis zum letzten Hauche
versetzt er Schnabelstöße und kann, da diese häufig nach den Augen gerichtet
sind, Menschen und Jagdhunden leicht gefährlich werden.
Der einzige Stimmlaut, welchen der Storch hervorbringen kann, ist
ein heiseres, unbeschreibliches Zischen. Man vernimmt dies selten, am
häufigsten noch von gezähmten, wenn sie eine besondere Freude an den Tag
legen wollen. Gewöhnlich drückt der Vogel seine Gefühle durch Klappern
mit dem Schnabel aus, und er versteht dieses sonderbare Werkzeug wirklich
kunstgerecht zu handhaben, klappert bald länger, bald kürzer, bald schneller,
bald langsamer, bald stärker, bald schwächer, klappert aus Freude oder aus
Kummer, wenn er hungrig ist, nachdem er sich gesättigt hat und liebkost
klappernd seine Jungen. Diese lernen die merkwürdige, aber keineswegs
arme Sprache ihrer Eltern, noch ehe sic flügbar werden und drücken, sobald
sie klappern können, ihre Gefühle ebenfalls dadurch aus.
Thiere der verschiedensten Art bilden die Nahrung des Storches. Er
ist ein Räuber in der vollsten Bedeutung des Wortes, und wenn er uns
nützlich wird, anstatt zu schaden, so hat dies nur darin seinen Grund, daß
er vorzugsweise schädlichen Thieren nachjagt. Es scheint, daß Lurche und
Kerbthiere von ihm bevorzugt werden, wohl aber nur, weil sie sich am
leichtesten fangen lassen. Bei seinen gewöhnlichen Jagdgängeu trifft er am
häufigsten Frösche, Mäuse und Kerbthiere an, und sie werden zuerst mit-
genommen; aber er ist nach Fischen ebenso begierig wie nach Fröschen, stellt
ihnen gelegentlich im trüben Wasser eifrig nach und verschluckt sie bis zur
Länge einer Manneshand; er tobtet Eidechsen, Blindschleichen, Nattern,
selbst Giftschlangen. Junge Vögel, welche ihm bei seinem Herumstreifen
aufstoßen, tödtet er ohne Gnade, junge Hasen nimmt er der Mutter trotz
muthiger Vertheidigung weg. Den Mäusen lauert er auf Feld und Wiesen
vor ihren Löchern auf; die Maulwürfe spießt er im Ausstößen; kleinere
Leute nimmt er mit der Schnabelspitzc weg, wirft sie in die Höhe und fängt
sie geschickt im Schnabel auf. Auf blumigen Wiesen treibt er den Kerb-
215
thierfang sehr eifrig und nimmt nicht allein die -sitzenden und kriechenden
auf, sondern bemüht sich auch, die ümherschwirrendcn noch im Fluge weg-
zuschnappen. Brehm-
160. Rudelsburg.
An der Saale Hellem Strande
Stehen Burgen stolz und kühn,
Ihre Dächer sind gefallen,
Und der Wind streicht durch die Hallen,
Wolken ziehen drüber hin.
Zwar die Ritter sind verschwunden,
Nimmer klingen Speer und Schild;
Doch dem Wandersmann erscheinen
Auf den altbemoosten Steinen
Oft Gestalten zart und mild.
Droben winken holde Augen,
Freundlich lacht manch rother Mund.
Wandrer schaut wohl in die Ferne,
Schaut in heller Augen Sterne,
Herz ist heiter und gesund.
Und der Wandrer zieht von dannen,
Denn die Trennungsstunde ruft;
Und er singet Abschiedslieder,
Lebewohl tönt ihm hernieder,
Tücher wehen in der Luft.
Fr. Kugler.
161. Die Vulkane.
(Gekürzt.)
Die Form der Vulkane ist eine mannigfach verschiedene. Bald
erscheint sie glocken- oder domartig, bald wie die Ruinen unge-
heurer Bergfesten, bald endlich und am häufigsten als spitzer Kegel.
Oben und fast stets unmittelbar auf der Spitze der Vulkane öffnet
sich ein trichterartiger Schlund; der eigentliche Krater (Eruptions-
krater), in dessen Tiefe die geschmolzenen Lavamassen wallend auf-
und absteigen.
Nur selten kann sich der Mensch diesen Pforten einer feind-
lichen Unterwelt und ihren Schrecknissen so weit nahen, dass er
einen schnellen fragenden Blick in sie hinabzuwerfen vermag.
Alexander v. Humboldt hat von dem Kesselrande des Pichincha1)
in den Krater hinuntergeschaut, aus dessen schwindelnden Tiefen
wiederum drei Berge heraufragten, deren Gipfel noch mehrere tausend
Fuss unter dem Beobachter lagen und durch ein unterirdisches, aus
ihnen hervorquellendes Feuer beleuchtet wurden.
Die Seitenwände des Kegels find mannigfaltig zerklüftet und
führen theils in den Krater, theils in das Innere des Berges, daher
auch aus ihnen die Laven gleich glühenden Strömen herabfliessen.
Lange vor dem Eintritt eines wirklichen Vulkanausbruchs
pflegen Erderschütterungen dem Herannahen eines solchen voranzu-
gehen. Alsbald auch quellen Dämpfe aus dem Krater hervor. Sie
erscheinen anfangs wohl wie leichte Wasserdünste, aber bald ver-
dunkeln und verdichten sie sich zur Säule, um oft mehrere hundert
Fuss senkrecht emporzusteigen und dann erst sich in mannigfachen
V irbeln auszubreiten. Ehe jedoch die aus dem Krater selbst her-
vorgehenden Erscheinungen eine so drohende Gestalt annehmen,
verkünden den entbrennenden Kampf der Elemente andere Zeichen
') Vulkanischer Berg in den Anden von Ecuador (Süd-Amerika)..
216
1
in seiner Nähe. So vernimmt man in der Regel gleich anfangs ein
eigenthümliches Getöse, das dem Zischen in Feuer geschütteten
Wassers gleicht, sich nach und nach zum wilden Brausen steigert
und später in ein donnerartiges Rollen übergeht, wie wenn in der
Ferne Kanonen gelöst würden. Gleichzeitig erzittert der Boden,
zuerst nur in leisen, bald in stärkeren Bedungen; es folgt ein star-
ker Knall, die Rauchsäule entzündet sich plötzlich, und nun beginnt
die Eruption1) selbst mit dem Auswerfen glühender Massen. Jetzt
füllt sich auch der durch jene Explosion2) zerrissene Kratergrund
mit schmelzender Lava, die absatzweise an verschiedenen Stellen
hervortritt; oftmals aber birst er während dieses Hebens aufs neue,
türmt sich zu kleinen Schlackenkegeln auf und stösst unter zuneh-
mendem Geprassel immer stärkere, dunklere Rauchwolken aus.
Verfinsternd wälzen sich nun die Dünste über das Himmelsgewölbe
und lassen kaum noch dem Lichte der strahlenlosen Sonnenscheibe
einen Durchweg; denn zugleich fällt ein feiner aschenartiger Staub
aus der Luft herab und beweist, dass nicht bloss Dampfwolken,
sondern auch erdige Bestandtheile emporsteigen, die von jenen mit
fortgerissen, aus den kälteren, minder bewegten Luftschichten mit
feinen Wassertropfen gemengt, wieder niedergeschlagen werden.
Beide überziehen mit ihrem düsteren Teppich die ganze Umgebung
und todten schnell und sicher, sei es durch den erstickenden Staub,
sei es durch die dem Wasser beigemischten Schwefeldämpfe oder
Säuren, Pflanzen und Thiere. Dabei sieht man fortdauernd die
unteren Theile der Rauchmassen erleuchtet, ja flammend, — ein
Widerschein der im Krater aufkochenden Lava, welcher mit sicht-
barer Stärke zunimmt, wie diese frisch hervorquillt, und der, nach
oben allmählich schwächer werdend, in den Dunstwirbel sich ver-
liert, bis er zuletzt nur noch die gewölbten Ränder derselben mit
einem feurigen Saume bemalt. Immer lauter wird zugleich das
Getöse, immer schneller folgen einander die Schläge, und Donner
auf Donner jagt die emporlodernden Dampfmassen zu einer schwin-
delnden Höhe hinan.
Immer zahlreicher wird die Menge der emporgeschleuderten
Feuerklumpen, immer betäubender das Niederschmettern ihrer
fallenden Bruchstücke. Zuweilen erfasst wohl ein nachfolgender
Block den bereits zurückkehrenden, und unter der Gewalt des Zu-
sammenstoßes zersplittern sie gleich platzenden Bomben in tausende
von Scherben. Da naht aufs neue das lange gefürchtete, schauder-
volle Erzittern des Bodens. Dem Andränge der eingepressten Dämpfe
nicht weiter widerstehend, windet er sich, birst, klafft und reisst
strahlenförmig nach allen Seiten von der Mitte des Berges aus ein-
ander. Und diese Erschütterung ist es, welche unter allen Erup-
tionserscheinungen den Menschen am meisten schreckt. Von der
wankenden Schwelle des Hauses treibt sie ihn in die empörte Natur
j) Ausbruch.
2) Das mit einem Knallen verbundene Herausbrechen.
217
hinaus und zwingt ihn, sehender Zeuge des grossen Ereignisses
zu sein.
Doch das Ende des Unheils steht nahe bevor. Schon zeigt sich
der glühende Fluss leicht gewölbt über den niedrigsten Stellen des
Kraters, schon rinnt an einzelnen Punkten die geschmolzene Lava
herab und traust langsam und schwer an den Wänden des Kegels
hinunter, die niedrigen, ihr im Laufe begegnenden Gesträuche ent-
zündend, dass sie mit flackernder Stelle emporlodern. Bald folgt
solchen Vorläufern der Hauptstrom nach. Im Krater immer mehr
emporgestiegen, durch neue Fluten näher und näher dem Rande
gerückt, sinkt plötzlich unter Donnergekrach die Lava herab; aber
in demselben Augenblicke bricht auch tief unten aus dem gebor-
stenen Fusse des Kegelberges der feurige Schwall hervor. Fontänen-
artig1) wird er vom Drucke der über der Öffnung stehenden Massen
hinaus- und hinausgeworfen; dann immer breiter, mächtiger sich
ergiessend, wendet er sich mit verderblicher Gewalt brennend und
siedend in die blühende Ebene, gegen die Stätten der Menschen.
Allein nun wird auch der Krater allmählich entleert und den ela-
stischen Stoffen ein Ausweg geöffnet. Nun führen die aufsteigenden
Dämpfe statt der festeren Auswürflinge bald nur noch Asche mit
sich, und wieder streckt sich die dunkle Säule empor. Dieser maje-
stätische ungeheure Aschenbaum bildet die Schlussscene der ganzen
Erscheinung. Er breitet seine Krone unheilschwanger über die
Ebene aus und bedeckt sie, sich senkend, mit seinem düstern Laube
auf ewig; an 30 Meter mächtige Lager hat er einst über Her-
culanum und Pompeji ausgeschüttet.2)
Erst wenn wiederum Tagesklarheit den durch die grossartig-
sten Leuchtfeuer nur schwach erhellten Finsternissen folgt, zeigt
sich das Bild der Zerstörung in seiner ganzen Vollendung; alles
urbare Erdreich ist rings umher von Asche bedeckt, auf den Wän-
den des Berges und an seinem Fusse lagern die zahllosen Trümmer
und Splitter der zersprungenen Auswurfsmassen, und zwischen neuen
Erdschichten wühlt sich der noch immer heisse und rauchende, ja
stellenweis flammende Lavastrom im selbstgebildeten Bette zu einer
Tiefe hinab, wo ihm die Fallhöhe fehlt, und der zähe Fluss all-
mählich in sich selbst erstarrt. Die Erde ist in eine trostlose Ein-
öde verwandelt, — nirgends Halm noch Blatt, schwarz und kahl
strecken die verdorrten Bäume ihre Äste in die qualmerfüllten
Lüfte, und das thierische Leben hat schon längst aufgehört zu
athmen, ja die glühende Asche hat selbst die Spuren seines Daseins
Verlöscht. H. Masius.
’) Fontäne, Springbrannen.
2) Beide Städte sind jedoch nicht gleich stark verschüttet worden, nnr über
Herculanum (richtiger Herculaneum), welches dem Vesuv näher liegt, beträgt
die Erddecke gegenwärtig 22 bis 25 Meter, rührt aber, wie die Durchstiche zeigen,
mindestens von sechs verschiedenen Ausbrüchen her. Pompejis Gebäude haben
bloss eine Decke von 4 bis 6 Meter. Lava hat sich nicht über sie ergossen,
das Verschüttungsmaterial besteht nur aus Asche und bröckelndem Gestein.
218
162. Der Steinadler.
Der Steinadler ist ein königlicher Vogel, der durch Größe und Hal-
tung Bewunderung erregt. Er ist ungefähr ein Meter lang und.klaftert
mit ausgespannten Flügeln gegen 2 >/2 Meter. Der abgerundete Schwanz
mißt 36 Centimeter; die zusammengeschlagenen Flügelspitzen erreichen das
Ende desselben nicht. Das Männchen (gewöhnlich etwas kleiner und heller
gefärbt als das Weibchen) ist schwarzbraun, die Befiederung der Fuß-
wurzeln und Schwanzdcckfedcrn lichtbraun, der spitzfedrige Hinterhals rost-
braun, der Schwanz an der Wurzel weiß, dann aschgrau und schwarzgefleckt,
mit breiter, schwarzer Endbinde. Je älter der Vogel wird, desto mehr
bräunt sich sein Gefieder ab. Die Jungen sind kohlschwarz mit schmutzig-
weißen Federfüßen. Der Schnabel ist hornblau, mit gelber Wachshaut
gesäumt und 5 Centimeter lang, von der Wurzel an gekrümmt; die Iris
ist goldfarbig, im hohen Alter feuerfarben. Der Lauf ist bis an die Zehen
mit kurzen, derben, lichtbraunen Federn dicht besetzt; die Zehen sind hell-
gelb, die Ballen groß und derb, die schwarzen Krallen groß und sehr spitz,
die hintern fast 8 Centimeter lang. Das Gewicht eines alten Vogels
steigt selten über 12 Pfund.
Dieser schöne, mächtige Adler ist in der Schweiz durchaus nur Alpcn-
thier und findet sich in allen Zügen unserer Hochgebirge zerstreut vor.
Nur im Winter, wenn die Murmelthiere unter der Erde liegen, die Gemsen,
Hasen, Schafe und Ziegen sich in die tieferen Wälder und ins Thal ziehen,
verläßt er in den Alpen seinen Horst, um die Thäler und Niederungen zu
durchstreifen, und auch dann nur auf kurze Zeit. Der Steinadler ist
kühner, rüstiger und lebhafter als der Lämmergeier, von dem er sich auch
durch seinen hüpfenden Gang unterscheidet. Stundenlang scheint er in un-
ermeßlicher Höhe am blauen Himmel zu hangen und ohne Flügelschlag in
weiten Kreisen dahinzuschwebcn. Muthig, kräftig, klug, scharfsichtig und von
sehr feiner Witterung, ist er zugleich außerordentlich scheu und vorsichtig,
selten einsam seiner Beute nachspähend, gewöhnlich mit seinem Weibchen
das Revier regelmäßig zonenwcisc absuchend. Sein Helles „Pfülüf" oder
„hiä — hiä" klingt weit durch die Lüfte und erfüllt das kleinere Geflügel
mit Schrecken. Wenn er sich seiner Beute nähert, senkt er sich allmählich
festen Blickes auf sein Opfer, stößt dann blitzschnell in schiefer Linie ans
dasselbe und packt es mit der eisernen Klammer seiner tief eingeschlagenen
Fänge. Kein kleineres Thier ist vor seiner Kralle sicher. Rehkälber, Hasen,
wilde Gänse, Lämmer, Ziegen, die er kühn vor Ställen und Häusern weg-
holt, Füchse, Dachse, Katzen, Feld- und Waldhühner, Hunde, Trappen,
Störche, zahmes Geflügel, selbst Ratten, Maulwürfe und Mäuse sind ihm
angenehm, vorzüglich aber Hasen, die er seinen Jungen stundenweit mit un-
geschwächter Kraft zuträgt. Den Vierfüßer rettet der flüchtigste Lauf nicht,
eher den kleinen Vogel der hastige Flug. Der Adler setzt seine Jagd mit
eben so großer Beharrlichkeit wie List fort und ermüdet das flinke Reb-
huhn und die rasche Waldschnepfe durch fortgesetzte Verfolgung. Oft jagt
er dem Wanderfalken seine Taube, dem Habicht sein Haselhuhn ab. Wo
er einmal gute Beute gemacht, dahin kehrt er gern zurück. Im Winter
219
stößt er sogar oft auf Aas. In der Gefangenschaft kann er ohne völlige
Erschöpfung vier bis fünf Wochen lang hungern.
An den unzugänglichsten Felswänden und lieber im Innern des Hoch-
gebirges als in den Vorbergen baut er aus grobem Geäste, Stengeln,
Heidekraut und Haaren einen roh gefügten, flachen Horst, den er in der
Niederung zwischen den obersten Eichenästen, im Gebirge in einer über-
dachten Felsenspalte anlegt. Das Weibchen legt drei bis vier weiße, braun-
gesprenkelte, sehr große Eier. Den in der Mitte des Mai ausschlüpfenden
Jungen bringen die Eltern allerlei Wildpret, besonders Schneehühner,
Hasen und Murmelthiere, zu und zerfleischen dasselbe, um die Jungen zu
unterrichten, vor ihren Augen am Rande des Nestes, indem sie es säuber-
lich aus dem Balge herausschälen. Wenn sie nicht gestört werden, behalten
sie den Horst mehrere Jahre bei. Um zu dem zum Hvrstbau nöthigen
Material zu gelangen, stürzen sie mit eingezogenen Fliigeln blitzschnell auf
einen Baum hinunter, packen mit den Fängen einen dürren Ast, der von
der Wucht ihres Sturzes krachend bricht, und tragen das Holz dem Horst-
platze zu.
Man hat oft gestritten, ob die Steinadler gelegentlich auch auf Kinder
stoßen. So selten dies auch geschehen mag, so ist doch der Vogel muthig
und stark genug dazu, und wenigstens ein verbürgtes Beispiel haben wir
aus Graubündten dafür. Dort, in einem Bergdorfe, schoß ein Steinadler
auf ein zweijähriges Kind und trug es weg. Durch das Geschrei herbei-
gerufen, verfolgte der Vater den Räuber in die Felsen, und da die Last
des Vogels ziemlich stark war, gelangte er nach großer Mühe dazu, ihm
das übel zugerichtete Kind abzujagen, das, an den Augen zerhackt, bald
starb. Lange lauerte der Vater dem Mörder auf, der sich stets in der
Gegend umhertrieb. Endlich gelang es ihm, ihn in einer aufgestellten
Fuchsfalle zu fangen. Ergrimmt eilte er auf ihn zu und packte ihn in
der Wuth so unvorsichtig, daß ihn der Vogel mit seinem freien Fuß und
Schnabel schwer verwunden konnte. Einige Nachbarn erschlugen hierauf
wit Prügeln den gefangenen Adler, der gegenwärtig ausgestopft in Winter-
thur zu sehen ist. Fr. °. Tschudi.
163. Das Ritterthum im Mittelalter.
(Gekiirzi.)
Anfänglich bestanden die Heere der Deutschen, wie auch der meisten
übrigen Völker Europas, größteutheils aus Fußgängern. Der Reiter waren
nur wenige, aber alle schwer gerüstet. Sie trugen Helme und Panzer, ihre
Waffen waren Lanzen und furchtbare Schwerter. Wegen des Aufwandes,
den eine solche Rüstung erforderte, konnten nur die Reichen und Vornehmen
zu Pferde dienen. Darum gab der Reiterdienst eine Art von Ansehen und
Adel. Um einen solchen Vorzug zu behaupten und immer mehr hervorzu-
heben, war das ganze Leben des Adels kriegerisch von Jugend auf. Kör-
perliche Kraft und Gewandtheit gieng ihm über alles; um höhere Ausbildung
des Geistes kümmerte er sich wenig. Mancher Adelige konnte nicht einmal
seinen Namen schreiben. Dagegen lernte er von Jugend auf ein wildes
Roß tummeln und Lanze und Schwert mit Gewandtheit führen. So
machten in den damaligen Zeiten die Adeligen die vornehmsten Krieger aus;
220
nach ihrer Anzahl wurde fast einzig die Stärke des Heeres bestimmt. Von
ihrem Reiterdienste bekamen sie den Namen Ritter.
Mit der Zeit bildeten die Ritter einen besonderen Stand. Religion,
Ehre, Tapferkeit und Hochachtung für das weibliche Geschlecht waren die
vier Haupttugenden der Mitglieder. Die Aufnahme in diesen Stand er-
forderte eine vieljährige Vorbereitung und war mit großen kirchlichen Feier-
lichkeiten verbunden. Schon im siebenten Jahre ward der Knabe von edler
Herkunft in das Schloß eines anderen Ritters gebracht. Hier lernte er
als Bube oder Page im Dienste seines Herrn und im ehrfurchtsvollen Um-
gänge mit Edelfrauen die Anfangsgründe der Rittertugenden. Er wartete
bei der Tafel auf, säuberte die Waffen, hielt seinem Herrn beim Aufsteigen
den Bügel und übte sich im Fechten, Schießen und Reiten, um seinen
kleinen Körper gewandt und stark zu machen. Im vierzehnten Jahre ward
er durch Umgürtung eines Schwertes, welches vom Priester am Altare
feierlich eingesegnet war, wehrhaft. Nun hieß er Knappe (Knabe) oder
Junker. Von nun an begleitete er seinen Herrn zu jeder Stunde und zu
jedem Geschäfte, zu der Lust der Jagd, den Festen und Waffenspielen, so
wie in den Ernst der Schlacht. Treue Anhänglichkeit an seinen Herrn
war die erste Pflicht. Und hatte er in der Schlacht mit Schild und Schwert
seinen Herrn gerettet, so trug er den größten Ruhm davon, den ein adeliger
Jüngling sich erwerben konnte.
Hatte der Knappe unter diesen ritterlichen Übungen das einundzwan-
zigste Jahr erreicht, so konnte er zum Ritter geschlagen werden. Zu dieser
wichtigen Handlung mußte er sich durch den Empfang der heiligen Sacra-
mcnte, durch Fasten und Beten vorbereiten; auch mußte er sich zuvor baden
und eine Nacht in voller Rüstung in einer Kapelle zubringen. Und kam
dann endlich nach langem Sehnen der Morgen des Tages, welcher der
schönste und glorreichste in des Jünglings Leben war, so wurde er im feier-
lichen Zuge zur Kirche geführt. Knappen trugen die Rüstung, den Streit-
221
kolben, den Schild und das Schwert, Edelfrauen den Helm, die Sporen
und das Wehrgehenk. Ehrfurchtsvoll knieete der Knappe am Altare nieder
und beschwor mit feierlichem Eide das Gelübde, die Wahrheit zu reden,
das Recht zu behaupten, die Religion sammt ihren Häusern und Dienern,
alle Schwachen und Unvermögenden, alle Witwen und Waisen zu beschirmen,
keinen Schimpf gegen Edelfrauen zu dulden und alle Ungläubigen zu ver-
folgen. hierauf empfieng er aus der Hand eines Ritters oder einer Edcl-
frau Sporen, Handschuh und Panzer. Nun knieete er vor dem Ritter
nieder, der ihn dreimal mit flacher Klinge sanft auf Hals und Schulter
schlug. Das war der Ritterschlag. Dann schmückte man den jungen Ritter
auch mit Helm, Schild und Lanze und führte ihm ein Pferd vor, auf
welches er sich sogleich schwang, und das er dann fröhlich durch die Menge
der Zuschauer tummelte. Große Feste beschlossen die Feierlichkeiten des
Tages. Don nun an durfte er selbst die geringste Beleidigung nicht un-
gerächt lassen. Der Zweikampf, dasjenige Gottesurthcil, welches für das
ehrenvollste und ritterlichste galt, entschied in vielen Fällen über Streitig-
keiten der Ritter unter einander. Warf einer dem andern seinen Handschuh
vor die Füße, so war das ein Zeichen der Herausforderung, so wie das
Aufnehmen desselben ein Zeichen des angenommenen Zweikampfes.
222
Wenn nun der Ritter im vollen Harnisch einherritt, so daß das vor-
geschobene Visir selbst das Gesicht verdeckte, so war es ganz unmöglich, ihn
zu kennen. Es war deshalb ein äußeres Abzeichen nöthig, um sich den
Seinigen im Kampfe kennbar zu machen. Hierzu wählte er das Bild eines
Löwen, eines Hirsches, eines Bären und seit den Kreuzzügen häufig das
Bild des Kreuzes in vielerlei Gestalten in seinem Schilde. Das war der
Ursprung der Wappen (Waffen). Durch Thaten der Kühnheit und Stärke
bekamen diese Wappen etwas Feierliches; sie giengen vom Vater auf den
Sohn erblich über. Damit man aber die verschiedenen Seitenlinien, die
dasselbe Wappen im Schilde führten, von einander unterscheiden könne, so
brachte man noch wohl besondere Verzierungen am Helme an, die man
Kleinode nannte. Jetzt brauchte man nur den Schild und das Helmkleinod
zu betrachten, und man kannte sogleich den Ritter.
Seitdem die großen und kleinen Lehen erblich geworden waren, wurden
auch die Namen der Ritter von ihren Besitzungen entlehnt. Früher nannte
man jeden bei seinem Vornamen: Rudolf, Gottfried u. s. w. Jetzt kamen
noch Geschlechtsnamcn hinzu, die meist von den Burgen und Besitzungen
entlehnt wurden, wie Rudolf von Habsburg, Gottfried von Bouillon u. s. w.
So sind die meisten Namen unserer adeligen Familien entstanden. Am
Ende wurde sogar das bloße Wörtchen „von" als Zeichen ritterlichen und
also adeligen Standes angesehen und bei Erhebung in den Adelstand seit
dem sechzehnten Jahrhundert dem alten bürgerlichen Familiennanien vorgesetzt.
Auf ihren Burgen lebten übrigens die Ritter wie kleine Könige in
Reichthum, Pracht und heiterem Lebensgenüsse. Ein Fest drängte das
andere. Beim frohen Becher ergötzten sie sich an den Erzählungen ihrer
Großthaten. Andere, welche kein Eigenthum besaßen, zogen mit ihren
Knappen zu Roß von Land zu Land, kehrten als Gäste ein bei anderen
Rittern und giengen auf Abenteuer aus. Solche nannte man fahrende
Ritter. Bald kamen wunderbare Erzählungen von Abenteuern in Umlauf,
welche diese Ritter sollten bestanden haben. Da hatte der eine gegen fürch-
terliche Riesen, der andere gegen Zauberer, der dritte sogar gegen feuer-
speiende Drachen gekämpft!
Manche Ritter aber vergaßen die Würde ihres Standes so sehr, daß
sie fast nur von Streit und Fehde, von Raub und Plünderung lebten. Aus
ihren auf steilen Felshöhen erbauten Raubburgen überfielen die Ritter mit
ihren Reisigen den armen Wanderer, den Bauer und den Städter, warfen
Knechte nieder und führten den Raub frohlockend mit sich fort auf ihre
Burg. Auch an den Felsenufern der Flüsse erhoben sich drohend ihre Burgen
und forderten von den vorüberfahrenden Schissen willkürliche Zölle. Noch
sieht man, besonders an den Ufern des Rheins und der Donau, als Über-
reste jener Zeit viele Schlösser und Burgen, die jetzt niit ihren verwitterten
Zinnen und Türmen still und friedlich über den Strom und das bewegte
Leben auf demselben hinschauen. Lustig dampfen und segeln jetzt die Schiffe
an diesen Schrecknissen der Vorzeit vorüber. In den häufigen Fehden der
Ritter unter einander wurden nicht selten die blühendsten Saatfelder, des
friedlichen Landmannes ganzer Wohlstand, von den Hufen der wilden Streit-
rosse zertreten. Gegen solchen Übermuth und solche Räubereien des Adels
vermochten die damaligen schwachen Kaiser keinen Schutz zu gewähren. Auf
223
ihren festen Burgen trotzten die Adeligen allen Verordnungen des Kaisers.
Sie betrachteten ihr ehrloses Handwerk als ein Recht des Stärkeren. Das
waren die traurigen Zeiten des Faustrcchtes. Erst die Erfindung des
Pulvers und das dadurch ganz veränderte Kriegswesen machten dem Ritter-
thum ein Ende. «mm.
164. Der Taucher.
1. „Wer wagt es, Rittersmann oder
Knapp,
Zu tauchen in diesen Schlund?
Einen goldnen Becher werf' ich hinabz
Verschlungen schon hat ihn der schwarze
Mund.
Wer mir den Becher kann wieder zeigen,
Er mag ihn behalten er ist sein eigen."
2. Der König spricht es und wirft
von der Höh'
Der Klippe, die schroff und steil
Hinaushängt in die unendliche See,
Den Becher in der Charybde Geheul.
„Wer ist der Beherzte, ich frage wieder,
Zu tauchen in diese Tiefe nieder?"
3. Und die Ritter, die Knappen um
ihn her
Bernehmen's und schweigen still,
Sehen hinab in das wilde Meer,
Und keiner den Becher gewinnen will.
Und der König zum drittenmal wieder
fraget:
„Ist keiner, der sich hinunter waget?"
4. Doch alles noch stumm bleibt wie
zuvor;
Und ein Edelknecht, sanft und keck,
Tritt aus der Knappen zagendem Chor,
Und den Gürtel wirft er, den Mantel weg;
Und alle dieMänner umher und die Frauen
Auf den herrlichen Jüngling verwundert
schauen.
5. Und wie er tritt an des Felsen Hang
Und blickt in den Schlund hinab,
Die Wasser, die sie hinunterschlang,
Die Charybde jetzt brüllend wiedergab,
Und wie mit des fernen Donners Getose
Entstürzen sie schäumend dem finstern
Schoße.
6. Und es wallet und siedet und
brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt;
Bis zum Himmel spritzet der dampfende
Gischt,
Und Flut auf Flut sich ohn' Ende drängt
Und will sich nimmer erschöpfen und leeren,
Als wollte das Meer noch ein Meer
gebären.
7. Doch endlich, da legt sich die wilde
Gewalt,
Und schwarz aus dem weißen Schaum
Klafft hinunter ein gähnender Spalt,
Grundlos, als gieng's in den Höllenraum;
Und reißend sieht man die brandenden
Wogen
Hinab in denstrudelnden Trichter gezogen
8. Jetzt schnell, eh' die Brandung
wiederkehrt,
Der Jüngling sich Gott befiehlt,
Und — ein Schrei des Entsetzens wird
rings gehört,
Und schon hat ihn der Wirbel hinweg-
gcspült —
Und geheimnißvoll über dem kühnen
Schwimmer
Schließt sich der Rachen; er zeigt sich
nimmer.
9. Und stille wird's über dem Wasser-
schlund,
In der Tiefe nur brauset es hohl,
Und bebend hört man von Mund zu
Mund:
„Hochherziger Jüngling, fahre wohl!"
Und hohler und hohler hört man's heulen,
Und es harrt noch mit bangem, mit
schrecklichem Weilen.
224
10. Und würfst du die Krone selber
hinein
Und sprächst: »Wer mir bringet die Krön',
Er soll sie tragen und König sein!"
Mich gelüstetenicht nach dem theurenLohn,
Was die heulende Tiefe da unten verhehle,
Das erzählt keine lebende, glückliche Seele.
11. Wohl manches Fahrzeug, vom
Strudel gefaßt,
Schoß gäh in die Tiefe hinab;
Doch zerschmettert nur rangen sich Kiel
und Mast
Hervor aus dem alles verschlingenden
Grab —
Und heller und heller wie Sturmes Sausen
Hört man's näher und immer näher
brausen.
12. Und es wallet und siedet und
brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt,
Bis zum Himmel spritzet der dampfende
Gischt,
Und Well' auf Well' sich ohn' Ende drängt,
Und wie mit des fernen Donners Getose
Entstürzt es brüllend dem finstern Schoße.
13. Und sieh! aus dem finster flutenden
Schoß,
Da hebet sich's schwanenweiß,
Und ein Arm und ein glänzender Nacken
wird bloß,
Und es rudert mit Kraft und mit emsiaem
Fleiß.
Und er ist's! und hoch in seiner Linken
Schwingt er den Becher mit freudigem
Winken.
14. Und athmete lang und athmete tief
Und begrüßte das himmlische Licht.
Mit Frohlocken es einer dem andern rief:
„Er lebt! er ist da! Es behielt ihn nicht!
Aus dem Grab, aus der strudelnden
Wasserhöhle
Hat der Brave gerettet die lebende Seele."
15. Und er kommt; es umringt ihn
die jubelnde Schar,
Zu des Königs Füßen er sinkt,
Den Becher reicht er ihm knieend dar,
Und der König der lieblichen Tochter winkt,
Die füllt ihn mit funkelndem Wein bis
zum Rande,
Und der Jüngling sich also zum König
wandte:
16. „Lang'lebederKönig! Esfreuesich,
Wer da athmet im rosigen Licht!
Da unten aber ist's fürchterlich,
Und der Mensch versuche die Götter nicht
Und begehre nimmer und nimmer zu
schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und
Grauen!
17. Es riß mich hinunter blitzesschnell!
Da stürzt' mir aus felsichtem Schacht
Wildflutend entgegen ein reißenderQuell,
Mich packte des Doppelstroms wüthende
Macht,
Und wie einen Kreisel mit schwindelndem
Drehen
Trieb mich's um; ich konnte nicht wider-
stehen.
18. DazeigtemirGott, zu demich rief
In der höchsten schrecklichen Noth,
Aus der Tiefe ragend ein Felsenriff,
Das erfaßt' ich behend und entrann dem
Tod;
Und da hieng auch der Becher an spitzen
Korallen,
Sonst wär' er ins Bodenlose gefallen.
19. Denn unter mir lag's noch berge-
tief
In purpurner Finsternis da,
Und ob's hier dem Ohre gleich ewig schlief,
Das Auge mit Schaudern hinunter sah,
Wie's von Salamandern und Molchen
und Drachen
Sich regt' in dem furchtbaren Höllen-
rachen.
20. Schwarz wimmelten da,in grausem
Gemisch,
Zu scheußlichen Klumpen geballt,
Der stachlichte Roche, der Klippenfisch,
Des Hammers greuliche Ungestalt,
225
Und dräuend wies mir die grimmigen!
Zähne •
Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne.
21. Und da hieng ich und war's mir j
mit Grausen bewußt,
Bon der menschlichen Hülfe so weit,
Unter Larven die einzige fühlende Brust,
Allein in der gräßlichen Einsamkeit,
Tief unter dem Schall der menschlichen!
Rede
Bei den Ungeheuern der traurigen Ode. |
22. Und schaudernd dacht' ich's, da
kroch's heran,
Regte hundert Gelenke zugleich,
Willschnappennachmir; indes Schreckens
Wahn
Laß' ich los der Koralle umklammerten
Zweig.
Gleich faßt mich der Strudel mit rasen- j
dem Toben;
Doch es war mir zum Heil, er riß J
mich nach oben!"
23. Der König darob sich verwundert
schier
Und spricht: „Der Becher ist dein,
Und diesen Ring noch bestimm' ich dir,
Geschmücktmit dem köstlichsten Edelgestein,
Versuchst du's noch einmal und bringst
mir Kunde,
Was du sahst ans des Meeres tief-
unterstem Grunde."
24. Das hörte die Tochter mit weichem j
Gefühl,
Und mit schmeichelndem Munde sie fleht: |
„Laßt, Vater, genug sein das grausame
Spiel!
Er hat euch bestanden, was keiner besteht;
Und könnt ihr des Herzens Gelüste
nicht zähmen,
So mögen die Ritter den Knappen
beschämen."
25. Drauf der König greift nach
dem Becher schnell,
In den Strudel ihn schleudert hinein:
„Und schaffst du den Becher mir wieder
zur Stell',
So sollst du der trefflichste Ritter mir sein
Und sollst sie als Ehgemahl heut' noch
umarmen,
Die jetzt für dich bittet mit zartem
Erbarmen."
26. Da ergreift's ihm die Seele mit
Himmelsgewalt,
Und es blitzt aus den Augen ihm kühn.
Und er siehet erröthen die schöne Gestalt
Und sieht sie.erbleichen und sinken hin;
Da trcibt's ihn, den köstlichen Preis
zu erwerben
Und stürzt hinunter auf Leben und Sterben.
27. Wohl hört man die Brandung,
wohl kehrt sie zurück,
Sie verkündigt der donnernde Schall;
Da bückt sich's hinunter mit liebendem
Blick,
Es kommen, es kommen die Waffer all,
Sie rauschen herauf, sierauschen nieder —
Den Jüngling bringt keines wieder.
Schiller.
165. Der Sänger.
„Was hör’ ich draussen vor dem
Thor,
Was auf der Brücke schallen?
Lass den Gesang vor unserm Ohr
Im Saale widerhallen!“
Oer König sprach’s, der Page lief;
Der Knahe kam, der König rief:
„Lasst mir herein den Alten!“
„Gegrüsset seid mir, edle Herrn,
Gegrüsst ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei
Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schliesst, Augen,euch; hier ist nichtZeit,
Sich staunend zu ergötzen.“
15
226
Der Sänger drückt’ die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen;
Die Ritter schauten muthig drein
Und in den Schoss die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
Liess ihm zum Lohne für sein Spiel
Eine gold’ne Kette bringen.
„Die gold’ne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern.
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und lass ihn noch die gold’ne Last
Zu andern Lasten tragen.
Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet;
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet.
Doch darf ich bitten, bitt’ ich eins:
Lass mir den besten Becher Weins
Im purem Golde reichen.“
Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus:
„0 Trank voll süsser Labe!
0, dreimal hochbeglücktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich,
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke.“
W. v. Goethe.
166. Der Bär.
Aus seinem langen Winterschlafe erwacht der Bär, streckt sich und
brummt, weil ihn die Frühlingssonne schon so bald in seinem Traume stört.
Abgemagert tritt er aus seiner Höhle hervor und sieht sich zunächst nach
einem guten Frühstück um. Er schleppt sich langsam und schwerfällig durch
die finstere Waldung; seine breiten Tatzen haben sich gehäutet, und jeder
Schritt kommt ihm sauer an. Den finstern Blick wirft er ins Gebüsch,
ob nicht ein Reh zu erspähen sei, oder ein Hase. Er horcht ans das
Summen der Bienen und sehnt sich nach dem Honig, achtet ans den Lauf
der Ameisen, deren Säure seinen Gaumen besonders kitzelt, schnüffelt zu-
gleich am Boden nach schmackhaften Kräutern, nimmt aber am Ende mit
Gras und Wurzeln vorlieb, wenn er nichts Besseres findet. Kaum ver-
mag ein guter Fang seine mürrische Stimmung etwas zu erheitern, und
nur gegen die Bärin erweist er sich freundlich, eben auch nach seiner Weise.
Zur düstern Gemüthsart des Bären schickt sich sein Körperbau; er ist kurz-
beinig und plumpen Leibes, steckt Sommer und Winter in dichter, zottiger
Wildschnr. Sein Hals ist dick, breit der Kopf, die Stirn platt, aber die
Schnauze vorgestreckt; stark sind das Gebiß und die Klanen seiner Tatzen.
Das kleine, schiefe Auge zeigt einen mißtrauischen Blick, und das aufgerichtete
kurze Ohr erspürt von fern den Laut; die feine Nase leitet ihn auf den
Fang.
Der Künste treibt er mancherlei, geht oft aufrecht, doch wackelnd,
klettert geschickt auf Bäume, versucht, ob sie ihn wohl tragen, reißt mit den
Tatzen die Äste an sich. Mit den Zähnen pflückt er die Früchte; ist er
aber satt, so läßt er.fich am Stamme herunter und kommt sicher aus die
Füße. Genießt der Bär von Jugend auf das Glück einer guten Erziehung,
so bringt er es weit in schönen Künsten; er tanzt nach dem Schlag der
Trommel und der Pfeife die Menuet in abgemessenen Schritten, reitet sein
Steckenpferd, setzt mit Anstand den Hut auf, macht Bücklinge und streckt
seinem Tanzmeister dankend die Pfote dar. Alles dies thut er unter be-
ständigem Brummen; allein Maulkorb und Stock verbieten ihm, den Ge-
lüsten zu folgen, und die Kette hält fortwährend seine Aufmerksamkeit ge-
227
spannt. Im Bärcngrabcn schreitet er auf und nieder; wie ein Landvogt
auf den Thron setzt er sich zuweilen auf die Tanne und schaut die Um-
stehenden an. Wirft man ihm ein Speise hin, seien es Apfel oder Brot,
er weiß sie geschickt zu fangen, indem er, aufrecht sitzend, den Leib hin und
her wiegt und nach dem Zugeworfenen schnappt.
Der Bär scheint seiner Vorzüge sich wohl bewußt und hält die eigenen
Kinder für die schönsten und artigsten. Es sind kleine, dicke Fettklumpcn,
stockblind, wenn sie zur Welt kommen; er leckt sie aber beständig mit seiner
glatten Zunge und wälzt sie mit der Tatze hin und her. Schnell wachsen
sic groß und gleichen dann vollkommen den Alten. Wie sorgfältig auch
seine Erziehung sein mag, der Bär bleibt immer gefräßig und räuberisch,
und sein dumpfes, mürrisches Brüten erwächst zur blinden Wuth, wenn
er nicht erreicht, wonach sein Streben geht. Aus seiner Wohnung zieht
er ins Feld, spähet von den Höhen hernieder, stürzt hinter den Felsen her-
vor, treibt Schafe über den Abgrund, erdrückt die Kälber und trägt sie in
seinem Arme fort. Der Herde paßt er auf, bis sie zur Weide geht, oder
cr bricht in den Stall ein und holt sich ein Rind, wie der Fuchs ein
15*
Gänslein. Gereizt, sieht er nur seinen Feind, geht ihm aufrecht entgegen
und schlägt grob und unbeholfen drein. Wer unversehens dem erbosten
Thiere begegnet, darf sich nur todt stellen; dann beschnüffelt es ihn und
wendet ihn um, geht aber brummend weiter, ohne ihm Leids zu thun.
Das Glockengeläute mag der Bär nicht hören, es bringt ihn in Wuth; er
reißt den Kühen die Schellen vom Halse und schlägt sie breit. So grimmig
er ist, so wird man doch leicht seiner Herr; wer Besonnenheit behält, mag
des Zornes dieses Raubthieres spotten. Ein beherzter Jäger geht ihm mit
dem Knüttel entgegen und trifft ihn auf die Nase, welche sein empfindlich-
stes Organ ist. Manche Jäger tanzen auch wohl vor ihm, reden ihn
foppend an, bitten um Erlaubnis, mit ihm kämpfen zu dürfen; denn Bären-
jagd ist ergötzlich und eben so gefährlich nicht. Kleine Hunde fahren unter
ihn und kitzeln mit spitzen Zähnen sein Fell. Der Bär aber versteht keinen
Spaß und mag nicht lachen; er wird darob unleidlich und stellt sich auf-
recht und breit an einen Baum; so trifft ihn der Jäger durch den zottigen
Pelz am besten.
In Polen fängt man ihn. Man kennt die Pfade, welche er wandelt;
so sehr sie auch im Dunkel sich verlieren, sind sie doch breit getreten und
führen zu einem Schlupfwinkel und oft zu Honigkörben. Der Stich der
Bienen dringt kaum in seine Haut, und die sich ihm ins Gesicht setzen,
wischt er, so viel immer kommen, mit der Tatze gröblich weg. Wohl aber
ärgert ihn ein Holzklotz, den man vor die schönen Waben oder Wachs-
scheiben der Bienenstöcke aufhängt. Er schiebt ihn zur Seite und will zu-
greifen. Dieser setzt sich aber hart neben seine große Nase. Da gibt ihm
der Bär unwillig einen Schlag; der Klotz kommt aus seinem Gleichmuth
und vergilt ihm die Höflichkeit. Der Bär will immer nicht nachgeben,
jener auch nicht; der Kamps wird eifriger, grimmiger, bis zuletzt ein derber
Schlag den Bären betäubt und von seinem Sitze herunterwirft. Statt des
Klotzes macht nian auch wohl ein Brett vor den Bienenstock, auf welches
er sich setzt, um mit aller Muße Tafel zu halten. Ist er jedoch am besten
daran und meint, jetzt habe er gewonnen Spiel, so geht das Brett los,
schaukelt frei mit dem Bären in der Luft, und der Honig ist ihm vor dem
Munde weg. Er schnaubt, er brummt und sieht von seinem Schwebe-
Katheder wüthend hernieder, versucht wegzukommen, kann aber nimmer auf
festen, sichern Ast gelangen. Da bleibt denn der Honigräuber ruhig sitzen,
bis der Jäger naht, der ihn jubelnd bewillkommt, sich an seinem Spiel er-
lustigt und ihm hierauf den Fang gibt.
Naht der Winter und stäubt der Schnee in den Wald, so schreitet
der Bär seiner Höhle zu, legt sich ruhig hin, knurrt noch hier und da ein
wenig und hält dann die Tatzen vors Maul. Er trinkt nicht, frißt nicht,
sondern zehrt — wie ein Rentner, dem die Zinsen ausbleiben, vom Kapital,
— von dem Fette, das er den Sommer hindurch angelegt hat. Wxt}tx
167. Die Wartburg.
Die Stadt Eisenach liegt in einem reizenden, von der Nesse und der
Hörsel bewässerten Thäte. Die Häuser erheben sich am Fuße der Wart-
burg, welche der Landschaft ein eigenthümliches, fast mittelalterliches Ge-
229
präge aufdrückt. Nach einem Wege von einer halben.Stunde erreicht man
die Wartburg. Blickt man von der vorspringenden Bastei zurück, so liegt
die bunte Landschaft wie ein großes Gemälde zu den Füßen. Jenseit der
Stadt breitet sich ein fruchtbares Hügelland aus, und der Blick reicht so
weit, daß man bei klarem Himmel mit einem Fernrohre den Brocken
sehen kann.
Tritt man durch das düstere Thorgewölbe in den langgestreckten Burg-
hof, so fühlt mau sich von einem ehrfurchtsvollen Schauer durchrieselt, als
ob cs geweihter Boden sei, den die Füße berühren, und Bilder alter Zeiten
ziehen vor dem inneren Blicke vorüber. Hier haben edle Fürsten gelebt
und gewaltet, deren hehre Bilder sich dem Herzen des Volkes mit unaus-
löschlichen Zügen eingeprägt; hier haben die Harfen begeisterter Sänger
gerauscht; hier hat die gläubige Frömmigkeit gebetet und geduldet; hier ist
ein Licht angezündet worden, das die Hölle nicht überwältigen kann; hier
haben Jünglinge für die höchsten Güter des Vaterlandes und der Mensch-
heit geschwärmt, und ernste Männer haben ihre Gedanken ausgetauscht.
Fürwahr, alles Große und Schöne des mittelalterlichen Lebens und die
edelsten Bestrebungen der neueren Zeit haben auf der Wartburg gleichsam
Gestalt gewonnen. Bon ihren Zinnen strömte Licht und Kraft durch die
Adern des deutschen Volkes. Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, haben
in der Burg eine Stätte gefunden, wie kaum irgendwo: die sich selbst ver-
leugnende Liebe der heiligen Elisabeth, Luther's frommer Felsenglaubc, und
die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat fast alle Feste durchweht, die
auf diesem kleinen Raume gefeiert wurden. Nicht ohne heilige Scheu be-
tritt der Wanderer die kleine Luthcrstubc, worin der große Reformator als
230
Junker Jörg die Bibelübersetzung begonnen hat; mit Bewunderung beschaut
er Schwind's herrliche Gemälde im Ritterhause, im Landgrafenzimmer, im
Sängersaale und in der Elisabethgallerie; andächtig stimmt ihn die kleine,
prachtvoll geschmückte Kapelle, und mit Interesse betrachtet er die alten,
schweren Rüstungen und Waffen der Ritter und Knappen.
Auch die Umgebung von Eisenach bietet manche Schönheit. Reizend
ist das Marienthal mit seinen vielbesuchten Wirtschaften; überraschend
schön die Waidmannsruhe und höchst interessant das Annathat, ein Glanz-
punkt wildromantischer Schönheit im Thüringerwald-Gebirge.
6- Schwerdt.
168. Schwert und Pflug.
Einst war ein Graf, so geht die
Mär',
Der fühlte, daß er sterbe;
Die beiden Söhne rief er her,
Zu theilen Hab' und Erbe.
Nach einem Pflug, nach einem Schwert
Rief da der alte Degen;
Das brachten ihm die Söhne werth,
Da gab er seinen Segen:
„Mein erster Sohn, mein stärkster
Sproß,
Du sollst das Schwert behalten,
Die Berge mit dem stolzen Schloß
Und aller Ehren walten.
Doch dir nicht minder, liebes Kind,
Dir sei der Pflug gegeben;
Im Thal, wo stille Hütten sind,
Dort magst du friedlich leben."
So starb der lebensmüde Greis,
Als er sein Gut vergeben.
Die Söhne hielten sein Geheiß
Treu durch ihr ganzes Leben.
Doch sprecht, was ward denn aus
dem Stahl,
Dem Schlosse und dem Krieger?
Was ward denn aus dem stillen Thal,
Was aus dem schwachen Pflüger? —
O fragt nicht nach der Sage Ziel!
Euch künden rings die Gauen:
Der Berg ist wüst, das Schloß zerfiel,
Das Schwert ist längst zerhauen.
Doch liegt das Thal voll Herrlichkeit
Im lichten Sonnenschimmer,
Da wächst und reift es weit und breit;
Man ehrt den Pflug noch immer.
Wolfgang Müller.
169. Des Sängers Fluch.
1. Es stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr,
Weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer,
Und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz,
Drin sprangen frische Brunnen im Regenbogenglanz.
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich,
Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich;
Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wuth,
Und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut.
3. Einst zog nach diesem Schlosse ein edles Sängerpaar,
Der ein' in gold'nen Locken, der andre grau von Haar;
Der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß,
Es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß.
f
231
4. Der Alte sprach zum Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn!
Denk' unsrer tiefsten Lieder, stimm' an den vollsten Ton,
Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz!
Es gilt uns heut', zu rühren des Königs steinern Herz."
5. Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal,
Und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl;
Der König furchtbar prächtig wie blutger Nordlichtschein,
Die Königin süß und milde, als blickte Vollmond drein.
6. Da schlug der Greis die Saiten, er schlug sie wundervoll,
Daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll,
Dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor,
Des Alten Sang dazwischen wie dumpfer Geisterchor.
7. Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger gold'ner Zeit,
Von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit;
Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt,
Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.
8. Die Höflingsschar im Kreise verlernet jeden Spott,
Des Königs trotz'ge Krieger, sie beugen sich vor Gott,
Die Königin,. zerflossen in Wehmuth und in Lust,
Sie wirft den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust.
9. „Ihr habt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein Weib?"
Der König schreit es wüthend, er bebt am ganzen Leib,
Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt,
Draus statt der gold'nen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt.
10. Und wie vom Sturm zerstoben ist all der Hörer Schwarm;
Der Jüngling hat verröchelt in seines Meisters Arm,
Der schlägt um ihn den Mantel und setzt ihn auf das Roß,
Er bind't ihn aufrecht feste, verläßt mit ihm das Schloß.
11. Doch vor dem hohen Thore da hält der Sängergreis,
Da faßt er seine Harfe, sie aller Harfen Preis,
An einer Marmorsäule, da hat er sie zerschellt,
Daun ruft er, daß es schaurig durch Schloß und Gärten gellt:
12. „Weh euch, ihr stolzen Hallen! nie töne süßer Klang
Durch eure Räume wieder, nie Saite noch Gesang,
Nein! Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt,
Bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt!
13. Weh euch, ihr duft'gen Gärten im holden Maienlicht!
Euch zeig' ich dieses Todten entstelltes Angesicht,
Daß ihr darob verdorret, daß jeder Quell versiegt,
Daß ihr in künft'gen Tagen versteint, verödet liegt.
14. Weh dir, verruchter Mörder! du Fluch des Sängerthums!
Umsonst sei all dein Ringen nach Kränzen blut'gen Ruhms, —
Dein Name sei vergessen, in ew'ge Nacht getaucht,
Sei wie ein letztes Röcheln in leere Luft verhaucht!" —
15. Der Alte hat's gerufen, der Himmel hat's gehört,
Die Mauern liegen nieder, die Hallen sind zerstört.
Noch eine hohe Säule zeugt von verschwund'ner Pracht,
Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.
16. Und rings statt dusl'ger Gärten ein ödes Heideland,
Kein Baum verstreuet Schatten, kein Quell durchdringt den Sand,
Des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldcnbuch;
Versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch.
9- Uhland.
170. Die Eulen.
„Eine schöne Sippschaft“, sagt da wohl mancher. Und wirk-
lich gehören die Eulen nicht gerade zu den lieblichsten Vögeln.
Sind sie doch alle Kinder der Nacht und obenein, woran ihr haken-
förmig gebogener Schnabel und ihre Krallen erinnern, Raubvögel.
Aber es sind alle Werke des Herrn löblich und weislich geordnet.
Die Eulen sind Nachtraubvögel, und zwar die einzige Gattung
derselben. Die Tagraubvögel haben ein straffes, wohlanliegendes
Gefieder, wodurch ihr Flug sehr begünstigt ist; das Gefieder der
Eulen dagegen ist schlaff und pelzartig, weshalb ihr Körper viel
grösser und plumper erscheint, als er ist. Vom Schnabel an, der
tief in den Federn steckt, bis zu den Krallen hinab sind sie mit
jenem flaumähnlichen Gewände dicht bedeckt. Die Schwungfedern
sind überaus weich, wodurch ihr Flug einem leisen Schwirren ähn-
lich wird, wie es ihrem nächtlichen Treiben angemessen ist. Auch
die Farben des Gefieders passen mehr zu der Dämmerung, als zu
dem lichten Tage; sie sind düster, vorherrschend braun und geben
dadurch dem Vogel das Aussehen eines Einsiedlers in der Kapu-
zinerkleidung. Der Kopf ist dick und rund, ähnlich dem der Katze.
Um das Auge her bilden die seidenweichen Federn einen Kreis,
um den ein weiterer Kranz von Federn sich herzieht, die schuppen-
artig aufeinander liegen; zwischen beiden liegt das meist sehr weite
Ohr. Dieser Federkranz oder Schleier gibt den Eulen etwas Ehr-
würdiges. Das Auge ist ein Rollauge, gross, vorwärts stehend,
goldfarbig, durchsichtig, mit sehr weitem Augenstern, dessen Grösse
ihnen das Sonnenlicht so unerträglich macht, dass sie den Tag
über wie geblendet sind. Selten lässt sich daher eine Eule bei Tage
sehen; sie verbringt ihn aufrecht sitzend, stumm und still im
dunkeln Versteck der Felsklüfte, Mauern, Türme und Baumhöhlen.
Lässt sich dennoch eine Eule, von Menschen aufgescheucht, bei
Tage sehen, so wird sie alsbald als ein Fremdling im Reiche des
Lichtes von Raben, Elstern, Spatzen, Schwalben und andern Vögeln
geneckt und verfolgt, und wenn sie auch noch so sehr knackt mit
dem Schnabel und zornig zischt. Erst die Dämmerung und die
Mondeshelle sagen ihr zu. Mit dem Anbruch der Dämmerung
schwingt sie ihre langen Flügel und schwebt geräuschlos durch
Wald und Flur hin, um zu erjagen, was Äuge, Ohr und Geruch
ausfindig machen. Denn diese sind von außergewöhnlicher Schärfe,
sodass selbst die Maus, in der Furche, die doch klein ist und sehr
leise tritt, vor ihr nicht verborgen bleibt. Die starken, dichtbefie-
derten Beine haben vier Zehen, von denen die Hinterzehe vor- und
rückwärts bewegt werden kann, was ihr beim Klettern besonders
zu statten kommt.
Wie alle Raubvögel haben auch die Eulen keine liebliche Stimme.
Schaurige Klage- und eiskalte Lachetöne ist alles, was sie hören
lassen. Ihre Nahrung besteht in kleinen Säugethieren, namentlich
Mäusen; daneben verzehren sie eine Menge Maikäfer und Nacht-
schmetterlinge, erhaschen auch wohl ein unvorsichtiges Vögelein,
das sein Schlafgemach nicht tief genug im Dickicht gesucht hat.
Ist Mangel an Mäusen, so müssen die jungen Hasen herhalten;
daher sagt das alte Sprichwort der Jäger: „Kein Mäusejahr, kein
Hasenjahr.“ Finden sie dagegen mehr als sie brauchen, so tragen
sie gleich den Ameisen einen Vorrath für stürmische und regen-
reiche Zeit, welche die Jagd schwierig macht, in ihre Behausung.
Wie überhaupt die Vermehrung der Raubvögel gering ist, so
legen auch die Eulen nur wenige und zwar weisse Eier. Der Nest-
bau ist kunstlos; viel Fleiss und Sorgfalt wäre auch unnöthig, da
die Jungen gleich nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei mit weissem
Flaum bekleidet sind.
Die kleinste Eulenart, das Käuzchen, flattert wohl auch an
erleuchteten Fenstern ängstlich umher oder setzt sich für Augen-
234
blicke auf das Dach eines Hauses und ruft sein schauriges „Pupu,
pupu“, oder ein „Quew quew“, oder ein klagendes „Kuuhuit, kuu-
huit“ durch die Stille der Nacht. Wem gilt das? Weder dir noch
der Deinen einem; das Thier hat, unbekümmert um uns Menschen-
kinder, gethan, wie es seine und anderer Eulen Natur und Wesen
ist, und mit unruhigem Geflatter und ängstlichem Schreien den
nahen Ausbruch stürmischen Regenwetters angekündigt, sonst nicht
das Geringste. Calwer Jugendblätter.
171. Aus dem Walde.
Mit dem alten Förster heut'
Bin ich durch den Wald gegangen,
Während hell im Festgeläut'
Aus dem Dorf die Glocken klangen.
Golden floß ins Laub der Tag,
Vöglein sangen Gottes' Ehre,
Fast, als ob's der ganze Hag
Wüßte, daß es Sonntag wäre.
Und wir kamen ins Revier,
Wo, nmrauscht von alten Bäumen,
Junge Stämmlein sonder Zier
Sproßten auf besamten Räumen.
Feierlich der Alte sprach:
„Siehst du über unsern Wegen
Hochgewölbt das grüne Dach?
, Das ist unsrer Ahnen Segen.
Denn es gilt ein wenig Recht,
Wo die hohen Wipfel rauschen;
Von Geschlechte zu Geschlecht
Geht ini Wald ein heilig Lauschen.
Was uns noth ist, uns zum Heil
Ward's gegründet von den Vätern,
Aber das ist unser Theil,
Daß wir gründen für die Spätern.
Drum im Forst auf meinem Stand
Ist mir's oft, als böt' ich linde
Meinem Ahnherrn diese Hand,
j Jene meinem Kindeskinde.
Und sobald ich pflanzen will.
Pocht das Herz mir, daß ich's merke,
Und ein frommes Sprüchlein still
j Muß ich beten zu dem Werke:
„Schütz' euch Gott,ihrReiserschwank!
Mögen unter euren Kronen,
Rauscht ihr einst den Wald entlang,
Gottesfurcht und Freiheit wohnen;
Und ihr Enkel, still erfreut ,
Mögt ihr dann mein Segnen ahnen,
Wie's mit frommem Dank mich heut'
An die Väter will gemahnen."
Wie verstummend im Gebet,
Schwieg der Mann, der tiefergraute,
Klaren Auges, ein Prophet,
Welcher vorwärts, rückwärts schaute.
Segnend auf die Stämmlein rings
Sah' ich dann die Händ' ihn breiten;
Aber in den Wipfeln gieng's
I Wie ein Gruß aus alten Zeiten.
®. ©eitel.
172. Erntekranz.
Der Sommer bleibt nicht lange mehr,
Der Tag wird kürzer, die Nacht wird
länger,
Das Korn ist gemäht, das Feld wird
leer,
Es schweigen bald des Waldes Sänger.
Doch eh' uns der Sommer ganz verläßt,
So gibt er uns noch ein fröhliches Fest.
Seht da! sie bringen den Erntekranz,
Mit bunten Bändern und Flittern,
Sie eilen alle zum fröhlichen Tanz,
Die Mädchen mit den Schnittern.
Und alles tanzt und springt,
Und alles jubelt und singt:
„Juchheißa, juchhei!
Die Ernt' ist vorbei!"
Hossmann von Fallersleben.
235
173. Der Dom zu Köln.
Köln zählt in seinen Mauern eine Menge merkwürdiger Kirchen und
anderer Denkmäler aus alter und neuer Zeit. Unter denselben steht voran
der herrliche Dom, welcher nach seiner Vollendung das schönste und er-
habenste Meisterwerk gothischer Bauart auf der ganzen Erde sein wird.
Der Bau dieses Domes begann schon im Jahre 1248 durch den Erz-
bischof Konrad von Hochstätten, der am 14. August jenes Jahres den Grund-
stein legte. Sein eigenes großes Vermögen, sowie der damalige Reichthum
der Bewohner Kölns, verbunden mit dem christlich frommen Sinn derselben,
machte das Beginnen eines so großartigen Werkes möglich. Auch brachten
die unzähligen Pilger, die aus allen Gegenden zu den Reliquien der heili-
gen drei Könige daselbst wallfahrtcten, zum Bau des Domes große Geld-
summen zusammen. Im Jahre 1322 wurde das Chor eingeweiht. Von jetzt
an konnte in Folge kriegerischer Zeiten nur langsam fortgebaut werden, und am
Ende des 16. Jahrhunderts stellte man die Arbeiten ganz ein, obgleich noch
nicht die Hälfte derselben vollendet war. Zu Anfang des laufenden Jahr-
hunderts glich daher das Werk von außen betrachtet einer großen Ruine.
Nach den glücklich beendeten Freiheitskriegen gegen den französischen
Kaiser Napoleon I. erwachte die Begeisterung des deutschen Volkes für dieses
große kirchliche Denkmal der Vergangenheit auf's Neue. Der König von
Preußen allein steuerte jährlich 150,000 Mark zur Fortsetzung des Baues.
Unter ihm und andern Fürsten that sich das Volk in Vereine zusammen,
und es flössen überall her reichliche Beisteuern. Am 4. September 1842,
also 520 Jahre nach der Einweihung des alten Chores, konnte das neu
vollendete Chor im Beisein vieler Fürsten und Herren und unter dem
Jubel einer unzähligen Volksmenge eingeweiht werden. Gegenwärtig steht
der ganze herrliche Tempel vollendet da, bis auf die beiden Hanptzierdcn
desselben, nämlich die zwei Türme. Aber auch an diesen wird rüstig ge-
arbeitet. Bei den beträchtlichen Summen, die hierfür aufgebracht werden,
wird die Vollendung derselben in nicht sehr ferner Zeit erfolgen.
Der Dom zeichnet sich durch große Ausdehnung, nainentlich der Höhen
aus. Er nimmt einen Flächcnraum von 6900 Quadratmeter ein. Die
Länge des ganzen Gebäudes mißt 167 Meter, gerade so hoch sollen auch
die beiden Türme werden. Die Breite ohne das Qucrschiff entspricht der
Höhe des Dachgiebcls und beträgt 72 Meter. Das Chor wölbt sich in-
wendig in einer Höhe von 50*/2 Meter, und dieser Höhe entspricht die
innere Breite der Kirche. Sie ist in fünf Schiffe abgetheilt und wie fast
alle gothischen Kirchen in Kreuzform erbaut.
So großartig diese Ausdehnungen im Innern und Äußern sind, so
wenig scheinen sie dieses für das Auge zu sein, weil überall das richtige
Ebenmaß aller einzelnen Theile zum Ganzen herrscht. Zahlreiche Statuen
schmücken das Innere und Äußere, und wie inwendig eine Menge von
schlanken Säulen und zierlichen Fenstern mit Glasgemälden jede Schwer-
fälligkeit aufheben, so ist der äußere Bau von zahllosen durchbrochenen
Türmchen und Giebeln umgeben, so daß das riesenhafte Werk leicht und
luftig gen Himmel strebt. Franz Schmidt.
236
174. Die Sahara.
Die Sahara, das Meer ohne Wasser, ist die grösste und furcht-
barste Wüste der alten und neuen Welt. Kein Fluss belebt diese
dem fast lothrecht auffallenden Strahl der Sonne ausgesetzte Ge-
gend. Kein Thau benetzt die öden Flächen; im glühenden Schosse
der Erde können die Keime des Pflanzenlebens nicht entwickelt
werden. Hier ist der Boden festes Gestein, das höchstens mit
grobem Kies oder mit einer dünnen Sandschicht bedeckt ist; dort
erblickt der Wanderer ein unabsehbares Sandmeer vor sich, durch
das er nur mit Hülfe seines Karneols zu dringen hoffen kann. Rings
um diesen Sandocean, der fast zwei Drittel von der Ausdehnung
Europas hat, zieht sich ein mehr oder weniger breiter Strich von
fruchtbarem Erdreich hin, wie z. B. zwischen dem Nordrande der
Wüste und dem Atlasgebirge das Dattelland (Biledulgerid), dessen
Ergiebigkeit freilich bei weitem nicht so bedeutend ist, wie man es
nach den Mittheilungen älterer Reisenden glaubte.
Der nordöstliche Theil der Sahara bis zum Nilthale hin heisst
die libysche Wüste. Man kann deren wagerechte Scheitelfläche
tagelang durchwandern, ohne die Sandkörnchen zu sehen. Nichts
als den Himmel hat man über sich, nichts als die feste Steinfläche
unter sich. Vom Nilthale her steigt man erst aufwärts und dann
auf rauhem, beschwerlichem, selbst für Karneole gefährlichem Wege
wieder abwärts. Dieser Pass ist der Eingang zur libyschen Wüste.
So weit das Auge reicht, sieht man nichts als Felsklippen und Sand,
nur hier und da in weiter Ferne weit auseinander stehende Haine
von Dattelbäumen. Gleich grünenden Inseln liegen nämlich in
Gruppen beisammen oder einzeln zerstreut mit Palmenhainen be-
wachsene Wasserorte, nach denen die sehnenden Augen der ver-
schmachtenden Wanderer ihre Blicke richten. Nur durch diese
Oasen wird der Karawanenzug von der Berberei, sowie von Arabien
und Ägypten her nach dem Innern Afrikas möglich. Ganz im
Südosten liegen die zwei bedeutenden Oasen Kordofan und Dar-
fur. Das fruchtbare und stark bevölkerte Kordofan ist eine grosse,
weite, von inselartigen Gebirgsgruppen durchzogene Grasebene. In
Darfur, das des Verkehrs wegen äusserst wichtig ist, bilden sich
in der Regenzeit kleinere ödere grössere Bäche, die in der trock-
nen Jahreszeit wieder verschwinden. Die Hauptstadt K o b e h (mit
6000 Einwohnern) zählt kein Haus, das nicht von Handelsleuten
oder Fremden bewohnt wäre. Ein Sultan aus maurisch-arabischem
Stamme ist der Beherrscher der Oase. Alljährlich werden grosse
Jagdzüge zum Fange von Sklaven unternommen, und nach Kairo
ziehen die Karawanen oft mit Tausenden von Sklaven und Kamee-
len, um mit den Waren des Abend- und Morgenlandes beladen in
ihre Heimat zurückzukehren.
So sind von Osten nach Westen zu noch mehr als 50 grössere
und kleinere Oasen in den Sandocean hineingesät. Dattelpflan-
zungen sind die Haupterzeugnisse der Bewohner dieser Inseln des
Sandmeeres. Vierzehn Tagereisen von Alexandrien liegt südöstlich
von Barka die Ammonsoase, einst hochberühmt durch das Orakel
des Jupiter Ammon, durch ihren Priesterstaat und ihre Tempel-
gebäude, durch schattige Palmenhaine und herrliche Olivenwälder.
Von den öden Klippenzügen dieser Wüsteninsel steigt man hinab
in das grüne, fruchtbare Thal von Siwah mit dem Hauptorte
gleichen Namens. Reich bebaute Getreidefelder, Oliven- und Orangen-
wäldchen und schattige Palmenhaine liegen lieblich nebeneinander.
Die herrlichsten Früchte, Datteln, Granatäpfel, Orangen, Paradies-
feigen, Oliven, Aprikosen und Trauben der vortrefflichsten Art, wie
keine andere Oase sie aufzuweisen vermag, erquicken die Bewohner
und den Reisenden.
Die Mitte zwischen dem westlichen und östlichen Nordafrika
wird durch die 60 Meilen lange und 40 Meilen breite Oase Fezzan,
eine grosse, tiefliegende Ebene, gebildet. Westlich von der mit Tri-
polis durch eine Strasse verbundenen Hauptstadt Murzuk ist der
Boden wüste und öde, gegen Südosten ist er trocken und mit Salz
überzogen. Nur selten fällt Regen, aber viele Quellen geben dem
Lande seine Fruchtbarkeit. Das Pflanzenreich erzeugt Weizen,
Gerste, Hülsenfrüchte, Trauben, Granatäpfel, gute Feigen und treff-
liebe Wassermelonen. Am bedeutendsten ist die Dattelernte, und
Palmbäume liefern neben Kameelfleisch die Hauptnahrungsmittel.
Die Hauptbeschäftigung der Bewohner besteht in Handel und —
Raub. Hier ist der wichtigste Verkehrsplatz für ganz Nordafrika,
der Verbindungspunkt zwischen dem Osten und Westen, zwischen
dem fernen Sudan und den Küsten des Mittelmeeres. Das ganze
Jahr hindurch wird öffentlicher Markt gehalten, aber am stärksten
ist das Gedränge zur Zeit der grossen Messe, wenn die zahlreichen
Karawanen von allen Seiten her sich sammeln. Da kommen die
Handelsleute aus Sudan mit Goldstaub, Straussfedern, Elfenbein
und Sklaven; da kommen sie von Ost und West, aus der Berberei
und Ägypten. — Fezzan ist die letzte der grossen Oasen, auf denen
noch eine freundliche Natur sich ausbreiten und das Pflanzen- und
Thierleben gedeihen kann.
Ausserhalb der Oasen finden sich in der Wüste bloss niedrige,
saftlose, verkrüppelte Gesträuche, hie und da auch einige Distel-
arten, Mannastauden und duftender Thymian. An geschützteren
Stellen gedeihen dornige Mimosen, aus deren Rinde ein nährendes
Gummi hervorquillt. Mit diesen harten Dorn- und Distelgewächsen
muss das Kameel sich begnügen, das die Natur zum Schiffe der
Wüste bestimmt hat. Sonst trifft man im Innern der Wüste nur
die schnellfüssigen Antilopen und Strausse. Am Rande der Wüste,
wo Wasserquellen den Boden befruchten, finden sich auch Eber
und Elephanten, und wo diese bereits fehlen, hausen noch Löwen
und Panther. Vögel lassen sich nur bis auf bestimmte Entfernungen
von angebauten Oasen sehen. Geier, Falken und Raben finden
sich ausserhalb der Oasen, Sperlinge in den Wohnplätzen der
Menschen, wilde Tauben in den Palmenwäldern. Da die Blumen
238
fehlen, so herrscht auch völlige Armuth in der Insectenwelt. Selbst
Fliegen gibt es nicht, nur hie und da Ameisen und Scorpione.
Übrigens sind die Oasen und ihre Umgegend auch Aufenthaltsorte
von Hyänen, Schakals, Füchsen, Büffeln, wilden Katzen, Stachel-
schweinen, Ratten- und Mäusearten. Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen
und Hunde sind nur selten und sehr kostbar. — Die die Wüste
bewohnenden Mauren sind wilde, räuberische Wanderhorden.
R. B i n der.
175. Das Kamee!.
Das eigentliche Thier der Sahara, so ganz und gar für die Natur
derselben gebaut, ist das Kameel. Sein Höcker ersetzt das Futter, welches
die Wüste dem Thiere so oft versagt. Er besteht nämlich aus einer fettigen
Masse, die unverhältnißmäßig anwächst, wenn es reichliche Nahrung em-
pfängt, dagegen zusammenschrumpft, wenn es lauge ohne Nahrung bleibt.
Will man eine weite Reise unternehmen, so wird er vorher erst untersucht.
Findet er sich gut mit Fett besetzt, so kann das Thier bei mäßigem Futter
große Strapazen ertragen. Die Natur hat ihm also in dem Höcker ge-
wissermaßen eine Borrathskammer gegeben, die in ähnlicher Weise seinen
Leib zu erhalten scheint, wie es das Fett bei denjenigen Thieren unserer
Gegend thut, die in einen Winterschlaf verfallen. Außerdem vermag es
239
sich von Pflanzen zn ernähren, die weder das Schaff noch die Ziegen fressen
können. Sein Gaumen und seine Zunge sind nämlich mit einer harten,
lederartigcn Haut überzogen, sodaß es stachlichc Kräuter, Nesseln und
Baumrinde mit demselben Appetit zerbeißt wie das weichste Gras.
In eben so auffallender Weise wie auf langes Ertragen des Hungers
ist sein Körper auf langes Dürsten eingerichtet, indem die eine Abtheilung
seines Magens mit zahlreichen Zellchen versehen ist. In diesen kleinen,
häutigen Wasserflaschen bewahrt es für die Zeit der Noth einen Vorrath
von Wasser auf, von dem so oft etwas in den Schlund zur Verdauung
der Speisen tritt, als das Bedürfnis dazu vorhanden ist. Es kann des-
halb 4 bis 6 Tage ohne Wasser hinbringen, trinkt aber 50 bis 60 Pfund
auf einmal. Geht dem Wüstenreisenden der mitgenommene Wasservorrath
aus, so sucht er sich, wie einige Reisende behaupten, dadurch zu retten,
daß er eins seiner Kameele schlachtet, den Magen desselben herausnimmt
und vermittelst des darin enthaltenen Wassers den brennenden Durst löscht.
Andere erklären dies jedoch für eine Fabel, indem sie sagen, daß das im
Magen des Kamecls aufgehobene Wasser gar nicht zu genießen sei. — Die
Füße des merkwürdigen Thieres sind unten mit einem schwieligen Kissen
versehen, auf dem die verwachsenen beiden Hufe gleichsam ruhen und mit
welchem es den brennenden Sand- und Kiesboden ohne Nachtheil durch-
wandern kann. Ein Pferd würde die Strapazen gar nicht aushalten können,
die das Kameel ohne Beschwerde erträgt. In einer Hitze und Dürre der
Luft, wo Pferd und Ochse verschmachteten, und bei einem Boden, in dem
ein Wagen gar nicht fortrücken könnte, legt es mit einer Last von zehn
Centnern täglich sechs Pfeilen zurück; ja man hat Beispiele, daß es un-
beladen 24 Stunden in einem starken Trabe forteilt, ohne auszuruhen
oder Verlangen nach Futter zu zeigen. Die rauhesten Gebirgswege steigt
es mit Leichtigkeit und Sicherheit auf und ab und ist am Abend noch eben
so frisch auf den Beinen wie am Morgen. An dem Schcnkelgelenk der
Füße hat es harte Knorren, welche den schweren Körper stützen, wenn es
niederkniet. Knieend läßt es sich seine Last abnehmen, knieend empfängt
es dieselbe, wobei es ein klägliches, Erbarmen erregendes Schreien hören
läßt. Aus dem Haare des Kamecls wird ein Tuch für Zelte und Mäntel
bereitet. Seine Haut liefert ein gutes Leder für Schuhe und Wasser-
schläuche. Aus seiner Milch gewinnt man Butter und Käse. Auch das
Fleisch ist wohlschmeckend, und wie dieses Thier in den wasserarmen Gegen-
den den Quell zu ersetzen weiß, so vermag es in den eben so holzärmen
Wüstengegenden auch das Brennmaterial zu ersetzen, indem sein Mist wie
Holz brennt. Die Wüstenbewohner sammeln denselben, trocknen ihn an
der Sonne und haben daran oft das einzige Feuerungsmittel. So ist ihnen
das Kameel, welches die Kuh, das Schaf und das Pferd vertritt, von der-
selben Wichtigkeit, wie dem Lappen das Rennthier. Es ist das einzige
Thier, welches den Verkehr ermöglicht, wie das Rennthier im Norden fast
das einzige Thier ist, das mit außerordentlicher Geschicklichkeit und Aus-
dauer alle Schwierigkeiten überwindet, welche der Schnee dem Verkehr
entgegensetzt. An Großartigkeit der Benutzung kann sich jedoch das Renn-
thier nicht mit dem Kameel messen. Gude.
240
176. Der Strauß.
Strauß! du weißt doch, daß du der größte Vogel, der Riese unter
allen Vögeln der Welt bist?
„O ja, das weiß ich wohl; ich bin so groß wie der größte Mensch
und wiege sechzig bis achtzig Pfund. Nicht wahr, ich gebe einen ziemlichen
Braten?"
So kann man dich also essen?
„Ja freilich, und meine Eier auch. Meine Eier sind so groß, daß
sich zwei bis drei Personen an einem einzigen satt essen können, denn
sie sind so groß wie ein kleiner Kindskopf und wiegen vier bis sechs
Pfund. Und solche große Eier lege ich alle Jahre dreißig bis vierzig."
O, das ist erstaunlich viel! So viel Eier legt gewiß kein einziger
großer Vogel. Wenn du sie ausbrütest, so muß es entsetzlich viel Strauße
geben. Thust du das wohl und brütest sie alle aus? — doch davon nach-
her. Sage mir erst, großer Strauß, wo du zu Hause bist.
„Ich lebe in den unfruchtbareu Wüsten von Afrika, Arabien und
Indien, wo keine Menschen wohnen und auch selten Menschen hinkommen.
Und, wie lieb wäre es mir, wenn ich nie einen Menschen sähe! Denn so
oft einer zu mir kommt, raubt er mir meine Eier oder meine Jungen
oder bringt mich gar selbst ums Leben. Wie sehr mich oft die häßlichen
Neger quälen und verfolgen, ist nicht zu sagen!"
241
Was frissest du?
„Kraut und Gras, Samenkörner und Nüsse und viele andere Baum-
früchte, die ich erwischen kann. Selten aber werde ich von diesen Dingen
satt, daher stopfe ich meinen Magen gewöhnlich noch mit Steinen, Holz,
Knochen, Stricken, Leder, Eisen, Kupfer, Messing, Zinn, Blei und Glas
voll. Und zuweilen bin ich auch so dumm und verschlinge glühende Kohlen,
die mir aber übel bekommen."
Wie alt wirst du?
„Sechzig bis siebenzig Jahre, wenn mir kein Unfall begegnet. Werde
ich aber gefangen, zum Reiten gebraucht, öfters meiner Federn beraubt und
sonst noch auf andere Weise gequält, so dauert freilich mein Leben kaum
halb so lange."
Reitet man denn auf dir?
„Ja, aber nur zum Spaß. Auch an Karren spannen mich die muth-
willigen Neger zuweilen; denn ich bin sehr stark und flink, und kann in
einer Stunde zwei bis drei Meilen weit laufen."
Sammt Karren und Reiter?
„Ja, mit beiden. Aber wehe dem Neger, der auf dem Karren oder
auf meinem Rücken sitzt, wenn er das schnelle Fahren oder Reiten nicht
gewohnt ist! Es vergeht ihm Sehen, Hören und Athemholen."
Nun, erzähle mir, großer Strauß, wie du vom Kopf bis auf die
Fehen oder Klauen aussiehst, und wie es mit dem Ausbrüten deiner
Eier zugeht?
„Ich bin so groß wie ein Dragoner, der zu Pferde sitzt, und gleiche
sehr dem vierfüßigen Thiere, das man Kamcel nennt. Mein Kopf hat
viel Aehnlichkeit mit, einein Gänsekopf. Mein Schnabel ist kurz, krumm
und spitzig. Die Öffnung meiner Ohren liegt ganz unbedeckt. Meine
oberen Augenlider sind beweglich und mit langen Augenwimpern versehen
wie beim Menschen. Mein Hals ist sehr lang und dünn und wie der
größte Theil meines Körpers mit dicken weißen Haaren bedeckt. In meinen
Flügeln hingegen und in meinem Schwänze habe ich gewöhnlich schöne
Weiße, aber auch viele schwarze und graue Federn. Und dies sind die be-
kannten Federn, um derentwillen mich die Neger entsetzlich ängstigen und
jämmerlich zu Tode prügeln. Sie verkaufen sie an die Europäer, welche
dieselben auf die Hüte und Köpfe stecken, Fächer, Muffe und Federbüsche
und sonst noch allerhand Putz und Zierrathen davon machen. Meine schwarzen
Federn sind theurer als meine weißen, weil ich deren weniger habe.
Meine Füße sind kahl und sehr lang und mit zwei Zehen oder Klauen
versehen; denn ich bin der einzige Vogel in der Welt, der nur zwei Zehen
hat. Fliegen kann ich nicht, weil meine Flügel zu klein sind, und die Last
meines Körpers zu groß. Aber laufen kann ich entsetzlich geschwind, so
geschwind, daß mich weder Menschen noch Hunde und Pferde einholen
können. Und doch gelingt es den listigen Negern, mich endlich zu fangen.
Was meine Eier anbetrifft, so sind sie wirklich so groß wie ein kleiner
Kindeskopf, länglich rund, glatt und weißlich, mit kleinen Punkten ver-
sehen. Man kann sie essen und aus der Schale allerhand Trinkgeschirr
machen, weil sie ziemlich dick und steinhart ist. Die Franzosen und Hol-
länder bringen sie häufig nach Europa und verkaufen sie an Naturalien-
13
242
Liebhaber. Es kostet eines gewöhnlich zwei Mark, und wenn cs recht
schön ist, wohl noch mehr."
Und wie viel brütest du von den dreißig bis vierzig Eiern aus, die
du alle Jahre legst?
„Kaum den vierten Theil, denn viele stiehlt man mir, und viele lege
ich bloß deßwegen, damit meine Jungen gleich etwas zu fressen finden,
wenn sie lebendig geworden sind und die Schale verlassen haben. Und
von diesen sterben immer noch viele vor Hunger oder kommen auf der
Flucht vor den bösen Negern um. Ich lege meine Eier geschwind hinter
einander her in den heißen Sand, aber nicht alle dreißig oder vierzig auf
einen einzigen Haufen, sondern allemal zehn bis zwölf beisammen, in einem
kleinen Kreise herum. Einige davon brüte ich selbst aus, wenn ich nicht
davon verjagt werde; die andern aber lasse ich durch den heißen Sand
ausbrüten."
Du klagst über die unbarmherzigen Neger, dummer Strauß, daß sie
dich immer ängstigen und grausam verfolgen; warum wehrst du dich denn
nicht gegen sie?
„O, ich thue es ja! Ich schlage manchem Arme und Beine ab, und
schlitze ihm oft sammt seinem Hunde und Pferde den Leib auf; aber es
kommen immer wieder andere Mörder, die mich endlich, wenn sie mich
zwei oder drei Tage im Kreise herumgejagt, abgemattet und ausgehungert
haben, nöthigen, daß ich meinen Kopf in den Sand oder sonst wohin stecke,
mich fangen und tödten oder lebendig in Gefangenschaft führen lasse.
In der Gefangenschaft habe ich's zwar gut: ich habe zu fressen genug,
kann hüpfen und springen, wie ich will; aber ich muß es mir gefallen
lassen, daß man mir von Zeit zu Zeit meine Federn auszieht, mich endlich
gar abschlachtet und aus meiner Haut allerhand Kleidungsstücke macht.
Einige Afrikaner fangen alle Jahr eine Menge von uns zusammen und
ziehen uns um der Federn willen auf. Rass,
177. Rudolf von Habsburg.
Die kaiserlose Zeit war eine schreckliche Zeit gewesen für das arme
Deutschland; kein Recht und keine Sitte hatte mehr gegolten, nur das
Faustrccht hatte geblühet. Rudolf zog nun selber gegen die Raubritter
ans und schleifte ihre Burgen. In Thüringen allein zerstörte er 60 solcher
Ranbnestcr. Die adeligen Räuber ließ er insgesammt hängen. — Den
Zollaufsehern schrieb er: „Ich höre, daß ihr Reisende zu ungebührlichen
Abgaben zwingt und unerträgliche Lasten ihnen auflegt; aber ich sage euch,
haltet eure Hände rein von ungerechtem Gut und nehmt nur, was euch zu-
kommt, denn ihr sollt wissen, daß ich mit aller meiner Macht mich bestreben
werde, Gerechtigkeit zu üben und Ordnung und Ruhe zu erhalten." —
Den trotzigen Herzog von Niederbayern und die Grafen in Schwaben und
Burgund zwang er mit den Waffen in der Hand zur Unterwerfung. Aber
vor allem richtete er seine Macht gegen den mächtigen, stolzen und kampf-
lustigen Ottokar, König von Böhmen und Mähren und Herrn von Österreich,
Steiermark, Kärnthen und Krain. Dieser war ergrimmt, daß er nicht
zum deutschen König erwählt worden war, und wollte dem neuen Kaiser
nicht huldigen. Dreimal forderte ihn Rudolf auf, vor ihm zu erscheinen
243
und den Lehnseid abzulegen; aber Ottokar kam nicht. Da griff Rudolf
zum Schwert und zog mit Hcercsmacht gegen den Widerspenstigen aus.
Auf dem Marchfelde, einige Meilen von Wien, kam es im Jahre 1278
zur entscheidenden Schlacht. Auf beiden Seiten wurde mit gleicher Er-
bitterung und gleicher Tapferkeit gefochten. Selbst des Kaisers Leben kam
in Gefahr. Ein polnischer Ritter sprengte in wildem Ungestüm mitten
durch die feindlichen Scharen gerade auf Rudolf zu und hatte schon dessen
Pferd niedergestoßen, als noch zum Glück habsburgischc Reiter herbeieilten
und ihren Herrn aus der nahen Gefahr erretteten. Ottokar selbst focht
an der Spitze der Seinigcn mit einer Tapferkeit, die ein besseres Schick-
sal verdient hätte; allein das Glück verließ ihn, seine Scharen wichen
überall zurück, er selbst ward im Gedränge niedergestoßen. Zwei steier-
märkische Ritter, die er einst hart behandelt hatte, versetzten ihm den Todes-
slreich. Sein Leichnam ward nachher in der Prager Schloßkapelle beigesetzt.
Auf der Walstatt fand man auch noch jenen polnischen Ritter schwer ver-
wundet und wollte ihn seinen Frevel mit dem Tode büßen lassen; aber
Rudolf sprach: „Das wolle Gott verhüten! Einen so herzhaften Ritter
tobten, hieße dem ganzen Reiche einen unersetzlichen Schaden zufügen!" und
ließ ihn auf das sorgfältigste pflegen. Ebenso großmüthig zeigte er sich auch
gegen Ottokar's unmündigen Sohn, dem er das Königreich Böhmen ließ, die
österreichischen Länder aber gab er mit Bewilligung der Kurfürsten seinem
Sohne Albrecht und wurde so der Stammvater des österreichischen Hauses.
Bei so großer Macht verschmähete Rudolf den Prunk der römischen Kaiser-
krone; er gieng nicht nach Italien wie seine Vorfahren, welche die Kraft
deutscher Jugend der römischen Hinterlist opferten; er unternahm auch keinen
Kreuzzug, wie Papst Gregor X. wünschte. Wohl aber brachte er mit starker
Hand die königliche Macht zu Ehren und die Gesetze wieder in Achtung.
Darum sagte auch ein gleichzeitiger Schriftsteller: „Ruhe und Friede folgte
auf Krieg und Zerrüttung. Der Landmann nimmt den Pflug wieder zur
Hand, der lange Zeit ungebraucht im Winkel lag; der Kaufmann, der aus
Furcht vor Räubern zu Hause blieb, durchreiset jetzt das Land mit großer
Sicherheit, und die Räuber und Bösewichter, die zuvor öffentlich und ohne
Scheu herumschwärmten, suchen sich in wüsten Gegenden zu verbergen."
Rudolf verachtete allen eitlen Schimmer, alle Üppigkeit und Weichlich-
keit. Befand er sich mit seinen Kriegern auf dem Marsche, so schämte er
sich nicht, seinen zerrissenen Rock selbst auszubessern, und fehlte es an
Lebensmitteln, so war er der erste, welcher eine Rübe aus den Äckern zog,
um seinen Hunger damit zu stillen. Nie vergaß er auf dem Throne, daß
er Mensch sei. Jedermann hatte Zutritt zu dem menschenfreundlichen
Herrscher. Einst, da die Wache einen gemeinen Mann, der ihn zu sprechen
wünschte, nicht hinein lassen wollte, rief er ihr zu: „Ei, laß ihn doch her-
ein! Bin ich denn zum Kaiser erwählt, daß man mich einschließe?"
Grube.
178. Der Gras von Habsburg.
Zu Aachen in seiner Kaiserpracht,
Im alterthümlichen Saale,
Saß König Rudolfs heilige Macht
Beim festlichen Krönungsmahle.
Die Speisen trug der Pfalzgraf des
Rheins,
Es schenkte der Böhme des perlenden
Weins,
16*
- Und alle die Wähler, die sieben,
Wie der Sterne Chor um die Sonne
sich stellt,
Umstanden geschäftig den Herrscher der
Welt,
Die Würde des Amtes zu üben.
Und rings erfüllte den hohen Balkon
Das Volk in freud'gem Gedränge;
Laut mischte sich in der Posaunen Ton
Das jauchzende Rufen der Menge.
Denn geendigt nach langem verderb-
lichen Streit
War die kaiserlose, die schreckliche Zeit,
Und ein Richter war wieder auf Erden.
Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer,
Nicht fürchtet der Schwache, der Fried-
liche mehr,
Des Mächtigen Beute zu werden.
Und der Kaiser ergreift den gold'nen
Pokal
Und spricht mit zufriedenen Blicken:
„Wohl glänzet das Fest, wohl pranget
das Mahl,
Mein königlich Herz zu entzücken;
Doch den Sänger vermiß ich, den Bringer
der Lust,
Der mit süßem Klang mir bewege die
Brust
Und mit göttlich erhabenen Lehren.
So hab' ich's gehalten von Jugend an,
Und was ich als Ritter gepflegt und
gethan,
Nicht will ich's als Kaiser entbehren."
Und sieh! in der Fürsten umgebenden
Kreis
Trat der Sänger im langen Talare;
Ihm glänzte die Locke silberweiß,
Gebleicht von der Fülle der Jahre.
„Süßer Wohllaut schläft in der Saiten
Gold,
Der Sänger singt von der Minne Sold,
Er preiset das Höchste, das Beste,
Was das Herz sich wünscht, was der
Sinn begehrt;
Doch sage, was ist des Kaisers werth
An seinem herrlichsten Feste?"
„Nicht gebieten werd' ich dem Sän-
ger", spricht
Der Herrscher mit lächelndem Munde;
„Er steht in des größeren Herren Pflicht,
Er gehorcht der gebietenden Stunde.
Wie in den Lüften der Sturmwind saust,
Man weiß nicht, von wannen er kommt
und braust.
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen:
So des Sängers Lied aus dem Innern
schallt
Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen."
Und der Sänger rasch in die Saiten
fällt
Und beginnt sie mächtig zu schlagen:
„Aufs Waidwerk hinaus ritt ein edler
Held,
Den flüchtigen Gemsbock zu jagen,
Ihm folgte der Knapp mit dem Jäger-
geschoß,
Und als er auf seinem stattlichen Roß
In eine Au kommt geritten,
Ein Glöcklein hört er erklingen fern —
Ein Priester war's mit dem Leib des
Herrn;
Voran kam der Meßner geschritten.
Und der Graf zur Erde sich neiget hin,
Das Haupt mit Demuth entblößet,
Zu verehren mit gläubigem Christensinn,
Was alle Menschen erlöset.
Ein Bächlein aber rauschte durchs Feld,
Von des Gießbachs reißenden Fluten
geschwellt,
Das hemmte der Wanderer Tritte,
Und beiseit legt jener das Sakrament,
Bon den Füßen zieht er die Schuhe
behend,
Damit er das Bächlein durchschritte.
„Was schaffst du?" redet der Graf
ihn an,
Der ihn verwundert betrachtet.
„„Herr, ich walle zu einem sterbenden
Mann,
Der nach der Himmelskost schmachtet,
Und da ich mich nahe des Baches Steg,
245
Da hat ihn der strömende Gießbach
hinweg
Im Strudel der Wellen gerissen.
Drum, daß dem Lechzenden werde sein
Heil,
So will ich das Wässerlein jetzt in Eil'
Durchwaten mit nackenden Füßen.""
Da setzt ihn der Graf auf sein ritter-
lich Pferd
Und reicht ihm die prächtigen Zäume,
Daß er labe den Kranken, der sein
begehrt
Und die heilige Pflicht nicht versäume;
Und er selber auf seines Knappen Thier
Vergnüget noch weiter des Jagens Be-
gier;
Der andre die Reise vollführet,
Und am nächsten Morgen, mit dan-
kendem Blick,
Da bringt er dem Grafen sein Roß
zurück,
Bescheiden am Zügel geführet.
„Nicht wolle das Gott", rief mit
Demuthssinn
Der Graf, „daß zum Streiten und Jagen
Das Roß ich beschritte fürderhin,
Das meinen Schöpfer getragen!
Und magst du's nicht haben zu eignem
Gewinst,
So bleibt es gewidmet dem göttlichen
Dienst!
Denn ich hab-' es dem ja gegeben,
Von dem ich Ehre und irdisches Gut
Zu Lehe» trage und Leib und Blut
Und Seele und Athem und Leben." —-
„„So mög' auch Gott, der allmäch-
tige Hort,
Der das Flehen der Schwachen erhöret,
Zu Ehren euch bringen hier und dort,
So wie ihr jetzt ihn geehret!
Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt
Durch ritterlich Walten im Schweizer-
land,
Euch blühen sechs liebliche Töchter.
So mögen sie,"" rief er begeistert aus,
»„Sechs Kronen euch bringen in euer
Haus,
Und glänzen die spät'sten Geschlechter!""
Und mit sinnendem Haupt saß der
Kaiser da,
lAls dächt' er vergangener Zeiten;
Jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah,
Da ergreift ihn der Worte Bedeuten.
Die Züge des Priesters erkennt er schnell
j Und verbirgt der Thränen stürzenden
Quell
In des Mantels purpurnen Falten.
I Und alles blickte den Kaiser an
Und erkannte den Grafen,, der das
gethan,
Und verehrte das göttliche Walten.
Schiller.
179. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe.
Auf der Burg zu Germersheim,
Stark an Geist, am Leibe schwach,
Sitzt der greise Kaiser Rudolf,
Spielend das gewohnte Schach.
Und er spricht: „Ihr guten Meister,
Ärzte, sagt mir ohne Zagen:
Wann aus dem gebrochnen Leib
Wird der Geist zu Gott getragen?“
Und die Meister sprechen: „Herr,
Wohl noch heut’ erscheint die Stunde.“
Freundlich lächelnd spricht der Greis:
„Meister, Dank für diese Kunde!“
„Auf nach Speier! auf nach
Speier! “
Ruft er, als das Spiel geendet;
„Wo so mancher deutsche Held
Liegt begraben, sei’s vollendet!
Blast die Hörner! bringt das Ross,
Das mich oft zur Schlacht getragen!“
Zaudernd steh’n die Diener all’,
Doch er ruft: „Folgt ohne Zagen!“
Und das Schlachtross wird gebracht.
„Nicht zum Kampf, zum ew’gen
Frieden“,
Spricht er, „trage, treuer Freund,
Jetzt den Herrn, den lebensmüden!“
Weinend steht der Diener Schar,
Als der Greis auf hohem Rosse,
Rechts und links ein Kapellan,
Zieht, halb Leich’, aus seinem Schlosse.
246
Trauernd neigt des Schlosses Lind’
Vor ihm ihre Äste nieder,
Vögel, die in ihrer Hut,
Singen wehmuthsvolle Lieder.
Mancher eilt des Wegs daher,
Der gehört die bange Sage,
Sieht des Helden sterbend Bild
Und bricht aus in laute Klage.
Aber nur von Himmelslust
Spricht der Greis mit jenen zweien;
Lächelnd blickt sein Angesicht,
Als ritt' er zur Lust im Maien.
Von dem hohen Dom zu Speier
Hört man dumpf die Glocken schallen;
Ritter, Bürger, zarte Frauen
Weinend ihm entgegen wallen.
In den hohen Kaisersaal
Ist er rasch noch eingetreten;
180.
Sitzend dort auf gold’nem Stuhl,
Hört man für das Volk ihn beten.
„Reichet mir den heil’gen Leib!“
Spricht er dann mit bleichem Munde;
Drauf verjüngt sich sein Gesicht
Um die mitternächt’ge Stunde.
Da auf einmal wird der Saal
Hell von überird’schem Lichte,
Und entschlummert sitzt der Held,
Himmelsrull im Angesichte.
Glocken dürfen’s nicht verkünden
Beten nicht zur Leiche bieten,
Alle Herzen längs des Rheins
Fühlen, dass der Held verschieden.
Nach dem Dome strömt das Volk,
Schwarz, unzähligen Gewimmels.
Der empfieng des Helden Leib,
Seinen Geist der Dom des Himmels.
J. Kerner.
Brockenreise.
Die Sonne gieng auf. Die Nebel flohen wie Gespenster beim drillen
Hahnenschrei. Ich stieg wieder bergauf und bergab, und vor mir schwebte
die schöne Sonne, immer neue Schönheiten beleuchtend. Der Geist des
Gebirges begünstigte mich ganz offenbar und ließ mich diesen Morgen sei-
nen Harz sehen, wie ihn gewiß nicht jeder sah. Aber auch mich sah der
Harz, wie mich nur wenige gesehen; in meinen Augenwimpern flimmerten
eben so kostbare Perlen, wie in den Gräsern des Thales. Morgenthan
feuchtete meine Wangen; die rauschenden Tannen verstanden mich, ihre
Zweige thaten sich voneinander, bewegten sich hinauf und herab, gleich
stummen Menschen, die mit den Händen ihre Freude bezeugen, und in der
Ferne klang's wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengeläute einer verlornen
Waldkirche. Man sagte, das seien die Herdenglöckchen, die im Harz so
lieblich klar und rein gestimmt sind.
Nach dem Stande der Sonne war es Mittag, als ich auf eine solche
Herde stieß, und der Hirt, ein freundlicher junger Mensch, sagte mir, der
große Berg, an dessen Fuß ich stände, sei der alte, weltberühmte Brocken.
Viele Stunden ringsum liegt kein Haus, und ich war froh genug, daß mich
der junge Mensch einlud, mit ihm zu essen. Wir setzten uns nieder zu
einer Mahlzeit, die aus Käse und Brot bestand; die Schäfchen erhaschten
die Krumen, die lieben blanken Kühlein sprangen um uns herum, klingelten
schelmisch mit ihren Glöckchen und lachten uns an mit ihren großen, ver-
gnügten Augen. Wir tafelten recht königlich, und mein Wirt schien mir
ein rechter König.
Wir nahmen recht freundschaftlich Abschied, und fröhlich stieg ich den
Berg hinauf. Bald empfieng mich eine Waldung himmelhoher Tannen, vor
denen ich in jeder Hinsicht Respect hatte. Diesen Bäumen ist nämlich das
Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden, und sie haben es sich in der
247
Jugend sauer werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granit-
blöcken übersäet, und die meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln diese
Steine umranken oder sprengen und mühsam den Boden suchen, aus dem
sie Nahrung schöpfen können. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein
Thor bildend, über einander, und oben darauf stehen die Bäume, die nackten
Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend und am Fuße derselben den
Boden erfassend, so daß sie in der freien Luft zu wachsen scheinen. Und
doch haben sie sich zu jener gewaltigen Höhe emporgeschwungen und, mit
den umklammerten Steinen wie zusammengewachsen, stehen sie fester als
ihre bequemen College» im zahmen Forstboden des flachen Landes. — Auf
den Zweigen der Tannen kletterten Eichhörnchen, und unter denselben spa-
zierten die gelben Hirsche.
Allerliebst schossen die goldenen Sonnenlichter durch das dichte Tannen-
grün. Eine natürliche Treppe bildeten die Baumwurzeln. Überall schwel-
lende Moosbänke; denn die Steine sind fußhoch von den schönsten Moos-
arten wie mit hellgrünen Sammetpolstern bewachsen. Liebliche Kühle und
träumerisches Quellengemurmel! Hier und da sieht man, wie das Wasser
unter den Steinen silberhell hinrieselt und die nackten Baumwurzeln und
Fasern bespült. Wenn man sich nach diesem Treiben hinabbeugt, so be-
lauscht man gleichsam die geheime Bildungsgeschichte der Pflanzen und das
ruhige Herzklopfen des Berges. An manchen Orten sprudelt das Wasser
aus den Steinen und Wurzeln stärker hervor und bildet kleine Cascaden.
Da läßt sich gut sitzen. Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel
singen abgebrochene Sehnsuchtslaute, die Bäume flüstern wie mit tausend
Zungen, wie mit tausend Augen schauen uns die seltsamen Bergblumeu an;
sie strecken nach uns aus die wundersamen, breiten, niedlich gezackten Blätter,
spielend flimmern hin und her die lustigen Sonnenstrahlen, die sinnigen
Kräutlein erzählen sich grüne Märchen, — es ist alles wie verzaubert, es
wird immer heimlicher und heimlicher.
Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafter werden
die Tannen; sie scheinen mehr und mehr zusammen zu schrumpfen, bis zu-
letzt nur Blau- und Rothbeersträucher und Bergkräutcr übrig bleiben. Da
wird es auch schon fühlbar kälter. Die wunderlichen Gruppen der Granit-
blöcke werden hier erst recht sichtbar. Diese sind oft von erstaunlicher Größe.
Das mögen wohl die Spielbälle sein, welche die bösen Geister einander zu-
werfen in der Walpurgisnacht, wenn hier die Hexen auf Besenstielen ein-
hergeritten Kommen. — In der That, wenn man die obere Hälfte des
Brockens besteigt, kann man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocks-
bergsgeschichten zu denken. Es ist ein äußerst erschöpfender Weg, und ich
war froh, als ich endlich das langersehnte Brockenhaus zu Gesichte bekam.
Dieses Haus, das auf der Spitze des Berges liegt, wurde erst 1800
vom Grafen Stolberg-Wernigerode erbaut. Die Mauern sind erstaunlich
dick wegen des Windes und der Kälte im Winter. Das Dach ist niedrig;
in der Mitte desselben steht eine turmartige Warte, und bei dem Hause
liegen noch zwei kleine Nebengebäude, von denen das eine in früheren Zeiten
den Brockenbesuchern zum Obdach diente. H. Heine.
248
181. Ter Bergmann.
Es grüne die Tanne, es wachse das Erz,
Gott schenke uns allen ein fröhliches Herz.
In feierlichem Schweigen thront über Hercyniens Bergen die stern-
gekrönte Nacht. Nur die Waldbäche dürfen die alten Sagen von Frau
Hulda und dem wilden Jäger den aufmerksam lauschenden Tannen mit-
theilen, welche mit ihren schlanken Wipfeln dazu nachdenklich rauschen.
Sonst ist es stille, und die Nacht kann hier, wie sie es in dem wüsten
Treiben ferner Großstädte nicht vermag, ihre Gaben, Erquickung und Ruhe,
solchen Günstlingen spenden, welche es werth sind. Da schlägt es vom
Turme auf dem Gkockenberge bei St. Andreasberg zwei Uhr, und bald
dringt aus den Fenstern hier und da der schwache Schimmer eines Lichtes.
Wen duldet es da in so früher Stunde nicht länger in des Schlummers
sanften Armen? Hier ist ein zwar unscheinbares, doch gastliches Haus;
laßt uns eintreten und ungesehen alles betrachten. Den einst grünen
Schachthut auf dem freundlich ernsten Haupte, leuchtet ein Mann im
kurzen, schwarzen Kittel, welchen das Hinterleder eng um den Leib zu-
sammenfaßt, noch einmal mit dem brennenden Grubenlicht über die Seinen,
die Gattin lächelt im Traum, und das Kind wendet das rosenwangige
Köpfchen zur Seite: „Behüt euch Gott, Glück auf!" flüstert er, und leise
geht er fort. Aus dem Wandschrank der geräumigen Stube nimmt der
Bergmann den Brotbeutel und den Pulversack; beide, Leben und Tod,
birgt er an seiner Brust im Kittel, indem er des Pulvers gedenkend für
sich spricht: „Nun bin ich in Gottes Hand!" Aus der Bergschmiede holt
er sein „Gezäh", die von den wackern Söhnen Vulkans wiederum zuge-
spitzten Bohrer. Von da ist's nicht weit bis zum Gaipcl des Samson,
der tiefsten Grube im Harzgebirge. Von unten aus dem Thäte und von
den Seiten des Berges nahen sich die Knappen dem düstern Gebäude,
welches über dem Schachte erbaut ist. „Glück auf" und Händedruck begrüßt
jeden, und bald beginnt es laut zu werden im anfangs stillen Chor der
Knappen. Ernst und Scherz, Lust und Leid wird besprochen. — Dem
Gespräch ein Ende, das Beten beginnt! Alle versammeln sich in des Gaipels
weit gedehnter Stube, und voll Andacht dringt das Gebet empor zum all-
mächtigen Bergwerksvater, welcher der Erde Adern mit Erzen reich ge-
segnet, damit der Bergmann daraus Brot gewinne, ihn, den Herrn, bittet
der weithin schallende Choral um Schutz und Schirm auf der gefahrvollen
Bahn. Da leuchtet das purpurne Morgenroth des anbrechenden Sommer-
tages gnädige Erhörung durch die Fenster, und die Einfahrt, Mann für
Mann, beginnt. Noch einen Blick sendet der Bergmann durch die offene
Gaipelsthür in die Welt des freundlichen Lichtes, das die Bergknppen mild
vergoldet, sein Auge schweift über blumige Wiesen, über Wald und Feld,
über Berg und Thal nach dem fernen Dache, das seine Lieben birgt, und
dann steigt er getrosten Muthes hinab in die finstere Erdeunacht, die nur
der Schimmer seines Lichtes erhellt. Sobald als möglich verläßt der
Knappe die hölzerne Leiter, um sich mit der Fahrkunst auf leichtere Weise
in die Tiefe befördern zu lassen. Ein Fehltritt läßt ihn in den Tod ver-
sinken, doch bei der nöthigen Vorsicht hat er nichts zu fürchten. Hin
und wieder verschwinden einige Kameraden, welche sich durch die Stollen
249
(horizontal ausgegrabene Höhlungen) an ihren Arbeitsort begeben. Hier unten
vermissen wir die erfrischende, leichte Luft, welche über die Höhen Hercyniens
weht, an den Wänden des grauen Gesteins zittern Wassertropfen; ein Ge-
fühl, als wollten uns die Felsmassen in dieser schauerlichen Einsamkeit er-
drücken, beschleicht uns in der unheimlichen Stille, welche nur das ächzende
Knarren der auf- und absteigenden Tonnen stört. Der Bergmann ist zur
Stelle und hat seine Arbeit begonnen. Mit Fäustel (Hammer) und Bohrer
schlägt er ein tiefes Loch in des Felsens Mitte. Jetzt schiebt er vorsichtig
das Pulver hinein. Eine,, lange, kupferne Nadel wird ins Loch gesenkt
und die noch vorhandene Hffnung rund um sie her mit Letten (blauem
Thon) verstopft. Die herausgezogene Nadel läßt einen freien Raum bis
zur Pulverkammer im Grunde des Loches, oben wird ein Schwede! (eine
kleine Papiertütc voll Pulver) hineingesteckt, daran ist ein fingerlanger
Schwefelnden befestigt, der angezündet wird. Der Warnungsruf: „An-
gesteckt!" erschallt, und der Bergmann eilt, in Sicherheit zu kommen, denn
sobald der Schwefclfaden verbrannt ist, entzündet sich das Schwede!, welches
sein Feuer nach unten sprüht und — da erhellt ein feuriger Blitzstrahl die
lange, dunkele Strecke, und ein gewaltiger Donner rollt durch das unter-
irdische Reich, und hinterdrein hört man die zersprengten Stcinmasscn
rauschen. Zwei andere später gebohrte Löcher rechts und links werfen die
Felsen der gespaltenen Mitte zu. Allmählich verzicht sich der fast greifbar-
dicke Dampf, und der Bergmann sieht unter den umhergestreuten Trümmern
strahlenden Auges die bloßgelcgten Schätze: Rothgülden und Wcißgülden,
Fahlcrz re. Doch nicht immer geht es so gut. Wurde nicht zuweilen die
kleinste Unvorsichtigkeit beim Herausziehen der Nadel dadurch bestraft, daß
der Tod die Felsen aufriß und unter Blitz und Donner den Bergmann
jäh begrub? Der Verunglückte wird dann mit bergmännischen Ehren bc-
250
graben. Vor dem Sarge erklingen die Klänge eines Chorals oder eines
Trauermarsches, und in einem langen Zuge geben alle Bergleute mit ihren
Beamten in Uniform dem hinweggcrissenen Kameraden mit inniger Theil-
nahme das Geleite. In einem ähnlichen Zuge, aber nicht trauernden
Herzens, ziehen sie am Bergfest (Fastnacht) vom Samson nach der Kirche,
die an diesem Tage ausschließlich von Bergleuten besucht wird.
„Hast du Schicht?" so begrüßen Gattin und Kinder den um Mittag
heimkehrenden Bergmann. Er kleidet sich um und genießt im frohen Kreise
der Seinen das sehr frugale Mahl. Aber der Hunger hat es für alle
gut gewürzt. Ein wenig Schlaf trennt des rührigen Mannes unterirdische
Arbeit von seiner oberirdischen Beschäftigung. Kaum glauben wir, daß er
die Augen geschlossen, so belehrt uns ein erschreckendes Dröhnen von dem
Dachkämmerlein, wo sich eine vollkommene Tischlerwerkstätte befindet, daß
sein Arm schon wieder rüstig schafft. Aber will er denn das alternde Haus
in den Boden schlagen? Es wird uns-fast bange. Bei jedem wuchtigen
Streiche klirren die Fensterscheiben, zittern die Balken. Getrost, die solid
gebauten Häuser im Harz müssen den Stößen des Wintersturmes trotzen,
drum wird es nicht fallen von dem Hiebe der Axt, welche einen Tannen-
klotz zertheilt, damit er Schindeln gebe zur Abwehr des winterlichen Schnees
und zum Schutze im schauernden Regenwetter. Siehe diese Thür, diesen
Fußboden, verrathen sie, daß eine Bergmannshand sie fertigte? Der Tisch,
die Commode von Tannenholz, die Stühle, das Sofa mit dem reinlich
schimmernden Kattunbezug, die Harken, die Stiele in Spaten und Hacken,
alles ist des Bergmanns Werk. Die Zimmer, ohne Tapete, sind von ihm
geweißt, die Mauern hat er ausgebessert. Für seine Schuhe besorgt er
selbst die Sohlen, und ab und an muß er angelegentlichst nach seiner Vogel-
hecke sehen. Hat der Lenz die Wege vom fußhohen Schnee befreit, so
zieht der Bergmann mit seiner Gattin, der treuen Gehülfin in allen für
sie möglichen Arbeiten, zum Wald, um Feuerung zu holen, die Kartoffel-
beete müssen bestellt werden, und die Wiesen heischen Reinigung und
Dünger. Im Sommer erklingt die Sense auf den blumigen Bergwiesen, und
im Herbste erfolgt die Kartoffelernte. Für alle diese Arbeit ist der Ge-
winn kärglich. — Aber muß nicht dies musterhafte Vorbild unermüdlichen
Fleißes geistig verkümmern? Besuchte der Bergmann doch nur bis zum
zehnten oder elften Jahre die Schule regelmäßig, mußte er doch schon im
zarten Kindesalter die Last der Arbeit als Pochknabe auf sich nehmen, um
die Erze in den stampfenden Pochwerken zu reinigen und für ihre Läute-
rung in der Hütte vorzubereiten. Bis zu seiner Eonfirmativn genoß er
nur am Sonnabend Unterricht. Es ist wahr, mit dem Schreiben will's
nicht recht, man sieht es seinen Schriftzügen wohl an, daß die Hand die
Felsen wuchtig zerschlug. Aber der angeborne, offene Sinn für alles, was
sich um ihn ereignet, die mannigfachen Beziehungen, in denen er zur Natur
und zu den Menschen steht, reifen sein Urtheil und bereichern seinen Geist.
Er kann den Fremden, welcher seine geliebten Berge durchzieht, oft an-
genehm unterhalten. Liest er nicht wegen mangelnder Zeit beim Essen
seine Zeitung? Belehrt ihn nicht eine gelegentliche Reise? Verliert er
sich doch bis nach Hannover, wo er verwundert fragt, wer denn eigentlich
hier arbeite. Kommen nicht die Vogelhändler von Amerika und Australien
251
zurück und bringen ihm Kunde vom weiten Weltmeer und von den Wun-
dern ferner Welttheile? Doch cs ist Abend geworden, die Herden kehren
heim mit lieblichem Geläute, und auf dem Tische dampft freundlich ein-
ladend eine große Schüssel Kartoffeln. Muntere Scherze haben das Mahl
gewürzt, da greift der Vater nach der selbst verfertigten Zither, stimmt sie
kunstgerecht und läßt das Saitenspiel erklingen, während die Mutter mit
dem Strickzeug an seiner Seite den tanzenden Kleinen mit glücklichem
Lächeln zuschaut. Kommt ein Better oder die Frau Nachbarin noch gerade
dazu, so wird auch wohl ein Lied aus alter Zeit gesungen, welches leise
verhallend in die abendliche Stille zieht. — „Doch morgen ist wieder ein
Tag, und der Vater muß früh auf", spricht die Mutter, „drum Kinder,
betet das Abendgebet und dann zur Ruhe!" So reiche uns denn deine
treue Hand, du Bergmann, und Gott erhalte dir deinen emsigen Fleiß,
deine Mäßigkeit und geduldige Ausdauer voll Freundlichkeit und frommen
Sinnes ans deinen schönen Bergen! Glück ans! Glück auf!
„Haus und Schule."
182. Bergmannslied.
1. Der ist der Herr der Erde,
Der ihre Tiefen mißt, .
Und jeglicher Beschwerde
In ihrem Schoß vergißt;
2. Der ihrer Felsenglieder
Geheimen Bau versteht
Und unverdrossen nieder
Zu ihrer Werkstatt geht.
3. Er ist mit ihr verbündet
Und inniglich vertraut
Und wird von ihr entzündet,
Als wär' sie seine Braut.
4. Er sieht ihr alle Tage
Mit neuer Liebe zu
Und scheut nicht Fleiß, noch Plage;
Sie läßt ihm keine Ruh'.
5. Die mächtigen Geschichten
Der längst verflosi'nen Zeit
Ist sie, ihm zu berichten,
Mit Freundlichkeit bereit.
6. Der Vorwelt heil'ge Lüfte
Umweh'» sein Angesicht,
Und in die Nacht der Klüfte
Strahlt ihm ein ew'ges Licht.
7. Er trifft auf allen Wegen
Ein wohlbekanntes Land,
Und gern kommt sic entgegen
Den Werken seiner Hand.
8. Ihm folgen die Gewässer
Hülfreich den Berg hinauf;
Und alle Felsenschlösser
Thun ihre Schätz' ihm auf.
9. Er führt des Goldes Ströme
In seines Königs Haus
Und schmückt die Diademe-
Mit edlen Steinen aus.
10. Zwar reicht er treu dem König
Den glückbegabten Arm;
Doch fragt er nach ihm wenig
Und bleibt mit Freuden arm.
11. Sie mögen sich erwürgen
Am Fuß um Gut und Geld:
Er bleibt auf den Gebirgen
Der frohe Herr der Welt.
Fr. v. Hardenberg. (Novalis.)
183. Die Köhler im Harze.
Die Köhlerei und das Köhlerleben muß einer, wenn er cs recht ge-
wohnt werden will, von Jugend auf betreiben. Gewöhnlich nimmt daher
der Vater Köhlcrmeister schon seinen kleinen Sohn als „Hulpcn" (Gehil-
fen) oder Knecht mit in den Wald, und dieser folgt ihm nachher in dem
Amte.
252
Weil die leichten Kohlen auf den schwierigen Waldwegen viel besser
zu verfahren sind als das schwere Brenn- und Bauholz, so fällt man
dieses lieber in der Nähe der Ortschaften und Landstraßen, während man
umgekehrt das Kohlenbrennen in den unzugänglichsten Bergverstecken vor-
nimmt. Wo man daher in einer ganz entlegenen Gegend auch sonst kein
anderes menschliches Etablissements mehr findet, da stößt man doch noch
auf eine Köhlerhütte.
Im Harze nennt man eine Köhlerbehausnng eine „Köthe", und die-
selbe ist gemeiniglich folgendermaßen beschaffen: Es ist ein kegelförmiges,
aus zusammengestellten Baumstämmen couftruierteë2) und mit großen
Rindenlappen oder Rasenstücken dicht bedecktes Hüttchen. Wie bei den In-
dianern Amerikas brennt in der Mitte desselben ein nie erlöschendes Feuer,
um das rund herum an den Wänden die mit Hcusäcken gepolsterten Bänke
oder Ruhebetten der Bewohner und nebenher am Eingänge ihre kleinen
Schränke und Vorrathskasten stehen. Dabei gilt die allgemeine Regel, daß
jedesmal die Bank zur rechten des Eingangs für den Herrn oder Meister,
die zur linken für seinen ersten und zweiten Knecht oder seine sogenannten
„Hulpen" bestimmt ist. Auf der Bank geradeaus im Hintergründe der
Höhle kauern die kleinen Köhlerbuben oder die sogenannten „Haijungen".
Ein paar Bretter sind vor der Hütte zusammengenagelt, znm Schutze
eines zottigen, aber treuen Hundes, dem die guten Leute in ihrer Abwesen-
heit die Bewachung ihrer Habseligkeiten anvertrauen, und etwas weiter
unten am Bergabhange haben sie ein paar breite Rindenlappcn an Stangen
befestigt und aufgespannt, die den Stall für die ihnen so nöthigen Pferde
vorstellen. Zuweilen, jedoch selten, meckert auch noch ein Zicklein daneben
im Grase umher.
Das Feuer innerhalb eines großen Meilers so zu leiten oder, wie die
Köhler sagen, „zu regieren", daß es alle Theile der Masse gleichmäßig
') Niederlassung. Ansiedelung. -) zusammengefügt, aufgebaut.
253
und eine nach der anderen durchhitze, daß es stets.bei einer glimmenden
und schwelenden Glut bleibt, daß es nirgends zu einem flammenden Brande
komme, ist eine Kunst,. die den armen Köhlermeistern nicht wenig Kopfzer-
brechen verursacht. Trotz aller Vorsicht ist das Feuer, dies Naturkind,
oft eigensinnig und arbeitet sich versteckte Kanäle und Luftlöcher durch den
dicken, feuchten Erd- und Rasenmantel, mit dem man den Meiler bedeckt
hatte, und namentlich, wenn der Sturm ihm die Hand reicht, ist die
Gefahr nicht gering, daß die Flammen herausbrechen und, statt das Holz
langsam, wie sie es sollten, in Kohlen zu verwandeln, es schnell zu Asche
verzehren. Ja mitunter, namentlich wenn das Werk nicht ganz regelrecht
und kunstgemäß gebaut war, und wenn man den entwickelten Dämpfen und
Gasen nicht rechtzeitig Luft gab, zeigt sich der Meiler, wie die Köhler sich
ausdrücken, „aufrührerisch". Es entstehen in ihm bei überhandnehmender
Glut plötzliche Erschütterungen, sogenannte „Bedungen". Die collossale4)
Klotzpyramide wird auf einmal lebendig. Der Meiler schüttelt sich wie
ein Pferd, explodierti) 2) mit Lärm und Gekrach, wirft seinen ganzen Erd-
mantel ab und lodert plötzlich in hellen Flammen empor. Zuweilen sind
bei solchen Gelegenheiten nicht nur auf des armen Köhlermeisters Kosten
seine Meiler niedergebrannt, sondern sogar auch auf des Königs Kosten
ganze Waldstreckeu in Brand gerathen.
Wie bei allen Operationen3) des Köhlers, der es mit einem so ver-
rätherischen und eigensinnigen Elemente zu thun hat, unendlich viel Vor-
sicht zu beachten ist, so ist dies denn namentlich auch beim Ausziehen und
Abkühlen der „garen" Kohley nöthig, die oft, wenn sie von dicken Wurzel-
stöcken herrühren, unglaublich lange die innere Glut bewahren. Zuweilen
bricht diese noch auf dem Wagen der Fuhrleute, wenn sie ein Wind auf
dem Heimwege überfiel, und derselbe einen versteckten Funken entdeckte und
erfaßte, mit solcher Wuth los, daß sie kaum Zeit haben, ihre Pferde aus-
zuspannen und sich mit ihnen zu retten.
Will man das Treiben und Leben der Köhler recht kennen lernen, so
muß man sie zur Nachtzeit besuchen. Da schimmern ihre Feuer durch den
dunklen Wald. Da sieht man sie im Tannendickicht auf ihren finsteren
Wegen mit großen Fackeln von einem Meiler zum andern eilen. Diese
Köhlerfackeln, die ihnen in ihren stockfinsteren Nächten beim Sturm und
Wind ganz unentbehrlich sind, bestehen aus zwei Klafter4) langen Tanuen-
bänmen, die sie am dicksten Ende in eine Menge langer Splitter zerspalten
haben, und die, je mehr der Wind hineinbläst, um desto Heller brennen.
Da hat man auch manchmal ein ganz prachtvolles Schauspiel, wenn mau
es gerade trifft, daß ein Meiler eben durch und durch gar geworden war,
und nun, wie es die Köhler nennen, „durcheimerte". Hierbei wird der
große Kegel dann, wenn alles richtig verlief, auf einmal in seinem ganzen
Umfange glühend, ohne zu flammen, und schimmert weit hinaus, als wenn
der aufgehende Blond in den Wald gefallen wäre. Es ist dies ein Zeichen,
daß die Arbeit vollendet sei, und die Ausräumung und Abkühlung beginnen
könne. Dabei jodeln dann die Köhlerbuben laut ins Thal hinaus.
i) colossal, ungeheuer, riesenmäßjg. 2) explodieren, mit einem Knall auseinander
platzen. 3) Operation, Verrichtung. 4) Klafter, das Maß der weit ausgespannten Arme.
254
Trotz aller schlaflosen Nächte, Sorgen und Ängste gilt doch das Köhler-
handwerk im Harze für eins der Gesundheit zuträglichsten Gewerbe. Die
Köhler wissen nichts von solchen schrecklichen Krankheiten, wie es die soge-
nannte „Hüttenkatze" der Blei- und Silberschmelzer oder die fürchterliche
„Bergsucht" der Bergwerksarbciter ist. Sogar das Verschlucken des Kohlen-
staubes soll den Köhlern nicht so schädlich sein, wie den Müllern und Stein-
arbeitern der Mehl- und Steinstaub.
Die Köhler werden oft alt genug bei ihrem Gewerbe. Aus ihren
schwarzen Gesichtern strahlt ein fröhlicher Blick, Augen wie Brillanteni) 2),
Zähne wie Elfenbein, was alles nur ein gesundes Blut geben kann.
Was die Begriffe von Reinlichkeit und ihrem Gegentheil betrifft, so
vermischen sich dieselben in einer finstern Köhlerhütte, wo eben alles
räucherig und rußig ist, in hohem Grade. Und bei der dort überall herr-
schenden dunklen Farbe findet man am Ende nichts mehr unappetitlich,
nimmt an nichts Anstoß, nicht einmal an ihrer geschwärzten Toilette3 *), die
sie selten, manche den ganzen Sommer nicht, vertauschen, und die nachher
aller Bleiche trotz bietet. Manchen bringen freilich dann und wann des
Sonnabends ihre Frauen oder Mütter frische Wäsche, und damit geputzt
kommen sie auch dann wohl einmal am Sonntag ins Dorf herunter.
Doch ist dies selten, und da die Meiler sonntags wie alltags fortschwelcn,
so können auch meistens die Knechte nie entbehrt werden. An ihren wolle-
nen Socken gewahrt man es gleichfalls, daß Seife in einer Köhlerhütte
ein rarer Artikel^) ist. Auch diese behalten sie meistens Tag und Nacht
an, und wenn sie sie einmal ausziehen und bei Seite stellen, so bleiben
solche wollene Köhlersocken wie lederne Jagdstiefel meistens steif im Winkel
stehen.
' Der Köhler lebt gleich dem Schornsteinfeger im Ruße wie in seinem
Elemente 5), und sein schwarzes Angesicht betrachtet er als ein ihn ehren-
des Zeichen seines Geschäfts und seines Fleißes. Im Hai waschen sie sich
dem Herkommen gemäß nie. Zuweilen thut es der Regen. Doch zeichnet
er lange Tropfrinnen auf ihre Wangen. Auch wenn sie vor ihren Obern
erscheinen, haben die Köhler es dem Herkommen nach nicht nöthig, sich viel
zu putzen, wie dies von den Berg- und Hüttenleuten erwartet wird.
Im Herbste, um Martini*-) oder acht Tage nach Martini, wenn die
Schneegestöber durch den Harz zu ziehen anfangen, hört das Kohlenbrennen
auf, aber nicht die Arbeit des Köhlermeisters. Bald nachher beginnen
schon wieder die Geschäfte für den Feldzug des folgenden Frühlings. ■
Die ihnen nöthigen Pferde kaufen die Köhlermeister von den Pferde-
händlern der am Rande des Harzes liegenden Marktplätze zu billigen
Preisen. Es sind meistens alte, schon etwas abgenutzte Gäule. Viele von
diesen armen Thieren zerbrechen in den Klippen des Gebirges ihre steifen
Gliedmaßen und gehen zu Grunde. Kommen sie über die Gefahren glück-
lich hinweg, so wird in der Berglust und auf den frischen Waldwiesen
i) Brillant, ein geschliffener Edelstein, besonders Diamant. 2) Toilette, eig. Leinen-
tuch, dann auch der Anzug. 3) Toilette machen, sich ankleiden, putzen. *) raver Artikel,
seltener Handelsgegenstand. 5) Element, eig. Urstosf, Grundbestandtheil; hier Lebensstoff.
e) Martinstag, der Gedächtnißtag des heiligen Martin (11. Novbr.).
255
manches kranke Geschöpf wieder gesund und jung und ist dann im Herbste
doppelt so viel werth als im Frühjahre.
Bei großen Naturereignissen, z. B. bei einem Gewitter,, haben die
Köhler noch manche alte fromme Gewohnheit bewahrt. Bei Donner und
Blitzen, so oft sie auch kommen, lüftet in einer Köhlcrhütte jeder Anwesende
still und ganz mechanisch seine Mütze, als wollte er sich bedanken, daß
die Entladung ihn verschont habe.
Zuweilen, wenn sie recht alt dabei werden, gewinnen die Köhler für
ihr eigenthümliches Leben und Treiben, wie die Sennhirten der Alpen,
eine stille und so tief wurzelnde Vorliebe, daß sie selbst, nachdem sie un-
tauglich dazu wurden, kaum aus dem Kohlhai wegzubringen sind. Es ist
vorgekommen, daß ein Köhlermeister, wenn er wegen seiner Gebrechlichkeit
diesem schwierigen Amte nicht mehr vorstehen konnte und abdanken mußte,
sich als Knecht oder „Hulpe" bei einem andern Meister für einen geringen
Lohn, für den er ihm einige kleine Dienste leistete, verdingte, um nur wie-
der „im Hai" und im Walde sein zu können. g. ®. Kohl.
184. Der Edelhirsch.
Eine der stattlichsten und edelsten Gestalten ist der Edelhirsch. Un-
geachtet seiner großen Schlankheit ist er doch kräftig und schön gebaut, und
dabei ist seine Haltung eine so edle und stolze, daß er seinen Namen mit
vollstem Rechte führt. Seine Leibeslänge beträgt etwas über 7 Fuß, die
des Schwanzes fast einen halben Fuß, die Höhe am Widerrist 4,/2 Fuß
und die am Kreuz ein Paar Zoll weniger. Das Thier ist bedeutend
kleiner und gewöhnlich auch anders gefärbt. Hinsichtlich der Größe bleibt
unser Edelhirsch nur hinter dem Wapiti und dem persischen Hirsche zurück;
die übrigen bekannten Arten übertrifft er.
Er hat einen gestreckten, in den Weichen eingezogenen Leib mit breiter
Brust und stark hervortretenden Schultern, einen geraden und flachen Rücken,
welcher am Widerrist etwas erhaben und am Kreuz vorstehend gerundet
ist, einen langen, schlanken, seitlich zusammengedrückten Hals und einen
langen, am Hinterhaupt hohen und breiten, nach vorn zu stark verschmäler-
ten Kopf; die Stirn ist flach, zwischen den Augen ausgehöhlt, der Nasen-
rücken gerade; die Lippen sind nicht überhangend, die Augen mittelgroß
und lebhaft, ihre Sterne länglichrund. Die Thränengrnben stehen schräg
abwärts gegen den Mundwinkel zu, sind ziemlich groß und bilden eine
schmale, längliche Einbuchtung, an deren inneren Wänden eine fettige, brei-
artige Masse abgesondert wird, welche das Thier später durch Reiben an
den Bäumen auspreßt. Das Geweih des Hirsches sitzt auf einem kurzen
Rosenstocke auf und ist einfach verästelt, vielsprossig und aufrechtstehend.
Von der Wurzel an beugt sich die Stange in einem ziemlich starken Bogen
der Stirn gleich gerichtet nach rückwärts und auswärts; oben krümmt sie sich
wieder in sanftem Bogen nach auswärts und kehrt dann ihre Spitzen etwas
gegen einander. Unmittelbar über der Nase entspringt auf der Vorderseite
der Stange die Augensprosse, welche sich nach vor- und aufwärts richtet;
>) mechanisch, maschinenmäßig.
256
dicht über derselben tritt die kaum minder lange und dicke Eissprosse her-
vor; in der Mitte der Stange wächst die Mittelsprosse heraus und am
äußeren Ende bildet sich die Krone, welche ihre Zacken ebenfalls nach vorn
ausdehnt, aber je nach dem Alter oder der Eigenthümlichkeit des Hirsches
mannigfaltigem Wechsel unterworfen ist. Die Stange ist überall rund und
mit zahlreichen, theils geraden, theils geschlängelten, Längsfurchen durch-
zogen, zwischen denen sich in der Nähe der Wurzel längliche oder rundliche,
unregelmäßige Knoten oder Perlen bilden. Die Spitzen der Enden sind
glatt. Mittelhohe schlanke, aber doch kräftige Beine tragen den Rumpf
und gerade, spitze, schmale und schlanke Hufe umschließen die Zehen. Die
Afterklauen sind länglichrund, an der Spitze zu verschmälert. Ein feines
Woll- und ein grobes Grannenhaar deckt den Leib und liegt ziemlich glatt
und dicht an. Im Sommer wird es dünner und kürzer, im Winter stärker
und länger; am Bordertheil verlängert es sich oft bedeutend. Die Ober-
lippe trägt drei Reihen dünner, langer Borsten; ähnliche Haargebilde stehen
auch über den Augen. Nach Jahreszeit, Geschlecht und Alter ändert die
Färbung des Rothwildes. Im Winter sind bte Grannen mehr graubraun,
im Sommer mehr röthlichbraun; das Wollhaar ist aschgrau mit bräun-
licher Spitze. Nur die Kälber zeigen in den ersten Monaten weiße Flecken
auf der rothbraunen Grundfarbe. Mancherlei Farbenänderungen kommen
vor, indem die Grundfarben manchmal ins Schwarzbraune, manchmal ins
257
Fahlgelbe übergehen. Hirsche, welche weiß, auf faxbigem Grunde gefleckt,
oder vollkommen weiß sind, gelten als eine sehr seltene Erscheinung
Da der Edelhirsch des Jägers liebstes Wild ist, wird es niemand
Wunder nehmen, daß die Waidmannssprache nicht nur für ihn, sondern auch
für alle seine Lcibestheile und für jede seiner Bewegungen, ja für alle Ver-
hältnisse zwischen ihm und den Menschen eigene Worte erfunden hat. In
früheren Zeiten wurde deren Nichtkenntnis oder Mißachtung mit einer sehr
eigenthümlichen Strafe belegt, und heute noch zieht solche Nichtachtung
jedem Unkundigen ein Lächeln des echten Jägers zu. Der männliche Hirsch
heißt Hirsch oder Edelhirsch, der weibliche Thier, das Junge Kalb, mit
Rücksicht des Geschlechtes aber Hirsch- oder Wildkalb. Das Hirschkalb
wird, nachdem es das erste Jahr vollendet hat, Spießer genannt, mit dem
zweiten Jahr erhält es den Namen Gabelhirsch oder Gabler, im dritten
Jahr Sechsender u. s. f., je nach der Zahl der Enden oder Sprossen des
Geweihes. Wenn dieses ganz regelmäßig gebildet erscheint, ist der. Hirsch
ein gerader Ender, wenn eine Stange nicht genau wie die andere ist, ein
ungerader. Erst wenn der Hirsch k2 Enden hat und 300 Pfund wiegt,
wird er ein jagdbarer oder guter Hirsch genannt. Ein sehr alter und
starker, guter Hirsch heißt Kapitalhirsch; er trägt ein gutes, braves, präch-
tiges Gewicht oder Geweih u. a. m.
Noch gegenwärtig bewohnt das Edelwild fast ganz Europa mit Aus-
nahme des höchsten Nordens, sodann einen großen Theil Asiens. In
Europa reicht seine Nordgrenzc etwa bis zum 65., in Asien bis zum
55. Grad nördlicher Breite; nach Süden hin bilden der Kaukasus und die
Gebirge der Mandschurei die Grenzen. In allen bevölkerten Ländern hat
es sehr abgenommen oder ist gänzlich ausgerottet worden, so in der Schweiz
und einem großen Theile von Deutschland, wo es sich bloß noch in den
mittelhohcn und waldreichen Gebirgen vorfindet. Am häufigsten ist es
noch in Polen, Galizien, Böhmen, Mähren, Ungarn, Siebenbürgen,
Kärnthen, Steiermark und Tyrol; viel häufiger aber als an allen diesen
Orten findet es sich in Asien, namentlich im Kaukasus. Es liebt mehr
gebirgige als ebene Gegenden und vor allem große, zusammenhängende
Waldstrecken, am liebsten Laubhölzer. Hier schlägt es sich zu größeren
oder kleineren Trupps zusammen, welche nach dem Alter und Geschlecht ge-
sondert sind: die alten Thiere, die Kälber, Spießer, Gabler und Schmal-
thierc bleiben gewöhnlich vereinigt; die älteren Hirsche bilden kleine Trupps
für sich, und die starken oder Kapitalhirsche leben einzeln bis zur Brunst-
zeit, wo sie sich mit den übrigen Trupps vereinigen. Im allgemeinen hält
das Edelwild an seinem Stand treulich fest, so lauge cs ungestört leben
kann. Den Tag über liegt das Rothwild in seinem Bett verborgen; gegen
Abend zieht cs auf Äsung aus, im Sommer früher als im Winter.
Alle Bewegungen des Edelwildes sind leicht, zierlich und anstandsvoll;
namentlich der Hirsch zeichnet sich durch seine edle Haltung aus. Der
gewöhnliche Gang fördert hinlänglich; im Trollen bewegt sich das Wild
sehr schnell und im Lauf mit fast unglaublicher Geschwindigkeit. Beim
Trollen streckt es den Hals weit nach vorn, im Galopp legt es ihn mehr
nach rückwärts. Ungeheuere Sätze werden mit spielender Leichtigkeit aus-
geführt, Hindernisse aller Art ohne Bedenken überwunden, im Nothfall
17
258
breite Ströme, ja selbst — in Norwegen oft genug — Meeresarme ohne
Besinnen überschwommen. Den Jäger fesselt jede Bewegung des Thieres,
jedes Zeichen, welches es bei der Spur zurückläßt, oder welches überhaupt
von seinem Vorhandensein Kunde gibt. Schon seit alten Zeiten sind alle
Merkmale, welche den Hirsch bekunden, genau beobachtet worden. Der ge-
übte Jäger lernt nach kurzer Prüfung mit unfehlbarer Sicherheit aus der
bloßen Fährte, ob sie von einem Hirsch oder von einem Thier herrührt; er
schätzt nach ihr ziemlich genau das Alter des Hirsches. Die Anzeichen werden
gerechte genannt, wenn sie untrüglich sind, und der Jäger spricht nach ihnen
den Hirsch an. Die Alten kannten 72 solcher Zeichen; Dietrich ans dem
Winckell glaubt, daß man diese auf 27 herabsetzen kann. Für den Unge-
übten dürfte es schwer sein, selbst wenn er die Schritte des Hirsches und
des alten Thieres neben einander gesehen hat, sie ein paar Schritte davon
wieder zu unterscheiden.
Unter den Sinnen des Edelwildes sind Gehör, Geruch und Gesicht
vorzüglich ausgebildet, wie jeder Jäger oft genug zu seinem Ärger er-
fahren muß. Es wird allgemein behauptet, daß das Wild auch in Ent-
fernungen von vier- bis sechshundert Schritt einen Menschen wittern kann.
Auch das Gehör ist außerordentlich scharf; ihm entgeht nicht das geringste
Geräusch, welches im Walde laut wird. Manche Töne scheinen einen höchst
angenehmen Eindruck auf das Rothwild zu machen: so hat man beobachtet,
daß es sich durch die Klänge des Waldhorns, der Schalmei und der Flöte
oft herbeilocken oder wenigstens zum Stillstand bringen läßt.
Wahrscheinlich ist das Edelwild deshalb so furchtsam, weil es cr-
fahrnngsmäßig den Menschen als seinen schlimmsten Feind kennt und dessen
Furchtbarkeit würdigen gelernt hat. . An Orten, wo es sich des Schutzes
vollkommen bewußt ist, wird es sehr zutraulich. Brehm.
- 185. Der weiße Hirsch.
Es giengen drei Jäger wohl auf die Birsch,
Sie wollten erjagen den weißen Hirsch.
Sie legten sich unter den Tauueubanm,
Da hatten die drei einen seltsamen Traum.
Der erste.
Mir hat geträumt, ich klopf auf den Busch,
Da rauschte der Hirsch heraus, husch husch!
Der zweite.
Und als er sprang mit der Hunde Gekläff,
Da bräunt' ich ihm auf das Fell, piff paff!
Der dritte.
Und als ich den Hirsch aus der Erde sah,
Da stieß ich lustig ins Horn, trara!
So lagen sie da und sprachen, die drei,
Da rannte der weiße Hirsch vorbei.
259
Und eh die drei Jäger ihn recht gesehn.
So war er davon über Tiefen und Höhn.
Husch husch! piff paff! trara! s?. u^ianb.
186. Tas deutsche Tiefland.
Der größte Theil Norddeutschlands gehört dem Tieflande an, das sich
von den Karpathen, den Sudeten, dem Lausitzer, Erz- und Fichtelgebirge,
dem Thüringer Walde, dem Harze, den Weser- und den rheinisch-westfä-
lischen Gebirgen nach der Ost- und Nordsee hin absenkt und große moorige,
sandige, hin und wieder mit ausgedehnten, fruchtbaren Strichen (Weichsel-
delta in Preußen, Wcizenackcr in Pommern, Oderbruch in Brandenburg,
Goldene Aue, Saalthal, Magdeburger Börde, Wische in der Provinz Sachsen,
Rosen- und Elsteraue im Königreich Sachsen, Socster und Warburger Börde
in Westfalen rc.) durchzogene Ebenen bildet, die vor undenklicher Zeit Meeres-
boden gewesen, jetzt aber durch außerordentlichen Fleiß der Bewohner an-
gebaut und cultivirt sind, die aber, namentlich in den preußischen Provinzen
Brandenburg und Pommern, unter einem glühenden Himmel beinahe afri-
kanischen und asiatischen Wüsten gleichen würden. Dieses ganze Flachland,
zwischen den Vorkarpathen und der Ostsee über 60, zwischen dem Lausitzer-
Gebirge und der Ostsee 40, zwischen dem Harze und der Nordsee 25 und
zwischen den letzten Ausläufern des Teutoburger Waldes und der ostfriesischen
Küste nur 20 Meilen breit, ist ein aufgeschwemmter Boden, und noch heute
werden Produkte der See, wie Polhpenkalk von Sternkorallen und Madrc-
poren, viele Meilen weit von der jetzigen Küste ausgegraben.
In diesem Flachlande finden sich auch, wie am Rande einiger ost-
preußischen Seen, die erratischen Blöcke, Fremdlinge auf diesem Gebiete.
Es sind dies größere oder kleinere Steine von Granit, Gneuß oder anderen
krystallinischen Felsarten, die ihrer Beschaffenheit nach nicht von den nächst-
gelegenen deutschen Gebirgen stammen, sondern wahrscheinlich auf schwim-
menden Eisschollen aus Skandinavien und Finnland herüber gekommen sind
und zwischen der Größe einer Linse oder Erbse und Stücken von 6,25—
7,18 Meter im Durchmesser wechseln. So ist z. B. die herrliche Gnenß-
schale vor der Freitreppe des alten Museums zu Berlin, gegenüber dem
Königlichen Schlosse, die in ihrer Größe noch nicht ihres Gleichen hat, 6,88
Meter im Durchmesser mißt und 1500 Ctr. wiegt, im Jahre 1827 von
Cantian's Meisterhand aus einem solchen erratischen Blocke gearbeitet
worden, der unter dem Namen „Markgrafenstein" einst in den Rauen'schen
Bergen bei Fürstenwalde lag. Auch der „Schwedenstein" unter dem
gußeisernen Denkmale auf dem Schlachtfelde von Lützen, zum Andenken an
den Tod Gustav Adolf's aufgerichtet, ist aus der Heimat desselben, aus
Skandinavien, herübergeschwemmt worden. Bei Westerkappeln in der Graf-
schaft Tecklenburg dehnt sich das Haler Feld aus, eine große Heideflächc,
in alter Zeit der Schauplatz vieler Kämpfe, wo auch Heinrich der Löwe
im Jahre 1180 den Grasen Simon II. von Tecklenburg, den Kriegsoberstcn
des Erzbischofs von Köln, schlug. Hier lagern in einer Senkung die „Slop-
steine", gewaltige Granitblöcke, 54 an der Zahl, unter denen nach der
Sage ein heidnischer Held in einem goldenen Sarge ruhen soll. Sie cr-
17*
glühen, wie es heißt, in dunkeler Mitternacht, um dem heraufsteigenden
Fürsten auf der Heide zu leuchten.
In Mecklenburg sind die Gegenden von Sternberg und Marnitz reich
an erratischen Blöcken. Außerdem lassen sich dort mehrere, fast gar nicht
unterbrochene, in der Richtung von Nordwest nach Südost laufende Striche
verfolgen, die dieselben in großer Menge enthalten. Ein solcher Streifen
beginnt z. B. bei Stcinbek unweit Goldberg und geht über Alt-Schwerin
zwischen Fürstenberg und Tannenwalde hindurch bis in die Uckermark hinein;
ein zweiter Strich beginnt in der Gegend von Neubukow, läuft nach Radegast,
Mikenhagen, Upal, Rothspalk, geht dann von der Sndspitze des Malchiner
Sees nach Hagenow, Hohenzieritz, Kamin, Feldberg und Neuhof bis wieder
in die Uckermark. Ein dritter Streifen beginnt bei Friedland und streicht
über Neuensund bis nach Pasewalk und Prenzlau. Zwei ansehnliche Blöcke,
von einigen tausend Kubikfuß Inhalt, liegen in der Nähe von Neubranden-
burg, der eine bei der Krappmühle, der andere bei der Papiermühle daselbst.
Beide werden aber von einem dritten noch an Größe weit übertroffen, der
sich ebenfalls im Tollenscthale und zwar am Klosterberge bei Treptow
befindet. Zwei Riesen, ein Mecklenburger und ein Pommer, so berichtet
die Sage, haben einst nach den Kirchtürmen von Neubraudenburg und
Treptow geworfen; jener nahm den größeren Block und erreichte mit dem-
selben beinahe sein Ziel, während dieser den kleineren eine halbe Meile über
Neubrandenburg hinaus bis nach der genannten Papiermühle schleuderte.
In früheren Jahrhunderten, da man in diesen Gegenden noch nicht
das Ziegelbrcnnen kannte oder betrieb, waren solche Blöcke fur die Bauten
in der norddeutschen Tiefebene von außerordentlicher Wichtigkeit. Zwischen
î)êr unteren Elbe und Weser sind die ältesten Kirchen, z. B. zu Dorum
und zu Mulsum im Lande Wursten und die zu Sinstorf bei Harburg,
aus ihnen erbaut. Auch wurden sic in der vorgeschichtlichen Zeit zur Er-
richtung der Hünengräber benutzt, die schon in Urkunden aus dem l2.
und 13. Jahrhundert unter den Namen „Gräber der Alten" oder „Hügel
der Heiden" vorkommen und noch heute vom Volke „Hünenbettcn" „Hünen-
berge", „Hünenstätten", Hünentritte" rc. genannt werden. Schon sind ihrer
viele zertrümmert und ihres Inhaltes an menschlichen Gebeinen, an Ge-
schirren, Hausgeräth, Waffen und Schmuck entleert worden, um stumme
Kunde von einer längst vergangenen Zeit zu geben. Fr. K-ner.
187. Wie der alte Schmied seinen Sohn in die Fremde schickt.
„De Hauptsak is, lihr wat, Jehann,
Und kumm taurllg as Jhrenmann.
Makt't Handwark di ok buten smart,
Holl rein de Hand und rein bat Hart.
Ist Mark tau En'n und dod bat Für,
Denn mal di sauber, glatt un schir;
Dat is ok bin'n kein rendlich Mann,
De nich sauber geiht, wenn heit hem-
men kann.
Drei Johr, dat is ne lange Tid,
Wenn ein sei vör sik liggen saht;
Drei Johr, dat is ne körte Spann,
Wenn ein sei süht von achter an.
Sei sünd tau lang, üm f tau verlircn,
Sei sünd tau kort, üm uttaulihren.
Reis nich ümher as blinne Heß;
Un sinnst du wat^ denn kik irst tau:
Wat up de Strat ligt, up den Meß,
Dat nimm nich up, dat lat in Rauh.
Gedanken gläuh in Helle Eß,
261
Doch sünd sei rein von Slak und Slir,
Denn fat din Work mit Tangen an, —
Holl miß, holl wiß, minSähnJehann! —
Und smäd bin Werk in frischen Für.
Un hest du dörch die Welt di slagen,
lind hett dit buten nich gefolln,
Denn kannst bi mi mal Umschau holln
Und kannst na Arbeit wedder fragen.
Süh so, min Sahn! Un nu adjü!
Un denk an Muttern und an mi!
Un nu min Sahn, herun den Haut!"
Un legt de Hand em up den Kopp:
„Noch büst du gaud, nu bliw ok gaud!"
Un langt den Hamcr ut de Eck:
„So, nu man tau! nu,Jung, nutreck!" —
Jehann un Mutter gähn herut. —
„Treck düller, Jung!" fegt Meister Snut,
Un schweißt und schmädt, de Funken
flogen
Em int Gesicht und in de Ogen,
Dat hei sei, wcnnt de Jung nich süht,
Sik ut de Ogen wischen müßt.
„Na", fegt hei, „orndtlich nahrschenist,
Wo dull un dämlich spritzt dat hüt."
Fritz Reuter.
188. Ter Rattenfänger.
Wohl kam zur guten Stunde
Der Rattenfänger hier,
Ganz Hameln war im Grunde
Ein Nest von Ratten schier!
Die naschten und die nagten,
Die bissen und die plagten
Allwege Mensch und Thier.
Was zog er aus dem Ranzen?
Ein Pseiflein wunderfein.
Er sprach: „Sie müssen tanzen
Mir alle, groß und klein,
Nicht eine soll verbleiben,
Mein Pfiff soll euch vertreiben
Die ganze Rattenpein."
Es war ein Pfiff, ein heller,
Der lockte gleich von Haus,
Aus Kammer, Küch' und Keller
Die Ratten all' hinaus;
Die tief im Dunkel hausend,
Sie sammeln sich zu tausend,
Als gieng's zu fettem Schmaus.
Rasch nimmt die Lust ein Ende,
Er pfeift, und jede muß;
Er pfeift sie ganz behende
Durchs Thor bis an den Fluß;
Am Wasier pfeifend steht er,
Ins Wasier pfeifend geht er,
Sie folgen mit Verdruß.
So manche dicke Ratte ,
Aß heut' ihr letztes Brot,
So manche Nimmersatte
Trank heute sich zu Tod!
Die argen Raubgcscllen
Begrub all' in den Wellen
Des Zaubrers Machtgebot.
Die Ratten sind verpfiffen,
Nun frisch den güldnen Lohn,
Zum Säckel rasch gegriffen!
Oh weh! Da sprach mit Hohn
Der Rath: „Mit Zaubcrtücken
Soll uns kein Schelm berücken;
Geh' nur, du hast ihn schon!"
Er gieng, doch kam er wieder,
Schön war die Sommerzeit.
Froh sah der Himmel nieder,
Still war es weit und breit;
Vom Gotteshause mächtig
Klang Orgelton, andächtig
Saß dort die Christenheit.
Im Jägerkleide kam er,
Sein Hut war feuerroth;
Sein Pfeiflein wieder nahm er,
Sein Antlitz böse droht.
Es war so voller Grauen,
So furchtbar anzuschauen,
Als käm der grimme Tod.
Er pfeift, die Kinder springen
Aus Hof und Haus hervckr;
Es war ein seltsam Klingen,
Sie hörten's nie zuvor.
Die Knaben und die Mädchen,
Er führt sie durch das Städtchen,
Er führt sie durch das Thor.
262
Sie gehn, tief in die Spalten
Geht pfeifend er voran.
Es sah, wie sie dort standen,
Es sah, wie sie verschwanden,
Nur eine Magd mit an.
Am Koppelberg sie halten,
Der Berg ist aufgethan;
Leer standen Haus und Kammer —
O du betrübte Zeit!
Es irrt der Mütter Jammer
Wehklagend weit und breit. —
Weh euch, die's also wollten!
Untreu ward schwer vergolten
Mit cw'gem Herzeleid!
H. Stette.
189. Die Elbe.
Wenn man von dem Dorfe Schreiberhan her den Kamm des Riescn-
gebirges besteigt, so kommt man nach einem ziemlich anstrengenden Marsche
auf eine weit ausgedehnte, hier und da etwas sumpfige, nicht überreich mit
Blumen geschmückte Wiese, die den Namen Elbwiese führt und 1300 Meter
hoch über dem Meeresspiegel liegt. Aus einigen der größern, sumpfigen
Stellen fließt das Wasser nach den etwas tiefer gelegenen Theilen ab und
bildet hier und da sogenannte Brunnen, das heißt Vertiefungen mit klarem,
steinigem Grunde von dem Umfange eines großen Waschfasses. Diese un-
scheinbaren Brunnen sind die eigentlichen Quellen der Elbe; denn von ihnen
aus bilden sich kleine, 1j3 bis 2/3 Meter breite, kaum einen halben Schuh
tiefe Bächclchen, die nach dem Südfuße des Gebirges hineilen nnd nach
ihrer Vereinigung den Namen Elbe erhalten. Hat man ihr auf dem Wege
nach der Ricsenkoppe hin eine mäßige Strecke weit das Geleit gegeben, so
stürzt sie sich in wildester Eile über jähe Felsen hinab in den nach ihr
benannten Elbgrund, ein schönes, von hohen, steilen Gebirgswänden um-
grenztes Thal. Raschen Laufes erreicht sie bei Hohenelbe die Hügelland-
schaft, tritt bei Josephstadt in die böhmischen Thalebenen, wendet sich bei
Pardubitz plötzlich westlich, geht dann nordwestlich, von Leitmeritz an nördlich
und drängt sich bei Lowositz durch eine Felsspalte, um aus dem großen
Gebirgskessel Böhmens in das Königreich Sachsen zu gelangen. Hier durch-
bricht sie zwischen Tetschen und Pirna die merkwürdigen Quadcrstcingebirgc
der schönen sächsischen Schweiz, bewässert hierauf den herrlichen Thalgrund,
in dem Dresden liegt, und zwängt sich zum dritten Male bei Meißen durch
Granitbergc hindurch, um endlich in die norddeutsche Tiefebene zu gelangen.
Dort nimmt sie außer andern Gewässern links die Mulde und Saale, rechts
die Havel auf und ergießt sich, nachdem sic einen Lauf von 171 Meilen
zurückgelegt hak, unterhalb Hamburg in einer Breite von 2 Meilen in die
Nordsee. Wer die Elbe hier mit hunderten von großen Dainpf- nnd Segel-
schiffen bedeckt sieht, welche bestimmt sind, den Verkehr zwischen Deutschland,
England, dem fernen Amerika und den übrigen Erdtheilen zu vermitteln,
und sich dabei der unscheinbaren Quellen dieses Flusses erinnert, der wird
lebhaft von dem Gedanken erfüllt, daß das Große recht oft einen gar kleinen
Anfang Nimmt. A. «üben.
190. Das deutsche Landhuhn.
Überall seit Menschengedenken ist das Huhn auf den Höfen
deutscher Landleute heimisch. In der Farbe ist es sehr verschieden;
263
auf dem Kopfe trägt es einen grossen, verschieden gestalteten
Kamm; die Füsse sind federlos.
Es gibt Hähne und Hennen dieser Gattung, welche an Schön-
heit den schönsten Ausländern gleichkommen, und da die schönen
in der Nutzung eben so gut sind, wie die hässlichen, so kann sich
der Landmann leicht das Vergnügen machen, seinen Hof mit schönen
Hühnern zu zieren.
Wo die Hühner sich ihre Nahrung auf Düngerstätten und im
Freien grösstenteils selbst suchen müssen, da wird jedenfalls unser
gemeines Landhuhn und das Thüringer Bausbäckchen den grössten
Nutzen gewähren, da sie mit grosser Fruchtbarkeit den grössten
Eifer, selbst nach Nahrung zu suchen, verbinden.
Die Henne ist in sechs, der Hahn in neun Monaten ziemlich
ausgewachsen. In Bezug auf das Eierlegen gilt im Ganzen als Begel,
dass unsere Landhennen am besten legen, wenn sie zwei- bis fünf-
jährig sind; viele aber nehmen bis zum achten bis zehnten Jahre
kaum an Güte ab. Sie sollen übrigens 18 bis 20 Jahre alt werden
können. So lange eine Henne gut legt, liefert sie gewöhnlich zwei
Tage hinter einander ein Ei und ruht dann am dritten. Die beste
Legezeit ist von Anfang März bis Mitte August.
Eine der hübschesten Erscheinungen unter allen Vögeln ist ein
recht schöner, stolzer und kühner Hahn. Hoch trägt er sein ge-
kröntes Haupt, nach allen Seiten spähen seine feurigen Augen, un-
vermuthet überrascht ihn keine Gefahr, und jeder möchte er Trotz
bieten. Mit lautem Krähen verkündet er den anbrechenden Morgen
und weckt den fleissigen Landmann zu neuer Arbeit, Ist er auf
eine Mauer oder ein Dach geflogen, so schlägt er die Flügel kräftig
zusammen und kräht und scheint sagen zu wollen: „Hier bin ich
Herr; wer wagt’s mit mir?“ Ist er von einem Menschen gejagt
worden, oder hat er sonst eine Gefahr glücklich bestanden, so kräht
er wieder aus Leibeskräften und verhöhnt wenigstens den Feind,
dem er nicht schaden kann. Am schönsten entfaltet er seine ganze
Pracht, wenn er früh Morgens, der langen Buhe müde, das Hühner-
haus verlässt und vor demselben die nachfolgenden Hühner freudig
begrüsst; aber noch schöner und stolzer erscheint er in dem Augen-
blicke, wo das Geschrei eines fremden Hahnes seine Ohren trifft.
Er horcht, senkt die Flügel, richtet sich kühn empor, schlägt mit
den Flügeln und fordert mit lautem Krähen zum Kampfe. Erblickt
er den Feind, so rückt er ihm, sei er gross oder klein, muthig ent-
gegen oder stürzt in vollem Laufe auf ihn zu. Jetzt treffen sie
zusammen, die Halsfedern sind aufgerichtet und bilden einen Schild,
die Augen sprühen Feuer, und jeder sucht den andern niederzu-
schmettern, indem er mit aller Macht gegen ihn springt. Wer wird
Sieger sein? Beide scheinen an Muth, an Kräften gleich. Jeder
sucht ein höheres Plätzchen zu gewinnen, um von dort aus mit
grösserer Gewalt fechten zu können. Lange währt die Schlacht,
aber immer kann sie nicht dauern. Die Kräfte nehmen ab; es tritt
eine kurze Buhe ein; mit gesenktem Haupte zu Vertheidigung und
264
Angriff jederzeit bereit; mit dem Schnabel Erdkrümchen aufpickend,
als wollten sie den Feind dadurch verhöhnen, dass sie mitten im
Kampfe sich’s wohl schmecken lassen, stehen sie einander gegenüber.
Jetzt kräht der eine mit schwankender Stimme, denn er ist noch
ausser Athem, und augenblicklich stürzt der andere wieder auf ihn
los. Mit erneuter Wuth treffen sie zusammen, sie kämpfen wie
früher, aber endlich sind Füsse und Flügel vor Mattigkeit zum
Kampfe nicht mehr tauglich; da greifen sie zu der letzten und
furchtbarsten Waffe. Sie springen nicht mehr, aber hageldicht
fallen die Schnabelhiebe nieder, und bald triefen die Köpfe vom
Blute. Endlich verlässt den Feind der Muth, er wankt, er weicht
zurück, jetzt kriegt er noch einen tüchtigen Blieb, und die heisse
Schlacht ist entschieden.
Wie die Menschen, sind auch die Hähne an Muth sehr ver-
schieden. Es gibt feige, aber auch solche, die nicht nachgeben, so
lange sie sich noch regen können. So hatte ich vor einigen Jahren
auf dem einen Hofe einen ganz weissen, auf dem andern einen gel-
ben Hahn aufgezogen, und beide sollten, da sie gross waren, ihre
Hennen ins Freie führen. ' Gleich am ersten Tage begann ein ent-
setzlicher Kampf, welchen ich selbst durch meine Dazwischenkunft
beenden musste. Am andern Tage ward er mit erhöhter Heftigkeit
erneuert, und so täglich vier Wochen lang, bis sie sich das Horn
der Sporen so glatt weggeschlagen hatten, dass auch gar nichts
mehr davon übrig war, und der blosse Knochen dastand. Sie wären
beide zu Grunde gegangen, wenn ich mich nicht entschlossen hätte,
sie gar nicht mehr hinauszulassen.
Auch in der Art des Kampfes sind die Hähne verschieden; die
meisten bedienen sich erst zuletzt des Schnabels, aber manche fangen
gleich damit an, und ich habe einen gekannt, der gleich auf seinen
Gegner losfuhr, ihn mit dem Schnabel fest packte und womöglich
nicht los liess, bis jener die Segel strich. So lange die Hähne nur
mit Flügeln und Füssen kämpfen, thun sie sich sehr selten Schaden,
obgleich es ausnahmsweise auch vorkommt, dass einem mit dem
Sporn das Auge ausgestochen wird; sobald sie aber mit dem Schnabel
zu hacken beginnen, sollte man sie gleich auseinander treiben.
In einigen Ländern Europa’s und in vielen ausserhalb dieses
Welttheils gelegenen sind Hahnenkämpfe, welche an eigens dazu
hergerichteten Plätzen unter grossem Zudrang des Volkes und unter
Aufsicht dazu erwählter Schiedsrichter stattfinden, eine Hauptbe-
lustigung für alte und junge, reiche und arme Leute. Damit die
Hähne gleiche Waffen haben, werden ihnen hohle Metallsporen von
gleicher Länge, Stärke und Schärfe über die natürlichen geschnallt.
H. 0. Lenz.
191. Der Zaunkönig und der Bär.
Zur Sommerzeit gieng einmal der Bär und der Wolf im Wald
spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel
und sprach: „Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel, der so schön
265
singt?“ „Das ist der König der Vögel“, sagte der Wolf, „vor dem
müssen wir uns neigen“; es war aber der Zaunkönig. „Wenn das
ist“, sagte der Bär, „möcht’ ich auch gern seinen königlichen Palast
sehen, komm und führ’ mich hin.“ „Das geht nicht so, wie du
meinst“, sprach der Wolf, „du musst warten, bis die Frau Königin
kommt.“ Bald darauf kam die Frau Königin und hatte Futter im
Schnabel, und der Herr König auch und wollten ihre Jungen ätzen.
Der Bär wäre gern nun gleich hinterdrein gegangen, aber der Wolf
hielt ihn am Ärmel und sagte: „Nein, du musst warten, bis Herr
und Frau Königin wieder fort sind.“ Also nahmen sie das Loch
in Acht, wo das Nest stund, und giengen wieder ab. Der Bär aber
hatte keine Ruhe, wollte den königlichen Palast sehen und gieng
nach einer kurzen Weile wieder fort. Da waren König und Königin
wieder ausgeflogen, er guckte hinein und sah fünf oder sechs
Junge, die lagen darin. „Ist das der königliche Palast?“ rief der
Bär, „das ist ein elender Palast, ihr seid auch keine Königskinder,
ihr seid unehrliche Kinder.“ Wie das die jungen Zaunkönige hörten,
wurden sie gewaltig bös und schrieen: „Nein, das sind wir nicht,
unsere Eltern sind ehrliche Leute: Bär, das soll ausgemacht werden
mit dir.“ Dem Bären und dem Wolf ward angst, sie kehrten um
und setzten sich in ihre Löcher. Die jungen Zaunkönige aber
schrieen und lärmten fort, und als ihre Eltern wieder Futter brach-
ten, sagten sie: „Wir essen kein Fliegenbeinchen, und sollten wir
verhungern, bis ihr erst ausmacht, ob wir ehrliche Kinder sind oder
nicht, denn der Bär ist dagewesen und hat uns gescholten.“ Da
sagte der alte König: „Seid nur ruhig, das soll ausgemacht werden.“
Flog darauf mit der Frau Königin dem Bären vor seine Höhle und
rief hinein: „Alter Brummbär, du hast meine Kinder gescholten,
das wollen wir in einem blutigen Krieg ausmachen.“ Also war
dem Bären der Krieg angekündigt, und ward alles vierfüssige Ge-
thier berufen, Ochs, Esel, Rind, Hirsch, Reh, und was die Erde sonst
alles trägt. Der Zaunkönig aber berief alles, was in der Luft fliegt,
nicht allein die Vögel gross und klein, sondern auch die Mücken,
Hornissen, Bienen und Fliegen mussten herbei.
Als nun die Zeit kam, wo der Krieg angehen sollte, da schickte
der Zaunkönig Kundschafter aus, wer der commandirende General
des Feindes wäre. Die Mücke war die listigste von allen, schwärmte
im Wald, wo der Feind sich versammelte, und setzte sich endlich
unter ein Blatt auf den Baum, wo die Parole ausgegeben wurde.
Da stund der Bär, rief den Fuchs vor sich und sprach: „Fuchs,
du bist der schlaueste unter allem Gethier, du sollst General sein
und uns anführen; was für Zeichen wollen wir verabreden?“ Da
sprach der Fuchs: „Ich hab einen schönen langen, bauschigen
Schwanz, der sieht aus fast wie ein rother Federbusch; wenn ich
den Schwanz in die Höhe halte, so geht die Sache gut, und ihr
müsst darauf los marschieren: lass ich ihn aber herunter hängen,
so fangt an und lauft.“ Als die Mücke das gehört hatte, flog sie
wieder heim und verrieth dem Zaunkönig alles haarklein.
V
266
Als der Tag anbrach, wo die Schlacht sollte geliefert werden,
hu, da kam das vierfüssige Gethier daher gerannt mit Gebraus, dass
die Erde zitterte; Zaunkönig mit seiner Armee kam auch durch
die Luft daher, die schnurrte, schrie und schwärmte, dass einem
angst wurde, und giengen sie da von beiden Seiten an einander.
Der Zaunkönig aber schickte die Hornisse hinab, sie sollte sich dem
Fuchs unter den Schwanz setzen und aus Leibeskräften stechen.
Wie nun der Fuchs den ersten Stich bekam, zuckte er, dass er das
eine Bein aufhob, doch ertrug er’s, und liess den Schwanz noch in
der Höhe; beim zweiten musste er ihn einen Augenblick herunter-
lassen; beim dritten aber konnte er sich nicht mehr halten, schrie
und nahm den Schwanz zwischen die Beine. Wie das die Thiere
sahen/meinten sie, alles wäre verloren, und fiengen an zu laufen,
jeder in seine Höhle; und hatten die Vögel die Schlacht ge-
wonnen. /
Da flog der Herr König und die Frau Königin heim zu ihren
Kindern, und riefen: „Kinder, seid fröhlich, esst und trinkt nach
Herzenslust, wir haben den Krieg gewonnen.“ Die jungen Zaun-
könige aber sagten: „Noch essen wir nicht, der Bär soll erst vors
Nest kommen, und Abbitte thun, und soll sagen, dass wir ehrliche
Kinder sind.“ Da flog der Zaunkönig vor das Loch des Bären und
rief: „Brummbär, du sollst vor das Nest zu meinen Kindern gehen,
und Abbitte thun, und sagen, dass sie ehrliche Kinder sind, sonst
sollen dir die Rippen im Leib zertreten werden.“ Da kroch der
Bär in der grössten Angst hin, und that Abbitte, und darauf setz-
ten sich die Zaunkönige zusammen, assen und tranken, und mach-
ten sich lustig bis in die späte Nacht hinein. Bi-uaer Grimm.
192. Der König.
„Mutter,“ sagte der kleine Wilhelm, „ich möchte wohl ein König werden."
Die Mutter fragte darauf: „Weißt du auch wohl, was ein König ist,
und hast du jemals einen gesehen?"
Der Knabe verneinte es. Da faßte der Vater lächelnd ihn bei der
Hand und sagte: „Komm, ich will dir einen König zeigen!" und führte ihn
hinaus auf den Hof in den Schnee. Denn es war Winter und sehr kalt.
Da zeigte der Vater ihm ein kleines Vöglein und fragte: „Kennst du
dies Vöglein und seine Weise und sein Wesen?" — Der Knabe antwortete:
„Nein, erzähle du mir davon!"
Da sagte der Vater: „Siehe, das Vöglein ist das kleinste von allen
in seiner äußern Gestalt und schlicht von Farben, aber es hat ein sonder-
lich Geinüth vor allen andern. Obwohl es so kalt ist und stürmet und
schneiet, und überall nichts denn Schnee und Eis, so ist und bleibet es
frohen Muthes. Siehe, jetzt schwebet es auf die Zinne des Daches und
schauet rund um sich her, so fröhlich, als ob die ganze weite Welt sein
gehörte. Und das thut sie in Wahrheit, denn es freuet sich derselben. —
Höre, jetzt beginnt es sogar zu singen, und sein kleines Lied tönet wie helle
Pfeifen durch die Gründe, gleichsam als sänge es: Wie ist mir doch so wohl
267
zu Muthe! ckZs störet sich nicht daran, ob der Brunnentrog vom Froste zer-
springe, die Eiche krachend zerspalte — es singt dem Sturm ins Angesicht.
Siehe, nun fleucht es hernieder zu den Bäumen des Obstgartens.
Hier suchet es sorgsam die Eier der Raupen, welche im Frühjahre die
Blüten der Bäume zernagen und zerstöret sie, auf daß" der Frühling in
seiner blühenden Gestalt, und der Herbst mit vollen Ästen und Zweigen
erscheinen möge. — Siehest du, wie es jetzt wieder sich auf die Windfahne
des Hauses erhebt und sein Lied anstimmt, um alle zu erfreuen, die cs
vernehmen in der kalten Winterzeit, um ihnen ein Muster und Beispiel zu
sein in fröhlicher Genügsamkeit und frommem Muthe."
Da sagte der Knabe: „Wie nennt man denn das liebe Vöglein?"
Da antwortete der Vater und sprach: „Siehe, die Menschen haben,
weil es ein so feines und freies Gemüth hat, ihm einmüthiglich einen
hohen Namen und Würde beigelegt, denn sie nennen es, obwohl es nur
klein von Gestalt ist, seit alten Zeiten den Wintcrkönig oder Zaunkönig
und stellen cs neben den stolzen Adler.
So habe auch du nur, so lauge du klein bist, ein feines königliches
Gemüth. Wenn du einmal groß sein wirst, wird dir auch die Herrschaft
nicht fehlen.
Und eine Krone verdienen ist mehr noch, als sie auf dem Haupte tragen."
Da sagte der Knabe: „Vater, können die Könige auch fliegen?"
„Nein," antwortete der Vater, „da hat das Vöglein den Vorrang,
sie sind Menschen, wie wir auch."
„Oh!" — — sagte der Knabe, und als sie wieder am Kamin
waren, bat er den Vater, noch mehr von dem Vöglein zu erzählen.
Gern willfahrete der Vater der Bitte des Kindes und gab ihm im
Scherze die ernste Lehre. Denn also macht es auch zuweilen die freund-
liche Natur. Krummacher.
193. Das Reh.
Es herrscht tiefe Waldstille. Da knackt es in den Zweigen. Ein
Rehbock, erst mit halbem Leibe sichtbar, tritt aus dem Waldesdunkel. Das
Haupt mit seinem kräftigen, doch nicht viclzackigcn Geweih ist keck empor-
gerichtet. Die großen, hellen Augen rollen nach allen Seiten, ob alles
sicher und ohne Gefahr sei. Er zieht sich wieder zurück, kommt noch einmal
und prüft, und nun erst gibt er den Seinen das Sichcrheitssignal. Im
Nu ist das Reh mit seinen beiden Kälbchen ihm zur Seite, und in mun-
teren Sprüngen geht es hinab ins Thal und auf die bethaute Waldwiese.
In den drolligsten, muthwilligsteu Sätzen umkreisen die netten, weißgeflccktcn
Zicklein die Mutter, entfernen sich von ihr, sind mit Blitzesschnelle wieder
da, tändeln mit ihr und werfen sich nieder, um zu saugen. Bald kommen
noch mehrere der munteren Thiere hinzu; schon ist ein ganzes Rudel bei-
sammen. Da schlagen die Hunde bei der in der Ferne durch den Wald
läutenden Kuhherde an; im Nu ist der Haufe auseinander. In wilden
Sprüngen setzen die Thiere durch die Fichtenschonung, und bergauf, bergab
geht die Flucht..
Das Reh ist ein munteres, gewecktes und schönes Thier. In allen
seinen Bewegungen zeigt sich eine Leichtigkeit, in seinem Laufe eine Flüchtig-
268
feit, die Staunen erregt. Seine vollen, glänzenden Augen beseelt ein fri-
sches und mildes Feuer, das ganz mit seinem zierlichen Bau, mit seinen
raschen Bewegungen und der Behendigkeit im Springen übereinstimmt.
Sein heiterer Iugendsinn meidet feuchte und sumpfige Stellen und hohe,
finstere Eichen- und Buchenwaldungen. Es liebt mehr lichte Schläge, die
an Saatfelder stoßen. Es ist listiger und viel fluchtiger, als der Hirsch
und läßt den verfolgenden Hund bald hinter sich. Es weiß diesen durch
mannigfaltige Umwege, durch verdoppelte Kreuzsprünge irre zu führen,
macht mitten im Laufe einen starken Absprung zur Seite, duckt sich wie ein
Hase nieder und läßt die ganze Mente seiner aufgehetzten, bellenden Feinde
vorüberziehen. Die Jungen verbirgt das Reh im Gestrüpp und zeigt sich
lieber selbst dem Jäger, um die Feinde von ihnen abzulenken; doch bald
kehrt es auf weiten Umwegen unversehrt zu denselben zurück. Stößt dem
Rehbock etwas unvermuthet auf, so stutzt er im ersten Augenblick, ist dann
aber blitzschnell und warnt die Seinigen durch Pfeifen, das er dreimal
wiederholt, und das weithin schallt. Jung aufgezogen, sind die Rehe aller-
liebste Geschöpfe; allein die Böcke nur so lange, bis sie ein tüchtiges Geweih
aufgesetzt haben. Dann fühlen sie sich und versuchen, mit ihrem Geweih
zu stoßen. Wunderlich.
194. Waldlied.
Ich möchte ein Jäger sein, ! Möchte hören der Winde Wehen,
Durchstreifen Felder und Hain, Wenn die Tannen rauschen darein!
Möchte der Vögel Ruf verstehen, I Ich möchte ein Jäger sein!
269
Frühmorgens beim ersten Schein
Wär' ich im Walde schon wieder
Und hörte der Vögel Lieder
Ich möchte ein Jäger sein!
Ich möchte ein Jäger sein!
Im Mondschein stund' ich allein
Am Waldweg; jetzt kommt es gegangen,
Das Reh; mit freudigem Bangen
Und hörte den Kuckuk schrei'n.
Nähm' ich die Büchse und — nein!
Ich möchte ein Jäger sein!
Ich möchte kein Jäger sein!
Theodor Körner,
195. Wilhelm Teil.
Unter dem Kaiser Albrecht that Gessler, Landvogt zu Uri und
Schwyz, den Landleuten daselbst grossen Zwang an, hielt sie streng
und hart und nahm sich vor, eine Feste in Uri zu bauen, damit
er und andere Landvögte nach ihm um so sicherer dort wohnen
möchten, wenn Aufruhr entstände, und auch das Land in desto
grösserer Furcht und in Gehorsam erhalten würde. Er liess also
Steine, Kalk, Sand und Zimmerholz auf einen bei Altorf, dem
Hauptflecken, gelegenen Hügel führen und fieng an, den Bau ins
Werk zu richten, und wenn ihn jemand fragte, wie die Feste heissen
werde, antwortete er: „Zwing Uri wird ihr Name sein." Das verdross
die edlen Landsassen und gemeinen Landleute in Uri, und als sie
sich das merken liessen, wurde Gessler grimmig und drohete, er
wollte sie so weich und zahm machen, dass man sie um einen
Finger winden könnte.
Da liess er zu Altorf am Platze bei der Linde, wo viele vor-
übergiengen, eine Stange aufrichten, einen Hut oben darauf legen
und gebieten, dass jeder, der vorübergienge, sich vor dem Hute
neigen sollte, als ob der König selbst zugegen wäre; widrigenfalls
ihn Verlust seines Gutes und Leibesstrafe treffen würde. Auch
stellte er einen steten Wächter hin, der diejenigen anzeigen sollte,
welche dem Gebote nicht Folge leisteten. Dieser grosse Übermuth
drückte das Volk noch ärger als der Bau des Schlosses; doch wag-
ten sie aus Furcht vor des Kaisers Ungnade und gewaltiger Macht
keine Widersetzlichkeit. Da gieng an einem Sonntage im Novem-
ber ein redlicher, frommer Landmann, Wilhelm Teil genannt, an
dem aufgesteckten Hute vorüber, ohne sich vor ihm zu neigen.
Das ward dem Landvogt angezeigt. Morgens darnach, am Montage,
beruft er den Teil vor sich und fragt, warum er seinem Gebote
nicht gehorsam wäre, und dem Kaiser wie auch ihm zum Trotz sich
vor dem Hute nicht geneigt hätte. Teil gab zur Antwort: „Lieber
Herr, es ist von ungefähr und nicht aus Verachtung geschehen; ich
dachte nicht, dass es Euer Gnaden so hoch ansehen würden.“ Nun
war der Teil ein guter Armbrustschütze, dass man einen besseren
kaum fand und hatte hübsche Kinder, die ihm lieb waren. Die
liess der Landvogt holen und sprach: „Teil, welches unter den
Kindern ist dir das liebste?“ Der Teil antwortete: „Herr, sie sind
mir alle gleich lieb.“ Da sprach der Landvogt: „Wohlan, Teil, du
hist ein guter Schütze, wie ich höre; nun wirst du deine Kunst
vor mir bewähren und einem deiner Kinder einen Apfel vojp Kopfe
--- 270 -------
schiessen; triffst du ihn nicht auf den ersten Schuss, so kostet es
dir dein Leben.“ Der Teil erschrak und bat den Landvogt um
Gottes willen, dass er ihm den Schuss erliesse; denn es wäre un-
natürlich, dass er auf sein liebes Kind schiessen sollte; er wolle
lieber sterben. Der Landvogt sprach: „Das musst du thun, oder
du und das Kind sterben.“ Nun sah Teil, dass er nicht ausweichen
konnte, bat Gott inniglich, dass er ihn und sein liebes Kind be-
hüten möchte, nahm seine Armbrust, spannte sie, legte den Pfeil
auf und steckte noch einen Pfeil hinten in sein Koller. Der Land-
vogt selber legte dem Kinde den Apfel auf das Haupt; Teil zielte
und schoss ihn glücklich dem Kinde vom Scheitel.
Der Landvogt verwunderte sich des meisterhaften Schusses und
lobte den Teil wegen seiner Kunst. „Aber eins“, sprach er, „wirst
du mir sagen; was bedeutet es, dass du den ersten Pfeil hinten in
das Koller stecktest?“ Teil erschrak und sprach: „Das ist so des
Schützen Gewohnheit.“ Der Landvogt aber wusste wohl, dass Teil
etwas anderes im Sinne gehabt hatte und redete ihm gütlich zu:
„Teil, nun sage mir fröhlich die Wahrheit und fürchte nichts; du
sollst deines Lebens sicher sein, aber die gegebene Antwort nehme
ich nicht an.“ • Da sprach Wilhelm Teil: „Wohla^n, Herr, da ihr mich
meines Lebens versichert habt, so will ich euch die gründliche Wahr-
heit sagen. Hätte ich den Apfel verfehlt, so würde ich euch mit
dem andern Pfeile nicht verfehlt haben.“ Darüber erschrak der
Vogt und sprach: „Deines Lebens habe ich dich zwar versichert;
weil ich aber deinen bösen Willen gegen mich erkannt habe, so
will ich dich an einen Ort führen lassen, wo du weder Sonne noch
Mond sehen sollst, damit ich vor dir sicher sei.“ Hierauf liess er
ihn binden und auf ein Schiff führen; denn er wollte gen
Brunnen fahren und von dort seinen Gefangenen über Land durch
Schwyz in sein Schloss Küssnacht führen. Als sie nun auf dem
See waren, da liess Gott einen so uögestümen Sturmwind losbrechen,
dass sie alle elend zu verderben meinten. Da sprach der Diener einer
zum Landvogt: „Herr, ihr sehet eure und unsere Lebensgefahr;
nun ist der Teil ein starker Mann und versteht sich gut darauf,
mit einem Fahrzeuge umzugehen; man sollte ihn jetzt in der Noth
gebrauchen.“ Von Furcht erbleicht, wandte sich der Landvogt an
Teil mit den Worten: „Wenn du dich getrautest, uns aus dieser
Gefahr zu helfen, so wollt’ ich dich deiner Bande entledigen.“ Der
Teil gab zur Antwort: „Ja, Herr, ich getraue uns mit Gottes Hülfe
wohl zu retten.“ Also ward er losgebunden, trat an das Steuer-
ruder und fuhr redlich dahin; doch lugte er allenthalben auf gute
Gelegenheit zu entrinnen und auf sein Schiesszeug, welches im
Schiff beim Steuerruder lag; und als er der Felsenplatte nahe kam,
welche seitdem den Namen Teilsplatte behalten hat, ersah er seineff
Vortheil und ermunterte die Knechte fest anzuziehen, bis sie vor
jene Platte kämen; denn dann hätten sie das Schlimmste über-
wunden. Also kamen sie der Platte nahe; da drückte er das Schiffs-
ende mit Macht an den Felsen, erraffte sein Schiesszeug und that
271
einen Sprung hinaus auf die Platte, das Schilf aber stiess er mit
Gewalt weit hinter sich in den See zurück. Nun kletterte er den
Berg hinauf und floh durch das Land Schwyz bis auf die Höhe an
der Landstrasse nach Küssnacht, und wo dort eine hohle Gasse ist,
verbarg er sich im Gebüsch, den Landvogt erwartend. Diesei und
seine Diener kamen, mit genauer Noth dem See entronnen, an den
Hohlweg geritten. Teil hörte in seinem \ ersteck allerlei Anschläge
des Landvogts wider ihn, nahm seine Armbrust und durchschoss
den Vogt mit einem Pfeile, dass er todt vom Ross zu Boden sank.
Hierauf entfloh Teil über die Gebirge gen Uri; das Volk aber freute
sich überall, wo die That ruchbar wurde, dass es seines schlimm-
sten Gewaltherrn entledigt war. f. Bässier.
196.
Mit dem Pfeil, dem Bogen
Durch Gebirg und Thal
Kommt der Schütz gezogen
Früh am Morgenstrahl.
Wie im Reich der Lüfte
König ist der Weih,
Schühenlied.
Durch Gebirg und Klüfte
Herrscht der Schütze frei.
Ihm gehört das Weite,
Was sein Pfeil erreicht,
Das ist seine Beute,
Was da kreucht und fleugt.
F. v. Schiller.
197. Die
1. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewände;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche?
sprich!"
Entgegnet ihm finster der Wüthcrich.
„ „ Die Stadt vom Tyrannen befreien!""
„Das sollst du am Kreuze bereuen!"
2. „Ich bin", spricht jener, „zu sterben
bereit
Und bitte nicht um mein Leben;
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen."
3. Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken;
Doch wisse, wenn sie verstrichen die Frist,
Eh' du zurück mir gegeben bist,
So muß er statt deiner erblassen,
Loch dir ist die Strafe erlassen."
4 Und er kommt zum Freunde: „Der
König gebeut,
Bürgschaft.
Daß ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben;
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit:
So bleib' du dem König zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande."
5. Und schweigend umarmt ihn der
treue Freund
Und liefert sich aus bem Tyrannen;
I Der andere ziehet von dannen,
Und ehe das dritte Morgenroth scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die
Schwester vereint.
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.
6. Da gießt unendlicher Regen herab;
Bon den Bergen stürzen die Quellen,
Und die Bäche, die Ströme schwellen,
lind er kommt ans Ufer mit wandern-
dem Stab,
Da reißet die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.
7. Und trostlos irrt er an Ufers Rand.
^Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket,
Da stößt kein Nachen vom sichern Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land;
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.
8. Da sinkt er ans Ufer und weint
und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
„O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muß der Freund mir erbleichen."
9. Doch wachsend erneut sich des
Stromes Wuth,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde an Stunde entrinnet;
Da treibt ihn die Angst, da faßt 'er
sich Muth
Und wirft sich hinein in die brausende
Flut,
Und theilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Er-
barmen —
10. Und gewinnt das Ufer und eilet
fort
Und danket dem rettenden Gotte;
Da stürzet die raubende Rotte
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet
Mord
Und hemmt des Wand eres Eile
Mit drohend geschwungener Keule.
11. „Was wollt ihr?" ruft er, vor
Schrecken bleich,
„Ich habe nichts, als mein Lebe»,
Das muß ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem nächsten
gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet euch!"
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er; die andern entweichen.
12. Und die Sonne versendet glü-
henden Brand,
Und von der unendlichen Mühe
Ermattet, sinken die Kniee:
„O hast du mich gnädig aus Räubers-
hand,
Aus dem Strom mich gerettet ans hei-
lige Land,
Und soll hier verschmachtend verderben,
Und der Freund mir, der liebende,
sterben!"
13. Und horch, da sprudelt es silberhell
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er zu lauschen;
Und sieh, aus dem Felsen geschwätzig,
schnell
Springt murmelnd hervor ein lebendiger
Quell,
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.
14. Und die Sonne blickt durch der
Zweige Grün
Und malt auf den glänzenden Matten
Der Bäume gigantische Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Straße
zieh»,
Will eilenden Laufes vorüber flieh»;
Da hört er die Worte sie sagen:
„Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen."
15. Und die Angst beflügelt den eilen-
den Fuß,
Ihn jagen der Sorgen Qualen;
Da schimmern in Abendroths Strahlen
Von ferne die Zinnen von Syrakus,
Und entgegen kommt ihm Philostratus,
Des Hauses redlicher Hüter;
Der erkennet entsetzt den Gebieter.
16. „Zurück! du rettest den Freund
nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben,
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr;
Ihm konnte den muthigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben."
17. „„Und ist es zu spät, und kann
ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen!
Deß rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
I Daß der Freund dem Freunde gebrochen
die Pflicht;
Er schlachte der Opfer zweie
Unb glaube an Liebe und Treue!""
273
18. Und die Sonne geht unter; da
steht er am Thor
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet;
An dem Seile schon zieht man den
Freund empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten
Chor:
„Mich, Henker", ruft er, „erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!"
19. Und Staunen ergreift das Volk
umher;
* In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da steht man kein Auge thränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wun-
dermär;
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Läßt schnell vor den Thron sie führen —
20. Und blicket sielangeverwundert an.
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen:
UnddieTreue, sieistdochkeinleererWahn,
So nehmet auch mich zum Genossen an;
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der dritte!"
F. v. Schiller.
198. Der alte Landmann an seinen Sohn.
1. Ueb' immer Treu' und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab!
2. Dann wirst du wie auf grünen
Au'n
Durchs Pilgerleben gehn,
Dann kannst du ohne Furcht und Grau'n
Dem Tod ins Auge sehn.
3. Dann wird die Sichel und der Pflug
In deiner Hand so leicht;
Dann singest du beim Wasserkrug,
Als wär' dir Wein gereicht.
4. Dem Bösewicht wird alles schwer,
Er thue, was er thu';
Das Laster treibt ihn hin und her
Und läßt ihm keine Ruh'.
5. Der schöne Frühling lacht ihm nicht,
Ihm lacht kein Ährenfeld;
Er ist auf Lug und Trug erpicht
Und wünscht sich nichts als Geld.
6. Der Wind im Hain, das Laub
am Baum
Saust ihm Entsetzen zu;
Er findet nach des Lebens Traum
Im Grabe keine Ruh'.
7. Drum übe Treu' und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab!
8. Dann segnen Enkel deine Gruft
Und weinen Thränen drauf,
Und Sommerblumen voller Duft
Blüh'n aus den Thränen auf.
8. Chr. Hölty.
199. Der hohe Staufen.
In der Mitte des schwäbischen Landes, fast gleich weit vom Rhein,
vom Lech und dem Bodensee entfernt, erhebt sich der hohe Staufen, ein
kegelförmiger Berg, auf dessen Gipfel einst das Stammhaus der schwäbischen
Herzoge und Kaiser gestanden hat. Weithin ist des Berges Haupt sichtbar,
und du magst kommen, von welcher Richtung du willst, so beut er dir seinen
kahlen Scheitel entgegen. Es beherrscht eben so die Gegend und die niederen
Berge, wie die mächtige Regentenfamilie, die einst hier wohnte, die Land-,
schuft umher beherrscht hat. Der baumlose Gipfel des Berges gewährt
eine herrliche Aussicht. Gegen Süden übersieht man die schwäbische Alp
wit ihren begrünten Höhen oder zackigen Felsen; hinter ihr ragen in weiter
bläulicher Ferne wie Wolken am Horizont die Schneegebirge Tyrols und
der Schweiz hervor. Gegen Westen erblickt man die schönen Gegenden,
18
274
die der Neckar durchströmt, das reiche württembergische Unterland, den
Schwarzwald und in weiter Ferne die Berge Lothringens. In einem schönen
Halbkreis gelagert, von Nordwest nach Nordvst, von der Mündung des
Neckar bis zum Ausfluß des Lech, begrenzen die limburgischen und frän-
kischen Waldungen den Horizont und verhindern die weitere Aussicht. Dieses
sind die äußersten Linien des Kreises, von dem dieser Berg der Mittelpunkt ist.
Aber innerhalb dieses Kreises, welch' eine bunte Landschaft, welch'
schönes Gemälde! Wie abwechselnd Berg und Thal, Wälder, Fluren und
Flüsse! Welche Menge von Höfen, Dörfern und Städten, die allenthalben,
bald mehr bald minder versteckt, mit ihren Türmen und schimmernden
Dächern und Zinnen einen ungemein heitern Anblick gewähren. Ganz nahe,
dem Anschein nach nur einen Steinwnrf weit, liegt am nördlichen Fuße
des Berges die Stadt Gemünd, ehemals ein Eigenthum des Hohenstaufischen
Hauses, die aber nach Konradins unglücklichem Tode sich die Reichsfreiheit
erwarb. Eben so nahe, nur auf des Berges südlicher Seite, breitet sich
in einem fruchtbaren Thale das schöne württembergische Städtchen Göppingen
aus, das gleichfalls zu dem Besitzthum der Hohenstaufenschen Familie gehört.
Das frohe Gefühl, in das den Beschauer die lebendige Gegenwart versetzt,
wird getrübt bei dem Anblick so vieler in Trümmern liegenden nahen Berg-
schlösser, die sich rings über die niedrigen Örter erheben, und wie Vasallen
um den sie alle überragenden hohen Staufen herumstehen. Rechberg,
Staufeneck, Helsenstein, Ramsberg, Scharfenberg, Berneck, Drachenstein
waren ehemals die Sitze blühender Geschlechter, deren Andenken sogar zum
Theil verweht ist.
Noch mehr drängt sich der Gedanke an die Vergänglichkeit aller mensch-
lichen Größe deinem Geiste auf, wenn du deine nächsten Umgebungen be-
trachtest; denn von dem Stammhause der Hohenstaufen ist bis auf ein
kleines Stück Mauer auch die letzte Spur verschwunden, und mit Gras
und Disteln ist der Schutt überwachsen. Einsame Ziegen weiden an den
steilen Wänden des Berges, und halbnackte Hirtenknaben tummeln sich auf
der luftigen Höhe, wo einst der mächtige Friedrich der Rothbart seine
Jugend verlebte. Im Bauernkriege 1525 wurde von dem Schlosse ver-
brannt, was verbrennbar war. Die sieben Fuß dicke Ringmauer desselben,
zwei feste Türme, der Buben- und Mannsturm genannt, sowie die Thore
blieben stehen und standen noch im Jahre 1586. Seit jener Zeit wurden
die Steine von den benachbarten Bauern geholt, die Türme niedergerissen,
der Brunnen verschüttet. Sie wühlten nach Schätzen und fanden Menschen-
knochen, die sie verschleuderten. Die Natur selbst scheint hier oben zu trauern
über den Untergang der großen Familie, die hier ihren Wohnsitz hatte.
Menschenleer ist die Gegend, verlassen sieht sich der Wanderer, und nur
das Geläute der Herden oder einer nahen Kirchenglocke dringt hin und
wieder zu seinem Ohr.
Am südlichen Abhange des Berges liegt das Dorf Hohenstaufen. In
der alten Kirche desselben, die schon stand, als die Staufen Könige der
Deutschen waren, ist eine kleine niedrige Thür gegen den Berg zu; über
derselben befindet sich ein uraltes Wandgemälde, welches den Kaiser Frie-
drich Barbarossa in eiserner Rüstung vorstellt; unter dem Bilde sind
einige deutsche Reime, welche sagen, daß Friedrich oft durch diese Thür in
275
die Kirche gegangen sei. Tief unter dem Dorfe auf der Ebene ist ein
dichter, großer Wald, in welchem ein paar alte, ganz mit Moos überzogene
Eichen stehen; von ihnen geht die Sage unter den Landleutcn, daß sie aus
den glanzvollen Zeiten des Hohcnstaufischen Geschlechtes die einzigen' noch
lebenden Überreste seien. o. Schulz.
200. Das treue deutsche Herz.
Ich kenn' ein' hellen Edelstein
Bon köstlich hoher Art,
In einem stillen Kämmerlein,
Da liegt er gut verwahrt;
Kein Demant ist, der diesem gleicht,
So weit der liebe Himmel reicht;
Die Menschenbrust ist's Kämnierlcin,
Da legte Gott so tief hinein
Den schönen hellen Edelstein,
Das treue, das treue deutsche Herz.
Für Pflicht und Recht, für Wahrheit,
Ehr'
Flammt heiß es allezeit;
Boll Kraft und Muth schlägt's hoch
und hehr,
Für Tugend, Frömmigkeit.
Richt schrecket cs der Menschenspott,
Es traut allein dem lieben Gott,
Der ganze Himmel klar und rein,
Er spiegelt sich im Sonnenschein
Im schönen hellen Edelstein,
Im treuen deutschen Herz.
Wohl weiß ich noch ein gutes Wort,
Für das es heiß entbrannt,
Das ist sein höchster heil'ger Hort,
Das theure Vaterland;
Treu hängt's an ihm, verräth es nicht,
Selbst wenn's in Todesschmerzen bricht,
Kein schön'rer Tod auch kann es sein,
Als froh dem Vaterland zu weih'n
Den schönen Hellen Edelstein,
Das treue, deutsche Herz. '
Nimm, Gott, mir alles, was ich hab',
Ich geb' es freudig hin,
Nur laß mir deine schönste Gab',
Den treuen deutschen Sinn;
Dann bin. ich hoch beglückt und reich,
Kein Fürst auf Erden kommt mir gleich.
Und soll mein Leib begraben sein,
Dann setz' in deinen Himmel ein
Den schönen hellen Edelstein,
Das treue deutsche Herz.
201. Hohenzoüern.
Zwei Bergkcgcl treten ans der langen Bergkette der schwäbischen Alp
weithin sichtbar hervor: am östlichen Ende der hohe Staufen, am west-
lichen Ende die Bnrg Hohenzollern, der uralte Stammsitz des erlauchten
Geschlechts, aus dem die Könige von Preußen abstammen, dem der jetzige
deutsche Kaiser angehört.
Wenn ihr von Norden her nach dem kleinen Städtchen Hechingen
kommt, so seht ihr eine halbe Meile jenseit der Stadt die Ruinen der alten
Bergfeste auf einem freistehenden Bergkegel, der eine Höhe von mindestens
260 bis 270 Meter hat. Zu der Spitze des Berges führt nur ein ,einziger
durch Brücken verbundener Zugang, den ehemals an neun verschiedenen
Absätzen eben so viele mit Eisen beschlagene Thore verwahrten.
Seit dem Jahre 1823, wo Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen,
damals noch Kronprinz, die alte Burg seiner Ahnen besuchte, hat man die
Gebäude wieder in wohnlichen Stand gesetzt, und seit jener Zeit erhebt
sich aus dem Gemäuer ein hoher Turm, der eine weite Aussicht über Berge,
Thäler und Ebenen eröffnet. Gegen Westen, Norden und Nordwesten liegt
18*
276
das Land offen vor dem Angc des Beschauers, gegen Süden erblickt man
die Bergkette der schwäbischen Alp, die fast in Form eines Halbkreises die
ganze Landschaft einschließt.
Das Geschlecht der Hohenzollern gehört zu den ältesten in Deutschland.
Als den Ahnherrn derselben nennt man Thassilo, Grafen von Hohenzollern,
der um das Jahr 800 gelebt haben soll.
In der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts lebte sein Nachkomme
im achten Geschlecht, Graf Robert II., von dessen Söhnen Friedrich und
Konrad die beiden Hauptlinien des Hauses Hohenzollern abstammen.
Friedrich behielt die väterlichen Erbgüter in Schwaben, und von diesem
stammen die Fürsten von Hohenzollern-Hcchingen und Hohenzollern-Sig-
maringen ab; Konrad wurde der erste Burggraf zu Nürnberg, und dieser
ist der Ahnherr der Könige von Preußen. Einer seiner Nachkommen,
Friedrich VI., wurde der erste Markgraf von Brandenburg aus dem Hause
Hohenzollern. o. Schulz.
202. Frühlingsgruß
1. Wie mir deine Freuden winken
Nach der Knechtschaft, nach dem Streit!
Vaterland, ich muß versinken
Hier in deiner Herrlichkeit.
Wo die hohen Eichen sausen,
Himmelan das Haupt gewandt,
Wo die starken Ströme brausen,
Alles das ist deutsches Land.
2. Von dem Rheinfall hergegangen
Komm' ich, von der Donau Quell,
Und in mir sind aufgegangen
Liebessterne mild und hell;
Niedersteigen will ich, strahlen
Soll von mir der Freudenschein
In des Neckars frohen Thalen
Und am silberblauen Main.
3. Weiter, weiter mußt du dringen,
Du, mein deutscher Freiheitsgruß,
Sollst vor meiner Hütte klingen
An dem fernen Memelfluß.
Wo noch deutsche Worte gelten,
Wo die Herzen, stark und weich,
Zu dem Freiheitskampf sich stellten,
Ist auch heil'ges deutsches Reich.
4. Alles ist in Grün gekleidet,
Alles strahlt im jungen Licht,
Anger, wo die Herde weidet,
Hügel, wo man Trauben bricht;
Vaterland, in tausend Jahren
Kani dir solch ein Frühling kaum;
Was die hohen Väter waren,
Heißet nimmermehr ein Traum.
an das Baterland (1814).
5. Aber einmal müßt ihr ringen
Noch in ernster Geisterschlacht
Und den letzten Feind bezwingen,
Der im Innern drohend wacht.
Haß und Argwohn müßt ihr dämpfen,
Geiz und Neid und böse Lust; —
Dann nach schweren, langen Kämpfen
Kannst du ruhen, deutsche Brust.
6. Jeder ist dann reich an Ehren,
Reich an Demuth und an Macht;
So nur kann sich recht verklären
Unsers Kaisers heil'ge Pracht.
Alte Sünden müssen sterben
In der gottgesandten Fluth,
Und an einen sel'gen Erben
Fallen das entsühnte Gut.
7. Segen Gottes auf den Feldern,
In des Weinstocks heil'ger Frucht,
Manneslust in grünen Wäldern,
In den Hütten frohe Zucht;
In der Brust ein frommes Sehnen,
Ew'ger Freiheit Unterpfand;
Liebe spricht in zarten Tönen
Nirgends wie im deutschen Land.
8. Ihr in Schlössern, ihr in Städten,
Welche schmücken unser Land,
Ackersmann, der auf den Beeten
Deutsche Frucht in Garben band,
Traute deutsche Brüder höret
Meine Worte, alt und neu:
Nimmer wird das Reich zerstöret,
Wenn ihr einig seid und treu!
M. v. Schenkendorf.
203. Die Erfindung der Buchdruckerkunst.
Die Buchdruckerkunst ist eine Erfindung der Deutschen und geschah
um's Jahr 1440. Bis dahin mußte man sich der geschriebenen Bücher
bedienen. Wollte jemand ein Buch haben, so gieng er zu einem Mönche,
277
der im Schreiben geschickt war — denn die Mönche beschäftigten sich fast
allein damit — und bat ihn, ihm doch das Buch abzuschreiben. Dieser
nahm dann seines, dünnes Pergament, auch schon eine kostbare Sache, zog
sich saubere Linien und fieng nun an zu schreiben. Ehe er aber fertig
wurde, vergieng oft ein Jahr oder mehrere, und daher war cs kein Wun-
der. wenn er für ein einziges Buch hundert und mehr Thaler forderte.
Diese Bücher wurden gewöhnlich mit vieler Nettigkeit und Pracht gearbeitet.
Die Anfangsbuchstaben wurden sehr groß gemacht, mit schönen Farben
ausgemalt und mit Gold ausgefüllt, so daß in manchem Buche allein für
20 Dukaten Gold steckte. Das alles machte die Bücher theuer und selten.
An Schulbücher war damals natürlich gar nicht zu denken. Wie viel un-
vollkommener mußten also schon aus diesem Grunde damals die Schulen
sein! Auch die Lehrer konnten nicht weiter fortstndieren, weil sie sich keine
Bücher anschaffen konnten, und vergaßen wohl zuletzt, was sie früherhin
gelernt hatten. Lesebücher gab es damals gar nicht, und so fiel das Haupt-
mittel weg, dem Geiste Nahrung zu verschaffen, das Herz durch Lesen guter
Bücher zu veredeln und den Geschmack auszubilden. Wer damals ein
Buch hatte, schätzte sich überglücklich; nur reiche Leute konnten sich eine
kleine Büchersammlung anschaffen.
Einen Schritt zur Erfindung der Buchdruckerkunst machte man durch
die Verfertigung der Spielkarten. Diese einzeln zu machen und auszu-
malen, hätte entsetzlich aufgehalten. Man nahm also ein Brettchen von
Holz, schnitt die Figuren so aus, daß sie hervorstanden, bestrich sie mit
Farbe und druckte sie nun so oft ab, wie man wollte. Da das gelang,
verfertigten die Mönche ähnliche Holzschnitte zu Heiligenbildern und druckten
sie auf Pergament oder ganz dünne Hornblättchen ab. Auch fieng man
nun schon an, sich des Lumpenpapiers zu bedienen, welches weit wohl-
feiler war als das Pergament. Erst kam man in den Niederlanden dar-
aus, ganze Bücher in solche Holzplatten zu schneiden. Man schnitt alle
Wörter einer jeden Seite in Holz ein und druckte nun eine solche Platte
so oft ab, wie man wollte. Aber das hatte die llnbequemlichkeit, daß man
eben so viele Platten haben mußte, wie das Buch Seiten hatte. Welch
eine Arbeit! Daher konnte man diesen Druck nur bei kleinen Büchern
anwenden. Und war das Buch nun so abgedruckt, so waren die Platten
nichts mehr nütze. Auch geriethen die in Holz geschnittenen Buchstaben sehr
schlecht; sie sahen grob und unregelmäßig aus, und man druckte auf diese
Art nichts als kleine Gebetbücher, die stark gekauft wurden.
Da machte im Jahre 1440 ein gescheidter Kopf die Erfindung, mit
beweglichen Buchstaben zu drucken. Es war Johann Guttcnberg, aus
Mainz gebürtig. Er war nach Straßburg gegangen und beschäftigte sich
mit Stcinschlcifen, Spicgelmachen und anderen Künsten und kam dabei
auch auf einen sehr glücklichen Gedanken. Er dachte: Es ist doch schade,
daß man die hölzernen Platten, mit denen man druckt, nicht weiter ge-
brauchen kann, wenn das Buch abgedruckt ist. Wäre es denn nicht mög-
lich, einzelne Buchstaben auszuschneiden, sic zusammenzusetzen zu Wörtern
und Zeilen, sie abzudrucken und dann wieder auseinanderzunehmen, um sie
zu anderen Büchern wieder zu gebrauchen? Gesagt, gethan! Er fieng an
278
gleich zu schnitzeln, sägte seine Holztafeln auseinander, band die einzelnen
Buchstaben zusammen, und seine ersten Versuche gelangen; aber mit dem
Abdrucken wollte es nicht gelingen. Er machte neue Versuche, aber es
wollte immer noch nicht gehen. Dabei versäumte er seine Brotarbeit, gerieth
in Schulden und gieng 1450 nach Mainz zurück, um in seiner Vaterstadt
sein Glück weiter zu versuchen. Da lernte er einen reichen Bürger kennen,
Johann Faust oder Fust; dem theilte er seine Pläne mit und meinte,
wenn er ihn nur mit Geld unterstützen wollte, so würde die Sache schon
gelingen. Fust, ein Rechtsgelehrter, war ein eigennütziger, aber kluger
Mensch. Er erkannte bald, daß mit Guttenberg etwas anzufangen sei,
trat mit ihm in Verbindung, schoß ihm zweimal Geld vor und setzte ihm
einen guten Gehalt aus, wofür aber Guttenberg alle Arbeiten allein über-
nehmen und das ganze Arbeitszeug ihm verpfänden mußte. Wie freute
sich Guttenberg über die gefundene Unterstützung! Rasch gieng er nun an
die Arbeit, und siehe, es gelang hier besser als in Straßburg. Anfangs
schnitzte er die beweglichen Buchstaben, die man Lettern nennt, aus Holz,
aber diese wurden schlecht. Nun nahm er Blei oder Zinn; das gerieth
schon besser; nur war das Metall zu weich, und daher nutzten sich die
Lettern schnell ab. Er nahm dafür lieber Eisen; aber das war wieder zu
hart und durchschnitt das Papier. Da nahmen sie noch einen dritten Mann
in ihren Bund auf, Peter Schösser, einen geschickten jungen Mann, der
bisher Abschreiber in Paris gewesen war und nun dem Guttenberg treff-
lich zur Hand gieng. Sie erfanden eine Zusammensetzung von verschiede-
nen Metallen, die weder zu hart noch zu weich war, und verfertigten auch
eine bessere Druckerschwärze; statt des Lampenrußes, den Guttenberg ge-
braucht hatte, kochten sie Kienruß und Leinöl. Besonders erfand Schöffer
die Kunst, Lettern zu gießen, indem er Stempel von Stahl ausschnitt,
diese in Kupfer abschlug und darauf die zum Gebrauch bestimmten Let-
tern goß.
Die drei unternehmenden Männer machten zuerst Versuche mit kleinen
Büchern, besonders mit Gebetbüchern, die noch schlecht genug ausgesehen
haben mögen, aber wegen ihrer Wohlfeilheit begierig gekauft wurden, Run
aber machten sic sich auch an ein größeres Werk; sic fiengen an, die Bibel
zu drucken. Ärgerlich ist es aber, daß Guttenberg, der doch eigentlich das
Hauptverdienst dabei hatte, um seinen Lohn kam/ Fust war, wie gesagt,
eigennützig und wollte das Geld, welches er dem Guttenberg geben mußte,
ersparen. Darum überwarf er sich mit ihm, nahm ihm 1455 für sein vor-
geschossenes Geld die ganzen Lettern und die Druckcrpresse, so daß der
brave Mann in Dürftigkeit gestorben ist, und trat mit Schöffer in engere
Verbindung. Beide druckten nun mit Eifer fort und wurden bald reiche
Leute. Aber die ersten Drucke sind äußerst selten; so existiert ein lateinischer
Psalter, das erste Werk, welches sie druckten, nur noch in 6 oder 7 Exem-
plaren. Fust starb endlich in Paris, wohin er gegangen war, um seine
Bibeln zu verkaufen, an der Pest. Übrigens waren die ersten Bibeln noch
sehr theuer. Fust nahm für eine 100—200 Gulden, welchen Preis man
damals für sehr gering hielt. N°ss-li.
279
204. Buch und Schrift.
Das Buch.
Wcr nicht liest, der lebt nicht. Er ist nicht in der Welt, und ob er
in den Himmel komm', ist eine Frage. Ehemals stand das freilich anders
wie jetzt. Wer aber ein Buch in die Hand nimmt, der lasse sich sagen,
was ein Buch für ein Werk sei. Es ist den Wunderwerken, die von
Menschen gemacht sind, beizuzählen. Ein Buch ist eine Brücke, darüber
alle Tage die vor hundert und tausend Jahren Gestorbenen zu uns Leben-
den kommen und unter uns wandeln, als lebten sie noch. Die Kaufmanns-
schiffe bringen Kaffee und Thee, Baumwolle und Seide, Gold, Silber,
Eisen und anderes viel, was wir für unsern Leib brauchen. Aber was
unser Geist braucht, das führen Bücher uns zu von nah und ferne. Durch
ein Buch spricht der Weise zu den Weisen und die es werden wollen,
freilich ein Thor zuweilen auch zu Thoren; spricht das erfahrene Alter zu
der Jugend und zu Kindern selbst, wenn sie lesen können. Das Buch
spricht und lehret mitsprechen, es lehrt sprechen. Das Buch erweitert einem
jeden die Welt, daß er ferne Dinge zu sehen bekommt und zu hören, wie
hinter den Bergen und jenseit des Wassers auch Menschen wohnen. Ein
Buch ist der Schwachen Schutz, der Gewaltigen Furcht, es tröstet die
Traurigen, es leistet dem Einsamen Gesellschaft. Wo einige Bücher bei-
sammen sind, da findet sich eine so gewählte und erlauchte Gesellschaft, wie
kein Fürst sie an seiner Tafel sieht.
Und wie entsteht ein Buch? Bis Guttenbcrg kam, hatte die Welt
nur Schrift. Auch die ist ein Großes oder wohl ein noch Größeres zu
nennen, als ein gedrucktes Buch. Die Schrift macht den unsichtbaren
Gedanken sichtbar und befestigt das flüchtige Wort. Aber ein Drucker
kann mehr drucken, als tausend Schreiber schreiben können. Durch den
Druck bekommt die Schrift Flügel und Füße, auf welche» sie nach allen
Orten und Enden geht und eben sowohl in die Hütten der Dürftigen, als
in die Häuser der Reichen. Vor Erfindung der Buchdruckerkunst galt eine
Bibel 2000 Mark, ein Neues Testament 200 Mark.
2. Die Schrift.
Wir leben alle in einer Gemeinde oder Kvmmüne. Wcr in einer
Kommüne nicht wie ein Dienstknecht sein will, obschou er Haus und Land
in derselben besitzt, der muß schreiben können. Wer in einer Kommüne
dieses oder jenes Amt oder Ämtchen verwalten will, der muß schreiben
können. Wer in einer Kommüne Wohlfahrt und Recht fördern, Mißfahrt
und Unrecht hindern will, der muß schreiben können. Wer ^anstatt seines
Namens drei Kreuze zieht, der kann nicht Bauervogt oder Schulvorsteher
sein, sofern ein anderer zu haben ist.
Wir haben, oder, Jugend, du bekommst einen Hausstand. Wer da
nicht aus der Hand in den Mund lebet, sondern einnimmt, was er erst
nach längerer Zeit wieder ausgibt, wer ausgibt, was er erst nach längerer
Zeit wieder zurückbekommt, es sei Geliehenes oder Geborgtes, wer über-
haupt mit seiner Einnahme und Ausgabe nicht im Dunkeln tappen, sondern
im Hellen gehen will, der muß anschreiben, muß schreiben. Das gehört
zum ordentlichen Haushalten. Wer schreibt, der bleibt, ist ein Sprichwort.
280
Und noch dies zum Loben und Anloben des Schreibens: Wir bleiben
ja nicht alle im Hause hocken, sondern müssen über Land und über Wasser
fahren. Wir bleiben nicht in dem Kirchspiel beisammen, da man unsern
Kopf über die Taufe gehalten hat, deinen und meinen, sondern wir werden
zerstreuet, dahin und dorthin, wohin keiner, als die Post geht; der Bund
soll nicht vergessen, das Band nicht gelöst werden von der Hand der Ent-
fernung. Wie ich begehre in deinem Herzen zu lesen und in deinem Leben,
sollst du in meinem lesen; unsere Freuden und unsern Kummer wollen wir
uns mittheilen; dein Vater und deine Mutter wollen es dir bleiben, und
du willst ihr Kind bleiben und wollen in treuer Liebe einander verbleiben.
Wie machen sie das? Wenn sic einander schreiben. Und weil die Sache
so steht, wird auch wohl der Schreibtisch stehen bleiben, ob noch so sehr
das Drucken einmal überhand nähme. Cl. Harms.
205. Wer nur den lieben Gott läßt walten.
Es schwimmt ein Schiff weit draußen auf dem Meer,
Auswandrer sührt's, ihr Herz ist voll und schwer;
Erinn'rung trägt sie an des Rheines Strand,
Wo unter Reben ihre Hütte stand.
Ein Sonntagmorgen ist's; den Strom entlang
Tönt in der Heimat jetzt der Glocke Klang,
Und wo ein Kirchlein steht, da naht sich still
Die Schar der Beter, die Gott dienen will.
Kein Ton schwingt sich herüber; alles schweigt.
4wei Männer haben tief das Haupt geneigt.
er Eine spricht: „Heut fehlt mir Gottes Wort!"
Der Andre drauf: „Ich nahm es mit an Bord!"
Er holt die Bibel, kehrt die Blätter um
Und jucht das Sonntagsevangelium
Und lächelt und liest laut, wie Jesus Christ
Sanft eingeschlummert in dem Schifflein ist,
Und wie ein Sturm das schwanke Schiff bedroht,
Und wie die Jünger zagen in der Noth,
Und wie der Herr, vom Schlummer aufgewacht,
Bedräute Wind und Meer mit seiner Macht.
Und jener lauscht, von heil'ger Glut durchweht,
Und faltet still die Hände zum Gebet;
Und wie das Schiff sanft durch die Wogen zieht,
Singt er aus voller Brust ein frommes Lied.
Und immer voller tönt das Lied empor,
Aus einem Sänger wird ein Sängerchor.
„Wer nur den lieben Gott läßt walten!" klang
Das Lied, das mächtig sich zum Himmel schwang.
So bringen sie dem Höchsten Lob und Ehr';
Wie eine Riesenorgel rauscht das Meer,
Und jeder fühlt, daß seine Seele lebt
Im Geist des Herrn, der auf den Wassern schwebt. I. Sturm.
206. Räthsel.
1.
Von Perlen baut sich eine Brücke
Hoch über einen grauen See;
Sie baut sich auf im Augenblicke,
Und schwindelnd steigt sie in die Höh’.
Der höchsten Schiffe höchste Masten
Zieh’n unter ihrem Bogen hin;
Sie selber trug noch keine Lasten
Und scheint, wie du ihr nahst, zu fliehn.
Sie wird erst mit dem Strom und
schwindet,
So wie des Wassers Fluth versiegt.
So sprich, wo sich die Brücke findet,
Und wer sie künstlich hat gefügt?
281
2.
Auf einer grossen Weide gehen
Viel tausend Schafe silberweiss;
Wie wir sie heute wandeln sehen,
Sah sie der allerält’ste Greis.
Sie altem nie und trinken Lehen
Aus einem unerschöpften Born;
Ein Hirt ist ihnen zugegeben
Mit schön gebognem Silberhom.
Er treibt sie aus zu gold’nen Thoren,
Er überzählt sie jede Nacht
Und hat der Lämmer keins verloren,
So oft er auch den Weg vollbracht.
Ein treuer Hund hilft sie ihm leiten,
Ein muntrer Widder geht voran.
Die Herde, kannst du sie mir deuten?
Und auch den Hirten zeig’ mir an!
3.
Kennst, du das Bild auf zartem Grunde?
Es gibt sich selber Licht und Glanz.
Ein and’res ist’s zu jeder Stunde,
Und immer ist es frisch und ganz.
Im engsten Kaum ist’s ausgeführet,
Der kleinste Rahmen fasst es ein;
Doch alle Grösse, die dich rühret,
Kennst du durch dieses Bild allein.
Und kannst du den Kristall mir
nennen ?
Ihm gleicht an Werth kein Edelstein;
Er leuchtet, ohne je zu brennen,
Das ganze W eltall saugt er ein.
Der Himmel selbst ist abgemalet
In seinem wundervollen King,
Und doch ist, was er von sich strahlet,
Noch schöner, als was er empfieng.
4.
Unter allen Schlangen ist eine
Auf Erden nicht gezeugt,
Mit der an Schnelle keine,
An Wuth sich keine vergleicht.
Sie stürzt mit furchtbarer Stimme
Auf ihren Raub sich los,
Vertilgt in einem Grimme
Den Reiter und sein Ross.
Sie lieht1 die höchsten Spitzen;
Nicht Schloss, nicht Riegel kann
Vor ihrem Anfall schützen;
Der Harnisch — lockt sie an.
Sie bricht wie dünne Halmen
Den stärksten Baum entzwei;
Sie kann das Erz zermalmen,
Wie dicht und fest es sei.
Und dieses Ungeheuer
Hat zweimal nie gedroht —
Es stirbt im eignen Feuer;
Wie’s tödtet, ist' es todt.
5.
Wie heisst das Ding’, das wen’ge
schätzen,
Doch ziert’s des grössten Kaisers Hand?
Es ist gemacht, um zn verletzen;
Am nächsten ist’s dem Schwert ver-
wandt.
Kein Blut vergiesst’s und macht doch
tausend Wunden;
Niemand beraubt’-- und macht doch reich;
Es hat den Erdkreis überwunden,
Es macht das Leben sanft und gleich.
Die grössten Reiche hass gegründet,
Die ält’sten Städte hass erbaut;
Doch niemals hat es Krieg entzündet,
Und Heil dem Volk, das ihm vertraut!
6.
Ich wohne in einem steinernen Haus,
Da lieg’ ich verborgen und schlafe;
Doch ich trete hervor, ich eile heraus,
Gefordert mit eiserner Waffe.
Erst bin ich unscheinbar und schwach
und klein,
Mich kann dein Athem bezwingen;
Ein Regentropfen schon saugt mich ein;
Doch mir wachsen im Siege die Schwingen.
Wenn die mächtige Schwester sich zu
mir gesellt,
Erwachs’ ich zum furchtbar’n Gebieter
der Welt.
F. v. Schiller.
207. Eolnmbus, der Entdecker Amerikas.
1. Christoph Columbus stammte aus der italienischen Stadt Genua
und hatte sich von früher Jugend an dem Seewesen gewidmet. Mit Eifer-
bestrebt, seinen Geist auszubilden, hatte er sich alle Kenntnisse, welche zu
diesem Berufe gehören, in vorzüglichem Grade angeeignet. Was er von
der großen Entdeckung der Südspitze von Afrika durch die Portugiesen hörte,
erfüllte ihn mit Begeisterung. Um sich genauer mit derselben bekannt zu
machen, begab er sich nach Portugal. Hier kam er auf den Gedanken, daß
man doch, da die Erde eine Kugel sei, wenn man gegen Westen durch das
atlantische Meer schiffe, wiederum Land treffen müsse, und daß dieses Land
282
-I
vielleicht das im fernen Osten gelegene Indien sein könne. Wer weiß, dachte
er, ob dieser Weg nicht kürzer ist als der um Afrika herum? Auch manche
Erzählungen portugiesischer Seeleute schienen darauf hinzuweisen, daß im
Westen Land zu finden sei. Man habe, hieß es, zuweilen ungewöhnlich
großes Schilfrohr, künstlich bearbeitetes Holz, ja einmal sogar zwei Leichname
von ganz eigenthümlicher Körperbildung von Westen her über's Meer
schwimmen und ans Land treiben sehen. Es wurde daher der feurigste
Wunsch des Columbus, eine Entdeckungsfahrt nach Westen hin zu unter-
nehmen. Zuerst machte er seiner Vaterstadt Genua das Anerbieten und
verlangte einige Schiffe. Allein man erwiderte ihm: „Du bist ein Träumer",
und wies ihn ab. Hierauf wandte er sich an den König von Portugal;
doch ebenfalls umsonst. Nun gieng er nach Spanien; aber auch hier dauerte
es acht lange Jahre, bis der beharrliche Mann mit seinem Vorhaben durch-
drang. Endlich gab ihm die Regierung im Jahre 1492 drei kleine Schiffe
und 90 Mann, um die große Reise anzutreten.
2. Voll kühnen Muthes fuhr nun Columbus in's wilde, unbekannte
Meer hinaus. Der Wind blies günstig, und pfeilschnell flogen die Schiffe
dahin. Aber wo fand sich das gesuchte Land? Sechzig Tage hatte die Fahrt
schon gedauert, und noch immer sah man nichts als die unendliche Wasser-
wüste ringsum und darüber die weite Himmelsdecke. Da ergriff Angst auch
die Beherztesten unter den Schiffsleuten. „Was soll aus uns werden?"
fragten sie zitternd. „Er führt uns in den gewissen Untergang." Nur
Columbus verlor keinen Augenblick den Muth. „Seid getrost", rief er
den Verzagten zu, „bald ist das Ziel erreicht." Und unermüdet stand er
Tag und Nacht auf dem Verdeck und beobachtete und leitete alles. Aber
endlich versagte ihm die verzweifelnde Mannschaft den Gehorsam. In
wilder Wuth stürzen die Matrosen auf ihn los und drohen, ihn über Bord
zu werfen, wenn er nicht alsbald umkehre. „Nur drei Tage noch fordere
ich", erwiderte Columbus; „sehen wir dann kein Land, so fahren wir heim-
wärts." Das nahmen die Empörten an. Und siehe, schon am folgenden
Tage erreichte das Senkblei den Meeresgrund; Rohr und ein Baumast
mit rothen Beeren schwammen auf sie zu, und Landvögel flogen auf die
Masten. Die Sonne ging unter; noch sah man nichts. Da ließ Columbus
die Segel einreffen, um nicht etwa bei Nacht auf Klippen getrieben zu
werden. Gegen Mitternacht erblickte man ein Licht in der Ferne. „Land,
Land!" erscholl cs jetzt aus jeder Brust; man stürzte einander in die Arme,
alle weinten vor Freude und baten knieend den Columbus um Verzeihung.
Als der Morgen anbrach — es war am 70sten Tage nach der Abfahrt —
sahen sie eine schöne, grüne Insel vor sich liegen.
3. Mit Sonnenaufgang ruderten sie nun unter kriegerischer Musik ans
Land; Columbus, eine Fahne in der einen Hand, einen Degen in der andern,
war der erste, der die neue Welt betrat. Nachdem er mit der ganzen
Mannschaft Gott auf den Knieen gedankt, nahm er die Insel feierlich für
den König von Spanien in Besitz. Die Inselbewohner, welche von allen
Seiten am Ufer zusammengeströmt waren, betrachteten mit Erstaunen die
weißen Männer, ihre Kleidung, Schiffe und Waffen. Niemals hatten sie
solcherlei gesehen. Sie selbst waren nackt, von kupferrother Hautfarbe; viele
trugen als Zierrath Goldbleche in Nase und Ohren. Ihre Insel nannten
283
sie Guanahani; Columbus aber gab ihr den 'Namen San Salvador,
d. i. Erlöscrinsel. Nach kurzem Verweilen setzte er dann seine Ent-
deckungsfahrt weiter fort
und fand die großen Inseln
Cnba und Hayti (San Do-
mingo). Sie waren mit dem
üppigsten Pflanzenwuchse be-
deckt, aber von Anbau zeigte
sich keine Spur; Herden
nackter Menschen rannten
thierähnlich umher und flohen
beim Anblick der fremden
Menschen wie schüchterne
Rehe. Allmählich jedoch
wurden sie zutraulicher und
brachten Wurzeln, Früchte,
Papageien und Fische herbei.
Was sie an Goldblechen
hatten, gaben sie den gie-
rigen Spaniern für gefärbte
Scherben und blinkendes Glas gern hin. Columbus ließ auf Hayti eine
kleine Festung erbauen, in welcher 38 Spanier zurückblieben; mit seinen
übrigen Gefährten trat er dann die Heimreise an, um die wichtige Ent-
deckung in Europa zu verkünden.
4. Ungeheurer Jubel begrüßte den Helden, als er in Spanien landete;
der König und die Königin überhäuften ihn mit Ehren; das ganze Land
war in Bewegung gesetzt durch die Nachricht von einer neu entdeckten Welt.
kurzer Zeit hatten sich gegen 1500 Menschen zusammengefunden, die
ah einem neuen Zuge theilnehmen wollten, und schon sechs Monate nach
seiner Rückkehr trat Columbus mit 17 Schiffen seine zweite Reise an.
Er entdeckte auf derselben abermals mehrere Inseln, hatte aber auch manche
TLiderwärtigkeiten und Drangsale zu erdulden. Wie erschrak er, als er,
111 Hayti angekommen, die dort erbante Festung zerstört und von seinen
zurückgelassenen Gefährten keinen mehr übrig fand! Das grausame Be-
lagen der Spanier gegen die armen Inselbewohner hatte diese zu gerechter
Nothwehr gereizt; sie hatten alle ihre Peiniger erschlagen, die Feste zer-
trümmert und sich in das Innere der Insel geflüchtet. Columbus gründete
fme neue Niederlassung; allein seine neuen Gefährten, die gemeint hatten,
,n der neuen Welt Gold wie Saud auflesen zu können, verwünschten ihn,
uts sic nun Wildnisse urbar machen und Äcker bebauen sollten; viele von
ihnen kehrten nach Spanien zurück, und auf ihre Anklagen erschien endlich
cm Abgesandter des Königs, der über das Verhalten des Columbus eine
Untersuchung anstellen sollte. Das war dem edlen Helden zu viel; miß-
wuthig verließ er die Insel und eilte nach Spanien. Dort erkannte man
auch seine Unschuld; doch vergicngen zwei Jahre, ehe er die nöthigen Schiffe
zu einer neuen Fahrt erhalten konnte.
5. Auf dieser dritten Reise entdeckte Columbus zuerst das feste
Land des neuen Erdtheils. Er kam an die Küste von Südamerika,
284
wo der Orinocostrom sich in das Meer ergießt. Aus der Größe dieses
Stromes merkte er, daß er aus keiner Insel kommen könne. Er fuhr
eine Strecke der Küste entlang und wandte sich dann nach seiner Lieblings-
insel Hayti. Aber hier standen die Dinge höchst traurig. Wüste Un-
ordnung und Zwietracht zerrüttete die spanische Niederlassung; frecher als
je zuvor erhoben die Feinde des Columbus das Haupt. Und als er nun
mit Kraft gegen die Friedensstörer einschritt, da wandten sich diese von
neuem an den König und erhoben wider ihn die ärgsten Beschuldigungen.
Abermals kam ein Gesandter aus Spanien, ein hochmüthiger, gewaltthätiger
Mensch. Der mißbrauchte seine Macht so sehr, daß er ohne nähere Unter-
suchung den Columbus gefangen nehmen, wie einen Verbrecher in Ketten
legen und nach Europa abführen ließ. So sah Spanien den großen Welt-
entdecker in Fesseln! Freilich gab man ihn sogleich wieder frei; allein die
Belohnungen, welche man ihm früher zugesagt hatte, wurden ihm nicht zu
Theil. Dennoch unternahm der kühne Mann noch eine vierte Reise.
Auf derselben hatte er furchtbare Gefahren zu bestehen. Nachdem alle seine
Schiffe zu Grunde gegangen waren, schmachtete er mit seiner Mannschaft
acht Monate lang auf einer Jnstl mitten unter den Wilden in der äußer-
sten Noth, bis endlich ein Schiff erschien und ihn nach Spanien zurückführte.
Columbus starb, 59 Jahre alt, in der spanischen Stadt Valladolid.
Sein Leichnam wurde nach Hayti und später nach Cuba gebracht; die
Kette, mit welcher er einst gefesselt war, wurde ihm, wie er verordnet
hatte, mit ins Grab gelegt. Der von ihm entdeckte Erdthcil aber erhielt
nicht nach ihm, sondern nach dem Italiener Amerigo, der ihn zuerst be-
schrieb, den Namen Amerika. I. g. sinbrä.
208. Die Auswanderer.
Ich kann den Blick nicht von euch wenden;
Ich muß euch anschau'n immerdar:
Wie reicht ihr mit aeschäft'gen Händen
Deni Schiffer eure Habe dar!
Ihr Männer, die ihr von dem Nacken
Die Körbe langt, mit Brot beschwert,
Das ihr, aus deutschem Korn gebacken,
Geröstet habt auf deutschem Herd;
Und ihr, im Schmuck der langen Zöpfe,
Ihr Schwarzwaldmädchen, braun und
schlank,
Wie sorgsam stellt ihr Krim' und Töpfe
Auf der Schaluppe grüne Bank!
Das sind dieselben Töps' und Krüge,
Ost an der Heimat Born gefüllt;
Wenn am Missouri alles schwiege,
Sie malten euch der Heimat Bild:
Des Dorfes steingefaßte Quelle,
Zu der ihr schöpfend euch gebückt,
Des Herdes traute Fcuerstelle,
Das Wandgesims, das sie geschmückt.
Bald zieren sie im fernen Westen
Des leichten Bretterhauses Wand;
Bald reicht sie müden braunen Gästen,
Voll frischen Trunkes, eure Hand.
Es trinkt daraus der Tscherokese,
Ermattet, von der Jagd bestaubt;
Nicht mehr von deutscher Rebenlese
Tragt ihr sie heim, mit Grün belaubt.
O sprecht! warum zogt ihr von dannen?
Das Neckarthal hat Wein und Korn;
Der Schwarzwald steht voll stnstrer Tannen;
Im Spessart klingt des Älplers Horn.
Wie wird es in den fremden Wäldern
Euch nach der Heimatberge Grün,
Nach Deutschlands gelben Weizenfeldern,
Nach seinen Rebenhügeln ziehn!
Wie wird das Bild der alten Tage
Durch eure Träume glänzend wehn!
Gleich einer stillen frommen Sage
Wird es euch vor der Seele stehn.
Der Bootsmann winkt! — Zieht hin in Frieden;
Gott schütz' euch, Mann und Weib und Greis!
Sei Freude eurer Brust beschieden,
Und euren Feldern Reis und Mais!
Freiligrath.
28o
209. Abschied von der Heimat.
Nun ade, du mein lieb’ Heimatland,
Lieb Heimatland, ade!
Es geht jetzt fort zum fremden Strand,
Lieb’ Heimatland, ade!
Und so sing’ ich denn mit frohem Muth,
Wie man singet, wenn man wandern thut,
Lieb’ Heimatland, ade!
Wie du lachst mit deines Himmels
Blau!
Lieb’ Heimatland, ade!
Wie du grüssest mich mit Feld und Au!
Lieb’ Heimatland, ade!
Gott weiss, zu dir steht stets mein Sinn,
Doch jetzt zur Feme zieht’s mich hin,
Lieb’ Heimatland,» ade!
Begleitest mich, du lieber Fluss,
Lieb’ Heimatland, ade!
Bist traurig, dass ich wandern muss,
Lieb’ Heimatland, ade!
Vom moos’gen Stein am wald’gen Thal,
Da grüss’ ich dich zum letztenmal,
Mein Heimatland, ade!
Disselhoff.
210» Wer ist ein Manns
1. Wer ist ein Mann? Der beten kann, nnd Gott dem Herrn vertrant!
Wenn alles bricht, — er zaget nicht; dem Frommen nimmer graut.
2. Wer ist ein Mann? Der glauben kann inbrünstig, wahr und frei!
Denn diese Wehr trügt nimmermehr; die bricht kein Mensch entzwei.
3. Wer ist ein Mann? Der lieben kann von Herzen fromm nnd warm!
Die heillge Glnt gibt hohen Muth und stärkt mit Stahl den Arm.
4. Wer ist ein Mann! Der streiten kaun für Weib und liebes Kind!
Der. kalten Brust fehlt Kraft und Lust, und ihre That wird Wind.
5. Wer ist ein Mann? Der sterben kann für Gott und Vaterland!
Er läßt nicht ab bis au das Grab mit Herz und Mund und Hand.
6. So, deutscher Manu, so, freier Manu, mit Gott dem Herrn zum Krieg!
Denn Gott allein mag Helfer sein; von Gott kommt Glück und Sieg.
. ■ __________E- MüÄrndt.
211. Das Ei des Columbus.
Bei einem Feste, welches der Kardinal Mcndoza dem Columbus zu
Ehren veranstaltete, hielt er ihm eine große Lobrede wegen der von ihm
gemachten Entdeckung. Die anwesenden Herren vom Hofe nahmen es übel
auf, daß einem Ausländer, noch dazu einem Manne, der nicht einmal von
adliger Herkunft sei, so große Auszeichnung zu Theil wurde. „Mich dünkt”,
sieng einer der königlichen Kammerherren an, »der Weg nach der soge-
nannten neuen Welt war nicht so schwer zu finden. Das Weltmeer stand
überall offen, und kein spanischer Seefahrer würde den Weg verfehlt haben.”
Mit vornehmem Gelächter gab die' Gesellschaft dieser Äußerung ihren Bei-
fall zu erkennen, und mehrere Stimmen riefen: „O, das hätte ein jeder
von uns gekonnt!"
„Ich bin weit davon entfernt”, cntgcgnctc Columbus, „mir etwas als
Ruhm anzumaßen, was ich nur einer gnädigen Fügung Gottes zuschreiben
darf; indessen kommt es doch bei vielen Dingen in der Welt, welche uns
leicht auszuführen scheinen, oft nur darauf an, daß sie ein Anderer uns
vormacht. Dürft' ich”, sagte Columbus, zu jenem Kammcrherrn gewendet,
„Sie wohl ersuchen, dies Ei" — er hatte sich von einem Diener ein
Hühnerei bringen lassen — „so auf die Spitze zu stellen, daß es nicht um-
fällt?" Der Kammerherr versuchte von der einen wie von der andern
Seite vergeblich, das Ei zum Stehen zu bringen. Der Nachbar bat es
sich aus; es wollte ihm eben so wenig gelingen, Nun drängten sich die
andern herzu, ein jeder wollte den Preis gewinnen; allein weder mit Eifer,
noch mit Ruhe war es möglich, das Kunststück auszuführen. „Es ist un-
möglich", riefen die Herren, „Ihr verlangt etwas Unausführbares!" „Und
doch", sagte Columbus, „werden diese Herren sogleich sagen: das kann jeder
von uns auch!" Jetzt nahm er das Ei und setzte es mit einem leichten
Schlage auf den Tisch, so daß cs auf der eingedrückten Schale stand. Da
riefen jene: „Das hätte jeder von uns gekonnt!" „Ganz recht", erwiderte
Columbus, „aber das ist gerade der Unterschied, daß Sic es hätten thun
können, und daß ich es gethan habe." Curtmann.
212. Die Baumwolle.
Die Baumwollenpflanze gehört zu den Malvengewachsen.
Sie findet sich bald als Kraut, bald als Strauch, zuweilen sogar,
und zwar in Arabien und Ägypten, als 3 bis 5 Meter hoher Baum.
Sie hat drei- bis fünflappige, herzförmige, in ihrer Jugend oft
schwarzgetüpfelte Blätter und ziemlich grosse, gewöhnlich gelbe, bei
einigen Gattungen purpurrothe, fünfblättrige Blumen, welche ein-
zeln in den Blattwinkeln stehen und am Grunde mit drei grossen,
herzförmigen, gezähnten Hüllblättern umgeben sind. Die Frucht ist
drei- bis fünffächerig, einem grossen Mohnkopfe ähnlich, springt
bei der Reife in mehrere Klappen auf und enthält mehrere Samen-
körner, die in eine lange, dichte, weisse, nach dem Aufplatzen ela-
stisch hervorquellende Wolle gehüllt sind. Die Baumwolle wird in
der Türkei, in Griechenland, in Süditalien, Spanien,
Ägypten, Indien und China, ganz besonders aber im unteren
Mississippi-Thale gewonnen. Hier ist der rechte Boden für
die Pflanze, die ein lockeres, leichtes, mit Sand gemischtes, schon
angebautes Land verlangt; hier ist auch das passende Klima, welches
nicht zu trocken sein darf, weil bei Mangel an Regen die Wolle
kurz bleibt. Die Kapseln müssen jeden Morgen, sobald sie auf-
springen wollen, abgepflückt werden, und die aus den Kapseln ge-
wonnene Wolle wird entweder durch die Hand, oder gewöhnlich
durch eine Maschine von dem Samen und den Hülsen gereinigt und
hierauf in grosse Säcke verpackt, welche in einer Presse zu gewal-
tigen, viereckigen Ballen zusammengedrückt und versandt werden.
Wir sind in Manchester. Ein gewaltiger Schlot, ein riesiger
Würfel von Bauwerk, über 800 Fenster auf jeder Seite, ragt über
alle Gebäude empor. Wir suchen ihn auf und treten in diese Riesen-
fabrik ein. Unter Krahnen, schwebenden Balken, auf donnerndem
Boden, zwischen zischenden Dampfkesseln, durch einen Wirrwarr
von Wegen und Gängen kommen wir endlich in das Arbeitszimmer
des Fabrikherrn, in welchem uns ein Führer beigegeben wird. Wir
stehen zuerst vor zwei Ungeheuern, in deren Innern es ras’t und
tobt wie ein gefesselter Sturm, der alle Wände seines Gefängnisses
zugleich vor Wuth zerplatzen lassen möchte. Das sind die Bläser.
„Was thun Sie?“ fragen wir den Jungen vor der Maschine. „Das!“
sagt er, indem er eine tüchtige Hand voll Rohbaumwolle aus dem
Ballen reisst und sie, nachdem er uns den Schmutz, die Holzstückchen
287
und Knoten darin gezeigt, seiner Maschine gleichsam zu fressen
gibt. Sie zupft daran etwa wie eine Kuh, der man eine Hand voll
Heu vorhält. Es ist verschwunden. Der Junge holt einen ganzen
Arm voll baumwollenen Schnee unter der Maschine hervor und be-
hauptet, dass dies die eben verzehrte Hand voll sei. Wir zweifeln,
und er zeigt uns, wie es zugeht. Im Innern wird die Baumwolle
mit rasender Kraft und Geschwindigkeit zerzaust und hin- und her-
geworfen, so dass alle fremdartigen Bestandtheile zu Boden fallen.
Nun ist sie rein und reif zum Spinnen, denken wir. Das ist
ein starker Irrthum. Es war die erste von mehr als zwölf ähn-
lichen Reinigungen. Die nächsten sehen wir unter den beiden Roh-
bläsern, einer ganzen Reihe dampf - zischender und pfauchender
Höhlen, in welche der baumwollene Schnee wie ein milchiger Regen
herabströmt. Wir sehen in das Innere hinein und finden, dass die
Baumwolle gleich am Eingänge von einer furchtbaren Windkraft
in den dünnsten Nebel zerblasen wird. Stählerne Flügel bewegen
sich in diesem Raume so rasch, dass sie zu einem kaum sicht-
baren Nebelflecke verschwinden. Hier werden die Samenkörner
und kleinen, fremdartigen Bestandtheile vollends abgesondert und
durch Ritzen unten zu Boden geschleudert, während die leichten
Baumwollenfasern von Wurfschaufeln im Fluge erhalten werden,
bis sie am entgegengesetzten Ende wie ein immerwährender Schnee-
sturm herausfliegen, so dass wir im Umsehen wie lebendige Schnee-
männer neben einander stehen. Gegenüber wird der Baumwollen-
schnee von Käfigen verschlungen, die ihn,, in wattenartige Bogen
gepresst, auf der anderen Seite abliefern. Ein Blick in einen solchen
Käfig zeigt uns einen Wirrwarr von Fress- und Verdauungswerk-
zeugen, so schlingt und krümmt und windet es sich darinnen.
So geht die Baumwolle durch 12 Reinigungs-, Wurf-, Hechel-,
Dresch- und Sieb-Werkzeuge, bis sie zuletzt blendend weiss, wunder-
schön als ein sich senkender Schnee hinsäuselt, aber ohne sichtbare
Zwischenräume, nicht als Flocken. Nachdem die gleichsam flüssige
Baumwolle zu grossen Rollen geformt ist, wandert sie zu den
Krempel- und Kämm-Maschinen, von wo sie den Ziehmaschinen
überliefert wird, die in wunderbar künstlicher Weise den luftigen
Stoff zu Fäden verarbeiten. Wenn nun aber einmal unter den
tausenden ein Faden reisst, was dann? So wie das geschieht, fällt
eine Platte an der Stelle hörbar nieder, ein Zeichen für den Maschi-
nisten, das ihn mahnt, die bestimmte Stelle sofort in Ruhe zu ver-
setzen. Dies geschieht, und eins der beaufsichtigenden Mädchen
holt das davon gelaufene Stück Faden zurück, legt es an das Ende
des zurückgebliebenen, und der Schade ist schneller geheilt, ehe
wir nur bemerken, dass die Maschine stille stand. Dieses Ankleben,
scheinbar eine gedankenlose Verrichtung, ist eine Kunst, die grosse
Übung verlangt.
Wir steigen ein Stockwerk höher, noch eins und noch eine
Treppe; überall Maschinen, die schnaubend und keuchend spinnen
und weben. Zwischen ihnen nur einzelne verstreute, mechanische,
288
lautlose, in dem ewigen Gewirr und Gedonner ohnehin unhörbare
Menschen, alle gespannt aufpassend und zugreifend, wenn es die
Maschine verlangt, Knaben und Mädchen erhitzt — (die feinen
Fäden gerathen nur in hoher Wärme) — alle, nichts sagend, wie
Maschinentheile aussehend, Menschen, kaum hier und da einzeln
und einsam zu entdecken, und doch 1800 Menschen, deren Leben
und Gesundheit hier mit versponnen wird, indem sie Maschinen
beaufsichtigen, welche über 120,000 spinnende Hände nicht bloss
ersetzen, sondern an Feinheit und Meisterschaft der Arbeit unend-
lich Übertreffen, „Buch der Erfindungen.“
213. Pflanzenfalieln.
i.
Kürbisstauden eine
Sagt zur hohen Eiche:
„Du Gepries'ne, Reiche
Hast doch gar gemeine
Frücht' und winzig kleine,
Schau dagegen meine
Äpfel, wie sie quollen,
Wunder von Gewichte!"
„Aber schnell zunichte
Sind die wasservollen",
Spricht die Eich', „aus meinen
Kernen, den so kleinen,
Wird in späten Zeiten
Sich ein Wald verbreiten,"
2.
Die Pappel spricht zum Bäumchen:
„Was machst du dich so breit
Mit dem geringen Pfläumchen?"
Es sagt: „Ich bin erfreut,
Daß ich nicht bloß ein Holz,
Nicht eine leere Stange!"
„Was!" ruft die Pappel stolz,
„Ich bin zwar eine Stange,
Doch eine lange, lange!"'
A, E. Fröhlich,
214. Der Flachs.
Bon jeher war bei den Deutschen außer den Gctrcideartcn der Lein,
Flachs oder Haar eine der wichtigsten Pflanzen; denn wie jene einen be-
deutenden Theil der Nahrung geben, so bietet der Flachs einen sehr wesent-
lichen Theil der Kleidung, und man kann daher die Pflege des Getreides
als den Männern, die des Leines aber als vorzüglich den Frauen ange-
hörig betrachten.
Der Lein war der Freija geheiligt, ihr Katzengespann war mit
Strängen von blühendem Flachs angeschirrt, und sein Säen, Rösten, Hecheln
und Spinnen wurde ihrem Schutze anheimgestellt. Dieser Cultus der
Freija (auch Hulda oder Holle genannt) hatte so tiefe Wurzel gefaßt,
daß christliche Priester wie Eligius, Gallus und Burkhard von Worms
heftig dagegen eiferten, ohne ihn aber ausrotten zu können, Fran Holle
wird als spinnende Frau dargestellt, sie schenkt den fleißigen Dirnen eilende
Spindeln und spinnt ihnen nachts die Spulen voll, den faulen aber be-
schmutzt sie den Rocken oder zündet ihn an, und wenn Fran Holte zu
Weihnachten einzieht, werden alle Spinnrocken reichlich mit Flachs belegt
und für sie stehen gelassen; zur Fastnacht aber, wenn sie von ihrer Wan-
derung heimkehrt, müssen alle Rocken vor ihr versteckt werden, sonst straft
sie die Spinnerinnen, denn das Fest ihrer Heimkehr ist so heilig, daß nicht
gearbeitet werden darf. Endlich darf der Flachsrocken nicht von einem
Winter zum andern auf der Kunkel oder gar nngesponnen bleiben, sonst
zürnt Frau Holle oder verwirrt ihn oder nistet sich hinein, wie die Leute sagen.
289
Wegen der blauen Farbe war der Lein auch dem Donar geheiligt, und
am Wodanstag (Mittwoch) hütete man sich, Lein zu säen, damit das Pferd
dieses Gottes, der an diesem Tage seinen Umzug hielt, die Saat nicht zertrete.
Auch glaubte man, daß aus der Flachsblüte die Feen entstehen, und daß,
je dunkler die Farbe der Blume war, desto fruchtbarer das Jahr würde.
Flachs am Gründonnerstage gesäet, friert nicht ab, am besten säet
man ihn aber am hundertsten Tage nach Neujahr (10. April). Wer Lein
säet, soll zuerst den Sack mit dem Leinsamen auf den Acker legen und
sich, mit dem Angesicht nack Osten gewendet, dreimal darauf setzen. Auch
durfte der Sack mit der Leinsaat nicht zugebunden werden, sonst blieb er
kurz. Nach der Aussaat stecken die Rhöner Palmzweige auf die Flachs-
felder, um alles Unglück zu verhüten, und in Mittelfranken legt man an
die vier Ecken des Leinfeldes ein Kreuzbüschel mit einem Stein, damit die
Druda den Flachs.nicht zu Boden drücke. In Süddeutschland singt man
beim Springen über das Johannisfeuer: „St. Johann, mach' den Flachs
drei Ellen lang." In der Gegend von Hildesheim gehen am Himmcl-
fahrtsfest alle Mädchen eines Dorfes auf den Kirchturm und läuten die
Glocken, damit sie eine gute Flachsernte bekommen, und in der Rhön laufen
am ersten Fastcnsonntage Knaben und Mädchen mit angezündeten Stroh-
wischen wie tobend auf den Leinfeldern herum, damit der böse Säemann
verjagt werde. Beim Flachsraufen oder Haarriffeln wird Scherz und
Kurzweil getrieben, worauf das Risfelmahl gehalten wird.
In Tirol schmückt beim Flachsbrecheln die Oberdirne einen Tannen-
wipfel mit Bändern und stellt ihn nächst der Brechelstubc auf. Ihr Ver-
lobter soll ihn nun erobern, was ihm aber nichts weniger als leicht wird,
da alle Flachsbrechcrinneu den Wipfel bewachen und vertheidigen; gelingt
es dem Burschen aber doch, so gilt er als ein treuer Liebhaber. Alle diese
Gebräuche scheinen sehr alt, da sie mit christlichen Ceremonien nichts ge-
mein haben.
Wenn beim Waschen des Garns recht gelogen wird, so gewinnt es
an Weiße, aber am Samstag soll am Rocken kein Flachs hängen bleiben,
sonst spinnen die Hexen daran. Auch ist es verboten, bei Mondlicht zu
spinnen, denn sonst spinnt man sein Leichentuch. Garn, von einem Mädchen
unter sieben Jahren gesponnen, hat besondere Kraft. Ein Hemdkragen da-
von schützt vor dem Untergehen im Wasser, hilft gegen Gicht und macht
sicher vor Schuß und Stich. Die Sage vom Nothhcmd, welches gleich-
falls stich- und kugelfest macht, ist allbekannt. Es muß von einer keuschen
Jungfrau unter stetem Schweigen und unter geheimen Beschwörungen ge-
sponnen und gewebt werden.
In der Kunstkammer Kaiser Rndolf's II. zu Prag wurde ein solches
Nothhemd aufbewahrt, und in Wien soll inan in mehreren Raritäten-
sammlungen ähnliche Schutzkittcl gefunden haben.
Sagen von spinnenden Frauen und Jungfrauen, die bei ihrem Rad
so lange an der Straße harrten, bis ihr Gemahl oder Verlobter aus dem
gelobten Lande zurückkam, sind an vielen Orten gang und gäbe, und die
Säule zur Spinnerin am Kreuz bei Wien ist in dieser Beziehung wohl
bekannt, obwohl dieses Denkmal seine Entstehung höchst wahrscheinlich einem
ganz andern Grunde Verdankt. A. v. Perger's d-utlche Pflanz-nsagen.
19
290
215. Die alte Waschfrau.
1. Du siehst geschäftig bei dem Linnen
Die Alte dort in weißem Haar,
Die rüstigste der Wäscherinnen
Fm sechsundsiebcnzigsten Jahr.
So hat sie stets mit sauerm Schweiß
Ihr Brot in Ehr' und Zucht gegessen
Und ausgefüllt mit treuem Fleiß
Den Kreis, den Gott ihr zugemessen.
2. Sie hat in ihren jungen Tagen
Geliebt, gehofft und sich vermählt;
Sie hat des Weibes Los getragen,
Die Sorgen haben nicht gefehlt;
Sie hat den kranken Mann gepflegt,
Sie hat drei Kinder ihm geboren,
Sie hat ihn in das Grab gelegt —
Und Glaub' und Hoffnung nicht verloren.
3. Da galt's, die Kinder zu ernähren;
Sie griff es an mit heiterm Muth,
Sie zog sie auf in Zucht und Ehren,
Der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut.
Zu suchen ihren Unterhalt,
Entließ sie segnend ihre Lieben,
So stand sie nun allein und alt;
Ihr war ihr heitrer Muth geblieben.
216.
4. Sie hat gespart und hat gesonnen,
Und Flachs gekauft und nachts gewacht,
Den Flachs zu feinem Garn gesponnen,
Das Garn dem Weber hingebracht;
Der hat's gewebt zu Leinewand;
Die Schere brauchte sie, die Nadel
Und nähte sich mit eigner Hand
Ihr Sterbehemde sonder Tadel.
5. JhrHemd,ihrSterbehemd,sie schätzt es,
Verwahrt's im Schrein am Ehrenplatz;
Es ist ihr Erstes und ihr Letztes,
Ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
Sie legt es an, des Herren Wort
Am Sonntag früh sich einzuprägen;
Dann legt sie's wohlgefällig fori,
Bis sie darin zur Ruh sie legen.
6. Und ich, an meinem Abend, wollte,
Ich hätte diesem Weibe gleich
Erfüllt, was ich erfüllen sollte,
In meinen Grenzen und Bereich;
Ich wollt', ich hätte fo gewußt,
Am Kelch des Lebens mich zu laben,
Und könnt' am Ende gleiche Lust
An meinem Sterbehemde haben.
Chamisso.
Der Specht.
Der Specht ist der Holzhauer und Zimmermann der Bögel. Vier
Brüder sind es, von demselben Handwerk. Der größte heißt von seinem
schwarzen Rock der Schwarzspecht, hat aber noch ein feuerrothes Käpp-
chen auf dem Kopfe. Schön grün und roth ist der zweite und heißt
Grünspecht; die beiden andern dagegen sind schwarz und weiß, als sei
ihr Kleid aus Flicken und Flecken zusammengesetzt. Einer davon ist größer,
der andere kleiner.
Kaum graut der Tag, so geht er an die Arbeit; wo die stärksten
Bäume im Walde sind, da ist seine Werkstatt. Mitten am Stamme
klammert er sich an der rauhen Rinde fest. Zwei von seinen Zehen hält
er nach vorn und zwei nach hinten. Die Nägel an denselben sind ihm
von großem Vortheil. Sein Schwanz ist ziemlich kurz, und die Federn,
die denselben bilden, sind steif und hart; er benutzt ihn zugleich als Stühl-
chen, auf dem er au des Baumes Borke ruht. Der feste Schnabel ist
seine Axt; er ist ganz ähnlich einem Keile, wie ihn der Holzhauer in den
Baumstamm schlägt; nur ist er vorn zugespitzt. Da sitzt er denn, pickt
durch die Borke und zieht die Käfermaden hervor, die oft zu Hunderten
in einem Stamme wohnen und ihn so zernagen, daß die Bäume absterben.
Der Obstgärtner, der Forstmann sehen diese verborgenen Feinde nicht eher,
bis sie am Kränkeln des Baumes den Schaden erkennen; dann ist es aber
zu spät. Da hilft ihnen der Specht. Sein Schnabel spaltet das mürbe
Holz, und fingerlange Splitter fliegen umher. Plötzlich läuft der Specht
aus die andere Seite des Stammes; hier beguckt er sich jedes Ritzchen.
Warum? Meint er vielleicht, das Loch gehe schon durch den ganzen Baum?
Nein; die Würmer erschraken vor dem Hacken und flohen auf die andere
291
Seite des Stammes; aber
auch da werden sie seine
Bente. — Seine Zunge ist
lang und biimt, dabei hart
und so spitz wie eine Nadel;
damit fährt er in die Wurm-
löcher hinein und holt die
Maden heraus, die er um
so besser fassen kann, da die
Zunge wie ein Pfeil mit
Widerhaken versehen ist. Die
großen Löcher, die der Specht
in die Bäume einhaut, kom-
men andern kleinen Vögeln
sehr zu Statten. Meisen,
Skaare und Kleiber be-
nutzen sie als Wohnungen,
und der letztgenannte klebt
mit Lehm so viel von der
großen Öffnung zu, daß nur
eben noch Platz genug bleibt,
um selbst durchzukommen.
So ist der Specht recht
eigentlich der Vögel Zimmer-
mann. Er hackt auch für
sein eignes Nest ein wohl
zwei Spannen langes Loch
schräg in den Baum, und
nachdem er alle Späne vor-
sichtig weggetragen hat, da-
mit kein böser Bube merke,
daß er da sein Nest habe,
legt das Weibchen auf Hvlzspäne und Wurmmehl zwei schöne weiße Eier.
Wagner.
Sei willkommen, Wandersma
In des Waldes Einsamkeit!
Was ein armes Leben freut,
Hier man einzig finden kann.
An der Quelle ruht das Reh
Tröffet übet freien Sang;
Waldesnacht macht dir nicht bai
Grün thut keinem Auge weh.
Bach und Thau übt kühlen §
Blume blühet ungepslückt;
Ties in Klüften, nie erblickt,
Schlummert Gold und Edelstein
Eile nicht zu Stadt und Tha'
Eine Mühle treibt der Quell;
217.
Waldleben.
Drossel, so gesungen hell,
Sitzt im Bauer stumm und kahl.
Aus der Erde stillem Schoß
Reißen sie den Edelstein;
Wie ein Auge gibt er Schein,
Das von Thränen überfloß.
Armer, armer Wandersmann!
Weil', o weil' in Waldesnacht!
Draußen Mond und Sonne wacht,
Sicht dich jeder sragend an.
Aber hier im Waldesschoß
Gehst du einsam mit dem Quell,
Siehet dich kein Auge hell,
Als der Thau auf Blum' und^Moos.
Just. Kerner.
19*
1
292
218. Friihlingslied.
Die Luft ist blau, das Thal ist grün,
Die kleinen Maienglocken blüh'n
Und Schlüsselblumen drunter;
Der Wiesengrund
Ist schon so bunt
Und malt sich täglich bunter.
Drum komme, wein der Mai gefällt,
Und freue sich der schönen Welt
Und Gottes Vatergüte,
Die solche Pracht'
ervorgebracht,
en Baum und seine Blüte.
L- H. Chr. Hölty.
219. Der Spreewald.
Wenige Stunden unterhalb der kleinen Stadt Peitz kommt die Spree
wegen mangelnden Gefälles in Verlegenheit, welchen Weg sie wählen soll,
und theilt sich daher in eine unzählige Menge von Armen, die netzförmig
eine weite, bei hohem Wasserstande ganz überschwemmte Niederung durch-
fließen. In älterer Zeit dehnte sich hier ein undurchdringlicher Bruchwald,
den die Wenden zum Zufluchtsorte nahmen, als sie vor den Deutschen
nach Osten hin weichen mußten. Die Nachkommen derselben wohnen noch
heute im Spreewalde und haben nach Art ihres Stammes die väterliche
Sprache und Sitte bewahrt. Ein Theil des Spreewaldes ist in meist
künstlich erhöhtes fruchtbares Wiesen- und Gartenland verwandelt worden;
der aus Dammcrde und Sand bestehende Boden zeigt den üppigsten Gras-
wuchs. Ein anderer Theil bildet noch jetzt eine beträchtliche Waldmasse.
Die herrschende Holzart ist die Erle, doch findet man auch Eichen, Buchen,
Weiden und Kiefern; auf den höheren Stellen wuchern Vogelbeere und
Heckenkirschen als Unterholz. Außer einigen unbedeutenden Sandhügeln
oder Horsten ist alles ebene Fläche. Da die ganze Gegend von zahllosen
Flußarmen oder Fließen und künstlichen Kanälen durchzogen ist, so müssen
die Bewohner des Spreewaldes alles, was anderswo zu Fuße, zu Pferde
oder zu Wagen abgemacht wird, in Kähnen verrichten; diese ziminert man
aus Baumstämmen. Mit großer Geschicklichkeit wissen die Bewohner des
Spreewaldes sie zu regieren, und pfeilschnell treibt man sie durch das
Wasser. Alle Ausflüge und Besuche macht man zu Kahne ab. In fest-
lichem Schmucke fährt man Sonntags in Kähnen zur Kirche. Auf Kähnen
folgen die Leidtragenden der Leiche eines Verstorbenen, welche im Kahne
zum Gottesacker gebracht wird. Der Förster besucht zu Kahne sein Revier,
verfolgt zu Kahne den Holz- und Grasdieb, fährt zu Kahne zur Jagd.
Der Wildstand ist reich: Hirsche, stark an Leib und Geweih, viele Rehe,
auch Birkhühner und Bekassinen. Der Fremde, welcher zur Sommerzeit
diese Gegend besucht und zu Kahne bereist, hat einen reichen Genuß. Die
hohen uralten Eichen, Erlen und andere Banmarten, welche die Ufer be-
säumen, bieten in der Sommerschwüle einen erquickenden Schatten und
spiegeln ihr dunkles Laub lieblich in dem klaren Wasser. Unter einem
Laubdache gleitet das Fahrzeug sanft dahin. An den Flußarmen klappern
Mühlen, und freundliche Häuser verleihen der Landschaft den Charakter
der Wohnlichkeit. Gewöhnlich liegen diese Häuser auf kleinen natürlichen
Erhöhungen unter dem Schatten mächtiger Eichen, gleich kleinen Burgen
mit Gräben rings umschlossen. Brücken, hohe Dämme und Fußsteige ver-
binden diese Jnselsitze. Die Gegend von Burg gilt als besonders malerisch.
Einen eigenthümlichen Anblick gewährt der Winter. Kaum hält das Eis,
293
so schnallt sich alle Welt Schlittschuhe an. Das arme alte Mütterchen,
das sich Raff- und Leseholz sammelt, der Holzhauer, der Förster, Männer,
Weiber und Kinder, alle gleiten dann pfeilschnell über die spiegelblanken
Kanäle. H.A. Daniel.
220. Der Seidenschmetterling.
Unter allen Schmetterlingen, welche man mit dem Namen „Spinner"
bezeichnet, ist keiner an Bedeutung und Verbreitung dem Seidenschmettcr-
ling zu vergleichen. Er hat in der That eine weltgeschichtliche Be-
stimmung; denn der von ihm gelieferte Webstoff nimmt eine noch immer
wachsende Wichtigkeit im Weltverkehr ein; seine Hervorbringung beschäftigt
ganze Völkerstämmc, sein Besitz bereichert ganze Länder.
Das schmucklose Insect stammt ursprünglich aus den Maulbeerwäldern
Chinas, ist aber längst auch nach Südcnropa übergesiedelt, um hier in
treibhausartiger Temperatur und unter dem wachsamen Auge der Züchter
sich fortzupflanzen und zu vermehren. Jedes Weibchen legt 4—500 Eier,
und es gehören ihrer mindestens 20000 zu einem Loth; denn sic haben
kaum die Größe eines Mohnkorns. Der Anblick dieser „Körner" läßt
freilich die Beschauer fürcrst noch ziemlich gleichgültig. Er lächelt höchstens,
wenn er hört, daß eifrige Seidcnbaucr dieselben in sorgsam zusammenge-
falteten Tüchern auf ihrer Brust umhertragen, um sie schneller reifen zu
lassen. Der Eindruck des Winzigen und Komischen dauert auch dann noch
fort, wenn nach 10—12 Tagen die Eier sich in zahllose schmutzige Würm-
chen verwandeln, und im Siebe durcheinander wimmelnd, kaum die Hand-
voll Maulbeerblätter bewältigen, welche die Wärterin ihnen reicht. Aber
wunderbar schnell wächst ihre Gefräßigkeit. Ganze Berge des jungen Maul-
beerlaubes werden über sie hingeworfen und verschwinden in wenigen Mi-
nuten, so daß schließlich auf das Loth Eier acht Centner Futter kommen.
Auf diese Weise wird der kleine schwärzliche Wurm zur fingerlangen,
weiß- oder goldglänzenden Raupe, jedoch nicht ohne mit jeder seiner vier
Häutungen eine große Gefahr für sein Leben bestehen zu müssen. Endlich,
wenn nach dreitägigem Schwelgen die Raupe Stoff genug gesammelt hat,
sucht sie einen Winkel, wo sie sich den eigenen Sarg bereiten könne. Die
zu, diesem Zwecke aufgestellten Reiser und Zweige sind mit ihren Spitzen
zusammengebunden und bilden lange Wölbungen, die dem Blicke je länger
294
je mehr das täuschende Kleinbild unendlicher Waldgünge liefern. Und
tiefe Stille herrscht in diesen Hallen. Das seltsame Geräusch, welches,
gleich dem Herabträufeln des Regens auf ein Schindeldach, bisher das un-
unterbrochene Nahrungsgeschäft begleitete, hat aufgehört. Die Raupe ist
gesättigt. Bedächtig klimmt sie überall die Zweige hinan, prüft, mißt,
wählt, bis die geeignetste Stelle der Rast gefunden ist. Nun spannt sie
die Seile aus, die das zierlich gewebte Haus tragen sollen; dann krümmt
sie sich zusammen und beginnt die Hauptarbeit. Aus den beiden am
Munde gelegenen Spinnwarzen läßt sie zwei Tröpfchen unscheinbaren Saftes
heraustreten, heftet sie an einem Zweige fest, und ohne Aufhören den Kopf
hin- und herdrehend, zieht sie aus ihnen den unendlichen, glänzenden Faden.
Die Vordcrfüße gesellen sich hnlfreich hinzu, indem sic den Doppelfaden zu
einem einzigen zusammenschlingen; so gestaltet sich alsbald, Windung an
Windung geklebt, der schleierähnliche Kokon. Noch sieht man die Raupe
emsig darunter fortarbeiten. Die Nacht bricht herein, und am Morgen ist
sie schon hinter dichter Hülle verschwunden. Hält man das Ohr nahe hin-
zu, so hört man freilich wohl, daß der emsige Arbeiter nicht ruht; selbst
noch am dritten Tage macht sich ein leises Knistern vernehmbar; dann aber
wird's still, und laut- und regungslos hängt der eiförmige Kokon da. Der
vorhin beschriebene Reisigwald der Seidenzüchterei hat sich seltsam verändert.
Er ist zu einem Weingarten geworden, an dessen Zweigen, gleich Trauben
aneinandergedrängt, weiße und gelbe Kokons prangen.
Aber jetzt erscheinen auch schon die Schnitterinnen dieser Ernte. Die
Wärterinnen sammeln die Puppen in Körbe und werfen sie dann in heißes
Wasser. Auf diese Weise wird das innen schlafende Thier getödtct, zugleich
aber der Leim gelöst, welcher die Windungen des Fadens verbindet. Nun
sucht man das Ende des Fadens und windet ihn auf einen Haspel. Da
aber dieser Faden bei einer Länge von vielleicht 310 Meter nicht stärker
ist, als etwa der 40stc Theil eines Millimeters, so dreht man ihrer 5 bis
20 zusammen und erhält dadurch den Rohseidenfadcn.
Die Seidenzucht wurde unter dem griechischen Kaiser Justinian zuerst
nach Europa verpflanzt. Zwei Mönche brachten die ersten Eier des Seiden-
wnrms im Jahre 552 glücklich nach Konstantinopel, obwohl Todesstrafe
auf die Ausführung des Jnsects gesetzt war. In ihren ausgehöhlten Wander-
stäben hatten sic die kostbare Beute verborgen. Nun wurden durch ganz
Griechenland Manlbcergärten und Seidenfabriken angelegt. Von dort ver-
breitete sich die Seidenzucht allmählich nach Sizilien, Italien, Spanien,
Portugal.
Die gesammtc Seidenproduction Europas wird heutzutage auf minde-
stens 12 Millionen Pfund geschätzt. Rechnet man 2000 Kokons auf ein
Pfund Rohseide, — eine sehr geringe Schätzung — so müssen jährlich
24000 Millionen Raupen ihre Gespinnste opfern. Und doch ist das nur
Europa! H. Masius.
221. Der Thee.
In China wächst eine der Myrte ähnliche Pflanze — der Thee-
strauch. Überläßt man ihn sich selbst, so erreicht er wohl eine Höhe von
7—10 in. Gleich von der Wurzel an theilt er sich in viele Äste und
I
295
Zweige und ist immerwährend von oben bis unten mit Blättern bedeckt.
Diese sind lederartig, länglich -lanzettlich oder verkehrt-eiförmig, in
der Jugend weich und haarig, später glän-
zend grün und glatt. Die Blüten, welche
zu 2—3 auf kurzen Stielen in den Blatt-
winkeln stehen, sind weiß- und sechs- bis
neunblättcrig, ähnlich unserer wilden Rose,
riechen aber nur wenig und haben im In-
nern über 200 Staubgefäße, mit großen,
gelben Staubbeuteln, so daß sie ein wahrer
Schmuck des Gewächses sind. Die Frucht
ist eine birnförmige, lederartige Kapsel mit
rundlichen, harten Samen von der Größe
einer kleinen Haselnuß.
Bis zum Ende des sechszehntcn Jahrhun-
derts kannte man den Theestrauch in Europa
nicht. Seitdem aber haben sich seine ge-
trockneten Blätter mit reißender Schnelligkeit
über die ganze Welt verbreitet.
Es ist mit dem Theestrauche wie mit dem Weinstocke, man kann ihn
wohl in andere Himmelsstriche verpflanzen, nirgends aber erlangt er die
heimatliche Gewürzhaftigkeit, und so wird die theetrinkende Welt wohl den
Chinesen tributpflichtig bleiben. Es gehört aber auch chinesische Geduld
und Sorgsamkeit zur Behandlung des Thees. Jahre lang pflegt und düngt,
hackt und jätet der Chinese, um die buschigen, immergrünen Sträucher, die
er kaum 2 m hoch werden läßt, zum Gedeihen zu bringen. Die acht bis
zehn Jahre alten Stöcke aber haut er ab, damit sie stets frische, blätter-
reiche Schößlinge treiben, welche wahrhaft balsamischen Duft aushauchen.
Man rieche nur in eine Büchse guten Thees! Doch ist der beste Sou-
chong-, Congo-, Pecco-, Haysan- und Karavanenthee, von dem
in Europa ein Pfund wohl über 15 Mark kostet, nichts im Vergleiche
öfl jenem Kaiserthee, der, unter dem günstigsten Himmelsstriche, auf
einem von Gräben umgebenen Berge und unter dem Schutze besonders
verpflichteter Wächter wachsend, für den Kaiser von China und seinen Hof
bestimmt ist und gar nicht aus dem Lande ausgeführt werden darf. Man
wählt dazu die zartesten Blätter der ersten Triebe bei der ersten Blätter-
te im Februar und erzählt, daß die Arbeiter, welche die Blätter mit
feinen Handschuhen pflücken, einige Wochen vorher keine groben Nahrungs-
wittel genießen dürfen, damit ihr Hauch nicht den feinen Wohlgeruch der
zarten Blätter verderbe. Überhaupt mag von der ersten Thee-Ernte wenig
ausgeführt werden; die zweite, dritte und vierte Lese im April, Mai und
Juni ist gut genug für die Barbaren — außerhalb des himmlischen Reiches.
Die einzelnen, sorgfältigst mit den reinsten Händen gepflückten Blätt-
chen werden unter einander in einer mäßig erwärmten, metallenen Platte
oder über Wasserdampf zum Welken gebracht, dann auf eine Matte ge-
schüttet und noch heiß mit den Händen zusammengerollt. In dieser Ge-
stalt kommt er zu uns als grüner und schwarzer Thee, sorgfältigst ein-
gepackt in mit Staniol ausgelegte Pappdosen, auf welchen man in den
296
buntesten Farben leibhafte Chinesen, wie sie auf den Theemärkten erscheinen,
abgebildet sehen und die wunderbaren chinesischen Schriftzüge bewundern
kann, welche den Namen des Erbauers und des Landbezirks — gleich den
Etiketten auf unseren Weinflaschen — nennen. Der Leser aber mag sich
nur in Acht nehmen, daß man ihm nicht in England oder Rußland zu-
bereitete Schlehen- oder Eschenblätter für Thee aus Kanton verkaufe, denn
oft genug hat keins der grünen Blättlein in den schön bemalten Theebüchsen
weder China noch sonst ein Land Asiens zu sehen bekommen. 3- seil.
222. Elephantenjagd.
Das Königswild auf der Insel Ceylon ist der Elephant, der hier in
außerordentlicher Menge lebt. Er steht zwar dem afrikanischen an Werth
nach, weil er selten so lauge Zähne hat wie dieser; indessen ist cs immer
ein Fest für den Jäger, wenn er auf eine Herde von Elephanten stößt,
die ruhig im hohen Grase weiden. Wir begaben uns, so erzählt Prinz
Waldemar von Preußen in seiner Reisebeschreibung, in Begleitung eines
berühmten Elephantcujägers nach dem sogenannten Elcphantenpark in der
Nähe des rieselnden Baches Taldenia, wo wir in einem aus Bambusstäben
gebauten Rnhehause Mittagsrast hielten. Hier war es, wo wir die ersten
Elephanten trafen. Drei Singalesen giengen als Führer voran, vorsichtig
spürend wie Hunde; doch war dieser erste Versuch ohne Erfolg, und wir
begaben uns gegen Sonnenuntergang zu einem Walddörfchen, um am
nächsten Tage den Elephautenpark zu betreten. Derselbe hat ein welliges,
von vielen Bächen durchschnittenes Terrain. Außer den Elephanten, welche
hier in großen Scharen beisammen leben, enthält der Park noch anderes
Wild und ist die berühmteste Jagdgegend der Insel. Wir schickten gewöhn-
lich Kundschafter voran, die, wenn sie Elephanten gesehen hatten, mit blitzen-
den Augen zurückkehrte» und über ihre Entdeckung Bericht erstatteten.
Dann saßen wir ab, um unbemerkt in die Nähe der Thiere zu gelangen.
Die Führer mußten sich, gebückt und oft auf den Händen kriechend, durch
das verwachsene, dornige Gebüsch mit der größten Geschicklichkeit hindurch
winden. Auch wir mußten fortwährend in gebückter Stellung gehen; das
Gewehr in der Hand und mit demselben Bahn brechend, war es für uns
keine leichte Aufgabe, ihnen zu folgen. An einer etwas offenen Stelle
blieb ich stehen, um mich umzusehen und zu horchen, denn man muß sehr-
vorsichtig sein. Man steht neben einem solchem Thierkolosse, man weiß nicht
wie, und ein Tritt mit seinem Fuße ist hinreichend, daß man nie wieder-
aufsteht. Die Hauptsache bei der Jagd besteht darin, daß man den Ele-
phanten zum Angriff bringt, um ihn vorn an der Wurzel des Rüssels oder
an der Ausbiegung über den Augen zu treffen, da er fast nur an diesen
Stellen verwundbar ist. Ebenso ist zu beachten, daß man nicht auf eine
größere Entfernung als von 20 bis 25 Schritt schießt. Wir fanden eines
Tages einen Elephanten im hohen Grase. Ich schieße und verwunde ihn,
und nun setzen wir, mein Gefährte und ich, im Trabe hinter ihn, her. Er
wird in seinem raschen Laufe langsamer und schwankend; er sieht sich um,
macht, als ob er sich besinne, mit den Ohren schlagend und den Rüssel
erhebend, Kehrt, und mit dem uns schon hinlänglich bekannten Angriffs-
297
signale „Trr! Trr! Trr!" und einem zürnenden.Auge kommt er sehr be-
stimmt auf uns los getrabt. Wir erwarten ihn stehenden Fußes, und ich
drücke auf eine Entfernung von 15 bis 20 Schritt los. Mein Gewehr
versagt; der eine Schuß ist heraus, und ich stehe ohne Waffe da. Ich
springe über einen umgefallenen Baumstamm, den ich als Hinderniß für
den Elephanten ansehe, falle, stehe so rasch als möglich wieder auf und
glaube schon den Rüssel des Thiers über mir geschwungen; wie ich mich
aber umsehe, reitet der Elephant sehr ungeschickt, seinen schweren Körper
balancirend, auf dem Baumstämme. Er hatte die Füße in der Eile ge-
kreuzt, und das hielt ihn zu meinem Glücke auf. Nun wendet er sich
gegen meinen Begleiter, welcher indes, von einem Baume gedeckt, ihm
einen Schuß beibringt, der ihn die Verfolgung aufgeben läßt. Ähnliche
Abenteuer haben wir noch manche bestehen müssen. — Den Eingebornen
liegt oft daran, die Elephanten lebendig zu fangen, und in diesem Falle
verfahren sie in folgender Art. Wenn sie grasende Elephanten an einer
Stelle bemerken, so nähern sie sich ihnen unbemerkt und legen an einem
geeigneten Orte verborgene Schlingen auf solche Weise, daß das darüber
hinlaufende Thier sich mit den Füßen darin verwickeln muß. Sobald die
Schlingen gelegt und durch Seile an einem starken Baum befestigt sind,
ziehen sich die Eingebornen zurück. Hat sich ein Elephant gefangen, so
beginnt er^ mit Aufwendung seiner ganzen Riesenkraft sich frei zu machen;
doch die Schlingen sind dehnbar und zerreißen nicht, und je mehr er nach
Befreiung ringt, desto mehr verwickelt er sich in die Seile. Ist er endlich
hinreichend ermüdet, so naht man sich ihm mit andern Schlingen, um da-
mit seinen Rüssel zu umschließen und ihn an den Vorderbeinen zu befestigen.
Ist das gelungen, so ist der Riese seiner Freiheit sicher beraubt; mit Jubel-
298
geschrei wird cr ins Dorf getrieben, wenn man es ein Treiben nennen
kann; denn das gefangene Thier bewegt sich nur von der Stelle, wenn es
gereizt oder erschreckt wird, in welchem Falle es auf den zugeht, der es
reizt. Im Dorfe angekommen, wird der arme Gefangene an einen Baum
gebunden, damit nun der Zähmungsproceß beginne. Den ersten Tag läßt
man ihn hungern, den zweiten naht man ihm mit Schmeicheln und Lieb-
kosungen, und am dritten Tage läßt er sich gewöhnlich schon von einem
Reiter besteigen. Später kann man ihn der Fesseln ganz entledigen, ohne
Gefahr von ihm befürchten zu müssen.
Auf diese Weise fängt man jedoch immer nur einzelne Thiere. Zu-
weilen stellt man aber auch große Treibjagden an, bei denen man 50 bis
60 Stück ans einmal zu Gefangenen macht. Zu einer solchen Jagd ge-
hören natürlich sehr viele Menschen. Ist sie beschlossen, so werden zunächst
mehrere Männer als Kundschafter in die Wälder gesandt, um einen Ort
auszuspähen, wo sich eine Elephantenhcrde eben aufhält. Ist ein solches
Revier gefunden, so wird der Befehl erlassen, daß alle Einwohner des
Districts den Wald mit Feuern umringen, die auf tragbaren Herden
brennen und etwa 1 '/4 Meter hoch sind. Diese Feuer brennen so lange, als
die Jagd dauert. Sie bilden einen großen Kreis, in welchem sie anfäng-
lich gegen IM Schritt von einander entfernt sind; bei weiterem Vordringen
wird aber der Kreis immer enger, und die Feuer kommen natürlich näher
zusammen, zuletzt bis auf 10 Schritt. Bei einer solchen Jagd ward die
Einschließung gegen 7 deutsche Meilen von dem Standquartier der Ele-
phanten begonnen, und gegen 3000 Menschen unterhielten 2 Monate lang
die Feuer. Sobald man sich der Mitte sehr genähert hat, beginnen die
Elephanten unruhig zu werden, und cs bedarf großer Wachsamkeit, um
ihre Flucht zu verhindern. Reisen de» Prinzen Waldemar von Prellten.
223. Hie Eidechsen.
Dass viele Menschen sich vor den Schlangen fürchten, davon
springen oder sie des Lebens berauben, das ist noch wohl begreif-
lich, weil man sie für gefährlich hält und im zweifelhaften Fall
lieber eine ungiftige todtschlägt, als von einer giftigen sich heissen
lässt. Aber warum sind viele Leute sogar den Eidechsen feind,
diesen unschuldigen Thieren, die niemand beleidigen, niemand
schaden, vielmehr dem Landmann nützlich werden, indem sie von
allerlei kleinen Insecten oder sogenanntem Ungeziefer sich nähren?
Höchstens können sie euch ein wenig erschrecken, wenn ihr so in
euren stillen Gedanken dahin wandelt, und auf einmal etwas im
Laube rauscht. Aber wer ein gutes Gewissen hat, muss sich ge-
wöhnen, nicht vor allem zu erschrecken. Wer ein böses Gewissen
hat, dem ist freilich in diesem Punkt übel rathen.
„Der Wind im Wald, das Laub am Baum
Saust ihm Entsetzen zu.“
Nun, alle Leute sind so furchtsam freilich auch nicht, und im
Frühjahr, wenn man wieder ins Feld und ins Grüne geht, und überall
in der mannigfaltigsten Gestalt das frohe Leben hervorwimmelt und
299
laut wird, bleibt auch wohl ein verständiger Mann einen Augenblick
vor einer Eidechse stehen, betrachtet ihr grünes Gewand, wenn es
schöner als Smaragd an der Sonne schimmert, bewundert ihre un-
nachahmliche Geschwindigkeit und sieht mit Vergnügen ihren un-
schuldigen Spielen zu. Dann geht er mit guten Gedanken seines
Weges weiter, riecht an seinem Frühlingsstrauss und kann sich
nicht genug erschauen an den blühenden Bäumen und farbigen
Matten umher.
Gott sorgt auch für diese Thiere. Sie haben nicht genug Wärme
in sich, um den Winter über auf dem Boden auszuhalten, auch würde
es ihnen an Nahrung und Gebüsch zum verborgenen Aufenthalt
fehlen. Sie verkriechen sich daher und bringen den Winter im
Schlaf zu. Ohne Kalender wissen sie ihren Monat. Aber wie im
Frühjahr das Volk der kleinen Mücken lebendig wird, und alle
Keime in Gras und alle Knospen in Laub aufgehen, ruft die tiefer
dringende Frühlingssonne auch dieses Geschöpf aus seinem Schlaf
und Winterquartier, und wenn es erwacht, ist schon für alles ge-
sorgt, was zu seines Lebens Nahrung und Nothdurft gehört. —
Bekanntlich haben nicht alle diese Thiere einerlei Farbe; aber eine
Art derselben muss um ihrer Nahrung willen sich am meisten aus
dem dunkeln Gebüsch heraus ins Grüne wagen. Darum ist auch
ihre Farbe grün. In dieser Farbe wird sie im Gras weder von
den Thieren, welchen sie nachstellt, so leicht entdeckt, noch von
dem Storch, der ihr selber aufs Leben geht.
Es gibt auch zweierlei Eidechsen im Wasser, nur nennt man
sie anders, und diese sind zum Schwimmen abgerichtet. Selbst auf
dem Grund der klaren Brunnenquellen findet man sie oft und darf
sich deswegen vor dem Wasser nicht scheuen. Auch diese sind
nicht giftig und theilen dem Wasser keine Unreinigkeit mit. Viel-
mehr loben es viele Brunnenmeister als ein gutes Zeichen. Solch
ein Thierlein in seiner verschlossenen Brunnenstube hat ein geheim-
liches Leben und Wesen, sieht nie die Sonne auf- oder untergehen,
erfährt nichts davon, dass der Prinz von Brasilien nach Amerika
ausgewandert ist, und dass die englischen Waren auf dem festen
Lande verboten sind, weiss nicht, ob’s noch mehr solche Brunnen-
stuben in der Welt gibt, oder ob die seimige die einzige ist, und
ist doch in seinem nassen Elemente des Lebens froh und hat keine
Klage und keine Langeweile.
An der grossen, schwarz und gelbgefleckten, warzigen und
schmutzigfeuchten Eidechse, die man den Salamander oder den
gelben Molch nennt, hat niemand Freude. Noch weniger aber freut
es ihn, wenn er einen Menschen erblickt. Denn selten kommt er
unangefochten davon. Er hält sich nur an dunkeln, feuchten und
kühlen, auch modrigen Orten auf, und das Beste ist, dass man ihn
dort sitzen lasse. Wer aber Lust hat, darf ihn herzhaft in die
Hände nehmen. Er thut euch gewiss nichts Leides.
Wer sich aber mit Recht vor den Eidechsen fürchten oder eine
300
Heldenthat durch die Erlegung derselben vollziehen will, der muss
nach Afrika oder Asien oder Amerika gehen.
Das fürchterliche Krokodil ist nichts anders als eine 6 bis
12 Meter lange Eidechse. Davor muss jedermann Respect haben.
Oben braun oder schwarzgefleckt, unten weisslichgelb. Durch die
schuppige Rückenhaut geht kein Flintenschuss; am Bauch ist sie
weich. In jedem Kiefer des grossen Rachens stehen 50 scharfe
Zähne. Der Schwanz beträgt mehr als die Hälfte von der ganzen
Länge. Damit wirft es im Wasser kleine Schiffe um und tödtet
einen Menschen mit einem Schlag. Es lebt im Wasser, z. B. im
Nilfluss in Ägypten, und geht ans Land, frisst Fische und andere
Thiere, Buben und Mägdlein, auch erwachsene Ägypter. Schnell
wie ein Pfeil geht es in gerader Linie auf seinen Raub, kann sich
aber nur langsam umdrehen. Mit einem glücklichen Seitensprung
ist man ausser Gefahr. Das Weibchen legt 100 häutige Eier, so
gross wie die Gänseeier, und verscharrt sie in den Sand. Die
Sonnenwärme brütet sie aus. Die meisten werden aber, ehe es
dazu kommt, von einer ägyptischen Ratte gefressen. Auch von
den Menschen werden sie aufgesucht und zerstört oder gegessen.
Wohl bekomm’s!
Dass es nicht nur auf der Erde und im Wasser, sondern auch
in der Luft Eidechsen gebe, nämlich solche, die da fliegen, wird
mancher nicht gerne glauben. Aber wenn ihm ein Fabelhans von
Drachen spricht, die auf hohen Felsen und in alten zerstörten
Bergschlössern hausen und feuerspeiend durch die Luft schiessen,
Brunnen vergiften, den Reiter und das Ross mit Sporn und Huf-
eisen Schluck und Druck verschlingen, das findet man schon glaub-
licher, weil einem der kalte Schauer vom Kopf bis zum Nagel des
Zehens über die Haut läuft, wenn man’s hört.
Bei allem dem muss so viel wahr bleiben, dass es in Asien
und anderen Welttheilen Eidechsen von ein drittel bis ein halb
Meter Länge gibt, die auf Bäumen leben, wie bei uns der Laub-
frosch, und durch Hülfe von häutigen Auswüchsen auf beiden Seiten
grosse Sprünge in der Luft machen und von einem Baume auf »den
andern schiessen können. Einige haben dabei nur zwei, andere
vier Füsse, sind unschädlich und leben wie andere Eidechsen von
Insecten. Andere Basilisken und Drachen gibt es in Asien nicht,
ausser unter den Menschen, wenn einer den andern gern mit dem
Blick vergiften oder durchbohren möchte und giftige Verleumdungen
301
und Scheltworte über ihn ausgiesst, wie man'denn dergleichen auch
schon in Europa und am Rhein will viele gesehen haben.
Hebel.
224. Der Kampf mit dem Drachen.
1. WasrenntdasVolk,was wälztsich dort
Die langen Gassen brausend fort?
Stürzt Rhodus unter Feuers Flammen?
Es rottet sich im Sturm zusammen,
Und einen Ritter hoch zu Roß
Gewahr ich aus dem Menschentroß;
Und hinter ihm, welch Abenteuer!
Bringt man geschleppt ein Ungeheuer;
Ein Drache scheint es von Gestalt,
Mit weitem Krokodilesrachen,
Und alles blickt verwundert bald
Den Ritter an und bald den Drachen.
2. Und tausend Stimmen werden laut:
„Das ist der Lindwurm, kommt und schaut,
Der Hirt und Herdkn hat verschlungen!
Das ist der Held, der ihn bezwungen!
Biel andere zogen vor ihm aus,
Zu wagen den' gewalt'gen Strauß,
Doch keinen sah man wiederkehren;
Den kühnen Ritter soll man ehren!"
Und nach dem Kloster geht der Zug,
Wo Sauet Johanns des Täufers Orden,
Die Ritter des Spitals, im Flug
Zu Rathe sind versammelt worden.
3. Und vor den edlen Meister tritt
Der Jüngling mit bescheid'nem Schritt;
Nachdrangt das Volk mit wildem Rufen,
Erfüllend des Geländers Stufen.
Und jener nimmt das Wort und spricht:
„Ich hab' erfüllt die Nitterpslicht.
Der Drache, der das Land verödet,
Er liegt von meiner Hand getödtet:
Frei ist dem Wanderer der Weg;
Der Hirte treibe ins Gefilde,
Froh walle auf den Felsensteg
Der Pilger zu dem Gnadenbilde."
4. Doch strenge blickt der Fürst ihn an
Und spricht: „Du hast als Held gethan;
Der Muth ist's, der den Ritter ehret,
Du hast den kühnen Geist bewähret;
^och sprich! was ist die erste Pflicht
Des Ritters, der für Christum ficht,
Sich schmücket mit des Kreuzes Zeichen?"
Und alle rings umher erbleichen.
Doch er mit edlem Anstand spricht,
^zndcm er sich erröthend neiget:
„Gehorsam ist die erste Pflicht,
Die ihn des Schmuckes würdig zeiget." —
5. „Und diese Pflicht, mein Sohn", versetzt
Der Meister, „hast du frech verletzt,
Den Kampf, den das Gesetz versaget,
Hast du mit frevlem Muth gewaget!" —
„Herr, richte, wenn du alles weißt",
Spricht jener mit gesetztem Geist,
„Denn des Gesetzes Sinn und Willen
Vermeint' ich treulich zu erfüllen.
Nicht unbedachtsam zog ich hin,
Das Ungeheuer zu bekriegen;
Durch List und kluggewandten Sinn
Versucht ich's, in dem Kampf zu siegen.
6. Fünf unsers Ordens waren schon,
Die Zierden der Religion,
Des kühnen Muthes Opfer worden;
Da wehrtest du den Kampf dem Orden.
Doch an dem Herzen nagte mir
Der Unmuth und die Streitbegier,
Ja, selbst im Traum der stillen Nächte
Fand ich mich keuchend im Gefechte;
Und wenn der Morgen dämmernd kam
Und Kunde gab von neuen Plagen,
Da faßte mich ein wilder Gram,
Und ich beschloß, es frisch zu wagen.
7. Und zu mir selber sprach ich dann:
Was schmück! den Jüngling, ehrt den Mann?
Was leisteten die tapfern Helden,
Von denen uns die Lieder melden,
Die zu der Götter Glanz und Ruhm
Erhub das blinde Heidenthum?
Sie reinigten von Ungeheuern
Die Welt in kühnen Abenteuern,
Begegneten im Kampf den Leu'n
Und rangen mit dem Minotanren,
Die armen Opfer zu befrein,
Und ließen sich das Blut nicht dauern.
8. Ist nur der Saracen es werth,
Daß ihn bekämpft des Christen Schwert?
Bekriegt er nur die falschen Götter?
Gesandt ist er der Welt zum Retter;
Von jeder Noth und jedem Harm
Befreien muß sein starker Arm;
Doch seinen Muth muß Weisheit leiten,
Und List muß mit der Stärke streiten.
So sprach ich oft und zog allein,
Des Raubthiers Fährte zu erkunden;
Da flößte uiir der Geist es ein,
Froh rief ich aus: Ich hab's gefunden!
9. Und trat zu dir und sprach dies Wort:
Mich zieht es nach der Heimat fort.
Du, Herr, willfahrtest meinen Bitten,
Und glücklich war das Meer durchschnitten.
Kaum stieg ich aus am heim'schen Strand,
Gleich ließ ich durch des Künstlers Hand,
Getreu den wohlbemerktcn Zügen,
Ein Drachcnbild zusammenfügen.
Auf kurzen.Füßen wird die Last
Des langen Leibes aufgetürmet,
Ein schuppig Panzerhemd umfaßt
Den Rücken, den es furchtbar schirmet.
302
10. Lang strecket sich der Hals hervor,
Und gräßlich wie ein Höllenthor,
Als schnappt es gierig nach der Beute,
Eröffnet sich des Rachens Weite,
Und aus dem schwarzen Schlunde dräun
Der Zähne stachelichte Reihn;
Die Zunge gleicht des Schwertes Spitze,
Tie kleinen Äugen sprühen Blitze;
In einer Schlange endigt sich
Des Rückens ungeheure Länge,
Rollt um sich selber fürchterlich,
Daß es um Mann und Roß sich schlänge.
11. Und alles bild' ich nach genau
Und kleid' es in ein scheußlich Grau;
Halb Wurm erschient, halb Molch und Drache,
Gezeuget in der gift'gen Lache.
Und als das Bild vollendet war,
Erwähl' ich mir ein Doggenpaar,
Gewaltig, schnell, von flinken Läufen,
Gewohnt, den wilden Ur zu greifen,
Die hetz' ich auf den Lindwurm an,
Erhitze sie zu wildem Grimme,
Zu fassen ihn mit scharfem Zahn,
Und lenke sie mit meiner Stimme.
12. Und wo des Bauches weiches Vlies
Den scharfen Bissen Blöße ließ,
Da reiz' ich sie, den Wurm zu packen,
Die spitzen Zähne einzuhacken.
Ich selbst, bewaffnet mit Geschoß,
Besteige mein arabisch Roß,
Von adeliger Zucht entstammet;
Und als ich seinen Zorn entflammet,
Rasch auf den Drachen spreng' ich's los
Und stachl' es mit den scharfen Sporen
Und werfe zielend mein Geschoß,
Als wollt' ich die Gestalt durchbohren.
13. Ob auch das Roß sich grauend bäumt
Und knirscht und in den Zügel schäumt,
Und meine Doggen ängstlich stöhnen,
Nicht rast' ich, bis sie sich gewöhnen.
So üb' ich's aus mit Emsigkeit,
Bis dreimal sich der Mond erneut,
Und als sie jedes recht begriffen,
Führ' ich sie her auf schnellen Schiffen.
Der dritte Morgen ist es nun,
Daß mir's gelungen, hier zu landen:
Den Gliedern gönnt' ich kaum zu ruh'n,
Bis ich das große Werk bestanden.
14. Denn heiß erregte mir das Herz
Des Landes frisch erneuter Schmerz,
Zerrissen fand man jüngst die Hirten.
Die nach dem Sumpfe sich verirrten.
Und ich beschließe rasch die That,
Nur von dem Herzen nehm ich Rath.
Flugs unterricht' ich meine Knappen,
Besteige den versuchten Rappen,
Und von dem edlen Dogqenpaar
Begleitet, aus geheimen Wegen,
Wo meiner That kein Zeuge war,
Reit' ich dem Feinde frisch entgegen.
15. DasKirchlein kennst du, Herr, das hoch
Auf eines Felsenberges Joch,
Ter weit die Insel überschauet,
Des Meisters kühner Geist erbauet.
Verächtlich scheint es, arm und klein,
Doch ein Mirakel schließt es ein,
Die Mutter mit dem Jesusknaben,
Ten die drei Könige begaben.
Auf dreimal dreißig Stufen steigt
Der Pilgrim nach der steilen Höhe;
Doch hat er schwindelnd sie erreicht,
Erquickt ihn seines Heilands Nähe.
16. Tief in dem Fels, ans dem es hängt,
Ist eine Grotte eingesprengt,
Vom Thau des nahen Moors befeuchtet,
Wohin des Himmels Strahl nicht leuchtet.
Hier hausete der Wurm und lag,
Den Raub erspähend, Nacht und Tag,
So hielt er wie der Höllendrache
Am Fuß des Gotteshauses Wache;
Und kam der Pilgrim hergewallt
Und lenkte in die Unglücksstraße,
"ervor brach aus dem Hinterhalt
er Feind und trug ihn fort zum Fraße.
17. Den Felsen stieg ich jetzt hinan,
Eh' ich den schweren Strauß begann;
Hin kniet' ich vor dem Christuskinde
Und reinigte mein Herz von Sünde.
Drauf gürt' ich mir im Heiliathum
Den blanken Schmuck der Waffen um,
Bewehre mit dem Spieß die Rechte,
Und nieder steig' ich zum Gefechte.
Zurücke bleibt der Knappen Troß;
Ich gebe scheidend die Befehle
Und schwinge mich behend aufs Roß,
Und Gott empfehl' ich meine Seele.
18. Kaum seh' ich mich im eb'nen Plan,
Flugs schlagen meine Doggen an,
Und bang' beginnt das Roß zu keuchen
Und bäninct sich und will nicht weichen;
Denn nahe liegt, zum Knäul geballt,
Des Feindes scheußliche Gestalt
Und sonnet sich auf warmem Grunde.
Auf jagen ihn die flinken Hunde;
Doch wenden sie sich pfeilgeschwind,
Als es den Rachen gähnend theilet
Und von sich haucht den gift'gen Wind
Und winselnd wie der Schakal heulet.
19. Doch schnell erfrisch' ich ihren Muth,
Sie fassen ihren Feind mit Wuth,
Indem ich nach des Thieres Lende
Aus starker Faust den Speer versende,
Doch machtlos, wie ein dünner Stab,
Prallt er vom Schuppenpanzer ab.
Und eh' ich nieincn Wurf erneuet,
Da bäumet sich mein Roß und scheuet
An seinem Basiliskenblick
Und seines Athems gist'gem Wehen,
Und mit Entsetzen springt's zurück,
Und jetzo war's um mich geschehen. —
303
20. Da schwing' ich mich behend vom Roß,
Schnell ist des Schwertes Schneide bloß;
Doch alle Streiche sind verloren,
Den Felsenharnisch zu durchbohren,
Und wüthend mit des Schweifes Kraft
Hat es zur Erde mich gerafft;
Schon seh' ich seinen Rachen gähnen,
Es haut nach mir mit grimmen Zähnen,
Als meine Hunde, wuthentbrannt,
An seinen Bauch mit grimm'gen Bissen
Sich werfen, datz es heulend stand,
Von ungeheurem Schmerz zerrissen.
21. Und eh' es ihren Bissen sich
Entwindet, rasch erheb' ich mich,
Erspähe mir des Feindes Blöße
Und stoße tief ihm ins Gekröse,
Nachbohrend bis ans Heft, den Stahl;
Schwarzquellend springt des Blutes Strahl,
Hin sinkt es und begräbt im Falle
Mich mit des Leibes Riesenballe,
Daß schnell die Sinne mir vergeh'n;
Und als ich neu gestärkt erwache,
Seh' ich die Knappen um mich steh'n,
Und todt im Blute liegt der Drache." —
22. Des Beifalls lang gehemmte Lust
Befreit jetzt aller Hörer Brust,
So wie der Ritter dies gesprochen;
Und, zehnfach am Gewölb' gebrochen,
Wälzt der vermischten Stimmen Schall
Sich brausend fort im Widerhall.
Laut fordern selbst des Ordens Söhne,
Daß man die Hcldcnstirne kröne,
Und dankbar im Triumphgcpräng
Will ihn das Volk dem Volke zeigen;
Da faltet seine Stirne streng
Der Meister und gebietet Schweigen.
23. Undspricht: „DenDrachen,derdiesLand
Verheert, schlugst du mit tapfrer Hand;
Ein Gott bist du dem Volke worden,
Ein Feind kommst du zurück dem Orden,
Und einen schlimmern Wurm gebar
Dein Herz, als dieser Drache war.
Die Schlange, die das Herz vergiftet,
Die Zwietracht und Verderben stiftet,
Das ist der widerspenst'ge Geist,
Der gegen Zucht sich frech empöret,
Der Ordnung heilig Band zerreißt,
Denn der ist's, der die Welt zerstöret.
24. Muth zeiget auch der Mameluck,
Gehorsam ist des Christen Schmuck;
Denn wo der Herr in seiner Größe
Gewandelt hat in Knechtesblöße,
Da stifteten auf heil'gem Grund
Die Väter dieses Ordens Bund,
Der Pflichten schwerste zu erfüllen,
Zu bändigen den eignen Willen!
Dich hat der eitle Ruhm bewegt,
Drum wende dich aus meinen Blicken,
Denn wer des Herren Joch nicht trägt,
Darf sich mit seinem Kreuz nicht schmücken."
2b. Da bricht die Menge tobend aus,
Gewalt'ger Sturm bewegt das Haus,
Um Gnade flehen alle Brüder;
' Doch schweigend blickt der Jüngling nieder,
[ Still legt er von sich das Gewand
Und küßt des Meisters strenge Hand
Und geht. Der folgt ihm mit dem Blicke,
Dann ruft er liebend ihn zurücke
Und spricht: „Umarme mich, mein Sohn!
Dir ist der härtre Kampf gelungen.
Nimm dieses Kreuz, es ist der Lohn
Der Demuth, die stch selbst bezwungen."
Schiller.
225. Wanderlied.
1. Wohlauf,noch getrunken den funkeln-
den Wein!
Ade nun, ihr Lieben, geschieden muß sein!
Ade nun, ihr Berge, du väterlich Haus!
Es treibt in die Ferne mich mächtig hinaus.
2. Die Sonne, sie bleibet am Himmel
. nicht steh'n,
Es treibt sie, durch Länder und Meere zu
geh'n;
Die Woge nicht haftet am einsamen Strand,
Die Stürme, sie brausen mit Macht durch
das Land.
3. Mit eilenden Wolken der Vogel
,, . „ dort zieht
Unb fingt aus der Ferne ein heimatlich
Lied;
So treibt es den Wand'rer durch Wälder
und Feld,
Zu gleichen der Mutter, der wandernden
Welt.
4. Da grüßen ihn Bögel, bekannt über'm
Meer;
Sie flogen von Fluren der Heimat hierher.
Da duften die Blumen vertraulich um ihn;
Sie treiben vom Lande die Düfte dahin,
b. Die Vögel, die kennen sein väterlich
Haus,
Die Blumen einst pflanzt' er der Liebe
zum Strauß!
Und Liebe, die folgt ihm, die geht ihm zur
Hand;
So wird ihm zur Heimat das ferneste Land.
Just. Kerner.
226. Sprichwörter.
Gestohlenes Gut brennt. Stille Wasser sind tief. Unrecht Gut ge-
deihet nicht. Keine Rose ohne Dornen. Erfahrung ist die beste Lehr-
304
Meisterin. Verzeihen ist die beste Rache. Ein gutes Gewissen ist ein
sanftes Ruhekissen. Ein guter Name ist ein theures Gut. Schnelle Hülfe
ist doppelte Hülfe. Getheilte Freude ist doppelte Freude; getheilter Schmerz
ist halber Schmerz. Prahler sind schlechte Zahler. Muß ist ein bitteres
Kraut. Fleiß ist des Glückes Vater. Undank ist der Welt Lohn. Müßig-
gang ist aller Laster Anfang. Jeder ist seines Glückes Schmied.
Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes. Eigner Herd ist Goldes
werth. Der Arbeiter ist seines Lohnes werth. Dem Muthigen gehört die
Welt. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Dem Verdienste seine Krone.
Dem Redlichen läßt Gott es gelingen. Dem Reinen ist alles rein. Gott
widerstehet deni Hoffährtigen. Niemand entgeht seinem Schicksale. Nie-
mand kann dem Tod entfliehen. Das Werk lobt den Meister. Salz
und Brot segnet Gott. Williges Herz macht leichte Füße. Lügen haben
kurze Beine. Ein gutes Wort findet einen guten Ort. Fleiß bringt
Brot, Faulheit Noth. Wohlthun bringt Zinsen. Wohlgeschmack bringt
Bettelsack. Gott verläßt die Seinen nicht.
227. Die Theile der Pflanzen.
Die Pflanzen sind mit einem Theile ihres Körpers, den man Wurzel
nennt, in oder an den Erdboden, oder an Felsen und Mauern, oder auch
au andern Pflanzen festgeklammert und gewachsen. Die Wurzel ist aber
nicht etwa allein zum Einsangen von Wasser und Nahrung aus der Erde
bestimmt, sondern fast alle andern Theile der Pflanzen, besonders aber die
Rinde und Blätter, saugen auch Nahrung aus der Luft und ans dem
Wasser an sich, eben so gut wie die Wurzel, und es gibt Pflanzen in heißen
Ländern und auch bei uns, die mit ihrer Wurzel auf so ganz trocknen Steinen
festgewachsen sind, daß sie alles Wasser, das sie zur Nahrung gebrauchen,
nur durch Stamm und Blätter aus der Luft an sich ziehen können, und
daß ihnen die Wurzel wirklich nur zur Befestigung dient. Auch steigen die
Säfte in den Bäumen eben so gut aus dem Stamme hinunter in die
Wurzel, als umgekehrt aus der Wurzel herauf, und die Wurzel nimmt
nicht blos und saugt ein, sondern gibt auch manche Stoffe von sich, die wie
eine Art von Unrath zu betrachten sind. Deshalb wollen manche Pflanzen
da nicht gut fortkommen, wo manche andere Pflanzenarten wachsen oder
gewachsen sind; weil sie die Stoffe nicht vertragen können, die diese Pflanzen
aus ihrer Wurzel von sich geben, so z. B. will der Weizen niemals gern
in einem Felde gedeihen, in dem vorher Flachs stand, wenn man nicht erst
nach dem» Flachs Erbsen darin anbaut.
Inwendig in der Pflanze gibt es solche Theile, die man mit den Adern
in einem Thiere vergleichen kann, weil auch in ihnen solche Lebenssäfte sind
und auf- und niedersteigen, wie das Blut in den Adern des Thieres.
Freilich sind aber solche Gefäße in der Pflanze ganz anders beschaffen als
im Thiere. Einige sind wie Bienenzellen und sitzen immer eins au und
über dem andern. Eine andere Art sind wie kleine oben und unten ver-
schlossene Schläuche, und ob sie gleich verschlossen sind, dringt doch der Saft
aus einem in den andern ein wie in Löschpapier. Noch eine andere Art
ist so gewunden wie eine Uhrfeder, und man nennt diese Spiralgcfäße.
305
Bei den meisten Pflanzen, die hier bei uns wachsen, laufen alle diese Ge-
fäße, durch welche das Gewächs ernährt wird, unter der äußersten Rinde, in
dem sogenannten Bast in die Höhe. Wenn man daher bei einem Baume,
der doch seine meiste Nahrung aus der Erde an sich saugt, den Bast rings
umher vom Holze abschält, so muß er oben dürr werden und sterben. Die
Nahrungssäfte kommen erst in die Zellgefäße, von da in die Schlauchgefäßc.
An einem Baume ist erst außen die eigentliche Rinde oder grüne Oberhaut,
die kann man wegschälen, ohne daß der Baum stirbt. Dann kommt der
Bast, der im gemeinen Leben auch noch zur Rinde gerechnet wird, dann
kommt der Splint oder das junge Holz, dessen ringförmige Lage jedes
Jahr zum eigentlichen Holz erhärtet (daher die Jahrringe). Das Holz ist
nichts recht Lebendiges mehr, und dient den übrigen Theilen des Gewächses
mehr nur zum festen Boden und zur Stütze. Ganz inwendig nach der
Mitte hin findet sich bei jungen Bäumen und Zweiglein das Mark.
Die Blätter, sowie die grüne äußere Oberhaut der Pflanzen, haben
viele kleine Öffnungen, durch die sie Feuchtigkeiten und Luftarten in sich
saugen, aber auch Luftarten und Feuchtigkeiten von sich geben. Man hat
daher auch gesagt, daß die Pflanze mit ihren Blättern Athem holt, wie
das Thier mit der Lunge. Die Luftart, welche die Pflanzen, wenn die
Sonne auf sie scheint, aus ihren Blättern von sich geben, so lauge diese
grün sind, ist die Lebenslust. Daher ist es einem im Sommer, wenn die
Sonne scheint, in grünen Laubwäldern so gar wohlbchaglich, und dies nicht
blos um des kühlen Schattens willen, sondern auch der gesunden Luft wegen.
Daher sind auch, weil die Pflanzen so viel Feuchtigkeit aus der Luft an
sich ziehen und auch wieder aushauchen, die Gegenden, wo viel Wald steht,
immer feucht, und manche Insel, z. B. Barbados, die sonst Wasser genug
hatte, hat jetzt gar keinen Regen und keine Quellen mehr, weil die dortigen
Europäer (die nun zur Strafe dafür ihr Wasser viele Meilen weit von
andern Inseln herholen müssen) alle Wälder, die auf den Bergen standen,
abgehauen haben.
An der Pflanze ist freilich das, was man gewöhnlich am meisten
daran schätzt und sucht, das, um dessen willen man die meisten Gewächse
hegt und anbaut, die Frucht. Da ist nun zu bemerken, daß oftmals die
Gewächse gar keine Früchte tragen wollen, sondern nur in lauter Blättern
und Zweigen wuchern, wenn sie in gar zu fettem, nahrhaftem Boden stehen,
und es ihnen gar zu gut geht. Das weiß der Gärtner auch, darum schält
er ein wenig von der auswendigen Rinde und selbst etwas vom Baste
weg (aber ja nicht den ganzen rings umher), oder unterbindet ein Zweig-
lein ziemlich fest mit Drahte, daß nicht so gar viele Nahrnngssäfte hinauf-
steigen. Dann werden viele von den Knospen, die sonst nichts als Blätter
getragen hätten, in gute Fruchtknospcn umgewandelt. Geht es doch selbst
mit dem Menschen oftmals so, daß er, wenn es ihm äußerlich gar zu wohl
und zu reichlich ergeht, versäumt, solche gute Früchte zu bringen, wie der
liebe Gott von ihm verlangt. Der Gärtner muß daun durch manche äußere
Noth und Schmerzen zu Hülfe kommen, damit aus den wilden Blatt-
knospen gute Früchte werden.
Der Früchte sind mancherlei: obstartige, Steinfrüchte, kürbis-
artige, auch Kapseln (wie beim Mohn), Hülsen (wie bei den Bohnen
20
306
und Erbsen), Schoten, wie beim Kohl und Rübensamen. In den Früchten
drinnen liegt der Samen oder das Körnchen. Das muß erst in der Erde
aufgelöst werden und gewissermaßen verfaulen, ehe es Mt den bei den
meisten Pflanzen vorhandenen beiden kleinen Flügelchen oder Samen-
blättlein aufgehen kann.
Ehe aber die Frucht oder der Same wächst, ist bei sehr vielen Ge-
wächsen erst eine Blüte da. Diese besteht z. B. bei den Rosen erst außen
herum aus dem grünen Kelch, der auch an der Eichel unten sitzen bleibt,
und diese wie ein Schälchen umgibt; dann kommen die Blumenblätter,
oder die Blumenkrone, die bei der Rose roth, bei der Kirschblüte weiß
aussieht. Was aber dann inwendig in der Blumenkrone steht, das sind
entweder Honiggefäße, die sich aber nur an manchen Blumen finden, oder
die Männlein und Weiblein der Blumen. Wenn man nämlich eine Tulpe
aufmacht, so sieht man in der Blume sechs Stenglein stehen, an denen sich
oben solche längliche, blau oder gelb, oder schwärzlich gefärbte Körperchen
befinden, die wie Schwämmlein aussehen, und an denen man sich, wenn
man hineinriecht, die Nase gelb oder schwarz färbt. Das sind die Männ-
lein, und die kleinen Stengel nennt man die Staubfäden, die L-chwämmchen
oben darauf die Staubbeutel. Wenn man nun die sechs Staubfäden her-
ausnimmt, sv bleibt inwendig in der Mitte noch ein Körper stehen, der
sich oben nach drei Seiten ausbreitet, wie ein Quirl; das ist das Weib-
lein oder Pistill, und dies ist an der Frucht oder auf der Frucht an-
gewachsen. I. P. Hebel.
228. Die Milchfrau.
Nachlässig aufgeschürzt, zwei Gürtel um den Leib,
Auf leichten Füßen, gieng ein junges Bauerweib
Frühmorgens nach der Stadt und trug auf ihrem Kopfe
Vier Stübchen süße Milch in einem großen Topfe.
Sie lief und wollte gern: Kauft Milch! am ersten schrei'n;
Denn, — dachte sie, — die erste Milch ist theuer.
Ich nehme heut, will's Gott, zwölf bare Groschen ein
Und kaufe niir dafür ein halbes hundert Eier;
Die bringt mein einzig Huhn mir dann auf einmal aus.
Gras stehet rings herum um unser kleines Haus;
Da werden sie sich schon im Grünen selbst ernähren,
Die kleinen Küchelchen, die meine Stimme hören.
Und, ganz gewiß! der Fuchs muß mir sehr listig sein,
Läßt er mir nicht so viel, daß ich ein kleines Schwein,
Nur eins zum wenigsten, dafür eintauschen kann.
Wenn ich mich etwa schon im Geiste darauf freue,
So denk' ich nur dabei an meinen lieben Mann.
Zu mästen kostet es ja nur ein wenig Kleie. —
Ist es dann fett gemacht, dann kauf' ich eine Kuh
In unsern kleinen Stall, auch wohl ein Kalb dazu;
Das will ich allemal selbst zu dem Hirten bringen.
Wie fröhlich wird es da um seine Mutter springen.
Hopp!" — sagt sie, und springt auch; und von dem Kopfe fällt
Der Topf mit Milch herab, und ach! ihr bares Geld,
Ihr Kalb und ihre Kuh, Glück, Reichthum und Vergnügen
Sieht sie nun vor sich da in kleinen Scherben liegen.
Betrübt steht sie dabei, schielt sie barmherzig an.
„Die schöne weiße Milch! — seufzt sie, — auf'schwarzer Erde!" —
I
L
— 307 -—
Weint laut und schleicht nach Haus, erzählt es ihrem Mann,
Der ihr entgegen kommt, mit zitternder Gebärde.
Was sagre der dazu? — Erst sah er ernsthaft aus,
Als zürnte er auf sie, gieng schweigend in das Haus,
Kehrt' aber um und sprach: — „Kind! bau' ein andermal
Nicht Schlösser in die Lust, man bauet seine Qual.
Es drehet sich so schnell kein laufend Wagenrad,
Als sie verschwinden in den Wind/
Wir haben alles Glück, was unser Junker hat,
Wenn wir zufrieden sind." Gleim.
229. Die Vermehrung der Pflanzen.
SDicm kann sich nicht genug über die Menge und Mannigfaltigkeit der
Pflanzen verwundern, mit welchen die Natur alle Jahre die Erde bekleidet.
In dem kleinen Raume, den das Auge auf einmal überschauen kann, welch'
eine Vielfachheit der Gestalten, welch' ein Spiel der Farben, welche Fülle
in der Werkstätte der reichsten Kraft und der unerforschlichstcn Weisheit?
Nicht weniger muß man sich wundern über die Geschwindigkeit, mit welcher
die Natur jede leere Stelle auf öden Feldern, verlassenen Wegen, kahlen
Felsen, Mauern und Dächern, wo nur eine Handvoll fruchtbarer Erde hin- -
Samen verschiedener Pflanzen.
gefallen ist, ansäet und mit Gras, Kräutern, Stauden und Buschwerk be-
setzt. Das sieht man oft und achtet's nicht, eben weil man es von Kind-
heit an so oft sieht; die größte Weisheit verräth sich in der einfachen und
natürlichen Einrichtung der Dinge, und man erkennt sie nicht, eben weil
alles so einfach und natürlich ist.
Die meisten Pflanzen haben eine wunderbare Bermehrungskraft, wie
jeder aufmerksame Landwirt wohl weiß. Tausend Samenkerne von einer
einzigen Pflanze, so lange sie lebt, ist zwar schon viel gesagt, nicht jede
trügt'g, aber cs ist auch noch lange nicht das Höchste. Man hat schon an
einer einzigen Tabackspflanze 40,000 Körnlein gezählt, die sie in einem
Jahre zur Reife brachte. Man schätzt eine Eiche, daß sie 500 Jahre
leben könne. Aber wenn wir uns nun vorstellen, daß sie in dieser langen
Zeit nur 50mal Früchte trage und jedesmal in ihren weit verbreiteten
Ästen und Zweigen nur 500 Eicheln, so liefert sie doch 25,000, wovon
jede die Anlage hat, wieder ein solcher Baum zu werden. Gesetzt, daß
dieses geschehe, und es geschehe bei jeder von diesen wieder, so hätte sich
die einzige Eiche in der zweiten Abstammung schon zu einem Walde von
20*
308
625 Millionen Bäumen vermehrt. Wie viel aber eine Million oder
1000 mal 1000 seh glaubt man zu wissen, und doch erkennt es nicht jeder.
Denn wenn ihr ein ganzes Jahr lang vom 1. Januar bis zum 31. De-
cember alle Tage 1000 Striche an eine große Wand schreibt, so habt ihr
am Ende des Jahres noch keine Million, sondern erst 365,000 Striche
und das zweite Jahr noch keine Million, sondern erst 730,000 Striche,
und erst am 26. September des dritten Jahres wurdet ihr zu Ende kommen.
Aber unser Eichenwald hätte 625 solcher Millionen, und so wäre es bei
jeder andern Art von Pflanzen nach Verhältnis in noch viel kürzerer Zeit,
ohne an die zahlreiche Vermehrung durch Augen, Wurzelsprossen und
Knollen zu gedenken. Wenn man sich also einmal über diese große Kraft
in der Natur gewundert hat, so hat man sich über den Reichthum an
Pflanzen aller Art nicht mehr zu verwundern. Obgleich viele 1000 Kerne
und Körnlein alle Jahre von Menschen und Thieren verbraucht werden,
viel tausend im Boden ersticken, oder im Aufkeimen durch ungünstige Wit-
terung und andere Zufälle wieder zu Grunde gehen, so bleibt doch Jahr
aus Jahr ein ein freudiger und unzerstörbarer Überfluß vorhanden. Auf
der ganzen weiten Erde fehlt es nirgends an Gesäme, überall nur au
Platz und Raum.
Aber wenn jeder reife Kern, der sich von seiner Mutterpflanze ab-
löset, unter ihr zur Erde fiele und liegen bliebe, alle lägen auf einander,
keiner könnte gedeihen, und wo vorher keine Pflanze war, käme doch keine
hin. Das hat der liebe Gott vor uns bedacht und nicht auf unsern guten
Rath gewartet. Denn einige Kerne, wenn sie reif sind, fliegen selbst durch
eine verborgene Kraft weit auseinander, die meisten sind klein und leicht
und werden durch jede Bewegung der Luft davongetragen, manche sind noch
mit kleinen Federlein besetzt, wie der Löwenzahn, Kinder blasen sie zum
Vergnügen auseinander und thun damit der Natur auch einen kleinen
Dienst, ohne es zu wissen, andere gehen in zarte breite Flügel aus, wie
die Samenkcrne von Nadelholzbäumen. Wenn die Sturmwinde wehen,
wenn die Wirbelwinde, die im Sommer vor den Gewittern hergehen, alles
von der Erde aufwühlen und in die Höhe führen, dann säet die Natur
aus und ist mit einer Wohlthat beschäftigt, während wir uns fürchten,
oder über sie klagen und zürnen; dann fliegen und schwimmen und wogen
eine Menge von unsichtbaren Keimen in der bewegten Luft umher und
fallen nieder weit und breit, und der nachfolgende Staub bedeckt sie.
Bald kommt der Regen und befeuchtet ihn, und so wird's auf Flur
und Feld, in Berg und Thal auch wahr, daß etliches auf dem Wege von
den Vögeln des Himmels gefressen wird, etliches unter den Dornen zu
Grunde geht, etliches auf trockenem Felsengruude in der Sonnenhitze er-
stirbt, etliches aber gut Land findet und hundertfältige Frucht bringt.
Weiter sind manche Kerne für den Wind zu groß und zu schwer, aber sie
sind rund und glatt, rollen auf der Erde weiter, und werden durch jeden
leichten Stoß von Menschen und Thieren fortgeschoben. Andere sind init
umgebogenen Spitzen und Häklein versehen, sie hängen sich an das Fell
der Thiere, oder an die Kleider der Menschen an, werden fortgetragen
und an einem andern Orte wieder weggestreift oder abgelesen und ausgesäet,
und der es thut, weiß es nicht oder denkt nicht daran. Viele Kerne gehen
309
unverdaut und unzerstört durch den Magen und-die Gedärme der Thiere,
denen sie zur Nahrung dienen sollen, und werden an einem andern Orte
wieder abgesetzt. So haben wir ohne Zweifel durch Strichvögel schon
manche Pflanze aus fremden Gegenden bekommen, die jetzt bei uns daheim
ist und guten Nutzen bringt. So gehen auf hohen Gemäuern und Türmen
Kirschbäume und andere auf, wo gewiß kein Mensch den Kern hingetragen
hat. Noch andere fallen von den überhangenden Zweigen ins Wasser,
oder sic werden durch den Wind und Überschwemmungen in die Ströme
fortgerissen und weitergeführt und an andern Orten durch neue Über-
schwemmungen wieder auf dem Lande abgesetzt. Ja einige schwimmen auch
wohl auf den Strömen bis ins Meer, erreichen das jenseitige Gestade und
Heimen sich alsdann in einer landesfremdcn Erde ein. Es sind da und
dort schon Pflanzen als Unkraut aufgegangen, von denen man wohl wissen
kann, daß der Samen dazu auf diese Art über das Meer gekommen sei.
Also müssen alle Kräfte und Elemente die wohlthätigen Absichten des Schö-
pfers befördern, Schnee und Regen, Blitz und Hagel, Sturm und Winde
seine Befehle ausrichten.
Aber das ist ja eben die Plage des Landmanns! Daher kommt also
das viele Unkraut im Garten und auf den Äckern, das der schönen ge-
reinigten Saat Raum und Nahrung stiehlt, so viel Mühe macht und doch
mit aller Geduld und Sorgfalt nicht vertilgt werden kann. Die Sache ist
nicht so schlimm, wie es scheint. Denn zum Ersten, so ist der Mensch
nicht allein auf der Erde da. Viele tausend Thiere aller Art, von man-
cherlei Natur und Bedürfnissen wollen auch genährt sein und warten auf
ihre Speise zu seiner Zeit. Manche davon sind uns unentbehrlich, und
wir wissen's wohl; manche schaffen uns großen Nutzen, und wir wisscn's
nicht, und es muß doch wahr bleiben, woran wir uns selber so oft erinnern,
daß sich eine milde Hand aufthut und alles sättiget, was da lebet, mit
Wohlgefallen. Zum Andern, so hat doch der Mensch auch schon von man-
chem Kräutlein Nutzen gezogen, das er nicht selber gcsäet und gepflanzct,
nicht im Frühlingsfrost gedeckt und in der Sonnenhitze begossen hat. Und
eine einzige unscheinbare und verachtete Pflanze, deren Kraft dir oder deinen
Kindern oder auch nur deinem Vieh eine Wunde heilt, einen Schmerz ver-
treibt, oder gar das Leben rettet, bezahlt die Mühe und den Schaden reich-
lich, den tausend andere verursachen. Aber wer stellt den Menschen zu-
frieden? Wenn die Natur nicht so wäre, wie sie ist, wenn wir Baldrian
und Wohlgeniuth, Ehrenpreis und Augentrost und alle Pflanzen in Feld
und Wald, die uns in gesunden und kranken Tagen zu mancherlei Zwecken
nützlich und nöthig sind, selber ansäen, warten und pflegen müßten, wie
würden wir alsdann erst klagen über des vielbedürftigcn Lebens Mühe
und Sorgen! I. P. H-b-l.
230. Tie Hansa.
Die norddeutschen Städte, soweit die nieder- oder plattdeutsche Sprache
reichte, hatten schon früh ihre Kraft auf den Seehandel gerichtet und da-
durch sich unermeßliche Reichthümer erworben. Wie sich aber alles im
Mittelalter zu Genossenschaften zusammenschloß, so gicngen auch sic, nicht
wie die rheinischen Städte zur augenblicklichen Vertheidigung gegen über-
310
wüthige Raubritter, sondern zur dauernden Verfolgung ihrer Handels-
vortheile einen Bund ein, der nach damaligem Sprachgebrauch Hansa,
d. h. Innung, genannt ward. Die ersten Mitglieder waren Hamburg,
Lübeck und Bremen, aber dieser Hansabund erweiterte sich im dreizehnten
und vierzehnten Jahrhundert so, daß er zuweilen über 70 Städte umfaßte,
mit seinen Flotten die nordischen Meere beherrschte, ganze Länder eroberte,
mächtige Könige beugte. Doch war die Verbindung der Städte nur locker,
oft getheilt, oder eingeschlafen, und nur selten trat ihre ganze furchtbare
Kraft zum Verderben ihrer Feinde hervor, wenn sie sich einmal entschlossen
einig zu handeln. Dieser Bund konnte des ganzen deutschen Nordens Herr
werden, wenn er wollte; allein es wurde nicht einmal der Versuch dazu
gemacht. Die Bürger fühlten sich nur als Kaufleute, die zufrieden waren,
wenn man ihnen in der Fremde nur ihren umhegten Platz ließ, auf dem
sie nach heimatlicher Sitte und heimischem Recht ihren Handel betrieben.
Die Größe und Macht der Hansa beruhte, obwohl ihre Schiffe auch
bis in die innersten Buchten des Mittelmceres giengen, zumeist auf dem
Handel der Ostseefahrer. Denn damals war die Ostsee der große Fisch-
behälter Europas; die Dorsche wälzten sich haufenweise in die ausgewor-
fenen Netze, der Hering kam jährlich in ungeheuren Wanderzügen durch
den Sund, au den Flußmündungen wimmelten der Lachs und der Aal.
Besonders aber war der Heringsfang für die nordischen Handelsstädte von
der größten Wichtigkeit. Bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts zog
der Fisch längs der Küste von Pommern in so dichten Massen, daß mau
im Sommer nur den Korb ins Meer zu senken brauchte, um ihn gefüllt
herauszuziehen. Damals wuchsen Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und
Greifswald mit wunderbarer Schnelligkeit zu hohem Wohlstand. Im drei-
zehnten Jahrhundert aber verlegte der Hering seine Seewege und strich
längs der flachen Küste von Schonen und am norwegischen Ufer. Da
eilten alle seetüchtigen Völker in sein Fahrwasser, und die deutschen Hansa-
städte kämpften um seinetwillen blutige und siegreiche Kriege mit den Dänen,
Engländern, Schotten und Holländern, sie brachen den dänischen Königen
ihre festen Schlösser, besetzten ihre Inseln und behaupteten Jahrhunderte
hindurch die Herrschaft in Gothland, Schonen und Bergen. Das war die
große Zeit der deutschen Hansa. Nach 1400 aber änderte der Hering
wieder seine Züge und gieng an die holländische Küste; seitdem wurden die
holländischen Städte reich und mächtig.
War der hanseatische Kaufmann daheim, so zeigte er gern seinen Wohl-
stand durch stattliche Kleidung, kostbare Pelze und bunte Farben; er trug
das Schwert an der Seite und am reichverzierten Gurt die Geldtasche und
den Siegelring, worin das wichtige Zeichen seines Geschäftes, die Haus-
marke, eingegraben war. Denn er war des Schreibens nicht immer
mächtig, und durch dieselbe Marke, die von seinen Fässern und Ballen her
an allen Enden der Welt bekannt war, bestätigte er Geldanweisungen und
Urkunden, die er durch seinen Schreiber ausstellen ließ.
Aber derselbe Mann trug zur See auch die Friesjacke des Schiffers
und das Panzerhemd des Kriegers. Denn wenn er auf seinem rund-
bauchigen, hochbordigen Fahrzeuge das Meer durchstrich, hatte er nicht
selten mit verwegenen Seeräubern zu kämpfen. Auch in fremden Ländern
I
--- 311 --------
mußte er manchen blutigen Strauß bestehen, doch trug er mit seiner zähen
Ausdauer stets den Sieg davon, und im Gefolge seiner kaufmännischen
Arbeit brachte dann auch das Christenthum in Länder, die bis dahin völlig
unbekannt gewesen waren, seine Segnungen. So trugen bremische Kauf-
fahrer in das heidnische Livland Christenthum und deutsches Wesen.
Die Blüte der Hansa dauerte dreihundert Jahre. Erst nach Auf-
findung neuer Seewege, als dem Handel neue Bahnen eröffnet waren,
gerieth sie in Verfall und hielt 1630 ihre letzte Tagsatzung. Noch heute
führen Hamburg, Lübeck und Bremen den alten Namen Hansastädte fort.
G. Freytag.
231. Das Rennthier.
Je öder die Natur ist, welche den Lappländer umgibt, desto mehr ist
Gottes Güte und Weisheit zu preisen, die auch ihm durch das Rennthicr
die Möglichkeit des Lebens gewährt hat. Es ist die einzige Hirschart, die
zum Hausthier geworden ist.
Der ärmere Lappländer hat Herden von zehn bis zwölf Stück, wäh-
rend der reiche deren vier- bis fünfhundert besitzt. Die Hirten kennen,
obgleich ein Thier wie das andere aussieht, nicht allein alle, sondern sogar
die Fehler und Tugenden eines jeden.
Die Zucht dieser Thiere ist äußerst mühsam und nur diesen Völkern
nicht beschwerlich; denn die Rennthiere sind fortwährend in Bewegung,
und der Lappe muß im beständigen Trabe hinter ihnen her sein, um sie
zusammen zu halten.
312
Ihre Nahrung besteht im Sommer aus allerlei Gebirgspflanzen, Im
Winter fast nur ans gallertreichen Flechten der Ebenen, durch welche sie
sehr fett werden. Im Winter bei tiefem Schnee müssen zu ihrer Nahrung
Bäume gefällt, oder der Schnee von den Flechten entfernt werden; denn
daß sie selbst den Schnee mit ihren Geweihen wegschaufeln, soll unwahr
sein; vielmehr soll ihnen öfters das Geweih abgesägt werden, wenn es zu
schwer und dem Thiere lästig wird.
Erst im vierten Jahre spannt man sie vor deiz Schlitten, welcher
äußerst leicht gebaut und mit Rennthierhaut überzogen ist. Das angespannte
Rennthier hat zur Halsschnur ein Stück Haut, woran man das Haar hat
sitzen lassen, und von welchem nach der Brust, über den Leib hin, zwischen
den Beinen durch, eine Schnur geht, die vorn an den Schlitten befestigt
wird. Der Leitstrang ist an die Wurzel des Geweihs geknüpft und wird
bald nach der einen, bald nach der anderen Seite geworfen, wenn man
links oder rechts lenken will. Es übertrifft an Schnelligkeit und Ausdauer
das Pferd und läuft beständig im Trabe. Doch soll, was auch leicht ein-
zusehen ist, eine solche Schlittenfahrt nicht die angenehmste sein, indem man
beständig arbeiten muß, um den leichten Schlitten im Gleichgewicht zu er-
halten. Auch soll das Thier öfters halsstarrig werden, sich umdrehen und
mit den kräftigen, gefährlichen Füßen nach dem Reisenden schlagen, dem
dann nichts weiter übrig bleibt, als den Schlitten umzuwerfen und in Ge-
duld abzuwarten, bis es wieder besänftigt ist. Es greift beim Lausen weit
aus und spreizt die Hufe aus einander, um leicht, ohne einzusinken, über
den Schnee wegkommen zu können. Beim Laufen hört man weithin ein
starkes Knacken. Dieses Geräusch entsteht zum Theil von dem Anschlage
der Afterklauen und der wahren Hufe gegen einander.
Die Milch, die ein- oder zweimal des Tages in kleinen Portionen
gemolken wird, ist äußerst nährend, so daß man unvermischt kaum einen
Löffel voll und mit Wasser nur einige genießen kann. Durch bloßes
Schütteln wird sie zu schneeweißer Butter, die jedoch nur im Sommer bei
gutem Futter schmackhaft, allein im Winter talgig sein soll. Außer dieser
wird vom Rennthier fast alles benutzt, und das Fleisch von jungen und
besonders von wilden Thieren ist sehr saftig und schmackhaft.
Feinde haben sie an den Bären, Wölfen und Vielfraßen; die ersteren
jagen sie gesellschaftlich und verfolgen sie in Gebirgen so lange, bis eins
oder das andere in einen Abgrund stürzt oder ermattet gepackt wird.
Sind Rennthicre in großen Herden beisammen, so wehren sie sich mit
ihrem kräftigen Vorderfuße gegen den Angriff der Wölfe, die sie öfters
nicht allein zurückschlagen, sondern auch manchmal tobten. Der Vielfraß
jedoch soll ihnen bei weitem der gefährlichste sein; denn er lauert heim-
tückisch auf den Aesten eines Baumes und stürzt dem arglos dahin gehen-
den Thiere ins Genick, wo er sich fest beißt und so lange würgt, bis das
Thier ermattet zusammenstürzt.
Ihr lästigster Feind oder vielmehr ihre größte Plage sind zwei Arten
Bremsen. Die Rennthierbremse verfolgt sie den ganzen Tag, bis sic einen
günstigen Augenblick erhascht, um ihr klebriges, weißes Ei auf den Rücken
niederfallen zu lassen. Die aus dem Ei bald ausgeschlüpfte Made bohrt
sich in die Haut ein und erregt ein Geschwür. Viele solcher Maden-
313
geschwüre können ein Thier zu Grunde richten. .Die Nasenbremsen legen
dem Thiere die Eier in die Nase, wo die Maden ihm viele Beschwerden
verursachen. Es schnaubt dann beständig und schlägt mit dem Kopf um
sich, um diese bösen Gäste zu entfernen. Wenn der Schnee friert oder
cs entsteht dickes Glatteis, so verhungern viele, weil sie nicht mit ihren
Füßen den Schnee von ihrem Futter wegscharren können. Äau„.
232. Das Habermus.
Kinder, das Habermus ist fertig, so kommt denn und esset!
Betet: Aller Augen — und gebt mir ordentlich Achtung,
Das am rußigen Topf sich keins das Ärmelchen schwarz macht.
So, nun esset, fegn' es euch Gott, und wachst und gedeihet!
Seht, es hat die Haberkörnlein der Vater im Frühjahr
Zwischen die Furche gesä't mit fleißiger Hand und beegget;
Aber daß sie gewachsen und zeitig geworden, dafür kann
Euer Vater hier nicht, das that der Vater im Himmel.
Denket nur, Kinder, es schläft ein Keimchen im mehligen Körnlein,
Klein gestaltet und zart; nicht regt, noch rührt sich das Keimchen,
Rein, es schläft und spricht kein Wort und ißt nicht und trinkt nicht,
Bis es die Furche bedeckt und der aufgelockerte Boden ;
Aber sodann in der Furch' und in der befeuchteten Wärme
Wacht allmählich es auf aus seinem verschwiegenen Schlafe.
Streckt die Gliederchen aus und sauget am saftigen Körnlein,
Wie an der Mutter das Kind; es fehlt nur, daß es noch weinte.
Nach und nach wird's größer und heimlich auch schöner und stärker,
Schlüpft aus den Windeln heraus und streckt ein Würzelchen abwärts
Tiefer hinein in den Grund, sich Nahrung suchend und findend.
Ja, und der Vorwitz Plagt's, neugierig möcht' es auch wissen,
Wie es nun weiter oben wohl sei. — Gar heimlich und furchtsam
Guckt's aus dem Boden heraus. — Potz Stern! ich glaub', es gefällt ihm! —
Und der liebe Gott schickt einen Engel hernieder:
„Bring' ihm ein Tröpfchen Thau und sag' ihm freundlich Willkommen!"
Und es trinkt, und es schmeckt ihm so wohl, es streckt sich gewaltig.
Aber nun kämmt sich die Sonne, und ist sie gekämmt und gewaschen.
Tritt mit dem Strickzeug schnell sie hervor dort hinter den Bergen,
Wandelt daher den Weg hoch an der himmlischen Straße,
Stricket und schauet herab, wie eine freundliche Mutter
Nach den Kinderchen sieht. Sie lächelt freundlich dem Keimchen,
Und es thut ihm so wohl bis tief hinein in das Würzlein.
„Solch eine treffliche Frau, und doch so gütig, so freundlich!"
Aber was sie wohl strickt? Ein Gewölk aus himmlischen Düften!
Schon setzt's Tropfen, ein Sprützelchen kommt, jetzt regnet es völlig.
Keimlein trinket sich satt; d'rauf wehet ein Lüftchen und trocknet's,
Und es sagt: „Nicht kehr' ich zurück jetzt unter den Boden!
Nicht um alles! Da bleib' ich und schau, zu was ich gut bin!"
Esset, ihr Kindlein, und fegn' es euch Gott, und wachst und gedeihet!
Bittre Zeit doch harrt auf das Keimlein. Wolken an Wolken
Stehen am Himmel bei Tag' und bei Nacht, und die Sonne verbirgt sich.
Hoch auf den Bergen da schneit es, und weiter unten da hagelt's.
Hu — wie schaudert es jetzt dem Keimlein, wie bangt es und weint es
Und der Boden ist zu und hat gar ärmliche Nahrung.
„Ist denn die Sonne gestorben", so spricht's, „daß sie gar nicht zu seh'n ist?
Oder fürchtet sie auch, sie ersrö'r? Ach, wär' ich geblieben,
Wo ich gewesen, bescheiden und klein im mehligen Körnlein,
An dem heimischen Grund' und in der befruchtenden Wärme!"
L-eht, ihr Kinder, so geht's: Ihr sprecht wohl auch noch dereinst so,
Wenn in die Welt ihr kommt, bei nie gesehenen Leuten
314
Schaffen müßt und euch rühren und Brot euch verdienen und Kleidung:
„Wäre daheim ich doch beim Mütterchen hinter dem Ofen!"
Tröst' euch Gott, es währt nicht immer, und endlich wird's besser,
Wie auch das Keimlein erfahren. Nun hört! Am heiteren Maitag
Weht es lau, und es steigt die Sonne so kräftig vom Berg ans,
Und sie schaut, wie's dem Keimlein ergeht, und gibt ihm ein Küßchen.
Ach! wie rst's ihm so wohl, es weiß nicht zu bleiben vor Freude!
Allgemach pranget die Matte mit Gras und mit farbigen Blumen,
Allgemach duftet die Blüte der Kirschen, es grünet der Pflaumbaum,
Buschiger wird das Korn, und buschiger Weizen und Gerste,
Und mein Häberlein spricht: „Jetzt bleib' ich allein nicht dahinten!"
Nein, es spreitet die Blättchen — wer hat sie so zart ihm gewoben?
Jetzt auch schießet der Halm — wer treibt in Röhren an Röhren
Aus den Wurzeln das Wasser hinauf zu der saftigen Spitze?
Endlich schlüpft ein Ährlein heraus und schwankt in den Lüften —
Sage mir doch nur ein Mensch, wer hat an seidene Fäden
Dort ein Knöspchen gehängt und hier mit künstlichen Händen?
timmlische Engel, wer sonst? — Sie wandeln zwischen den Furchen
uf und ab von Halme zu Halm und schaffen gewaltig.
Jetzt hängt Blüte bei Blüt' an der zierlichen, schwankenden Ähre,
Und mein Häberchen steht gleich einem Bräutlein im Kirchstuhl.
Jetzt sind zarte Körnlein darin und wachsen im Stillen,
Und mein Haber beginnt zu merken, was es will werden.
Käferchen kommt nun und Fliege ; sie kommen und machen Besuch ihm,
Schauen, wie es ihm geht, und singen ihr: Eia Popeia! —
Und auch der Glühwurm kommt, Potz tausend mit dem Laternchen
Nachts um neun auf Besuch, wenn Flieg' und Käferlein schlafen. —
Esset, ihr Kinder, gesegn' es euch Gott, und wachst und gedeihet!
Späterhin hat man geheu't und Kirschen gesammelt nach Pfingsten,
Späterhin saftige Pflaumen gepflückt dort hinten im Garten,
Späterhin hat inan Roggen gemäht und Weizen und Gerste:
Aber die Kinder der Armen find barfuß zwischen den Stoppeln
Ähren lesen gegangen, und's Mäuslein machte den Kehraus.
Drauf hat auch der Haber gegelbt: voll mehliger Körner
Hat er geschwankt und gesagt: „Jetzt ist's mir endlich verleidet;
Meine Zeit, ich merk' es, ist aus; was mach' ich allein hier
Zwischen den Stoppelrüben und zwischen dem Kraut der Kartoffeln?"
Drauf ist die Mutter hinaus mit Euphrosinchen und Lieschen,
lind. schon fror's an den Fingern, so kalt war's morgens und abends.
Endlich haben wir heim ihn gebracht in die staubige Scheune
lind ihn gedroschen von früh zwei bis zu Abend um viere.
Drauf hat des Müllers Esel ihn abgeholt in die Mühle
Und ihn wiedergebracht, in feine Körnlein zermahlen;
Und mit sahniger Milch von jungen, fleckigen Kühen
Hat lieb Mütterchen ihn gekocht, gelt, Kinder, es schmeckte? —
Wischet die Löffel nun ab, und bet' eins: „Danket dem Herren!"
Und jetzt geht in die Schule, dort hängt das Ränzchen am Simse!
Falle mir keins, gebt Achtung und lernt hübsch, was man euch aufgibt!
Kehrt ihr zurück, setzt's auch ein gebacknes Pfläumlein zum Nachtisch.
I. P. Hebel.
233. Der Walfisch und sein Faust.
1. Der Walfisch ist unter den Sängethieren und unter allen Thieren
das größte. Sein Körper ist fischähnlich, aber nicht mit Schuppen, sondern
mit einzelnen Haaren bedeckt. Er wird 18 bis 20 Meter lang, 6 bis
8 Meter dick und kann ein Gewicht von 2000 Centnern erreichen. Sein
Kopf ist groß; er nimmt fast ein Drittel von der Länge des Körpers ein.
315
In dem Oberkiefer befinden sich statt der Zähne lange, hinter einander
gereihte Hornplatten, Barten genannt. Die Augen sind nur etwas größer,
als Ochsenaugen.
Er bewohnt das Eismeer und nährt sich von allerlei kleinen Meer-
thieren. Um diese Nahrung zu erhalten, öffnet er den ungeheuren Rachen
und füllt ihn mit Wasser, worin Tausende von solchen Thieren sich be-
finden, schließt ihn dann wieder, stößt das Wasser durch die Spritzlöcher
auf seinem Kopfe und verschluckt die hängengebliebene Beute durch den
engen Schlund.
Der Walfisch wird vorzüglich seines Fettes oder Thranes wegen ge-
fangen. Die Schiffe, welche besonders die Engländer und Holländer in
großer Zahl ausrüsten, laufen gewöhnlich im April ans, um Ende Mai
ihre Jagd beginnen zu können, welche bis in die Mitte des August dauert.
Jedes Schiff hat 40 bis 50 Mann an Bord und führt mehrere kleine
Boote mit sich. Ist der Walfisch entdeckt, so sucht man sich ihm zu nähern
und wirft mit starken eisernen Wurfspießen, welche mit Widerhaken ver-
sehen und an langen Seilen befestigt sind, nach ihm. Getroffen taucht er
Plötzlich unter, muß aber bald wieder emporkommen, um Luft zu schöpfen,
wobei er immer aufs neue verwundet wird, bis er endlich unterliegt. So-
bald er todt ist, steigt man ihm auf den Rücken und haut den Speck her-
unter, welcher in einer Dicke von '/4 bis >/z Meter unter der Haut liegt
und das ganze ungeheure Thier gleichsam einkleidet. Nebst diesem Specke,
von dem der Thran ausgeschmolzen wird, nimmt man von dem getödteten
Walfisch noch die Barten oder das Fischbein und zuweilen auch die Kiefer-
knochen. Die übrigen Theile werden als unbrauchbar zurückgelassen.
2. Versetzen wir uns in Gedanken in denjenigen Theil des Eis-
meeres, der sich zwischen Island und Grönland hinzieht.
316
Zwei Walfischfänger stehen sich gegenüber, ein englischer, der Strat-
ford, und ein amerikanischer. An Bord beider Schiffe ist alles bereit.
Die Boote können ausgesetzt werden, sobald der Walfisch bemerkt wird.
Es herrscht feierliches Schweigen; man hört nur das Anschlagen der
Wellen an die Fahrzeuge. Um die Wachsamkeit seiner Leute anzuspornen,
verspricht der englische Capitän dem ersten, welcher die Beute erspäht,
Jacke und Beinkleider. Das Versprechen wirkt augenblicklich; im Nu be-
deckt sich das Takelwerk mit Matrosen.
Ein kaum merklicher schwarzer Punkt erhebt sich am Horizont. Ein
Schrei wird in einem der Mastkörbe des englischen Schiffes ausgestoßen:
es ist ein Matrose von den Hebriden, dessen scharfes Auge das Fernrohr
des Capitäns übertroffen hat; — ein ungeheurer Walfisch bewegt sich dem
Fahrzeuge entgegen. Ein allgemeines Hurrah erschallt an Bord des Strat-
ford. Während die Boote ins Meer gelassen werden, während die Mann-
schaft sich mit Eifer, aber ohne Verwirrung bereit macht, kommt das Un-
gethüm näher und näher; aber hinter ihm zeigt eine Wolke von Segeln,
daß es von dem Amerikaner verfolgt wird. Endlich berühren die Boote
plätschernd die Oberfläche des Wassers. Die Ruder sind besetzt; die Jagd
beginnt. Theils aus Nationalstolz, theils aus Habgier streiten die Ameri-
kaner mit den englischen Ruderern um die Wette. Es ist ein Augenblick
lebhafter Angst. Während die Harpuniere sich vorsichtig mit erhobener
Waffe nähern, verfolgt das Ungeheuer seinen Weg, dem Anscheine nach
gleichgültig gegen die Anstrengungen seiner Feinde; dann aber, in einer Ent-
fernung, wo die Harpune es erreichen kann, taucht es plötzlich den Kopf
unter die Wogen, peitscht mit seinem furchtbaren Schweif das Wasser und
verschwindet in dem Schaume.
Die kühnen Verfolger lassen sich nicht entmuthigcn. Sic wissen, daß
das Untertauchen eines Walfisches nicht länger als eine halbe Stunde
dauert und er meistens unter dem Wasser denselben Weg verfolgt, wie an
seiner Oberfläche. Da aber jede Regel ihre Ausnahmen hat, so blicken sie
unruhig nach allen Weltgegenden umher; die Boote werden von neuem
aufgezogen oder ins Schlepptau genommen. Die beiden Schiffe steuern
um die Wette in derselben Richtung hin, wie zwei Rennpferde. Der eng-
lische Capitän schreitet auf dem Verdecke mit fieberhafter Heftigkeit auf
und nieder, und doch vermag er nicht schneller zu segeln als der Ameri-
kaner. Da zeigt sich der Walfisch aufs neue in der Ferne, schwarz und
riesenhaft, wie ein umgestürztes Wrack. Die Boote fliegen ihm nach; Eng-
länder, Amerikaner, Walfisch, — Alles verwirrt sich vor den Blicken des
athemlosen Zuschauers. In drei verschiedenen Fahrzeugen stehen die Har-
puniere unbeweglich mit erhobenem Arme. Zwei Harpunen durchfliegen
zugleich die Luft; der Walfisch taucht abermals in die Schanmwolke, aber
diesmal schleppt er die Harpune mit, und ans dem Dunstschleier kommt
ein leichter Kahn hervor, dessen Bewegung an Schnelligkeit dem vollen
Laufe einer Locomotive gleicht. Der Officicr, welcher ihn befehligt, gehört
dem Stratford an, — der Engländer hat gesiegt! Während seiner schwin-
delnden Fahrt schwenkt er die Mütze und verschwindet in der Ferne unter
dreifachem Beifallsruf.
Der Walfisch hat durch einen gewaltigen Ruck seine Richtung ge-
317
wechselt; — plötzlich erblaßt der englische Capitän, denn das Ungethüm
stürzt wie der Blitz gegen das Schiff und zieht eine Furche von Schaum
und Blut so nahe an demselben hin, daß das Heft der Harpune am Bug-
spriet anstreift. Indessen zieht der Harpunier das Tau, an dem das Eisen
befestigt ist, immer straffer an und nähert sich dem Walfisch. Verdoppelte
Schläge färben die Fluten rings umher mit seinem Blute; das Wasser
spritzt er in seinem Todcskampfe hoch auf. Er taucht abermals unter;
das Boot läßt aufs neue die Leine los, und dann beginnt der letzte furcht-
bare Kampf. Das Ungeheuer dreht sich nach allen Seiten, ein Schlag
seines Schweifes zertrümmert eines der Boote; dann aber, nach dieser
letzten Anstrengung, öffnet es seinen ungeheuren Rachen, rollt schwerfällig
auf die Seite und stirbt. Fix.
234. Fischcrleben
Wer gleichet uns freudigen
Fischern im Kahn?
Wir wissen die schmcidigen
Fische zu fah'n.
Wir sitzen und schweben
Geflügelten Lauf.
Wir tanzen und heben
Die Füße nicht auf.
Bald hauchen uns säumende
Lüftchen ans Ohr,
Bald heben uns schäumende
Wellen empor.
Dann brüllt's an den Klippen
Und Felsen hinan,
Dann schüttern die Rippen
Den taumelnden Kahn.
Doch lacht nur des sausenden
Sturms unser Muth
Und erntet der brausenden
Tiefe Tribut.
235. Das
„Was ragt dort für ein Glockenhaus
Im Ring des Markts hervor?
Den Flug des Windes ein und aus
emmt weder Thür noch Thor.
ritt Volkslust oder Schrecken ein,
Wenn diese Glocke schallt?
Und was besagt das Bild von Stein
In hoher Roßgestalt?" —
„Ihr seid der erste Fremdling nicht,
Der nach den Dingen fragt.
Was unsre Chronik davon spricht,
Sei willig euch gesagt.
Des Undanks Rügenglocke heißt
Das edle Alterthum,
Und unsrer wackern Väter Geist
Umschwebt es noch mit Ruhm.
Wir freu'n uns des Meeres,
So wild es auch scheint,
Und trau'n ihm, als wär' es
Mit Planken umzäunt.
Wir fahren mit sinkendem
Vollmond hinaus
Und kehren mit blinkendeni
Kahne nach Haus!'
Uns geben die Netze,
Frühmorgens gestellt,
Lebendige Schätze
Und abends schon Geld.
Wohl bergen uns schützende
Hütten die Nacht,
Bis wieder das blitzende
Sternchen erwacht;
So geht cs, und nimmer
Geht's anders als gut;
Ein Fischer hat immer
Gar fröhlichen Muth.
Overbeck.
blinde Roß.
Undank war schon zu ihrer Zeit
Der schnöde Lohn der Welt.
Drum hat der Alten Biederkeit
Dies Schrecknis aufgestellt.
Wer jener Schlange Stich empfand,
Dem war die Macht verlieh'n,
Er konnte stracks mit eigner Hand
Die Rügenglocke zieh'n.
Da kam, wenn's auch bei Nacht geschah,
Die Obrigkeit herbei
Und fragt' und forschte, hört' und sah,
Was hier zu schlichten sei.
Da galt nicht Rang, da galt nicht Gold,
Mocht's Herr sein oder Knecht.
Die Richter sprachen ohne Sold
Für jeden gleiches Recht.
318
Es sind wohl hundert Jahre her;
Da lebte hjer ein Mann,
Der durch geschäftigen Verkehr
Viel Hab' und Gut gewann.
Von Reichthum zeugte seine Tracht,
Sein Keller und sein Herd;
Auch hielt er sich zur Lust und Pracht
Ein wunderschönes Pferd.
Einst ritt er in der Dämmerung,
Da stürzten aus dem Hain
Mit Mordgeschrei und Tigersprung
Sechs Räuber auf ihn ein.
Sein Leben, um und um bedräut,
Hieng nur an einem Haar,
Doch seines Rosses Schnelligkeit
Entriß ihn der Gefahr.
Es brachte, hoch mit Schaum bedeckt,
Ihn wundenfrei nach Haus.
Er breitete, zum Dank erweckt,
Des Pferdes Tugend aus.
Er that ein heiliges Gelübde
Mein Schimmel soll fortan
Den besten Hafer, den es gibt,
Bis an den Tod empfah'n.
Allein das gute Thier ward krank,
Ward steif und lahm und blind;
Und den ihm angelobten Dank
Vergaß sein Herr geschwind,
Er bot es feil und ward nicht roth,
Und jagt' es Knall und Fall,
Weil niemand einen Heller bot,
Mit Schlägen aus dem Stall.
Es harrte sieben Stunden lang
Gesenkten Haupts am Thor,
Und wenn ein Tritt im Hause klang,
So spitzt' es froh das Ohr.
Doch glänzte schon der Sterne Pracht,
Und niemand rief's hinein,
Und es durchschlief die kalte Nacht
Auf frostigem Gestein.
Und noch am andern Tage blieb
Der arme Gaul dort stehn,
Bis ihn des Hungers Stachel trieb,
Nach Nahrung fortzugehn.
Die Sonne strahlte hell, doch ihn
Umhüllte Finsternis,
Und er, der sonst geflügelt schien,
Gieng sacht und ungewiß.
Er hob und schob vor jedem Tritt
Den rechten Fuß voran
Und prüfte tastend Schritt vor Schritt
Die Sicherheit der Bahn.
Durch alle Gassen streifte so
Am Boden hin sein Mund,
Und ein verstreutes Hälmchen Stroh
War ihm ein werther Fund.
Schon von des Hungers wilder Macht
Verzehrt bis aufs Gebein,
Gerieth er einst um Mitternacht
Ins Glockenhaus hinein.
Er suchte gierig Sättigung,
Ergriff der Glocke Strang
Und setzte nagend sie in Schwung,
Daß sie die Stadt durchklang. —
Den Richtern scholl der Ruf ins Ohr,
Sie kamen eilig an
Und hoben ihre Händ' empor,
Als sie den Kläger sah'n.
Sie kehrten nicht mit Scherz und Spott
Zurück in ihr Gemach;
Sie riefen staunend: Es war Gott,
Der durch die Glocke sprach!
Und auf den Markt geladen ward
Der reiche Mann sofort.
Geweckt vom Boten, sprach er hart;
Ihr träumt! was soll ich dort?
So gieng er trotzig doch er stand,
Zur Demuth schnell bekehrt,
Als er den Kreis der Richter fand
Und mitten drin sein Pferd.
Kennt ihr dies Wesen? — hub das Haupt
Der edlen Richter an.
Des Lebens wär't ihr längst beraubt,
Hätt's nicht so brav gethan!
Und was ist seiner Tugend Lohn? —
Ihr gebt's, o Mann von Eis!
Dem Wettersturm, dem Bubenhohn,
Dem Hungertode preis!
Die Rügenglocke hat getönt,
Der Kläger stehet hier,
Durch nichts wird eure That beschönt,
Und so gebieten wir:
Daß ihr sogleich das treue Pferd
In euern Hausstall führt
Und bis ans Ende pflegt und nährt,
Wie euch als Christ gebührt! —
Der Reiche sah nicht wenig schel,
Weil ihn der Spruch verdroß,
Doch fühlt' er seines Undanks Fehl
Und führte heim das Roß. —
So meldet ehrlich, kurz und plan
j Die Chronik den Verlauf,
Und zum Gedächtnis stellte man
Nachher das Steinbild auf."
Langbein.
236. vei- Kloekenguss zu Breslau.
1. War einst ein Glockengiesser I 2. Er hatte schon gegossen
Zu Breslau in der Stadt, j Viel Glocken gelb und weiss,
Ein ehrenwerther Meister, Für Kirchen und Kapellen
Gewandt in Bath und That. | Zu Gottes Loh und Preis.
3. Und seine Glocken klangen
So voll, so hell, so rein:
Er goss auch Lieb’ und Glauben
Mit in die Form hinein.
4. Doch aller Glocken Krone,
Die er gegossen hat,
Das ist die Sünderglocke
Zu Breslau in der Stadt.
5. Im Magdalenenturme,
Da hängt das Meisterstück,
Rief schon manch starres Herze
Zu seinem Gott zurück.
6. Wie hat der gute Meister
So treu das Werk bedacht!
Wie hat er seine Hände
Gerührt bei Tag und Nacht!
7. Und als die Stunde kommen,
Dass alles fertig war —
Die Form ist eingemauert,
Die Speise gut und gar —:
8. Da ruft er seinen Buben
Zur Feuerwacht herein:
„Ich lass’ auf kurze Weile
Beim Kessel dich allein,
9. Will mich mit einem Trünke
Noch stärken zu dem Guss,
Das gibt der zähen Speise
Erst einen vollen Fluss;
10. Doch hüte dich und rühre
Den Halm mir nimmer an!
Sonst wär’ es um dein Leben,
Fürwitziger, gethan!“ —
11. Der Bube steht am Kessel,
Schaut in die Glut hinein:
Das wogt und wallt und wirbelt
Und will entfesselt sein,
12. Und zischt ihm in die Ohren
Und zuckt ihm durch den Sinn
Und zieht an allen Fingern
Ihn nach dem Hahne hin.
13. Er fühlt ihn in den Händen,
Er hat ihn umgedreht;
Da wird ihm angst und bange,
Er weiss nicht, was er that,
14. Und läuft hinaus zum Meister,
Die Schuld ihm zu gestehn,
Will seine Knie umfassen
Und ihn um Gnade flehn.
15. Doch wie der nur vernommen
Des Knaben erstes Wort,
Da reisst die kluge Rechte
Der jähe Zorn ihm fort.
16. Er stösst sein scharfes Messer
Dem Buben in die Brust;
Dann stürzt er nach dem Kessel,
kein selber nicht bewusst.
17. Vielleicht, dass er noch retten,
Den Strom noch hemmen kann;
Doch sieh, der Guss ist fertig,
Es fehlt kein Tropfen dran.
18. Da eilt er abzuräumen
Und sieht, und will’s nicht sehn,
Ganz ohne Fleck und Makel
Die Glocke vor sich stehn.
19. Der Knabe liegt am Boden,
Er schaut sein Werk nicht mehr.
Ach, Meister, wilder Meister,
Du stiessest gar zu sehr!
20. Er stellt sich dem Gerichte,
Er klagt sich selber an.
Es thut den Richtern wehe
Wohl um den wackern Mann.
21. Doch kann ihn keiner retten,
Und Blut will wieder Blut;
Er hört sein Todesurtheil
Mit ungebeugtem Muth.
22. Und als der Tag gekommen,
Dass man ihn führt hinaus,
Da wird ihm angeboten
Der letzte Gnadenschmaus.
23. „Ich dank’ euch spricht der
Meister,
„Ihr Herren lieb und werth;
Doch eine andre Gnade
Mein Herz von euch begehrt:
24. Lasst mich nur einmal hören
Der neuen Glocke Klang!
Ich hab’ sie ja bereitet;
Möcht’ wissen, ob’s gelang.“
25. Die Bitte ward gewähret,
Sie schien den Herrn gering;
Die Glocke ward geläutet,
Als er zum Tode gieng.
26. Der Meister hört sie klingen
So voll, so hell, so rein;
Die Augen gehn ihm über,
Es muss vor Freude sein.
27. Und seine Blicke leuchten,
Als wären sie verklärt;
Er hat in ihrem Klange
Wohl mehr als Klang gehört.
28. Hat auch geneigt den Nacken
Zum Streich voll Zuversicht!
Und was der Tod versprochen,
Das bricht das Leben nicht.
29. Das ist der Glocken Krone,
Die er gegossen hat,
Die Magdalenenglocke
Zu Breslau in der Stadt.
30. Die ward zur Sünderglocke
Seit jenem Tag geweiht;
Weiss nicht, ob’s anders worden
In dieser neuen Zeit.
320
237. Dienertreue.
Ein reicher Herr in Polen fuhr zur Winterzcit in einem Schlitten
nach dem Städtlein Ostrowo, nur von seinem Knechte Jakob begleitet, der
dem Schlitten vorreiten mußte. Ehe sie die Stadt erreichten, mußten sie
zuvor durch einen langen, einsamen Wald, und es war bereits Abend. Der
Knecht schlug daher dem Herrn vor, in einer Herberge, die am Eingänge
des Waldes lag, zu übernachten; denn im Walde seien viele Wölfe, und
die Unthiere seien wegen des harten Winters gar grimmig. Der Herr
war aber einer von den wunderlichen, von denen, die einen guten Rath,
wenn er von einem Knechte kommt, nicht annehmen mögen. Er fuhr ihn
an und schrie: er werde wohl des Reitens überdrüssig sein; aber er werde
nichts darnach fragen; sie müßten noch nach Ostrowo, es möge gehen, wie
es wolle. Und so gieng's vorwärts, was die Pferde laufen konnten.
Kaum aber sind sie eine Strecke im Walde, so hört der Herr hinter
sich ein lautes Heulen, und als er sich umwendet, sieht er die Wölfe in
Rudeln hinter dem Schlitten daherjagen und die vordersten schon ganz nahe.
„Jakob, Jakob!" ruft er, „die Wölfe, die Wölfe!" Der treue Jakob er-
widert kein Wort, sondern läßt ruhig den Herrn vorausfahren, reitet zwi-
schen dem Schlitten und den Wölfen, zieht seine Pistolen und schießt von
Zeit zu Zeit unter sie. Damit schreckt er eine Weile die Bestien. Endlich
aber hat er kein Pulver mehr, und als sie nun an den Schlitten heran-
stürzen, sagt er: „Herr, ich muß meinen armen Braunen opfern und sehen,
daß ich zu euch auf den Schlitten komme, sonst ist alles verloren." —
»Thue, wie du willst", sagte der Herr und im Augenblick war der Jakob
321
com Pferde und auf den Schlitten gesprungen und hielt sein Pferd am
Zaume fest, bis die Wölfe herankamen, dann überließ ers ihnen zur Beute.
Es schien, als sollten sie dadurch einen Vorsprung gewinnen; aber nicht
lange, so war ein Theil der Wölfe wieder heulend hinter ihnen her, und
einige schickten sich an, in den Schlitten zu springen, und der Edelmann
gab sich verloren.
Da sagte Jakob: „Herr, nun will ich in Gottes Namen auch das
Letzte noch für euch thun. Dort sind schon die Lichter von Ostrowo, und
ihr könnt das Städtlein erreichen, wenn ich nur auf ein paar Minuten
die Bestien euch vom Halse halte. Sorgt für mein Weib und meine
Kinder; lebt wohl, und denkt manchmal an den armen Jakob!" Damit
zog er den Säbel, sprang aus dem Schlitten und stürzte sich mitten unter
die Wölfe. Diese stutzten, fielen ihn aber dann wüthend an und über-
mannten ihn endlich. Sein Herr aber war mittlerweile unversehrt ent-
kommen. Schnell nahm er Leute mit sich und eilte in den Wald zurück.
Aber er fand nichts mehr, als die Gebeine seines treuen Knechtes; die
sammelte er und ließ sie begraben. Das Weib und die Kinder aber ver-
sorgte er väterlich und wurde allen seinen Dienern ein freundlicher, gütiger
Herr, beklagte es auch oft mit Thränen, daß er nicht ohne bittere Reue
an seinen treuen Knecht'gedenken konnte. . g«sp<m.
238. Das Lied vom braven Manne.
Hoch klingt das Lied vom braven Mann,
Wie Orgelton und Glockenklang.
Wer hohes Muths sich rühmen kaun,
Den lohnt nicht Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob! daß ich singen und preisen kann,
Zu singen und preisen den braven Mann.
Der Thanwind kam vom Mittagsmeer,
Und schnob durch Welschland trüb und feucht.
Die Wolken flogen vor ihm her,
Wie wenn der Wolf die Herde scheucht.
Er fegte die Felder, zerbrach den Forst,
Auf Sern und Strömen das Grundeis
borst.
Am Hochgebirge schmolz der Schnee,
Der Sturz von. tausend Wassern scholl,
Das Wiesenthal begrub ein See,
Des Landes Heerstrom wuchs und schwoll;
Hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis
Und rollten gewaltige Felsen Eis.
Auf Pfeilern und aus Bogen schwer,
Aus Quaderstein von unten auf,
Lag eine Brücke drüber her,
Und mitten stand ein Häuschen drauf.
Hier wohnte der Zöllner mit Weib und Kind.
„OZöllner! oZöllner! entfleuch geschwind!"
Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran,
Laut heulten Sturm und Wog' ums Haus.
Der Zöllner sprang zum Dach hinan
Und blickt' in den Tumult hinaus.
„Barmherziger Himmel, erbarme dich!
Verloren! verloren! wer rettet mich?"
Die Schollen rollten Schuß auf Schuß
Von beiden Ufern, hier und dort,
Von beiden Ufern riß der Fluß
Die Pfeiler sammt den Bogen fort.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind,
Er heulte noch lauter als Strom und Wind.
Die Schollen rollten Stoß ans Stoß;
Bon beiden Ufern hier und dort,
Zerborsten und zertrümmert schoß
Ein Pfeiler nach dem andern fort.
Bald nahte der Mitte der Umsturz sich.
„Barmherziger Himmel, erbarme dich."
Hoch auf dem fernen Ufer stand
Ein Schwarm von Gaffern, groß und klein,
Und jeder schrie und rang die Hand,
Doch mochte niemand Retter sein.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind
Durchhenlte nach Rettung den Strom und
Wind.
Wann klingst du, Lied vom braven Mann,
Wie Orgelton und Glockenklang?
Wohlan, so nenn' ihn! nenn' ihn dann!
Wann nennst du ihn, o braver Sang?
Bald nahet der Mitte der Umsturz sich.
O braver Mann, braver Mann, zeige dich!
Rasch galoppiert' ein Graf hervor
Auf hohem Roß, ein edler Graf.
Was hielt des Grafen Hand empor?
Ein Beutel war es voll und straff.
„Zweihundert Pistolen sind zugesagt
Dem, welcher die Rettung der Armen wagt."
21
322
Wer ist der Brave? Jst's der Gras?
Sag an, mein braver Sang, sag an!
Der Graf, beim höchsten Gott! war brav;
Doch weiß ich einen bravern Mann. —
O braver Mann. braver Mann, zeige dich!
Schon naht das Verderben sich fürchterlich.
Und immer höher schwoll die Flut,
Und immer lauter schnob der Wind,
Und immer tiefer sank der Muth.
O Retter, Retter! komm geschwind!
Stets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach;
Laut krachten und stürzten die Bogen nach.
„Halloh! halloh! Frisch auf gewagt!"
Hoch hielt der Graf den Preis empor:
Ein jeder hört's, doch jeder zagt,
Aus Tausenden tritt keiner vor.
Der Zöllner vergebens mit Weib und Kind
Durchheulte nach Rettung den Strom und
Wind.
Sieh, schlecht und recht ein Bauersmann
Am Wanderstabe schritt daher,
Mit grobem Kittel angethan,
An Wuchs und Haltung hoch und hehr.
Er hörte den Grafen, vernahm sein Wort
Und schaute das nahe Verderben dort.
Und kühn, in Gottes Namen, sprang
Er in den nächsten Fischerkahn;
Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang
Kam der Erretter glücklich an.
Doch wehe! der Nachen war allzu klein,
Um Retter von allen zugleich zu sein.
Und dreimal zwang er seinen Kahn
Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang;
Und'dreimal kam er glücklich an,
Bis ihm die Rettung ganz gelang.
Kaum kamen die letzten in sichern Port,
So rollte das letzte Getrümmer fort. —
Wer ist, wer ist der brave Mann?
Sag an, jag an, mein braver Sang!
Der Bauer wagt' ein Leben dran;
Doch that er's wohl um Goldesklang?
Denn spendete nimmer der Graf sein Gut,
So wagte der Bauer vielleicht kein Blut.
„Hier", rief der Graf, „mein wackrer Freund!
Hier ist dein Preis! komm her! nimm hin!"
Sag an, war das nicht brav gemeint?
Bei Gott! der Graf trug hohen Sinn,
Doch höher und himmlischer wahrlich schlug
Das Herz, das der Bauer im Kittel trug.
„Mein Leben ist für Gold nicht feil,
Arm bin ich zwar, doch eß ich satt!
Dem Zöllner werd' eu'r Gold zu Theil,
Der Hab und Gut verloren hat."
So rief er mit adligem Biederton
Und wandte den Rücken und gieng davon.
Hoch klingst du, Lied vom braven Mann,
Wie Orgelton und Glockenklang!
Wer solches Muths sich rühmen kann,
Den lohnt kein Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob! daß ich singen und preisen kann,
Unsterblich zu preisen den braven Mann!
G. 31. Bürger.
239. Der Bauer und sein Sahn.
Ein guter, dummer Bauerknabe,
Den Junker Hans einst mit auf Reisen
nahm,
Und der, trotz seinem Herrn, mit einer-
guten Gabe,
Recht dreist zu lügen, wiederkam,
Gieng kurz nach der-vollbrachten Reise
Mit seinem Vater über Land.
Fritz, der im Gehn recht Zeit zum Lügen
fand,
Log auf die unverschämt'ste Weise.
Zu seinem Unglück kam ein großer Hund
gerannt.
„Ja, Vater", rief der unverschämte Knabe,
„Ihr mögt mir's glauben oder nicht,
So sag' jch's euch und jedem ins Gesicht,
Daß ich einst einen Hund beim Haag ge-
sehen habe,
Hart an den: Weg, wo man nach Frank-
reich fährt,
Der .... ja, ich bin nicht ehrenwerth,
Wenn er nicht größer war als euer
größtes Pferd."
„Das", sprach der Vater, „nimmt mich
Wunder;
! Wiewohl ein jeder Ort läßt Wunderdinge
sehn.
l Wir, zum Exempel, gehn jetzunder
Und werden keine Stunde gehn,
! So wirst du eine Brücke sehn
| (Wir müssen selbst darüber gehn),
Die hat dir manchen schon betrogen
(Denn überhaupt soll's dort nicht gar zu
richtig sein).
Auf dieser Brücke liegt ein Stein,
An den stößt man, wenn man denselben
Tag gelogen,
Und fällt und bricht sogleich das Bein."
Der Bub' erschrak, sobald er dies ver-
nommen.
„Ach!" sprach er, „lauft doch nicht so sehr!
Doch wieder auf den Hund zu kommen,
Wie groß sagt' ich, daß er gewesen wär'?
Wie euer großes Pferd? (dazu will viel
gehören.
Der Hund, jetzt fällt mir's ein, war erst
ein halbes Jahr;
Allein das wollt' ich wohl beschwören,
Daß er so groß als mancher Ochse war."
323
Sie giengen noch eine gutes Stücke;
Doch Fritzen schlug das Herz. Wie konnt'
es anders sein?
Denn niemand bricht doch gern ein Bein.
Er sah nunmehr die richterische Brücke
Und fühlte schon den Beinbruch halb.
„Ja, Vater", fieng er an, „derHund, von dem
ich redte,
War groß, und wenn ich ihn auch was
vergrößert hätte:
So war er doch viel größer als ein Kalb."
Die Brücke kömmt. Fritz! Fritz! wie
wird dir's gehen!
Der Vater geht voran; doch Fritz hält
ihn geschwind.
„Ach, Vater", spricht er, „seid kein Kind
Und glaubt, daß ich dergleichen Hund ge-
sehen.
Tenn kurz und gut, eh' wir darüber gehen:
Der Hund war nur so groß, wie alle
Hunde sind."
C. F. Gellert.
240. Till Enlcitspiegrl.
In dem Munde des Volkes lebt noch jetzt nach 500 Jahren der Name eines
durchtriebenen Schalks, Till Eulenspiegel, der seine größte Lust daran fand, die
Welt zu durchwandern, lustige und ungezogene Streiche zu verüben und andern,
wie man sagt, einen Schabernack zu spielen, am häufigsten dadurch, daß er ihre
Aufträge buchstäblich verstand und auch buchstäblich ausrichtete.
Ein Barbier, der ihn auf der Landstraße zum Gesellen annahm, bezeichnete
ihm, weil er nicht selbst gleich nach Hause gieng, seine Wohnung. „Sieh nur", sagte
er, „nach dem rothen Hause an der Ecke des Marktes, mit den hohen Fenstern von
Spiegelglas, da geh nur hinein und warte, bis ich komme!" Till Eulenspiegel bezog
die Worte „da geh nur hinein" auf die Fenster; er gieng nicht durch die Thür
wie andere Leute, sondern stieg durch ein Fenster, dessen kostbare Scheiben dabei
zerbrochen wurden. Als der Herr vernahm, was der neue Geselle vollführt hatte,
hieß er ihn sofort des Weges gehen, den er gekommen sei, und Eulenspiegel brach
ein zweites Fenster in Stücke, um nur des Weges zu gehen, auf dem er gekommen war.
Ein anderer Meister nahm ihn mit den Worten in Dienst, bei ihm habe er
nur die halbe Arbeit zu thun. Das nahm der Schalk abermals wörtlich und that
jegliche Sache nur fjafb. Wenn er nach der Stadt gehen sollte, kehrte er unverrich-
teter Sache auf der Hälfte des Weges um, und wenn er die Pferde vor den Wagen
spannen sollte, spannte er nur ein Pferd vor, und wenn er ein Fuder Holz holen
sollte, kam er zurück mit halber Ladung; denn es sei ihm ja geheißen, daß er immer
nur die halbe Arbeit thun solle. Das wurde seinem Herrn am Ende doch verdrieß-
lich, und er hieß ihn das Haus räumen. Das that der Schalk denn auch im eigent-
lichen Sinne und warf in Abwesenheit seines Herrn Stühle und Tische, Bänke und
alles Hausgeräth zum Hause hinaus.
Viele seinör Abenteuer sind nach der Sitte damaliger Zeit sehr derb und un-
anständig zu erzählen; aber zuweilen hatte er gar gute Einfälle, die seinen Namen
berühmt machten.
In einer Herberge zu Köln am Rhein mußte er eines Tages lange auf das
Essen warten, und als er seine Ungeduld darüber laut werden ließ, sagte die Wirthin:
„Wer nicht warten kann, bis das Essen fertig ist, der mag essen, was er hat."
„Gut!" sagte Eulenspiegel bei sich selbst, setzte sich an den Tisch und verzehrte mit
gutem Appetit einen Salzkuchen, den er zufällig bei sich hatte. Als nun bald darauf
ein großer Braten aufgetragen wurde, rührte Eulenspiegel ihn nicht an, sondern
Meinte, er sei von dem Geruch schon gesättigt. Nach Tische forderte der Wirth von
jeglichem Gaste drei Kölnische Weißpfennige für die Zehrung. Till Eulenspiegel
aber sagte: „Wie soll ich zahlen, so ich doch nichts gegessen oder getrunken habe?"
Ter Wirth sagte dagegen: „Du hast mit bei Tische gesessen und hättest essen mögen,
so viel du gewollt hättest; bist du aber von dem bloßen Geruch schon satt geworden,
so ist es mein Vortheil und der deinige auch, du hast dir den Magen gewiß nicht
überladen." Ta nahm Eulenspiegel drei Kölnische Weißpfcnnigc aus der Tasche,
warf sie auf das Zahlbrett und fragte den Wirth, ob sie nicht einen guten Klang
hätten. „Ja wohl",-sagte der Wirth, und wollte sie einstreichen; aber Eulenspiegel
kam ihm zuvor und sagte: „Ich habe den Geruch von deinem Braten gehabt, nimm
du dafür den Klang von meinem Gelde." Die übrigen Gäste lachten, der Wirth
mußte den schlauen Gast ohne Zahlung davonziehen lassen, und mancher fragte
ihn hohnneckend, wozu er den Klang von Eulenspiegels Gelde doch anwenden wolle.
¡21*
324
Wenn er mit andern zu Fuße wanderte, war er immer sehr vergnügt, wenn
es bergan ging, und sehr kleinmüthig, so oft sie bergunter gehen mußten. Als man
ihn fragte/wie er doch so ein sonderbarer Geselle sei, gab er die Antwort: „Wenn
wir bergan gehen, da freue ich mich schon, wie leicht wir's haben werden, den Berg
hinunter zu gehen; aber wenn cs bergnnter geht, da weiß ich, daß bald wieder
eine Anhöhe kommt, die wir mühsam ersteigen müssen. „Wir sollen", setzte er hinzu,
„nicht bloß an die Gegenwart denken, sondern immer schon an die Zukunft."
Eines Tages begegnete ihm ein Fuhrmann, der auf einer steinichten Straße
seine Pferde über die Gebühr antrieb, so daß sie laufen mußten. „Kann ich", fragte
er im Vorbeigehen, „noch wohl vor Abend zur Stadt kommen?" „Wenn ihr lang-
sam fahret", antwortete Eulenspiegel. Der Kerl ist wohl nicht klug, dachte der
Fuhrmann und trieb die Pferde nur noch mehr an. Gegen Abend kam Eulenspiegel
auf demselben Wege zurück und traf den Fuhrmann wieder auf der Straße an und
zwar in großer Verlegenheit. Durch das Jagen aus steinichtem Boden war ihm
nämlich ein Rad gebrochen. Er konnte deshalb mit seinem Wagen nicht aus oer
Stelle und mußte sich bequemen, die Nacht unter freiem Himmel zuzubringen.
„Sagte ich's euch nicht", sprach Eulenspiegel, „daß ihr langsam fahren müßtet, wenn
ihr noch zur Stadt wolltet?"
Till Eulenspiegel war in einem Dorfe unweit Schöppenstedt im Herzogthum
Braunschweig geboren; er starb 1350 in dem Städtchen Möllen, vier Meilen von
Lübeck, wo man einen Grabstein mit seinem Wappen zeigt. So oft er nämlich an
einem Orte einen Muthwillcu verübt hatte und, um den Folgen zu entgehen, sich
aus dem Staube machte, zeichnete er mit Kreide an die Thür des Hauses einen
Spiegel mit einer Eule und schrieb darunter: Der ist es gewesen. Noch jetzt nennt
man muthwillige, verkehrte und närrische Handlungen Eulenspiegel st reiche.
Volksbuch.
241. Die Honigbiene.
Wenn die ersten goldenen Strahlen der Frühlingssonne die reine
Luft erwärmen, und diese den Bienenstock durchdringt, da regt
sich’s dort drinnen in lautem Summen und Brummen. Bald lassen
die ersten und ungeduldigsten der Bewohner an den Fluglöchern
sich blicken und, scheint die Sonne noch ein wenig wärmer, zum
ersten Ausfluge verleiten, den sie aber meistens mit dem Leben be-
zahlen müssen. Wir finden sie dann wohl dutzendweise erstarrt
über den Schnee zerstreut, und wer, milden Herzens, sich die
Müsse nehmen will, der darf sie nur aufsammeln und in der hohlen
Hand anhauchen, um sie nach einigen Minuten erwacht und ganz
munter dem Stocke zurückgehen zu können. Wenn der „Bienen-
vatef“ in diesen Tagen — meistens in der Mitte oder zu Ende des
Februar — nicht sorgsam die Stöcke überwacht und die Fluglöcher
während der Mittagsstunden schliesst, so gehen ihm eine Menge der
kräftigsten und besten Bienen zu Grunde.
Kurze Zeit nachher, sobald die Sonne die weisse Decke von
der Erde völlig abgeräumt hat, halten die Bienen ihre ersten ordent-
lichen Ausflüge, und bald beginnt die zu ihrer ganzen Regsamkeit
erwachte Bewohnerschaft des Bienenhauses mit der wichtigen und
sehr nothwendigen Säuberung ihrer Wohnung. Die Zellen werden
ausgebessert und besonders die für die Brut bestimmten in Stand
gesetzt. Ferner wird Harz von Fichten-, Balsampappel- und Ka-
stanien-Knospen eingesammelt, um mit demselben alle Ritzen, Fugen
und Löcher zu verkleben, die durch den Frost, durch Mäuse, Käfer
und andere böse Gäste hervorgebracht sind.
325
Nun regt sich auch die „Bienenkönigin“’ und beginnt mit dein
Eierlegen. Von ihr ganz allein hängt die Nachkommenschaft ab,
und ohne sie kann ein Bienenstock für die Dauer gar nicht be-
stehen, sondern muss rettungslos zu Grunde gehen. Je nach der
Witterung legt sie anfangs ein- bis sechshundert und später in den
heissen Monaten sogar zwei- bis dreitausend Eier täglich, und je
nach der Anzahl derselben beeilen sich die Bienen auch mit dem
Zellen- und Wabenbau. Die Eier sind ziemlich gleich, bläulich
weiss, nierenförmig und stehen aufrecht in den Zellen. In etwa
vierundzwanzig Stunden kriechen aus den Eiern die „Maden“, d. i.
die Bienenlarven. Diese werden nun von den Arbeitsbienen sorg-
fältig mit Futterbrei versehen, den die letzteren aus Blumenmehl,
Honig und Wasser bereiten.
In jedem Stock gibt es dreierlei Bienen: die Mutterbiene,
Königin oder Weisel genannt, die einzige weiblichen Geschlechts,
dann die Drohnen und die Arbeitsbienen. Für jede dieser Arten
Arbeitsbiene. Drohne. Königin.
werden besondere Zellen gebaut, und die Mutterbiene legt zuerst
die zu Arbeitsbienen, dann die zu Drohnen und zuletzt die zu neuen
Königinnen bestimmten Eier. Es hängt indessen nur von der Be-
handlung und vom Futter ab, ob aus denselben Eiern Königinnen
oder Arbeitsbienen entstehen sollen, und deshalb sind die letzteren
auch in Wahrheit nichts anderes als in der vollständigen Entwicke-
lung gestörte weibliche Bienen.
Am neunten Tage beginnt die Made der Arbeitsbiene sich ein-
zuspinnen, und sobald sie hiermit fertig ist, bauen die Arbeiter
sogleich einen Deckel aus Wachs über ihre Zelle, damit sie in ihrer
Verwandlung zur Puppe oder Nymphe nicht gestört wird. In etwa
zwanzig Tagen vom Zeitpunkt des so eben gelegten Eies ist die
Entwickelung der Biene vollständig beendet. Sie heisst dann den
Deckel auf und kriecht aus ihrem Gefängnisse hervor. Während
nun von einigen Arbeitern die Zelle sofort gereinigt und zur Auf-
nahme eines neuen Eies hergestellt wird, nehmen andere sich der
noch sehr zarten jungen Biene zärtlich an, füttern, glätten und
putzen sie, damit sie nun bald selbst an die Arbeit gehen kann.
Anfangs hat sie dann nur mit häuslichen Geschäften zu thun, muss
die Brut füttern, Zellen bauen und die Honigzellen bedecken; erst
nach zwei Tagen haben sich ihre Flügel so verhärtet und ist sie
326
so kräftig, dass sie ausfliegen, Blumenstaub und später wie die
älteren Bienen auch Honig einsammeln kann.
In ganz ähnlicher Weise geht auch die Entwickelung der Droh-
nen vor sich. Sie brauchen bis zur Entwickelung zum vollständigen
Insect etwa zwei Tage länger als die Arbeitsbienen.
Sobald die Mutterbiene eine hinreichende Anzahl von Eiern
für die beiden ersten Bienenarten gelegt hat, unter denen die zu
den Arbeitsbienen naturgemäss bedeutend überwiegend sind, begin-
nen die Bienen auch die sogenannten Schwarmzellen zu bauen,
aus denen junge Königinnen erbrütet werden. Während die Ar-
beitsbienen- und Drohnenzellen regelmässig sechskantig geformt sind,
haben diese die runde Gestalt einer Eichel und sind auch bedeutend
grösser. Die hier hineingelegten Eier unterscheiden sich im Aussern
durchaus nicht von den anderen Bieneneiern. Ihre Entwickelung
aber geht noch zwei Tage schneller vor sich und wird auch sorg-
samer überwacht. Diese Maden werden so reichlich gefüttert, dass
sie gleichsam im Futtersaft schwimmen, was bei den anderen keines-
wegs der Fall ist.
Das Schwärmen ist einer der wichtigsten Vorgänge im Leben
unserer Kerbthiere. Da in den wärmeren Monaten die Volkszahl
eines Stockes immer grösser wird, der Raum immer enger, und der
Stock wohl schon fast vollgebaut ist, so bemächtigt sich eines grossen
Theiles der Bewohnerschaft eine Unruhe, eine Lust zum Auswandern
und zur Gründung einer neuen Heimat. Sie zeigen dies zunächst
dadurch an, dass sie „vorliegen“, d. i. sich ausserhalb des Stockes
um das Flugloch in dichten Massen ansetzen. Inzwischen fliegen
eine Anzahl „Spürbienen“ aus, welche nach einem passenden Orte
zur Übersiedelung umhersuchen, und sobald sie einen solchen ge-
funden haben, ihre Genossen herbeilocken, um den Platz zu reinigen
und in Stand zu setzen. Sonderbarerweise zieht nun aber nicht
eine junge Königin und junges Bienenvolk zur Gründung einer neuen
Colonie aus, sondern die alten. Nachdem der Schwarm etwa zur
Hälfte den Stock verlassen, erscheint auch die Königin auf dem
Flugbrette und begibt sich zu ihrem Volke. Oft kommt es vor,
dass die alte Königin zu schwach ist oder wegen beschädigter Flügel
sich nicht erheben kann und zur Erde fällt; dann zieht der Schwarm
auf den Mutterstock zurück und wartet dort das Erbrüten einer
neuen Königin ab.
Ist die Königin aber flugfähig und beim Schwarm angelangt,
so hält nurj das Bedürfnis nach Ruhe sie an dem ersten Anlege-
ort noch auf, an dem sie oft sogar die Nacht hindurch weilt, wäh-
rend die Spürbienen bis zum Abend hin und her fliegen und durch
eigenthümlich lockende Töne zum Weiterziehen anregen. Unter-
dessen wird nun meistens der Schwarm vom Bienenvater in einen
untergehaltenen Rumpf geschüttelt; geschieht dies nicht, so zieht
er nach einigen Stunden oder am nächsten Morgen, sobald es warm
wird, nach dem erspähten Platze oder auch ziellos ins Weite, in
welchem Falle sie wohl mehrere Meilen weit fliegen sollen.
Der Rumpf, welcher den Schwarm aufgenommen, muss sorg-
fältig von allem Schmutz, Spinngewebe u. s. w. gereinigt und am
besten über brennendem Stroh ausgeräuchert sein. Wenn er dem
Bienenvölklein dann als neue Wohnung gefällt, so beginnen sie so-
fort ihre Thätigkeit in demselben, und mit einer Staunenswerthen
Kunstfertigkeit und Zweckmässigkeit gehen jetzt alle Geschäfte vor sich.
Den Honigsaft saugen die Bienen aus fast allen Blüten, sowohl
aus denen giftiger Pflanzen, als aus denen anderer, und verändern,
bereiten ihn gleichsam in ihren Mägen oder vielmehr in den Vor-
magen oder „Honigblasen“ zu, so dass er, beim Ausspeien dicker
geworden, uns als der bekannte Honig erscheint.
Zur Wachsbereitung verzehren die Bienen Honig, der sich
dann in ihrem Körper zu Wachs verwandelt und in besonderen
Behältnissen, die sich am Bauche befinden, ausschwitzt. Jede Biene
hat acht solcher Säckchen, in denen sich die Wachsblättchen in
stets ganz gleicher fünfeckiger Gestalt abscheiden. Weder die
Mutterbienen, noch die Drohnen können Blumenstaub einsammeln,
Honig oder Wachs bereiten, sondern dies alles bleibt nur der Ar-
beitsbiene überlassen.
Sobald die Witterung unfreundlicher wird, und die Nahrung
abzunehmen beginnt, fängt die sogenannte Drohnenschlacht an, d. h.
die unnöthigen Fresser werden getödtet oder vertrieben und müssen
elend umkommen.
Die Bienen erstarren den Winter hindurch keineswegs voll-
ständig wie die Wespen, Fliegen u. s. w., sondern sie gemessen
noch von Zeit zu Zeit ein wenig Nahrung. Wird die Kälte äusser-
gewöhnlich stark, so fallen sie auf den Boden und sterben.
Die Wichtigkeit der Bienenzucht ist längst allenthalben aner-
kannt, und in manchen Gegenden bildet dieselbe bereits einen
Hauptnahrungszweig der Bewohner. K. Kuss.
242. Tie Biene und die Taube.
Ein Bienchen fiel in einen Bach.
Dies sah von oben eine Taube
Und brach ein Blättchen von der Laube
Und warfls ihm zu.
Das Bienchen schwamm darnach
Und half sich glücklich aus dem Bach.
Nach kurzer Zeit saß unsre Taube
In Frieden wieder auf der Laube.
Ein Jäger hatte schon
Den Hahn auf sie gespannt.
Mein Bienchen kam —
Pick! stach's ihn in die Hand;
Puff! gieng der Schuß daneben.
Die Taube flog davon.
Wem dantte sic ihr Leben?
I. B. Michaelis
243. Tic Großmutter entläßt ihren Gnkel zur Wanderschaft.
Die Großmutter führte ihren lieben Jakob, als sie gegessen hatten,
in die Kammer, in welcher an der Wand die Felleisen hiengen; auf dem
Tische stand das neue, drum herum lag, was eingepackt werden sollte. Als
alte Frau Meisterin und viel erfahren in solchen Dingen packte sie das
Felleisen, damit er lerne, wie der Platz am besten benutzt, die Kleider am
meisten geschont, die Last am leichtesten getragen werde. Als es gepackt
328
und zugeschnallt war, legte sie die Hand auf dasselbe und sprach: „Sieh,
liebes Kind, dort an der Wand hangen drei Felleisen; deine Väter trugen
sie mit Ehren durch die Welt, brachten mit Ehren sie heim und bewahrten
sie in Ehren zum Gedenken für Kinder und Kindeskinder. Sieh, hier ist
dein Felleisen, das vierte soll es werden in der Reihe; dort steckt in der
Wand bereits die Schraube, an welcher es hangen soll. Wahre nun das-
selbe in Ehren und bring es heim wie deine Väter zum Gedenken deiner
Kinder und Kindeskinder. So lange du ein Felleisen trägst, bist du ein
ehrenwerther Gesell; trägst du die Trümmer deiner Habe in einem Tuche
umher, dann bist du ein Vagabund und Bettler, und vor solchem Zustande
möge Gott dich bewahren. Was deine Väter vor diesem Zustande be-
wahrte, das möge auch dich davor bewahren. Vergiß des Morgens und
des Abends das Beten nicht; schasse sechs Tage im Schweiße dein Brot,
den siebenten aber heilige deinem Schöpfer. So du Arbeit findest, ver-
schmähe sie nicht; ein Gesell, der Arbeit verschmäh!, ist wie ein Bettler,
der Brot neben die Straße wirft. Die kleinste Arbeit schaffe, als sei sie
dein Meisterstück, rasch und gut; ehre den Meister und die Meisterin;
meide Spiel und Trunk; sorge, daß, wo du gewesen, du wieder hindarfst,
daß nie Flüche dich verfolgen, der Segen frommer Menschen dein Geleite
ist." — So sprach langsam und in Absätzen die Großmutter; das Herz
des jungen Gesellen ward guter Vorsätze voll. Darauf faltete die Groß-
mutter die Häudc und betete: »Ach du, mein Herr und mein Gott, sei
mit meinem Kinde auf allen seinen Wegen und Stegen; drücke du am
Abend ihm die Augen zu, am Morgen wecke du es wieder; in deine Hände
befehle ich cs mit Leib und Seele. Führe uns wieder zusammen, o Herr,
mein Gott, wenn nicht auf Erden, doch im Himmelreiche und dann in alle
Ewigkeit. Amen."
Als die Töne des Gebets verklungen waren in ihrem Herzen, küßte
die Großmutter ihren Enkel, und ihre Stimme bebte, als sie zu ihm sagte:
„Gute Nacht, liebes Kind; vergiß Gott nicht und auch mich nicht, so sehen
wir uns einmal wieder, hier oder dort." Jakob aber weinte laut, und wie
ein liebes, gutes Kind hieng er am Halse der Großmutter. Jer. Gotthelf.
244. Die Kreuzotter.
Keines Thieres Name ist so verrufen wie der Name der Schlange.
Alle Welt haßt und meidet die Schlangen als die verächtlichen Scheusale
unter den Thieren. Eine einzige Art dieser in Deutschland sehr wenig ver-
tretenen Thierklasse ist es, welche uns schon zittern macht, wenn cs neben
uns im Laube raschelt; denn die einzige giftige Schlangenart in Deutsch-
land ist die Kreuzotter. „Eine Schlange! eine Schlange!" heißt es.
Man nimmt Reißaus, denn die Schlange könnte — stechen! Stechen?
womit denn? „Nun, mit der zweispitzigen, zuckenden Zunge." — Das ist
ein höchst unschuldiges, weiches Tastwcrkzcug. Die giftige Schlange sticht
nicht, sondern beißt.
Von unseren vier deutschen Schlangenarten ist die Kreuzotter diejenige,
welche das geringste Längenmaß erreicht. Das Männchen wird selten 70 em,
das Weibchen höchstens 75 ein lang, während alle übrigen Arten bis
329
ziemlich l''4m lang werden können, so daß schon dieses längste Maß irgend
einer in Deutschland gefundenen Schlange für deren Unschädlichkeit spricht.
Dabei ist sie aber vcrhältnißmäßig dicker und gedrungener und daher auch
in ihren Bewegungen etwas steifer, weit weniger die eleganten Ringe und
Schlingen bildend, wie die anderen.
Die Grundfarbe ist sehr verschieden und theils nach dem Alter, theils
nach dem Geschlecht sehr veränderlich. Die allgemeine Färbung ist daher
nicht ausreichend, den Feind zu erkennen und von unschädlichen Schlangen
zu unterscheiden, deren zwei, die Ringelnatter und die glatte Natter,
in der Grundfarbe mit der Kreuzotter oft ziemlich übereinstimmen. Die
Männchen sind im allgemeinen Heller als die Weibchen: hell-aschgrau,
silberweiß oder gelblichweiß, höchstens etwas ins Bräunliche ziehend. Die
dunkleren Weibchen haben eine graubraune, grünlich-braune bis dunkel-
schmutzigbraune Farbe. Je dunkler die Grundfarbe, desto leichter ist ein
Verkennen möglich; denn dann tritt das unterscheidende Merkmal, welches
alle Farben-Spielarten der Kreuzotter unveränderlich festhalten, auf dem
dunkeln Grunde nicht deutlich hervor. Dieses Merkmal ist eine schwarze
Zickzacklinie, welche vom Nacken bis zur Schwanzspitze den Rücken ent-
lang verläuft. Zuweilen löst sich stellenweise diese Linie in rautenförmige,
an einandergereihete oder etwas von einander abstehende Flecken auf, aber
niemals hört sic ganz auf, eine erkennbare Zickzacklinie zu sein. Schon
der Umstand, daß diese immer ziemlich tief braun- oder blauschwarz ge-
färbte Zeichnung auf der Mittellinie des Rückens, wo das Rückgrat liegt,
verläuft, zeichnet die Schlange von den übrigen deutschen Arten ans, weil
bei diesen die kleinen schwarzen Fleckchen, welche zwei von ihnen zeigen,
gerade die Mittellinie des Rückens frei lassen und mehr nach den Seiten
hin verstreut sind. Außer der Zickzacklinie finden sich noch mit ihr stets
gleich gefärbte, etwas über senfkorngroße, runde oder rundliche Flecken,
namentlich je einer den einspringenden Winkeln der Zickzacklinie gegenüber.
Das Kreuz des Scheitels, dem sic ihren Namen verdankt, besteht aus
zwei nicht immer deutlich ausgeprägten schwarzen, gekrümmten Linien,
welche mit ihrer Krümmung ziemlich, aber nie vollkommen an einander
stoßen. Die Figur ähnelt zwei mit den Rücken an einander gesetzten
Klammerzeichen )(.
Der geöffnete, bis weit hinter die Augen gespaltene Rachen zeigt oben
am Gaumen die zwei feinen, gekrümmten Gifthaken, welche zum Bisse auf-
gerichtet und in der Ruhe niedergezogen werden können. Dieselben gehen
in eine sehr feine scharfe Spitze ans und sind in ihrer dickern untern Hälfte
hohl, um das Gift in die Wunde zu leiten.
Der Biß der Kreuzotter hinterläßt nur zwei kleine, etwa 5 mm von
einander stehende punktförmige Wunden, wenn nicht, was auch vorkommt,
bloß ein Haken eindringt. Die Wirkung der unendlich kleinen Menge Gift
ist zuweilen staunenerregend, indem es den ganzen Körper lähmt. Die-
selbe beruht auf einer Blutvergiftung, welche sich schnell durch den Körper
fortpflanzt. Daher muß die erste Sorge des Heilverfahrens auf Verhin-
derung dieser Verbreitung der Giftwirknng im Blute bedacht sein. Dies
soll nach dem gewöhnlich empfohlenen Verfahren durch Aussaugen des
Giftes geschehen, weil dieses, wenigstens in so geringer Menge, dem Magen
330
unschädlich ist. Allein wenn man die kleinste Wunde am Zahnfleisch oder
Gaumen hat, so dringt das Gift ein; ja schon das heftige Saugen an sich
kann die Mundhöhle wund und empfänglich für das Gift machen. Schrö-
pfen wirkt nach vorherigem Aufritzen der Bißwunde, welche sich bald nach
dem Biß schließt, oft Vortheilhaft, Waschen der wundgemachten Bißstelle,
Ausätzen, Ausbrennen, ja Ausschneiden noch sicherer, aber doch nicht zu-
verlässig. Ist das Gift bereits in die Blutmasse aufgesogen, was durch
Anschwellen des gebissenen Körpertheiles und schnelles Sinken der Kräfte
erkannt wird, so ist dann die innere Behandlung einem guten Arzte zu
überlassen. Unterbinden des gebissenen Gliedes oder starker Druck mit
dem Daumen auf die Wunde bis zur Anwendung anderer geeigneter Mittel
kann einigermaßen die Verbreitung des Giftes in die Blutmassc verhindern.
Rotzmäßler.
24."). Whittingtlin und seine Katze.
Absichtslos waren Mäuse und Ratten von den Schiffern in den Fahr-
zeugen nach den entferntesten Inseln übergesiedelt worden und daselbst zu
Landplagen erwachsen. Als bestes Mittel dagegen brachte man nun auch
die Katze dorthin, und man erzählt eine hübsche Geschichte von einem kleinen
Knaben, der auf diese Weise durch eine Katze zum reichen Manne wurde.
In London nahm vor hundert Jahren und darüber ein reicher Kauf-
mann einen kleinen armen Waisenknaben, Namens Richard Whittington,
zu sich in sein Haus. Als nun eines Tages der Hausknecht junge Katzen
ersäufen wollte, bat der Knabe seinen Herrn, er möchte ihm doch eine da-
von aufzuziehen erlauben. Es wurde ihm bewilligt, und nun fütterte er
das Kätzchen, bis es groß geworden war. Nach einiger Zeit wollte der
Kaufmann ein großes Schiff mit Waaren nach einem fernen Lande senden.
Als er nun nachsehen wollte, ob alles ordentlich verladen wäre, begegnete
ihm der Knabe, der seine Katze auf dem Arme trug. „Richard", sagte der
Kaufmann zu ihm, „hast du nicht auch etwas mitzuschicken, das du ver-
handeln könntest?" — „Ach, lieber Herr", antwortete der Knabe, „Sie
wissen ja wohl, daß ich arm bin und nichts als diese Katze habe." —
„Nun, so schicke deine Katze mit!" sagte der Kaufmann; und Richard lief
mit ihm hin zum Schiffe und setzte seine Katze darauf. Das Schiff
segelte ab.
Nach einigen Monaten kam cs an eine noch unbekannte Küste, die von
einem Könige beherrscht wurde. Dieser lud einige der Fremden zu sich zu
Gaste; aber obgleich Speisen und Getränke genug vorhanden waren, konnte
man doch fast keinen Bissen genießen. Das ganze Zimmer wimmelte näm-
lich von Ratten und Mäusen, und diese waren so dreist, daß sch scharen-
weise auf dem Tische umhersprangen und sich der Speisen bemächtigten.
Man hatte kein Mittel ausfindig machen können, um sich von ihnen zu
befreien. Da erzählten die Gäste dem Könige, sie hätten auf dem Schiffe
ein Thier mitgebracht, welches alle diese Ratten und Mäuse tobten würde,
und holten die Katze her. Diese richtete eine schreckliche Niederlage unter
dem frechen Gesindel an, und nach einer halben Stunde war im Zimmer
keine Maus mehr zu sehen oder zu hören. Voll Freude über diese glück-
331
liche Veränderung gab der König, da er unermeßliche Reichthümer hatte,
für die Katze einige Tonnen Goldes. Das Schiff kehrte nach London zurück.
Kaum hatte der Kaufmann gehört, wie viel "Gold die Katze eingebracht
hatte, so ließ er den Knaben zu sich kommen, erzählte ihm sein Glück und
sicherte ihm allein den ganzen Gewinn zu. Er ließ ihn darauf die Hand-
lung erlernen, und da der junge Mensch sich treu, fleißig und sparsam er-
wies, so gab er ihm, als er erwachsen war, seine Tochter zur Ehe und
setzte ihn zum Erben seiner Güter ein. Die Stadt London aber machte
ihn zu ihrem Oberbürgermeister. Campe.
246. Grus Eberhard der Rauschebart.')
Der Überfall im wildbad. (1367.)
1. In schönen Sommertagen, wann lau die Lüfte wehn,
Die Wälder lustig grünen, die Gärten blühend stehn,
Ta ritt aus Stuttgarts Thoren ein Held von stolzer Art,
Graf Eberhard der Greiner?), der alte Rauschebart.
2. Mit wenig Edelknechten zieht er ins Land hinaus;
Er trägt nicht Helm noch Panzer, nicht geht's auf blutgen Strauß;
Ins DZildbad will er reiten, wo heiß ein Quell entspringt,
Ter Sieche heilt und kräftigt, der Greise wieder jungt.
3. Zu Hirsau bei dem Abte, da kehrt der Ritter ein
Und trinkt bei Orgelschallc den kühlen Klosterwein;
Tann geht's durch Tannenwälder ins grüne Thal gesprengt,
Wo durch die Felsenbctte die Enz sich rauschend drängt.
4. Zu Wildbad an dem Markte, da steht ein stattlich Haus;
Es hängt daran zum Zeichen ein blanker Spieß heraus.
Dort steigt der Graf vom Rosse, dort hält er gute Rast;
Ten Quell besucht er täglich, der ritterliche Gast.
5. Wann er sich dann entkleidet und wenig ausgeruht
Und sein Gebet gesprochen, so steigt er in die Flut;
Er setzt sich stets zur Stelle, wo aus dem Felsenspalt
Am heißesten und vollsten der edle Sprudel wallt.
6. Ein angeschossner Eber, der sich die Wunde wusch,
Verrieth voreinst den Jägern den Quell in Kluft und Busch;
Nun ist's dem alten Recken ein lieber Zeitvertreib,
Zu waschen und zu strecken den narbenvollen Leib.
7. Da kommt einstmals gesprungen sein jüngster Edelknab:
„Herr Graf, es zieht ein Haufe das'obre Thal herab,
Sie tragen schwere Kolben, der Hauptmann führt im Schild
Ein Röslein roth von Golde und einen Eber wild."
8. „Mein Sohn, das sind die Schlcgler, die schlagen kräftig drein.
Gib mir den Leibrock, Junge! Das ist der Eberstein.
Ich kenne wohl den Eber, er hat so grimmen Zorn;
Ich kenne wohl die Rose, sie führt so scharfen Dorn."
9. Da kommt ein armer Hirte in athemlosem Lauf:
„Herr Graf, es zieht 'ne Rotte das untre Thal herauf.
Der Hauptmann führt drei Beile; sein Rüstzeug glänzt und gleißt,
Daß mir's wie Wetterleuchten noch in den Augen beißt."
10. „Das ist der Wunnensteiner, der gleißend' Wolf genannt.
Gib mir den Mantel, Knabe! Der Glanz ist mir bekannt,
Er bringt mir wenig Wonne, die Beile hauen gut.
Bind mir das Schwert zur Seite! Der Wolf der lächzt nach Blut.
i) Graf Eberhard von Württemberg, genannt der Greiner, auch der Rauschebart
(ff 1392), und dessen Sohn Ulrich (t 1388) sind im Chor der Stiftskirche zu Stuttgart
beigesetzt. 2) Zänker, Händelsuchcr.
332
11. Ein Mägdlein mag man schrecken, das sich im Bade schmiegt, —
Das ist ein lustig Necken, das niemand Schaden fügt;
Wird aber überfallen ein alter Kriegesheld,
Dann gilt's, wenn nicht fein Leben, doch schweres Lösegeld."
12. Da spricht der arme Hirte: „Des mag noch werden Rath:
Ich weiß geheime Wege, die noch kein Mensch betrat;
Kein Roß mag sie ersteigen, nur Geißen klettern dort.
Wollt ihr sogleich mir folgen, ich bring' euch sicher fort."
13. Sie klimmen durch das Dickicht den steilen Berg hinan,
Mit seinem guten Schwerte haut oft der Graf sich Bahn.
Wie herb das Fliehen schmecke, noch hatt' er's nie vermerkt;
Viel lieber möcht' er fechten, — das Bad hat ihn gestärkt.
^ 14. In heißer Mittagsstunde bergunter und bergauf, —
Schon muß der Graf sich lehnen auf seines Schwertes Knauf;
Darob erbarmt's den Hirten des alten hohen Herrn,
Er nimmt ihn auf den Rücken: „Ich thu's von Herzen gern."
15. Da denkt der alte Greiner: „Es thut doch wahrlich gut,
So sänftlich sein getragen von einem treuen Blut.
In Fährden und in Nöthen zeigt erst das Volk sich echt;
Drum soll man nie zertreten sein altes gutes Recht."
16. Als drauf der Graf gerettet zu Stuttgart sitzt im Saal,
Heißt er 'ne Münze prägen als ein Gcdächtnismal;
Er gibt den, treuen Hirten manch blankes Stück davon,
Auch manchem Herrn vom Schlegel verehrt er eins zum Hohn.
17. Dann schickt er tüchtge Maurer ins Wildbad alsofort;
Die sollen Mauern führen rings um den offnen Ort,
Damit in künftgen Sommern sich jeder greise Mann,
Von Feinden ungefährdet, im Bade jüngcn kann.
2. Die drei Könige zu fjeimfen.1)
1. Drei Könige zu Heimsen, wer hätt' es je gedacht,
Mit Rittern und mit Rossen, in Herrlichkeit und Pracht!
Es sind die hohen Häupter der Schlegelbrüderschaft;
Sich Könige zu nennen, das gibt der' Sache Kraft.
2. Da thronen sie beisammen und halten eifrig Rath,
Bedenken und besprechen gewaltge Waffenthat,
Wie man den stolzen Greiner mit Kriegsheer überfällt
Und besser als im Bade ihm jeden Schlicht) verstellt,
3. Wie man ihn dann verwahret und seine Burgen bricht,
Bis er von allem Zwange die Edlen ledig spricht.
Dann fahre wohl, Landfriede! dann, Lehndienst, gute Nacht!
Da ist's der freie Ritter, der alle Welt verlacht.
4. Schon sank die Nacht hernieder, die Köu'ge sind zur Ruh;
Schon krähen jetzt die Hähne dem nahen Morgen zu;
Da schallt mit scharfem Stoße das Wächterhorn vom Turm:
Wohlauf, wohlauf, ihr Schläfer! Das Horn verkündet Sturm.
5. In Nacht und Nebel draußen, da wogt es wie ein Meer
Und zieht von allen Seiten sich um das Städtlein her;
Verhaltne Männerstimmen, verworrner Gang und Drang,
Husschlaa und Rossesschnauben und dumpfer Waffenklang.
6. Und als das Frühroth leuchtet, und als der Nebel sinkt,
Hei, wie es da von Speeren, von Morgensternen 3) blinkt!
Des ganzen Gaues Bauern stehn um den Ort geschart,
Und mitten hält zu Rosse der alte Rauschebart.
7. Die Schlegler möchten schirmen das Städtlein und das Schloß,
Sie werfen von den Türmen mit Steinen und Geschoß.
>) Abkürzung für Heimsheim. 2) Schleichweg. 3) Eine veraltete Waffe, welche in
einer Keule bestand, die an ihrem dicken Ende niit eisernen Spitzen versehen war.
333
„Nur sachte!" ruft der Greiner, „euch wird das Bad geheizt;
Aufdampfen soll's und qualmen, daß euch's die Auqen beizt."
8. Rings um die alten Mauern ist Holz und Stroh gehäuft,
In dunkler Nacht geschichtet und wohl mit Theer betraust;
Drein schießt man glühnde Pfeile, — wie raschelt'? da im Stroh!
Drein wirft man feur'ge Kränze, — wie flackert'? lichterloh!
9. Und noch von allen Enden wird Vorrath zugeführt,
Von all den rüstgen Bauern wird emsig nachgeschürt,
Bis höher, immer höher die Flamme leckt und schweift
Und schon mit lustgem Prasseln der Türme Dach ergreift.
10. Ein Thor ist freigelassen, — so hat's der Graf beliebt.
Dort hört man, wie der Riegel sich leise, lose schiebt;
Dort stürzen wohl verzweifelnd die Schlegler jetzt heraus?
Nein, friedlich zieht's herüber als wie in's Gotteshaus.
11. Voran drei Schlegelkön'ge zu Fuß demüthiglich
Mit unbedecktem Haupte, die Augen unter sich, —
Dann viele Herrn und Knechte gemachsam, Mann für Mann,
Daß man sie alle zählen und wohl betrachten kaun.
12. „Willkomm!" so ruft der Greiner, „Willkomm in meiner Haft!
Ich traf euch gut beisammen, geehrte Brüderschaft!
So konnt' ich wieder dienen für den Besuch im Bad.
Nur einen miss' ich, Freunde, den Wunnenstein; 's ist schad!"
13. Ein Bäuerlein, das treulich am Feuer mitgefacht,
Lehnt dort an seinem Spieße, nimmt alles wohl in acht.
„Drei Könige zu Heimsen", so schmollt es, „das ist viel;
Erwischt man noch den vierten, so ist's ein Kartenspiel."
3. Die Schlacht bei Reutlingen. (21. Mai 1377.)
1. Zu Achalm auf dem Felsen, da haust manch kühner Aar,
Gras Ulrich, Sohn des Greiners, mit seiner Ritterfchar;
Wild rauschen ihre Flüge um Reutlingen, die Stadt;
Bald scheint sie zu erliegen vom heißen Drange matt.
2. Doch plötzlich einst erheben die Städter sich zur Nacht,
Ins Urachthal hinüber find sie mit großer Macht;
Bald steigt von Dorf und Mühle die Flamme blutig roth;
Die Herden weggetrieben, die Hirten liegen todt.
3. Herr Ulrich hat's vernonnnen; er ruft im grimmen Zorn:
„In eure Stadt soll kommen kein Huf und auch kein Horn!"
Ta sputen sich die Ritter, sie wappnen sich in Stahl,
Sie heischen ihre Rosse, sie reiten stracks zuthal.
4. Ein Kirchlein stehet drunten, Sanct Leonhard geweiht,
Dabei ein grüner Anger, der scheint bequem zum Streit.
Sie springen von den Pferden, sie ziehen stolze Reihn,
Die langen Spieße starren; wohlauf! wer wagt sich drein?
5. Schon zieh'n vom Urachthale die Städter fern herbei;
Man hört der Männer Jauchzen, der Herden wild Geschrei,
Man sieht sie fürder schreiten, ein wohl gerüstet Heer.
Wie flattern stolz die Banner! Wie blitzen Schwert und Speer!
6. Nun schließ dich fest zusammen, du ritterliche Schar!
Wohl hast du nicht geahnet so dräuende Gefahr.
Tie übermächt'gcn Rotten, sic stiirmeu an mit Schwall,
Tie Ritter steh'n und starren wie Fels und Mauerwall.
7. Zu Reutlingen am Zwinger, da ist ein altes Thor;
Längst wob mit dichten Ranken der Epheu sich davor.
Man hatt' es schier vergessen; nun kracht's mit einmal auf,
Und aus dem Zwinger stürzet gedrängt ein Bürgerhaus'.
8. Ten Rittern in den Rücken fällt er mit grauser Wuth;
Heut will der Städter baden im heißen Ritterblut.
Wie haben da die Gerber so meisterlich gegerbt!
Wie haben da die Färber so purpurroth gefärbt!
334
9. Heut nimmt man nicht gefangen, heut geht es auf den Tod,
Heut spritzt das Blut wie Regen, der Anger blümt sich roth.
Stets drängender umschlossen und wüthender bestürmt,
Ist rings von Bruderleichen die Ritterschar umtürmt.
10. Das Fähnlein ist verloren, Herr Ulrich blutet starke
Die noch am Leben blieben, sind müde bis ins Mark.
Da haschen sie nach Rossen und schwingen sich darauf,
Sie hauen durch, sie kommen zur festen Burg hinauf.
11. „Ach Allm!" stöhnt' einst ein Ritter, ihn traf des Mörders Stoß
„Allmächtiger!" wollt' er rufen, — man hieß davon das Schloß.
Herr Ulrich sinkt vom Sattel, halbtvdt, voll Blut und Qualm;
Hätt' nicht das Schloß den Namen, man hieß es jetzt: Achälm.
12. Wohl kommt am andern Morgen zu Reutlingen ans Thor
Manch trauervoller Knappe, der seinen Herrn verlor.
Dort auf dem Rathhaus liegen die Todten all gereiht;
Man führt dahin die Knechte mit sicherem Geleit.
13. Dort liegen mehr denn sechzig, so blutig und so bleich;
Nicht jeder Knapp' erkennet den todten Herrn sogleich.
Dann wird ein jeder Leichnam von treuen Dieners Hand
Gewaschen und gekleidet in weißes Grabgewand.
14. Auf Bahren und auf Wagen, getragen und geführt,
Mit Eichenlaub bekränzet, wie's Helden wohl gebürt,
So geht es nach dem Thore die alte Stadt entlang, —
Dumpf tönet von den Türmen der Todtenglockeu Klang.
15. Götz Weißenheim eröffnet den langen Leichenzug.
Er war es, der im Streite des Grafen Banner trug;
Er hatt' es nicht gelassen, bis er erschlagen war;
Drum mag er würdig führen auch noch die todte Schar.
16. Drei edle Grafen folgen, bewährt in Schildesamt,
Bon Tübingen, von Zollern, von Schwarzenberg entstammt.
O Zollern, deine Leiche umschwebt ein lichter Kranz!
Sahst du vielleicht noch sterbend dein Haus im künftgen Glanz?
17. Von Sachsenheim zween Ritter, der Vater und der Sohn,
Die liegen still beisammen in Lilien und in Mohn.
Auf ihrer Stammburg wandelt von Alters her ein Geist,
Der längst mit Klaggebärden auf schweres Unheil weist.
18. Einst war ein Herr von Lustnau vom Scheintod auferwacht;
Er kehrt' im Leichentuche zu seiner Frau bei Nacht,
Davon man sein Geschlechte die Todten hieß im Scherz.
Hier bringt man ihrer einen, den traf der Tod ins Herz.
19. Das Lied, es folgt nicht weiter, des Jammers ist genug.
Will jemand alle wissen, die man von dannen trug,
Dort auf den Rathhausfenstern, in Farben bunt und klar,
Stellt jeden Ritters Name und Wappenschild sich dar.
20. Als nun von seinen Wunden Graf Ulrich ausgeheilt,
Da reitet er nach Stuttgart; er hat nicht sehr geeilt.
Er trifft den alten Vater allein am Mittagsmahl;
Ein frostiger Willkommen, — kein Wort ertönt im Saal.
21. Dem Vater gegenüber sitzt Ulrich an den Tisch,
Er schlägt die Augen nieder; man bringt ihm Wein und Fisch;
Da faßt der Greis das Messer und spricht kein Wort dabei
Und schneidet zwischen beiden das Tafeltuch entzwei.
4- Die Döffinger Schlacht. (August 1388.)
1. Am Ruheplatz der Todten, da pflegt es still zu sein,
Man hört nur leises Beten bei Kreuz und Leichenstein.
Su Döffingen war's anders; dort scholl den ganzen Tag
er feste Kirchhof wieder von Kampfruf, Stoß und Schlag.
2. Die Städter sind gekommen, der Bauer hat sein Gut
Zum festen Ort geflüchtet und hält's in tapfrer Hut.
Mit Spieß unv Karst und Sense treibt er den Angriff ab;
Wer todt zu Boden sinket, hat hier nicht weit ins Grab.
3. Graf Eberhard der Greiner vernahm der Seinen Noth; ^
Schon kommt er angezogen mit starkem Aufgebot,
Schon ist um ihn versammelt der besten Ritter Kern,
Vom edeln Löwenbunde die Grafen und die Herrn.
4. Da kommt ein reis'ger Bote vom Wolf von Wnnnenstein:
„Mein Herr mit seinen, Banner will euch zu Dienste sein."
Der stolze Graf entgegnet: „Ich hab' sein nicht begehrt;
Er hat umsonst die Münze, die ich ihm einst verehrt."
5. Bald sieht Herr Ulrich drüben der Städte Scharen steh'n,
Von Reutlingen, von Augsburg, von Ulm die Banner weh'n;
Da brennt ihn seine Narbe, da gärt der alte Groll:
„Ich weiß, ihr Übermüthgen, wovon der Kamm euch schwoll!"
6. Er sprengt zu seinem Vater: „Heut zahl' ich alte Schuld;
Will's Gott, erwerb' ich wieder die väterliche Huld!
Nicht darf ich mit dir speisen auf einem Tuch, du Held!
Doch darf ich mit dir schlagen auf einem blut'gen Feld!"
7. Sie steigen von den Gäulen, die Herrn vom Löwenbund,
Sie stürzen auf die Feinde, thun sich als Löwen kund.
Hei, wie der Löwe Ulrich so grimmig tobt und würgt!
Er will die Schuld bezahlen, er hat sein Wort verbürgt.
8. Wen trägt man aus dem Kampfe dort auf den Eichenstumpf?
„Gott sei mir Sünder gnädig!" — er stöhnt's, er röchelt's dumpf.
O königliche Eiche, dich hat der Blitz zerspällt!
O Ulrich, tapfrer Ritter, dich hat das Schwert gefällt!
9. Da ruft der alte Recke, den nichts erschüttern kann:
„Erschreckt nicht! Der gefallen, ist wie ein andrer Mann.
Schlagt drein! Die Feinde fliehen!" — er rufl's mit Donnerlaut;
Wie rauscht sein Bart im Winde! hei, wie der Eber haut!
10. Tie Städter Han vernonimen das seltsam list'ge Wort.
„Wer flieht?" so fragen alle; schon wankt es hier und dort.
Das Wort hat sie ergriffen gleich einem Zaubcrlied,
Der Graf und seine Ritter durchbrechen Glied auf Glied.
11. Was gleißt und glänzt da droben und zuckt wie Wetterschein?
Das ist mit seinen Reitern der Wolf von Wnnnenstein.
Er wirft sich auf die Städter, er sprengt sich weite Bucht,
Da ist der Sieg entschieden, der Feind iu wilder Flucht.
12. Im Erntemond geschah es; bei Gott, ein heißer Tag!
Was da der edeln Garben auf allen Feldern lag!
Wie auch so mancher Schnitter die Arme sinken läßt!
Wohl halten diese Ritter ein blutig Sichclfest.
13. Noch lange traf der Bauer, der hinterm Pfluge gieng,
Auf rost'ge Degenklingen, Speereisen, Panzerring.
Und als man eine Linde zersägt und niederstreckt,
Zeigt sich darin ein Harnisch und ein Geripp versteckt.
14. Als nun die Schlacht geschlagen und Sieg geblasen war,
Da reicht der alte Greiner dem Wolf die Rechte dar:
„Hab' Dank, du tapfrer Degen, und reit' mit mir nach Haus,
Daß wir uns gütlich Pflegen nach diesem harten Strauß!"
15. „Hei", spricht der Wolf mit Lachen, „gefiel Euch dieser Schwank?
Ich stritt aus Haß der Städte und nicht um Euren Dank.
Gut' Nacht und Glück zur Reise! Es steht im alten Recht."
Er spricht's und jagt von dannen mit Ritter und mit Knecht. —
16. Zu Döffingen im Dorfe, da hat der Graf die Nacht
Bei seines Ulrichs Leiche, des einz'gen Sohns, verbracht;
Er kniet zur Bahre nieder, verhüllet sein Gesicht;
Ob er vielleicht im Stillen geweint, man weiß es nicht.
17. Des Morgens mit dem Frühsten steigt Eberhard zu Roß,
Gen Stuttgart fährt er wieder mit seinem reis'gen Troß;
336
Da kommt des Wegs gelaufen der Zuffenhauser Hirt;
„Dem Mann ist's trüb zu Muthe; was der uns bringen wird?"
18. „Ich bring euch böse Kunde: nacht ist in unsern Trieb
Der gleißend' Wolf gefallen, er nahm, so viel ihm lieb."
Da lacht der alte Greiner in seinen grauen Bart:
„Das Wölflein holt sich Kochfleisch, das ist des Wölfleins Art."
19. Sie reiten rüstig fürder; sie sehn aus grünem Thal
Das Schloß von Stuttgart ragen, es glänzt im Morgenstrahl;
Da kommt des Wegs geritten ein schmucker Edelknecht;
„Der Knab' will mich bednnken, als ob er gutes brächt'."
20. „Ich bring' Euch frohe Märe: Glück zum Urenkelein!
Antonia') hat geboren ein Knäblein, hold und fein."
Da hebt er hoch die Hände, der ritterliche Greis:
„Der Fink hat wieder Samen; dem Herrn sei Dank und Preis!"
L. Uhland.
247. Die Fische.
Von den tiefsten Tiefen bis hinauf zu den höchsten Höhen, im
Wasser wie in der Luft, überall ist Leben. Aber so verschieden
Wasser und Luft von einander sind, so verschieden sind auch die
Thiere, die in beiden leben. Mit dem Lichte und der Sonne be-
freundet, erwacht der Vogel, wenn der Morgen graut und schliesst
das Auge, wenn die Sonne sinkt: der Fisch hat in der Tiefe des
Meeres beim hellsten Sonnenschein nur Dämmerlicht; sein Auge deckt
kein Augenlid, Tag und Nacht ist es geöffnet und schauet doch
weder den Aufgang noch den Untergang der Sonne. Stumm ver-
bringt er sein Leben, während der Vogel vor lauter Lust in den
Lüften jubelt und trillert. Er bauet kein Nest, er brütet und füttert
keine Jungen.
Die Grundgestalt des Fisches ist die eines Kahnes; sein Schwanz
ist das Steuer und die Flossen sind die Ruder. Leicht ist die Be-
deckung seiner Haut, schlüpfrig der ganze Körper, verspitzt der Kopf
und platt der Leib an beiden Seiten. Wie der Ballast in den Schiffen
den unteren Raum desselben ausfüllt, damit sie gesichert vor dem
Umschlagen durch die Fluten gleiten, so ist auch der kahnförmige
Leib der Fische nach unten mit den Eingeweiden beschwert, nach
oben aber meistens durch eine Schwimmblase erleichtert. Diese
liegt unter dem Rückgrat, ist mit Luft angefüllt und gewährt dem
Fische grossen Nutzen. Ein leiser Druck seiner Rippen reicht hin,
die in der Schwimmblase enthaltene Luft zusammenzupressen, den
Körper dadurch schwerer zu machen und ihn plötzlich in die Tiefe
hinabzusenken. Lässt der Druck nach, so dehnt sich die Luft
wieder aus, und ohne Anstrengung wird der Fisch wie ein Ballon
in die Höhe gehoben. So durchschneidet er das Wasser noch be-
quemer als der Kahn, den die Hand des Menschen gezimmert, und
rudert mit den kurzen Flossen rascher als der Frosch, den die
vier Ruderstangen seines Leibes, ihrer Länge wegen, mehr behindern.
') Der Enkel und Nachfolger Eberhards des Greiners, Eberhard der Milde
(1392—1417), hatte sich 1380 mit Antonia, der Tochter des Beherrschers von Mailand,
Barnabo Visconti, vermählt.
337
Er eröffnet die Reihe der höheren Thiere, die ein Knochengerüst
in dem Fleische ihres Körpers haben. Aber es ist ein Gesetz der
Natur, dass sie in ihren Schöpfungen nur allmählich vom Unvoll-
kommenen zum Vollkommenen fortschreitet und nirgends einen
Sprung macht. So tritt denn auch das Knochengerüst bei den
Fischen nicht gleich in seiner höchsten Ausbildung auf, sondern ist
bei manchen nur erst Knorpel, also noch nicht fertig gewordener
Knochen. Man unterscheidet daher Knorpel- und Knochen-
fische. Das Skelett der letzteren ist zwar schon vollkommener,
als das der Knorpelfische, jedoch immer noch sehr einfach. In
den Gräten des Fisches sind wohl die Rippen und in den Flossen-
strahlen die Gliederknochen angedeutet, aber wie viele Stufen hat
dieses einfache Skelett noch zu durchlaufen, ehe es sich formt zu
den gelenkigen Knochen der kunstreichen Hände und zu den echten
Rippen der ßrusthöhlung, die das Herz wie die Lunge wohlver-
wahrt halten; wie viele Wandlungen haben die Kopfknochen zu
bestehen, ehe sie sich wölben zu der schönen Form des Schädels,
aus dessen Augen Gedanken leuchten, in dessen Muskeln der Schmerz
wie die Freude zu lesen sind. Das Skelett der Fische zeigt weder
die Gliederung, noch die Biegsamkeit höherer Wesen; starr und
regungslos liegen auch die Muskeln auf demselben und der mit ge-
ringer Nervenmasse ausgefüllte Kopf verräth wenig geistige Fähig-
keiten. Gude
248. Der reichste Fürst.
Preisend mit Viel schönen Reden
Ihrer Länder Werth und Zahl
Saßen viele deutsche Fürsten
Einst zu Worms im Kaisersaal.
Herrlich, sprach der Fürst Von Sachsen,
Ist mein Land und seine Macht,
Silber hegen seine Berge
Wohl in manchem tiefen Schacht.
Seht mein Land in üpp'ger Fülle,
Sprach der Kurfürst von dem Rhein,
Gold'ne Saaten in den Thälern,
Auf den Bergen edler Wein.
Große Städte, reiche Klöster,
Ludwig, Herr zu Bahern, sprach,
Schaffen, daß mein Land den euern
Wohl nicht steht an Schätzen nach.
Eberhard, der mit dem'Barte,
Württembergs geliebter Herr,
Sprach: Mein Land hat kleine Städte,
Trägt nicht Berge silberschwer.
Doch ein Kleinod hält's verborgen:
Daß in Wäldern noch so groß
Ich mein Haupt kann kühnlich legen
Jedem Unterthan in Schoß!
Und es rief der Herr von Sachsen,
Der von Bayern, der vom Rhein:
Graf im Bart! Ihr seid der reichste
Euer Land trägt Edelstein!
Just. Kerner.
249. Es ist noch Raum da.
Es geschah am andern Sonntage nach Trinitatis, da man pre-
digt vom grossen Abendmahl, dass zu Schwabach zwei Landsknechte
sitzen und hören der Predigt zu. Als sie nun vernehmen, wie die
Armen und Krüppel und Lahmen geladen worden und für die Bettler
auch noch Raum gewesen, wird dem einen sein Herz bewegt, und
er sagt zu seinem Gesellen: „Walt Gott, lieber Bruder mein, wenn
wir zu Felde müssen und der Tod die Trommel dazu schlägt, dass
wir alsdann auch zur Tafel Christi und seiner Heiligen angenommen
werden. Wir sind auch von den Landstrassen und Zäunen her,
22
338
erbarms Gott! und rechte Bettler!“ und deutete damit auf das
elende Leben, das die Landsknechte führen mussten, wenn kein
Krieg war und sie nicht stehlen wollten.
Als sie nun aus der Kirche gehen, hören sie grosses Geschrei
und die Trommel schlagen durch die Gassen. Die Feinde waren
unversehens herangerückt und wollten das Städtlein überfallen. Da
muss der arme Landsknecht auch mit, setzt seinen Helm auf,
nimmt seinen Spiess und zieht mit seinem Fähnlein der Trommel
nach, wird aber alsbald tödtlich verwundet. Als nun die Feinde
geschlagen sind, will sein Kamerad nach ihm sehen. Da sitzt er
an einem Baume, lebt noch und hat die Augen gen Himmel ge-
richtet. Da aber der andere fragt, wie es stehe, sagt er: „Bruder,
es ist noch Raum dal“ und ist damit selig entschlafen.
Caspari.
250. Luther in Worms.
Am 31. October 1517 hatte Doctor Martin Luther seine 95 Sätze
gegen den Mißbrauch des Ablasses, gegen den durch Tetzel in unverschämter
Weise betriebenen Verkauf der Sündenvergebung für Geld, an die Schloß-
kirche zu Wittenberg angeschlagen. „Wenn unser Herr und Meister Jesus
Christus spricht: Thut Buße!" — so beginnen jene Sätze — „so will er,
daß das ganze Leben der Gläubigen eine fortgesetzte Buße sein soll." In
diesem ersten Satze liegt der Kernpunkt von Luther's ganzer Lehre, daß cs
nur einen Mittler für uns Menschenkinder gibt, Jesum Christum. Nichts
aber lag ihm damals ferner, als der Kampf gegen den Papst und die
römische Kirche. Erst durch seine Gegner, namentlich den Doctor Eck aus
Ingolstadt und sein Gespräch mit ihm zu Leipzig, wurde Luther zu der
Erkenntnis geführt, daß er fortan nicht bloß gegen Tetzel und seine Ge-
nossen, sondern gegen den Papst und die römische Kirche zu kämpfen haben
werde. Eck war es auch, der, in Leipzig besiegt, nach Rom eilte, dort die
Bannbulle gegen Luther auswirkte und diese selber nach Deutschland brachte.
Dem aber und der durch den Papst befohlenen Verbrennung seiner Bücher
antwortete Luther damit, daß er am 10. December 1520 vor das Elster-
thor zu Wittenberg zog und dort die Bannbulle mit den Worten Josua's:
.Weil du uns betrübet hast, so betrübe dich der Herr an diesem Tage!"
feierlich verbrannte.
Mit dieser That hatte Luther sich von Rom losgesagt, einen Kampf
von unberechenbarer Tragweite begonnen. Vor allem fragte es sich, wie
sich der Kaiser und das Reich zu der Sache stellen würden. Der alte
Kaiser Max war vor kurzem gestorben, und an seiner ' Stelle soeben sein
Enkel, der neunzehnjährige Karl V., zum Reichsoberhaupt gewählt worden.
Auf dem Reichstage zu Worms im Anfange des Jahres 1521 versammelte
dieser zum ersten Male die Großen des Reiches um sich. Hier konnte
auch Luther's Sache, die schon ganz Deutschland in Bewegung gesetzt hatte,
nicht unbeachtet bleiben. Man war aber zweifelhaft, ob man Luther zu
seiner Verantwortung nach Worms vorladen, oder ob man der Meinung
des päpstlichen Gesandten beipflichten sollte, daß mit der Verurtheiluug
Luther's durch den Papst auch für das Reich schon alles entschieden, die
339
Reichsacht die nothwendige Folge des päpstlichen Bannfluches sei. Die
erstere Ansicht gewann die Oberhand. Durch einen kaiserlichen Herold
wurde Luther^ nach Worms geladen, und er. obwohl die Feinde ihn zu
schrecken, die Freunde ihn zu warnen suchten, erklärte: er sci-gerufen, daruni
wolle er sich stellen, und sollten zu Worms so viel Teufel sein, als Ziegel
auf den Dächern lägen.
Am 16. April 1521, eines Dienstags, als man eben bei Tische war,
langte er in Worms an. Wie der Türmer vom Dom in die Trompete
stieß, lief alles auf die Straße, den Mönch zu sehen. Er saß auf dem
offenen Rollwagen, den ihm der Rath zu Wittenberg gegeben hatte, in
seiner Augustincrkutte; vor ihm her ritt der Herold, den Wappcnrock mit
dem Reichsadler über dem Arm. So zogen sie durch die verwunderte
Menge. Im deutschen Hofe kehrten sie ein.
Und sogleich des andern Tages gegen Abend ward er in die Ver-
sammlung des Reiches geführt. Am Eingänge des Saales klopfte ihm
Georg Frundsbcrg, der Anführer der deutschen Landsknechte, auf die Schulter
und sprach zu ihm: „Mönchlein, Mönchlein, du gehst jetzt einen Gang,
22*
!
340
einen solchen Stand zu thun, dergleichen ich und mancher Oberster auch in
unserer allererustesten Schlachtordnung nicht gethan haben. Bist du aber
auf rechter Meinung und deiner Sache gewiß, so fahre in Gottes Namen
fort und sei nur getrost: Gott wird dich nicht verlassen!" In dem Saale
erwarteten der Kaiser, unter den sechs Kurfürsten sein eigener Landesherr,
Friedrich der Weise, so viele andere geistliche und weltliche Fürsten, zahl-
reiche durch Thaten in Krieg und Frieden berühmte Oberhäupter, würdige
Abgeordnete der Städte, Freunde und Feinde den kühnen Mönch. Der
Anblick einer so erhabenen, prächtigen Versammlung schien ihn doch einen
Augenblick zu blenden. Er sprach mit leiser, zurückgehaltener Stimme.
Auf die Frage, ob er seine Bücher, deren Titel verlesen wurden, sämmt-
lich, wie sie seien, vertheidigen, oder sich zu einem Widerruf verstehen
wolle, bat er sich Bedenkzeit aus, die ihm bis zum folgenden Tage be-
willigt wurde.
Am Donnerstag den 18. April erschien er aufs neue in der Ver-
sammlung. Es wurde spät, ehe er vorgelassen ward; schon zündete mau
die Fackeln an. Die Versammlung war vielleicht noch zahlreicher als
gestern; das Gedränge des Volkes so stark, daß kaum die Fürsten zu sitzen
kamen; die Aufmerksamkeit auf den entscheidenden Augenblick noch gespannter.
Jetzt aber war in Luther keine Spur von Befangenheit. Auf die ihm
wiederholte frühere Frage antwortete er mit männlich fester, starker Stimme,
mit dem Ausdrucke freudiger Ruhe. Seine Bücher theilte er in drei
Klassen: in solche, wo er vom Glauben und von guten Werken rede, in
solche, in denen er gegen die Mißbräuche und die Tyrannei der Papisten
geschrieben habe, und in solche gegen Privatpersonen, welche die römische
Tyrannei zu vertheidigen sich unterfangen hätten. Die ersten könne er
nicht widerrufen, da auch seine Feinde sie als unschädlich und nützlich an-
erkennen müßten; die zweiten auch nicht, weil sonst die Papisten Deutsch-
land vollends unterdrücken würden. Was die dritte Art von Büchern be-
treffe, so sei er in ihnen wohl zuweilen schärfer gewesen, als sich für einen
Christen gezieme; aber auch diese könne er nicht geradezu widerrufen, son-
dern er müsse mit Christo sagen: Habe ich übel geredet, so beweise es, daß
es böse sei. Werde er aber überwiesen, so sei er bereit, alle Irrthümer
zu widerrufen. Da entgegnete der kaiserliche Redner: Ihn zu überweisen
sei nicht nöthig, da seine Irrthümer bereits durch die Kirchenversammlung
zu Kostnitz verdammt seien; er solle eine runde, nette Antwort uns die ihni
vorgelegte Frage geben. Da antwortete Luther: „Weil denn Ew. Kaiser-
liche Majestät eine schlichte Antwort begehren, so will ich eine geben, die
weder Hörner noch Zähne hat. Es sei denn, daß ich durch Zeugnis der
Schrift oder mit öffentlichen klaren und hellen Gründen und Ursachen über-
wunden werde, — denn ich glaube weder dem Papst, noch den Concilien
alleiü, weil es am Tag und offenbar ist, daß sie oft geirrt haben und sich
selbst widersprechen, — so kann und will ich nichts widerrufen, weil cs
weder sicher noch gerathen ist, etwas wider das Gewissen zu thun. Hier
stehe ich, ich kann nicht anders; Gott helfe mir! Amen."
Der Eindruck, den Luther's Worte auf die Zuhörer hervorbrachten,
war ein sehr verschiedener. Der tapfere Herzog Erich von Braunschwcig
schickte ihm in dem Gedränge der Versammlung einen Trunk Einbecker
341
Bieres in silberner Kanne. Friedrich der Weise -sagte am Abend in seiner
Schlafkammer zu seinem Hofpredigcr Spalatin: „O wie gut hat Doctvr
Martinus vor Kaiser und Reich gesprochen!" Landgraf Philipp von Hessen
ward durch Luther's Auftreten für immer der Sache des Evangeliums ge-
wonnen. Der junge Kaiser dagegen rief aus: „Der soll mich nicht zum
Ketzer machen!" Und schon am folgenden Tage schrieb er an die Reichs-
versammlung: Er habe von seinen frommen Vätern den katholischen Glau-
ben erhalten, dem wolle er treu bleiben. Die Stände hätten Luthcr's
Hartnäckigkeit selber gehört; er müsse ihn jetzt als einen überführten Ketzer-
ansehen. Das sichere Geleit müsse ihm gehalten, aber zugleich müsse ihm,
unterwegs zu predigen-, verboten werden. — Am 26. April reiste Luther
von Worms ab, am 26. Mai wurde die Rcichsacht über ihn ausgesprochen;
aber inzwischen hatte Friedrich der Weise für ihn eine Zufluchtsstätte be-
reitet, wo er eine Zeit lang den Augen der Welt entrückt sein sollte. In
der Stille der Wartburg begann Luther seine Bibelübersetzung.
Ranke.
251. Luther und der Fleischer.
Ob seiner lieben Bibel wacht
Oer Doctor Luther Tag und Nacht.
Wohl ist ihm trefflich schön gelungen
Zu fassen sie in deutsche Zungen;
Doch immer tiefer will er graben,
Und immer besser will er’s haben,
Damit der heil’gen Rede Fluss
Ihm fiiesse recht aus eine m Guss;
Damit aus deutschem Volkesmund
Des Herren Wille werde kund
Und seine Gnade offenbar
Bo klar und wahr, so ganz und gar,
Als ob es so vom Himmel her
Auf Deutsch zu uns geredet wär’.
Das ist sein Flehn, seinWunsch undZiel;
Doch macht’s ihm saure Arbeit viel.
Was du, mein lieber Christ! im Flug
Nun liesest und in einem Zug,
Drob hat er oft in Schweissesdrang
Gerungen viele Monden lang.
Vergiss drum nicht in stolzem Wahn,
Wie er gebrochen hat die Bahn,
Auf der sich’s läuft so. glatt und gut,
Vergiss es nicht im Uebemuth !
342
Komm, sieh ihn da geduldig weilen
Und an den Büchern Mosis feilen!
Sieh, wie sich der Leviticus
In deutsche Satzung fügen muss;
Was alles Ward in Israel
An Fleisch und Blut, an Oel und Melil
Geopfert einst zu Speis’ und Trank,
Zur Sühne hier und dort zum Dank,
Das alles soll nun härchenklein
In gutem Deutsch geboten sein.
Sieh hier geschrieben das Gesetz,
Wo von der Leber und dem Netz,
Den Nierenstücken und dem Fett
Des Weit’ und Breiten wird gered’t.
Wem stünde der Verstand nicht still,
Wenn er das alles nennen will
In gutem, schlichtem deutschen Wort,
Dass jeder es versteh’ sofort?
Auch Luther lange denkt und sinnt;
Und wie er denkt und wie er sinnt,
Ein Schaf zu blöken noch beginnt.
Wen soll das nicht im Denken stören?
Dem Luther halse, wie du wirst hören.
Frau Käthe, die, wie sich’s gebührt,
Das Amt in Küch’ und Keller führt,
Damit nach wohlvollbrachtem Werke
Der Mann an Speis’ und Trank sich stärke,
Hat einen Schöpsen in das Haus
Gekaufet für den Abendschmaus,
Bestellt den Metzger auch dazu.
Dass er dem Schaf nach Willen thu’.
Der kommt dem Luther wie gerufen;
Hinunter flugs der Treppe Stufen
Macht er sich auf des Hauses Flur,
Damit er schau’ die Creatur,
Die eben unter Fleischers Hand
Auszieht ihr schweres Wollgewand
Und jeden, der es will, aufs best’
Tief in ihr Inn’res blicken lässt.
Der Fleischer schneidet und zerlegt,
Grad’ wie ein rechter Fleischer pflegt;
Der Luther schaut ihm schweigend zu,
Und endlich spricht er: „Höre du,
Ich möchte wohl, bei meiner Ehre,
Noch bei dir gehen in die Lehre.1’
Der Fleischer fasset sich ein Herz
Und spricht: „Wie meint ihr solchen
Scherz ?
Herr Doctor, das wär’ wohl verkehrt,
Wenn Metzger Klaus den Luther lehrt’!“
„ Du nennst mich Doctor?—Wohl, es sei!
Doch wisse, die Anatomei
Ist mir nicht eben so bekannt,
Wie sonst Doctoren hie zu Land;
Und weil sich dies nicht lernt im Schlaf,
Will ich es lernen hier am Schaf.
Des armen Schülers dich erbarm’
Und nenn’ ihm alles, Darm für Darm
Und Bein für Bein und Haut für Haut,
Milz. Leber, Magen, wie man’s schaut
Am Schafe, nenn’ mir alles laut,
Auch Herz und Nieren, Stück für Stück,
Und sag’ von jedem, wie man’s drück’
Mit seinem rechten Namen aus!“
Ein solches thut der Fleischer Klaus;
Er nennet alles, wie er’s weiss,
Und Luther höret zu mit Fleiss
Und merkt sich alles wohl und gut,
Wie’s kaum ein Studiosus thut.
Und als von der Anatomei
Die Lection war bald vorbei,
Dankt er dem Fleischer freundlich gar,
Lässt reichen einen Trunk ihm dar;
Er aber kehrt zum Bibelbuch
Zurück, damit er gleich versuch’,
Zu nennen alles härchenklein,
Grad’ eben, wie’s genannt sollt’ sein,
Und fertigt den Leviticus
Aus einem Gusse bis zum Schluss.
K. K. Hagenbach.
252. Luther im „Schwarzen Bären" vor Jena.
Luther, der in göttlichen Dingen einen so heiligen Ernst zeigte, war
im menschlichen Verkehr oft von der liebenswürdigsten Heiterkeit. Als er
von der Wartburg heimlich nach Wittenberg ritt, nahm er unterwegs in
dem „Schwarzen Bären" vor Jena Herberge, ohne sich jemandem zu er-
kennen zu geben. Er nannte sich nur Martinus. Dort kehrte auch der
Schweizer Johann Keßler, der sich nach Wittenberg begab, die heilige
Schrift zu studieren, mit einem Reisegefährten ein.
Als wir in die Stube traten (so erzählt Keßler), fanden wir einen
Mann allein am Tische sitzend und ein Büchlein vor ihm liegend; der
grüßte uns freundlich, hieß uns zu ihm an den Tisch sitzen und bot uns
zu trinken. So bestellten wir auch ein Maß Wein, damit wir von Ehren
wegen ihm wiederum zu trinken böten, meinten aber uicht anders, als daß
er ein Reiter wäre; denn er saß in Hosen und Wams, ein Schwert an
343
der Seite, mit der Rechten des Schwertes Knopf, mit der Linken das
Heft umfangend. Bald fieng er an zu fragen, woher wir gebürtig wären.
„Von St. Gallen", antworteten wir. Sprach er: „Wenn ihr dann gen
Wittenberg wollt, so findet ihr gute Landsleute, nämlich Dr. Hieronymus
Schürf und seinen Bruder." Da fragten wir: „Mein Herr, wüßtet ihr
uns nicht zu bescheiden, ob Martin Luther jetzo zu Wittenberg sei?" Ant-
wortete er: „Ich habe gewissen Bericht, daß der Luther jetzo nicht zu
Wittenberg ist; er soll aber bald dahin kommen. Philippus Melanchthon
aber ist da: er lehrt die griechische Sprache wie auch andere die hebräische
lehren, welche beide ich euch in Treuen rathen wollte zu studieren; denn
die sind nothwendig, die heilige Schrift zu verstehen." Sprachen wir:
„Gott sei gelobt! denn wir wollen nicht ruhen, bis wir den Mann sehen
und hören; denn seinetwegen haben wir die Fahrt unternommen." Dar-
nach fragte er: „Wo habt ihr vormals studiert?" Antwort: „Zu Basel."
Sagte er: „Wie steht es zu Basel? Ist Erasmus noch daselbst? Was thut
er?» „Mein Herr", sprachen wir, „wir wissen nicht anders, als daß es
gut steht. Was er aber thut, ist jedermann verborgen; denn er hält sich
ganz still und heimlich." Diese Worte nahmen uns wunder an dem
Reiter, daß er so gelehrt redete; zudem sprach er inzwischen etliche lateini-
sche Worte, daß uns bedünken wollte, er wär' eine andere Person als ein
gemeiner Reiter. „Lieben", fragte er, „was hält man von dem Luther
im Schweizerland?" „Mein Herr", antwortete ich, „es sind mancherlei
Meinungen. Etliche können ihn nicht genugsam erheben und Gott danken,
daß er seine Wahrheit durch ihn geoffenbaret hat; etliche aber verdammen
ihn als einen schlimmen. Ketzer, und sonderlich die Geistlichen." Sprach
er: „Ich versteh', cs sind die Pfaffen." Unter solchem Gespräch ward er
uns gar heimlich, und mein Gesell hob das Buch, so vor ihm lag, auf
und blätterte darin. Das war ein hebräischer Psalter. Da legte er es
bald nieder, und der Reiter nahm's zu sich. Daher wurden wir noch
mehr bedenklich, wer er doch wäre. Sprach mein Gesell: „Ich wollt' einen
Finger von der Hand geben, daß ich diese Sprache verstünde." Antwortete
er: „Ihr mögt sie wohl begreifen, wenn ihr anders wollt Fleiß anwenden;
ich begehre sie auch weiter zu lernen und übe mich täglich darin."
Nach einer kleinen Weile rief mich der Wirt zur Thür hinaus. Ich
erschrak und bedachte mich, was ich verunschickt habe. Da sprach der Wirt
zu mir: „Dieweil ich erkenne, daß ihr den Luther zu hören und zu sehen
begehrt, so wisset: der ist's, der bei euch sitzt." Ich hielt dies für Spott
und gieng wieder in die Stube, setzte mich und raunte meinem Gesellen zu:
„Der Wirt hat mir gesagt, der sei der Luther." Er wollte es auch wie
ich nicht recht glauben und sprach: „Er hat vielleicht gesagt, es sei der
Hutten, und hast ihn nicht recht verstanden." Dieweil mich nun die Reiter-
kleidung mehr an den Hutten, denn an den Mönch Luther gemahnte, so
ließ ich mich bereden, der Wirt hätte gesprochen, es sei Hutten; denn der
Anfang beider Namen klang fast zusammen. Derhalbcu, was ich nun
redete, sprach ich, als ob ich mit Herrn Ulrich von Hutten spräche.
Mittlerweile kamen zwei Kaufleute, die auch da übernachten wollten,
und nachdem sie sich entlediget, legte einer neben sich ein ungebunden Büch-
lein. Fragte Martin, was es für ein Buch wäre. Sprach er: „Es ist
344
Dr. Luther's Auslegung etlicher Evangelien und Episteln, erst neu gedruckt;
habt ihr sie nie gesehen?" Sprach Martin: »Sie sollen mir auch bald
werden." Da rief der Wirt: „Nun füget euch zu Tische, wir wollen
essen." Wir aber baten den Wirt, er möge uns etwas besonders geben;
denn wir fürchteten die Zeche. Da das Martinus hörte, sprach er:
„Kommet herzu, ich will die Zehrung mit dem Wirt wohl abtragen."
Unter dem Essen that Martinus viel gottselige, freundliche Reden, daß
die Kaufleute und wir mehr seiner Worte, denn aller Speisen wahrnahmen; i
er sei der Hoffnung, sagte er, daß die evangelische Wahrheit mehr bei
unsern Kindern und Nachkommen Frucht bringen werde, als an den Eltern,
in welchen die Irrthümer eingewurzelt seien, daß sie nicht leicht ausgereutet
werden.
Darnach sprach der ältere von den Kaufleuten: »Ich bin ein ein-
fältiger Laie und versteh' mich auf die Händel nicht besonders. Das aber
sag' ich: wie mich die Sach' ansieht, so muß der Luther entweder ein Engel
vom Himmel sein oder ein Teufel aus der Hölle. Ich möcht' ihm wohl
beichten; denn ich glaub', er könnte mein Gewissen wohl unterrichten."
Da kam der Wirt neben uns. „Habt nicht Sorge für die Zehrung",
sagte er heimlich, „Martinus hat das Nachtmahl für euch ausgerichtet."
Dies freute uns sehr, nicht des Geldes und Genusses wegen, sondern daß
er uns gastfrei gehalten, dieser Manu. Nach dem Mahl stunden die Kauf-
leute auf und giengen in den Stall, für ihre Pferde zu sorgen. Martinus
blieb allein bei uns in der Stube; wir dankten ihm für seine Zehrung s
und ließen uns dabei merken, daß wir ihn für Ulrich von Hutten hielten.
Er aber sprach: „Ich bin es nicht." Gerade trat der Wirt herein. Sprach
Martinus: „Ich bin diese Nacht zu einem Edelmann worden, denn diese
Schweizer halten mich für Ulrich von Hutten." Sprach der Wirt: „Ihr
seid es nicht, aber ihr seid Martinus Luther." Da lachte er mit solchem
Scherz: „Die halten mich für den Hutten, ihr für den Luther; am Ende
werd' ich bald Martinus Marcolfus heißen." Und nach solchem Gespräch
nahm er ein hohes Bierglas und sprach nach des Landes Brauch: „Schweizer,
trinket mir noch einen freundlichen Trunk zum Segen." Und wie ich das
Glas annehmen wollte, bot er mir dafür einen Krug mit Wein, sprechend:
„Das Bier ist für euch ungewohnt, trinket den Wein."
Damit stand er auf, warf den Wappcnrock auf seine Achsel und nahm
Urlaub, bot uns seine Hand und sagte: „Wenn ihr gen Wittenberg kommt,
so grüßt mir den Dr. Hieronymus Schürf." Sprachen wir: „Wollen cs
gern und willig thun, aber wie sollen wir euch nennen, daß er den Gruß
von euch versteht?" Sprach er: „Sagt ihm nicht mehr, als dies: Der
da kommen soll, läßt euch grüßen, so versteht er die Worte bald." Also
gieriger von uns und zur Ruhe. Darnach kamen die Kaufleute wieder in
die Stube, hießen den Wirt ihnen noch einen Trunk auftragen und unter-
hielten sich viel, wer doch der Gast wäre. Doch der Wirt ließ sich merken,
er hielte ihn für den Luther, und die Kaufleute glaubten es und bedauer-
ten, daß sie so ungeschickt vor ihm geredet hätten. Am Morgen suchten
sie ihn im Stalle auf und baten, er möge ihnen nicht zürnen für das,
was sie gesagt. Aber Martinus hat geantwortet: „Ihr habt über dem
Nachtessen gesagt, ihr wolltet dem Luther beichten; dann werdet ihr sehen
345
und erfahren, ob ich Martinus Luther sei." Dann ist er bald aufgesessen
und gen Wittenberg geritten.
Am Samstag darnach kamen wir auch nach Wittenberg und kehrten
bei dem Dr. Hieronymus Schürf ein, unsere Briefe zu überantworten.
Wie mau uns in die Stube ruft, siehe, da finden wir Martinus gleicher-
maßen wie zu Jena bei Philipp Melanchthon, Nicolaus Amsdorf und
anderen, erzählend, was sich in seiner Abwesenheit zu Wittenberg begeben
habe. Er grüßt uns und lächelt, zeiget mit dem Finger und spricht: „Dies
ist Philipp Melanchthon, von dem ich ench gesagt habe." «c&ni.
253. Kaiser Karl am (Yrabe Luther's.
In Wittenberg, der starken Lutherfeste,
Ist Kaiser Karl, der Sieger, eingedrungen.
Wohl ist den Stamm zu fällen ihm gelungen,
Doch neue Wurzeln schlagen rings die Äste.
In Luther's Feste Hausen fremde Gäste,
Doch Luther's Geist, der bleibet uubezwungen;
Da, wo des Geistes Schwert er hat geschwungen,
Da ruhen billig auch des Leibes Reste.
Am Grabe steht der Kaiser tief gerühret.
„Auf denn, und räche dich an den Gebeinen,
Den Flammen gib sie preis, wie sich gebühret!"
So hört man aus der Diener Troß den Einen.
Der Kaiser spricht: „Den Krieg hab' ich geführet
Mit Lebenden; um Todte laßt uns weinen."
R. K. Hagenbach.
254. Vas Schlauraffenland.
Eine Gegend heisst Schlauraffenland,
Den faulen Leuten wohlbekannt,
Die liegt drei Meilen hinter Weihnachten;
Ein Mensch, der dahinein will trachten,
Muss sich des grossen Dings vermessen
Und durch einen Berg von Kuchen essen;
Der ist wohl dreier Meilen dick.
Alsdann ist er im Augenblick
In demselbigen Schlauraffenland.
Da hat er Speis’ und Trank zur Hand.
Da sind die Häuser gedeckt mit Fladen,
Lebkuchen Thür und Fensterladen;
Um jedes Haus geht rings ein Zaun,
Geflochten aus Bratwürsten braun;
Vom besten Weine sind die Bronnen,
Kommen einem selbst ins Maul geronnen.
An den Tannen hängen süsse Krapfen
Wie hier zu Land die Tannenzapfen.
Auf Weidenbäumen Semmeln stehen,
Unten Bäche von Milch hergehen;
In diese fallen sic herab,
Dass jedermann zu essen hab’.
Auch schwimmen Fische in den Lachen,
Gesotten, gebraten, gesalzen, gebachen,
Die gehen bei dem Gestad so nahe,
Dass man sie mit den Händen sahe,
Auch fliegen um, das mögt ihr glauben.
Gebratene Hühner, Gans’ und Tauben!
i Wer sie nicht fängt und ist so faul,
| Dem fliegen sie selbst in das Maul.»
Die Schweine, fett und wohlgerathen,
I Laufen im Lande herum gebraten,
Jedes hat ein Messer im Bück, _
Damit schneidet man sich ab ein Stück
Und steckt das Messer wieder hinein.
Käse liegen umher wie die Stein’.
Ganz bequem haben’s die Bauern:
Sie wachsen auf Bäumen an den Mauern,
Sind sie zeitig, so fallen sie ab,
Jeder in ein paar Stiefel herab.
Auch ist ein Jungbrunn in dem Land,
Mit dem ist es also bewandt:
Wer da hässlich ist oder alt,
Der badet sich jung und wohlgestalt’t.
Bei den Leuten sind allein gelitten
Mühelose, bequeme Sitten.
| So zum Ziel schiessen die Gast,
Wer am weitsten fehlt, gewinnt das Best;
Im Laufen gewinnt der Letzte allein,
i Das Schlafrocktragen ist allgemein.
! Auch ist im Land gut Geld gewinnen.
Wer Tag und Nacht schläft darinnen,
Dem gibt man für die Stund’ einen Gul-
den;
Der wacker und fleissig ist, macht Schul-
den ;
346
Dem, welcher da sein Geld verspielt,
Man alles zwiefach gleich vergilt,
Und wer seine Schuld nicht gern bezahlt,
Auch wenn sie wär’ ein’s Jahres alt,
Dem muss der andre doppelt geben.
Der, welcher liebt ein lustig Leben,
Kriegs für den Trunk einen Batzen Lohn.
Für eine grosse Lüge gibt man eine Krön’.
Verstand darf man nicht lassen sehn,
Aller Vernunft muss man müssig gehn.
Wer Sinn und Witz gebrauchen wollt’,
Dem wär’ kein Mensch im Lande hold;
Wer Zucht und Ehrbarkeit hätt’ lieb,
Denselben man des Lands vertrieb’;
Und wer arbeitet mit der Hand,
Dem verbot man das Schlauraifenland.
Denn wer träg ist und nichts will lern’n,
Der kommt im Land zu grossen Ehr’n,
Und wer der Faulste wird erkannt,
Derselbige ist König im Land.
Wer wüst, wild und unsinnig ist,
Grob, unverständig zu aller Frist,
Aus dem macht man im Land einen
Fürsten;
Wer gerne ficht mit Leberwürsten,
Aus dem ein Ritter wird gemacht;
Und wer auf gar nichts weiter acht’t,
Als auf essen, trinken und schlafen,
Aus dem macht man im Land einen
Grafen.
Wer also lebt, wie obengenannt,
Der ist gut im Schlauraffenland,
In einem andern aber nicht.
Drum ist ein Spiegel dies Gedicht,
Darin du sehest dein Angesicht.
Hans Sach s.
255. Ter Königstiger.
Der Königstiger ist eine herrliche, wunderschön gezeichnete und gefärbte Katze.
Seine Gestalt ist höher, schlanker und leichter als die des Löwen; auch in der Größe
steht der Tiger keineswegs hinter jenem zurück. Ein erwachsener männlicher Tiger
erreicht regelmäßig sieben bis acht Fuß Gesammtlänge von der Schnauze bis zur
Schwanzspitze; es sind aber nicht selten einzelne sehr alte erlegt worden, bei welchen
die in derselben Weise gemessene Länge neun Fuß ergibt. Dre gewöhnliche Körper-
länge beträgt etwas über fünf Fuß. Der Leib ist etwas mehr verlängert und ge-
streckt, der Kopf runder als der des Löwen, der Schwanz ist lang und quastenlos,
die Behaarung kurz und glatt und nur an den Wangen bartmäßig verlängert. Das
Weibchen ist ueincr und hat auch einen kürzern Backenbart. Alle Tiger aber, welche
in nördlicher gelegenen Ländern wohnen, tragen ein viel dichteres und längeres
Haarkleid als dieienigen, deren Heimat die heißen Tiefländer Indiens sind. Die
ZeVhnung des Thieres zeigt die schönste Anordnung von Farben und einen lebhaften
Gegensatz zwischen der hellen, rostgelben Grundfarbe und den dunklen Streife», welche
über sie hinweglanfen. Die Schnurren sind weiß, die Nase ist ungefleckt und der
Augenstern gelblichbraun.
Ebensowohl als in Rohr- und Graswäldern begegnet man dem Tiger in
großen, hochstämmigen Wäldern, wenn auch immer nur bis zu einer gewissen Höhe
über dem Meeresspiegel. Nach den herdenreichen Alpenweiden in den Hochgebirgen
Asiens geht er niemals empor; um so öfter kommt er dicht an die Dörfer, ja selbst
an die Städte heran. Die schilfbewachsenen Ufer der Flüsse, die ungeheuren schilf-
artigen Bambusgebüsche und andere Dickungen sind seine Lieblingsplätze. Er hat
alle Sitten und Gewohnheiten der Katzen, aber sie stehen bei ihm im gleichen Ver-
hältniß zu seiner Größe. Seine Bewegungen sind jedoch ebenso unmuthig wie die
kleinerer Katzen, und dabei ungemein rasch, gewandt und zugleich ausdauernd. Er-
schleicht unhörbar dahin, versteht gewaltige Sätze zu machen, klettert trotz seiner
Größe rasch und geschickt an Bäumen empor, schwimmt meisterhaft schnurgerade über
breite Ströme und zeigt dabei immer die bewunderungswürdigste Sicherheit in der
Ausführung jeder einzelnen Bewegung.
Er ist kein eigentliches Nachtthier wie der Löwe, sondern streift wie die meisten
Katzen zu jeder Tageszeit umher, wenn er auch den Stunden vor und nach Sonnen-
untergang den Vorzug gibt. An Tränkplätzen, Landstraßen, Dorfwegen, Wald-
Pfaden und dergleichen legt er sich aus die Lauer; am liebsten in dem Gebüsch an
den Flußufern, weil hier entweder die Thiere zur Tränke kommen oder die Indier
herabsteigen, um ihre frommen Uebungen und Waschungen zu verrichten. Eigentlich
ist kein Thier vor dem entsetzlichen Räuber sicher: er greift selbst den jungen Ele-
phanten und das junge Nashorn an. Sämmtliche Säugethiere, vielleicht mit Aus-
nahme der anderen Raubthiere und der übrigen Katzenarten, fallen ihm zur Beute,
und er stürzt sich ebensowohl auf die stärksten, als auf die schwächsten. Außerdem
347
holt er sich auch aus der Klasse der Vögel, ja selbst arrs der Klasse der Lurche hier
und da eine Beute. In denselben Dickungen, in welchen er sich aufhält, wohnen
auch viele Hühnerarten, namentlich die Pfauen. Gerade sie haben es sehr häufig
gerade mit den Tigern zu thun und kennen ihn deshalb genau. Sie werden auch
gewöhnlich zum Verräther des still dahinschleichenden Raubthieres, indem sie ent-
weder geräuschvoll auffliegen und Schutz vor ihm suchen oder, wenn sie bereits ge-
bäumt haben, ihre weittönende Stimme ausstoßen, den übrigen Geschöpfen gleichsam
zur Warnung. Auch die Affen verleiden ihm oft seine Jagd.
Der Tiger belauert und beschleicht schlangenartig seine Beute, stürzt dann
pfeilschnell mit wenigen Sätzen auf dieselbe los und schlägt die Krallen mit solcher
Kraft in den Nacken ein, daß auch das stärkste Thier sofort zu Boden stürzt. Die
Wunden, welche er schlägt, sind immer außerordentlich gefährlich; denn nicht bloß
die Nägel, sondern auch die Zehen dringen bei dem fürchterlichen Schlage ein.
Ein Tiger, welcher bei dem Marsche eines Regiments ein Kameel angriff, brach
diesem mit einem Schlage den Schenkel. Ein anderer soll sogar einen Elephanten
umgeworfen haben. Pferde, Rinder und Hirsche wagen gar keinen Widerstand,
sondern ergeben sich, wie der Mensch, schreckerfüllt in das Unvermeidliche. Bloß die
muthigen männlichen Büffel gehen zuweilen ans den Tiger los und wissen ihm mit
ihren tüchtigen Hörnern auch erfolgreich zu begegnen. Deshalb betrachten sich die
indischen Viehhirten, welche auf Büffeln reiten, als ganz gesichert, während alle
übrigen Reiter dies nicht sind. Denn selbst auf den Elephanten springt der Tiger
zuweilen und holt sich von dort einen Menschen herab.
Die Stärke des Tigers ist unglaublich groß. Er schleppt mit Leichtigkeit nicht
bloß einen Menschen oder einen Hirsch, sondern selbst ein Pferd oder einen Büffel
meilenweit mit sich fort; dabei zeigt er zugleich viel Klugheit. Niemals oder nur
höchst ungern schleift er ein solches Thier über eine breite Straße weg, wahrschein-
lich, um sich nicht selbst zu verrathen. Dennoch kann er aber die Spuren, die ein
solcher Streiszug hinterläßt, nicht verdecken. Wenn er ein großes Thier tobten will,
springt er ihm auf den Rücken, schlägt seine fürchterlichen Klauen ein und leckt das
Blut, welches aus der Wunde strömt. Dann erst trägt er das Thier weiter in das
Dickicht, bewacht es dort bis zum Abend und frißt dann während der Nacht unge-
stört und ruhig, so viel er fressen kann. Er beginnt bei den Schenkeln, von dort
aus frißt er weiter gegen das Haupt hin. Er ist unmäßiger als der Wolf und
frißt so viel, als er kann; dabei 'geht er ab und zu nach den benachbarten Quellen
oder Flüssen, um zu trinken. Man versichert, daß er keineswegs ein Leckermaul sei,
sondern alles fresse, was ihm vorkomme, das Fell und die Knochen ebensalls mit.
Nur diejenigen Tiger, welche einmal Menschenfleisch gekostet haben, sollen dies dem
aller Thiere vorziehen und werden deshalb wie die Löwen in Afrika geradezu
Menschenfresser genannt. Auch an seiner königlichen Tafel speist das hungrige
Bettelgesindel wie an der Tafel des Löwen. Die Schakale, Füchse und wilden
Hunde, welche bei Nacht den Wald durchstreifen, verfolgen die blutige Fährte des
geschleiften Thieres und fressen sich an den Ueberbleibseln des Leichnams toll und
voll. Bei Tage aber entdecken die Aasgeier bald die Leiche und kommen scharen-
weise herbeigeflogen. Nicht selten entsteht sogar noch Kämpf und Streit auf ihr
zwischen diesen Thieren. Die vierfüßigen Schmarotzer sind so regelmäßige Gäste an
der Tafel des Tigers, daß sie, zumal die Schakale, geradezu als seine Boten und
Kundschafter angesehen werden und wie die Pfauen oder Affen, welche aus Furcht
vor dem Tiger ihn verrathen, dazu dienen, seine Aufsuchung zu erleichtern.
Brehm.
256. Sankt Peter mit der Geis.
Da noch auf Erden gieng Christus,
Und auch mit ihm wandert' Petrus,
Ein's Tag's in ein Dorf mit ihm gieng,
Bei einer Wegscheid' Petrus anfieng:
„O Herr Gott und Meister mein,
Mich wundert sehr der Güte dein,
Weil du doch Gott allmächtig bist,
Läßt es doch gehn zu aller Frist
In aller Welt, gleich >vie es geht,
| Wie Habakuk sagt, d§r Prophet:
Frevel und Gewalt geht vor Recht,
Der Gottlos' übervortheilt schlecht
Mit Schalkheit den Gerechten und Frommen,
Auch könn' kein Recht zu End' mehr kommen.
Sollt' ich ein Jahr Gott sein, wie du,
I Ich wollt' anders schau'n dazu,
Wollt' führen ein besser Regiment
j Im Erdenreich durch alle Ständ'."
348
Der Herr sprach: „Peter, sag' mir eben:j Daß du die Geis nimmst in dein' Hut,
Meinst, du wallst je besser regieren, Wie sie von Herzen bitten thut."
All' Ding' auf Erd' baß ordinieren, ! Petrus nahm nach des Herren Wort
Die Frommen schützen, die Bösen plagen?" j Die Geis in seine Hut an dem Ort
Sankt Peter that hinwieder sagen: j Und trieb sie aus die Weid' hindann.
„Ja, es müßt' in der Welt baß stehn, | Nun fieng Sankt Petri Unruh' an.
Nicht also durch einander gehn; j Die Geis war muthig, jung und frech
Ich wollt' viel besser Ordnung halten." j Und blieb ja gar nicht in der Nech (Nähe),
Der Herr sprach: „Nun, so sollst verwalten, : Lief auf der Weide hin und wieder,
Peter, die hohe Herrschaft mein; 1 Stieg ein' Berg auf, den andern nieder
Heut den Tag sollst du Herr Gott sein!"! Undschlüpftshin und her durch die Stauden.
Damit reicht der Herr sein' Stab Petrus mit Ächzen, Blas'n und Schnauben
Petro, ihn in seine Hände gab. Muß immer nachtrollen der Geis,
Petrus war deß gar wohlgemuth, ' Und schien die Sonn' gar überheiß.
Däucht' sich der Herrlichkeit sehr gut. Der Schweiß über den Leib ihm rann,
Indem kam her ein armes Weib, Mit Unruh' verbringt der alte Mann
Ganz dürr, mager und bleich vom Leib, j Den Tag bis auf den Abend spat,
Barfuß in einem zerrissen Kleid; ! Machtlos, heilig, ganz müd' und matt,
Die trieb ihr' Geis hin auf die Weid'. ! Die Geis jedoch er heimbracht'.
Als sie mit ihr auf die Wegscheid' kam, j Der Herr sah Petrum an und lacht,
Sprach sie: „Geh' hin in Gottes Nam', ! Sprach: „Petre, willst mein Regiment
Gott hüt' und„schütz' dich immerdar, Noch länger halten in deinen Händ'?"
Daß dir kein Übel widerfahr' Petrus sprach: „Lieber Hcrre mein,
Bon Wölfen oder Ungewitter. ; Nimm wieder hin den Stabe dein
Gott hüte dich' mit seiner Hand!" Und dein' Gewalt; ich begehr' mit uichten,
Darauf die Frau wieder umwändt' Forthin dein Amt mehr auszurichten.
Ins Dorf. So gieng die Geis ihr' Straß'.! Ich will jetzt der Regierung dein,
Der Herr zu Petro sagte das: ! Dieweil ich'leb', nicht reden ein."
„Petre, hast das Gebet der Armen j Der Herr sprach: „Petre, dasselbe thu,
Gehört? Du mußt dich ihr erbarmen! 1 So lebst du fort in stiller Ruh',
Weil ja den Tag bist Herr Gott du, i Und vertrau' mir in meine Händ'
So stehet dir auch billig zu, | Das allmächtige Regiment!"
Hans Sachs.
257. Der Herr ist König.
Der Landgraf Philipp von Hessen ritt einst über Feld, saß stattlich zu
Pferde mit Schwert und Panzer, und hinter ihm ritten seine Begleiter.
Da zog ein Gewitter am Himmel herauf; und als die Reiter an einen
Wald kamen, schlug der Blitz krachend in eine Eiche und zerschmetterte sie.
Das Roß des Landgrafen sank vor Schrecken in die Kniee, und der Landgraf
siel zu Boden. Da sprengten die Diener heran und riefen: „Ach, ihr
seid doch nicht beschädigt, gnädiger Herr? Ihr habt doch kein Unglück er-
litten, gnädigster Herr?"
Aber der fromme Landgraf stand auf, deutete mit der Hand gen
Himmel und sprach: „Was nennt ihr mich Herr? Der da oben donnert,
der ist der Herr, und er gieng im Wetter gnädig an mir vorüber,"
Miinfterberger Lesebuch.
258. Ter Liebe Tauer.
O lieb', so lang du lieben kannst!
O lieb', so lang 'du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Und sorge, daß dein Herze glüht
Und Liebe hegt und Liebe trägt,
So lang ihm noch ein ander Herz
In Liebe warm entgegenschlügt!
Und wer dir seine Brust erschließt,
| O thu' ihm, was du kannst, zu lieb!
Und mach' ihm jede Stunde froh,
Und mach' ihm keine Stunde trüb!
Und hüte deine Zunge wohl,
Bald ist ein böses Wort gesagt!
O Gott, es war nicht bös gemeint,
j Der andre aber geht und klagt.
349
O lieb', so lang du lieben kannst!
O lieb', so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Dann kniest du nieder an der Gruft
Und birgst die Augen, trüb und naß,
— Sie sehn den andern nimmermehr —
Ins lange, feuchte Kirchhofgras.
Und sprichst: „O schau auf mich herab,
Der hier an deinem Grabe weint!
Vergib', daß ich gekränkt dich hab'!
O Gott, es war nicht bös gemeint!"
Er aber sieht und hört dich nicht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst:
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: „Ich vergab dir längst!"
Er that's, vergab dir lange schon,
Doch manche heiße Thräne fiel
Um dich und um dein herbes Wort, —
Doch still — er ruht, er ist am Ziel!
O lieb', so lang du lieben kannst!
O lieb', so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Freiligrath.
259. Die fromme Magd.
Die fromme Magd vom rechten Stand,
Geht ihrer Frauen fein zur Hand,
Hält Schüssel, Tisch und Teller weiß
Zu ihrem und der Frauen Preis.
Sie trägt und bringt nicht neue Mär,
Geht still in ihrer Arbeit her,
Ist treu und eines keuschen Muths
Und thut den Kindern alles Guts.
Sie ist stets munter, hurtig, frisch,
Vollbringet ihre Geschäfte risch
Und hält's der Frauen wohl zu gut,
Wenn sie um Schaden reden thut.
Sie hat dazu fein die Geberd,
alt alles sauber an dem Herd,
erwahrt das Feuer und das Licht
Und schlummert in der Kirche nicht.
B. Ringwaldt.
260. Melanchthon.
Wie anderen Gotteshelden, so hatte der Herr auch Luther« helfende
Freunde zur Seite gestellt, erst mit und nun auch nach ihm sein Werk zu
fördern und zu pflegen. Der größte unter ihnen ist Philipp Schwarzerd,
der seinen Namen nach der damaligen Gelehrten Sitte in den griechischen
Melanchthon wandelte. Geboren (16. Februar 1497) in dem badischen
Städtchen Breiten als eines kunstreichen Waffenschmiedes Sohn, war er
bestimmt, der lutherischen Kirche in ihren ersten und vorzüglichsten Be-
kenntnisschriften gleichsam Schild und Schwert als ein geistlicher Waffen-
schmied zu bereiten. Darum war er von Gott mit so reichen Anlagen
ausgestattet, daß Luther später von ihm sagte: „Es ist auf Erden keiner,
der solche Gaben hat wie Philippus." Fast noch im Knabenalter bezog er
die Hochschule zu Heidelberg; als siebzehnjähriger Jüngling war er bereits
Schriftsteller und Lehrer griechischer Sprache und Weisheit. Seinen höch-
sten Ruhm aber gewann er zu Wittenberg, wohin er während der ersten
reformatorischen Kämpfe 1518 berufen worden war. Hier knüpfte er mit
Luther jene wunderbar innige Freundschaft, die für die Verbesserung der
Kirche ein unaussprechlicher Segen geworden ist. Denn ausgezeichnet durch
reiches Wissen und tiefes Gemüth, durch milden Sinn und eine anmuthige
Sprache, wußte Melanchthon die evangelische Wahrheit ebenso scharfsinnig
zu erforschen als lichtvoll darzustellen, und während er bei seinem schüch-
ternen Wesen nie allein ein Reformator geworden wäre, durfte er doch des
großen Reformators berathender und liebender Gehülfe sein. Luther drückt
dies also aus: „Ich bin dazu geboren, daß ich mit den Rotten und Teufeln
muß zu Felde liegen, darum meine Bücher viel stürmisch und kriegerisch
sind. Ich muß die Klötze und Stämme ausreuten, Dornen und Hecken
wegräumen, die Pfützen ausfüllen und bin der grobe Waldrechter, der
Bahn brechen und zurichten muß. Aber M. Philippus fährt säuberlich
Universität, und außerordentlich war die Zahl derer, die zu seinen Füßen
zu sitzen kamen. Nicht minder wirkte er durch seine Schriften, unter
welchen seine christliche Glaubenslehre eines der tiefsten theologischen Werke
unserer Kirche ist. So konnte er mit Recht der „Lehrer deutschen Landes"
— praeceptor Germaniae — genannt werden. Doch konnte er sich nie
entschließen zu predigen. Wie Luther war auch er überaus herzlich im
Umgang und liebenswürdig im Kreise seiner Familie. Doch all sein Leben
und Wirken war nur stark durch die Verbindung mit Luther, durch dessen
überlegene Willenskraft er sich — zuweilen selbst widerstrebend — leiten
und beherrschen ließ. Als nun nach Luther's Tode alle jene Stürme her-
einbrachen, die des Heimgegangenen ahnungsvoller Geist vorausgesehen, als
---- 350 -------- I
und stille daher, bauet und pflanzet, säet und begießet mit Lust, nach dem
ihm Gott gegeben seine Gaben reichlich." Mclanchthon wiederum nannte
Luther einen „einzigen, heldenmüthigcn Mann, durch den Gott Großes
ausrichten wolle". So ehrten beide Männer sich gegenseitig, als von Gott
selbst gegeben und gesandt zum Heil seiner Kirche. Von Luther veranlaßt,
wandte sich Mclanchthon fast ausschließlich der Gottcsgelahrtheit zu, deren
öffentlicher Lehrer er (1524) wurde. Als solcher war er eine Zierde der
351
selbst inmitten der lutherischen Kirche mannigfacher Streit sich erhob, in
dem es die Wahrheit mannhaft zu bekennen und zu vertheidigen galt, da
zitterte und trauerte Melanchthon wohl, aber jene Glaubenszuversicht und
Bckenntnisfreudigkeit ward nicht au ihm erfunden, wie die ernste Zeit sie
forderte. Eintracht und Frieden für die Kirche ersehnend und erflehend,
verschied er im herzinnigen Glauben an seinen Erlöser (19. April 1560)
und ward in derselben Kirche begraben, in welcher auch Luther ruht.
A. Wippermann.
261. Teutscher Rath.
1. Bor Allem Eins, mein Kind: Sei treu und wahr,
Laß nie die Lüge deinen Mund entweih'n!
Von Alters her im deutschen Volke war
Der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein.
2. Du bist ein deutsches Kind, so denke dran:
Roch bist du jung, noch ist es nicht zu schwer.
Aus einem Knaben aber wird ein Mann;
Das Bäumchen biegt sich, doch der Bann, nicht mehr.
3. Sprich „ja" und „nein" und dreh' und deutle nicht;
Was du berichtest, sage kurz und schlicht;
Was du gelobest, sei dir höchste Pflicht;
Dein Wort sei heilig, drum verschwend' es nicht!
4. Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran,
Zuerst ein Zwerg, ein Riese hintennach!
Doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an,
Und eine Stimme ruft in dir: „Sei wach!"
5. Dann wach' und kämpf'/ es ist ein Feind bereit:
Die Lüg' in dir, sie drohet dir Gefahr.
Kind! deutsche kämpften tapfer allezeit;
Du deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr! R. Reinlke.
262. Seid ihr der König oder der Bauer?
Es ist nichts lieblicher, als wenn bisweilen gekrönte Häupter sich un-
erkannt zu dem gemeinen Mann herablassen, wie König Heinrich der Vierte
von Frankreich, sei cs auch nur zu einem gutmüthigen Spaß.
Zu König Heinrich des Vierten Zeit ritt ein Bäuerlein vom Lande
her des Weges nach Paris. Nicht mehr weit von der Stadt gesellte sich
zu ihm ein anderer gar stattlicher Reiter, welches der König war, und
sein kleines Gefolge blieb absichtlich in einiger Entfernung zurück. Woher
des Landes, guter Freund? — Da und da her. — Ihr habt wohl Geschäfte
zu Paris? — Das und das, auch möchte ich gern unsern guten König
einmal sehen, der so väterlich sein Volk liebt. — Da lächelte der König
und sagte: Dazu kaun euch heute Gelegenheit werden. — Aber wenn ich
auch nur wüßte, welcher cs ist unter den Vielen, wenn ich ihn sehe! —
Der König sagte: Dafür ist Rath. Ihr dürft nur acht geben, welcher
den Hut allein auf dem Kopfe behält, wenn die Anderen ehrerbietig ihr
Haupt entblöße». — Also ritten sie mit einander in Paris ein, und zwar
das Bäuerlein hübsch auf der rechten Seite des Königs. Denn es kann
nie fehlen: Was die liebe Einfalt Ungeschicktes thun kann, sei cs gute
Meinung oder Zufall, das thut sie. Aber ein gerader und nnverkünstelter
Bauersmann, was er thut und sagt, das thut und sagt er mit ganzer Seele,
352
und sieht nicht um sich, was geschieht, wenn's ihn nicht angeht. Also gab
auch der unsrige dem König auf seine Fragen nach dem Landbau, nach
seinen Kindern, und ob er auch alle Sonntage ein Huhn im Topfe habe,
gesprächige Antwort und merkte lange nichts. Endlich aber, als er doch
sah, wie sich alle Fenster öffneten, und alle Straßen mit Leuten sich füllten,
und alles rechts und links auswich und ehrerbietig das Haupt entblößt
hatte, gieng ihm ein Licht ans. Herr! sagte er, und schaute seinen unbe-
kannten Begleiter mit Bedenklichkeit und Zweifel an, entweder seid ihr der
König oder ich bin's! Da lächelte der König und sagte: Ich bin's. Wenn
ihr euer Rößlein eingestellt und eure Geschäfte besorgt habt, sagte er, so
kommt zu mir in mein Schloß. Ich will euch alsdann mit einem Mittags-
süpplein aufwarten und euch auch meinen Ludwig zeigen.
Von dieser Geschichte her rührt das Sprichwort, wenn jemand in
einer Gesellschaft aus Vergessenheit oder Unverstand den Hut allein auf
dem Kopfe behält, daß man ihn fragt: Seid ihr der König oder der
Bauer? Heber.
263. Der Wegweiser.
Weißt, wo der Weg zum Mehl-
faß geht.
Zum vollen Faß? Im Morgenroth
Mit Pflug und Karst durchs JÄeizenfeld,
Bis Stern an Stern am Himmel steht.
Man schafft, weil's Tag ist, ohne Ruh';
Schaut sich nicht um, bleibt nimmer stehn;
Drauf geht's durch Scheun' und Tenne fort
Dem Brotschrank in der Küche zu.
Weißt du den Weg zum Thaler?
Sieh',
Er geht dem rothen Pfennig nach;
Und wer nicht um den Pfennig sorgt,
Der bringt es auch zum Thaler nie.
Wo geht's zur frohen Sonntags-
zeit?
Folgt immerdar dem Werkeltag,
tut durch die Werkstatt, dort durchs Feld;
ann ist der Sonntag auch nicht weit.
Am Samstag ist er vollends nah.
Was deckt er wohl im Körbchen zu?
Ich denk, ein Pfündchen Fleisch ins Mus,
Wohl auch ein Schöppchen Wein ist da.
Wo gehtderWeg zur Armuth hin?
Schau nach den Wirtshausschildern hin!
Geh nicht vorbei, der Wein ist gut
Und nagelneu die Karten drin.
Im letzten Wirtshaus hängt ein Sack;
Und gehst dil fort, häng dir ihn um!
„Du alter Lump, wie steht so gut.
So zierlich dir der Bettelsack!
Und drin von Holz das Becherlein —
Nimm's wohl in acht, verlier es nicht!
Und wenn du zu dem Wasser kommst
Und trinken magst, so schöpfe drein!"
Wo geht's zum frohen Alter?
sprecht,
Wo ist der Weg zu Ehr' und Ruh?
Grad vor dir hin in Mäßigkeit,
Mit stillem Sinn in Pflicht und Recht.
Und führt zum Kreuzweg dich die Spur,
Und weißt du nicht den rechten Pfad,
So frage beim Gewissen an:
Es kann ja deutsch — ihm folge nur.
Wo ist der Weg zum Leich enstein?
Ach! frage nicht! geh, wo du willst;
Zur stillen Gruft im kühlen Grund
Führt jeder Weg, kannst sicher sein.
In Gottesfurcht nur wandle hier!
Das rath' ich dir, so viel ich kann.
Ein heimlich Pförtchen hat das Grab,
Und manches zeigt es jenseits dir.
Nach Hebel.
264. Der Herbst.
Den September nennt man den Hcrbstmonat. Also wäre in der Nacht
vom letzten August zum September die Scheidewand zwischen Sommer und
Herbst gesetzt! Nimmermehr. Wir wissen ja längst, daß im Laufe eines
Jahres nirgends eine Scheidewand ist. Und wie sollten zumal wir eine
finden, wir, die wir ununterbrochenes Kommen und Gehen der Gestalten
das Jahr hindurch gelernt haben. Ja, wir fühlen wohl das allmähliche
353
Nahen des Herbstes, und am Ende sehen wir ihn da; aber wir wissen
nicht, wann er gekommen und wann der Sommer gegangen ist.
Die letzten Stunden, die wir noch mit dem scheidenden Freunde ver-
leben, sind heilige Weihestunden. Wir haben uns noch so viel zu sagen,
und doch sitzen wir minutenlang neben ihm ohne Worte, als wären wir
nun fertig und sähen fast bereitwillig dem Augenblicke des Scheidens ent-
gegen. Da fällt uns eben ein, daß er ja nun bald nicht mehr da sein
und kein Mensch ihn wieder zurückrufen wird, und wir greifen auf den
tiefsten Grund unseres Herzens, um die kurze Spanne Zeit doch ja ganz
auszufüllen, und — was ist es dann oft, was wir hervorbringen? Schon
zehnmal Gejagtes oder gar das Gleichgültigste. Aber dann ist es ja nicht
der Inhalt, sondern die Miene, der Ton, was den Worten den Werth ver-
leiht. Dann weiß der Freund vom Freunde, daß er jetzt von einem Ge-
danken erfüllt ist; von dem ahnenden Bewußtsein des ersten Augenblickes
nach dem Scheiden.
Ähnliche Empfindungen hat wohl jedes reine Gemüth an einem schönen,
klaren Herbsttage bewegt. Ein solcher gießt über uns das Verständnis des
Scheidens aus. Und das Scheiden ist eine erschütternde Stärkung für das
sittliche Gemüth.
Wenn der Herbst begonnen hat, eilt jeder, der reisen kann und zu
reisen versteht, hinaus, um nun den längst gefaßten und bis jetzt klug hin-
ausgeschobenen Beschluß auszuführen. Die Wärme wird nun nicht mehr
lästig, und der wechselnde Gesichtskreis strahlt erweitert in reinerer Klar-
heit als bisher. Wer dann eine größere Kenntnis der Natur als Be-
gleiterin mitnimmt, als dazu erforderlich ist, einen Laubwald von einem
Nadelholze zu unterscheiden, der darf auf einen Genuß rechnen, den ihm
nur der Herbst zu bieten verniag.
Wir sind auf unseren Wanderungen bisher zwar nicht kalt, aber doch
ohne tieferes Eingehen an den Waldungen vorübergezogen; daß uns im
Frühlinge die Nadelhölzer fesselten, war natürlich; denn das ist die einzige
Zeit, wo sie bildendes Leben, wo sie einiges junges, freudiges Grün zeigen,
während sic außerdem in starrer Einförmigkeit fast erstorben scheinen. Nun
aber kömmt mit schnellen Schritten die Zeit, welche uns nach dem Walde
lockt, welche das grüne Einerlei in bunte Mannigfaltigkeit auflöst.
Die Wärme vermindert sich, und das Leben in der Natur erstirbt
allmählich. Flora streut nur noch einige Blüten über den ersterbenden
Erdboden aus. Von den früheren Botinnen verläßt eine nach der anderen
ihren Platz. Die Thiere suchen einen Zufluchtsort; die einen in wärmerer
Zone, die anderen im bergenden Schoße der Erde, um sich daselbst zu
langem Schlafe niederzulegen. Die einjährigen Gewächse haben ihren
Kreislauf vollbracht und legen ihre Samenkörner als Vermächtnis in den
Schoß der treuen Mutter nieder. Die meisten sehen ihre Kinder nicht.
Nur einige — wer kennt sie nicht — breiten sich bis zum todten Herbste
in zahlreichen Geschlechtern über den Boden aus, den die Hand des Men-
schen für sic, und doch nicht für sie, immer wieder zubereitet. Ich meine
die Unkräuter. Wir alle kennen sie, die unverwüstlichen: das Täschelkraut,
die Biencnsauge, das Kreuzkraut, das einjährige Rispengras und den
Hühnerdarm. Sie lassen sich zuletzt selbst durch den eisigen Hauch des
23
354
hereinbrechenden Winters nicht immer tödten, sondern harren unter der
Schneedecke einstweilen in Geduld, bis der warme Odem des Lenzes sie
aufruft, ihren Lebensfadcn wieder fortzuspinnen.
Zuletzt wird das Zögern des Herbstes dem Winter unbequem. Die
Geduld reißt ihm aus, und da ihm die Sonne noch nicht erlaubt, die
Herrschaft anzutreten, so überspringt er die Schranke unter dem Schutze
der Nacht, und obgleich er am Morgen von der Siegerin wieder vertrieben
wird, so gelang es ihm doch, über Nacht Unheil anzurichten. Dann sehen
wir die eingewanderten Söhne, die Georgine, die gestern noch mit ihrer
Blumcnpracht die einheimische Pflanzenwelt an Lcbensenergie übertraf, als
welke Leiche erfroren zusammenbrechen; und wenn dann auch nicht selten
noch wochenlang der Herbst wiederum unangefochten von seinem rauhen
Dränger bleibt, so fehlt ihm doch die Macht, die Getödtcten wieder zu
beleben.
Den Anfang des Herbstes müssen wir in die Zeit setzen, wo der Laub-
fall anfängt, die Wipfel sich merklich lichten, wobei aber die zufällige Wit-
terung stets von beschleunigendem oder verzögerndem Einflüsse sein wird.
Einen wesentlichen Charakter des Herbstes müssen wir aber vor allem
in der Bildung der Knospen der Bäume finden. Wenn wir die festen,
rothwangigen Früchte des Apfelbaumes geerntet haben, so fallen ihnen dann
die Blätter bald nach, und neben ihrer verlassenen Stelle am Zweige steht
die Knospe, die Anlage zu einer neuen Frucht im nächsten Jahre. Die
von der süßen Last zu Boden gezogenen Zweige richten sich erleichtert wieder
empor, und das geübte Auge unterscheidet dann schon von weitem von dem
noch fruchtbeladencn Baume den entleerten, auch wenn am ersteren die
Früchte nicht sichtbar sind. R°ß,„ä,il-r.
265. Herbftlied.
Ich sah den Wald sich färben,
Die Luft war grau und stumm;
Mir war betrübt zum Sterben,
Und wußt' es kaum, warum.
Durchs Feld vom Herbstgestäude
Hertrieb das dürre Laub;
Da dacht' ich: deine Freude
Ward so des Windes Raub.
Dein Lenz, der blütenvolle,
Dein reicher Sommer schwand;
An die gefrorne Scholle
Bist du nun festgebannt.
266.
Bunt sind schon die Wälder,
Gelb die Stoppelfelder,
Und der Herbst beginnt;
Rothe Blätter fallen,
Graue Nebel wallen.
Kühler weht der Wind.
Wie die volle Traube
Aus dem Rebenlaube
Purpurfarbig strahlt!
Da plötzlich floß ein klares
Getön in Lüften hoch;
Ein Wandervogel war es,
Der nach dem Süden zog.
Ach! wie der Schlag der Schwingen,
Das Lied ins Ohr mir kam,
Fühlt' ich's wie Trost mir dringen
Zum Herzen wundersam.
Es mahnt' aus heller Kehle
Euch ja der flücht'ge Gast:
Vergiß, o Menschenseele,
Nicht, daß du Flügel hast!
E. Gelb el.
Herbftlied.
Am Geländer reifen
Pfirsiche, mit Streifen
Roth und weiß bemalt.
Sieh! wie hier die Dirne
Emsig Pflaum' und Birne
In ihr Körbchen legt,
Dort mit leichten Schritten
Jene gold'ne Quitten
In den Landhof trägt!
— -----------|—i----j---------j j ■ - ■ ■ - ■■■ ' ■ ' ■ RS ' 7 ’ R
355
Flinke Träger springen,
Und die Mädchen singen,
Alles jubelt froh.
Bunte Bänder schweben
Zwischen hohen Reben
Auf dem Hut von Stroh.
Geige tönt und Flöte
Bei der Abendröthe
Und im Mondenglanz;
Junge Winzerinnen
Winken und beginnen
Deutschen Ringeltanz.
267. Der Kiebitz.
Der Kiebitz gehört zu den Sumpfvögeln; denn erstens lebt er überall,
wo er sich findet, auf feuchten, sumpfigen Wiesen, und zweitens hat er
ziemlich lange Füße, die über der Fußbcugc noch eine Strecke weit nackt
sind. Sein Gefieder ist schön, an der Kehle und Brust tief schwarz, am
Bauche weiß, auf dem Rücken dunkelgrün und bronccfarbcu glänzend. Den
Kopf ziert ein ziemlich langer Federbusch.
Wer gern bunte Kleider trägt, pflegt heiterer und beweglicher Natur
zu sein. Bei unserm Kiebitz trifft das auch zu. Wer Gelegenheit gehabt
hat, ihn zu beobachten, der wird gesehen haben, daß er unaufhörlich, bald
fliegend, bald laufend, in Bewegung ist, bei Mondenschein sogar des Nachts.
Er läuft sehr schnell und fliegt so vorzüglich, daß er die schwierigsten Wen-
dungen mit der größten Geschicklichkeit auszuführen vermag. Während des
Fliegens läßt er sein lautes „Kiewit" hören, besonders wenn man sich
seinem Neste nähert. Droht ihnen zur Zeit, wo sie Eier oder Junge
haben, Gefahr, so zeigen sic sich muthig und listig; Krähen, welche ihrem
Neste zu nahe kommen, erhalten heftige Schnabelstöße, und Hunde werden
durch das Geschrei, in welches alle in der Nähe wohnenden mit einstimmen,
erschreckt und in die Flucht gejagt. Um das Nest nicht zu verrathen, fliegt
das Weibchen nicht sogleich auf, wenn sich jemand nähert, sondern läuft
erst in geduckter Stellung eine weite Strecke fort und erhebt sich dann
schreiend. Bleibt man in der Nähe des Nestes, so wird man vom Männ-
chen und Weibchen unaufhörlich fliegend umkreist, und durch lautes und
klägliches Geschrei um Schonung angerufen.
Die Kiebitzeier sind groß, fast birnförmig, olivcnfarbig, schwarz und
braun gefleckt und schmecken sehr gut.
356
Als Nahrung dienen dem Kiebitz vorzüglich Insecten, Regenwürmer
und Schnecken. Da diese Thiere im Winter bei uns nicht leicht zu haben
sind, so verläßt der Kiebitz im Herbst Deutschland und begibt sich nach
den wärmeren Theilen Europas, kehrt jedoch schon im März wieder zurück.
A. Lüben.
268. Frau Holle.
Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig,
die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil
sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit
thun und war recht der Aschenputtel im Hause. Das arme Mädchen mußte
sich täglich hinaus auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und so
viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es
sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war; da bückte es sich damit
in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der
Hand und fiel hinab. Weinend lief es zur Stiefmutter und erzählte ihr
das Unglück; die schalt es heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach:
„Hast du die Spule hinuntersallen lassen, so hol' sie auch wieder herauf!"
Da gieng das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht, was es
anfangen sollte, und sprang in ihrer Angst in den Brunnen hinein, um die
Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und
wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, da schien die
Sonne und waren viel tausend Blumen. Auf der Wiese gieug cs fort und
kam zu einem Backofen, der war voll Brot; das Brot aber rief: „Ach,
zieh mich 'raus, sonst verbrenn' ich, ich bin schon längst ausgcbackcn!" Da
trat es fleißig hinzu und holte alles heraus. Darnach gieng es weiter und
kam zu einem Baum, der hieng voll Äpfel und rief ihr zu: „Ach, schüttle
mich, schüttle mich, wir „Äpfel sind alle mit einander reif!" Da schüttelte
es den Baum, daß die Äpfel fielen, als regneten sie, und schüttelte so lange,
bis keiner mehr oben war; darnach gieng es weiter. Endlich kam es zu
einem kleinen Hause, daraus guckte eine alte Frau; weil sie aber so große
Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau
aber rief ihm nach: „Fürcht' dich nicht, liebes Kind! Bleib' stei mir; wenn
du alle Arbeit im Hause ordentlich thun willst, so soll dir's gut gehen; nur
mußt du acht geben, daß du mein Bett gut machst und cs fleißig auf-
schüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es auf der Welt; ich bin die
Frau Holle!" Weil die Alte ihm so gut zusprach, willigte das Mädchen
ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch alles nach ihrer Zu-
friedenheit und schüttelte ihr das Bett immer gewaltig auf; dafür hatte es
auch ein gutes Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage Gesottenes
und Gebratenes.
Nun war es eine Zeit lang bei der Frau Holle; da ward es traurig
in seinem Herzen, und ob es hier gleich viel tausendmal besser war, als
zu Hause, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte es zu ihr:
„Ich habe den Jammer nach Haus gekrigt, und wenn es mir hier auch
noch so gut geht, so kann ich doch nicht länger bleiben." Die Frau Holle
sagte: „Es gefällt mir, daß du wieder nach Haus verlangst, und weil du
mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinauf bringen."
357
Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Thor.
Das ward aufgethan, und als das Mädchen darunter stand, fiel ein ge-
waltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über
und über davon bedeckt war. ..Das sollst du haben, weil du so fleißig
gewesen bist!" sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule wieder,
die ihm in den Brunnen gefallen war. Darauf ward das Thor verschlossen,
und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner
Mutter Hause; und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem
Brunnen und rief: „Kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!" Da
gieng es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam,
ward es gut aufgenommen.
Als die Mutter hörte, wie es zu dem Reichthum gekommen war,
wollte sie der häßlichen und faulen Tochter dasselbe Glück verschaffen. Sie
mußte sich an den Brunnen setzen und spinnen; und damit ihre Spule
blutig ward, stach sie sich in die Finger und zerstieß sich die Hand an der
Dornhecke. Darnach warf sie die Spule in den Brunnen und sprang
selber hinein. Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese und gieng
auf demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das
Brot wieder: „Ach zieh mich 'raus, zieh mich 'raus, sonst verbrenn' ich,
ich bin schon längst ausgebackcn!" Die Faule antwortete: „Da hätt' ich
Lust, mich schmutzig zu machen!" und gieng fort. Bald kam sie zu dem
Apfelbaum, der rief: „Ach, schüttle mich, schüttle mich, wir Äpfel sind alle
mit einander reif." Sie antwortete: „Du kommst mir eben recht, es
könnte mir einer auf den Kopf fallen!" und gieng damit weiter. Als sie
vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren
großen Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich gleich zu ihr. Am
ersten Tage that sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle,
wenn sie ihr etwas sagte; denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr
schenken würde. Am zweiten Tage ficng sie schon an zu faulenzen; am
dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht aufstehen. Sie machte
auch der Frau Holle ihr Bett schlecht und schüttelte es nicht, daß die Federn
aufflogen. Das ward die Frau Holle bald müde und sagte der Faulen
den Dienst auf. Die war cs wohl zufrieden und meinte, nun würde der
Goldregen kommen. Die Frau Holle führte sic auch zu dem Thor; als
sic aber darunter stand, ward statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech
ausgeschüttet. „Das ist zur Belohnung deiner Dienste!" sagte die Frau
Holle und schloß das Thor zu. Da kam die Faule heim und war ganz
mit Pech bedeckt; und der Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief:
„Kikeriki, unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie!" — Das Pech aber
blieb an ihr hängen und wollte, so lange sie lebte, nicht abgehen.
Brüder Grimm.
269. Der Schnitter Tod.
1. Es ist ein Schnitter, heißt der Tod,
Der hat Gewalt vom höchsten Gott;
Heut wetzt er das Messer,
Es schneidt schon viel besser;
Bald wird er drein schneiden,
Wir müssen's nur leiden.
Hüte dich, schön's Blümelein!
2. Was heut noch grün und frisch dasteht,
Wird morgen schon hinweggemäht:
Tie edle Narzisse,
Die himmlische Schlüssel,
Die schön' Hyacinthen,
Die türkischen Binden.
Hüte dich, schön's Blümelein!
358
3. Viel hunderttausend ungezählt,
Was nur unter die Sichel fällt:
Roth' Rosen, weiß Liljen,
Beid' wird er austilgen,
Und ihr Kaiserkronen,
Man wird euch nicht schonen!
Hüte dich, schön's Blümelein!
4. Das Himmelfarbe Ehrenpreis,
Die Tultpanen, gelb und weiß,
Die silbernen Glocken,
Die goldenen Flocken,
Senkt alles zur Erden!
Was wird nur draus werden?
Hüte dich, schöns Blümelein!
5. Ihr hübsch' Lavendel und Rosmarein,
Ihr vielfarbige Röselein,
Ihr stolze Schwertlilien,
Ihr krause Basiljen,
Ihr zarte Violen,
Man wird euch bald holen!
Hüte dich, schön's Blümelein!
6, Trotz, Tod! komm her, ich fürcht'
dich nit!
Trotz, eil' daher in einem Schnitt!
„Wenn Sichel mich letzet,
So werd' ich versetzet
In den himmlischen Garten,
Darauf will ich warten.
Freue dich, schön's Blümelein!
Volkslied, mitgetheilt ron Ludwig (Sr!
270. TaS erste und das zweite Kartosfetgericht.
Die Kartoffel kam erst vor etlichen hundert Jahren aus Amerika zu uns. Und
fast hätte sie der Freund von Franz Drake (sprich: Drehk'), dem dieser aus Amerika
Kartoffeln zur Aussaat schickte und dazu schrieb: die Frucht dieses Gewächses'sei so
vortrefflich und nahrhaft, daß er ihren Anbau für sein Vaterland für höchst nützlich
halte, aus seinem Garten wieder herausreißen und wegwerfen lassen. Denn er dachte,
Franz Drake habe niit dem Worte Frucht die Samenknollen gemeint, die oben am
Kraute hangen. Da es nun Herbst war, und die Samenknollen waren gelb,
lud er eine Menge vornehmer Herren zu einem Gastmahle ein, wobei cs hoch hergieng.
Am Ende kam auch eine zugedeckte Schüssel, und der Hausherr stand auf und hielt
eine schöne Rede an die Gäste, in welcher er sagte, er habe hier die Ehre, ihnen eine
Frucht mitzutheilen, zu der er den Samen von seinem Freunde, dem berühmten Drake,
mit der Versicherung erhalten hätte, daß ihr Anbau für England höchst wichtig werden
könne. Die Herren kosteten die Frucht, die in Butter gebacken und mit Zucker und
Zimmt bestreut war; aber sie schmeckte abscheulich, und es war nur schade um den
Zucker, Darauf urtheilten sie alle, die Frucht könne wohl für Amerika gut sein, aber
in England werde sie nicht reif. Da ließ denn der Gutsherr einige'Zeit nachher
die Kartosfelsträucher herausreißen und wollte sie wegwerfen lassen.
Aber eines Morgens, im Herbste, gieng er auch durch seinen Garten und sah
in der Asche eines Feuers, das sich der Gärtner angemacht hatte, schwarze, runde
Knollen liegen. Er zertrat eine, und siehe, die duftete so lieblich, wie eine gebratene
Kartoffel, Er fragte den Gärtner, was das für Knollen wären: und der sagte
ihm, daß sie unten an der Wurzel des fremden amerikanischen Gewächses gehangen
hätten. Nun gieng dem Herrn erst das rechte Licht auf. Er ließ die Knollen sammeln,
zubereiten und lud dann die Herren wieder zu Gaste, wobei er wohl wieder eine
Rede gehalten haben mag, von welcher der Inhalt der gewesen sein wird, daß der
Mensch, wenn er bloß nach dem urtheilt, was oben an der Oberfläche ist, und nicht
auch noch tiefer gräbt, manchmal gar sehr irren könne, Schubert,
271. Frühlinftsgrust.
1. Leise zieht durch mein Gemüth
Liebliches Geläute,
Klinge, kleines Frühlingslied,
Kling hinaus ins Weite,
2. Kling hinaus bis an das Haus,
I Wo die Blumen sprießen;
j Wenn du eine Rose schaust,
I Sag, ich laß sie grüßen, H, Heine,
272. Morgenwanderung.
l. Wer recht in Freuden wandern
will,
Der geh der Sonn entgegen:
Da ist der Wald so kirchenstill,
Kein Lüftchen mag sich regen;
Noch sind nicht die Lerchen wach,
Nur im hohen Gras der Bach
Singt leise den Morgensegen,
359
2. Die ganze Welt ist wie ein Buch,
Darin uns aufgeschrieben
In bunten Zeilen manch ein Spruch,
Wie Gott uns treu geblieben;
Wald und Blumen nah und fern
Und der Helle Morgenstern
Sind Zeugen von seinem Lieben.
3. Da zieht die Andacht wie ein Hauch
Durch alle Sinnen leise,
Da pocht ans Herz die Liebe auch
In ihrer stillen Weise,
Pocht und po'cht, bis sich's erschließt
Und die Lippe überfließt
Von lautem, jubelndem Preise,
4. Und plötzlich läßt die Nachtigal
Im Busch ihr Lied erklingen,
In Berg und Thal erwacht der Schall
Und will sich aufwärts schwingen:
Und der Morgenröthe Schein
Stimmt in lichter Glut mit ein:
Laßt uns dem Herrn lobsingen!
E. Geibel.
273. Lianen und Schlingpflanzen der Urwälder.
Die Lianen und Schlingpflanzen bekränzen und schmücken für den Ein-
tretenden die hohen Tempelpforten und Hallen der herrlichen Urwelt Süd-
amerikas mit zierlichen Laub- und Blumengewinden, auf welchen neckische
Affen und fchönfarbige Vögel sich schaukeln, oder sie wehren und versperren
mit ihren festgewundenen Stricken und gegliederten Ketten — an welchen
die Tigerkatze in Verfolgung ihres Raubes oder auf der Flucht vor ihren
Verfolgern die Wipfel der Bäume erklettert — der zudringlichen Neugier
den Eingang. Unser rankender Hopfen und unsere Weinrebe erinnern eben
nur an diese Pflanzengcstaltcn der Tropenwelt, welche deshalb um so
mehr die staunenden Blicke des Ankömmlings fesseln, frier sind es blatt-
lose Seile — Bauhinicn oft von 10—12 m Länge — welche einfach oder
über einander gedreht, wie Schiffstaue, von den Stämmen und Ästen der
Urwaldung nach dem Boden hin ausgespannt und festgewurzelt sind; —
dort hängen andere Stränge und dünnere Schnüre herab, die den Grund
noch nicht erreicht haben und zwischen dem bewegten Laube hin und her
schwanken. Eine andere Form, selbst zum Baume erwachsen, gewaltiger
als er, wie au Masse, so auch an Bildnngstrieb, verschmäht die Bestimmung,
den uralten Stämmen eine Stütze zu bieten, und wird vielmehr deren un-
versöhnlicher Feind. In kühnen Verschlingungen hat sic den saftigen Lor-
beerbaum oder die ungeheuere Bertholletia umgürtet, und indem sie sich
von Jahr zu Jahr weiter über den geduldigen Baum ausbreitet, droht sie,
die Wege des Lebenssaftes zu hemmen und ihn endlich zu tödtcn. Einem
andern Schlingbaume ist dies bereits gelungen: der überwundene Stamm,
von rascher Fäulnis ergriffen, ist umgefallen und steht nun, ein abenteuer-
liches Gespenst, schräg aufgerichtet oder vielmehr aufgehängt, im moderigen
Dunkel der Waldung. Die erregte Einbildung erblickt in solchen Aus-
geburten des pflanzlichen Bildungstriebes bald riesenhafte Schlangen, bald
andere gefräßige Ungeheuer in diese schaucrvolle Einsamkeit gebannt. Und,
in der That, keine Gattung scheint so sehr von der friedfertigen Weise des
sittsamen Pflanzenreiches abzuweichen, als diese tödtlicheu Lianen, die an-
fänglich in ihren friedlichen Nachbarn nur Stützen zu suchen scheinen, dann
sich geftäßig über ihre Oberfläche ausbreiten und, in verderblicher Zu-
neigung sie enger und enger umgürtend, ihnen die Säfte und das Leben
aussaugen. Die Entwickelung dieser Art von Schlingpflanzen ist in einer
ganz eigenthümlichen Lebensart begründet. Anfänglich wachsen sie als
schwache Gesträuche lothrecht auf; sobald sie aber an einem andern Baume
360
eine Stütze erreicht haben, so verlassen sie den ursprünglichen Weg der Er-
nährung und werden Schmarotzer (Parasiten), die, sich unmittelbar über
die Oberfläche des andern Stammes ausgießend und nach ihr sich modelnd,
fortan vorzugsweise von diesem und endlich fast gar nicht mehr durch die
eigene Wurzel sich ernähren. Wenn sonst die gesetzmäßige Entwickelung
eines Stammes erheischt, daß er sich concentrisch nach allen Richtungen
gleichmäßig in die Dicke ausdehnt, so wohnt diesen Stämmen der sonder-
bare Trieb inne, überall da, wo sie durch Berührung gereizt werden, sich
der Rinde zu entledigen und sich über den fremdartigen Körper nach und
nach gleichmäßig, wie Flüssiges, auszudehnen. So verfließen allmählich so-
gar die einzelnen Äste des Parasiten mit einander. Ist auf diesem Wege
die Kraft der ursprünglichen Wurzel geschwächt worden, so ersetzt sich der
Stamm das Verlorene dadurch wieder, daß er neue Wurzeln (Luftwurzeln)
herab zur Erde sendet, und so gewinnt dieses zähe, lebenskräftige Geschlecht
zum Verderben der Nachbarn immer neue Ausdehnung und Stärke. Große
Blumen von üppiger Färbung und glänzendes, saftgrünes Laub erhöhen bei
sehr vielen die Eigenthümlichkeit dieser Gewächse; und wo sie, zu Massen
ausgebildet, anderen Stämmen und Baumkronen gleichsam einen fremden
Baumschlag einimpfen, sind sie von mächtiger Wirkung in dem Helldunkel
des tropischen Waldes. Sowohl diesen Schlingpflanzen, als auch den feind-
seligen Parasiten, welche mit ihnen gemeinschaftlich die größeren Bäume oft
ganz überziehen und endlich zerstören, kommen besonders häufig gefärbte
oder milchichte Säfte zu, die auf de» thierischen Körper bald als scharfe,
bald als betäubende Gifte wirken und nur selten ganz unschädlich sind.
Es ist daher gefährlich, sich in den Windungen dieser bei der Verwundung
milchenden Buschtaue zu verwickeln: schmerzhafte Geschwulst der Glieder
entsteht bisweilen, und ins Auge geträufelt, haben solche Säfte oft schon
Blindheit bewirkt . . . Diese Gewächsform ist es daher auch vor allen
andern, welche sich bis jetzt der genaueren Kenntnis der Botaniker entzogen
hat; denn theils erscheinen Blätter, Blüten und Früchte nur selten an den-
selben, theils macht es die Verschlingung zwischen dem benachbarten Laub-
werke oft ganz unmöglich, die einzelnen Bildungen zu entwirren und zu
unterscheiden. Und wenn auch wirklich die Liane in schwindelnder Höhe
unter der Krone eines mächtigen Baumes ihre Blätter und Blüten ent-
faltet hat — was man oft nur durch die Luchsaugen des begleitenden In-
dianers entdeckt —, so gibt es kein Mittel, zu ihr emporzusteigen; denn
selbst der kühnste Sohn des Waldes fürchtet die bösen Ausdünstungen und
Säfte des Schlinggewächses, an welchem er sonst wohl mit Gewalt empor-
klimmen könnte, die benachbarten Bäume aber starren von Stacheln oder
wimmeln von Ameisen, deren bösartigen Bissen Geschwulst und Fieber
folgen. Versucht man es aber, die Ranken hcrabzureißcn, so erfährt man
bald, wie eitel diese Anstrengung sei; denn in ungeheurer Ausdehnung hat
sich das wuchernde Buschtan durch die benachbarten Wipfel verschlungen,
und das gespannte Laubgewölbe wird auch von vieler Menschen Gewalt
kaum in Bewegung gesetzt. Selbst die Wuth des Orkans versucht sich ver-
gebens an diesem dicht verbundenen Blätterbaue.
Es gibt endlich noch eine Form von Schlingpflanzen, den Ranken-
gewächsen ähnlich, welche sich in nördlicheren Breiten zu Hecken vereinigen,
361
ober in bas Unterholz ber Walbungen verflechten. So wie ber wilbe Wein-
stock, ber Hopfe», bie Zaunrübe, bie Trichterwinden in ber europäischen
Landschaft eine malerische Rolle übernehmen, treten in Amerikas Tropen-
länbern eine Unzahl rankenber Gestalten ans, unb bie Schattirungen ihres
vielförmigen Laubes, bie Pracht ihrer feuriggefärbten unb wohlriechenden
Blüten verleiht ber Gegend ganz vorzüglich jenen Ausbruck von Fülle unb
Reichthum, ben heiße Länder vor anderen voraus haben. Wer mag sie alle
nennen, diese üppigen Kinder einer schöpferischen Sonne, die Passionsblumen,
auf deren Blüte jede Farbe verschwendet ist, die honigduftenden Paullinien
mit zartem, vielgefiebertem Lande, die Bougainvilläen mit rosenrothen Blüten-
trauben, die Aristolochien (Osterluzei), deren düstergefärbte Blnmen über
das gewöhnliche Maß bis zum Ungeheuren ausgedehnt sind, die zahllosen
Arten von Winden, von Kürbispflanzen, Bignonien und vielen anderen,
deren Blumen wie Sterne über das Laub ausgestreut sind und sich bald,
Parasiten ähnlich, über Stämme hinziehen, bald zu dichten Gehegen und
Guirlanden verschlingen und mit der Einfalt der Natur kunstreiche Wände
und Tapeten wirken, in denen sich die fröhlichen Sänger des Waldes bergen.
Kurz, in diesem bunten Gewirre von Formen hat die Schöpferkraft alle
Stufen der Rankenbildung dargestellt: vom dünnsten Faden, der sich am
Ende eines Blattes schraubenförmig zusammenrollt, bis zum Baum, dessen
gewaltige Äste gleich Riesenarmen den Nachbar umschlingen. Markus.
274.
Heil'ger Tempel ist der Wald!
Schlanke Türm' im Abcndstrahl
Winken goldig in das Thal;
Opfer-Wohlgerüche wallen
Aus der Thore Säulenhallen,
Und der ernste Dämmerschein
Ruft zur Andacht uns herein.
Heil'ger Tempel ist der Wald!
Säulenreihen, hundertfach,
Heben sein lebendig Dach;
Blumenteppich', Kranzgehänge
Ter Wald.
Weben sich durch alle Gänge,
Und in seine Fenster bricht
Himmelblau und Rosenlicht.
Heil'ger Tempel ist der Wald!
Wo der Odem Gottes schwebt,
Wann kein Odem sich erhebt:
Wann sich leis' die Lüfte schwingen,
Lieder mannigfach erklingen:
Oder wann das Heiligthum
Sturm erfüllt mit Preis und Ruhm.
Emanuel Fröhlich.
275. ver deutsche Jägerbursche.
Ein in Polen wohnender, deutscher Unterförster sandte eines Abends seinen
Sohn, einen vierzehnjährigen Burschen, auf ein benachbartes Dorf. Als der Knabe
wieder nach Hause gieng und kaum noch 300 Schritt von der väterlichen Wohnung
entfernt war, sah er etwas auf dem Wege sitzen, das er anfänglich für einen
Hund hielt. Der Mond warf sein falbes Licht auf den Weg; der Schnee fiinkerte;
es war eine entsetzliche Kälte. Der Bursche trat noch einige Schritte vorwärts
und erkannte einen Wolf. In der Jugend hatte er oft erzählen hören, dass, wenn
man von einem Bären verfolgt werde, es rathsam sei, sich auf die Erde zu werfen
und sich todt zu stellen. In der Angst verwechselte er dies, meinte, sein Leben
sei auch gegen den Wolf auf diese Weise gesichert, und warf sich platt auf die
Erde. Der Wolf näherte sich augenblicklich mit langsamen, bedächtigen Schritten,
stand vor ihm still und schnoberte forschend. Der Bursche rührte kein Glied.
Jetzt umgieng ihn der Wolf, stand dann unten bei den Füssen still und fieng an,
ihn zu beriechen und hier und da mit der Schnauze zu bestossen. Ueberall traf
er auf Kleidungsstücke. Er rückte immer höher und höher nach dem Kopfe
362
herauf und kam ans Genick, an das erste Fleisch. Er leckte, er schnoberte und
kniff mit den Lippen (das Wasser lief ihm dabei aus dem Rachen) dem Burschen
in die ^Halsbinde. Das Lecken wurde lebhafter, das Schnobern heftiger, gieriger;
Der Wolf trat jetzt mit einem Fusse über, so dass er den Hals des Burschen
zwischen seinen Vorderklauen hatte.
„Jetzt Tod oder Leben!“ dachte der Bursche. Schnell wie der Blitz fasfite
er den Wolf bei beiden Vorderklauen und zog ihn fest an sich, dass er nicht
Raum genug behielt, um mit den Zähnen eingreifen zu können. Die Schnauze
lag dicht an der linken Backe des Burschen, die scharfe Zunge Meng neben dem
Munde des letztem; der Wolf röchelte, als ob ihm die Kehle zugedrückt würde,
und kratzte mit seinen Hinterklauen die Waden des Burschen durch Stiefeln und
Strümpfe blutig.
„Vater, Vater!“ rief der Bursche, als er glücklich an der Hofthür angelangt
war, „Vater, Vater! um Gotteswillen! Vater“, wiederholte er in schrecklicher
Angst, denn niemand hörte; die Thür war inwendig verriegelt, im Hause schlief
alles. Er war erschöpft. Pochen konnte' er nicht; er hatte keine Hand frei.
Mit dem Fusse traute er nicht an die Thür zu stossen, weil er fürchtete, das
Gleichgewicht zu verlieren und umzufallen. Endlich rannte er rückwärts seinen
Freund Wolf gegen die Thür. Der Wolf knirschte. Da schlugen alle Hunde im
Hofe an, und in dem Augenblicke waren alle auf dem Platze. „Vater!“ rief
"der Bursche durch das Hundegebell hindurch, „um Gotteswillen mach’ auf! ich
habe einen Wolf — lebendig!“ Jetzt hörte der alte Unterförster, und die sorg-
same Mutter war schon unten im Hause und öffnete die Thür. Auch der Vater
war nun schon herbeigesprungen und stand mit einer geladenen Büchse im An-
schlage. „ScMess nicht!“ rief ihm der Sohn zu, „ich habe ihn ja auf dem Rücken.
Nur die Scheune aufgemacht!“ Er stellte sich mit dem Rücken gegen die
Scheunenthür und warf den Wolf mit einem Ruck auf die Tenne. Hier erwarteten
die Hunde den Gefangenen, doch biss er drei derselben zu Schanden. Eine Kugel
endete sein Leben. * Melos.
276.
1. Im Wald und auf der Heide,
Da such' ich meine Freude,
Ich bin ein Jägersmann;
Den Wald und Forst zu hegen,
Das Wildpret zu erlegen,
Hab' meine Freude dran.
Hallt, hallo! hallt, hallo!
Hab' meine Freude dran.
2. Das Huhn im schnellen Fluge,
Die Schneps' im Zickzackzuge
Treff' ich mit Sicherheit.
Die Sauen, Reh' und Hirsche
Erleg' ich auf der Birsche,
Der Fuchs läßt mir sein Kleid.
Halli, hallo! halli, hallo!
Der Fuchs läßt mir sein Kleid.
3. Kein Heller in der Tasche,
Ein Schlückchen aus der Flasche,
Ein Stückchen schwarzes Brot,
Den treuen Hund zur Seite,
Jägerlicd.
Wenn ich den Wald durchschreite,
Dann hat es keine Noth.
Halli, hallo! halli, hallo!
Dann hat es keine Noth.
4. So zieh' ich durch die Wälder,
So eil' ich durch die Felder
Wohl hin den ganzen Tag;
Dann fliehen meine Stunden
Gleich flüchtigen Sekunden,
Eil' ich dem Wilde nach.
Hallt, hallo! halli, hallo!
Eil' ich dem Wilde nach.
5. Wenn sich die Sonne neiget,
Der düstre Nebel steiget,
Das Tagwerk ist gethan:
j Dann kehr' ich von der Heide
| Zur häuslich stillen Freude,
j Ein frommer Jägersmann.
Halli, hallo! halli, hallo!
Ein frommer Jägersmann.
W. Bornemann.
277. Die Schlacht bei Lützen.
(16. Nov. 1632.)
Endlich erscheint der gefürchtete Morgen; aber ein undurchdringlicher
Nebel, der über das ganze Schlachtfeld verbreitet liegt, verzögert den An-
363
griff noch bis zur Mittagsstunde. Vor der Fronte knieend, hält der König
seine Andacht; die ganze Armee, auf die Kniee hingestürzt, stimmt zu gleicher
Zeit ein rührendes Lied an, und die Feldmusik begleitet den Gesang. Dann
steigt der König zu Pferde, und bloß mit einem ledernen Koller und einem
Tuchrock bekleidet (eine vormals empfangene Wunde erlaubte ihm nicht
mehr, den Harnisch zu tragen), durchreitet er die Glieder, den Muth der
Truppen zu einer frohen Zuversicht zu entflammen, die sein eigener,
ahnungsvoller Busen verleugnet. „Gott mit uns!" war das Wort der
Schweden; das der Kaiserlichen: „Jesns Maria!" Gegen elf Uhr fängt
der Nebel an, sich zu zertheilen, und der Feind wird sichtbar. Zugleich
sieht man Lützen in Flammen stehen, auf Befehl Wallenstein's in Brand
gesteckt, damit er von dieser Seite nicht überflügelt würde. Jetzt tönt die
Losung, die Reiterei sprengt gegen den Feind, und das Fußvolk ist im An-
marsch gegen die Gräben.
Von einem fürchterlichen Feuer der Musketen und des dahinter ge-
pflanzten groben Geschützes empfangen, setzen diese tapfern Bataillone mit
unerschrockenem Muth ihren Angriff fort, die feindlichen Musketiere ver-
lassen ihren Posten, die Gräben sind übersprungen, die Batterie selbst wird
erobert und sogleich gegen den Feind gerichtet. Sie dringen weiter mit
unaufhaltsamer Gewalt; die erste der fünf friedländischen Brigaden wird
niedergeworfen, gleich darauf die zweite, und schon wendet sich die dritte
zur Flucht; aber hier stellt sich der schnell gegenwärtige Geist des Herzogs
ihrem Andrang entgegen. Mit Blitzcsschnelligkeit ist er da, der Unordnung
seines Fußvolkes zu steuern, und seinem Machtwort gelingt's, die Fliehen-
den zum Stehen zu bewegen. Von drei Cavallcricrcgimcntern unterstützt,
machen die schon geschlagenen Brigaden aufs neue Front gegen den Feind
und dringen mit Macht in seine zerrissenen Glieder. Ein- mörderischer
Kampf erhebt sich, der nahe Feind gibt dem Schießgewehr keinen Raum,
die Wuth des Angriffs keine Frist mehr zur Ladung, Mann ficht Mann
gegen Mann, das unnütze Feuerrohr macht dem Schwert und der Pike Platz,
und die Kunst der Erbitterung. Überwältigt von der Menge, weichen
endlich die ermatteten Schweden über die Gräben zurück, und die schon
eroberte Batterie geht bei dicsein Rückzug verloren. Schon bedecken
tausend verstümmelte Leichen das Land, und noch ist kein Fuß breit Erde
gewonnen.
Indessen hat der rechte Flügel des Königs, von ihm selbst angeführt,
den linken des Feindes angefallen. Schon der erste machtvolle Andrang
der schweren finnländischen Kürassiere zerstreute die leicht berittenen Polen
und Kroaten, die sich an diesen Flügel anschlossen, und ihre unordentliche
Flucht theilte auch der übrigen Reiterei Furcht und Verwirrung mit. In
diesem Augenblick hinterbringt man dem König, daß seine Infanterie über
die Gräben zurückweiche und auch sein linker Flügel durch das feindliche
Geschütz von den Windmühlen aus furchtbar geängstigt und schon zum
Weichen gebracht werde. Mit schneller Besonnenheit überträgt er dem
General von Horn, den schon geschlagenen linken Flügel des Feindes zu
verfolgen, und er selbst eilt an der Spitze des Stenbock'schcn Regiments
davon, der Unordnung seines eigenen linken Flügels abzuhelfen. Sein edles
Roß trägt ihn pfeilschnell über die Gräben; aber schwerer wird den nach-
364
folgenden Schwadronen der Übergang, und nur wenige Reiter, unter denen
Franz Albert, Herzog von Sachsen-Lauenburg, genannt wird, waren behend
genug, ihm zur Seite zu bleiben. Er sprengte gerades Wegs demjenigen
Orte zu, wo sein Fußvolk am gefährlichsten bedrängt war, und indem er
seine Blicke umhersendet, irgend eine Blöße des feindlichen Heeres auszu-
spähen, auf die er den Angriff richten könnte, führte ihn sein kurzes Gesicht
zu nahe an dasselbe. Ein kaiserlicher Gefreiter bemerkt, daß dem Vorüber-
sprengenden alles ehrfurchtsvoll Platz macht, und schnell befiehlt er einem
Musketier, auf ihn anzuschlagen. „Auf den dort schieße", ruft er, „das
muß ein vornehmer Mann sein!" Der Soldat drückt ab, und dem König
wird der linke Arm zerschmettert. In diesem Augenblicke kommen seine
Schwadronen daher gesprengt, und ein verwirrtes Geschrei: „Der König
blutet —■ der König ist erschossen!" breitet unter den Ankommenden Schrecken
und Entsetzen aus. „Es ist nichts — folgt mir!" ruft der König, seine
ganze Stärke zusammenraffend; aber überwältigt von Schmerz und der
Ohnmacht nahe, bittet er in französischer Sprache den Herzog von Lauen-
burg, ihn ohne Aufsehen aus dem Gedränge zu schaffen. Indem der letztere
auf einem weiten Umweg, um der muthlosen Infanterie diesen niederschlagen-
den Anblick zu entziehen, nach dem rechten Flügel mit dem König umwendet,
erhält dieser einen zweiten Schuß durch den Rücken, der ihm den letzten
Rest seiner Kräfte raubt. „Ich habe genug, Bruder!" ruft er mit sterben-
der Stimme. „Suche du nur dein Leben zu retten!" Zugleich sank er
vom Pferd, und, von noch mehreren Schüssen durchbohrt, von allen seinen
Begleitern verlassen, verhauchte er unter den räuberischen Händen der
Kroaten sein Leben.
Bald entdeckte sein ledig fliehendes, in Blut gebadetes Roß der
schwedischen Reiterei ihres Königs Fall, und wüthend dringt sie herbei, dem
gierigen Feind diese heilige Beute zu entreißen. Um seinen Leichnam ent-
brennt ein mörderisches Gefecht, und der entstellte Körper wird unter einem
Hügel von Todten begraben.
Die Schreckcnspost durcheilt in kurzer Zeit das ganze Heer; aber
anstatt den Muth dieser tapfern Scharen zu ertödten, entzündet sie ihn
vielmehr zu einem neuen, wilden, verzehrenden Feuer. Das Leben fällt
in seinem Preise, da das heiligste aller Leben dahin ist, und der Tod hat
für den Niedrigen kein Schrecken mehr, seitdem er das gekrönte Haupt
nicht verschonte. Mit Löwengrimm werfen sich die upländischen, smaländi-
schen, oft- und westgothischcn Regimenter zum zweiten Mal auf den linken
Flügel des Feindes, der dem General von Horn nur noch schwachen Wider-
stand leistet und jetzt völlig ans dem Felde geschlagen wird. Zugleich gibt
Herzog Bernhard von Weimar dem verwaisten Heere der Schweden in
seiner Person ein fähiges Oberhaupt, und der Geist Gustav Adolfs führt
von neuem seine siegreichen Scharen. Schnell ist der linke Flügel wieder
geordnet, und mit Macht dringt er auf den rechten der Kaiserlichen ein.
Das Geschütz an den Windmühlen, das ein so mörderisches Feuer auf die
Schweden geschleudert hatte, fällt in seine Hand; und auf die Feinde selbst
werden jetzt diese Donner gerichtet. Auch der Mittelpunkt des schwedischen
Fußvolks setzt unter Bernhards und Knyphausens Anführung aufs neue gegen
die Gräben an, über die er sich glücklich hinwegschwingt und zum zweiten
365
Mal die Batterie der sieben Kanonen erobert. Auf die schweren Ba-
taillone des feindlichen Mittelpunktes wird jetzt mit gedoppelter Wuth der
Angriff erneuert; immer schwächer und schwächer widerstehen sic, und
der Zufall selbst verschwört sich mit der schwedischen Tapferkeit, ihre
Niederlage zu vollenden. Feuer ergreift die kaiserlichen Pulverwagen,
und unter schrecklichem Donnerknalle sieht man die aufgehäuften Granaten
und Bomben in die Lüfte fliegen. Der in Bestürzung gesetzte Feind
wähnt sich von hinten angefallen, indem die schwedischen Brigaden von
vorn ihm entgegenstürmen. Der Muth entfällt ihm. Er sieht seinen
linken Flügel geschlagen, seinen rechten im Begriff zu erliegen, sein Ge-
schütz in des Feindes Hand. Es neigt sich die Schlacht zu ihrer Ent-
scheidung, das Schicksal des Tages hängt nur noch an einem einzigen
Augenblick — da erscheint Pappenheim auf dem Schlachtfelde mit Küras-
sieren und Dragonern; alle erhaltenen Vortheile sind verloren, und eine
ganz neue Schlacht fängt an.
Der Befehl, welcher diesen General nach Lützen zurückrief, hatte ihn
zu Halle erreicht, eben da seine Völker mit Plünderung dieser Stadt noch
beschäftigt waren. Unmöglich war's, das zerstreute Fußvolk mit der Schnellig-
keit zu sammeln, als dringende Ordre und die Ungeduld dieses Kriegers
verlangten. Ohne cs zu erwarten, ließ er acht Regimenter Cavallerie auf-
sitzen und eilte an der Spitze derselben spornstreichs auf Lützen zu, an dem
Feste der Schlacht theilzunehmen. Er kam noch eben recht, um die Flucht
des kaiserlichen linken Flügels, den Gustav Horn ans dem Felde schlug,
zu bezeugen und sich anfänglich selbst darin verwickelt zu sehen. Aber mit
schneller Gegenwart des Geistes sammelt er diese flüchtigen Völker wieder
und führt sie aufs neue gegen den Feind. Fortgerissen von seinem wilden
Muth und voll Ungeduld, dem König selbst, den er an der Spitze, dieses
Flügels vermuthet, gegenüber zu fechten, bricht er fürchterlich in die schwedi-
schen Scharen, die, ermattet vom Sieg und an Anzahl zu schwach, dieser
Flut von Feinden nach dem männlichsten Widerstand unterliegen. Auch
den erlöschenden Muth des kaiserlichen Fußvolks ermuntert Pappenheims
nicht mehr gehoffte Erscheinung, und schnell benutzt der Herzog von Fried-
land den günstigen Augenblick, das Treffen aufs neue zu formieren. Die
dicht geschlossenen schwedischen Bataillone werden unter einem mörderischen
Gefechte über die Gräben zurückgetrieben, und die zweimal verlorenen
Kanonen zum zweiten Mal ihren Händen entrissen. Das ganze gelbe
Regiment als das trefflichste von allen, die an diesem blutigen Tage
Beweise ihres Heldenmuthes gaben, lag todt dahin gestreckt und bedeckte
noch in derselben schönen Ordnung den Walplatz, den es lebend mit so
standhaftem Muthe behauptet hatte. Ein ähnliches Los traf ein anderes,
blaues Regiment, welches Graf Piccolomini mit der kaiserlichen Reiterei
nach dem wüthendsten Kampfe zu Boden warf. Zu sieben verschiedenen
Malen wiederholte dieser treffliche General den Angriff; sieben Pferde
wurden unter ihm erschossen, und sechs Musketenkugeln durchbohrten ihn.
Dennoch verließ er das Schlachtfeld nicht eher, als bis ihn der Rück-
zug des ganzen Heeres mit fortriß. Den Herzog selbst sah man mitten
unter dem feindlichen Kugelregen mit kühler Seele seine Truppen durch-
reiten, dem Nothleidenden nahen mit Hülfe, dem Tapfern mit Beifall,
366
dem Verzagten mit seinem strafenden Blick. Um und neben ihm stürzten
seine Völker entseelt dahin, und sein Mantel wird von vielen Kugeln durch-
löchert. —
Nicht so glücklich war Pappenheim, der furchtbarste Soldat des Hauses
Österreich und der Kirche. Glühende Begier, dem König selbst im Kampf
zu begeguen, riß den Wüthenden mitten in das blutigste Schlachtgewühl,
wo er seinen edlen Feind am wenigsten zu verfehlen hoffte. Auch Gustav
hatte den feurigen Wunsch gehegt, diesen geachteten Gegner von Angesicht
zu sehen, aber die feindselige Sehnsucht blieb ungestillt, und erst der Tod
führte die versöhnten Helden zusammen. Zwei Musketenkugeln durchbohr-
ten Pappenheim's narbenvolle Brust, und gewaltsam mußten ihn die Seinen
ans dem Mordgewühl tragen. Indem man beschäftigt war, ihn hinter das
Treffen zu bringen, drang ein Gemurmel zu seinen Ohren, daß der, den
er suchte, entseelt auf dem Walplatzc liege. Als man ihm die Wahrheit
dieses Gerüchtes bekräftigte, erheiterte sich sein Gesicht, und das letzte Feuer
blitzte in seinen Augen. „So hinterbringe man denn dem Herzog von Fried-
land", rief er aus, „daß ich ohne Hoffnung zum Leben därniederlicgc, aber
fröhlich dahinscheide, da ich weiß, daß dieser unversöhnliche Feind meines
Glaubens an einem Tage mit mir gefallen ist." St. „. ©$mer.
278. Gustav Adolf.
Gustav Adolf war ohne Widerspruch der erste Feldherr seines Jahr-
hunderts und der tapferste Soldat in seinem Heere, das er sich selbst erst
geschaffen hatte. Ganz Deutschland hat die Mannszucht bewundert, durch
welche sich die schwedischen Heere auf deutschem Boden in den ersten Zeiten
so rühmlich unterschieden. Alle Ausschweifungen wurden aufs strengste ge-
ahndet, am strengsten Gotteslästerung, Raub, Spiel und Duelle. In den
schwedischen Kriegsgesetzen wurde die Mäßigkeit befohlen; auch erblickte
man in dem schwedischen Lager, das Gezelt des Königs nicht ausgenommen,
weder Silber, noch Gold. Das Auge des Feldherrn wachte mit eben der
Sorgfalt über die Sitten der Soldaten wie über die kriegerische Tapfer-
keit. Jedes Regiment mußte zum Morgen- und Abendgebet einen Kreis
um seinen Prediger schließen und unter freiem Himmel seine Andacht halten.
In allem diesen war der Gesetzgeber zugleich Muster. Eine ungekünstelte,
lebendige Gottesfurcht erhöhte den Muth, der sein großes Herz beseelte.
Alles Ungemach des Krieges ertrug er gleich dem Geringsten aus dem
Heere; mitten in dem schwärzesten Dunkel der Schlacht war cs licht in
seinem Geist; allgegenwärtig mit seinem Blicke, vergaß er den Tod, der
ihn umringte; stets fand man ihn auf dem Wege der furchtbarsten Gefahr.
Seine natürliche Herzhaftigkeit ließ ihn nur allzuoft vergessen, was er dem
Feldherrn schuldig war, und dieses königliche Leben endigte der Tod eines
Gemeinen. Aber einem solchen Führer folgte der Feige wie der Muthige
zum Siege, und seinem leuchtenden Adlerblick entgieng keine Heldenthat,
die sein Beispiel geweckt hatte. Der Ruhm ihres Beherrschers entzündete
in der Nation ein begeisterndes Selbstgefühl; stolz auf diesen König gab
der Bauer in Finnland und Gothland freudig seine Armuth hin, verspritzte
367
der Soldat freudig sein Blut, und der hohe Schwüng, den der Geist dieses
einzigen Mannes der Nation gegeben, überlebte noch lange Zeit seinen
Schöpfer. Kr. ». editier.
279. Der westfälische Friede.
Der fürchterliche Krieg schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Immer
höher stieg das Elend, das er über Deutschland verbreitete. Brandschatzende
und plündernde Heere durchzogen es von einem Ende bis zum andern und
verwüsteten und ängstigten so gut Freundes- als Feindesland. Die Schweden
verloren seit Gustav Adolfs Tode mehr und mehr die alte Mannszucht
und wurden durch Sengen und Brennen, Morden und Rauben zum Schrecken
für jedermann. „Aus der Schweden Noth erlös' uns, lieber Herr Gott!"
betete das Volk in allen Kirchen. Auch die Franzosen mischten sich endlich
in den Krieg ein. Es kam ihnen nur darauf an, das zwiespältige Reich
völlig zu verderben und Stücke deutschen Bodens an sich zu reißen. So
nahm die allgemeine Verwirrung nur zu. .Blutige Schlachten wurden ge-
liefert; doch gewann keine der kämpfenden Parteien dauernd die Oberhand.
Erst als alle aufs tiefste erschöpft waren, kam nach langen Unterhandlungen
der Friede zu Stande.
In den westfälischen Städten Münster und Osnabrück wurde er ab-
geschlossen; daher heißt er der westfälische Friede. In demselben kamen
zwei der schönsten deutschen Länder in fremde Hände: die Franzosen er-
hielten das Elsaß mit Ausnahme der Stadt Straßburg, die Schweden den
größten Theil von Pommern und die Insel Rügen. In Sachen der Reli-
gion wurde bestimmt, daß die Protestanten (Lutheraner und Reformirte)
gleiche Rechte haben sollten wie die Katholiken.
So endete der schrcckenvollste aller Kriege, der jemals in Deutschland
gewüthet. Unser Vaterland war durch denselben aufs äußerste verwüstet
und zerrüttet. Weit über die Hälfte seiner Bevölkerung war durch das
Schwert, durch Brand, Hunger, Seuchen und Elend aller Art umgekommen.
Tausende von Städten und Dörfern lagen in Trümmern; von manchen
wußte man kaum mehr die Stätte wieder zu finden. Blühende Landschaften
waren zu Einöden geworden, Felder und Wiesen in Wald und Wüstenei
verwandelt. Allenthalben stockten Handel und Gewerbe. Der Schulunter-
richt hatte beinahe ganz aufgehört; die Verwilderung der Menschen war
entsetzlich. Nirgends herrschte Sicherheit; überall wimmelte cs von Räubern
und Dicbesgesellen. Wie sollte sich unser armes Vaterland aus so großem
Jammer wieder aufrichten? Das konnte nur allmählich geschehen, und
lange, lange noch blieben die Spuren des wilden dreißigjährigen Krieges.
Andrä.
280. Tanklied für den Frieden (1648).
Gottlob, nun ist erschollen
Das edle Fried- und Freudenwort,
Daß nunmehr ruhen sollen
Die Spieß' und Schwerter und ihr Mord.
Wohlauf und nimm nun wieder
Dein Saitenspiel hervor,
O Deutschland! und sing Lieder
Im hohen vollen Chor.
Erhebe dein Gemüthe
Und danke Gott und sprich:
terr, deine Gnad' und Güte
leibt dennoch ewiglich!
368
1
Sei tausendmal willkommen,
Du theure, werthe Friedensgab'!
Jetzt sehn wir, was für Frommen
Dem Beiunswohnen in sich hab'.
In dich hat Gott versenket
All unser Glück und Heil;
Wer dich betrübt und kränket,
Der drückt ihm selbst den Pfeil
Des Herzleids in das Herze
Und löscht aus Unverstand
Die güldne Freudenkerze
Mit jeiner eignen Hand.
Das drückt uns niemand besser
In unsre Seel' und Herz hinein,
Als ihr zerstörten Schlösser
Und Städte voller Schutt und
Stein;
Ihr vormals schönen Felder
Mit frischer Saat bestreut,
Jetzt aber lauter Wälder
Und dürre wüste Heid',
Ihr Gräber voller Leichen
Und tapfrem Heldenschweiß
Der Helden, deren gleichen
Auf Erden man nicht weiß.
P. Gerhardt.
281. Die Seerose.
Reich bedacht von der Sage ist die Seerose (Nymphaea alba),
die mit ihren schwimmenden, von einem reichen Blätterkranze um-
gebenen, stark und lieblich duftenden, weissen Blüten stets einen
malerischen Anblick gewährt. Die Seerose oder Nixblume ist der
Sage nach eine verwandelte Seejungfrau, die um Mitternacht als
weisse Elfe auf dem Wasserspiegel tanzt; und unter den breiten
Blättern der Pflanze versteckt sich der lauernde Nix. Die Blätter
selbst dienen aber den Elfen und andern kleinen Elementargeistern
als Schiffe und Brücken, auf denen sie bei Mondschein und
stiller Luft über die weiten Fluten gleiten. So schön die Seerose
ist, so war sie doch von jeher dem Menschen unheimlich, denn gar
manche, welche die Blume holen wollten, ertranken, oder wurden j
von den langen Stengeln derselben umstrickt und so lange unter i
dem Wasser festgehalten, bis sie erstickten. Daher empfand man
fast überall eine Scheu vor ihr und warnte besonders die Kinder
vor derselben. Die weisse Farbe derselben deute auf Keuschheit,
deshalb sah man auch im Samen ein kräftiges Mittel gegen die
Liebe. Aber Blume und Same, vom bösen Nickus eifersüchtig bewacht,
waren nur mit grosser Vorsicht zu holen, denn die Blume musste
man zuerst freundlich besprechen, sie durfte nur mit der Hand
gepflückt und. nie mit einem Messer geschnitten werden, sonst floss
Blut aus dem Stengel, und der Frevler wurde lange Zeit von bösen
Träumen geplagt, oder gar von einer dunklen Gestalt in die schaurige
Tiefe hinabgezogen; und wer ganz sicher sein wollte, musste sich —•
369
wie Odysseus bei den Sirenen — die Ohren1 mit Wachs verstopfen,
damit er die betäubenden Stimmen der erzürnten Wassergeister
nicht höre. Ja, die reizende Seerose war zu Zeiten so schäd-
lich, dass wer sie nur in die Hand nahm, sogleich die fallende
Sucht bekam.
Ihrer schönen Gestalt wegen nahm man sie aber gern in die
Wappen auf, so wählten z. B. die Friesen sieben Schwanenblumen-
blätter für ihren Schild und in den Gudrunliedern wird erzählt,
dass Hervic von Seeven eine wolkenblaue Fahne führte, in welcher
Seerosenblätter schwebten.
Aus: »Deutsche Pflanzen sagen“ v. A. v. P erg er.
282. Gruit van Steen.
Das Handelshaus Gruit van Steen war im Beginne des siebzehnten
Jahrhunderts eines der angesehensten, reichsten und festbegründetstcn in
Hamburg. Das Oberhaupt des Hauses war damals Hermann Gruit,
der nach dem Tode des ehrwürdigen Vaters mit der Handlung und dem
Hause auch den alten Jansen als Erbstück mit überkommen hatte, einen
goldtreuen Diener des Hauses, mit Leib und Seele, wie sonst dem alten,
nun dem jungen Herrn zugethan, welchen er schon als Kind auf den Knieen
geschaukelt hatte. Wenige verstanden das Handelswesen damaliger Zeit bis
in seine äußersten Verzweigungen so von Grund aus wie der alte Jansen;
daher galt sein Wort in der Schreibstube wie das des Herrn selbst. Der
dreißigjährige Krieg verheerte schon seit zwanzig Jahren unser armes Vater-
land durch Raub,- Mord und Brand von einem Ende zum andern; Städte
und Dörfer waren zu hunderten verheert und verlassen von den Bewohnern,
die mit dem Vieh in die Wälder geflohen waren, um sich vor den räuberi-
schen, blutigen Händen der gottlosen Kriegsleute zu retten. Unter diesen
Umständen und namentlich auch bei der Unsicherheit der Straßen in allen
Ländern war es kein Wunder, daß der Handel stockte, und vorzüglich der
Vertrieb ins Innere von Deutschland gelähmt war. Das fühlte man auch
im Kontor i) des Hermann Gruit, da schon seit längerer Zeit viel seltener
und weniger bepackt die Samnrosse^) und Frachtwagen vor dem Hause
hielten, und drinnen war's oft wochenlang so still wie in einer Kirche,
während es sonst manchen Tag in und vor dem Hause fast so lebhaft hcr-
gieng als auf dem Markte.
Da geschah cs eines Morgens, daß, nachdem der alte Jansen im
Kontor lange den Kopf geschüttelt und dann noch länger gedankenvoll von
seinen Briefen weg hinauf an die braun getäfelte Zimmerdecke so starr ge-
schaut hatte, als wolle er die Fliegen oben zählen, er sechsmal nach ein-
ander mit seinem Schwanenkicl in das große silberne Tintenfaß tunkte, die
übervolle Feder gewaltig auf den Tisch stampfte und dadurch den vor ihm
liegenden angefangenen Brief, von oben bis unten mit Tintenflecken mar-
moriert^), auf einmal fertig machte. Hermann, ihm gegenüber sitzend, fuhr
fast erschrocken vom Sitze auf und sagte: „Ei, Jansen, haben wir denn
i) Geschäftszimmer. 2) Packpferds. ;J) marmorartig gefleckt.
24
370
heut St. Veitstag, oder seid ihr vielleicht zum ersten Mal in eurem Leben
so früh schon in den Rathskeller gerathen und habt von einem spanischen
Füßchen gekostet?" — „Nein, Herr", antwortete Jansen mürrisch, „aber
so geht's nimmer. Bei uns in Deutschland ist's aus mit dem Gewinn
auf dem gewöhnlichen Wege bei dem verwetterten Krieg. Was hilft uns
unser großes Schiss, das immer an der Küste wie eine Schnecke sich hin-
windet, um uns die sündtheuren Waren von den geizigen Mynheern*)
aus Holland beizuholen? Wir müssen zwanzigfach bezahlen, was wir ein-
fach aus der ersten Hand haben könnten von ihren Nachbarn, den Eng-
ländern, und in Amerika selbst. Gebt mir auf ein Jahr das Schiff und
so viel Geld und Nürnberger Waren als möglich, und laßt mich nach der
neuen Welt fahren; ihr wißt, der alte Jansen war schon zweimal dort
und versteht den Kram. Zwar der alte Herr war auch immer ängstlich
und meinte, es lasse sich ja ohne große Wagnis schon bei uns was gewinnen,
aber das ist nun anders geworden, drum muß man's anders treiben."
Da standen die beiden Herren auf, giengen lange im Zimmer auf und ab
und berathschlagten. Nachdem nun jedes Für und Wider hinreichend er-
wogen worden, wie es verständigen Männern ziemt, wurde beschlossen, daß
Jansen reisen sollte. Bier Wochen später schritt Herr van Steen in seinem
Rathsherrngewande mit Jansen neben und zwei schwer bepackten Dienern
hinter sich dem Hafen zu. Die den ganzen Hafendamm bedeckende Menge
des Volkes, die unter Musik und Jauchzen der Zurüstung und Abfahrt des
großen Handelsschiffs harrte, machte, als Gruit mit Jansen ankam, ehr-
erbietig Platz; denn der wackere Mann war geliebt und geachtet von alt und
und jung, vornehin und gering. Einige Rathsherren, Freunde der beiden,
traten freundlich grüßend hinzu, und der ältere, ein Mann mit greisem
Haar und Bart, sprach: „Freund Hermann, euer Schiff ist schier schwer
bepackt und geladen, ihr habt doch nicht zu viel gewagt? Denn weit ist
der Weg und gefährlich die Fahrt, und unser Jansen ist eben auch keiner
der Jüngsten mehr!" Herr Hermann zuckte die Achsel und sprach: „Der
Jansen hat's auf sich; ihm, seiner Treue, Kenntnis und Geschicklichkeit hab'
ich vertraut und alles überlassen." Aber Jansen antwortete munter:
„Laßt's euch nicht anfechten, ihr Herren, es ist das dritte Mal, daß ich
die Fahrt mache, und aller guten Dinge sind ja drei, drum hoffe ich fest,
wir sehen uns gesund und freudig wieder; wir haben ja das Sprichwort:
Gott verläßt keinen Deutschen — und den alten Jansen nun schon einmal
gar nicht; drum lebt wohl!" Da donnerte der erste Signalschuß zur Ab-
fahrt, und das Boot, das ihn einnehmen sollte zur Überfahrt nach deni
Schiffe, hatte eben gelandet. Der ehrliche Jansen drückte seinem Herrn
noch einmal kräftig beide Hände; ein paar Thränen träufelten dem
alten Junggesellen in den grauen Bart, und er stieg ein. Die Musik er-
tönte lebhafter; leicht hinziehend über die spiegelglatte Fläche, langte schnell
das Boot am Schiffe an. Hinauf stieg Jansen, und nun donnerte der
letzte Kanonenschuß zur Abfahrt, alle Wimpel flaggten, und stolz flog das
Schiff dahin, alle Segel gebläht vom günstigen Winde; vom Verdeck winkte
noch einmal Jansen mit dem Tuche das letzte Lebewohl, und bald war das
i) holländisch mein Herr, Spitzname für die Holländer.
371
Schiff dem Auge kaum mehr sichtbar. Die Menge verlief sich, und die
Herren schritten unter fröhlichen Gesprächen ihren Wohnungen zu.
Drei Vierteljahre waren verflossen, und kein Jansen kam zurück, noch
irgend eine Nachricht von ihm, wohl aber hatten sich dunkle Gerüchte von
deutschen Handelsschiffen, welche in der Gegend von Neuamsterdam gescheitert
seien, verbreitet. Immer bedenklicher ward die Miene des Herrn und
immer sorgenvoller seine Stirne. Einen großen Verlust nach dem andern
hatte er erlitten durch den Fall mehrerer Handelshäuser zu Braunschweig,
Nürnberg, Augsburg und Ulm, und täglich noch trafen Unglücksbriefe ein.
Gruit war eben daran, seine Bilanz zu ziehen l), darum war's auf der
Schreibstube still wie im Grabe, kaum hörte man athmen und das leise
Schnarren der Federn der emsig schreibenden Gehülfen, die nur manchmal
ängstlich die Augenlider hoben, ohne ihre Körperstellung zu verändern, wenn
ein schwerer Seufzer des Herrn wie ein klagender Geist durchs Zimmer
klang, oder ein großer Schweißtropfen von der gefalteten Stirn auf das
Papier niederfiel. Endlich schlug der Herr die Augen auf, sah starr nach
dem ihm gegenüber hängenden Bilde seines Vaters, und eine schwere Thräne
tropfte herab auf das Hauptbuch. Da schrak er zusammen, fuhr mit der
Hand über L-tirn und Augen, wie aus einem schweren Traum erwachend,
legte langsam die Feder nieder, klappte leise das Buch zu und gieng hinauf
in das Familienzimmer. Dort kleidete er sich in seine volle Amtstracht
als Rathsherr, küßte seine Frau und seine muntern drei Knaben und gieng
mit der Äußerung, daß heute Sitzung sei, sie sollen mit dem Essen nicht
warten, hinunter. Die grüne Gasse entlang schritt er dem Rathhause zu;
ein Diener trug ihm das schwere Hauptbuch nach. Im Rathssaale legte
er vor den erstaunten College« 2) die Ehrenzeichen seiner Würde ab und
gab sich als insolvent 2) an. Die Herren erschraken, sahen seine Bücher
ein, erkannten daraus seine Schuldlosigkeit und beschlossen eiustimmig, daß
ihm noch eine halbjährige Frist gestattet sein solle als die äußerste Zeit,
in welcher mau Jansen noch zurück erwarten könne, wenn das Schiff nicht
verunglückt sei.
Das halbe Jahr und zwei Monate darüber waren schon verstrichen,
Jansen war nicht gekommen. Hermanns Umstände hatten, statt sich zu
heben, sich nur verschlimmert; da drangen die schon durch die Fristvergünsti-
gung erbitterten Gläubiger so ungestüm auf den strengsten Vollzug des
Gants^), daß der Magistrat nothgedrungen dem Rechte in voller Ausdehnung
seinen Gang lassen mußte. Es war versiegelt worden, und dem armen
Gruit nebst Familie nur das kleine Stübchen, wo sonst der Hausknecht
schlief, links am Hauptcingange des Hauses geblieben. Eben hatte die Ver-
steigerung der fahrenden Habe im geräumigen Kontor, jenem Stübchen
gegenüber, begonnen, gedrängt voll Menschen war das Zimmer, laut tönte
die Stimme des Ausrufers. Schrecklich klang dieser Ruf Herrn Her-
mann drüben im Stübchen, und mit jedem Niederfallen des Hammers
fuhr es ihm wie ein Schwert durchs Herz; er saß, den Kopf in die Hand
... J) die Vergleichung der Einnahme und Ausgabe machen. 2) Amtsgenossen.
' Mlungsunsiihig. 4) öffentlicher Verkauf an den Meistbietenden.
24*
372
gestützt, tiefsinnig am Fenster und starrte das Schild seines Nachbars, des
Wirts zum Westindienfahrer, an, als wolle er es mit den Augen festnageln.
Die gute Frau Elisabeth aber saß am Ofen, die rothgeweintcn Augen zur
Erde gewendet, die Hände gefaltet und fest zusammengepreßt, während die
beiden jungen Knaben, unbekümmert um alles, mit der großen Angorakatze
spielten. Fritz, der älteste, aber hielt den quer vor der Thür liegenden
zottigen Voll, den Haushund, bei beiden Ohren fest, als er auf ein An-
klopfen an die Thür knurrend aufspringen wollte, und sagte begütigend:
„Sei nur still, Voll, ich leid's nicht, daß sie dich verkaufen!" Vorsichtig
über den Hund wegschreitend, trat Stephan, der Rathsdiener herein, ein
gutmüthiger Alter, der früher so oft mit freundlichem Bücklinge Herrn
Hermann in bessern Zeiten die Thür des Rathssaales geöffnet hatte,' und
sagte mit vor Mitleid zitternder Stimme: „Herr Senator, den Lehnsessel
soll ich holen." Da wandte Hermann den Blick und sprach seufzend: „Ach,
das ist das Härteste; doch dein Wille, o Gott, geschehe!" Es war der mit
grünem Sammet beschlagene Lehnsessel des seligen alten Herrn, worin er
sanft verschieden war, nachdem er noch den väterlichen Segen ertheilt hatte,
bis dahin als unberührbares Heiligthum im Hause gehalten. Hinaus ward
der Sessel getragen, und ihm folgte mechanisch die ganze Familie nach,
als könne sie sich nicht davon trennen, Fritz mit dem Voll voraus. Der
Auctionär rief: „Nr. 120, ein noch wohl conbitionierter2) Lehnsessel mit
Sammet beschlagen!" und eine lange Panse folgte, da sich alle Blicke nach
der jammernden Familie gewendet hatten. Endlich rief die schnarrende
Stimme eines dicken Fleischers: „Vier Mark!" „Also vier Mark zum
ersten", rief der Auctionator mißmuthig, — in diesem Augenblick riß sich
der schon seit einigen Minuten unruhig schnüffelnde Voll von Fritz los und
sprang wie besessen freudig bellend vors Haus, und zum offen stehenden
Fenster herein rief eine starke Baßstimme: „40 Mark zum ersten!" Einen
Augenblick darauf trat hastig ins Zimmer ein von der Eile ganz erhitzter
Mann mit sonnenverbranntenl Gesicht in Schifsertracht, begleitet vom
wedelnden Voll, und wiederholte mit Donnerstimme: „400 Mark zum
andern, zum dritten und letzten Mal!" und schlug mit seinem spanischen
Rohr dergestalt auf den Tisch, daß des Auctionärs Papiere umherflogen,
und dieser wie die ganze Menge zusammenschrak. „Herr Gott, unser
Jansen!" rief Hermann und fiel ihm um den Hals; der aber fuhr fort:
„Ja ich bin's, unser Schiff liegt voll Waren, worunter auch Goldbarren,
im Hafen; aus ist die Auction; nun fort ihr alle!" Dabei schwenkte er
das Rohr über den Köpfen hin. „Morgen kommt aufs Rathhaus, da soll
alles samt Interessen^) bezahlt werden; denn wissen sollt ihr: Unser alter
Herrgott lebt noch, unser gutes Haus sieht noch, und die Firma'') Her-
mann Gruit van Steen floriert noch! Und nun seid erst freudig gegrüßt
in der Heimat, mein Herr Hermann und Frau Elisabeth, von eurem alten
Jansm!" H. Schubert.
i) maschinenmäßig. 2) wohl erhalten, in gutem Zustande befindlich. 3) Zinsen.
V der Name, unter dem ein kaufmännisches Geschäft geführt wird.
373
283. Harre,
1. Harre, meine Seele,
Harre des Herrn!
Alles ihm befehle,
Hilft er doch so gern.
Sei unverzagt,
Bald der Morgen tagt,
Und ein neuer Frühling
Folgt dem Winter nach.
In allen Stürmen,
In aller Noth
Wird er dich beschirmen,
Her treue Gott!
meine Seele.
2. Harre, meine Seele,
Harre des Herrn!
Alles ihm befehle,
Hilft er doch so gern.
Wenn alles bricht,
Gott verlässt uns nicht.
Grösser als der Helfer
Ist die Noth ja nicht!
Ewige Treue,
Retter in Noth,
Rett’ auch unsre Seele,
Du treuer Gott! v. Räder.
284. Lied der Treue,
_ Ein getreues Herze wissen,
Hat des höchsten Schatzes Preis,
Der ist selig zu begrüßen,
Der ein solches Kleinod weiß.
Mir ist wohl bei höchstem Schmerz;
Denn ich weiß ein treues Herz.
Läuft das Glücke gleich zu Seiten
Anders, als man will und meint:
Ein getreues Herz Hilst streiten
Wider alles, was ist seind.
Mir ist wohl rc.
Sein Vergnügen steht alleine
In des Andern Redlichkeit,
Hält des Andern Noth für seine,
Weicht nicht auch bei böser Zeit.
Mir ist wohl rc.
Gunst, die kehrt sich nach dem Glücke:
Geld und Reichthum, das zerstäubt;
Schönheit läßt uns bald zurücke:
Ein getreues Herze bleibt.
Mir ist wohl rc.
Eins ist da sein und geschieden;
Ein getreues Herze hält,
Gibt sich allezeit zufrieden,
Steht auf, wenn es niederfällt.
Ich bin froh bei höchstem Schmerz;
Denn ich weiß ein treues Herz.
Paul Flemming
285. Schmetterlings Leben.
Die Mutter des Schmetterlings kann für ihre Familie nichts weiter
thun, als daß sie die Eier an einen Ort legt, an welchem die ausschlüpfen-
den Kleinen auch Nahrung finden. Sie heftet die Eier deshalb auch nicht
an die Blätter, welche absterben und vom Winde verweht werden, sondern
klebt sie an die Zweige, an die Stammrinde oder ähnliche sichere Stellen.
Die Eierschale ist des jungen Schmetterlings erstes Kleid, seine Windel
und sein Kinderröckchen. Manche dieser Eierschalen sind mit allerliebsten
Verzierungen geschmückt, so daß sie aussehen wie geschliffene Juwelen.
Einige alte Schmetterlinge bedecken auch wohl die Eier mit Haaren vom
eigenen Körper, oder sie überziehen sie mit einem Saft, der an der Luft
verhärtet. Sie sehen dann aus wie lackiert und können Kälte und Nässe
im Winter um so besser vertragen. Haben aber die Schmettcrlingsweib-
chcn ihre Eier gelegt, so ist's auch mit ihrem Leben zu Ende, und der
große Vater alles Lebens muß die Sorge für die kleinen Schmetterlings-
eier übernehmen.
Nicht wenige derselben werden eine gute Wintcrkost für Meisen und
Baumläufer, es bleiben aber noch genug übrig, um im nächsten Sommer
als Schmetterlinge das Feld zu bevölkern. Scheint die Frühlingssonne
warm aufs Land und lockt die grünen Blätter aus den Knospen hervor,
dann erwacht auch das schlummernde Leben im Schmetterlingsei, — aus
374
dem kleinen Dotter erwächst ein winziges Räupchen. Die Sonne selbst
versieht dabei die Stelle der Bruthenne und macht ihm auch einstweilen
das Futter zurecht, damit es frisches, weiches Gemüse findet, wenn es her-
auskommt. Das junge Räupchen muß sich selbst aus der Eierschale heraus-
helfen; es frißt ein Loch durch dieselbe und schlüpft hervor ans Tageslicht.
Nun droht den hülflosen Wesen von allen Seiten Gefahr. Schlupf-
wespen schwirren herbei, um sie anzustechen und ihre Eier in sic hineinzu-
legen; Staare, Sperlinge, Finken und alle die vielen Singvögel, welche um
dieselbe Zeit Junge im Neste haben, durchsuchen Feld und Busch nach
Raupen, und selbst der Landmann droht ihnen den Tod, wenn sie es sich
etwa beikominen lassen, von seinem Kohl zu kosten oder die Obstbäume zu
besuchen.
Einige Räupchen sind schon von klein auf mit einem tüchtigen Pelze
bekleidet. Andere tragen dornige Stacheln. Manche dagegen sind so zart
und hülflvs, daß sie fast wie Nachtschneckcn aussehen, und zwar sind dies
gerade die kleineren. Mehrere dieser letzteren Arten fertigen sich ein Futteral,
indem sie Holzsplitterchen und Blattkrümchen mit feinen Fädchen zusammen-
kleben und neue Stückchen ansetzen, wenn sie selber wachsen, und das Häus-
chen ihnen etwa zu eng wird.
Haben die kleinen Raupen einige Tage lang tüchtig gefressen, so sind
sie schon, auffallend größer und dicker geworden. Sic setzen sich daun still
an die Äste, werden ganz blaß, als seien sie krank, und nun platzt ihnen
oben auf dem Kopfe die Haut entzwei. Die Raupe wackelt hin und her
und arbeitet sich aus ihrer eigenen Haut heraus, selbst von den Beinen
wird diese mit abgestreift, und es mag ihr keine geringe Anstrengung kosten,
den engen Rock auszuziehen. Endlich ist sie von ihm befreit, aber sie scheint
auch völlig erschöpft. Die junge Haut ist noch sehr zart und gegen Kälte
und Nässe in hohem Grade empfindlich. Tritt zur Zeit der Häutung un-
freundliches Wetter ein, so stirbt manches der Würmchen durch Erkältung.
Bier- bis fünfmal wiederholt sich der ganze Hergang, dann erst sind die
Thiere völlig erwachsen und denken ans Einpuppen. Sie spinnen sich einen
Strick ans feinen seidenen Fäden und binden sich mit dem Schwänzende
am Zweige fest. Ein zweites Seil legen sie rings um den Bauch und
schützen sich so gegen das Abfallen. Nun aber verstehen sie es einzuschrumpfen
und sich klein zu machen, eine Kunst, die ihnen nicht jeder so leicht nach-
375
macht. Die Haut wird noch einmal abgestreift, zugleich aber mit dem
Arbeitsrock das ganze Handwerkszeug bei Seite gelegt: Augen, Freßzangen
und Füße; dann wird die Haut hart, grünlich und goldschimmernd, und die
Puppe ist fertig. Von dem vielen Futter, welches die Raupe verzehrte,
haben sich in ihrem Körper reichliche Vorrathsstoffe aufgespeichert; diese
dienen nun dazu, um den Schmetterling mit den schönen Flügeln daraus
zu bilden.
Viele Raupen, besonders diejenigen der Abend- und Nachtfalter, be-
gnügen sich nicht mit einem einfachen Faden zum Aufhängen der Puppe,
sondern fertigen ein großes, dichtes Gespinst, einen Cocon, als Schutz gegen
Nässe und Kälte, manche kleben auch Erdkrümchen, Holzspäne und Blätt-
chen zusammen, um sich ein Häuschen zu bauen.
Manche Raupen, besonders solche von Nachtschmetterlingen, werden
auch in einem Sommer noch nicht fertig mit ihren Vorbereitungen zum
Einpuppen. Sie müssen sich dann im Herbst ein sicheres Quartier suchen,
um vor den Übeln des Winters geschützt zu sein. So verstecken sie sich
denn ins Moos, unter abgefallenen Blättern, oder kriechen hinein in die
lockere Erde, kleben Holzstückchen, Sandkörnchen u. s. w. rundum zusammen
und machen sich eine Winterhütte daraus. Dort rollen sic sich zusammen
und schlafen, bis sic im Frühjahr droben wieder etwas für ihren Hunger
finden können. Dann fahren sie mit ihrer Arbeit rüstig weiter fort, wo
sie im vorigen Jahr aufgehört hatten, bis sic sich einpuppen.
Lange liegt oder hängt die Puppe wie todt, desto reger arbeitet es in-
wendig in ihr. Das Köpfchen mit den großen zusammengesetzten Augen
und den kleinen Äuglein auf der Stirn wird fertig gemacht, dazu die Fühler.
Die Brust erhält sechs hübsche, schlanke Beine, und der Hinterleib ist mit
einem Stiel an sie angehängt. Alle diese Theile bekommen ein zierliches
Haarkleid. Die Flügel sind noch weich und zusammengefaltet. Jetzt ist
es Zeit: die Puppenhülle zerplatzt, und der schöne Falter arbeitet sich her-
aus. Die Nachtschmctterlinge, welche in festem Gespinst liegen, müssen
dieses erst aufweichen und thun solches, indem sie aus ihrem Munde einige
Tropfen Flüssigkeit darauf fallen lassen.
Das ausgekrocheue Thiercheu klettert am Stengel ein Stückchen empor
und entfaltet allmählich die großen Schwingen. Sie werden breiter, länger
und fester. Und was zeigen sie für eine Pracht! Das zarte Hellgelb ist
mit schwarzen Querstreifen kräftig gezeichnet, die Oberflügel sind hübsch
ausgeschweift, und die Unterflügel laufen in lange Gabelspitzen aus. Sie
tragen auch blaue und rothgesäumte Augenflecken. Daß die prächtigen
Farben bei allen Schmetterlingen leicht abgehen, weißt du aus Erfahrung,
aber besieh dir einmal fotdje' Stäubchen durch ein gutes Vergrößerungs-
glas, und du wirst erst darüber erstaunen, welch wunderbaren Ban die
Fittiche des Thicrchcns haben. Auf der dünnen, durchsichtigen Flügelhaut
haften an beiden Seiten kleine Schuppen, wie die Ziegel eines Daches sich
bedeckend. Jedes solches Schüppchen steckt mit einem feinen Stielchen in
einer kleinen Vertiefung des Flügels und ist oft an seinem freien Ende
mit Spitzen und Zacken geziert. Bei manchen Schmetterlingen sind diese
Schüppchen auf beiden Seiten verschieden gefärbt, und die Flügel zeigen
deshalb ein abweichendes Aussehen, je nachdem man von oben oder von
376
der Seite darauf schaut. Jedes Schüppchen zeigt ferner zarte Längsstreifen
und noch feinere Querstreifen.
Die großen Augen des Schmetterlings sind aus vielen kleinen Äuglein
zusammengesetzt; beim Todtenkopfschwärmer besteht jedes Auge aus 12,500
kleineren, das Thier hat also deren 25,OM.
Wie die Raupen je nach den verschiedenen Arten ihre besonderen
Weisen haben, so zeigen auch die Falter mancherlei Eigenthümlichkeiten;
die einen tummeln sich im Hellen Sonnenschein und trinken mit den langen
Säugrüsseln Honig aus den Blumenkelchen, andere (z. B- der Todtenkopf)
schwärmen am Abend, noch andere in der Nacht. Von den letzteren ist
der kleine Stachelbeerspanncr wegen seines bunten Harlekinklcides') bekannt
und das blaue Ordensband wegen seiner blaustreifigen Unterflügel.
Hermann Wagner.
286. Aufmunterung zur Freude.
Wer wollte sich mit Grillen Plagen, > Noch scheint der liebe Mond so helle,
So lang' uns Lenz und Jugend blühn? j Wie er durch Adams Bäume schien.
Wer wollt' in seinen Blütentagen ! Noch tönt der Busch voll Nachtigallen
Die Stirn' in düstre Falten zichn? ! Dem Jüngling hohe Wonne zu;
Die Freude winkt auf allen Wegen, Roch strömt, wann ihre Lieder schallen,
Die durch dies Pilgerleben gehn; ' j Selbst in zerriff'ne Seelen Ruh'.
Sie bringt uns selbst den Kranz entgegen, j O wunderschön ist Gottes Erde
Wenn wir am Scheidewege stehn. ' | Und werth, darauf vergnügt zu sein!
Noch rinnt und rauscht die Wiesenquelle, > Druni will ich, bis ich Asche werde,
Noch ist die Laube kühl und grün, j Mich dieser schönen Erde freun!
L- H- Chr. Holty.
287. Ein Gesang über den Wassern.
Nach Amerika geht die Straße weit, und wer dahin will, muß mehr als einen
Sonntag unterwegs bleiben. Dorthin zogen vom Rhein her zwei Bauersleute, denen
es in der Heimat nicht mehr gefiel. Und sie waren schon wochenlang mitten auf
dem Weltmeer, wo man keinen grünen Wald sieht und keinen Kornacker, und des
Morgens kräht kein Hahn, und des Mittags bläst kein Hirte; und wenn manchmal
ein Vogel sich zeigt, so ist's keine Schwalbe, die den lieben Sommer verkündigt, auch
keine Lerche, die einem auf dem Felde singen hilft im goldnen Sonnenschein, sondern
ein Sturmvogel, der ein bös und brausend Wetter ansagt. Auch hat man da keinen
festen Boden unter den Füßen wie hinter dem Pfluge, sondern das wankt und
schwankt in einem fort, und es wird einem an Leib find Seele sterbensweh dabei.
So geht's alle Tage, und droben sieht man nur den unendlichen Himmel und drunten
das weite, weite Gewässer, und die Sonne hat kein trocken Plätzchen, wo sie sich
abends niederlegt, sondern geht ins Meer zu Bett und steht aus dem Meer wieder auf.
Nun gefielen zwar anfänglich unsern zwei Landsleuten die Meereswunder nicht
wenig, denn alles Neue reizt und lockt des Menschen Herz. Aber wie es alle Tage
dasselbe gab und kein Ende nehmen wollte, ward ihr Muth gar geringe. Und sie
saßen oft bei einander oben auf dem Schiffsboden und sahen mit trübseligen Blicken
hinunter in die See und hinaus, wo sie hergekommen waren.
Also saßen sie einstmals auch wieder beisammen droben auf dem Verdeck an
einem Sonntagmorgen. Da sagte der Eine: „Jetzt ist's daheim im Dorfe auch
Sonntag; die Glocke ist neu», und es läutet zur Kirche^und alle Menschen gehen hinein;
unser Herr Pfarrer hat den Chorrock an, und der Schulmeister sitzt auf der Orgel."
Da sagte der Andere: „Ich hätt's mein Lebtag nicht geglaubt, daß einem der Sonntag
so weh thut und die Seele drückt, wenn man ihn nicht hat." Und nun schwiegen
beide und dachten an ihre Heimat: und es stand ihnen ihr Dorf vor der Seele
mit den blauen Bergen weit hinaus und die grünen Wälder und Felder, und hier
') Possenreißer, Hanswurst.
377
und dort wird geläutet, und über die Wiesen und' durch die Gebüsche gehen die
Kirchleute; und nachher wird alles still draußen, nur die Hirten und die Herden
und die Vögel sind noch da, und die Sonne scheint friedlich.
Dies gieng eins nach dem Andern den beiden durch die Gedanken. Aber unter
ihnen rauschten und plätscherten die Wellen an den Seiten des Schiffes. Und wie
sie so daran in ihrem Herzen gedachten, ward's ihnen inwendig heiß und heiß zum
Weinen. Da stand der Eine auf, gieng an seine Kiste, schloß sie auf und nahm eine
Bibel und ein Gesangbuch heraus und kam wieder zu seinem Kameraden. Und er
las die Epistel und das Evangelium desselben Sonntags vor, und darauf betete der
Andere den Glauben. Und darnach schlugen sie das Gesangbuch auf und huben an
mit lauter Stimme zu singen: „Wer nur den lieben Gott läßt walten und hoffet
auf ihn allezeit." — Es waren aber noch andere Auswanderer aus Deutschland
mit auf dem Schiff. Wie die das deutsche Kirchenlied hören mitten auf dem Meer,
geht ihnen das Herz auf, und sie kommen herzu und stellen sich im Kreise um unsere
beiden Bauersleute, entblößen ihr Haupt und singen mit:
„Wer nur den lieben Gott läßt walten
Und hoffet auf ihn allezeit,
Den wird er wunderbar erhalten
In allem Kreuz und Traurigkeit",
und der Gesang kam immer kräftiger aus Herzensgrund und schallte weithin in die
See hinaus,, und das Meer rauschte darein wie eine Orgel. Da schwebte der Geist
Gottes auf den Wassern.
Die beiden Bauersleute aber und alle die Anderen, die dabei waren, hatten sich
das Trauern aus der Seele heraus gesungen, und es war ihnen selig zu Muth, als
wären sie daheim im theuren Vaterlande. — Darum merke: Wenn du wandern
gehst, so nimm deinen heiligen Glauben mit und deine Bibel und dein Gesangbuch.
Denn in diesen dreien liegen die rechten Herrlichkeiten des deutschen Vaterlandes.
Wer aber ohne die auszieht, der kann wandern bis ans Ende der Welt und findet
nimmer eine Heimat.
Fliegende Blätter a. d- rauhen Hanse.
288. Tchifffahrt.
Eine schwache Bretterwand
Trennet dich von deinem Grab,
Seien Lüfte noch so klar,
Sei die Tiefe noch so still,
In Gefahr ist immerdar,
Wer durchs Leben schiffen will.
Fr. Rückerl.
289.
Schifferlied.
3. Wie vor unserm Angesicht
Mond und Sterne schwinden!
1. Nach dem Sturme fahren wir
Sicher durch die Wellen,
Lassen, grosser Schöpfer,’ dir
Unser Loh erschallen.
Lobet ihn mit Herz und Mund,
Lobet ihn zu jeder Stund’!
Christ, Kyrie,
Komm zu uns auf dem See!
Mond und Sterne schwinden!
Wenn des Schiffleins Kuder bricht,
Wo nun Kettung finden?
Wo sonst als bei dem Herrn?
Seht ihr den Abendstern? —
Christ, Kyrie,
Erschein’ uns auf dem See!
vor unserm Angi
»•Wie mit grimm’gem Unverstand
Wellen sich bewegen!
Nirgends Rettung, nirgends Land
Vor des Sturmwinds Schlägen!
Einer ist’s, der in der Nacht,
Einer ist’s, der uns bewacht!’
Christ, Kyrie,
Hu schlummerst auf dem See!
4. Einst, in meiner letzten Noth
Lass mich nicht versinken!
Sollt’ ich von dem bittern Tod
Well’ auf Welle trinken:
Reich’ mir dann liebentbrannt,
Herr, deine Glaubenshand!
Christ, Kyrie,
Komm zu uns auf dem See!
Johannes Falk.
378
290. Räthsel.
Auf eiltet großen Weide gehen
Viel tausend Schafe, silberweiß;
Wie wir sie heute wandeln sehen,
Sah sie der allerält'ste Greis.
’ Sie altern nie und trinken Leben
Aus einem unerschöpften Born;
Ein Hirt ist ihnen zugegeben
Mit schön gebognem Silberhorn.
291. Zur
1. Nun hängt der Drescher wohlgemuth
Den Flegel an die Wand,
Greift nach dem breiten Krempenhut
Und setzt die Sens' in Stand.
2. Am Samstag hat den letzten Schlag
Als Drescher er gethan,
Und Montag morgens noch vor Tag
Hebt er als Mäher an.
3. Denn Klee und Gras und Gras
und Klee
Auf Wies' und Ackerstück
Wuchs längst schon mächtig in die Höh'
Und steht gar voll und dick.
4. „Walt'sGott!" Und jetzt den ersten
Hei, wie die Sense greift! ’ sHieb;
Das ist den Mähersleuten lieb,
Wenn's so recht klingt und Pfeift.
Er treibt sie ans zu gold'nen Thoren,
Er überzählt sie jede Nacht
Und hat der Lämmer keins verloren,
So oft er auch den Weg vollbracht.
Ein treuer Hund hilft sie ihm leiten,
Ein muntrer Widder geht voran,
Die Herde, kannst du sie mir deuten?
Und auch den Hirten zeig' mir an!
Schiller.
Heuernte.
5. Ja, walt' es nur, du treuer Gott!
Gib Segen und Gedeih'n
Und Regen, wenn's dem Lande noth,
Und Thau und Sonnenschein! —
6. Ich stehe hier und säng' mit Lust
Zu dieser schönen Zeit
Ein Lied dir gern aus voller Brust,
Du Herr der Herrlichkeit.
7. Und weiß nicht, wo's beginnen soll,
Noch wo es enden mag; —
Du bist mir gar zu gnadenvoll,
Die Stimme will nicht nach.
8. Geh' ich zum Garten hinterm Haus,
Der ist so frisch und grün
Und breitet süße Düfte aus,
Weil alle Rosen blüh'n!
G- Jahn.
292. Der große Kurfürst.
s. 5eine Gestalt.
Friedrich Wilhelm war ein großer schöner Mann mit hoher freier
Stirn, edel geformter Nase und dunklem, auf die Schultern herabwallcndem,
lockigem Haupthaar, das Ebenmaß im Bau der Glieder, der elastische
Gang, die Anmuth und Wurde in den Bewegungen zeigten die ungeschwächte
Kraft der stattlichen Gestalt. Seine großen blauen Augen erglänzten in
mildeni Feuer, doch sie konnten auch Blitze schlendern, immer aber kündeten
sie den edlen und ernsten Geist des gewaltigen Herrschers an. Für ge-
wöhnlich trug er hohe Reiterstiefel, ein kurzes Wamms und einen Filzhut
mit breiter Krempe; bei feierlicher Gelegenheit aber, z. B. bei der Beleh-
nung in Warschau, erschien er „im reich gallonirten rothen Sammetkleide,
am goldenen Bandelier das deutsche Schwert tragend, auf dem Haupte,
von dem das volle dunkle Gelock bis auf die Schultern herabwallte, den
anfgekrempten schwarzen Filzhut mit schwarz und weißer Straußenfeder".
König Friedrich I. ließ seinem großen Vater auf der langen Brücke
in Berlin durch den berühmten Baumeister Schlüter ein erzenes Stand-
bild errichten, das als eines der ersten Kunstwerke bewundert wird. Du
siehst, als ob er lebte, den Herrscher hoch zu Roß, den Feldherrnstab in der
Rechten, an den vier Enden des Fußgestelles gefesselte Männer als Sinn-
bild der Siege, die der Held in vielen Schlachten errungen. Er war es,
der die Siegeslaufbahn eröffnete, die die Helden des siebenjährigen Krieges
und der Freiheitskriege verfolgten, und dankbar sagt sein großer Enkel von
ihm: „Der hat viel gethan."
2. wie Friedrich Wilhelm sein Land übernahm und besserte.
Der Kurfürst Georg Wilhelm starb am 16. November 1640. Er
war ein schwacher, schwankender Mann, nicht gewachsen einer so drangvollen
Zeit. Als nun die Schweden unter Banner die Kaiserlichen in der Mark
und Pommern verfolgten, schloß er, der evangelische Fürst, sich 1637
entschieden an den katholischen Ferdinand III. an und kämpfte mit
einem Söldnerheere von 7000 Mann gegen Schweden. — Alles Elend,
was die Mark in dem fast 20jährigcn Kriege erduldet, war nicht zu ver-
gleichen mit den Schrecknissen, die der Rückzug der Kaiserlichen über das
arme Land brachte. In Städten und Dörfern wurden die Häuser und
Kirchen zerstört, Gräber erbrochen und alles geraubt. Durch Martern
suchte man Geld und Kostbarkeiten zu erpressen; so goß man den Ein-
wohnern „schwedischen Trank", d. h. Jauche in Nase und Mund. Ein
Hauptmann; der die Belagerung von Magdeburg mitgemacht hatte, ge-
stand, daß dort nicht gegen Feinde wie hier gegen Freunde gehaust worden.
Die verfolgenden Schweden waren kaum minder räuberisch und grausam,
und wo die Truppenzüge nicht hinkamen, da plünderten Bettlerhorden und
380
Räuberbanden, die sich aus den Bewohnern verlassener Orte gebildet hatten.
In Berlin, das mit Köln von 20,000 nur noch 6000 Einwohner und
mehr leere als bewohnte Häuser hatte, klagt der Rath: „Die Rathsdörfcr
lägen in Asche. Kirchen und Schulen wären ohne Prediger und Lehrer,
denn sie könnten nicht besoldet werden, weil Berlin und Köln durch Brand,
Raub und Bedrückung verarmt sei. Der Handel höre ans, denn die Waren-
züge würden unterwegs geplündert, wie es erst neulich zwischen Berlin und
Leipzig geschehen sei. Das Land sei eine Wüste."
Und so war es. Hunderte von Dörfern waren nur noch Schutt-
haufen ohne Bewohner, die Felder blieben unbestellt, und wenn auch die
Bäume im alten Blätterschinucke prangten, so sah man doch kein Saatfeld,
das das Auge mit dankbarer Freude erfüllt hätte, noch der Schnitter
frohen Chor. Die Predigt des Evangeliums hörte man nur noch in
wenigen Gegenden, wo dann auch noch Schulen im Gange waren. Die
ekelhaftesten Speisen wurden verschlungen, um nur den Hunger zu stillen;
an vielen Orten brach Hungersnoth und Pest aus und raffte die Menschen
zu Tausenden hin.
Dabei war Pommern von den Schweden besetzt, Cleve den Feinden
preisgegeben, Preußen von Polen abhängig, und die eigenen Soldaten
hatte Georg Wilhelm dem Kaiser vereidigen lassen. Darum konnte Fried-
rich Wilhelm bei der Übernahme der Regierung sagen: „Auf der einen
Seite habe ich die Krone Schweden, auf der andern den Kaiser; ich sitze
zwischen ihnen und erwarte, was sie mit mir anfangen, ob sie mir das
Meinige lassen oder nehmen wollen. Wenn ich die biblischen Geschichten
lese, so will mir bedünken, als sei niemals ein Fürst in einer ähnlichen Be-
drängnis gewesen wie ich; weder David noch Salomo haben es jemals
so schwer gehabt."
Am 16. November 1620 ward er zu Berlin geboren, der Kriegslärm
begleitete seine ganze Jugendzeit. In Gottesfurcht von seiner Mutter er-
zogen und in Künsten, Wissenschaften und ritterlichen Übungen von tüchtigen
Männern geleitet, wuchs er gedeihlich auf. Einige Zeit verlebte er in
Küstrin, damit er von den rohen Sitten der Kriegsleute nichts sehen
sollte, und in seinem 14. Jahre ward er nach Holland geschickt, um auf der
Universität Leyden zu studieren. Am Hofe im Haag wollte man ihn zu
einem sündhaften Leben verleiten, doch die Gottesfurcht gab ihm Kraft zum
Widerstände, und er erwiderte ans die Spottrcden seiner Freunde: „Ich
bin es meinen Eltern, meiner Ehre und meinem Lande schuldig." Er floh
vor ihnen in das Lager des Statthalters Friedrich Heinrich von
Oranten, seines Meisters in der Kriegskunst, der eben Breda belagerte.
Als dieser den Grund seiner Ankunft erfuhr, sagte er, ihm auf die Schulter
klopfend: „Eine solche Flucht ist heldenmüthiger, als wenn ich Breda er-
oberte. Vetter, ihr habt das gethan, ihr werdet mehr thun. Wer sich
selbst überwinden kann, der ist zu Großem fähig." So bestieg er in un-
entweihter Jugendfrische den Thron. Ein kühner Heldenmuth und ein in
früher Erfahrung gereifter Geist nahm ihm die Furcht vor allen Schwierig-
keiten. Das Volk kannte ihn, cs setzte seine letzte Hoffnung auf ihn, und
er hat sie getreulich erfüllt.
Er sah ein, daß er vor allem Herr in seinem eignen Lande sein und
darum ein nur ihm gehorchendes Heer haben Müsse, denn seine Truppen,
auch die in den Festungen, waren dem Kaiser vereidigt, und die Generale
verweigerten ihm den Fahneneid. — Mit Klugheit und heimlich schuf er
drei Regimenter, jedes zu 1000 Mann, die er allmählich bis auf 8000
vermehrte. Das ist das erste stehende Heer in Preußen und der Kern
der jetzigen Armee. Mit Schweden schloß er einen Waffenstillstand und
trat in dem langersehnten Frieden, der endlich 1648 zu Stande kam, mit
großer Gewandtheit auf. Mußte er auch Vorpommern den Schweden
lassen, so erwarb er doch Kammin in Hiiiterpommern und die reichen
Stifte Magdeburg, Halberstadt und Minden; dadurch wurde der
Kurstaat 2000 Q.-M. groß und einer der größten Staaten Deutschlands.
Um dem Lande aufzuhelfen und das Heer zu vergrößern, das 1655
schon aus 20,000 Mann mit 72 Geschützen bestand, brauchte er Geld, und
daher richtete er Verbrauchssteuern und Zölle ein; er selbst hielt strenge
Aufsicht über Einnahmen und Ausgaben, und murrte man auch über hohe
Steuern, so sah man doch, daß sie nur zu des Landes Bestem dienten.
Durch den Krieg gegen Polen 1656 ward er frei von der Lehns-
hoheit Polens über Preußen; dadurch und durch andere Maßregeln war
er nun unumschränkter Regent in allen seinen Landen, aus denen er durch
weise Einrichtungen einen gemeinsamen Staat schuf, dem bald die Be-
wohner von der Memel bis zum Rhein mit gleicher Liebe anhiengcn.
Und wie wirkte er als Landesvater! Gleich nach seinem Regierungs-
antritt bereiste er die Mark; er sah das grauenvolle Elend, Hunderte von
Dörfern als Trümmerstätten mit wildem Gestrüpp bewachsen, endlose
Fichtcnwaldungen da, wo einst blühende Felder waren, in den Städten
meist verfallene und unbewohnte Häuser. Zurückgekehrt, bat er Gott flehent-
lich, daß er ihm beistche in der Noth, und zu seinen Räthen sagte er:
„Ich bin tief betrübt, doch ich verliere den Muth nicht; gedenket aber und
machet es also, daß, die da beten sollen, nicht Ursach haben, zu seufzen."
Ta cs an Menschen fehlte, so zog er Holländer, Friesen, ja Schwei-
zer in das Land und vertheilte wüste Strecken an frühere Soldaten; er
gab freies Bauholz, erließ auch viele Jahre die Steuern, er verordnete,
daß jeder Bauer einen Obstgarten anlege und kein Landmann getraut werde,
che er nicht 6 Obstbäume gepfropft und 6 Eichbäume gepflanzt hätte.
Ein Herzenstrost war es ihm, als preußische Edelleute eine große Menge
Getreide und Vieh brachten und um Annahme baten, „armen Landleuten
zur Saat und zum Fortkommen". Auch Tabak, damals etwas Neues, wurde
gepflanzt. Auf einer Jagd bot des Kurfürsten Mohr einem Bauer seine
brennende Pfeife an, worauf dieser erschreckt sagte: „Nee, gnädiger Herr
Düvel, ick freete feen Füer."
Der Kurfürst richtete auch ordentliche Posten ein zwischen Berlin,
Magdeburg, Wesel, Cleve, Danzig und Königsberg, während bis-
her nur „Landreuter" auf einzelnen Strecken Briefe beförderten. Ver-
fallene Kirchen wurden wieder hergestellt und viele neue gebaut, „denn wo
das Wort Gottes fehlt, kann der Menschen Werk nicht gedeihen", sagte er.
Aller Orten wurden Schulen eingerichtet und den Lehrern eingeschärft, zu-
vörderst „die Furcht Gottes bei den Kindern zu pflanzen", und Hofprediger
mußten umherreisen und wachen, daß seine Anordnungen genau befolgt
382
wurden. Die Reformirten hatten gleiche Rechte mit den Lutheranern
und alle Religionsbekenntnisse freie Duldung. Künste und Wissenschaften
unterstützte er reichlich, nicht minder den Handel und die Anlage von Fabriken.
Er sorgte für gute Landstraßen und legte den (Friedrich-Wilhelms-)
Kanal an, der die Oder mit der Spree verbindet. Am 25. Juni 1669
empfieng man in Berlin jubelnd das erste Fahrzeug. Seine Gemahlin Luise,
eine Prinzessin von Oranien, half ihm treulich, sie führte die ersten
Kartoffeln in die Mark ein, die bisher wie „anderes feine Gemüse"
aus Holland mit der Post bezogen wurden. Sie ließ Vieh aus Holland
kommen und holländische Viehzucht einrichten. Sie war der Schutzengel
aller Armen und so allgemein beliebt, daß fast alle Mütter eine ihrer
Töchter auf den Namen Luise taufen ließen. In ihrem Garten zu Pots-
dam arbeitete sie fleißig, und da half auch der Kurfürst, der, wenn er auch
Pracht liebte, in der Familie wie ein einfacher Mann lebte. Er pfropfte
selbst Obstbäume, beschnitt die Gesträuche, fischte sich Karpfen und kaufte
seine Singvögel selbst auf dem Markte.
Diese kleinen Züge aus dem Leben des großen Mannes erfreuen das
Herz; sie sind verbunden mit der Demuth und Fröminigkeit, die ihn erfüllte.
Er war ein Mann nach dem Herzen Gottes. Hahn und Schmidt.
293. Fehrbcllin.
Herr Kurfürst Friedrich Wilhelm, der große Kriegesheld,
Seht, wie er auf dem Schimmel vor den Geschützen hält;
Das war ein rasches Reiten vom Rhein bis an den Rhin,
Das war ein heißes Streiten am Tag von Fehrbcllin.
Wollt ihr, ihr trotz'gen Schweden, noch mehr vom deutschen Land?
Was tragt ihr in die Marken den wüth'aen Kriegesbrand?
Herr Ludwig von der Seine, der hat euch aufgehetzt,
Daß Deutschland von der Peene zum Elsaß werd' zerfetzt.
Doch nein, Graf Gustav Wrangel, hier steh' nun einmal still,
Dort kommt Herr Friedrich Wilhelm, der mit dir reden will.
Gesellschaft aller Arten bringt er im raschen Ritt
Sammt Fahnen und Standarten zur Unterhaltung mit.
Nun seht ihn auf dem Schimmel, ein Kriegsgott ist es, traun!
Ten Boden dort zum Tanze will er genau beschau'n.
Und unter seinen Treuen, da reitet hintenan
Zuletzt, doch nicht aus L-chcuen, Stallmeister Frobcn an.
Und wie Herr Wrangel drüben den Schimmel nun erblickt,
Ruft er den Kanonieren: „Ihr Kinder, zielt geschickt!
Der auf dem Schimmel sitzet, der große Kurfürst ist's;
Nun donnert und nun blitzet, auf wen's geschieht, ihr wißt's."
Die donnern und die blitzen und zielen wohl nichts Schlecht's,
Und um den Herren fallen die Seinen links und rechts;
Dem Derfflinger, dem Alten, fast wird es ihm zu warm,
Er ist kein Freund vom Halten mit dem Gewehr im Arm.
Und dicht und immer dichter schlägt in die Heeresreih'n
Dort in des Schimmels Nähe der Kugelregen ein.
„Um Gott, Herr Kurfürst, weichet!" Der Kurfürst hört es nicht,
Es schaut sein Blick, der gleiche, dem Feind ins Angesicht.
Der Schimmel möcht' es ahnen, wem dieses Feuer gilt,
Er steigt und schäumt im Zügel, er hebt sich scheu und wild;
Die Herren alle bangen, doch ihm sagt's keiner an;
Wär' doch nicht rückwärts gangen, der fürstlich große Mann!
383
Und doch, der Tod ist nahe und mäht um ihn herum,
Und alles zagt und trauert, und alles bleibet stumm.
Die Scheibe ist der Schimmel, das merket jeder nun;
Doch helfen mag der Himmel, von uns kann's keiner thun!
Da reitet zu dem Fürsten Emanuel Froben her:
„Herr Kurfürst, euer Schimmel, er scheut sich voffm Gewehr!
Das Thier zeigt seine Launen, ihr bringt's nicht ins Gefecht;
So nehmt nur meinen Braunen, ich reit's indes zurecht."
Der Herr schaut ihm hinüber: „„Es ist mein Lieblingsroß:
Doch das verstehst du besser, so reit' es nur zum Troß!""
Sie wechseln still, dann sprenget rasch, ohne Gruß und Wort,
Den Zügel lang verhänget, der edle Froben fort.
Und weit von seinem Herren hält er zu Rosse nun,
Für wenig Augenblicke scheint das Geschütz zu ruh'n;
Der Kurfürst selber sinnet, warum es jetzt verstummt,
Und: „Wacker war's gemeinet", der alte Derffüng brummt.
Da Plötzlich donnert's wieder gewaltig über's Feld,
Doch nur nach einem Punkte 'war das Geschütz gestellt;
Hoch auf der Schimmel setzet, Herr Froben sinkt zum Sand,
Und Roß und Reiter netzet mit seinem Blut das Land.
Die Ritter alle schauen gar ernst und treu hinein.
O Froben dort am Boden, wie glänzt dein Ruhmesschein!
Ter Kurfürst ruft nur leise: „Ha! war das so gemeint?"
Und dann nach Feldherrn Weise: „Nun vorwärts in den Feind!"
Minding.
294. Die Kurfürst«: Luise Henriette von Brandenburg.
Unter den Vertrauten des großen Kurfürsten war niemand, auf den
er in geistlichen Dingen so gern gehört hätte, wie auf den Rath seiner
trefflichen Gemahlin Luise Henriette aus dem Hause Oranien. Dieselbe
war von echter, demüthiger Frömmigkeit und von christlicher Liebe erfüllt.
Eifrig im Gebet ließ sie sich auch die religiöse Erziehung ihrer Kinder
neben der wissenschaftlichen Ausbildung derselben sehr gelegen sein. Sie
war ihrem Gemahle bei seiner umfassenden und anstrengenden Thätigkeit
eine wahre Stütze; mit inniger Liebe war sie ihm treu ergeben und folgte
ihm trotz ihrer schwachen Gesundheit fast auf allen seinen zahlreichen Reisen
und selbst auf seinen Kriegszügen; denn es war ihr unerträglich, von ihm
getrennt zu sein. „Ich will lieber alle Unbequemlichkeiten der Welt haben
und bei ihm sein", schrieb sie einst, „als alle Bequemlichkeit der Welt und
ihn nicht sehen." Der Kurfürst erwiderte diese innige Liebe, und selbst in
den ernstesten Staatsangelegenheiten war es ihm ein Bedürfnis, sich mit
ihr zu berathen; oft verließ er die Sitzung seines geheimen Rathes und
sprach mit ihr über die vorliegenden Sachen. Selbst auf Friedensuntcr-
handlungen übte sie einen gewissen Einfluß, besonders soll sie an dem Ab-
schlüsse des Friedens von Oliva Theil gehabt haben. Ihr landesmütter-
liches Herz war gerührt von dem großen Kriegselende in Preußen, und sie
sagte, ihr Gemahl könne es vor Gott nicht verantworten, wenn er dem-
selben keine Erleichterung gewährte. Vor allem aber entsprach cs ihrem
echt weiblichen und frommen Sinne, durch ihre Fürbitte die Strafen der
Verbrecher so viel als möglich zu mildern. Den Armen endlich war sie
eine wahre Mutter und christliche Fürsorgerin; überall war sie den Noth-
lcidenden mit Rath und Hülse nahe. Deshalb erwies ihr auch das Volk
384
eine innige Verehrung. Das Waisenhaus in Oranienburg, welches von
ihr gegründet wurde, hat das Andenken ihrer Wohlthätigkeit verewigt. Zu
früh für den Kurfürsten und für die Liebe des Volkes starb sie schon am
18. Juni 1067 im noch nicht vollendeten vierzigsten Jahre. Eine zweite
Gemahlin des großen Kurfürsten, Dorothea von Holstein-Glücksburg, ver-
mochte ihm jenen herben Verlust niemals zu ersetzen, und er soll öfter in
wehmüthigem Anschauen vor Luisens Bilde gestanden und in Thränen aus-
gerufen haben: „O Luise, wie sehr vermisse ich dich und deinen Rath."
Nicht blos als Gattin, Mutter und Fürstin hat Luise Henriette ein
ruhmvolles Andenken hinterlassen, auch als Dichterin geistlicher Lieder wird
sie in der evangelischen Kirche hoch geehrt. Gewiß hat Paul Gerhardt's
herrliches Bild belebend und anregend auf sie gewirkt; der Kurfürst selbst
hatte vier ihrer geistlichen Lieder herausgegeben, unter welchen zwei, „Jesus,
meine Zuversicht» und „Ich will von meiner Missethat zum Herren mich
bekehren" als kostbare Kleinode des evangelischen Liederschatzes allgemein
in Ehren gehalten werden. «»dw. Hahn.
295
1. Geh aus, mein Herz, und suche Freud'
In dieser lieben Sommerzeit
An deines Gottes Gaben;
Schau an der schönen Gärten Zier,
Und siehe, wie sie mir und dir
Sich ausgeschmücket haben.
2. Die Bäume stehen voller Laub,
Das Erdreich decket seinen Staub
Mit einem grünen Kleide.
Narzissen und die Tulipan,
Die ziehen sich viel schöner an
Als Salomonis Seide.
3. Die Lerche schwingt sich in die Luft,
Das Tänblein fleucht aus seiner Kluft
Und macht sich in die Wälder;
Die hochbegabte Nachtigal
Ergötzt und füllt mit ihrem Schall
Berg, Hügel, Thal und Felder.
4. Die Glucke führt ihr Völklein aus,
Der Storch baut und bewohnt sein Haus,
Das Schwälblcin speist ihr' Jungen;
Der schnelle Hirsch, das leichte Reh
Ist froh und kommt ans seiner Höh
Ins tiefe Gras gesprungen.
5. Die Bächlein rauschen in dem Sand
Und malen sich und ihren Rand
Mit schattenreichen Mirten;
Die Wiesen liegen hart dabei
Und klingen ganz von Lustgeschrei
Der Schaf und ihrer Hirten.
ommerlied.
6. Die unverdroßne Bienenschar
j Fleugt hin und her, sucht hier und dar
Ihr' edle Honigspeise;
Des süßen Weinstocks starker Saft
Krigt täglich neue Stärk' und Kraft
In seinem schwachen Reise.
7. Der Weizen wächset mit Gewalt;
Darüber jauchzet jung und alt, .
Und rühmt die große Güte
| Des, der so überflüssig labt
Und mit so manchem Gut begabt
Das menschliche Gemüthe.
8. Ich selber kann und mag nicht ruhn;
Des großen Gottes großes Thun
' Erweckt mir alle Sinnen:
Ich singe mit, wenn alles singt.
Und lasse, was dem Höchsten klingt,
Aus meinem Herzen rinnen.
9. Ach, denk' ich, bist du hie so schön,
Und läßt du's uns so lieblich gehn
Auf dieser armen Erden:
Was will doch wohl nach dieser Welt
Dort in dem reichen Himmelszelt
Und güldnen Schlosse werden?
10. O wär' ich da! O stünd' ich schon,
Ach, süßer Gott! vor deinem Thron
Und trüge meine Palmen!
So wollt' ich nach der E^el Weis'
Erhöhen deines Namens Preis
Mit tausend schönen Psalmen.
P. Gerhardt.
296. Datz Leben im Sommer.
Gott, welche Jahreszeit ist der Sommer! Wahrlich, ich weiß oft nicht, bleibe
ich in der Stadt, oder gehe ich auf's Feld, so sehr ist's einerlei und hübsch. Geht
man zum Thore hinaus, so erfreuen uns die Bettler, die jetzt nicht frieren, und die
Postreiter, die mit vieler Lust die ganze Nacht zu Pferde sitzen können, und die
385
Schläfer schlafen im Freien. Man braucht kein dumpfes Haus; jede Staude macht
man zur Stube und hat dabei gar die guten, emsigen Bienen vor sich und die präch-
tigen Zweifalter. Wegen des Jagdverbotes wird nichts geschossen, und alles..Leben
in Büschen und Furchen und auf Ästen kann sich so recht sicher ergötzen. Überall
kommen Reisende auf allen Wegen daher, haben die Wagen meist zurückgeschlagen,
den Pferden stecken Zweige im Sattel und den Fuhrleuten Rosen im Munde. Die
Schatten der Wolken laufen; die Vögel fliegen dazwischen auf und ab; Handwerks-
burschen wandern leicht mit ihren Bündeln und brauchen keine Arbeit. Sogar im
Regenwetter steht man sehr gern draußen und riecht die Erquickung, und es schadet
den Viehhirten die Nässe weiter nicht. Und ist's Nacht, so sitzt man nur in einem
kühlern Schatten, von wo aus man den Tag deutlich sieht am nördlichen Horizonte
und an den süßen Himmelssternen. Wohin ich nur blicke, so finde ich mein liebes
Blau, am Flachs in der Blüte, an den Kornblumen und am göttlichen, unendlichen
Himmel, in den ich gleich hineinspringen möchte wie in eine Flut. — Kommt man
nun wieder nach Hause, so findet sich in der That frische Wonne. Die Gasse ist eine
wahre Kinderstube. Sogar abends nach dem Essen werden die Kleinen wieder ins
Freie gelassen und nicht wie im Winter unter die Bettdecke gejagt. Man ißt am Tage
und weiß kauni, wo der Leuchter steht. Im Schlafzimmer sind die Fenster Tag und
Nacht offen, auch die meisten Thüren ohne Schaden. Die ältesten Weiber stehen ohne
Frost am offenen Fenster und nähen. Überall liegen Blumen: neben dem Tintenfaß,
auf den Acten, auf den Sessions- und Ladentischen. Die Kinder lärmen sehr, und
man hört das Rollen der Kegelbahnen. Die halbe Nacht acht man auf den Gassen
auf und ab und sieht die Sterne am hohen Himmel schießen. — O Gott, welches
Freudenleben auf dieser kleinen Erde! Je«n Paul Friedrich Richter.
297. Bon der Freundschaft.
Ich habe dir in der vorigen Lection die Feindschaft erklärt, und wie
man dazu gelangen könne, und wann ein ehrlicher Kerl sich nicht scheuen
müsse. Heute von der Freundschaft.
Von der spricht nun einer, sic sei überall; der Andere, sie sei nirgends;
und es steht dahin, wer von beiden am ärgsten gelogen hat. _
Wenn du Paul den Peter rühmen hörst, so wirst du finden, rühmt
Peter den Paul wieder, und das heißen sie denn Freunde. Und ist oft
zwischen ihnen weiter nichts, als daß einer den Andern kratzt, damit er
ihn wieder kratze, und sie sich so einander wechselweise zu Narren haben;
denn, wie du siehst, ist hier, wie in vielen andern Fällen, ein jeder nur
sein eigener Freund, und nicht des Andern. Ich pflege solch Ding
„Hollunder-Freundschaften" zu nennen. Wenn du einen jungen Hollunder-
zwcig ansiehst, so sieht er sein stämmig und wohl gegründet aus; schneidest
du ihn aber ab, so ist er inwendig hohl, und ist so ein trocken schwammig
Wesen darin.
So ganz rein geht's hier freilich selten ab, und etwas Menschliches
pflegt sich wohl mit einzumischen; aber das erste Gesetz der Freundschaft
soll doch sein, daß einer des Andern Freund sei.
Und das zweite ist, daß du's von Herzen seiest, und Gutes und
Böses mit ihm theilest, wie's vorkommt. Die Delicatessc, da man diesen
und jenen Gram allein behalten, und seines Freundes schonen will, ist
meistens Zärtelei; denn eben darum ist er dein Freund, daß er mit
untertrete und es deinen Schultern leicht mache.
Drittens, laß du deinen Freund nicht zweimal bitten. Aber wenn's
Noth ist und er helfen kann, so nimm du auch kein Blatt vors Maul,
25
380
sondern geh und fordre frisch heraus, als ob's so sein müsse, und gar nicht
anders sein könne.
Hat dein Freund an sich, das nicht taugt, so mußt du ihm das
nicht verhalten, und es nicht entschuldigen gegen ihn. Aber gegen den
dritten Mann mußt du es verhalten und entschuldigen. Mache nicht
schnell jemand zu deinem Freunde, ist er's aber einmal, so muß cr's gegen
den dritten Mann mit allen seinen Fehlern sein. Etwas Sinnlichkeit und
Parteilichkeit für den Freund scheint mit zur Freundschaft in dieser Welt
zu gehören. Denn wolltest du an ihm nur die wirklich ehr- und liebens-
würdigen Eigenschaften ehren und lieben, wofür wärst du denn sein
Freund? Das soll ja jeder wildfremde unparteiische Mann thun. Nein,
du mußt deinen Freund, mit allem, was an ihm ist, in deinen Arm
und in deinen Schutz nehmen; das Oranum Salis versteht sich von selbst,
und daß aus einem Edlen kein Unedtes werden müsse.
Es gibt eine körperliche Freundschaft. Nach der werden auch zwei
Pferde, die eine Zeit lang beisammen stehen, Freunde, und können eins
des Andern nicht entbehren. Es gibt auch sonst noch mancherlei Arten
und Veranlassungen. Aber eigentliche Freundschaft kann nicht sein ohne
Einigung; und wo die ist, da macht sie sich gern und von selbst. So
sind Leute, die zusammen Schiffbruch leiden, und die an eine wüste Insel
geworfen werden, Freunde. Nämlich das gleiche Gefühl der Noth in ihnen
allen, die gleiche Hoffnung und der eine Wunsch nach Hülfe einigte sie;
und das bleibt oft ihr ganzes Leben hindurch. Einerlei Gefühl, einerlei
Wunsch, einerlei Hoffnung einigt; und je inniger und edler dies Gefühl,
dieser Wunsch und diese Hoffnung sind, desto inniger und edler ist auch die
Freundschaft, die daraus wird.
Aber, denkst du, auf die Weise sollten ja alle Menschen auf Erden
die innigsten Freunde sein? Freilich wohl! und es ist meine Schuld nicht,
daß sie es nicht sind.
Postscript. Es gibt einige Freundschaften, die im Himmel beschlossen
sind und auf Erden vollzogen werden. M°t-h. Claudius.
298. Lied der Freundschaft.
Der Mensch hat nichts so eigen,
So wohl steht ihm nichts an,
Als daß er Treu' erzeigen
Und Freundschaft halten kann;
Wenn er mit seines Gleichen
Soll treten in ein Band,
Verspricht sich, nicht zu weichen
Mit Herzen, Mund und Hand.
Die Red' ist uns gegeben,
Damit wir nicht allein
Für uns nur sollen leben
Und fern von Menschen sein.
Wir sollen uns befragen
Und sehn auf guten Rath,
Das Leid einander klagen,
So uns betreten hat.
Gott stehet mir vor allen,
Die meine Seele liebt;
Dann soll mir auch gefallen,
Der mir sich herzlich gibt.
Mit diesen Bund'sgesellen
Verlach' ich Pein und Noth,
Geh' auf den Grund der Höllen
Und breche durch den Tod.
Was kann die Freude machen,
Die Einsamkeit verhehlt?
Das gibt ein doppelt Lachen,
Was Freunden wird erzählt.
Der kann sein Leid vergessen,
Der es von Herzen sagt:
Der muß sich täglich fressen,
Der insgemein sich nagt.
Simon Dach-
387
299. Die drei Freunde.
Traue keinem Freunde, -worin du ihn nicht geprüft hast; an
der Tafel des Gastmahls gibt es mehr derselben, als an der Thür
des Kerkers.
Ein Mann hatte drei Freunde. Zwei derselben liebte er sehr,
der dritte war ihm gleichgültig, ob dieser es schon am redlichsten
mit ihm meinte.
Einst ward er vor Gericht gefordert, wo er unschuldig, aber
hart verklagt war. „Wer unter euch“, sprach er, „will mit mir
gehen und für mich zeugen? Denn ich bin hart verklagt worden,
und der König zürnet.“
Der erste seiner Freunde entschuldigte sich sogleich, dass er
nicht mit ihm gehen könne wegen anderer Geschäfte. Der zweite
begleitete ihn bis zur Thür des Richthauses; da wandte er sich und
gieng zurück aus Furcht vor dem zornigen Richter. Der dritte, auf
den er am wenigsten gebaut hatte, gieng hinein, redete für ihn und
zeugte von seiner Unschuld so freudig, dass der Richter ihn losliess
und beschenkte.
Drei Freunde hat der Mensch in dieser Welt; wie betragen sie
sich in der Stunde des Todes, wenn ihn Gott vor Gericht fordert?
Das Geld, sein bester Freund, verlässt ihn zuerst und geht nicht
mit ihm. Seine Verwandten und Freunde begleiten ihn bis zur
Thür des Grabes und kehren wieder in ihre Häuser. Der dritte,
den er im Leben oft am meisten vergass, sind seine guten Werke.
Sie allein begleiten ihn bis zum Throne des Richters; sie gehen
voran, sprechen für ihn und finden Barmherzigkeit und Gnade.
J. G. v. Herder.
Winterlied.
Wer hat dein Bett bereitet,
Die Decke dir gespreitet
Und dich so schön mit Reif geschmückt?
Der gute Vater droben
Hat dir dein Kleid gewoben,
Er schläft und schlummert nicht.
So schlumm're denn in Frieden!
Der Vater weckt die Müden
Zu neuer Kraft, zu neuem Licht.
Bald in des Lenzes Wehen
Wirst du verjüngt erstehen
Zum Leben wunderbar.
Sein Odem schwebt hernieder,
Dann, Erde, stehst du wieder
Mit einem Blumenkranz im Haar.
Adolf Krummacher.
301. Die halbe Flasche.
Nach der Schlacht von Fehrbellin, in welcher die Schweden von den
Preußen geschlagen wurden, bat ein auf den Tod verwundeter Schwede
einen vorübergehenden preußischen Soldaten um einen Trunk. Den sollst
du haben, Kamerad", sagte dieser. Während er aber die Feldflasche los-
25*
300.
Wie ruhest du so stille
In deiner weißen Hülle,
Du mütterliches Land!
Wo sind des Frühlings Lieder,
Des Sommers bunt' Gefieder
Und dein beblümtes Festgewand?
Du schlummerst nun entkleidet;
Kein Lamm, kein Schäslein weidet
Auf deinen Aun und Höhn.
Der Vöglein Lied verstummet,
Und keine Biene summet,
Doch bist du auch im Winter schön
Die Zweig und Ästlein schimmer
Und tausend Lichter flimmern,
Wohin das Auge blickt.
nestelte, ergriff der tückische Schwede eine neben ihm liegende Pistole und
feuerte sie unversehens auf den gutmüthigen Preußen ab, fehlte ihn aber.
„Es war gut gezielt", sagte dieser, „denn die Kugel pfiff mir just am
Ohre vorbei, aber böse gemeint, und ich kann dich deswegen nicht nugestraft
lassen! Sieh, diese Flasche ist voll guten Weins, und du hättest sie ganz
bekommen; jetzt aber bekommst du sie nur halb!" — Damit that der
Preuße einen tüchtigen Schluck aus derselben, gab sie dann dem Schweden
und gieng ruhig davon. a. H. Casp-ri.
302. Die Wafferpumpe.
Die Atmosphäre (der Luft- oder Dunstkreis) nimmt theil an der
Bewegung der Erde um sich selber. Ihre Höhe kann mau nicht mit
Bestimmtheit angeben; der Eine schätzt dieselbe auf 10, der Andere auf
27 Meilen. Die unteren Schichten der Luft werden durch die oberen
zusammengedrückt und sind daher dichter als diese.
Wegen ihrer Schwere übt die Luft einen
Druck auf alle Körper der Erde aus, und dieser
ist um so stärker, je dichter die Luftschichten sind,
also in den Thälern größer, als aus hohen Ber-
gen. Aus dem Drucke der Lust beruht die Ein-
richtung und Wirkung der Säugpumpen.
Die Wafserpumpe besteht zunächst aus einer
überall gleich weiten Röhre (a), welche Stiefel
genannt wird. Diese endet nach unten in eine
enge Röhre (b), das Saugrohr, welches in
Wasser zu stehen kommt. In dem Stiefel be-
findet sich ein hölzerner oder eiserner Kolben (c),
welcher sich auf- und abwärts bewegen läßt. Er
ist da, wo er den Stiefel berührt, mit weichem
Leder umgeben, damit er genau anschließe, und
hat in der Mitte eine Öffnung, die mit einem
Ventile (6), d. i. einer Klappe, versehen ist. Ein
solches befindet sich auch au dem oberen Theile
der isaugröhre, da wo diese in den Stiefel
mündet. Beide Ventile öffnen sich aufwärts,
wie der Klappdeckel einer Dose. Der Stiefel
hat an seinem oberen Theile eine Seitenröhre (o), den sogenannten Ausguß,
und an dem Kolben befindet sich der Schwengel (f), eine Handhabe zum
Auf- und Niederbewegen desselben.
Hebt man den Schwengel auf, so geht der Kolben hinunter; die
zwischen dem Kolben und der Wasserfläche befindliche Luft wird dadurch
zusammengedrückt und öffnet das Kölbenventil, durch welches sie ausströmt.
Mau drückt den Schwengel nieder, der Kolben hebt sich, sein Ventil ver-
schließt sich, aber das Ventil der Saugröhre wird durch das Wasser, auf
welches die äußere Luft drückt, geöffnet, und das Wasser dringt in den
luftleeren Raum des Stiefels, öffnet das Kolbenventil und fließt bei wei-
terer Hebung des Kolbens durch den Ausguß aus. So lange dies Kolben-
389
spiel fortgeht, wird das Wasser in die Höhe gepumpt und läuft ununter-
brochen heraus.
Die ersten Schwengelbewegungen geben noch gar kein oder nur sehr
wenig Wasser. Das kommt daher, daß der Kolben sich nur bis zum
oberen Rande der Saugröhre hinabdrücken läßt; in dieser ist aber auch
noch Luft, die erst bei jeder neuen Kolbcnbewegung sich mehr und mehr
verdünnt. Trappe
303. Der Kaffee.
Während uns die Kartoffeln und der Tabak aus dem Westen, und
zwar aus Amerika gebracht wurden, erhielten wir den Kaffee zuerst aus
dem Orient, seiner eigentlichen Heimat. Trotzdem, daß der Kaffee mehr-
mals und in verschiedenen Ländern als ein Gift streng verboten wurde,
werden gegenwärtig gegen 550 Mill. Pfund nach Europa eingeführt, welche
mit ungefähr 600 Millionen Mark bezahlt werden müssen. Dafür dampft
aber auch jetzt der Kaffcckcssel in jedem Hause, ja selbst in der elendesten
Hütte, oft sogar mehrmals des Tages. Er bietet ein angenehmes Genuß-
mittel für Reiche und Arme, und namentlich ist er den letztern sehr
werthvoll, wenn es ihnen an Geld oder Zeit fehlt, sich ein Gericht von
warmen Speisen zu verschaffen. Es ist aber auch in der That nicht zu
leugnen, daß eine Tasse Kaffee ein wahres Labsal ist für jedermann,
besonders aber für den, welcher friert und arbeitet. So zuträglich aber
ein mäßiger Genuß dieses Getränkes ist, so nachtheilig kann er der Gesund-
heit werden, wenn er zu häufig oder gar zu stark getrunken wird. Der
übermäßige Genuß des Kaffees hat Schlaflosigkeit und einen rauschartigen
Zustand von Aufregung zur Folge. Es entsteht ein Gefühl von Unruhe
und Hitze, Angst und Schwindel, Zittern der Glieder, ein Drang, ins
Freie zu kommen; und die frische Luft ist gewöhnlich das beste Mittel
zur Hebung eines Zustandes, dessen Fortdauer eine wahrhaft aufreibende
Gewalt auf den Menschen ausübt.
Ta aber die Auslagen, die der Kaffee erfordert, für den Armen
immerhin groß sind, so hat man sich nach einem Ersatzmittel für denselben
umgesehen und verschiedene andere Stoffe statt seiner gebraucht. Vielfach
bedient man sich statt des Kaffees oder zur Mischung desselben der zer-
schnittenen oder gerösteten Cichorienwurzeln, gelben Rüben, Runkelrüben,
Feigen; dann der Erbse, des Roggens, des Mais und der Gerste. Wenn
diese Stoffe auch den Kaffee nicht ganz ersetzen, so geben doch manche
derselben ein gutes, nahrhaftes Getränk; besonders gilt dies von dem
Gersten- und dem Eichelkaffee. Letzterer ist unstreitig das beste Ersatzmittel
und bewährt sich namentlich bei Kindern als Heilmittel gegen Skrophcln
und Unverdaulichkcit, weshalb er auch vielfach von den Ärzten ange-
ordnet wird.
Der echte Kaffeebaum hat einen schlanken Stamm mit rissiger
Rinde und kann da, wo er in seiner Entwickelung durch keine störenden
Einflüsse gehindert wird, etwa 11/2—6 Meter hoch werden; er bleibt aber
meist buschartig, da häufig 2 bis 3 Stämmcheu vorhanden sind, oder ein
Hauptstamm unmittelbar über der Erde sich theilt. Auch wird er oft
absichtlich durch den Schnitt klein gehalten, damit mau bei der Ernte um
390
so bequemer an die Früchte gelangen kann. Seine Blätter sind gegen
5 cm groß, auf der obern Seite dunkelgrün und stark glänzend, unten
matt blaßgrün. Der Form nach gleichen sie so ziemlich den Lorbeer-
blättern, nur sind sie verhältnißmäßig etwas schmaler. Sie stehen paar-
weise gegenüber. Die Äste gehen bis tief herab, sind wagerccht und bilden
eine Pyramide. Unmittelbar aus dem Aste, an der Wurzel der Blätter,
kommen 3 bis 7 fast ungestielte Blüten hervor, welche weiß, fünfspaltig
und wohlriechend sind. Die fünf gelben Staubfäden sind im Schlunde
der Blüte befestigt, vorragend, und fallen wie die Blüte schon innerhalb
24 Stunden ab. Sie lassen die An-
fänge zu den Früchten zurück, welche
ungefähr ein halbes Jahr zu ihrer
völligen Entwickelung nöthig haben. Im
reifen Zustande sind die Früchte dunkel-
kirschroth, oval, 13 — 90 mm lang
und haben ein widerlich süßes, schlei-
miges Fleisch. Der Kaffeebaum hat
ein freundliches Ansehen; steht er in
voller Blüte, so sieht er aus, als wenn
er überpudert wäre, und übertrifft
an Schönheit selbst unsere Obstbäume.
Er grünt das ganze Jahr hindurch
und hat zu gleicher Zeit Blüten und
reise Beeren, so daß man im Laufe
des Jahres drei Ernten hält. Jeder
Baum gibt durchschnittlich 11/2 bis
2 Pfund Kaffee.
In der Frucht liegen gewöhnlich zwei Bohnen, deren jede mit einer
lockern, pergamentähnlichen Schale umgeben ist, unter welcher noch eine
äußerst feine Hülle auf der Bohne aufliegt. Die Bohnen sind au der
äußern Seite rundlich geformt, an der innern stach.
Diese flachen Seiten, welche mit einer Längsfurche versehen sind,
liegen an einander. Öfters findet man auch Früchte, die nur eine Bohne
enthalten; diese werden meist ausgelesen und unter dem Namen Perl-
kaffee verkauft.
Die Heimat des Kaffeebaumes ist nicht Arabien, wie man lange Zeit
geglaubt hat, sondern Abessinien nebst den angrenzenden Ländern Enara
und Kassa, wo er wild vorkommt.
Der Gebrauch, Kaffee zu trinken, ist in Europa noch gar nicht so alt.
In Konstantinopel wurden im Jahre 1554 die ersten Kaffeehäuser errichtet.
Im Jahre 1660 kam der erste Kaffee nach Marseille, und 1671 cutstand
dort das erste Kaffeehaus, dagegen in Paris erst 1672, zu Wien 1683,
zu Stuttgart 1713; in dem schwäbischen Alpdorfe Genkingen trank man
sogar 1817 zum ersten Male Kaffee. Erst gegen das Ende des vorigen
Jahrhunderts wandten sich Kuba, Jamaika und das amerikanische
Festland dem Kaffeebau zu und haben jetzt eine außerordentlich große
Ausfuhr; noch später hat sich ihnen Brasilien angeschlossen. Den besten
Kaffee bezieht man immer noch aus Arabien; noch ihm kommt der
I
391
ostindische, und eine Art davon ist der Iavakaffee, so genannt nach
der Insel Java, auf welcher er wächst. Der gewöhnlichste Kaffee bei
uns ist aber der brasilianische.
Wer einen recht guten Kaffee trinken will, muß zuerst die Bohnen in
warmem Wasser einweichen, um sie von dem ihnen anklebenden Schmutze
zu reinigen, sic dann nur halb braun rösten und erst unmittelbar, bevor
das Getränk bereitet werden soll, zu einem groben Pulver mahlen. Dieses
wird dann entweder mit siedendem Wasser übergössen oder auch gekocht.
Letzteres darf aber nicht lange dauern; denn der Kaffee verliert dadurch
an seinem Wohlgeschmack. M. ® a $.
304. Ter Frosch.
Biele Frösche lebten beisammen in dem großen Teiche. Den Winter
hindurch lagen sie im tiefen Schlammgrundc starr und steif wie todt, ohne
zu essen und zu athmen, während droben auf dem glatten Eisspiegel muntre
Knaben Schlittschuh liefen. Da klopft der Frühling an die große Fenster-
scheibe ihres Zimmers, und von dem starken Pochen springt sie entzwei in
tausend Stücke. Er haucht ins kalte Wasser; es dampft der Teich, als
sei der warme Morgentrunk bereit; von kleinen Thierchen wimmelt's schon
an dem Laichkraut, das in dichten Massen sich emporstreckt. Das Morgen-
brot ist fertig. Da stehen die Frösche vom Winterschlaf ans; sie recken
und strecken sich, sie dehnen die Glieder, die so lange müßig waren; jetzt
heben sie sich vom tiefen Grunde nach oben. Alle Böglein tragen zu Neste
und füttern ihre Kleinen; die Schafe führen ihre Lämmchen zur blumen-
reichen Wiese, — da werden
die kalten Frösche auch mit
fortgerissen von der Frühlings-
freude. Erst streckt ein ein-
zelner den dicken Kopf empor
übers Wasser und quakt in
kurzen, tiefen Tönen, — dann
fallen zwei, drei andere ein,
und zuletzt der ganze Chor.
Ein lautes Frühlingslied wird
eingeübt und den ganzen
schönen Abend lang dem
Monde vorgesungen. Zwei
dicke Schallblasen treten da-
^ , bei dem Männchen an der
^eite des Halses hervor und helfen den Schall verstärken.
Nun legen die fröhlichen Frösche ihre Eier. Große Massen von
gallertartigem Aussehen, dem Eiweiße ähnlich, befestigen sie an den Wasser-
pflanzen. Dunkle Pünktchen sind in der schleimigen Masse. Aus jedem
dieser Pünktchen wird dereinst ein Fröschlein. Das laue Wasser ist die
große Wiege der jungen Frösche, und duftige Maienluft schaukelt sie.
Weiße Hahnenfußbliiten und gelbe Dotterblumen sind die bunte, leichte
^>ecke. Die Sonne aber brütet mit warmen Strahlen Hunderte von Eiern
392
aus. Das Pünktchen in dem Froschlaich wird größer und größer; die
gallertartige, klare Masse zertheilt sich. Der junge Frosch schlüpft aus.
Welche wunderliche Gestalt zeigt er! Ein rundes, schwarzes Körperchen
und daran ein langer breiter Schwanz, —• das ist das ganze Thier. Am
Körperchen ist noch kein Unterschied von Kopf, Hals, Rumpf und Bauch
zu merken; nur die Augen und den Mund sehen wir daran, und au den
Seiten ragen zwei zartgefaserte Häutchen in das Wasser. Dies sind die
Kiemen, durch die das Thierchen Athem holt. Sie sind im Stande, die
Luft aufzunehmen, die in dem Wasser ist. — Lustig ist es anzusehen, wie
das junge Fröschlein sich bewegt. Der Schwanz ist dabei sein Ein und
Alles, Hand und Fuß und Flosse. Nur mit ihm kann sich das kleine,
glatte Thierchen fortbewegen, und es sieht sich niedlich an, wie der junge
Frosch, den man in diesem Zustande wohl Kaulquappe nennt, so schnell
und munter links und rechts im hellen Wasser schwimmt, nach der Ober-
fläche steigt, oder nach dem Grunde taucht.
Nachdem das Fröschlein sich eine geraume Zeit mit seinem Schwänz-
chen hat forthelfen müssen, fangen die beiden Hinterfüße an zu wachsen.
Zuerst nur wie zwei Häkchen erscheinend, werden sie allmählich immer größer,
bis sie endlich mit Schenkeln, mit Zehen und mit Schwimmhäuten versehen,
vollständig fertig sind. Wenn vorher aus der Schar von Fröschlein, die
nur den Schwanz zum Schwimmen besaßen, sehr viele von den räuberischen
Fischen verzehrt wurden, so wird es diesen gierigen Feinden jetzt schon
viel schwieriger, eins zu erhaschen. In großer Eile flieht der Schwarm
auseinander, sobald ein Hecht sich naht, und verkriecht sich behende hinter
Steinen, Blättern und Wurzelwerk. —- So wie dem Frosche die Hinter-
füße wachsen, ziehen sich die Kiemen allmählich in den Leib zurück. Eine
Zeit lang exerciert er nun tüchtig mit Schwanz und Hinterbeinen. Er
legt sie dicht an seinen glatten Körper, breitet die Zehen mit der Schwimm-
haut aus und stößt kräftig beide Beine gleichzeitig nach hinten, und wie
ein Pfeil schießt er durchs Wasser. Der Schwanz hilft noch fortwährend
mit. So wie die Hinterbeine ihre Sache immer besser lernen, fangen
auch die Vorderbeine an zu wachsen. Nun schwimmt das Fröschlein gewandt
und schnell, macht rechts um, links um, auf und ab. Es ist überhaupt
in allen Theilen viel größer und stärker geworden. Kopf, Brust und Leib
lassen sich nun deutlich unterscheiden. Aber der Schwanz wird in gleichem
Maße schwächer und kleiner. Der Frosch bedarf ihn endlich gar nicht
mehr; deshalb ist er auch, wenn die Beine völlig ausgewachsen sind, gänz-
lich verschwunden. Bisher war es dem Frosche nur möglich, im Teiche
und in dem Graben zu leben und hier mancherlei Würmchen zu verzehren.
Doch aus den meisten- derselben werden Fliegen oder Mücken, die fliegen
in der Luft und halten dort ihre lustigen Tänze, setzen sich dann auf die
schwankenden Grasblätter und Halme und kommen nie ins Wasser zu dem
Frosch zurück. Sehnsüchtig sieht er seiner schönen Speise nach; er will
aufs Land. Bisher konnten seine Kiemen nur solche Luft einalhmen, die
im Wasser sich befindet, und das Fröschlein mußte sterben, wenn wir es
aus dem Wasser nahmen und lange Zeit im Trocknen ließen, so wie es
ja auch den Fischen ergeht; doch während die Beine sich kräftigten und
zum Hüpfen allmählich geeignet wurden, bildeten sich die Wasserkicmen zu
393
Zungen um, die im Stande sind, solche Luft'zu athmen, wie wir selbst.
Nun endlich kriecht der Frosch und lernt hüpfen, hoch und höher, bis er
die Fliege auf dem Vergißmeinnicht erhascht. Seine Zunge leistet ihm
bei seiner Jagd gar gute Dienste. Sie ist breit und vorn festgewachscn,
nach hinten liegt sie frei und lose im Munde. Blitzschnell klappt sic sich
heraus, wenn das Mücklein nahe genug ist, ergreift dasselbe und kehrt mit
ihm zum Munde zurück.
Wie der Frosch seinen Ruderschwanz abgethan hat, so legt er zu
Zeiten auch seine Haut ab; doch während jener allmählich vom Körper
gleichsam wieder eingesogen und anderwärts verbraucht wird, zieht er diese
vollständig aus. Sie ist freilich so dünn, daß, wenn cs einem einmal
gelingt, ein solches Häutchen aufzufischen und auf Papier zu kleben, es
dann ganz aussieht, als sei nur mit schwacher Farbe etwas auf das weiße
Blatt gemalt. Sehr selten findet mau jedoch ein solches Häutchen, denn
gewöhnlich speist es der Frosch sogleich auf, wie er es abgestreift hat.
So ist mit der Zeit ans dem unbeholfenen schwarzen Kügelchen, das
dem Laich entschlüpfte, das schnelle, muntere Fröschlein geworden, das über
Gras und Blumen springt. Der Laubfrosch vergnügt sich sogar in der
Krone des Baumes. H. Wagner.
305. Kanuitversta».
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, Betrachtungen über den
Unbcstaud aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu
werden mit seinem Schicksale, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für
ihn in der Luft herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umweg kam
ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdani durch den Irrthum zur Wahr-
heit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche
Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger
Menschen gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus
in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bi§
nach Amsterdam noch keines erlebt hatte. Lange betrachtete er mit Ver-
wunderung dieses kostbare Gebäude, die Kamine auf dem Dach, die schönen
Gesimse und die hohen Fenster, größer denn an des Vaters Hans daheim
die Thür. Endlich konnte er sich nicht enthalten, einen Vorübergehenden
anzureden. „Guter' Freund", redete er ihn an,' „könnt ihr mir nicht
sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den
Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Levkojen?" — Der Mann
aber, der vermuthlich etwas Wichtigeres zu thun hatte, und zum Unglück
gerade so viel von der deutschen Sprache verstand, als der Fragende von
der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kannitverstan";
und schnurrte vorüber. Dies war ein holländisches Wort oder drei, wenn
man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch so viel als: Ich kann euch
nicht verstehen. Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des
Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das muß ein grnndreicher Mann
sein, der Herr Kannitverstan, dachte er, und gieug weiter. Gaß aus, Gaß
ein kam er endlich an den Meerbusen, der da heißt: „Het Eh", oder auf
deutsch: „Das Ypsilon". Da stand nun Schiff an Schiff und Mast-
394
bäum an Mastbaum; und er wußte anfänglich nicht, wie er es mit seinen
zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug
zu sehen und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff seine Aufmerk-
samkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt war, und
jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze Reihen von Kisten und
Ballen auf- und nebeneinander am Laude. Noch immer wurden mehrere
herausgewälzt, und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer.
Als er aber lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine
Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das
Meer alle diese Waren an das Land bringe. „Kannitverstan", war die
Antwort. Da dachte er: Haha, schaut's da heraus? Kein Wunder! wem
das Meer solche Reichthümer an das Land schwemmt, der hat gut solche
Häuser in die Welt stellen, und solcherlei Tulipanen vor die Fenster in
vergoldeten Scherben. Jetzt gieng er wieder zurück, und stellte eine recht
traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Mensch sei
unter so viel reichen Leuten in der Welt. Aber als er eben dachte: Wenn
ich's doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan
es hat, kam er um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzng. Bier
schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen
Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Todten
in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten
des Verstorbenen folgte nach. Paar und Paar, verhüllt in schwarze
Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein.
Jetzt ergriff unsern Fremdling ein wehmüthiges Gefühl, das an keinem
guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und er blieb mit
dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war. Da
machte er sich an den Letzten vom Zug, der eben in der Stille ausrechnete,
was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Centner um
zehn Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treu-
herzig um Entschuldigung. „Das muß wohl auch ein guter Freund von
euch gewesen sein, sagte er, „dem das Glöcklein läutet, daß ihr so betrübt
und nachdenklich mitgeht." „Kannitverstan!" war die Antwort. Da
sielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Thränen aus den Augen,
und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz.
„Armer Kannitverstan", rief er aus, „was hast du nun von allem deinem
Reichthum? Was ich einst von meiner Armuth auch bekomme: ein Todten-
kleid und ein Leichentuch, und von allen deinen schönen Blumen vielleicht
einen Rosmarin auf die kalte Brust, oder eine Raute." Mit diesen Ge-
danken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab,
sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte
und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort ver-
stand, mehr gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht acht gab.
Endlich gieng er leichten Herzens mit den Andern wieder fort, verzehrte
in einer Herberge, wo man deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück
Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte,
daß so viele Leute in der Welt so reich seien, und er so arm, so dachte er
nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an
sein reiches Schiff und an sein enges Grab. g. <p. Hebel.
I
395
306. Schall der Nacht.
Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall
Laß deine Stimm' mit Freudcnschall
Aufs lieblichste erklingen!
Komm, komm und lob' den Schöpfer dein!
Weil andre Vöglein schlafen ein
Und nicht mehr mögen singen.
Laß d^in Stimmlein
Laut erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himniel, hoch dort oben.
Obschon ist hin der Sonnenschein,
Und wir im Finstern müssen sein,
So können wir doch singen
Von Gottes Gut' und seiner Macht,
Weil uns kann hindern keine Nacht,
Sein Loben zu vollbringen.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.
Echo, der wilde Widerhall
Will sein bei diesem Freudenschall
Und lässet sich auch hören,
Verweist uns alle Müdigkeit,
Der wir ergeben alle Zeit,
Lehrt uns den Schlaf bethören.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.
Die Sterne, so am Himmel stehn,
Zu Gottes Lob sich lassen sehn,
Und thun ihm Ehr' beweisen:
Auch die Eul', die nicht singen kann,
Zeigt doch mit ihrem Heulen an,
Daß sie Gott auch thu preisen.
Drum dein Stimmlein
Laß erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.
Nun her, mein liebstes Bögelein,
Wir wollen nicht die faulsten sein
Und schlafend liegen bleiben;
Sondern, bis daß die Morgenröth'
Erfreuet diese Wälder öd,
In Gottes Lob vertreiben.
Laß dein Stimmlein
Laut erschallen, denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel, hoch dort oben.
Volkslied bei Grimmelshausen.
307. Das Kochsalz.
Über die ganze Erde verbreitet sich das nothwendigste Gewürz: das
Kochsalz. Es liegt bergehoch in der Erde als Steinsalz; es quillt seit
der Weltschöpfung,, als Salzsoolc ans unzähligen Salzquellen; es bedeckt
als kristallischer Überzug die unfruchtbaren Steppen Nordafrika s, Mittel-
asiens and Chile's; cs schwimmt in so ungeheuren Massen im Weltmeere,
daß man, wollte man das gesammte Meerwasser verdunsten, das^ganze
feste Land der Erde 625w hoch mit Salz würde bedecken können! Schaut
hinaus auf das unermeßliche Meer; sein blaues, durchsichtiges, lieblich
anzusehendes Wasser schmeckt salzig und bitter, ist untrinkbar für Menschen
und Thiere, aber vor Fäulniß geschützt durch das Salz. Steigt hinab in
Wieliczka's wunderbare Salzwerkc, wo man so reines und durchsichtiges
Salz findet, daß man es sogleich, wie es aus der Erde kommt, ver-
brauchen kann; besucht Österreichs Salzkammergut mit seinen unermeß-
lichen Schätzen bei Ischl und Hallein und Hallstadt, und das bayerische
Reichcnhall; seht Preußens mächtige Stcinsalzlagcr bei Staßfurt unweit
Magdeburg, die unerschöpflichen Salzquellen bei Halle, und überall, wo
sonst euch der Ortsname Hall begegnet, da werdet ihr das finden, was
das Wort bezeichnet: das Salz.
In Flötzgebirgen liegt in gewaltigen Lagern das Steinsalz, das man
bergmännisch gewinnt. Freilich ist cs nicht selten mit Gips, Thon und
erdigen Theilen vermischt, und dann werden nicht die Salzsteinc heraus-
geschafft, sondern man läßt in die Salzgrubcn Wasser hinein, welches das
Salz auslaugt. Im Schoße der Berge entstehen dann große, vom Wasser
396
ausgefressene Höhlen wie in Hallein, wo der Fremde mitten im Salzberge
auf einem Kahne über einen kleinen Salzsee schifft, während an den
Wänden und an der Decke beim Scheine der Fackeln und Lichter die
rothen, blauen, weißen, grauen Salzkristalle wie in einem Fecntempel
wunderbar glänzen. Gewaltige, oft stundenlange Soolwasscrleitungen
führen dort die gesättigte Salzsoole in die Siedehäuser nach Ischl, wo in
ungeheuren Pfannen durch das Feuer das Wasser verdunstet, und die
weißen Salzkristallc anschießen und zurückbleiben. In Zuckerhutformen
gebrüllt, wird daun das Salz — das hier wie überall zu den Einnahmen
des Staatsschatzes gehört — ausgeführt in das Land und beim Gebrauche
erst klein gestoßen. Anders verfährt man in Halle und überall, wo natürliche
Salzquellen sich finden, und die Soole so dünn ist, daß sie nicht gesotten
werden kann; da müssen Sonne und Luft in den Gradierwerken dem
Feuer vorarbeiten, indem von ungeheuer hohen Balkengerüsten die Soole
an warmen, luftstilleu Tagen durch hochaufgeschichtetes Reisig langsam
herabtröpfelt und auf diesem Wege durch die hindurchhauchcnde Luft und
durch die darauf brennende Sonne abgedunstet wird. Da macht man sich
freilich an den Küsten des atlantischen und mittelländischen Meeres das
Abdünsteu des Meerwassers leichter; man gießt das Wasser in große flache
Gruben und überläßt das Gradier- und Siedegeschäft der Sonne, in
Sibirien aber der Kälte, indem nur der salzreinc Theil des Wassers
gefriert oder verdunstet, das Salz aber zurückbleibt.
So gewinnt man das Salz, dieses für Menschen und Thiere unent-
behrlichste Gewürz, diese Delikatesse der Schafe, dieses „Confect des
Kameels", wie es die Araber nennen, von welchem man in der Schweiz
das Sprichwort hat: „Ein Pfund Salz gibt zehn Pfund Schmalz." Und
wie wollten wir Menschen unsere Speise bereiten und erhalten ohne das
Salz, das nicht bloß vor dem Faulwerden schützt, sondern die Speisen
schmackhaft macht? Woher sollten wir unsere Schinken, und die Schiffe,
die über's Weltmeer segeln, ihr gepökeltes Fleisch nehmen? Und endlich
wär's doch wirklich schade um die Millionen von Heringen und Pöklingen,
die wir jährlich wohl eingesalzen oder'geräuchert verspeisen, wenn wir sie
von Sommer zu Sommer nicht aufbewahren könnten, bis die guten
Thierchen wieder einmal hcrdenweise in die Netze und Garne der betrieb-
samen Anwohner der Nord- und Ostsee schwimmen. Juiius seii.
308. Die Lüneburger Heide.
I. Der Boden.
v J
Zwischen den Marschen der Elbe und Aller tritt jene fast gleichmäßige
Hochfläche auf, welche als Rücken der Lüneburger Heide bekannt ist,
hier die Wasserscheide des Elb- und Wesergebietes bildet und namentlich
nach der Nordseite hin in vielen Höheuzügen wellenförmig abfällt. Der
Wilseder Berg (171 Meter), der Falkenberg (150 Meter), der
Holxerbcrg (130 Meter) sind die höchsten Punkte derselben und gewähren
neben andern eine vortreffliche Rundsicht. Am schönsten gestalten sich diese
wohl an den hohen Elbufern bei Hitzacker, wo der Weinberg und die
Klötzie den vom Norden Kommenden mit dem täuschenden Bilde einer
397
Gebirgslandschaft überraschen. Der Blick von vielen Stellen der Hacke
bei Harburg auf den breiten Elbstrom und die mit Gärten und Park-
anlagen geschmückten Ufer bei Altona, — die Aussicht von Vorsprüngen
des Garlstorfer Waldes, wo man nach einer Seite die Türme des
6—8 Stunden entfernten Hamburgs, nach einer andern die langen
117 Meter hohen Züge der Hanstedt er Berge und nach einer dritten
den schlanken Johannisturm und den Gipsfelsen bei Lüneburg im
Hintergründe hat, — die hübsche Gruppirung der Höhen um Falling-
bostel und viele andere Örtlichkeiten mitten in der Heide lassen den Be-
sucher völlig vergessen, daß er in dem Lande „der traurigen Berühmtheit"
ist. Das ist um so mehr der Fall, da mau sich auf den Höhen oft von
dem üppigsten Baumwuchs umgeben sieht, und die Fernsichten in der
Ebene eben so vergrößert erscheinen, wie die Berggegcndcn mit großer Nähe
täuschen. Gleichwohl ist die Lüneburger Heide ein Stück des norddeutschen
Tieflandes. Die Aller hat bei Celle 38 Meter, an ihrem Zusammen-
fluß mit der Weser noch 10 Meter, — die Elbe bei Boitzenburg
5,8 Meter, bei Harburg nur noch 3 Meter Meereshöhe. Der südliche
und westliche Theil stellt eine weit gestreckte, selten hügelig unterbrochene
Ebene dar, in der stehende Wasser ausgedehnte Torfmoore bilden.
2. Das Pflanzenleben.
Vorherrschend ist an der Oberfläche und oft mehrere Dekameter tief
ein aus gelblichem Sand und Lehm, aus Granit-Geröll und Feuerstein
gebildeter Boden, der als die Bildung einer vorgeschichtlichen Flut nor-
discher Meere angesehen wird, welche bis an die mitteldeutschen Gebirge
ihre Wogen wälzten und als Zeugnisse Versteinerungen und große Stein-
blöcke hier ablagerten. Sandblößen sind selten und nirgend bedeutend.
Den dürftigsten Boden bedecken bald die wuchernde Sandsegge und das
seltenere Sandrohr, zahlreiche Moose, die weiße Rennthierflechtc, Becher-
flechten mit ihren lebhaft rothen Fruchtknöpfchen, graufilzige Ruhr- und
Fadenkräuter, Borstengras, Zwcrghafcr, Schafschwingcl und das in zier-
lichen Kreisen gelagerte Knorpelkraut. Daun erscheinen gelbblühendc Gin-
sterartcn, die honigrcichc Heide mit ihren rosigen Glöckchen, die Krons-
beere mit ihren dunkelrothcn Trauben, dem sich hier und da die Bären-
traube und die Rauschbcere zugesellen. Wachholder, Föhren, Kriechweiden
und Birken sind bie' gewöhnlichsten Holzgewächse. — Im Bruch und
Moor erscheinen die torfbildenden Moose, dicht gedrängte Seggen und
Binsen, die liebliche Moor-Heide, der tiefblaue Enzian, der bcpcrlte Son-
nenthau, Brombeerstrauch, Erle, Buschweiden und der würzig duftende
Gagel, der in den Mooren der Provinz seine Südgrenze findet. — Die
kleinen Bäche, welche ihre klingenden Weilchen über weißen Kies treiben,
sind oft ganz mit der Bachdolde, mit Wasserstern und weißblühenden
Ranunkeln ausgekleidet; in den größeren Flüßchen schaukeln sich artenreiche
Laichkräuter und der schlanke, oft bis 6 Meter lange Fluß-Ranunkel, den die
feinere Welt bezeichnend „Nixenhaar" genannt hat; auf ruhigem Gewässer,
von hohem Schilf beschattet, wiegen sich neben der gelben Iris und der
röthlichen Doldenlilie blendend weiße Seerosen, die, mit halbgeöffneten
Kronen aus dem Wasser auftauchend, wie träumerisch emporschaun. —
398
Wie anderswo schmücken die Wiesen Kuckuksblume und Knabenkraut, gelbe
Ranunkeln und Schaumkraut, allerlei Doldengewächse und das scidcnhaarige
Wollgras. — Die Landdrostci Lüneburg hat 166000 Hektar Forstgrund.
Finden sich doch gerade hier die größten geschlossenen Waldungen, der
etwa 6000 Hektar haltende Lüß, die wildreiche Göhrde mit 5200 Hektaren.
Unweit Gartow bilden Gemeinde- und v. Bernstorfsche Forsten einen
Föhrenwald von 10000 Hektaren. Die Buchenwälder um Lüneburg, Eb-
storf, bei Garlstorf, welche rings von Geestboden umschlossen sind, werden
kaum an Schönheit von irgend einem des Landes übertroffen. „Hannovers
merkwürdige Bäume" finden in der Heide ihre reichen und ausgezeichneten
Vertreter. Die berühmte „schmucke Eiche" bei Lüchow, welche am 29. No-
veinber 1836 von einem Sturme gefällt wurde, hatte einen 20 Mieter
hohen, astfreien, geraden Schaft und in dieser Höhe noch 1,2 Meter
Durchmesser; 300—400jährige Eichen mit einem Umfange von 4—6 Meter
sind keine Seltenheit; bei Ebstorf finden sich zwei Buchen von 35—36
Metern; Fichten und Föhren hat man bis 42 Meter gemessen; Birken
und Weiden kommen in ausgezeichneter Schönheit vor; Wachholdcr und
Hülsen erheben sich zu 6 Meter hohen Stämmen. Im Schutze des
Waldes gedeiht aber noch ein Heer fröhlicher Pflanzen, das den Boden
bauen und schmücken hilft; auf Heidboden insbesondere, in den Föhren-
forsten, vor allen die Heidelbeeren. 1862 wurden allein auf der Bahn
78250 Kilogr. Heidelbeeren, 137600 Kilogr. Kronsbeeren und 10300
Kilogr. Wachholderbeeren nach Harburg befördert. An 3200 Hektoliter
kamen aus den Revieren Fallingbostel und Bergen über Soltau dahin.
In den herrschaftlichen Forsten der Inspection Winsen ist von Aufkäufern,
die im Walde ihre Hütten haben, der Betrag von 18540 Mark aus-
bezahlt. Im Forstortc Breitenhees zahlte ein Ankäufer gegen 6000 Mark.
In dem beerenreichen Jahre 1863 wurden auf einer Fläche von 260
Hektaren älteren Föhrenbestandcs, der „Raubkammcr", für 7425 Mark
Heidelbeeren gesammelt.
3. Das Thierleben.
Kaum wird es nöthig sein zu bemerken, daß es hier an einem fröh-
lichen Leben der Thierwelt nicht fehle; daß nicht bloß die fleißige Biene
gedeihe, nicht bloß die graue Heidschnucke ein kümmerliches Dasein friste.
Allerdings zählte man 1861 in der ganzen Provinz Lüneburg 81785
Bienenstöcke, so daß in der Gegend um Bergen bei Celle etwa 1 Korb
auf 10 Hektar kommt. Eben so fanden sich damals 669114 Schafe, in
den reichsten Gegenden 1 auf 1 Hektar, von denen um Soltau und Bergen
noch 96—97 pCt. Heidschnucken waren. In denselben Bezirken kamen
daneben weniger als 16 Stück Rindvieh und 1 Pferd auf 100 Hektar.
Aber andererseits schließt die Provinz Bezirke ein, wo 6 —10 Pferde,
20—36 Stück Rindvieh auf 100 Hektar gehören, und wenn schon die
stattlichen Rinderherden manchen in Verwunderung gesetzt haben, so ist
noch mehr die Bemerkung eine allgemeine, daß die Bauern der Lüne-
bnrgischen Heide und Marsch wahrhaft schöne Pferde in großer Zahl vor-
zuführen haben, wie der Besuch der Markttage in den größern Städten
lehrt. — Auch wimmelt es in unserer Heide von zahllosen Spinnchen, die
899
fast ungesehen ihre im Sonnenstrahl erglänzenden Fäden von Halm zn
Halm, von Busch zu Busch, von Furche zu Furche ziehen, und endlich
selbst auf ihrem Gewebe die Luft durchfliegen. Rastlos eilen die Schlupf-
wespen auf den Wegen nach Raub, um ihre gierige Brut darin zu bergen,
während zahllose Ameisenlöwen in flachen Sandgrübchcn mit ausgebreiteten
Freßzangen auf ihren Fang lauern; in pfeilschnellem Fluge durchströmen
große Libellen die Luft und erheben sich selbst bis zum Gipfel der Bäume,
während andere Arten in sanfter Bewegung am niedrigen Bachufer dahin-
schweben; schweigsam entblättern Millionen gefräßiger Larven Nadel- und
Laubwald, zernagen in tausendfachen Gängen die Stämme, durchbohren
das Fleisch greller und mißfarbiger Pilze und zerwühlen die modernden
Stoffe der Thier- und Pflanzenwelt, während ein Heer von Grillen und
Heuschrecken in den Bäumen lispelt, dort in Erdlöchern zirpt oder mit
schnarrendem, schwerfälligem Fluge bogenförmig cmporfährt. Indessen auf
dem moosigen Grunde der Buchenwälder goldglänzende, violettrandige und
andere schlanke Laufkäfer ihre Heimat genommen haben, entpuppen in den
Nadelhölzern sich langfühlcrige Bockkäfer, fliegen auf Wegen und Blößen
die ruhelosen Sandkäfer umher, eilt an feuchten Uferstcllen ein geschäf-
tiges Heer kleinerer Räuber durcheinander, und in der Luft schwirren mit
Mücken und Fliegen schlanke Halbdcckküfer. In Unzahl flattern prächtige
Bläulinge um Ginster und Heide; purpurne Widderchen spreizen die kcu-
ligen Fühler; Scheckenfalter und Perlmuttervögel, der Fuchs und Distclvogel,
der Admiral und Segelvogcl, ringfleckigc Augenfalter und der seltene
Schillervogel schwärmen neben verachteten Weißlingen luftig umher; aber
in behaglicher Beschaulichkeit erscheint im Schatten der Buchen der Hammer-
schmied, au eben ergrünten Birken die einsame Bersicolora, an Weiden-
röschen der Weinvogel, auf der Heide der Nachtpfau, im Nadclwaldc der
graue Fichtenschwärmer, an Pappeln und Linden die sammetneu Zackeu-
dämmersalter. Eine zahllose Schar mißfarbiger Eulen nährt sich da neben
langbeinigen Motten und flüchtigen Spannern; während Windenschwärmer
und Todtenkopf, die Riesen nordischer Schmetterlinge, die Felder bewohnen,
durchfliegt das seltsam geflügelte Geistchen das Schilf der Teiche. Auf
sonniger Höhe und im dunkeln Walde führen die Ameisen in menschlicher
^urgc und Leidenschaftlichkeit ihr märchenhaftes Leben; auf der stillen
Wasserfläche kreiseln blauglänzendc Quirlkäfer und schreiten breitspurige
Wasserwanzen; auf dem Grunde nähren sich unter Larven aller Art
Schnecken und Muscheln und krebsartiges Gethicr. In den Bächen lebt
die Forelle, in den Sümpfen und Teichen der Aal und Wetterfisch, in den
Flüssen der Hecht, der Barsch, das Neunauge, ein Heer von Weißfischen
und hier und da die Flußpcrlmutter. Raschelnd zieht durch das trockene
Laub die flinke Eidechse, auf Wiesen sonnt sich die Blindschleiche, im hasel-
reichen Bruche lauert die träge Kreuzotter. Fast alle die lieben Säuger,
welche sonst im deutschen Vaterlande Acker und Wiese, Wald und Fluß
beleben, nennt auch der Heidbewohner sein; Finke und Lerche, Drossel und
Staar, Schwalben und Rothschwänzchcn, Goldhähnchen und Zaunkönig, die
gefeierte Nachtigal und viele sonst kaum gekannte Laub- und Schilfsängcr
erfiillen mit ihrem Liede Höhen und Thal; ja mancher anderswo ver-
seuchte Vogel findet in der stillen Heide noch einen sichern Zufluchtsort,
400
— das Birkhuhn, die Racke, das Blaukehlchen, — und im Winter er-
scheint fast alljährlich die Schnccammcr in zahlreichen Scharen. — Das
Wild — Hirsche, Rehe, Schweine, Hasen und Füchse — war früher hier
so häufig, daß sie dem Landmanne zur großen Plage gereichten; um ihrer
sich besser erwehren zu können, hat ein großer Theil des Waldes fallen
müssen. In dem einen Jahre 1740 sind noch 50 Wölfe in der Lüne-
burger Heide geschossen, und in der Mitte des 17. Jahrhunderts soll im
Lüß sogar noch ein Bär erlegt sein. Noch heute geschieht es bisweilen,
daß nachts die Rehe vom Wald zur Wiese niedcrsteigen und mit den
klaren Augen neugierig ins mondbeglänzte Blumcnrevier des traulichen
Gartens schauen, der die einsame Wohnung umschließt.
Die Bewohner.
Aber doch unter all dem Leben die prächtige Einsamkeit, fern von
dem hastenden Treiben der Städte ist's da wie Sabbatstille, fremd der
Zwietracht und dem Hasse feindseliger Menschen wie Sonntagsfeier! Ein
unbeschreiblich seliges Gefühl tiefen Friedens und heiliger Sehnsucht durch-
zieht das Gemüth des ernsten Wanderers.
„Es ist ein Hauch, der wunderbar
Aus unsrer ewgen Heimat weht,
Ein innig Schauen tief und klar,
Ein Lächeln halb und halb Gebet."
Alte, riesenhafte Grabmäler ungekannter Vorzeit, aufgebaut aus den ver-
schlagenen Schollen zertrlimmerter Gebirge, blicken geheimnißvoll in die
lichte Gegenwart und knüpfen an die Sagen und Berichte späterer Ge-
schlechter, die einst hier blühten, baueten und herrschten, und die wie frühere
verloschen sind. Mitten in tiefster Heide liegt der Meierhof Stübecks-
horn, wo der muntere Knabe Hermann Billing vom Kaiser Otto I.
„ein Pfand" forderte; und „wenn du auch der Herrgott selber wärest, du
solltest mir nicht davon", drohetc der Kleine, wie die Sage erzählt. Bei
Lüneburg stehen noch — unverantwortlich dem rohen Gewerbe überwiesen
— die dürftigen Reste des merkwürdigen Felsen, an dessen Fuße Otto
der Erlauchte schon 904 ein christliches Kloster gründete, auf dessen Höhe
der Herzog Billing eine „Burg bauete. Unter dem Schutze derselben und
durch den Reichthum spendenden Salzquell erblühte dort die Stadt, die
das Haupt der Gegend, der Sitz und die Ruhestätte zahlreicher Fürsten
aus des „Löwen" Geschlechte geworden ist.
Und die heutigen Bewohner? Was man dem Lande unrecht gethan,
hat man an seiner Bevölkerung wieder gut machen wollen und ist zwiefach
unwahr geworden. Es ist richtig, daß da, wo 10 bis 20 Ortschaften
einen Kirchsprengel bilden, wo oft, wie in den Gegenden um Soltau,
Bergen und Isenhagen, noch nicht 20 Menschen auf 100 Hektar kommen,
manche Übel nicht so Platz gegriffen haben, als wo eine dicht gedrängte
Bevölkerung auch böse Schäden häuft; es ist wahr, daß die Dörfer der
Heide im Innern an Sauberkeit und Behäbigkeit diejenigen südlicher Ge-
genden übertreffen, wie sie ihnen an Freundlichkeit des Äußern nachstehen;
man darf zugeben, daß im allgemeinen bei den Bewohnern ein einfacher
Sinn ist, und Genügsamkeit der durchgängigen Wohlhabenheit gleichkommt:
401
im übrigen müssen wir die Menge herrlicher Tugenden zurückweisen, mit
denen man ein Bild ländlicher Einfalt und Unschuld, kindlicher Frömmig-
keit und Unverdorbenhcit auszumalen gesucht hat. Aber hier wie anderswo
fehlt es auch nicht an jenen sinnigen, klaren Naturen, die mit gesundem
Blicke die Verhältnisse erfassen, die Vorzüge und Nachtheile ihrer Heimat
erkennen und dankbar sich des Guten freuen, womit sie und ihr Land ge-
segnet sind. H. Sleinvorth.
309. Abseits.
Ls ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenrother Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blühn; der Heideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.
Laufkäfer hasten durchs Gesträuch
In ihren goldnen Panzerröckchen,
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Sich an der Edelheide Glöckchen;
Die Vögel schwirren aus dem Kraut —
Die Luft ist voller Lerchenlaut.
Ein halbverfallen Schindelhaus
Steht einsam hier und sonnbeschienen;
Der Käthner lehnt zur Thür hinaus,
Behaglich blinzend nach den Bienen;
Sein Junge auf dem Stein davor
Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.
Kaum zittert durch die Mittagsruh
Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten,
Dem Alten fällt die Wimper zu,
Er träumt von seinen Honigernten. —
Kein Klang der aufgeregten Zeit
| Drang noch in diese Einsamkeit.
Theodor Storni.
310. Peter Paasch in den Händen der Türken.
Am Anfange des vorigen Jahrhunderts war der große türkische Krieg,
in welchem der fromme und tapfere Feldherr Prinz Eugen so herrliche
Siege über die Türken davon trug. Aus allen deutschen Ländern befanden
sich Hülsstruppen bei dem kaiserlichen Heere, auch aus der Lüneburger Heide
waren etliche mitgezogen, und namentlich aus der Gemeinde Hermannsburg
ein Herr von Staffhorst mit zwei Reiterknechten, von welchen der eine
Peter Paasch und der andere Hans Püffcl hieß. In der großen Schlacht
bei Belgrad, welche die Deutschen gewannen, hatte Hans Püsfel seinen
Tod gefunden, indem er seinen hart bedrängten Herrn aus den Händen
der Türken loshicb. Bei dem darauf folgenden Sturm auf Belgrad war
der Herr von Staffhorst gefallen, nachdem er bereits in die Stadt einge-
drungen war. Peter Paasch, voll Schmerz über den Tod seines geliebten
Herrn, hatte die fliehenden Türken so unvorsichtig verfolgt, daß er außer-
halb der Stadt von den Fliehenden umzingelt und gefangen genommen
wurde. Sie banden ihn an seines Pferdes Schweif. Ein Türke setzte sich
auf das Pferd, und Paasch mußte nackt und barfuß nebenan laufen; denn
die Türken hatten ihm alles abgenommen. Spät abends machten sie in
einem Walde Halt, wo sie sich vor den Christen in Sicherheit glaubten,
und nun sollt/ an dem gefangenen Christen eine ausgesuchte Rache ge-
nommen werden; denn die Türken hatten gesehen, wie Paasch mehrere von
ihren Landsleuten niedergehauen hatte im Kampfe. Sie legten zuerst zwei
Stecken in Form eines Kreuzes übereinander, spieen dies Kreuz an und
wollten Paasch durch Schläge und Martern zwingen, auch das Kreuz an-
zuspeien. Paasch aber, der vom Pferde wieder losgebunden war, und von
dem man sich keines Widerstandes versah, schlug jeden Türken, der das
Kreuz anspie, ritterlich hinter die Ohren, bis man ihm wieder Hände und
Füße zusammenband. Nun stach man ihn mit Messern und Dolchen, um
26
402
ihn zum Anspeien des Kreuzes zu zwingen. Als das alles nichts half,
nagelte man ihm beide Hände über den Kopf an einen Baumstamm fest
und wollte ihn mit Peitschenhieben, Stockschlägen und beigebrachten Wunden
zwingen, den Namen Muhammed ehrfurchtsvoll auszusprechen. Aber so oft
man ihm diesen Namen vorsprach, sagte er: Jesus Christus. Da ent-
schlossen sich die Feinde Christi, zu seinen Füßen ein Feuer anzuzünden und
ihn so entweder zum Verleugnen zu bringen oder ihn unter Feuerqualen
sterben zu lassen. Da nun Paasch sah, daß sein Tod nahe war, so betete
er mit andächtiger Stimme ein Vaterunser und dann den Glauben. Und
der Herr gab dem tapfern Kricgsmann solchen Frieden ins Herz, daß er
sogar für seine Mörder beten konnte, wie der Herr gethan und der heilige
Stephanus. Kaum aber hatte er ausgebctet, so wurde er mit so hoher
himmlischer Freudigkeit erfüllt, daß er sich nicht enthalten konnte, mit an-
dächtiger, alles übertönender Stimme den alten herrlichen Passionsgesang
anzustimmen: O Lamm Gottes unschuldig, am Kreuz für uns geschlachtet
u. s. w. Eben hatte er den dritten Vers zu Ende gesungen, und mit den
Worten: Gib uns deinen Frieden, o Jesu. Amen, geschlossen, da ertönte
draußen vor dem Walde heller Trompetenklang. Deutsche Reiter brachen
in den Wald, die Türken stoben aus einander, und mit Staunen sahen
die Reiter den angenagelten Paasch und das Feuer zu seinen Füßen. Sie
machten ihn eilends los, und ohnmächtig fiel er in ihre Arme. Nachdem
sie seine vieler) Wunden verbunden, ihn gereinigt und mit Kleidern versehen
hatten, kam er wieder zu sich, und seine erste Frage war: Wie hat Gott
euch gerade zur rechten Stunde hergesandt? Sie antworteten: Wir waren
zur Verfolgung der Türken ausgesaudt, da hörten wir aus dem Walde den
Gesang: O Lamm Gottes unschuldig. Das ist ein Christ, riefen wir und
jagten hinein in den Wald. Das Lamm Gottes, dem du vertrautest, hat
dich errettet. Sie brachten nun Paasch nach Belgrad. Die Geschichte kam
vor die Ohren des frommen Prinzen Eugen, der ließ ihn aufs beste ver-
pflegen, besuchte ihn selbst einigemal und freute sich an seinem kindlichen,
einfältigen Glauben. Später schickte er ihn, da er zuni Kriegsdienst nicht
mehr taugte, ins Vaterland zurück. Er hat noch zehn Jahre in der Ge-
meinde auf Paaschen Hof in Bonstorf, aus welchem er stammte, gelebt
und die Wundenmale des Herrn Jesu an seinem Leibe getragen zur Stärkung
der Gemeinde im Glauben. Im Jahre 1728 ist er im Glauben gestorben,
nachdem er eben gesungen: O Lamm Gottes, unschuldig! Das war auch
ein Bekenner. Der Herr Jesus präge uns doch an diesem Beispiele den
Spruch ein: „Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich auch be-
kennen vor meinem himmlischen Vater." 8. $arOT8.
311. Prinz Eugen vor Belgrad.
Volkslied, i)
1. Prinz Eugenius, der edle Ritters,
Wollt' dem Kaiser wied'rum kriegen
Stadt und Festung Belgcrad.
Er ließ schlagen einen Brucken,
Daß man kunnt hinüber rucken
Mit d'r Armee wohl für die Stadt.
i) Der Sage nach von einem brandenburgischen Krieger gedichtet, der, unter dem
Fürsten von Dessau im Heere Eugen's dienend, bei Hochstiidt und Turin mitfocht.
2) Prinz Eugen wurde am 18. October 1663 zu Paris geboren, er starb in der Nacht
403
2. Als der Bruck'n nun war geschlagen i),
Daß man kunnt mit Stuck2) und Wagen
Frei passieren den Donauflnß,
Bei Semlin schlug man das Lager,
Alle Türken zu verjagen,
Jhn'n zum Spott und zum Verdruß.
3. Am einnndzwanzigsten August so eben
Kam ein Spion bei Sturm und Regen,
Schwur's dem Prinz'n und zeigt's ihm an,
Daß die Türken futragieren.
So viel als man kunnt verspüren,
An die dreimalhunderttausend Mann.
4. Als Prinz Eugenius dies vernommen,
Ließ er gleich zusammen kommen
Seine General' und Feldmarschall.
Er that sie recht instruieren^),
Wie man sollt' die Truppen führen
Und den Feind recht greifen an.
5. Bei der Parole that er befehlen,
Daß man sollt' die Zwölfe zählen
Bei der Uhr um Mitternacht,
Da sollt' all's zu Pferd aufsitzen,
Mit dem Feinde zu scharmützenH,
Was zum Streit nur hätte Kraft.
6. Alles saß auch gleich zu Pferde,
Jeder griff nach seinem Schwerte,
Ganz still ruckt man aus der Schanz.
Die Musketier wie auch die Reiter
Thäten alle tapfer streiten;
's war fürwahr ein schöner Tanz!
7. Ihr Konftablerb) auf der Schanzen,
Spielet auf zu diesem Tanzen
Mit Kartaunen»), groß und klein,
Mir den großen, mit den kleinen,
Auf die Türken, auf die Heiden,
Daß sie laufen alle davon!
8. Prinz Eugenius wohl aus der Rechten
Thät als wie ein Löwe fechten,
Als General und Feldmarschall.
Prinz Ludewig litt auf und nieder:
„Halt't euch brav, ihr deutschen Brüder,
Greift den Feind nur herzhaft an!"
9. Prinz Ludewig, der mußt aufgeben
Seinen Geist und junges Leben,
Ward getroffen von dem Blei;
Prinz Eugen war sehr betrübet,
Weil er ihn so sehr gelicbet,
Ließ ihn bring'n nach Petcrwardein.
Deutscher Liederhort. Herausgegeben von Ludwig Erk.
312. Die Tabakspfeife,
„Gott grüß euch, Alter, schmeckt das
Pfeifchen?
Weist her! — ein Blumentopf
Von rothem Ton mit goldnem Reifchen!
Was wollt ihr für den Kopf?" —
O Herr, den Kopf kann ich nicht lassen!
Er kömmt vom bravsten Mann,
Der ihn, Gott weiß es, welchem Bassen
Bei Belgrad abgewann.
Da, Herr, da gab es rechte Beute!
Es lebe Prinz Eugen!
Wie Grummet sah man unsre Leute
Der Türken Glieder mähn. —
„Ein andermal von euren Thaten!
Hier, Alter, seid kein Tropf,
Nehmt diesen doppelten Dukaten
Für euren Pfeifenkopf." —
^Jch bin ein armer Kerl und lebe
Von meinem Gnadensold,
Doch, Herr, den Pfeiscnkopf, den gebe
Ich nicht um alles Gold.
Hört nur: Einst jagten wir Husaren
Den Feind nach Herzenslust,
Da schoß ein Hund von Janitscharen
Den Hauptmann in die Brust.
Ich hob ihn flugs auf meinen Schimmel
(Er hätt' es auch gethan)
Und trug ihn sanft aus dem Getümmel
Zu einem Edelmann.
Ich pflegte sein. Bor seinem Ende
Reicht' er mir all sein Geld
Und diesen Kopf, drückt mir die Hände
Und blieb im Tod noch Held.
Das Geld mußt du dem Wirte schenken,
Der dreimal Plündrung litt!
So dacht' ich, und zum Angedenken
Rahm ich die Pfeife mit.
Ich trug auf allen meinen Zügen
Sie wie ein Heiligthum,
Wir mochten weichen oder siegen,
Im Stiefel mit herum.
Bor Prag verlor ich auf der Streife
Das Bein durch einen Schuß,
Da griff ich erst nach meiner Pfeife
Und dann nach meinem Fuß. —
„Jhrrührtmich, Alter, bisbiszuZähren.
| O sagt, wie hieß der Mann?
I Damit auch mein Herz ihn verehren
1 Und ihn beneiden kann." —
vom 20. auf den 21. April 1736 zu Wien. Sein Vater war ein Sprößling einer
savpyifchen Nebenlinie. >) Am 18. Juni 1717 ging Eugen über die Donau^ 2) Stück,
ein schweres Geschütz, eine Kanone. 3) instruieren, belehren, unterweisen. 4) Scharmützel,
ein Gefecht unter kleinen Haufen, scharmützeln, ein Scharmützel liefern, fechten. 5) Kon-
stabler, Stückmeister, Feuerwerker. 6) Kartaune, eine Art groben Geschützes, eine kurze,
aber dicke Kanone.
26*
404
Man hieß ihn nur den tapfern Walter;
Dort lag sein Gut am Rhein . . .
„Das war mein Ahne, lieber Alter,
Und jenes Gut ist mein! sieben;
Kommt, Freund! ihr sollt bei mir nun
Vergesset eure Noth,
Konimt, trinkt mit mir von Walters Reben
Und eßt von Walters Brot." —
Nun, topp! ihr seid sein wackrer Erbe!
Ich ziehe morgen ein,
Und euer Dank soll, wenn ich sterbe,
Die Türkenpfeife sein! Psessel.
813. Die Krönung des ersten Königs von Preußen.
Der große Kurfürst schon wurde als Feldherr und Beherrscher eines
großen Staates Königen gleich geachtet; sein Nachfolger aber erst sollte den
Kurhut in eine Königskrone verwandeln. Sein Sohn, der Kurfürst
Friedrich III., hatte den Kaiser im spanischen Erbfolgckriege unterstützt und
ihm auch fernere Hülfe zugesagt; daher hatte der Kaiser eingewilligt, daß
der Kurfürst in Preußen sich als König krönen lasse. So wurde am
16. November 1700 der Kronvertrag abgeschlossen, und bald darauf gieng
der Kurfürst mit seiner Gemahlin und einem so großen Gefolge nach Königs-
berg ab, daß sie in vier Abtheilungen reisen mußten, weil 30,000 Bor-
spannpferde gebraucht wurden. Am 29. December traf der Kurfürst in
Königsberg ein.
Am 15. Januar 1701 begannen die Festlichkeiten. Bier Herolde ritten
herum. Sie trugen blausammtne, mit Gold gestickte Waffenröcke, auf dem
Haupte schwarzsammtne Hüte mit weißen Federn, in der Rechten einen
Stab mit goldener Krone. Die Decken ihrer Pferde waren von Silber-
stoff und mit goldenen Kronen und Adlern geziert. Bor ihnen ritt eine
Abtheilung Dragoner her, und viele hohe Staatsbeamte folgten ihnen. An
fünf Orten hielt dieser Zug, und der erste Herold verlas folgende Bekannt-
machung:
„Kund und zu wissen sei hiermit jedermann, daß es der göttlichen
Borsehung gefallen hat, das Herzogthum Preußen zu Gunsten des aller-
durchlauchtigsten und großmächtigsten Fürsten Friedrich, unsers allcrguädigstcn
Beherrschers, und der allerdurchlauchtigsten und großmächtigsten Fürstin
Sophie Charlotte, unserer allergnädigsten Beherrscherin, zu einem König-
reiche zu erheben. Wir proclamieren sie daher hiermit zum Könige und
zur Königin von Preußen. Ein jeder getreue Unterthan rufe also mit uns
aus: „Es lebe Friedrich, unser allergnädigster König! Es lebe Sophie
Charlotte, unsere allergnädigste Königin!"
Jubelnd stimmte das Volk ein. Während des Umzuges läuteten alle
Glocken der Stadt, und von den Wällen donnerten die Kanonen. Am
16. Januar, einem Sonntag, wurde in den Kirchen der göttliche Beistand
zur Krönung erbeten. Am 17. Januar wurde zum Andenken an die Er-
hebung Preußens zum Königreiche der schwarze Adlerorden mit dem Wahl-
spruch „Jedem das Seine" gestiftet.
Am Morgen des 18. Januar versammelten sich im Schlosse zu
Königsberg die höchsten Staatsbeamten und die Großen des Landes. Der
König trug ein Gewand von rothem Purpursammet, reich mit Gold ge-
stickt; jeder der diamantnen Knöpfe desselben hatte einen Werth von
3000 Dukaten. Sein Purpurmantel war mit goldenen Kronen und Adlern
gestickt und mit Hermelin besetzt, vorn zusammengehalten von einer mit
405
drei Diamanten besetzten Spange, deren Werth man auf eine Tonne Goldes
schätzte. In diesem Schmucke trat der König in den Audienzsaal, gefolgt
von den Großen des Reiches.
In dem Saale war ein prächtiger Thronhimmel errichtet; unter dem-
selben standen zwei silberne Sessel, auf kostbaren Kissen lag das Scepter
und die Krone, beide von Gold und Diamanten funkelnd. Mit eigenen
Händen setzte er sich die Krone auf und ergriff das Scepter. Hierauf gicng
er in feierlichem Zuge in die Zimmer der Königin, welche ein Kleid von
Goldstoff mit Diamanten trug. Voran schritt ein Page mit Krone und
Scepter für dieselbe; sie neigte sich mit den Damen ihres Gefolges vor dem
Könige, welcher ihr selbst die Krone aufsetzte, worauf beide, mit ihrem Ge-
folge in den Audienzsaal zurückgekehrt, von den Thronsesseln aus die Huldi-
gungen der Großen und Stände empfiengen.
Dann begann unter Glockengeläute die Procession zur Kirche. Der
Weg dahin war mit rothem Tuch belegt. Zu beiden Seiten des Weges
standen Soldaten. Der König und die Königin giengen unter prächtigen,
von 10 Edelleuten getragenen Thronhimmeln, gefolgt von einer wogenden
Menge. An der Kirche empfiengen zwei Bischöfe die Herrscher mit dem
Spruche: „Es gehen hier ein die Gesegneten des Herrn!" Sodann be-
gaben sie sich auf die Throne, die an beiden Seiten des Altars errichtet
waren. Der Bischof von Bär hielt darauf die Predigt über den Spruch:
„Wer mich ehrt, den will ich wieder ehren."
Darauf erfolgte die Salbung. Der König trat zum Altar, kniete
nieder, nahm die Krone vom Haupt, legte sie und das Scepter neben sich
und betete. Ein köstliches Gefäß von Jaspis enthielt das Öl; damit salbte
der Bischof von Bär den König auf die Stirn und den Puls beider Hände
unter dem Spruche: „Gott salbe unsern König mit seinem heiligen Geiste."
Dann setzte sich der König die Krone wieder auf das Haupt und nahm
das Scepter. Eben so geschah die Salbung der Königin. Nach der heiligen
Handlung rief alles Volk: „Amen, Amen! Glück zu dem Könige! Glück
zu der Königin! Gott verleihe ihnen langes Leben!" Unter Glockengeläut
und Kanonendonner gicng die Procession zurück nach dem Schlosse.
Das rothe Tuch wurde dem Volke überlassen; doch größeren Jubel
erregte der große Ochs, der auf einem Platze vor dem Schlosse gebraten
wurde und mit Schafen, Rehen, Ferkeln, Hasen, Hühnern u. s. w. angefüllt
war, während aus einem kunstreich gearbeiteten schwarzen und rothen Adler-
weißer und rother Wein sprudelte. Das war ein Labsal für das Volk;
aber das Waisenhaus zu Königsberg und ein großes Armenhaus zu Berlin
sind bleibendere Denkmale dieses Tages.
Erst am 8. März trat der König seine Rückreise nach Berlin an.
Die Straße, durch welche er in die Stadt cinritt, heißt noch heute die König-
straße. Ein allgemeines Danksesl beschloß am 22. Juni alle Feierlichkeiten.
Feld. Schm,dl. (Gekürzt.)
314. August Hermann Francke (1698).
So hieß der Gottesmann, der vieler Waisen Vater geworden ist und
durch Gebet und Arbeit ein Waisenhaus erbaut und fromme Stiftungen
gegründet hat, die als Zeugen seines Glaubens noch dastehen und zu uns
reden. Francke war Prediger und Lehrer in Halle. Sein Augenmerk war
neben der Auslegung der heiligen Schrift auf die hülfsbedürftige Jugend
gerichtet, von welcher täglich eine große Menge in seinem Hause zusammen-
kam, um Almosen zu empfangen. Ihn jammerte des leiblichen und geistigen
Elends, worin er diese armen Kinder traf. Wie gerne hätte er auch an
ihnen die Segnungen des Evangeliums zur Erfüllung gebracht! Der Spruch
des Herrn, der den Kindern das Himmelreich zuweiset, erfüllte seine ganze
Seele. Was sollte er thun? Almosen geben, wie wenig konnte das genügen!
Zunächst behielt er die armen Kinder, die von ihm Almosen holten, in
seinem Hanse zum Katechis-
musnnterricht bei sich, und
dann erst theilte er ihnen
die Gaben aus. Allein er
erkannte bald, daß das nicht
gründlich helfen würde. Man
mußte die Kinder ganz aus
ihrer drückenden Lage, aus
ihrer ganzen verderbten Um-
gebung hinwegnehmen und
ihr junges Leben in eine
strenge und thätige Ordnung
bringen. Aber wie sollte man
dazu die Mittel finden? „ Bei
Gott ist kein Ding unmög-
lich." — Schon stand der
Gedanke fest in Francke's
Seele, zur Errettung dieser
verlassenen Kinder ein großes
Waisenhaus zu erbauen.
Silber und Gold hatte er
nicht, aber er hatte, was
mehr ist, einen unerschütterlichen Glauben an den, der auch der Witwen
und Waisen Vater sein will. —
Vor einem Thore in Halle steht jetzt ein hohes Gebäude, das über
seinem Eingänge Jes. 40, 31 als Inschrift trägt: „Die auf den Herrn
harren, kriegen neue Kraft rc." Dieser Eingang führt durch das Vorder-
gebäude in einen sehr langen Hof, in eine wahre Straße, auf deren beiden
Seiten hohe Häuser stehen. Hier erblickt man ein Waisenhaus für arme
Kinder, eine Erziehungsanstalt für Kinder ans höheren Ständen, eine
lateinische und eine Realschule, Bürgerschulen, eine Buchdruckerei (Canstein'sche
Bibelanstalt), eine große Buchhandlung, eine Apotheke, viele Wirtschafts-
gebäude und Gärten. Und am Ende der Straße steht Francke's Standbild;
in Priesterkleidnng segnet er zwei Waisenkinder. Ja, das alles ist entstan-
den aus Francke's gesegneter Glaubensarbeit. In seiner Wohnung hieng
eine Armenbüchse mit 1. Joh. 3, 17 und 2. Korinth. 9, 7. Einst legte
eine fromme Frau 7 Gulden auf einmal hinein. „Das ist ein ehrlich
Kapital", sprach Francke, „davon muß man was Rechtes stiften; ich will
eine Armenschule damit anfangen." Und diese Armenschule war der Grund-
407
stein zu den großen Francke'schen Stiftungen in Halle. Wie war aber
solch großes Werk dem armen Pfarrer möglich? Nun, der Herr half ja
mitbauen, indem er die Herzen seiner Gläubigen rührte, daß sie reiche
Gaben zum frommen Werke spendeten. Francke sagt selbst: „Zum Baue
des Waisenhauses mußte ich von Woche zu Woche von der guten Hand
Gottes erwarten, was sie darreichen würde." Einmal war äußerster Geld-
mangel. „Da ich bei schönem Wetter ausgegangen war", erzählt Francke,
„und den klaren Himmel betrachtete, ward mein Herz sehr im Glauben
gestärkt, also, daß ich bei mir selbst gedachte: wie herrlich ist cs doch, wenn
man nichts hat und sich auf nichts verlassen kann, kennt aber den leben-
digen Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, und setzet auf ihn allein
sein Vertrauen. Kaum war ich nach Hause zurückgekehrt, so kommt der
Bauanfseher und verlangt Geld für die Arbeitsleute. „Ist was gekommen?"
fragte er. 'Ich antwortete: „Nein, aber ich habe Glauben an Gott."
Kaum hatte ich das Wort ausgeredet, so ließ sich ein Student bei mir
melden, welcher 30 Thaler von jemand, den er nicht nennen wollte,
brachte. Da gieng ich wieder in die Stube und fragte den andern, wie
viel er diesmal zur Bezahlung der Bauleute bedürfte? Er antwortete:
„Dreißig Thaler." Ich sagte: „Hier sind sie"; fragte dabei, ob er mehr
brauchte? Er sagte: „Nein", was denn uns beide sehr stärkte, indem wir
so gar augenscheinlich die Hand Gottes erkannten, die es in dem Augen-
blicke gab, da es von Nöthen war. — So wunderbar und gnädig half
der Herr unzählige Mal. Das Haus wurde fertig, obgleich ein ungläu-
biger Mensch gesagt hatte: „Wenn die Mauer in die Höhe kommt, will
ich mich dran hängen lassen!" Wie bei der Erbauung, so gieng eö auch
bei der Erhaltung her: „Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat",
sagt Francke, „hat mir der Herr zugebröckelt, wie man den kleinen Küchlein
das Brot znbröckelt, was die Nothdnrft erfordert." Immerhin gicng's
nicht selten durch großes Gedränge, und doch konnte Francke auf die Frage:
„Habt ihr auch je Mangel gehabt?" in Wahrheit mit den Jüngern des
Herrn antworten: „Herr, nie keinen!" Zur Zeit seines Todes 1727
waren im Waisenhanse 143 Waisenkinder unter 10 Aufsehern, 2207
Kinder und Jünglinge, die in den verschiedenen Schulen von 175 Lehrern
meist unentgeltlich unterrichtet wurden. 150 Schüler und 225 arme Stu-
denten wurden aus der Kasse des Waisenhauses täglich gespeist. — Die
Francke'schen Stiftungen übten einen gesegneten Einfluß auf Verbesserung
des Schul- und Erziehungswesen bei Arm und Reich in der Nähe und
Ferne ans. Baterländisckes Lesebuch.
315. Die Weser.
, 1. Die Weser ist von ihrer Quelle bis zu ihrer Mündung ein rein
deutscher Fluß; sic greift mit ihren Quell- und Nebenflüssen mitten und
tief in das Herz unsers Vaterlandes hinein und verbindet als eine natür-
liche Wasserstraße das Binnenland Deutschlands mit der Nordsee. Ihr
Flußgebiet umfaßt den größten Theil der Provinzen Hessen und Hannover.
Ihre Quellflüsse sind die Werra und die Fulda. Jener ist der längste
von beiden und kommt vom Thüringerwalde; dieser entspringt auf dem
Rhöngebirge. Beide vereinigen sich bei Münden.
-------I—I------I-------I I
408
Münden liegt in einer der schönsten Gegenden des Wcserthales. Rings
um die Stadt drängen sich die Berge dicht zusammen; dazwischen wogt
hier die Fulda, dort die Werra. Beide umschlingen die Stadt mit ihren
Fluten und vereinigen sich hinter ihr. Sie hieß vormals Gmünd oder
Gmünden; eine Burg, die zu Karls des Großen Zeit hier erbaut war,
bildete ihren Kern. Im 16. Jahrhundert war sie fürstliche Residenz; sie
hatte sich früh zu großer Blüte erhoben, wurde aber im Jahre 1626 durch
Tilly schrecklich verwüstet; noch hundert Jahre später begingen die Ein-
wohner Mündens den dritten Pfingsttag, an welchem Tilly die Stadt
einnahm, als einen Klage- und Trauertag.
Von Münden an durchfließt die Weser anfangs in engem, dann in
breiterem Thäte die sogenannten Weserberge. Sie nimmt ihren Lauf zu-
nächst zwischen dem Bram- und dem Reinhardtswalde und fließt dann am
Solling und Ith vorbei. Bei Hameln wird die Flußebene sehr schmal;
hier tritt an die rechte Seite der Weser der Süntcl heran, während un-
mittelbar an ihrer linken Seite sich der felsige Klüt erhebt. Die Lage
der Stadt ist überaus
schön. Von jetzt an weitet
sich das Weserthal immer
mehr ans. Seine rechte
Seite wird durch den
Süntel begrenzt, dessen
bedeutendste Höhen viel-
fach mit malerischen Fels-
wänden gekrönt sind, die
prachtvolle Aussichten ge-
währen. Zu jenen viel-
besuchten Felshöhen ge-
hören der Hohenstein,
die Paschenburg und die
Luhdener Klippen. Bei
Hausbergen durchbricht
der Fluß das Gebirge
und tritt durch die west-
fälische Pforte oder die
Lomkirchc ;>> ijarucln
Weserscharte in das flache Land hinein. Die Scharte hat eine Breite von
höchstens tausend Schritt; links liegt der Wittekindsberg, der mit einem
Anssichtsturm geziert ist, und rechts der Jakobsbcrg. Nördlich von der
westfälischen Pforte fließt die Weser bei der berühmten Stadt Minden
vorbei, wo Karl der Große ein Bisthum gründete.
Alle diese Gegenden, wo die Weser sich zwischen den Bergrcihen hin-
durchwindet, gehören zu den schönsten in Deutschland. Die Berge sind
zwar meist nicht hoch und haben nicht den Schmuck der Weinreben; aber
sie sind auf ihren Spitzen oder an ihren Abhängen mit prächtigen Laub-
wäldern gekrönt, und in den offenen Thalgründen liegen freundliche, wohl-
habende Dörfer, welche von den frischesten Wiesen und von reichen Saaten
umgrünt sind.
Auf ihrem Laufe durch die Ebene nimmt die Weser von der rechten
409
Seite die wasserreiche Aller auf, fließt bei Bremen vorbei, scheidet darauf
die Provinz Hannover von Oldenburg, während dessen sie links die Hunte
aufnimmt, und mündet bei Bremerhafen. Von Hoya an ist sie auf beiden
Seiten eingedeicht; zuweilen aber steigen die Frühlingsfluten dennoch hoch
über die Ufer, setzen dann die flachen Ufergegendcn weithin unter Wasser
und richten große Verheerungen an.
Der Strom ist im Unterlaufe zuweilen durch kleine Werder, d. i.
Inseln und Halbinseln getheilt; früher sind solche auch in seinem Mittel-
läufe gewesen und haben rinzelnen Örtern den Namen gegeben, so hat z. B.
Bodenwerder seinen Namen davon.
2. Im Alterthum wurde die Weser nur des Fischfangs wegen be-
fahren; denn unsere alten Vorfahren trieben noch keine Schiffahrt zum
Zweck des Handels, und fremde Völker kamen auch noch nicht mit ihren
Handelsschiffen auf die Weser, da unsere Väter in Überfluß besaßen, was
sie bedurften. Fruchtbare Felder, zahlreiche Herden, dichte wildreiche
Wälder und der fischreiche Fluß gaben ihnen, was sie an Nahrung und
Kleidung nöthig hatten.
Der Lachs kam ehemals in dichten Scharen die Weser hinauf bis in
die Fulda; er wird jetzt noch bei Hameln gefangen. Der Biber, der im
Alterthum nicht bloß an der Weser, sondern auch an einigen Nebenflüssen
derselben wohnte, ist wohl erst vor zwei Jahrhunderten ganz verschwunden,
und die Fischotter hat man noch in neuerer Zeit hin und wieder beinerkt.
In den Thalebenen, welche die Weser durchschlängelt, war schon zu
den Zeiten Karls des Großen (vor 1000 Jahren) ein reges Leben, Überall
fanden sich Höfe mit freien Bewohnern, umgeben von den Wohnungen der
Hörigen. Schlossen die Hörigen, um geschützt zu sein, sich an den Güterhof,
so entstanden Dörfer, Flecken und Städte. Besonders war das Thal be-
wohnt, und erst später drangen Ansiedler in die nahen Waldungen und
machten hier durch Ausroden so viel Land urbar, als ein kleiner Hof
nöthig hatte; daher kommen die Ortsnamen, welche sich auf Rode endigen.
Heutzutage ist die Weser eine bedeutende Wasserstraße für den Handel;
doch ist die Ober- und Mittclweser im Sommer wegen des niedrigen
Wasserstandes oft Monate lang nicht zu befahren. Sonst geht die Schiff-
fahrt bis Münden, durch die Aller bis Celle und mittelst der Aller und
Leine bis Hannover hinauf. Guthe.
316. Friedrich Wilhelm I. und seine Soldaten.
„Seine lieben blauen Kinder" nannte der König seine Soldaten, sie
waren seine größte Freude, vornehmlich die „langen Kerls", für diese
gab der sonst sparsame Herr bereitwillig die größten Summen her, und
wer ihm einen recht langen Kerl schaffte, der konnte schon etwas bei
ihm ausrichten. Das Potsdamer Leibrcgiment war sein Stolz, seine
größte Liebe galt den „großen Potsdamern". Ein Deutscher, der sich unter
großem Zulaufe in Paris für Geld als den „größten Riesen der Welt"
sehen ließ, wurde angeworben, in Potsdam aber erst als der fünfte ein-
gestellt. Von den Landeskindern wurden fast nur die jüngeren Bauerssöhne
eingezogen, der größte Theil des Heeres wurde in aller Herren Länder
410
angeworben und, um große Leute zu schaffen, kein Geld gespart, auch wohl
List, und mußte es sein, gewaltsame Entführung angewandt. Er kannte
jeden Mann in seinem Leibregiment, sie hatten freien Zutritt zu ihm, er
unterhielt sich mit ihnen gern über ihre Familienverhältnisse, suchte sie
reich zu verheirathen, und stand bei ihren Kindern Gevatter. Seinen
Lieblingen schenkte er Geld, Äcker, baute ihnen Häuser und half auch zu
großen Nebenverdiensten. Er stellte Feldprediger an und pflegte religiösen
Sinn unter ihnen. Aber er war auch ein strenger Vater, her Corporals-
stock fuchtelte, und es kam auch wohl das grausame Spießruthenlaufen vor.
Das Heer brachte er von 48,000 auf 84,000 Mann, trefflich gerüstet, die
großen Theil haben an der Eroberung Schlesiens. Hahn.
317. Ter gute Kamerad.
Ich hatt' einen Kameraden,
Einen bessern find'st du nit.
Die Trommel schlug znm Streite,
Er gieng an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
Eine Kugel kam geflogen:
Gilt's mir, oder gilt es'dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär's ein Stück von mir.
Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad'.
„Kann dir die Hand nicht geben;
Bleib' du im ew'gen Leben
Mein guter Kamerad!"
Uhland.
318. Friedrich Wilhelm 1. als Regent.
Ein redlicher Mann, einfach, mäßig, sparsam, ordnungsliebend, war
er in alle diesem ein Muster für seine Unterthanen. Aber hart und oft
unmäßig streng, wurde er zwar hoch geachtet, denn man erkannte in allem
seine Sorge für des Landes Wohl, aber geliebt wurde er nicht. Der
König wollte alles selbst überwachen; er griff dann, heftig wie er war,
gleich selbst ein, nöthigenfalls mit dem Stocke. Bekannt ist, wie er den
Potsdamer Thorschreiber, der die Bauern am Schlagbaum ruhig warten
ließ, früh Morgens mit den Worten: „Guten Morgen, Herr Thorschreiber",
zum Bette hinaus prügelte. Man wich ihm auf der Straße gern aus,
doch wer vor ihm rasch davon gieng, den verfolgte er sicher mit dem Stocke,
denn, sagte er, „der Kerl hat ein schlecht Gewissen". Einst begegnete er
einem zierlich gekleideten Manne, er fragte ihn, wer er sei? „Ein Tanz-
meister aus Paris." „Was, er Kerl will mir hier meine Jugend ver-
derben?!" — Der Mann floh, aber der König mit dem Stocke hinterdrein,
denn das gezierte Franzosenthum war ihm widerwärtig. Ein anderer
junger Mann antwortete auf seine Frage, wer er sei: „Candidat der
Theologie." „Woher?" „Aus Berlin." „Die Berliner taugen nichts."
„Majestät, ich kenne doch zwei Ausnahmen." „Wer sind die?" „Ew.
Majestät und ich." Das gefiel ihm. Der Mann bekam bald eine gute
Pfarre. Reichen Leuten wies er Plätze an, sie mußten dann Häuser bauen.
„Der Kerl ist reich, der kann bauen", sagte er. Das Bauen förderte er
mit Geld, und wie er konnte, noch lieber aber den Ackerbau, sobald er sich
überzeugte, daß die Wirtschaft gut geführt war. Er war sehr sparsam
und vermehrte seine Einnahmen auf alle Weise, darum konnte er auch
Millionen zu des Landes Besten ausgeben. Das havellündische Lug, einen
7 Q.-Meilen großen Sumpf, machte er urbar und gründete darin das Amt
411
Königshorst. Er nahm 17,000 evangelische Salzburger auf, die 1732
im strengsten Winter ihres Glaubens wegen aus der Heimat verstoßen
wurden, siedelte sie in Preußen an und verwandte 6 Millionen dazu und
über 20 Millionen, um dem durch die Pest verwüsteten Preußen aufzuhelfen.
Noch viele Tausend Evangelischer aus andern Ländern fanden bei ihm Schutz
und Aufnahme.
Unter seinen vielen Bauten in Berlin nennen wir einen Theil des
Schlosses, die Böhmische und die Dreifaltigkeitskirchc, das
große Krankenhaus (Charitv), das Potsdamer Militär-Waisenhaus.
Er gründete mehrere Tausend Volksschulen und ließ den Lehrern einschärfen,
die Kinder für Kinder der Ewigkeit auzusehen und sie Christo zuzuführen.
Bei seinem Tode hinterließ er außer einem Schatze, den das Schloß an
silbernen Tischen, Stühlen, Kronleuchtern, einem Orchester u. s. w. enthielt,
9 Millionen bar und ein Heer von 80,000 Mann. Der Staat hatte auf
2275 Q.-Meilen 2,240,000 Einwohner, Berlin 90,000.
319. Ter sicbciizigstc Geburtstag.
Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofens,
Saß der redliche Tamm in dem Lehnstuhl, welcher mit Schnitzwerk
Und braunnarbigem Jucht voll schwellender Haare geziert war,
Tamm, seit vierzig Jahren in Stolp, dem gesegneten Freidorf,
Organist, Schulmeister zugleich und ehrsamer Küster,
Der fast allen im Dorf, bis auf wenige Greise der Vorzeit,
Einst Taufwasser gereicht und Sitte gelehrt und Erkenntnis,
Dann zur Trauung gespielt, und hinweg schon manchen gesungen.
Oft nun faltend die Hand' und oft mit lauterem Murmeln
Las er die tröstenden Sprüch' und Ermahnungen. Aber allmählich
Starrte sein Blick, und er sank in erquickenden Mittagsschlummer.
Festlich prangte der Greis in gestreifter kalmankener Jacke,
Und bei entglittener Brill' und silberfarbenem Haupthaar
Lag auf dem Buche die Mütze von violettenem Sammet,
Mit Fuchspelze verbrämt und geschmückt mit goldener Troddel.
Denn er feierte heut den siebzigsten frohen Geburtstag,
Froh des erlebeten Heils. Sem einziger Sohn Zacharias,
Welcher als Kind auf dem Schemel geprediget, und, von dem Pfarrer
Ausersehn für die Kirche, mit Noth vollendet die Laufbahn
Durch die lateinische Schul' und die theuere Akademie durch,
Der war jetzt einhellig erwähleter Pfarrer in Merlitz
Und seit kurzem vermählt mit der wirtlichen Tochter des Borfahrs.
Fernher hatte der Sohn zur Verherrlichung seines Geburtstags
Edlen Tabak mit der Fracht und stärkende Weine gesendet,
Auch in dem Briefe gelobet, er selbst und die freundliche Gattin,
Hemmeten nicht Hohlweg' und verschneiete Gründe die Durchfahrt,
Sicherlich kämen sie beide, das Fest mit dem Vater zu feiern
Und zu empfahn den Segen von ihm und der würdigen Mutter.
Eine versiegelte Flasche mit Rheinwein hatte der Vater-
Froh sich gespendet zum Mahl und mit Mütterchen auf die Gesundheit
Ihres Sohns Zacharias geklingt und der freundlichen Gattin,
Die sie so gerne noch sähen und Töchterchen nennten und bald auch
Mütterchen, ach! an der Wiege der Enkelin oder des Enkels.
Biel noch sprachen sie fort von Tagen des Grams und der Tröstung,
Und wie sich alles nunmehr auflös' in behagliches Alter:
„Gutes gewollt, mit Vertraun und Beharrlichkeit, führet zum Ausgang!
Solches erfuhren wir selbst, du Trauteste; solches der Sohn auch!
Hab' ich doch immer gesagt, wenn du weintest: Frau, nur geduldig!
412
Bet' und vertrau'! $e größer die Noth, je näher die Rettung!
Schwer ist aller Beginn; wer getrost fortgehet, der kommt an!" —
Feuriger rief es' der Greis und las die erbauliche Predigt
Nach, wie den Sperling ernähr' und die Lilie kleide der Vater.
Doch der balsamische Trank, der altende, löste dem Alten
Sanft den behaglichen Sinn und duftete süße Betäubung.
Mütterchen hatte mit Sorg' ihr freundliches Stübchen gezieret,
Wo von der Schule Geschäft sie ruheten und mit Bewirtung
Rechtliche Gäst' aufnahmen, den Prediger und den Verwalter;
Hatte gefegt und geühlt und mit feinerem Sande gestreuet,
Reine Gardinen gehängt um Fenster und lustigen Alkov,
Mit rothblumigem Teppich gedeckt den eichenen Klapptisch,
Und das bestäubte Gewächs am sonnigen Fenster gereinigt,
Knospende Ros' und Levkoj' und spanischen Pfeffer und Goldlack,
sammt dem grünenden Korb Maililien hinter dem Ofen.
Ringsum blinkten gescheuert die zinnernen Teller und Schüsseln
Auf dem Gesims'; auch hiengen ein paar Stettinischc Krüge
Blaugeblümt an den Pflöcken, die Feuerkieke von Messing,
Desem und Mangelholz und die zierliche Elle von Nußbaum.
Aber das grüne Klavier, vom Greise gestimmt und besaitet,
Stand mit bebildertem Deckel und schimmerte; unten befestigt
Hieng ein Pedal; es lag auf dem Pult ein offnes Choralbuch.
Auch den eichenen Schrank mit geflügelten Köpfen und Schnörkeln,
Schranbensörmigen Füßen und Schlüsselschildern von Messing
(Ihre selige Mutter, die Küsten», kauft' ihn zuni Brautschatz)
Hatte sie abgestäubt und mit glänzendem Wachse gebohnet.
Oben stand auf Stufen ein Hund und ein züngelnder Löwe,
Beide von Gips, Trinkgläser mit eingeschliffenen Bildern,
Zwei Theetöpfe von Zinn und irdene Tassen und Äpfel.
Als sie den Greis wahrnahm, wie er ruht' in athmendem Schlummer,
Stand das Mütterchen auf vom binscnbeslochtenen Spinnstuhl
Langsam, trippelte dann auf klirrendem Sande zur Wanduhr
Leis' und knüpfte die Schnur des Schlaggewichts an den Nagel,
Daß ihm den Schlaf nicht störte das klingende Glas und der Kuckuk.
Jetzo sah sie hinaus, wie die stöbernden Flocken am Fenster
Rieselten, und wie der Ost dort wirbelte, dort in den Eschen
Rauscht' und die Spuren verwehte der hüpfenden Krähen am Scheunthor.
Lange mit ernstem Gesicht, ihr Haupt und die Hände bewegend,
Stand sie vertieft in Gedanken und flüsterte halb, was sie dachte:
„Lieber Gott, wie es stürmt und der Schnee in den Gründen sich anhäuft
Ärmer, wer jetzt auf Reisen hindurch muß, ferne der Einkehr!
Auch wer, Weib zu erwärmen und Kind, auswandert »ach Reisholz,
Hungerig oft und zerlumpt! Kein Mensch wohl jagte bei solchem
Wetter den Hund aus der Thüre, wer seines Viehs sich erbarmet!
Dennoch kommt mein Söhnchen, das Fest mit dem Vater zu feiern!
Was er wollte, das wollt' er von Kind auf. Gar zu besonders
Wühlt mir das Herz. Und seht, wie die Katz' auf dem Tritte des Tisches
Schnurrt und das Pfötchen sich leckt, auch Bart und Nacken sich putzet!
Das bedeutet ja Fremde nach aller Vernünftigen Urtheil!"
Sprach's und trat an den Spiegel, die festliche Haube zu ordnen,
Welche der Vater verschob, mit dem Kuß ausgleichend den Zwiespalt;
Denn er leerte das Glas auf die Enkelin, sie auf den Enkel.
Nicht ganz schäme sich meiner die Frau im modischen Kopfzeug!
Dachte sie leis' im Herzen und lächelte selber der Thorheit.
Neben dem schlummernden Greis, an der anderen Ecke des Tisches,
Deckte sic jetzo ein Tuch von feingemodeltem Drillich,
Stellcte dann die Tassen mit zitternden Händen in Ordnung;
Auch die blechene Dos' und darin großklumpigen Zucker
Trug sie hervor aus dem Schrank und scheuchte die sumsenden Fliegen,
Die ihr Mann mit der Klappe'verschont zur Wintergesellschaft;
413
Auch den! Gesims enthob sie ein paar Thonpfeifen mit Posen,
Grün und roth, und legte Tabak auf den zinnernen Teller,
Als sie drinnen nunmehr den Empfang der Kinder bereitet,
Gieng sie hinaus vorsichtig, damit nicht knarrte der Drücker.
Aus der Gesindestube daraus vom rummelnden Spulrad
Rief sie, die Thür halb öffnend, Marie, die geschäftige Hausmagd,
Welche gehaspeltes Garn von der Wind' abspulte zum Weben,
Hastigen Schwungs, von dem Weber gemahnt und eigenem Ehrgeiz,
Heiser ertönte der Ruf, und gehemmt war plötzlich der Umschwung,
„Flink, lebendige Kohlen, Marie, aus dem Ofen gescharret,
Dicht an die Platte der Wand, die den Lehnstuhl wärmet im Rücken,
Daß ich frisch — denn er schmeckt viel kräftiger — brenne den Kaffee!
Heize mit Kien dann wieder und Torf und buchenem Stammholz,
Ohne Geräusch, daß nicht aus dem Schlaf aufwache der Vater!
Sinkt das Feuer in Glut, dann schiebe den knorrigen Klotz nach,
Der in die Nacht fortglimme, dem leidigen Froste zur Abwehr!
Siebzigjährige sind nicht Fröstlinge, wenn sie im Sommer
Gern an der Sonn' ausruhn und am wärmenden Ofen im Winter,
Auch für die Kinderchen wohl braucht's gründliche Wärme zum Aufthaun,"
Und der Ermahnenden folgte Marie und sprach im Herausgehn:
„Barsch durchkältet der Ost: wer im Sturm lustreiset, ist unklug.
Nur ein wähliges Paar wie das unsrige dammelt hindurch wohl.
Wärmenden Trank auch bracht' ich den Kälberchen heut' und den Milchküh'n,
Auch viel wärmende Streu in das Fach, Schönmädchen und Blüming
Brummten am Trog und leckten die Hand und ließen sich kraueln,"
Sprach's; und sobald sie dem Ofen die funkelnden Kohlen entscharret,
Legte sie Feurnng hinein und weckte die Glut mit dem Blasbalg,
Hustend, und schimpfte den Rauch und wischte die thränenden Augen.
Emsig stand an dem Herde das Mütterchen, brannte den Kaffee
Uber der Glut in der Pfann' und rührte mit hölzernem Löffel.
Knatternd schwitzten die Bohnen und bräunten sich, während ein dicker
Duftender Qualm ausdampfte, die Küch' und die Diele durchräuchernd.
Sie nun langte die Mühle herab vom Gesimse des Schornsteins,
Schüttete Bohnen darauf, und fest mit den Knieen sie zwängend,
Hielt sie den Rumpf in der Linken und drehte munter den Knopf um;
Oft auch hüpfende Bohnen vom Schoß haushälterisch sammelnd,
Goß sie auf graues Papier den grob gemahlenen Kaffee.
Plötzlich heminte sie nun die rasselnde Mühl' in dem Umlauf;
Und zu Marie, die den Ofen verspündete, sprach sie gebietend:
„Eile, Marie, und sperre den wachsamen Hund in das Backhaus,
Daß, wenn der Schlitten sich naht, das Gebell nicht störe den Vater!
Denkt auch Thoms an die Karpfen für unseren Sohn und den Pastor,
Der uns zu Abend beehrt? Ihr Lieblingsessen von Alters
Hol' er vor dunkeler Nacht! Sonst geht ihm der kitzliche Fischer
Schwerlich zum Hälter hinab. Aus Vorsicht bring' ihm den Beutel!
Wenn er auch trockenes Holz für die Bratgans, bte wir gestopfet,
Splitterte! Bring' ihm das Beil und bedeut' ihn! Dann im Borbeigehn
Steig' auf den Taubenschlag und sieh', ob der Schlitten nicht ankommt."
Kaum gesagt, so enteilte Marie, die geschäftige Hausmagd,
Nehmend von rußiger Mauer das Beil und den maschigen Beutel;
Lockte den treuen Monarch mit Geburtstagsbrocken zum Backhaus,
Fern an den Garten hinab, und schloß mit der Krampe den Kerker.
Anfangs kratzte der Dogg' und winselte; aber sobald er
Wärme roch vom frischen Gebäck des festlichen Brotes,
Sprang er behend auf den Ofen und streckt' ausruhend die Glieder.
Jene lief in die Scheune, wo Thoms mit gewaltiger Arbeit
Häckerling schnitt, denn ihn fror, und sic sagt' in der Eile den Auftrag:
„Splittere Holz für die Gans und hol' in hem Beutel die Karpfen,
Thoms, vor dunkeler Nacht; sonst geht dir der kitzliche Fischer
Schwerlich zum Hälter hinab, trotz'unserem Sohn und dem Pastor!"
414
Thoms antwortete drauf und stellte die Häckerlinglad' hin:
„Splitter, Marie, und Karpfen verschaff' ich dir früher, denn noth ist.
Wenn an dem heutigen Tage sich kitzelich zeiget der Fischer,
Treib' ich den Kitzel ihm aus; und bald ist der Halter geöffnet!"
Also der rüstige Knecht; da rannte sie durch das Gestöber,
Stieg auf den Taubenschlag und pustete, rieb sich die Aände,
Steckte sie unter die Schürz' und schlug sich über die Schultern.
Als sie mit schärferem Blick in des Schnees umnebelnden Wirbeln
Spähete, siehe, da kam's mit verdecktem Gestühl wie ein Schlitten,
Welcher vom Berg in das Dorf herklingelte. Schnell von der Leiter
Stieg sie herab und brachte der emsigen Mutter die Botschaft,
Welche der Milch abschöpfte den Rahm zu festlichem Kaffee.
„Mutter, es kommt wie ein Schlitten; ich weiß nicht sicher, doch glaub' ich!"
Also Marie; da verlor die erschrockene Mutter den Löffel;
Unter ihr bebten die Knie', und sie lief mit klopfendem Herzen,
Athemlos; ihr entflog im hastigen Lauf der Pantoffel.
Jene lief zu der Pfort' und öffnete. Näher und näher
Kam das Gekling' und das Klatschen der Peitsch' und der Pferde Getrampel.
Nun, nun lenkten herein die muthigen Ross' in den Hofraum,
Blankgeschirrt; und der Schlitten mit halb schon offnem Verdeckstuhl
Hielt an der Thür', und es schnoben, beschneit und dampfend, die Renner.
Mütterchen rief: „Willkommen!" daher, „Willkommen, ihr Kindlein!
Lebt ihr auch noch?" und reichte die Händ' in den schönen Berdeckstuhl.
„Lebt in dem grimmigen Ost mein Töchterchen?" Dann, für sich selber
Nur zu sorgen ermahnt: „Laßt, Kinderchen!" sprach sie; „dem Sturmwind
Wehret das Haus! Ich bin ja vom eisernen Kerne der Borwelt!
Stets war unser Geschlecht steinalt und Verächter des Wetters;
Aber die jüngere Welt ist zart und scheuet die Zugluft."
Sprach's, und den Sohn, der dem Schlitten entsprang, umarmte sie eilig,
Hüllte das Töchterchen dann aus bärenzottigem Fußsack
Und liebkosetc viel mit Kuß und bedauerndem Streicheln,
Zog dann beid', in der Linken den Sohn, in der Rechten die Tochter,
Rasch in das Haus, dem Gesinde des Fahrzeugs Sorge vertrauend.
„Aber wo bleibt mein Vater? Er ist doch gesund am Geburtstag?"
Fragte der Sohn. Schnell tuschte mit winkendem Haupte die Mutter:
„Still! das Väterchen hält noth Mittagsschlummer im Lehnstuhl;
Laß mit kindlichem Kuß dein junges Gemahl ihn erwecken;
Dann wird wahr, daß Gott im Schlafe die Seinigen segnet!"
Sprach's, und führte sie leis' in der Schule gesäubertes Zimmer,
Voll von Tisch und Gestühl, Schreibzeug und bezifferten Tafeln,
Wo sie an Pflöck' aufhängte die nordische Wintervermummung,
Mäntel, mit Flocken geweißt, und der Tochter bewunderten Leibpelz,
Auch den Flor, der die Wangen geschirmt, und das seidene Halstuch.
Und sie umschloß die Enthüllten mit strömender Thräne der Inbrunst:
„Tochter und Sohn, willkommen! Ans Herz willkommen noch einmal!
Ihr, uns Altenden Freud', in Freud' auch altet und greifet.
Stets einmüthigen Sinns und umwohnt von gedeihenden Kindern!
Nun mag brechen das Auge, da dich wir gesehen im Amtsrock,
Sohn, und dich ihm vermählt, du frisch ausblühendes Herzblatt!
Armes Kind, wie das ganze Gesicht roth glühet vom Ostwind!
O du Seelengesicht! denn ich duze dich, weil du es forderst.
Aber die Stub' ist warm, und gleich soll der Kaffee bereit sein."
Ihr um den Nacken die Arme geschmiegt, liebkoste die Tochter:
„Mutter, ich duze dich auch wie die leibliche, die mich geboren;
Also geschah's in der Bibel, da Herz und Zunge vereint war;
Denn du^ebarst und erzogst mir den wackeren Sohn Zacharias,
Der an Wucks und Gemüth, wie er sagt, nachartet dem Vater.
Mütterchen, habe mich lieb, ich will auch artiges Kind sein.
Fröhliches Herz und rothes Gesicht, das hab' ich beständig,
415
Auch wenn der Ost nicht weht. Mein Väterchen.sagte mir oftmals,
Klopsend die Wang', ich würde noch krank vor lauter Gesundheit."
Jetzo sagte der Sohn, sein Weib darstellend der Mutter:
„Mütterchen, nehmt sie auf Glauben! So zart und geschlank, wie sie dasteht,
Ist sie mit Leib und Seele vom edelsten Kerne der Vorwelt.
Daß sie der Mutter nur nicht das Herz abschwatze des Vaters!
Komm' denn nnd bring' als Gabe den zärtlichsten Kuß zum Geburtstag!"
Schalkhaft lächelte drob und sprach die treffliche Gattin:
„Nicht zur Gcburtstagsgabe! Was Besseres bring' ich im Koffer
Unserem Vater zur Lust und dem Mütterchen, ohne dein Wissen!"
Sprach's und faßte dem Manne die Hand; die führende Mutter
Öffnete leise die Thür und ließ die Kinder hineingehn.
Aber die junge Frau, voll Lieb' im lächelnden Antlitz,
Hüpfte voraus und küßte den Greis. Mit verwunderten Augen
Sah er empor und hieng in der trautesten Kinder Umarmung.
Ioh. H. Voß.
320. Meister Hämmerlein.
Vor etlichen und dreißig Jahren starb in einem preußischen Dorfe
der Gemcindeschmied Jakob Horn. Im gemeinen Leben hieß er nicht
anders als Meister Hämmerlcin.
Meister Hämmerlcin? Ei warum denn Meister Hämmerlein?
Weil er die sonderbare Gewohnheit hatte, wo er gieng nnd stand, sein
Hämmertest? und ein paar Nägel in der Tasche zu führen und an allen
Thoren, Thüren und Zäunen zu hämmern, wo er etwas los und ledig
fand. - Vielleicht auch, weil er über seinem Hämmerlein Gcmeindeschmied des
Dorfes geworden war.
Wie wäre denn das zugegangen?
Ganz natürlich, wie ihr sogleich hören sollt. Sein Vorfahr war
gestorben. Vier wackere Burschen hatten sich um den Dienst gemeldet
und dem und jenem allerlei versprochen. Meister. Hämmerlcin hatte
sich nicht gemeldet und nichts versprochen; er hämmerte nur ein wenig an
einer Gartenthür und erhielt dafür den Dienst.
Und bloß für ein bischen Hämmern?
Bloß für ein bischen Hämmern! An einer Gartenthür nahe am
Dorfe hieng schon wochenlang ein Brett ab. Meister Hämmerlein kam mit
seinem Felleisen des Weges her. Flugs langte er einen Nagel und sein
Hämmerlcin aus der Tasche und nagelte das Brett fest. Das sah der
Dorfschulze. Ihm schien es sonderbar, daß der landfremde Mensch das Brett
nicht los sehen konnte, das doch selbst der Eigenthümer des Gartens wohl
zwanzigmal so gesehen hatte, ohne es fest zn machen. Er wollte ihn
anreden, aber der Bursche war fort, che er ihm nahe genug kam.
Ein paar Stunden darauf gieng der Schulze in die Dorfschenke.
Sogleich fiel ihm der junge Mensch ins Gesicht. Er saß ganz allein an
einem Tischchen und verzehrte sein Abendbrot. Ei willkommen! rief der
Schulze. Treffen wir uns hier, guter Freund? Der junge Mensch
stutzte, sah ihm steif ins Gesicht und wußte nicht, woher die Bekanntschaft
kam. Ist er nicht der junge Wandrer, fragte der Schulze, der diesen
Abend da außen am Wege das Brett einer Gartenthür^ fest gemacht hat?
Ja, der bin ich. — Nun gut, so kommt, Nachbar Hans, sagte der
Schulze zu dem Eigenthümer des Gartens, der zufällig auch zugegen war,
416
kommt und bedankt euch bei dem wackern Fremdlinge. Er hat im
Vorbeigehen eure zerbrochue Gartenthür wieder zurecht gemacht. — Nachbar
Hans schmunzelte, sagte seinen Dank, setzte sich neben dem Schulzen traulich
zu dem Fremdling, und alle Gäste lauschten auf ihr Gespräch. Es betraf
das Handwerk, die Wanderungen und Kundschaften desselben, und in allen
erwachte der cinmüthigc Wunsch, ihn zum Gemeindeschmied zu bekommen,
weil allen der Zug von gemeinnütziger Denkart gefallen hatte.
Hämmerlein mußte bleiben; und da er schon am folgenden Morgen
einen Beweis von seiner Geschicklichkeit in der Vieharzneikunst und im
Beschläge gab, so war nur eine Stimme für ihn: Dieser und kein Anderer
soll Gemeindeschmied werden. Man schloß den Vertrag mit ihm ab, und
Meister Hämmerlein war unvermnthet Schmiedcmeister eines großen
Dorfes, das er wenig Stunden vorher auch nicht einmal dem Namen nach
gekannt hatte. Sage mir nun noch einer: Wer ungebeten zur Arbeit
geht, geht ungedankt davon.
Zu seiner Besoldung gehörte unter anderm ein Grundstück, das er
alljährlich mit Kartoffeln oder andern Gemüsepflanzen bestellte. Da er
den Acker zum ersten Male in Augenschein nahm, bemerkte er auf dem
Fahrwege verschiedene Löcher, in welche die Wagen bald rechts bald links
schlugen. — Warum füllt ihr doch die Löcher nicht mit Steinen aus?
fragte Meister Hämmerlein die Nachbarn, welche ihm den Acker zeigten.
— Ja, sagten diese, man kann immer vor andern Arbeiten nicht dazu
kommen. — Was that aber Meister Hämmerlein? — So oft er auf
seinen Acker gieng, las er von ferne schon Steine zusammen und schleppte
deren oft beide Arme voll bis zu den Löchern. Die Bauern lachten, daß
er, der selbst kein Gespann hielt, für andere den Weg besserte; aber ohne
sich stören zu lassen, fuhr Meister Hämmerlcin fort, jedes Mal wenigstens
ein paar Steine auf dem Hin- und Herweg in die Löcher zu werfen, und
in etlichen Jahren waren sie ausgefüllt. — Seht ihr's, sagte er nun, hätte
ein jeder von euch, der leer die Straße fuhr, auf dem Wege die Steine
zusammengelesen, auf den Wagen geladen und in die Löcher geworfen, so
wäre der Weg mit leichterer Mühe in einem Vierteljährchen eben
geworden. S»l-z.
321. Deiche und Fluten,
Um ganz die hohe Wichtigkeit und Bedeutung der Deiche zu
begreifen, muss man einmal eine gewaltige Sturmflut mit angesehen
haben; denn wer ein solches Ereignis nie erlebte, wird sich
schwerlich von der Grösse und Schrecklichkeit desselben eine "Vor-
stellung machen können. Die rechte Zeit der Sturmfluten ist vom
October bis zum April.
Wenn eine zeitlang ein anhaltender Westwind weht, der grosse
Wassermassen in den Kanal treibt, und diese nun, sich nach Nord-
osten oder Norden umsetzend, gegen die Küsten und weit in die
Flüsse hinaufpeitscht, wodurch die Ebbe sehr aufgehalten oder fast
ganz gehemmt wird, wenn sich dazu noch eine Springflut gesellt,
dann steigen die wilden Wasser oft zu einer Höhe und Furchtbarkeit,
die einem das Herz erbeben machen.
417
Aber ruhig erwartet sie der Marschbewohner, weiss er doch,
dass seine Deiche hoch und stark genug sind, ihm sicheren Schutz
zu gewähren. Höchstens mag ihm ein trüber Gedanke an die
Mühen und Kosten der Deicharbeit kommen, die wenige Stunden
herbeiführen können.
So steht er unbekümmert um den heulenden Sturm, auf der Kappe
des Deiches und schaut in ernstem Sinnen auf die wallenden Fluten,
von denen er genau weiss, wann sie den Deich heranströmen werden.
Noch ist das Vorland trocken, noch sind die Fluten in ihrem
Bette, doch man sieht schon, wie sie toben, wie sie sich bäumen
und die weissen Zähne zeigen, als harrten sie voll Ungeduld der
Stunde, da eine höhere Macht ihnen das Zeichen zum Angriffe gibt.
Jetzt nahen sie. Lauter und lauter wird das Brausen und
Donnern. Sie erreichen das Vorland, in kurzer Zeit ist es bedeckt
und beut nun, so weit das Auge reicht, nur eine einzige wilde
Wasserwüste, deren Schaumkämme glänzend weiss gegen das trübe
Grau der Wogen abstechen. Kein Schiff ist weit und breit zu
erspähen, alle sind sie vor dem Sturm in sichere Buchten geflüchtet,
und nur hier und dort kündet ein einsamer Weidenbaum, der mit
seinem nickenden, wild zerzausten Haupte aus den Fluten ragt,
dass da unter den wilden Wogen grünes fruchtbares Land liegt.
Und noch immer höher schwillt das Gewässer; jetzt ist auch
die Bärme, der Fuss des Deiches, behütet, endlich der Deich selbst,
und es beginnt durch den Widerstand desselben eine furchtbare
Brandung, ein wahrhaft majestätisches Schauspiel. Mit zerstörender
Gewalt schnaubt Woge auf Woge an ihm hinauf; kaum wird die
erste zurückgewiesen von seiner Schrägung, als schon die nächste
mit erneuter Wuth heranrollt. Dazu steigt die Flut noch mit jedem
Augenblicke. Hoch aufbäumen sich die wilden Wasser und schauen
gierig über den Deich ins gesegnete Land, weit hinein ihren
stäubenden Schaum schleudernd, als ob sie der Anblick ihres alten
Eigenthums mit doppelter Wuth erfüllte. Dazu der heulende
Sturm, der des Himmels dunkle Regenwolken in rasender Eile vor
sich hinjagt; Scharen segelnder Möven, die umsonst mit dem
Winde kämpfen, bis sie ermattet sich auf die geschützten Wiesen
und Äcker flüchten, und endlich hie und da ein Marschbewohner,
der trotz Sturmgewalt und Wogendrang sich mühsam längs des
Deichs durch den spritzenden Schaum arbeitet, um zu erspähen,
ob ihm die Fluten einen Balken oder einige Bretter oder sonst
eine Beute zutreiben; alles dies vereint, gibt ein Bild von wilder
Grossartigkeit.
Doch der Marschbewohner blickt noch immer kalt und ruhig
in den Aufruhr. Hat nur der Deich hinreichende Höhe und
Schrägung, so wird er nicht vor einer Flut weichen, ob auch ihre
Wogen noch so mächtige Stücke herausreissen und noch so tiefe
Höhlungen in seinen Leib wühlen.
Doch wehe ihm! wenn das Wasser so hoch steigt, dass es mit
dem Gipfel des Deichs gleich wird. Vom unablässlichen Bespülen
27
'1
418
ist dann bald die festgetretene Kappe erweicht, und das Schicksal
der Menschen hängt oft nur noch an einem Haar. Die geringste
Lockerheit des Erdreichs, ein einziges Mauseloch oder ein Maulwurfs-
gang kann jetzt Ursache des grössten Unglücks werden. Durch die
kleinste Rinne dringt sofort das Wasser, spült sich schnell weiter,
und im Nu reis st ein Stück Kappe fort.
Ist aber das geschehen, so ist auch ein Deichbruch unver-
meidlich; denn mit furchtbarer Gewalt dringt jetzt die hoch aufge-
staute Flut durch die entstandene Öffnung, die mit jeder Minute
breiter und breiter wird. Da endlich bricht auch das letzte noch
feste Erdreich bis auf den Grund fort, und durch nichts mehr
gehemmt, .schiesst donnernd und brausend der rasende Strom
durch die weite Gasse dahin, tief den Grund aufwühlend, alles
was er auf seinem Wege findet, mit sich fortspülend, Häuser im
Nu zertrümmernd, Bäume ausreissend, Menschen und Thiere in
seinen Fluten begrabend und bald die weite, ruhige Marschebene in
eine wilde, grausige Wasserfläche verwandelnd.
Sowie sich daher eine Kappstürzung zeigen will, wird in
höchster Hast das Möglichste aufgeboten, um dieselbe zu verhindern.
Sandsäcke, Mist, Stroh, Balken, Bretter, alles-was nur irgend dienlich
sein kann, wird zur Verstärkung auf die bedrohte Stelle gebracht;
ja mit ihren eignen Leibern haben die Menschen sich den Fluten
entgegengestemmt, indem sie, um die aufgehäuften Stoffe zu beschwe-
ren, sich platt auf den Deich warfen.
Ebenso eilt man auch nach einem wirklichen Durchbruche, so
wie nur die Ebbe es zulässt, die entstandene Lücke für die nächste
Flut so gut wie möglich zu verstopfen. Eiligst und mit grosser
Strenge werden selbst die umliegenden Ortschaften dazu aufgeboten,
um schnell aus allem möglichen Material eine hohe, mächtige
Barrikade auszuwerfen. Man arbeitet mit kaum glaublicher Ant
strengung, und doch spült vielleicht schon wenige Stunden darauf
die Flut das ganze mühevolle Werk wieder fort, und alles war
umsonst. Allmers.
322. Herr Baron von Münchhausen erzählt einige Jagdgeschichten.
Ich hatte einmal mit einer Kette Hühner einen sehr anziehenden
Vorfall. Ich war ausgegangen, um eine neue Flinte zu probieren, und
hatte meinen Vorrath von Hagel ganz und gar verschossen, als wider alles
Vermuthen vor meinen Füßen eine Flucht Hühner aufgieng. Der Wunsch,
einige derselben abends auf meinem Tische zu sehen, brachte mich auf
einen Einfall, von dem Sie, meine Herren, auf mein Wort, im Falle der
Noth Gebrauch machen können. Sobald ich gesehen hatte, wo sich die
Hühner niederließen, lud ich hurtig mein Gewehr und setzte statt des
Schrotes den Ladestock auf, den ich, so gut sich's in der Eile thun ließ, an
dem obern Ende etwas zuspitzte. Nun gieng ich auf die Hühner zu,
drückte, so wie sie aufflogen, ab und hatte das Vergnügen zu sehen, daß
mein Ladestock mit sieben Stück, die sich wohl wundern mochten, so frühe
419
am Spieße vereinigt zu werden, in einiger Entfernung allmählich heruntcr-
sank. — Wie gesagt, man muß sich nur in der Welt zu helfen wissen.
Ein anderes Mal stieß mir in einem ansehnlichen Walde von Rußland
ein wunderschöner schwarzer Fuchs auf. Es wäre jammerschade gewesen,
seinen kostbaren Pelz mit einem Kugel- oder Schrotschuß zu durchlöchern.
Herr Reinecke stand dicht bei einem Baume. Augenblicklich zog ich meine
Kugel aus dem Laufe, lud dafür einen tüchtigen Brettnagel in mein
Gewehr, feuerte und traf so künstlich, daß ich seine Lunte fest an den
Baum nagelte. Nun gieng ich ruhig zu ihm, nahm mein Waidmesser, gab
ihm einen Kreuzschnitt übers Gesicht, griff nach meiner Peitsche, und
karbatschte ihn so artig aus seinem schönen Pelze heraus, daß es eine
wahre Lust und ein rechtes Wunder zu sehen war.
Zufall und gutes Glück machen oft manchen Fehler wieder gut.
Davon erlebte ich bald nach diesem ein Beispiel, als ich mitten im tiefsten
Walde einen wilden Frischling und eine Bache dicht hintereinander hertraben
sah. Meine Kugel hatte gefehlt. Gleichwohl lief der Frischling vorn
ganz allein weg, und die Bache blieb stehen, ohne Bewegung, als ob sie
an den Boden festgenagelt wäre. Wie ich das Ding näher untersuche,
fand ich, daß es eine blinde Bache war, die ihres Frischlings Schwänzlein
im Rachen hielt, um von ihm ans kindlicher Pflicht fürbaß geleitet zu
werden. Da nun meine Kugel zwischen beiden hindurchgefahren war, so
hatte sie diesen Leitzaum zerrissen, von welchem die alte Bache das eine
Ende noch immer kaute. Da nun ihr Leiter sie nicht weiter vorwärts
gezogen hatte, so war sic stehen geblieben. Ich ergriff daher das übrig
gebliebene Endchen von des Frischlings Schwänze, und leitete daran das
alte hülflosc Thier ganz ohne Mühe und Widerstand nach Hause.
So fürchterlich die wilden Bachen oft sind, so sind die Keiler doch
weit grausamer und gefährlicher. Ich traf einst einen im Walde an, als
ich unglücklicher Weise weder auf Angriff noch Vertheidigung gefaßt war.
Mit genauer Noth konnte ich noch hinter einen Baum schlüpfen, als die
wüthende Bestie aus Leibeskräften einen Seitenhieb nach mir that. Dafür
fuhren aber seine Hauer dergestalt in den Baum hinein, daß er weder im
Stande war, sic sogleich wieder heraus zu ziehen, noch den Hieb zu wieder-
holen. — Ha ha! dachte ich, nun wollen wir dich bald kriegen: Flugs
nahm ich einen allein, hämmerte noch vollends damit drauf los, und nietete
seine Hauer dergestalt um, daß er ganz und gar nicht wieder loskommen
konnte. So mußte er sich nun gedulden, bis ich vom nächsten Dorfe
Karren und Stricke herbeigeholt hatte, um ihn lebendig und wohlbehalten
nach Hause zu schaffen, was auch ganz vortrefflich von statten gieng.
323. Am Abend.
Tie Abendglöckchen läuten
Den müden Tag zur Ruh'.
Die Blumen auf den Heiden
Thun schläfrig die Augen zu.
Die Böglein nt den Bäumen,
Sie schweigen alle still,
Ein jedes heimlich träumen
Vom goldncn Morgen will.
i Die Schiffe ruhn im Hafen!
Keine Welle regt sich mehr;
So geh auch du nun schlafen
Und bange nicht so sehr.
Und laß den Bater sorgen,
I Der über den Sternen wacht:
Er segnet mit Freuden den Morgen,
Er segnet mit Frieden die Nacht.
420
324. Der Wettermacher.
Gleich wie einem Siebmacher oder einem Hafenbinder, wenn er in
einem kleinen Orte zu Hause ist, seine Mitbürger nicht das ganze Jahr
Arbeit und Nahrung geben können, sondern er begibt sich auf Künstler-
reisen im Revier herum und geht seinem Verdienst nach; also ist auch der
Zirkelschmied fleißig darauf im andern Revier und handelt nicht mit Zirkeln,
sondern mit Trug und Schelmerei, um die Leute zu berücken und sich frei
zu trinken im Wirtshaus. Also erscheint er einmal in Oberehningcn und
geht gerade zum Schulzen. „Herr Schulz", sagt er, könntet Ihr kein ander
Wetter brauchen? Ich bin durch Eure Gemarkung gegangen. Die Felder
in der Tiefe haben schon zu viel Regen gehabt, und auf der Höhe ist das
Wachsthum auch noch zurück." Der Schulz meinte, das sei geschwind
gesagt, aber besser machen, das sei eine Kunst. „Ei", erwiderte der Zirkel-
schmied, „ans das reise ich ja. Bin ich nicht der Wettcrmachcr von
Bologna? In Italien", sagte er, „wo doch die Pomeranzen und Citronen
wachsen, wird alles Wetter auf Bestellung gemacht. Darin seid Ihr Deutsche
noch zurück." Der Schulz ist ein guter und treuherziger Mann und gehört
zu denen, die lieber geschwind reich werden möchten als langsam. Also
leuchtete ihm das Anerbieten des Zirkelschmieds ein. Doch wollte er vor-
sichtig sein. „Macht mir morgen früh einen heitern Himmel", sagte er,
„zur Probe und ein paar leichte, weiße Wölklein dran, den ganzen Tag
Sonnenschein und in der Luft so zarte glänzende Fäden. Auf den Mittag
könnt Ihr die ersten gelben Sommervögel los lassen, und gegen Abend
darf's wieder kühl werden." Der Zirkelschmied erwiderte: „Auf einen
Tag kann ich mich nicht einlassen, Herr Schulz. Es trägt die Kosten nicht
aus. Ich unternehmt nicht anders als aus ein Jahr. Dann sollt Ihr
aber Noth haben, wo Ihr Eure Frucht und Euren Most unterbringen
wollt." Auf die Frage des Schulzen, wie viel er für den Jahrgang
fordere, verlangte er zum voraus nichts als täglich einen Gulden und
freien Trunk, bis die Sache eingerichtet sei; es könne wenigstens drei Tage
dauern,, „hernach aber von jedem Saum Wein, den Ihr mehr bekommt",
sagte er, „als in den besten Jahren ein Viertel und von jedem Malter
Frucht ein Zehntel.» „Das wäre nicht veil", sagte der Schulz. Denn
dort zu Lande sagt man veil statt viel, wenn man sich hochdeutsch explicieren
will. Der Schulz bekam Respect vor dem Zirkelschmied und explicierte sich
hochdeutsch. Als er nun aber Papier und Feder aus dem Schränklein
holte und dem Zirkelschmied das Wetter von Monat zu Monat vorschreiben
wollte, machte ihm der Zirkelschmied eine neue Einwendung: „Das geht
nicht an, Herr Schulz! Ihr müßt auch die Bürgerschaft darüber hören.
Denn das Wetter ist eine Gemeindesache. Ihr könnt nicht verlangen, daß
die ganze Bürgerschaft Euer Wetter annehmen soll." Da sprach der Schulz:
„Ihr habt recht! Ihr seid ein verständiger Mann."
Der geneigte Leser aber ist nun der Schelmerei des Zirkelschmieds
auf der rechten Spur, wenn er zum voraus vermuthet, die Bürgerschaft sei
über die Sache nicht einig geworden. In der ersten Gemeindeversammlung
wurde noch nichts ausgemacht, in der siebenten auch noch nichts, in der
achten kam's zu ernsthaften Redensarten, und ein verständiger Gerichtsmann
421
glaubte endlich, um Fried' und Einigkeit in der
Gemeinde zu erhalten, wär's am besten, man
zahlte den Wettermachcr ans und schickte ihn fort.
Also beschied der Schulz den Wettermacher vor
sich: „Hier habt Ihr Eure 9 Gulden, Unheil-
stifter, und nun thut zur Sache, daß Ihr fort-
kommt, eh' Mord und Todschlag in der Ge-
meinde ausbricht." Der Zirkelschmied ließ sich
das nicht zweimal heißen. Er nahm das Geld,
hinterließ eine Wirtsschnld von circa 24 Maß
Wein, und mit dem Wetter blieb es, wie es
war. — Merke, wie gut cs sei, daß der oberste
Weltregent bisher die Witterung nach seinem
Willen allein gelenkt hat. H-b-r.
325. Belehrung über das Wetterglas.
Mancher geneigte Leser hat auch sein Wetter-
glas im kleinen Stüblein hängen, nicht erst seit
gestern, denn die Fliegen haben auch schon daran
geschaut, was der Himmel für Wetter im Sinne
hat, also daß der Mensch nicht mehr viel daran
erkennen kann. Mit einem nassen Tüchlein von
Zeit zu Zeit wäre zu helfen. Aber das scharfe
Auge des Lesers hat's noch nicht vonnöthen. Jetzt
schaut cr's deutlich an und sagt: „Morgen können
wir noch nicht mähen auf den unteren Matten."
Jetzt klopft er ein wenig an dem Brettlein, ob
sich denn das Quecksilber gar nicht lupfen will,
als wenn er es wecken müßte wie aus einem
Schlaf oder aus tiefen Gedanken, und wenn es
ein wenig ob sich geht, so heitert sich in seinem
Herzen die Hoffnung auf. Aber doch weiß er
nicht recht, wie cs zugeht.
Merke erstlich: Ein braves Wetterglas hat an
der Spitze des Kölbleins oder Köpfleins, worin
sich das Quecksilber sammelt, eine kleine Öffnung.
Zweitens: Sonst meint man, wo nichts an-
deres ist, dort sei doch wenigstens Luft. Aber
oben in der langen Röhre, wo das Quecksilber
aufhört, bis ganz oben, wo die Röhre aufhört, ist
keine Luft, sondern nichts, reines, klares, offen-
bares, nie gewesenes nichts.
Dies wird erkannt, wenn man das Wetter-
glas langsam in eine schiefe Richtung bringt, als
wollte man es umlegen, so fährt das Quecksilber
durch den leeren Rauin hinauf bis an das Ende
der Röhre, und man hört einen kleinen Knall.
Das Laroiiiclcr.
422
Dies könnte nicht geschehen, wenn noch Luft darin wäre. Sie würde
sagen: „Ich bin auch da, ich muß auch Platz haben."
Drittens: Die Luft, welche die Erde und alles umgibt, drückt unauf-
hörlich von oben gegen die Erde hinab, ja sie will, vermöge einer inwen-
digen Kraft, unaufhörlich nach allen Seiten ausgedehnt und so zu sagen
ausgespannt sein bis auf ein Gewisses. Denn sic ist Gottes lebendiger
Athem, der die Erde einhüllt und alles durchdringt und segnet, und hat
gar viel verborgene Wunder. Also geht die Luft durch jede offne Thür,
ja durch jedwedes Spältlein in die Häuser und aus einem Gemach in das
andere und durch die kleine Öffnung an der Spitze des Kölbleins hinein
und driickt auf das Quecksilber, und die Luft, welche noch außen ist, drückt
immer nach und will auch noch hinein. Ei, sie drückt und treibt das Quecksilber
in der langen Röhre gewöhnlich zwischen 27 und 28 Zoll weit in die
Höhe, bis sie nimmer weiter kann. Denn wenn das Quecksilber in der
Röhre einmal eine gewisse Höhe erreicht hat, so drückt es vermöge seiner
eigenthümlichen Schwere der Luft wiederum dergestalt entgegen, daß beide
in das Gleichgewicht treten. Da strebt gleiche Kraft gegen gleiche Kraft,
und keines kann dem andern mehr etwas anhaben. Die Luft spricht: „Gelt,
du mußt droben bleiben!" Das Quecksilber spricht: „Gelt, du bringst
mich nimmer höher!"
Merke viertens die Hauptsache: Der Druck und die Spannung in
der Luft bleibt nicht immer gleich. Die Gelehrten wissen selbst noch nicht
recht, wo dieses herrühren mag. Wird nun die Ausspannung der Luft auf
einmal stärker, so daß man sagen kann, sie gewinne neue Kraft, so drückt
sie auch um so stärker auf das Quecksilber im Kölblein, also daß es in
der Röhre höher hinauf muß, manchmal bis über 28 Zoll hinaus. Sobald
aber die Ausdehnung der Luft im Geringsten nachläßt, drückt im Augenblick
die Schwere des Quecksilbers in der Röhre nach gegen das Kölblein, bis
sie mit dem Druck der Luft wieder im Gleichen ist, welchergestalt also das
Quecksilber in der Röhre sinkt, manchmal bis unter 27 Zoll hinab. Also
steigt und fällt das Quecksilber oder, wie man sagt, das Wetterglas, und
sein Steigen und Fallen ist übereinstimmend mit dem unaufhörlichen Wechsel
in der Luft.
Solche Einsicht hat Gott dem Menschen verliehen, daß ihm in gläser-
nen Röhren sichtbar werden kann, was für eine Veränderung in der
unsichtbaren Luft vorgeht. Allein der geneigte Leser ist vorsichtig und glaubt
nicht alles auf das Wort.
Merke also fünftens den Beweis: Wenn die Mutter gebacken hat,
und das Büblein ißt ein Stücklein lindes Brot, es beißt nicht schlecht hinein
und schmeckt ihm wohl; — klaubt es nun ein Krümlein von dem Brot
herab und zerdrückt es mit den Fingern, daß gleichsam wieder ein Teig
daraus wird, und stopft damit die Öffnung an dem Kölblein zu, von dem
Augenblicke an geht das Quecksilber nimmer ob sich und nimmer unter sich,
sondern bleibt unaufhörlich stehen, wie es stand. Warum? Weil die Luft
nimmer auf das Quecksilber wirken kann, bis es endlich der Vater entdeckt
und hätte die beste Lust, er gebe dem Büblein eine Ohrfeige, — wer weiß,
was er thut, wenn's zum zweitenmal geschieht.
Wenn es ihm aber mit seiner Vorsicht gelungen ist, die Öffnung
423
wieder frei zu machen, das; die Luft wieder auf das Quecksilber drücken
kann wie vorher, stärker oder schwächer, alsdann fängt es auch wieder an,
luftig zu steigen und zu fallen. Also rührt die Veränderung in dem Stand
des Quecksilbers von der Luft her, welche durch die Öffnung des Kölbleins
hineingeht und auf das Quecksilber drückt.
Daß aber die Luft allein es sei, welche im Stande ist, mit wunder-
barer Kraft das Quecksilber 28 Zoll hoch in die Röhre hinaufzutreiben
und in dieser Höhe schwebend zu erhalten, dafür ist dies der Beweis:
Wenn die Röhre oben an der Spitze abbricht, und die Luft jetzt dort auch
hinein kommt, wo vorher keine war, fällt das Quecksilber in der Röhre
auf einmal so tief herab, bis es demjenigen, das in dem Kölblein steht,
gleich ist, und hat alsdann alles ein Ende; denn die Luft in der Röhre
und die Luft in dem Kölblein drückt jetzt mit gleicher Gewalt gegen ein-
ander und vernichtet ihre Kraft an sich selber, also, daß das Quecksilber
freies Spiel bekommt und seiner eigenen Natur folgen kann, die da ist,
daß es vermöge feiner Schwere hinunterfitzt bis auf den Boden oder auf
das Unterste des Raumes, worin es eingeschlossen ist.
Merke sechstens und endlich: Es hat eine lange Erfahrung gelehrt,
wenn die Luft anfängt, sich stärker auszudehnen und zu drücken, daß als-
dann gemeiniglich auch das Wetter heiter und schön wird. Wenn sie aber
nachläßt und gleichsam matt wird, man weiß nicht, warum, so macht sich
gewöhnlich ein Regen zurecht oder ein Sturmwind oder ein Gewitter.
Welchermaßen nun das Steigen und Fallen des Quecksilbers einen stär-
keren oder schwächeren Druck der Luft anzeigt, solchermaßen kündigt es
auch zum voraus Sonnenschein und Regen an, wenn nichts anderes da-
zwischen kommt. Bisweilen falliren alle Zeichen und Hoffnungen, wie dem
Leser wohl bekannt ist.
Denn der liebe Gott hat auch noch allerlei andere kleine Hausmittel,
um den Wechsel der Witterung zu hindern oder zu fördern, welche er bis
jetzt noch niemand verrathen hat. Die Wettergelehrten ärgern sich schon
lange darüber.
Solche Bewandtnis hat es mit der Einrichtung und den Eigenschaften
des Wetterglases. Merke einstweilen noch: Wenn man dem Ding einen
gelehrten Namen geben will, was zwar nicht nöthig ist, so muß man nicht
sagen oder schreiben Perometer, sondern Barometer. Heber
326. Friedrichs des Großen Persönlichkeit.
1. Friedrich hat sich selbst im vollen Bewußtsein seiner königlichen
Machtvollkommenheit den ersten Diener des Staates genannt; und in der
That, im Ersparen und Einschränken, in Arbeitsamkeit und Aufopferung ist
kaum seinesgleichen gewesen. Er verwaltete seinen Staat wie ein großer
Gutsbesitzer und behielt sich in allen inneren und äußeren Staatsgeschäften,
selbst in den Einzelheiten der Regierung, seine Entscheidung vor. Überall
wollte er selbst gegenwärtig sein, alles überwachen und selbst thun. Die
Feder seiner Räthe brachte die Ministerien und diese die ganze Staats-
verwaltung in Bewegung, wobei auch der ärmste und entfernteste seiner
Unterthanen durch unmittelbare Eingaben ihn erreichen und Gehör finden
l
424
konnte. Eine so ungeheure Aufgabe konnte nur eine Arbeitskraft und eine
Arbeitslust wie die scinigc übernehmen und durchführen.
Jede Stunde des Tages hatte ihre Bestimmung. Um vier Uhr stand
er auf; in wenigen Minuten hatte er sich angekleidet und dann gieng er
an den Schreibtisch, auf welchem die neu angelangten Briefschaften lagen.
Die wichtigsten las er selbst; ans den übrigen mußten die Cabinetsräthe
kurze Auszüge machen. Daun nahm er die Berichte der Adjutanten ent-
gegen, ertheilte Befehle
und trank daraufKaffee.
Rach dem Frühstück
gieng er, die Flöte bla-
send, ein bis zwei
Stunden im Zimmer
auf und ab. Sobald die
Flöte bei Seite gelegt
war, traten die Räthe
mit den Auszügen ein,
und nun bestimmte er,
was auf jede Eingabe
geantwortet werden
solle, schrieb auch wohl
mit eigener Hand den
Bescheid in kurzen,
treffenden Worten an
den Rand. Wenn dies
Geschäft beendet war,
nahm er ein Buch zur
Hand und las oder
schrieb Briefe. Gegen
Mittag ritt er mit
seinen Adjutanten zu
„einer militärischen
Übung oder zu einer
Parade nach der Stadt,
dann sah man die
ganze Gesellschaft in
gestrecktem Galopp zu-
rückkehren. Mit dem
Schlage Zwölf gieng
er zur Tafel, deren
FrirLrich der Große, König von prenßc». Küchenzettel er jeden
Morgen durchsah oder
auch selbst niederschrieb. Zn seinen Tischgesellschaften wählte er die geist-
reichsten und gebildetsten Officicrc und berühmte Gelehrten. Er selbst war
durch seine schöne, beredte Sprache, seine Belesenheit, seinen Witz stets
der Mittelpunkt der Unterhaltungen. Nach Tische blies er wieder eine
halbe Stunde die Flöte; dann unterzeichnete er die Briefe, die unterdes
im Cabinet vorbereitet waren, trank Kaffee und besah seine Anlagen oder
425
gieng mit feinen gesiebten Windhnnden spazieren. Die Stunden von 4 bis
6 Uhr waren für schriftstellerische Arbeiten bestimmt; von 6 bis 7 Uhr
wurde ein Conocrt aufgeführt, bei dem der König oft selbst mitwirkte, und
dann folgte die Abendmahlzeit, die oft bis Mitternacht dauerte.
Diese gleichmäßige Lebensart erlitt nur durch Reisen, Musterungen
und Feldzüge eine Unterbrechung; je älter er wurde, desto , mehr grub er
sich in seine alten Gewohnheiten ein; immer gewaltiger erschien seinen
Unterthanen seine Arbeitskraft und Arbeitsleidenschaft. Mit wahrhafter
Ehrfurcht schauten sie zu ihrem Fürsten empor, der nicht für sich, nur für
den Staat und dessen Größe arbeitete, und dieses Bewußtsein tröstete sie
auch dann, wenn seine Maßregeln ihnen oft hart und ungerecht erschienen.
2. Nichts zeigt so sehr den wohlwollenden Charakter und die Liebens-
würdigkeit des Königs im Verkehr mit seinen Unterthanen, als die Erzählung
des Candidaten Linsenbarth, der seine thüringischen Batzen, als. in Preußen
verboten, auf dem Packhofe in Berlin einbüßte und nach verschiedenen ver-
geblichen Bemühungen endlich seine Zuflucht zum Könige nahm (1750).
„Ohne einen Pfennig Geld in der Tasche zu haben, erzählt er, gieng
ich nach Potsdam, und da war ich auch so glücklich, den König zum ersten-
mal zu sehen- Er war auf dem Schloßplätze beim Exercieren seiner Soldaten.
Als dieses vorbei war, gieng er in den Garten und die Soldaten aus
einander; vier Offieiere aber blieben auf dem Platze und spazierten auf
und nieder. Ich wußte vor Angst nicht, was ich machen sollte, und holte
meine Papiere aus der Tasche. Das sahen die Offieiere, kamen gerade
aus mich zu und fragten, was ich da für Briefe hätte? Ich theilte sie
ihnen willig und gern mit. Da sie gelesen hatten, sagten sie: „Wir wollen
ihm einen guten Rath geben. Der König ist heute extra gnädig und ganz
allein in den Garten gegangen. Gehe er ihm auf dem Fuße nach, er
wird glücklich sein." Das wollte ich nicht; die Ehrfurcht war zu groß; da
griffen sie zu. Einer nahm mich beim rechten, der andere beim linken
Arm. Fort, fort in den Garten! Als wir nun dahin kamen, suchten sie
den König , auf. Er war bei einem Gewächse mit den Gärtnern, bückte
sich und hatte uns den Rücken zugewendet. Hier mußte ich stehen und die
Offieiere fiengen an in der Stille zu commandieren: „Den Hut unter den
linken Arm! Den rechten Fuß vor! Die Brust heraus! Die Briefe ans
der Tasche! Mit der rechten Hand hoch gehalten! So steht!" Sie giengen
fort und sahen sich immer um, ob ich auch so würde stehen bleiben. Ich
merkte wohl, daß sie beliebten, ihren Spaß mit mir zu treiben, stand aber
wie eine Mauer, voller Furcht. Die Offieiere waren kaum aus dem
Garten hinaus, so richtete sich der König auf und sah die Maschine in
ungewöhnlicher Positur dastehen. Er that einen Blick auf mich, es war,
als wenn mich die Sonne durchstrahlte. Er schickte einen Gärtner, die
Briefe abzuholen, und als er solche in die Hände bekam, gieng er in einen
andern Gang, wo ich ihn nicht sehen konnte. Kurz darauf kam er wieder
zurück zu den Gewächsen, hatte die Papiere in der linken Hand aufgeschlagen
und winkte damit näher zu kommen. Ich hatte das Herz und gieng gerade
auf ihn zu. O wie allerhuldreichst redete mich der große Monarch an:
„Lieber Thüringer, er hat zu Berlin durch fleißiges Informieren der Kin-
der das Brot gesucht, und sie haben ihm beim Visitieren der Sachen sein
426
mitgebrachtes Thüringer Brot weggenommen. Wahr ist es, die Batzen
sollen in meinem Lande nicht gelten. Aber sie hätten auf dem Packhofe
sagen sollen: „Ihr seid ein Fremder und wisset das Verbot nicht. Wohlan,
wir wollen den Beutel mit den Batzen versiegeln, gebt solche wieder zurück
nach Thüringen und laßt euch andere Sorten schicken." Aber nicht weg-
nehmen. Gehe er sich zufrieden. Er soll sein Geld cum interesse (mit
Zinsen) zurückerhalten. Aber, lieber Mann, Berlin ist schon ein heißes
Pflaster. Sie verschenken da nichts. Er ist ein fremder Mensch; ehe er
bekannt wird und Information bekommt, so ist das bischen Geld verzehrt.
Was dann?" Ich verstand die Sprache recht gut. Die Ehrfurcht war
aber zu groß, als daß ich hätte sagen können: „Ew. Majestät haben die
allerhöchste Gnade und versorgen mich." Weil ich aber zu einfältig war
und um nichts bat, so wollte er mir auch nichts anbieten, und so gieng er
denn von mir weg, war aber kaum sechs bis acht Schritte gegangen, so
sah er sich nach mir um und gab ein Zeichen, daß ich mit ihm gehen solle,
und so gieng denn das Examen an." — Nachdem der König ihn gefragt,
wo und was er studiert habe und sich insbesondere nach dem studentischen
Treiben auf der Universität Jena erkundigt hatte, schlug die Uhr Eins.
„Nun muß ich fort, sagte er, sie warten auf die Suppe." „Und da wir
aus dem Garten kamen, erzählt Linsenbarth weiter, waren die vier Offieiere
noch gegenwärtig auf dem Schloßplätze. Sie gingen mit dem Könige ins
Schloß hinein, und kam keiner zurück. Ich blieb auf dem Schloßplätze
stehen, hatte in siebenundzwanzig Stunden nichts genossen, nicht einen
Dreier zu Brot und war in einer vehementen Hitze vier Meilen im Sande
gewatet. Da war es wohl eine Kunst, das Heulen zu verbeißen. In
dieser Bangigkeit meines Herzens kam ein Kammerhusar aus dem Schlosse
und fragte: „Wo ist der Mann, der mit meinem Könige in dem Garten
gewesen?" Ich antwortete: „Hier!" Dieser führte mich ins Schloß, in
ein großes Gemach, wo Pagen, Lakaien und Husaren waren. Der Husar
brachte mich au einen kleinen Tisch, der war gedeckt, und stand darauf eine
Suppe, ein Gericht Rindfleisch, eine Portion Karpfen mit einem Garten-
salat, eine Portion Wildpret mit einem Gurkensalat, Brot, Messer, Gabel,
Löffel, Salz, war alles da. Der Husar präsentirte mir einen Stuhl und
sagte: „Die Essen, die hier auf dem Tische stehen, hat ihm der König
auftragen lassen und befohlen, er solle sich satt essen, sich an niemanden
kehren und ich soll serviren. Nun also frisch daran." Ich war sehr be-
treten und wußte nicht, was zu thun sei. Am wenigsten wollte es mir in
den Sinn, daß des Königs Kammerhusar auch mich bedienen sollte. Ich
nöthigte ihn, sich zu mir zu setzen. Als er sich weigerte, that ich, wie er
gesagt hatte, und gieng frisch daran, nahm den Löffel und fuhr tapfer ein.
Der Husar nahm das Fleisch vom Tisch und setzte es auf die Kohlen-
pfanne; ebenso that er mit Fisch und Braten und schenkte Wein und Bier
ein. Ich aß und trank mich recht satt. Den Confeet, dito einen Teller-
voll großer, schwarzer Kirschen und einen Teller voll Birnen packte ein
Bedienter ins Papier und steckte mir solche in die Tasche, auf dem Rück-
wege eine Erfrischung zu haben, und so stand ich denn von meiner könig-
lichen Tafel auf, dankte Gott und dem Könige von Herzen, daß ich so
herrlich gespeist worden. Der Husar räumte auf. Den Augenblick trat
427
ein Secretarius herein und brachte ein verschlossenes Rescript an den
Packhof nebst meinen Zeugnissen und dem Passe'zurück, zählte auf den
Tisch fünf Schwanzducaten und einen Friedrichsd'or; das schicke mir der
König, daß ich wieder zurück nach Berlin kommen könnte. Hatte mich nun
der Husar ins Schloß hineingeführt, so brachte mich der Secretarius
wieder bis vor das Schloß hinaus, und da hielt ein königlicher Proviant-
wagen, mit sechs Pferden bespannt. Zu dem brachte er mich hin und
sagte: „Ihr Leute, der König hat befohlen, ihr sollt diesen Fremden mit
nach Berlin fahren, aber kein Trinkgeld von ihm nehmen." Ich ließ mich
durch den Secretarius noch einmal unterthänigst bedanken für alle königliche
Gnade, setzte mich auf und fuhr davon. Als wir nach Berlin kamen,
gieng ich sogleich auf den Packhof, gerade in die Expeditionsstube und über-
reichte das königliche Rescript. Der Oberste erbrach es. Bei Lesung
desselben verfärbte er sich, bald bleich, bald roth, schwieg still und gab es
dem zweiten. Dieser nahm eine Prise Schnupftabak, räusperte und schnäuzte
sich, setzte eine Brille auf, las es, schwieg still und gab es weiter.
Der Letzte endlich regte sich, ich solle näher kommen und eine Ouitung
schreiben, daß ich für meine 400 Reichsthaler ganze Batzen so viel an
Brandenburger Münzsorten ohne den mindesten Abzug erhalten. Meine
Summe wurde mir sogleich richtig zugezählt. Darauf wurde der Schaffer
gerufen mit der Ordre, er solle mit mir gehen in den weißen Schwan
und bezahlen, was ich schuldig wäre und verzehrt hätte. Dazu gaben sie
ihm 24 Thaler, und wenn das nicht zureiche, solle er kommen und mehr
holen. Das war es, daß der König sagte: „Er soll seine Gelder mit
Zinsen wiederbekommen", daß der Packhof meine Schulden bezahlen mußte.
Es waren aber nur 10 Thlr. 4 Gr. 6 Pf., die ich in acht Wochen ver-
zehrt hatte. Und so hatte denn die betrübte Historie ihr erwünschtes Ende."
327. Seidlitz.
A. Sach.
Herr Seidlitz auf dem Falben
Sprengt an die Front heran,
Sein Aug’ ist allenthalben,
Er mustert Ross und Mann;
Er reitet auf und nieder,
Er blickt so lustig drein:
Da wissen’s alle Glieder,
Heut wird ein Tanzen sein.
Die Nacht ist eingebrochen;
Zu Gotha auf dem Schloss,
Welch Tanzen da und Kochen
Im Saal und Erdgeschoss!
Die Tafel trägt das Beste
An Wein und Wild und Fisch; —
Da, ungebet’ne Gäste
Führt Seidlitz an den Tisch.
Noch weit sind die Franzosen,
Doch Seidlitz will zu Ball:
Die gelben Lederhosen
Sie sitzen drum so prall,
Schwarz glänzen Hut und Krampe
Im Sonnenschein zumal.
Und gar die blanke Plempe
Blitzt hell wie Sonnenstrahl.
Die Witz-Imd Wortspieljäger
Sind fort mit einem Satz,
Die Schwert- und Stulpenträger,
Sie nehmen hurtig Platz;
Herr Seidlitz bricht beim Zechen
Den Flaschen all den Hals;
Man weiss, das Hälsebrechen
Verstand er allenfalls.
Sie brechen auf von Halle,
Die Tänzer allbereit.
Bis Gotha hin zum Balle
Ist freilich etwas weit;
Doch Seidlitz, vorwärts trabend,
Spricht: „Kinder, wohlgemuth!
Ojliwui. „lYiiiuei, miuiäoum,
Ich denk’, ein lust’ger Abend
Macht alles wieder gut.-“
Getrunken und gegessen
Hat jeder, was ihm scheint;
Dann heisst es: Aufgesessen
Und wieder nach — dem Feind!
Der möchte sich verschnaufen
Und hält bei Rossbach an,
Doch nur, um fortzulaufen
Mit neuen Kräften dann.
428
Das waren Seidlitz’s Spässe.
Bei Zorndorf galt es Zorn;
Als ob’s im Namen sässe,
Nahm man sich da aufs Korn;
Das slavische Gelichter, —
Herr Seidlitz hoffte, traun,
Noch menschliche Gesichter
Aus ihnen zuzuhau’n.
Des Krieges Blutvergeuden,
Die Fürsten kriegten’s satt;
Nur Seidlitz wenig Freuden
An ihrem Frieden hat;
Oft jagt’ er drum vom Morgen
Bis in die Nacht hinein;
Es können dann die Sorgen
So schnell nicht hinterdrein.
Er kam nicht hoch zu Jahren,
Früh trat herein der Tod;
Könnt’ er zu Rosse fahren,
Da hätt’s noch keine Noth;
Doch auf dem Lager balde
Hat ihn der Feind besiegt,
Der draussen auf der Halde
Wohl nimmer ihn gekriegt.
Theodor Fontane.
328. Teutsche Witze.
An des Königs Tafel, in Ehren gereiht,
Da feiern die Helden nun nach dem Streit;
Sie werden gelungener Thaten froh,
Und es fällt dazwischen auch manch Bonmoti),
Und wer einen Calembourg2) weiß zu machen,
Erwirbt des Tisches, des Königs Lachen.
Das wurmt den einen von Pommerland,
Der keinen macht' und auch keinen verstand;
Er strich den Schnauzbart und räuspert’ und sprach:
Die deutschen Witze stehn wahrlich nicht nach,
Und ich wüßte doch welche, die sollte man ehren.
„Das wäre!" sagte der König, „laßt hören!"
Und der Pommer sprach: „Zuerst denn, mich dünkt,
Daß Mollwitz ein Witz sei, der gar nicht hinkt;
Und ferner mein’ ich, daß Bunzelwitz
Doch auch nicht so gar ein übeler Witz;
Zum dritten der Prittwitz, der Majestäten
Mit Gottes Beistand vermocht’ zu retten." O. F. Gruppe.
329. Die Schlacht bei Roßbach am 5. November 1757.
Von Dresden aus gierig Friedrich nach Erfurt, die vereinigten Franzosen
und Reichsvölker zu einer Schlacht zu bringen. Seine Lage war schrecklich;
in der Nähe und in der Ferne Feinde, die sich beständig mehrten; hatte
er eine Armee geschlagen, so rückten ihm wieder zwei andere entgegen,
trin Rcichsbeschluß hatte ihn aller seiner Länder, ja selbst der Kurwürdc
verlustig erklärt; der Vorsatz und die Macht, ihn ganz zu Boden zu drücken,
waren bei seinen Feinden stärker als jemals. Nie war daher seine Hoffnung
schwächer, dennoch aber die Heiterkeit seines Geistes in eben diesem Zeit-
punkt groß. So gerecht aber auch seine Besorgnis war, der Menge zu
unterliegen, so nahm er doch alle Maßregeln, um zu überwinden. Seine
durch so viele Treffen geschwächte Armee war nur 22,000, die der Feinde
aber 60,000 Mann stark. Sie hatten schon am 19. September eine
Probe der preußischen Thätigkeit erfahren.
Der Gcncralstab der Franzosen mit ihrem Heerführer Soubisc an
der Spitze hatte mit 8000 Mann Gotha zu seinem Erholungsort auser-
sehen. Es war am herzoglichen Hofe große Tafel, und auf dem Schlosse
hatte man gewaltige Zurüstungen gemacht, die bewaffneten hohen Gäste
i) Witz. 2) Wortspiel in französischer Sprache.
429
wohl zu bewirten; die Tische waren gedeckt und die Franzosen zeigten den
besten Appetit, als der preußische General Seidlitz mit 1500 Reitern vor
den Thoren erschien. Die 8000 Franzosen dachten an keinen Widerstand;
sie verließen die rauchenden Schüsseln und eilten aus der Stadt. Nur
wenige ihrer Soldaten wurden zu Gefangenen gemacht, aber desto mehr
Kammerdiener, Lakaien, Köche, Haarkünstler und Schauspieler, die damals
von einer französischen Armee unzertrennlich waren. Das Gepäck vieler
Generäle fiel den Preußen in die Hände; darunter ganze Kisten voll
wohlriechender Wasser und Salben, desgleichen eine Menge Pudermäutcl,
Haarbeutcl, Sonnenschirme, Schlafröcke und Papageien. Seidlitz ließ sich
mit seinen Officieren den Rest der Speisen wohlschmecken, übergab einen
Theil der Beute seinen Husaren, den gefangenen Troß aber schickte er
ohne Lösegeld zurück. Die Franzosen waren darüber eben so vergnügt,
als ob sie ein Treffen gewonnen hätten; der Muth zu fechten wuchs ihnen,
und ihre einzige Besorgnis war, daß der König ihnen entrinnen möchte.
Einige seiner Märsche und Stellungen bestärkten sie in dieser Vermuthung.
Sie kannten seine schnellen Bewegungen und Wendungen und seine Kriegs-
kunst überhaupt bloß aus Erzählungen, die aber wenig Eindruck auf sie
gemacht hatten. Ihre Hoffnung war nicht bloß ihn zu besiegen, sondern
seine ganze Armee aufzuheben; ja man warf im französischen Lager die
Frage auf, ob es auch Ehre bringe, sich mit einem so kleinen Haufen zu
schlagen. Nie war kriegerischer Eigendünkel stärker, und nie wurde er
besser bestraft.
Es war am 5. November bei dem Dorfe Roßbach, eine Meile von
Lützen, wo Gustav Adolf gefallen war, als eine der sonderbarsten Schlachten
geliefert wurde. Der König lockte die Franzosen durch eine rückgängige
Bewegung aus ihrer vortheilhaften Stellung. Sic glaubten, er suche sich
aus ihren Händen zu retten, und bemühten sich daher, ihm in den Rücken zu
kommen. Friedrich, der sich wieder gelagert hatte, verließ sich auf die Geschwin-
digkeit, mit welcher seine Truppen in Schlachtordnung gestellt werden konnten,
sah daher den Bewegungen der Feinde gelassen zu und ließ seine Linien
nicht einmal ausrücken. Das preußische Lager stand unbeweglich, und da
cs eben Mittagszeit war, beschäftigten sich die Soldaten mit ihren Mahl-
zeiten. Die Franzosen, welche dies in der Ferne sahen, trauten kaum
ihren Sinnen; sie hielten es für dumpfe Verzweiflung, in der man selbst
auf alle Vertheidigung Verzicht leistet. Diese Erwartung war nicht wenig
Ursache ihres so geringen Widerstandes und ihres großen Schreckens. Der
General Seidlitz nämlich kam mit der preußischen Reiterei auf einmal
hinter einem Hügel hervor und stürzte wie ein Donnerwetter mit künstlichen
Wendungen auf den hoffnungstrunkenen Feind los. Was nie auf einem
Schlachtfeldc erhört war, geschah hier; die leichtbewaffneten Husaren mit
ihren behenden Pferden waren verwegen genug, die schwere französische
Reiterei trotz ihrer kollossalen Rosse anzufallen. Sie wurde über den
Haufen geworfen. Soubise ließ die Nachhut vorrücken; allein kaum zeigte
sie sich, so wurde sie auch aus dem Felde geschlagen. In eben dieser
Zeit rückte das vorher so ruhige preußische Fußvolk plötzlich in Schlacht-
ordnung an und cinpfieng die Franzosen mit einem entsetzlichen Kanonen-
donner. Hierauf folgte ein regelmäßiges Gewehrfeuer wie bei Musterungen.
Das französische Fußvolk sah sich nun von seiner Reiterei verlassen und
vom Feinde in der Flanke angegriffen. Vergebens versuchte Soubise
französische Künste; seine Kolonnen wurden mit leichter Mühe auseinander-
gesprengt, und nichts blieb übrig als allgemeine Flucht. Die Franzosen
sowohl als die Reichsvölker warfen ihre Gewehre weg, um sich desto
geschwinder retten zu können; nur einige Schweizerregimenter fochten noch
eine Zeit lang und waren die letzten auf dem Schlachtfelde. Der Sieg
war so geschwind entschieden worden, daß selbst die Ueberwundenen nicht ein-
mal auf die Ehre eines starken Widerstandes Anspruch machten, sondern
sich mit ihrem Schrecken entschuldigten; dabei unterließen die Franzosen
jedoch nicht, den Reichstruppen alle Schuld beizumessen.
Viele einzelne Züge vermehren die Merkwürdigkeit des Tages. Der
König fand auf dem Walplatze einen französischen Grenadier, der sich
gegen drei preußische Reiter wie ein Rasender vertheidigte und sich nicht
ergeben wollte. Der Befehl Friedrichs machte diesem ungleichen Kampfe
ein Ende. Er fragte den Grenadier, ob er sich denn unüberwindlich
glaube; dieser antwortete: „Ja, Sire, unter Ihrer Anführung." Der
König gieng auf dem Schlachtfelde umher und tröstete die verwundeten
französischen Officicre, welche, gerührt über diese Herablassung, ihn als den
vollkommensten Überwinder begrüßten, der nicht nur ihre Körper bezwungen,
sondern auch ihre Herzen erobert hätte.
Die Beute der Preußen war sehr groß. Unter anderem fiel eine
Menge Ludwigskreuze den preußischen Husaren in die Hände, die sich
¡damit putzten. Es wurden 72 Kanonen und 22 Fahnen erobert und
6220 Gefangene gemacht. Die vereinigten Armeen hatten 3560 Todte
und Verwundete, die Preußen nur 300; unter den Verwundeten befanden
sich auch Prinz Heinrich von Preußen und General Scidlitz. Ein so
wohlfeiler und doch dabei so vollkommener Sieg gegen ein kriegerisches
Volk ist in der neueren Geschichte ohne Beispiel. Die Kürze des Tages
in dieser Jahreszeit rettete das fliehende Herr vom gänzlichen Untergänge;
denn es war kein Rückzug, sondern eine Flucht in der möglichsten Ver-
wirrung. Die Geschlagenen verschwanden in Sachsen und den angrenzenden
Ländern spurlos; sie zerstörten alle Brücken, um nicht verfolgt zu werden,
I und zerstreuten sich dabei so außerordentlich, daß viele Hunderte von ihnen
nicht eher als am Rheine Halt machten; denn immer glaubten sie den
König hinter sich zu haben.
Alle deutsche Völkerschaften, groß und klein, ohne Rücksicht auf Partei
und eigenen Vortheil freuten sich dieses Sieges über die Franzosen, den
man als einen Triumph des Vaterlandes ansah. Diese Stimmung äußerte
[sich allenthalben, selbst auf dem Schlachtfelde. Ein preußischer Reiter, im
Begriff, einen französischen gefangen zu nehmen, erblickt in dem Augenblicke,
wo er Hand anlegen will, einen österreichischen Kürassier hinter sich mit
dem Schwerte über seinem Kopfe. „Bruder Deutscher", ruft ihm der
Preuße zu, „laß mir den Franzosen!" — „Nimm ihn!" antwortet der
Oesterreicher und eilt davon. In ganz Deutschland blieb die Niederlage
der Franzosen lange in frischem Andenken, und das Wort Roßbach tönte
vom baltischen Meere bis zu den Alpen ohne Ansehen des Standes allen
Franzosen entgegen, die man beschimpfen wollte. Archenhol?.
431
W
330. Ter Choral von Lenthen.
Gesiegt hat Friedrichs kleine Schar. Rasch über Berg und Thal
Von dannen zog das Kaiserheer im Abendsonnenstrahl.
Die Preußen stehn auf Leuthens Feld, das heiß noch von der Schlacht;
Des Tages Schreckenswerke rings umschleiert mild die Nacht.
Doch dunkel ist's hier unten nur, am Himmel Licht an Licht,
Die goldnen Sterne ziehn herauf wie Sand am Meer so dicht; '
Sie strahlen so besonders heut, so festlich hehr ihr Lauf,
Es ist, als wollten sagen sie: Ihr Sieger, blicket auf!
Und nicht umsonst; der Preuße fühlt's: Es war ein großer Tag;
Drum still im ganzen Lager ist's, kein Jubel, noch Gelag,
So still, so ernst die Krieger all', kein Lachen und kein Spott —
Auf einmal tönt es durch die Nacht: „Nun danket alle Gott!"
Der Alte, dem's mit Macht entquoll, singt's fort, doch nicht allein;
Kam'raden um ihn her im Kreis, gleich stimmen sie mit ein,
Die Nachbarn treten zu, es wächst lawinengleich der Chor,
Und voller, immer voller steigt der Lobgesang empor.
Aus allen Zelten strömt's, es reiht sich singend Schar an Schar,
Einsallen jetzt die Jäger, jetzt fällt ein auch der Husar.
Auch Musika will feiern nicht; zu reiner Harmonie
Lenkt Horn, Hobo' und Clarinett' die heil'ge Melodie.
Und stärker noch und lauter noch, es schwillt der Strom zum Meer,
Am Ende wie aus einem Mund singt rings das ganze Heer.
Im Echo donnernd Widerhalles das aufgeweckte Tbal;
Wie hundert Orgeln braust hinan zum Himmel der Choral. Besser.
331. Wie schön leuchtet der Morgenstern.
Wir waren wohl oft in großer Angst und Noth, erzählte ein alter
Dorfschulmeister in Schlesien, wenn wir im siebenjährigen Kriege auf
jenen Anhöhen die Österreicher, hier in den Schluchten unsere Preußen
schlagfertig stehen sahen. Weder Pferd noch Kuh, weder Milch noch Brot
gab es in unserm Dörfchen mehr; fast in jeder Nacht hörten wir die
Kanonen donnern; und mit jedem neuen Morgen stellte sich auch neues
Elend und neuer Jammer für uns ein.
Einst hatten wir wieder die ganze Nacht hindurch schießen gehört: an
Zubettgehen war gar nicht mehr zu denken, weil man in jeder Nacht
horchen mußte, ob die Flamme nicht schon im Dachgiebcl knisterte. Eben
hatte ich mein Morgenläuten besorgt, guckte zum Schalllochc hinaus, um
zu schauen, was uns an dem schrecklichen Tage wohl wieder bevorstehen
könne, und zog, znm Himmel blickend und Gott dankend, mein Mützchen
vom Kopse, da mir altes ganz ruhig schien. Ehe ich cs jedoch wieder
aufgesetzt hatte, jagte ein alter schwarzer Husar zum Kirchhof hinein, warf
sich vom Pferde und band seinen Braunen an meinen Fensterladen. Wie
mir zu Muthe ward, kann man sich leicht vorstellen. Ich flog mehr, als
ich gieng, die Turmtreppc hinunter. Er aber ließ mir nicht einmal Zeit,
meinen „guten Morgen!" anzubringen, sondern rief mir in barschem Tone
zu: „Geb' er mir den Kirchenschlüssel, Schulmeister!" Ich erschrak; denn
obgleich das Bischen Kirchenvermögen und der vergoldete Kelch mit der
Hosticnschachtel in Sicherheit gebracht waren, so befand sich doch noch eine
ziemlich reiche Altarbekleidung mit Tressen in der Kirche. Ich legte mich
auf Bitten und Vorstellungen; allein der alte Kriegsmann wollte davon
nichts wissen. Er sah mit einer so ganz eigenen Manier bald aus mich,
I
482
bald auf seinen Säbelgriff, daß ich, um Unglück zu verhüten, vorangieng,
um die Kirchenthür zu öffnen. Meine Frau, die hinter der Hausthür
gehorcht hatte, und die vor der Gefahr immer verzagter/in der Gefahr
aber immer entschlossener war als ich, kam aus Besorgnis um mich aus
freien Stücken hinter uns her.
Der Husar drängte sich in der Halle hastig voran, gieug, ohne sich
umzusehen, an der Sakristei und dem Altar vorüber und schritt, so schnell
es sein Alter erlaubte, klirr! klirr! die Chortreppe hinauf. Hier setzte er
sich, Athem schöpfend, auf eine Bank und ries mir gebieterisch zu: „Schul-
meister, mach' er die Orgel auf und geb' er mir ein Gesangbuch!" —•
Ich that augenblicklich, was er verlangte; meine Frau mußte die Bälge ziehen,
der Husar hatte ein Lied aufgeschlagen und sagte nun in einem weit
mildern Tone: „Wie schön leuchtet der Morgenstern! Spiel' er das, lieber
Schulmeister; aber so recht fein und ordentlich, er versteht mich wohl!" —
Ich spielte mit Herzenslust, und nach beendetem Vorspiel fiel der
Husar mit seiner tiefen Baßstimme ein; meine Frau hinter der Orgel und,
ich thaten ein Gleiches. Mein Herz wurde so muthig, daß ich mich oft
nach meinem Zuhörer umschaute und ihm ganz dreist in das Gesicht sah.
Er sang mit großer Andacht, hatte die Hände gefaltet, und die hellen
Thränen fielen über den eisgrauen Knebelbart auf das Buch herab. Jetzt
war das Lied beendet; ich gieng auf ihn zu; er schüttelte mir recht treu-
herzig die Hand und sprach: „Großen Dank, Herr Cantor! Wo ist der
Gotteskasten?" |
Mein früherer Argwohn, daß es auf Plünderung abgesehen sei, war
nun gänzlich verschwunden. Ich holte unsere Armenbüchse, und der Husar
warf ein Achtgroschenstück hinein. „Wir beide aber, wir theilen den Rest,
Herr Schulmeister", sagte er daun, indem er noch zwei Achtgroschenstücke
aus der Tasche zog, „da nehm' er das eine für seine Mühe!" Ich schlug
es aus; aber er war so ungestüm, daß ich es schlechterdings nehmen
mußte. „Nehm' er, nehm' er", sprach er, „cs klebt kein Blut daran!"
Jetzt verließ er das Gotteshaus, und wir begleiteten ihn. Sowohl
meine Frau als ich, waren unglaublich bewegt; ich konnte mich aber nicht
enthalten, unsern wunderbaren Gast auf dem Kirchhofe zu fragen, wie
ihm denn der Gedanke gekommen sei, hier seine Morgenandacht zu halten.
„Das will ich euch wohl sagen, ihr lieben Leute", antwortete er,
indem er uns beide bei der Hand nahm. „Gestern Abend sollte ein ver-
lorner Posten ausgestellt werden, um mitten unter den herumschweffendeu
Patrouillen den Feind auf einem gewissen Punkte zu beobachten. Jeder
von uns wußte, was die Sache auf sich hatte; wir sind seit einigen
Wochen brav daran gewesen. — Unser Rittmeister fragte nach Freiwilligen;
niemand bezeigte Lust. Endlich ritt ich fort, und meine drei Jungens
konnten ja wohl den alten Vater nicht allein lassen. — Er braucht es nicht
zu wissen, Herr Schulmeister, wie wir es anfiengen; — genug, wir schlichen
uns durch und hielten die ganze Nacht auf einer buschigen Anhöhe. Links
und rechts blitzte es um uns her; wir sahen bald hier bald dort feindliche
Mannschaften. Nicht meinetwegen — denn wie lange werde ich noch
reiten? — sondern nur wegen meiner Söhne seufzte ich in der finstern
Nacht: Herr, erhalte uns! — Kaum hatte ich es heraus, als es anfieng
433
zu dämmern, und der Morgenstern mir ins Auge blitzte. „Wie schön
leuchtet der Morgenstern!" fiel mir in diesem Augenblick aus meiner
Jugendzeit ein; gar manches, was ich seitdem gethan, und — was wohl
nicht allemal recht war, hieng sich wie eine Bleilast daran: ich rechnete
nach, seit wie viel Jahren ich in keine Kirche gekommen, und ich that
Gott das Gelübde, wenn ich diesmal mit dem Leben davon käme, wieder
einmal eine Andacht zu halten. Dies hab' ich denn nun gethan, und er
kann wohl denken, ob mir's zu Herzen gieng, als wir sangen: Du, Herr,
bist's, der mich diese Nacht durch deine Engel hast bewacht!"
Mit diesen Worten setzte er sich auf und ritt davon. s. Heinrich.
332. Wie schön leucht'
„Wie schön leucht't uns der Morgenstern!"
Hab' doch kein ander Lied so gern!
Mit Thränen füllt sich jedesmal
Mein Auge, spiel' ich den Choral.
'S war damals, als der alte Fritz
Noch stritt um Schlesiens Besitz,
iicr in den Schluchten lag sein Heer,
er Feind dort auf den Höh'n umher.
Da sah's im Dorf gar übel aus,
Die Scheuern leer, kein Brot im Haus,
Im Stalle weder Pferd noch Kuh,
Und vor dem Feind die Furcht dazu.
So hatt' ich eben eine Nacht
Mit Seufzen und Gebet durchwacht
Und stieg beim ersten Morgengran'n
Den Turm hinauf, um auszuschau'n,
Wie's draußen stünd'; 's war still umher,
Und ich sah keine Feinde mehr.
Da zog ich still mein Käpplein ab,
Dem lieben Gott die Ehr' ich gab.
Horch! plötzlich trabt's ins Dorf herein, —
Der Himmel woll' uns gnädig >ein!
Ein alter Schnauzbart jagt irit Trab
Nach meinem Haus, dort steigt er ab;
Kaum bin ich unten, schreit er: „Lauf',
Schließ mir geschwind die Kirche auf!"
Ich bat: „Bedenkt, 's ist Gottes Gut,
Was man vertraut hat meiner Hut,
Und Kirchenraub bestraft sich schwer."
Doch er schrie wild: „Was säumet er?
Flink aufgeschlossen, sonst soll ihn —!"
Schon wollt' er seinen Säbel zieh'n,
Da dacht' ich bang an Weib und Kind
Und öffnete die Krrch' geschwind
Und trat dann zagend mit ihm ein;
Mein Weib schlich weinend hinterdrein.
Er gieng vorüber am Altar,
Hinauf dann, wo die Orgel war;
Da stand er still: „Gesangbuch her!
Hier den Choral da spielet er,
Und daß sie brav die Bälge tritt!
Marsch! vorwärts jetzt und zögert nit!"
Ich fieng mit einem Borspiel an,
Wie ich's mein Lebctag gethan.
Da fiel der Alte grimmig ein:
t uns der Morgenstern!
„Was soll mir das Geklimper sein?
Hab' ich's denn nicht gesagt dem Herrn:
Wie schön leucht't uns der Morgen-
stern?" —
„'S ist nur ein Vorspiel!" — „Dummes
Zeug!
Was spielt er den Choral nicht gleich?"
I So spielt' ich denn, weil er's befahl,
Ganz ohne Vorspiel den Choral;
Der alte Schnauzbart sang das Lied,
Ich und mein Weib wir sangen mit.
Das Lied war aus, still saß der Mann,
Ein heißer Strom von Thränen rann
hm übers braune Angesicht,
ie funkelten wie Demantlicht.
Dann stand er auf und drückte mir
DieHand und sprach: „Da,nehmt das hier!"
Es war ein großes Thalerstück,
j Ich wies das Geld beschämt zurück;
Er aber rief: „Was soll das, Mann?
j Es klebt fürwahr kein Blut daran!
> Gebt's an die Armen in dem Ort."
j Drauf giengen wir zusammen fort,
Und noch im Gehen sstrach er weich:
„Kein Lied kommt diesem Lied mir gleich,
| Es hat mich in vergang'ner Nacht
Znm lieben Gott zurückgebracht.
I 'S rief gestern Abend der Major
Bor unsrer Front: „Freiwill'ge vor!
'S soll ein verlorner Posten steh'n,
Dem Feinde nah, dort auf den Höh'n;
j Hat keiner Lust, hat keiner Muth?"
j Das trieb mir ins Gesicht das Blut:
„Da müßten wir nicht Preußen sein!"
Ich ries's und trat rasch aus den Reih'n.
Drei meiner Söhne folgten mir:
„Gehst du, so gehen wir mit dir!"
! So zogen wir nach jenen Höh'n,
Um dort die ganze Nacht zu steh'n.
Es blitzte hier, cs krachte da,
Es war der Feind uns oft so nah,
Daß er uns sicherlich entdeckt,
| Wenn uns nicht droben der versteckt,
j Ja, Mann, ich hab' so manche Nachr
I Im Feld gestanden auf der Wacht,
28
Doch war mir nie das Herz so schwer, —
'S kam nur von meinen Jungens her;
Ihr habt ja Kinder, — nun da wißt
Ihr selbst, was Vaterliebe ist.
Drum hab' ich auch emporgeblickt
Und ein Gebet zu Gott geschickt;
Und wie ich noch so still gefleht,
Da war erhört schon mein Gebet,
Denn leuchtend gieng im Osten fern
Auf einmal auf'der — Morgenstern,
Und mächtig mir im Herzen klang
Der längst vergess'ne fromme Sang;
Hätt' gern gesungen gleich das Lied.
Doch schwieg ich, weil's uns sonst verrieth.
Zugleich fiel nur auch manches ein,
333. Tie
Was anders hätte sollen sein,
Bor allem, daß ich dieses Jahr
Noch nicht im Gotteshause war.
Das machte mir das Herz so schwer,
Das war's, das trieb mich zu euch her.
Ter Alte sprach's, bestieg sein Pferd
Und machte munter Rechtsumkehrt.
Seht, drum hab' ich das Lied so gern:
„Wie schön leucht't uns der Morgenstern!
Und spiel' noch heute jedesmal
Ganz ohne Vorspiel den Choral,
Und wenn ich spiel', sitzt immerdar
Mir dicht zur Seite der Husar,
Ich höre seinen kräft'gen Baß,
Und da — wird mir das Auge naß.
Jul. Sturm.
Erccutio».
„Wer da wiederbringt den Deserteur,
Dreißig preuß'sche Thaler sein Douceur!"
Borgetrommelt ward's der Companei;
Pfeifend in die Trommelmelodei
Aber macht ein jeder Kam'rad sich
Seinen Text noch zu absonderlich,
Als da lautet: „Dreißig Schweden mir,
Aber sechsmal Gassenlaufen dir!
I, so lauf, so weit der Himmel blau,
In der Nacht sind alle Katzen grau!"
Und alle melden, die da commandiert:
„Der Deserteur, Herr Hauptmann, ist chappiert."
Nur einer spricht: „Ich bring' den Deserteur!"
Und bringet seinen eigenen Bruder her.
„Schwer Geld!" spricht der Cap'tän beim Dreißigzählcn;
Und jener spricht: „Herr Hauptmann, zu befehlen."
Der Bruder durch die heiße Gasse läuft,
Daß ihm der blut'ge Schweiß vom Leibe tränst;
Und als er durchgelaufen dreimal schon,
Da tritt sein Bruder in die Execution.
„Herr Hauptmann", spricht er, „halten's mir zu Gnad',
Spricht ungefragt ein Wort 'mal der Soldat.
Ihr wollet mich die andern dreimal Gassen
In Gnaden für den Bruder laufen lassen."
„Pack'ts, Kerl, dich an in deiner armen Seelen?"
Und jener spricht: „Herr Hauptmann, zu befehlen!
Herzvater schrieb ein Schreiben an uns beid',
Klein war der Brief, doch groß das Herzeleid:
Verschuldet ist durch Krankheit, Noth und Gram
Um ganze dreißig Thaler mir mein Kram;
Mein Gläub'ger dränget mich aus Hof und Haus,
Zahl' ich nicht stracks ihm seinen Glauben aus.
Ich kann's doch nun und nimmermehr erwerben
Und muß an dreißig Thalern ganz verderben.
Da dachten wir in unsres Herzens Drang:
Es ist doch unser Vater lebelang!
Und dachten auch: Ein graues Leid ist hart,
Und Herz nicht haben, kein' Soldatenart.
Davon noch laufen soll der alte Mann?
Viel lieber laufe, wer noch laufen kann.
Soll einer laufen, nun so laufen wir;
Wir losen, Bruder, drum, dir oder mir!
435
Und machten Lose nach Soldatenbrauch:
Zwei Stück, ein weißes und ein schwarzes auch,
Weiß, der für seinen Vater läßt sein Blut,
Schwarz, der Berräther ist um schnödes Gut.
Und nun, Herr Hanptmann, halten's mir zu Gnaden!
Wie es nun weiter kam, das zu errathen,
Ist keine Hexerei. Doch wie's mir flog
Hier unter'm Knopf, als ich den Judas zog,
Das soll mit Permission vor Euer Gnaden
Kein Schurke weiter wohl errathen.
Wie Gott will, dacht' ich, faßt' mein Herze fest,
Daß es mich nicht in schwerer Noth verläßt;
Nun bricht's mir doch in tausend Stücke hin,
Dieweilen ich sein lieber Bruder bin."
Der Hauptmann sprach: „Mein Sohn, der Deserteur
Kriegt sechsmal und du das Douceur;
Wie die Artikel lauten, so geschicht's,
Und daran ändert auch kein Teufel nichts;
Doch hat's damit nicht allzugroße Eile.
Gemeldet werd' der Casus mittlerweile
Ins Hauptquartier an Seine Majestät,
Dieweil da Gnade gern vor Recht ergeht."
Und Seine Majestäten resolvieren:
„ Uxecutiones, weiter nicht zu ex'cutieren;
Wer für den Vater also macht die Gassen,
Wird's auch fürs Vaterland nicht unterlassen.
Und da ein gut Exempel förderlich,
Seind Korporals sie beide. Friederich." @. Scherenberg
334.
Der große König wollte gern sehn,
Was seine Gen'rale wüßten;
Da ließ er an alle Briefe ergehn,
Daß sie gleich schreiben ihm müßten,
Was jeder von ihnen zu thun gedenkt,
Wenn der Feind ihn so oder so bedrängt.
Der Vater Ziethen, der alte Husar,
Besah verwundert den Zettel.
„Der König hält mich zum Narren wohl
gar",
So flucht er, „was soll mir der Bettel?
Husar, bas bin ich, potz Element!
Kein Schreiber oder verpfuschter Student."
Da macht er auf einen Bogen Papier
Einen großen Klcx in der Mitten,
Rechts, oben, links, unten dann Linien
vier.
Die all' in dem Klexe sich schnitten;
Und jede endete auch in 'nem Klex.
So schickt er den Bogen zum alten Rex.
Ziethen.
Der schüttelt den Kopf gedankenvoll,
Fragt bei der Revue dann den Alten:
„Sag' er mir, Ziethen, ist er toll?
Was soll ich vom Wische da halten?" —
Den Bart streicht sich Ziethen: „Das ist
bald erklärt.
Wenn Eure Majestät mir Gehör gewährt.
Der große Klex in der Mitte bin ich,
Der Feind einer dort von den vieren;
Der kann nun von vorn oder hinten auf
mich,
Von rechts oder links auch marschieren,
Dann rück' ich auf einem der Striche vor
Und hau' ihn, wo ich ihn treffe, aufs Ohr."
Da hat der König laut aufgelacht
Und bei sich selber gemeinst:
„Der Ziethen ist klüger, als ich es gedacht,
Sein Gekritzel sagt mehr, als es scheinet.
| Das ist mir der beste Reitersmann,
Der den Feind schlägt, wo er ihn kriegen
kann!"
Fr. r. Sallet.
335. König Friedrich und sein Nachbar.
Der König Friedrich der Zweite von Preußen hatte acht Stunden
von Berlin ein schönes Lustschloß und war gern darin, wenn nur nicht
ganz nahe dabei die unruhige Muhle gewesen wäre. Denn erstlich stehen
28*
436
ein königliches Schloß und eine Mühle nicht gut neben einander, obgleich
das Weißbrot auch in dem Schlosse nicht übel schmeckt, wenn die Mühle
fein gemahlen und der Ofen wohl gebacken hat. Außerdem aber, wenn
der König in seinen besten Gedanken war und nicht an den Nachbar dachte,
auf einmal ließ der Müller seine Mühle klappern und dachte auch nicht
an den Herrn Nachbar; und die Gedanken des Königs störten zwar das
Räderwerk der Mühle nicht, aber manchmal das Klapperwerk der Räder
die Gedanken des Königs. Der geneigte Leser sagt: Ein König hat Geld
wie Laub, warum kauft er dem Nachbar die Mühle nicht ab und läßt
sie niederreißen? — Der König wußte, warum: denn eines Tages ließ er-
den Müller zu sich rufen. Ihr begreift, sagte er zu ihm, daß wir zwei
nicht neben einander stehen können. Einer muß weichen. Was gebt ihr
mir für mein Schlößlein? — Der Müller sagte: Wie hoch haltet ihr-
es, königlicher Herr Nachbar? — Der König erwiderte ihm: Wunder-
licher Mensch, so viel Geld habt ihr nicht, daß ihr mir mein Schloß ab-
kaufen könnt. Wie hoch haltet ihr eure Mühle? — Der Müller er-
widerte: Gnädigster Herr, so habt auch ihr nicht so viel Geld, daß ihr
mir meine Mühle abkaufen könnt; sie ist mir nicht feil. — Der König
that zwar ein Gebot, auch das zweite und dritte, aber der Nachbar blieb
bei seiner Rede: Sic ist mir nicht feil. Wie ich darin geboren bin, so
will ich darin sterben, und wie sie mir von meinem Vater erhalten worden
ist, sollen sie meine Nachkommen von mir erhalten und auf ihr den Segen
ihrer Vorfahren ererben. — Da nahm der König eine ernsthaftere Sprache
an. Wißt ihr auch, guter Mann, daß ich gar nicht nöthig habe, viel
Worte zu machen? Ich lasse eure Mühle taxieren und breche sie ab.
Nehmt alsdann das Geld, oder nehmt es nicht! Da lächelte der uner-
schrockene Mann, der Müller, und erwiderte dem König: Gut gesagt,
allergnädigster Herr, wenn nur das Kammergericht in Berlin nicht wäre,
nämlich, daß er es wolle auf einen richterlichen Ausspruch ankommen
lassen. Der König war ein gerechter Herr und konnte überaus gnädig
sein, also daß ihm die Herzhaftigkeit und Freimüthigkeit einer Rede nicht
mißfällig war, sondern wohlgefiel. Denn er ließ von dieser Zeit an den
Müller unangefochten und unterhielt fortwährend mit ihm eine friedliche
Nachbarschaft. Der geneigte Leser aber darf schon ein wenig Respect haben
vor einem solchen Nachbar und noch mehr vor einem solchen Herrn
Nachbar. H-bcl.
336. Das Feuer im Walde.
Zween Knaben liefen durch den Hain
Und lasen Eichenreiser auf
Und türmten sich ein Hirtenfeu'r,
Indes die Pferd' im fetten Gras
Am Wiesenbache weideten.
Sie freuten sich der schönen Glut,
Die wie ein helles Osterfeu'r
Gen Himmel flog, und setzten sich
Auf einen alten Weidenflumpf.
Sie schwatzten dies und schwatzten das
Vom Feuermann und Ohnekopf,
Vom Amtmann, der im Dorfe spukt
Und mit der Feuerkette klirrt,
Weil er nach Anseh'n sprach und Geld,
Wic's liebe Vieh die Bauern schund
Und niemals in die Kirche kam.
Sie schwatzten dies und schwatzten das
Vom sel'gen Pfarrer Habermäun,
Der noch den Nußbaum pflanzen that,
Von dem sie manche schöne Nuß
Herabgcworfen, als sie noch
Zur Pfarre giengen, — manche Nuß!
Sie segneten'den guten Mann
In seiner kühlen Gruft dafür
Und knackten jede schöne Nuß
Noch einmal in Gedanken auf. —
437
Da rauscht das dürre Laub empor,
Und sieh, ein alter Kriegesknecht
Wankt durch den Eichenwald daher,
Sagt „Guten Abend!" wärmet sich
Und setzt sich auf den Weidenstnmpf.
„Wer bist du, guter alter Mann?" —
„Ich bin ein preußischer Soldat,
Der in der Schlacht bei Kunersdorf
Das Bein verlor und, leider Gott's!
Bor fremden Thüren betteln muß.
Da gieng es scharf, mein liebes Kind!
Da sauseten die Kugeln uns
Wie Donnerwetter um den Kopf!
Dort flog ein Arm, und dort ein Bein!
Wir patschclten durch lauter Blut
Im Pulverdampf! „Steht, Kinder, steht,
Verlasset euren König nicht!"
Rief Vater Kleist; — da sank er hin.
Ich und zwei Bursche trugen flugs
Ihn zu dem Feldscheer aus der Schlacht.
Laut donnerte die Batterie.
Mit einmal flog mein linkes Bein
Mir unterm'Leibe weg!" — „O Gott!"
Sprach Hans und sahe Töffeln an
Und fühlte sich nach seinem Bein;
„Mein' Seel'! ich werde kein Soldat
Und wand're lieber hinterm Pflug!
Da sing' ich mir die Arbeit leicht
Und spring' und tanze wie ein Hirsch
Und lege, wenn der Abend kommt,
Mich hintern Ofen auf die Bank.
Doch kommt der Schelmfranzos zurück,
Der uns die besten Hühner stahl
Und unser Heu und Korn dazu,
Dann nehm' ich einen rothen Rock
Und auf den Buckel mein Gewehr!
Dann komm' nur her, du Schelmfranzos!"—
„Hans", sagte Toffel, „lang' einmal
Die Kiepe her, die hinter dir
Im Riedgras steht, und gib dem Mann
Von unserm Käs' und Butterbrot.
Ich samml' indessen dürres Holz;
Denn sich, das Feuer sinket schon!"
Hölty.
337. Friedrich II. und der Edelknabe.
Ein berühmter preußischer General war in seiner Jugend Edelknabe
an dem Hofe Friedrichs des Großen. Er hatte keinen Vater mehr, und
seine Mutter nährte sich in ihrem Witwenstande kümmerlich. Als guter
Sohn wünschte er sie unterstützen zu können; aber von seinem Gehalte
ließ sich nichts entbehren. Doch fand er endlich ein Mittel, etwas für
sie zu erwerben. Jede Nacht mußte einer von den Edelknaben in dein
Zimmer vor dem Schlafgcmach des Königs wachen, um diesem aufzu-
warten, wenn er etwas verlangte. Manchen war dies beschwerlich, und
sie übertrugen daher, wenn die Reihe sic traf, ihre Wachen gern an andere.
Der arme Page fieng an, diese Wachen für andere zu übernehmen; sie
wurden ihm vergütet, und das Geld, welches er dafür erhielt, schickte er
dann seiner Mutter. Einst konnte der König in der Nacht nicht schlafen
und wollte sich etwas vorlesen lassen. Er klingelte, er rief; allein cs kam
niemand. Endlich stand er selbst auf und gieng in das Nebenzimmer, um
zu sehen, ob kein Page da wäre. Hier fand er den guten Jüngling, der
die Wache übernommen hatte, am Tische sitzen. Vor ihm lag ein Brief an
seine Mutter, den er zu schreiben angefangen; allein er war über demselben
eingeschlafen. Der König schlich herbei und las den Anfang des Briefes,
welcher so lautete: „Meine beste, geliebteste Mutter! Jetzt ist es nun
schon die dritte Nacht, daß ich für Geld Wache habe. Beinahe kann ich
cs nicht mehr aushalten. Indes freue ich mich, daß ich nun wieder zehn
Thaler für Dich verdient habe, welche ich Dir hiermit schicke." Gerührt
über das gute Herz des Jünglings, läßt der König ihn schlafen, geht in
sein Zimmer, holt zwei Rollen nnt Ducaten, steckt ihm in jede Tasche
eine und legt sich wieder zu Bette. Als der Edelknabe erwachte und das
Geld in seinen Taschen fand, konnte er wohl denken, woher es gekommen
sei. Er freute sich zwar darüber, weil er nun seine Mutter noch besser
unterstützen konnte; doch erschrak er auch zugleich, daß der König ihn
438
schlafend gefunden hatte. Am Morgen, sobald er zum Könige kam, bat er
demüthig um Vergebung wegen seines Dicnstfehlcrs und dankte ihm für
das Geschenk. Der gute König lobte seine kindliche Liebe, ernannte ihn
sogleich zum Officier und schenkte ihm noch eine Summe Geldes, um sich
alles anzuschaffen, was er zu seiner neuen Stelle brauchte. Der treffliche
Sohn stieg hernach immer höher und diente den preußischen Königen als
ein tapferer General bis in sein hohes Alter.
Der den Eltern erzeigten Wohlthat wird nimmermehr vergessen
werden, tsir. 3, 16. Pustkuchen-GIanzow.
338. Friedrich II. und sei» Kammerdiener Heise.
Friedrich hatte, wie oft geschah, anhaltend gearbeitet und saß noch
schreibend an seinem Pulte, als die Mitternachtsstunde schon geschlagen
hatte. Der hereintretende Kammerdiener Heise, der bei dem Vertrauen,
das er besaß, sich mehr erlauben durfte wie ein anderer, erinnerte daran,
daß es schon spät und Zeit zur Ruhe sei. Der König sagte: „Ich habe
da eine wichtige Arbeit vor, die keinen Aufschub leidet. Wenn ich jetzt zu
Bette gehen soll, muß er mich wenigstens morgen früh um 4 Uhr wecken.
Ich werde dann noch schläfrig sein und nicht aufstehen und ihn wieder weg-
schicken wollen. Aber ich befehle ihm, daß er sich nicht abweisen läßt. Wenn
ich nicht aufstehen will, so kann er mir die Bettdecke wegziehen. Hört er?"
Mit dem Schlage vier trat Heise ein und sahe den König sanft und
fest schlafen. Aber der treue Diener weckte ihn mit lauter Stimme.
Der König schlug die Augen auf und sprach: „Es ist mir leid geworden;
ich muß noch zwei Stunden schlafen; komme er um sechs Uhr wieder!"
— „Ew. Majestät aber haben befohlen!" sagte Heise. — „Schäker", rief
der König, „er hört cs ja, ich will nicht!" — „Majestät, Sie müssen",
antwortete Heise und zog die Bettdecke weg. Nun stand der König auf,
und als er noch schlaftrunken gähnte und sich reckte, rief er aus: „Ach
Gott, wäre ich doch Kriegsrath >) geworden!" R. Fr. Eyl-rv
339. Friedrichs Verkehr mit seinen Soldaten.
Am Vorabend der Schlacht von Leuthen trat der König an ein
Wachtfeuer heran, an welchem er einen Trupp Soldaten rauchend und
plaudernd beisammen sitzen sah. Die Soldaten nahmen ihre Pfeifen aus
dem Munde. Friedrich aber sagte: „Kinder raucht immerzu und laßt
euch nicht stören." Darauf stellt er sich im Kreise mit ans Feuer und
schlägt den Mantel um. Mittlerweile treffen zwei nach Holz ausgeschickte
Reiter mit einem großen Stamme ein. Sie legen diesen zufällig gerade
dorthin, wo der König steht, den sie aber nicht erkennen, weil dieser ihnen
den Rücken zukehrt. Einer der beiden, welche das Holz geholt, stößt nun
den im Wege stehenden Monarchen an, indem er diesem zuruft: „Marsch,
fort da! Jeder faule Kerl stellt sich hier an's Feuer, aber keiner will
Holz holen." Da der König, der nicht weiß, daß er gemeint sei, stehen
i) Der König hatte von diesen die Meinung, daß sie nicht viel zu thun hätten.
439
bleibt, so schreit ihn der Soldat barsch an: „Heda, du Bärenhäuter, fort
von hier!" Da wendet sich der König lächelnd um und sagt: „Du bist
im Recht, komm nur heran!" Der Reiter, der jetzt seinen Irrthum ge-
wahr wird, erbleicht und tritt erschrocken zurück; allein der König spricht
mit freundlicher Miene: „Bleib hier, mein Sohn! Hast du das Holz
geholt, so kannst du es auch benutzen; ich will mich nur noch ein kleines
Weilchen wärmen." Franz Otto.
840. Rittmeister Kurzhagen.
In dem Regimenté des berühmten, von Friedrich dem Großen
hochgeehrten Generals von Ziethen stand ein Rittmeister mit Namen
Kurzhagen. Er war klug, tapfer und hatte ein kindliches Gemüth.
Seine Eltern waren arme Landlente im Mecklenburgischen. Mit dem
Verdienstorden auf der Brust rückte er nach Beendigung des siebenjährigen
Krieges in Parchim ein. Die Eltern waren von ihrem Dörfchen nach
der Stadt gekommen, um ihren Sohn nach Jahren wiederzusehen, und
erwarteten ihn auf dem Markte. Als er sie erkannte, sprang er rasch
vom Pferde und umarmte sie unter Freudenthränen. Bald darauf mußten
sie zu ihm ziehen und aßen allezeit mit an seinem Tische, auch wenn er
vornehme Gäste hatte.
Einst spottete ein Officier darüber, daß Bauern bei einem Rittmeister
zu Tische säßen. „Wie, sollte ich nicht die ersten Wohlthäter meines
Lebens dankbar achten?" war seine Antwort; „ehe ich des Königs Ritt-
meister wurde, war ich ihr Kind." Der General von Ziethen hörte von
diesem Vorfalle und bat sich selbst nach einiger Zeit mit mehreren Vor-
nehmen bei dem Rittmeister zu Gaste. Die Eltern des Letzteren wünschten
dieses Mal selbst, nicht am Tische zu erscheinen, weil sie sich verlegen
fühlen würden. Als man sich setzen wollte, fragte der General: „Aber,
Kurzhagen, wo sind Ihre Eltern? Ich denke, sic essen mit Ihnen an
einem Tische?" Der Rittmeister lächelte und wußte nicht sogleich zu ant-
worten. Da stand Ziethen auf und holte die Eltern selbst herbei; sie
mußten sich rechts und links an seine Seite setzen, und er unterhielt sich
mit ihnen auf's freundlichste. Als man anfieng, Gesundheiten auszubringen,
nahm er sein Glas, stand ans und sprach: „Meine Herren, es gilt dem Wohl-
ergehen dieser braven Eltern eines verdienstvollen Sohnes, der es beweist,
daß ein dankbarer Sohn mehr werth ist als ein hochmüthiger Rittmeister!"
Später fand der General Gelegenheit, dem Könige von der kindlichen
Achtung zu erzählen, welche der Rittmeister seinen Eltern erwies, und
Friedrich II. freute sich sehr darüber. Als Kurzhagen einst nach Berlin
gekommen war, wurde er zur königlichen Tafel gezogen. „Hör' er, Ritt-
meister", fragte der König, um seine Gesinnung zu erforschen, „von
welchem Hanse stammt er denn eigentlich? Wer sind seine Eltern?" —
„Ew. Majestät", antwortete Knrzhagen ohne Verlegenheit, „ich stamme
aus einer Bauernhütte, und meine Eltern sind Bauersleute, mit denen ich
das Glück theile, das ich Ew. Majestät verdanke." - „So ist es recht",
sagte der König erfreut; „wer seine Eltern achtet, der ist ein ehrenwerther
Mann; wer sie geringschätzt, verdient nicht, geboren zu sein."
.Pustkuchen-Glan zow.
440
341. Der alte Ziethen.
Joachim Hans von Ziethen,
Husaren-General, —
Dem Feind die Stirne bieten
Thät er die hundert Mal.
Sie haben's all' erfahren,
Wie er die Pelze wusch,
Mit seinen Leibhusaren,
Der Ziethen aus dem Busch.
Der Friede war geschlossen:
Doch Kriegeslust und Qual
Die alten 'Schlachtgenossen
Durchlebten noch einmal.
3 i 111) c tu
Wie Marschall Daun gezaudert,
Und Fritz und Ziethen' nie:
Es ward jetzt durchgeplaudert
Bei Tisch in Sanssouci.
Hei, wie den Feind sie bläuten
Bei Lowositz und Prag.
Bei Liegnitz und bei Leuthen
Und weiter Schlag auf Schlag!
Bei Torgau, Tag der Ehre,
Ritt selbst der Fritz nach Haus;
Doch Ziethen sprach: Ich kehre
Erst noch mein Schlachtfeld aus.
Sie stritten nie alleine,
Der Ziethen und der Fritz;
E Der Donner war der Eine,
Der And're war der Blitz.
Es wies sich keiner träge,
Drum schlug's auch immer ein;
Ob warm', ob kalte Schläge,
Sic pflegten gut zu sein.
Einst möcht' es ihm nicht schniecken,
Und sich, der Ziethen schlief.
Ein Höfling will ihn wecken;
Der König aber rief:
„Laßt schlafen mir den Alten!
Er hat in mancher Nacht
Für uns sich wach gehalten; —
Der hat genug gewacht!"
Und als die Zeit erfüllet
Des alten Ziethen war,
Lag einst, schlicht eingehüllet,
Hans Ziethen, der Husar.
Wie selber er genommen
Die Feinde stets im Husch,
So war der Tod gekommen
Wie Ziethen aus dem Busch.
Fontäne.
342. Der Straßenbau im Steinthal.
Ein Hauptbedürfnis für die Bewohner des Steinthals war die An-
legung einer Straße, welche ihre Gegend mit der Hauptstraße und den
angrenzenden Ortschaften in Verbindung setzte. Der Regierung war es
nicht zuzumuthen, und von ihr war es nicht zu erwarten, daß sie nach
einem so abgelegenen Gebiet hin sollte eine Straße bauen lassen. Da
rief Oberlin eines Tages seine Bauern zusammen. „Kinder", sagte er,
„es ist nöthig, daß wir durch unser Steinthal bis zu der nahen Haupt-
straße eine Seitenstraße anlegen und eine Brücke über die Breusch bauen."
Die Bauern staunten mit offenem Munde den Pfarrer und sich unter
.einander an und sagten einmüthig, das gicnge unmöglich, sie hätten andere
Sachen zu thun, als Straßen zu bauen. Da sagte der Pfarrer: „So
wie cs jetzt ist, seid ihr einen großen Theil des Jahres hindurch von der
ganzen übrigen Welt abgeschieden. Nicht einmal im Sommer kann sich
ein Fuhrwerk zu euch herauf getrauen. Bauet eine Straße, so könnt ihr
eure Landcserzeugnisse leichter absetzen und das ganze Jahr hindurch den
Umgang anderer Leute genießen." — „Das geht unmöglich au, Herr
Pfarrer", antworteten die Bauern. — „Wer also will, der folge meinem
Beispiel", sagte der Pfarrer, „und gehe mit hinaus, ich will's euch zeigen,
wie man eine Straße bauen muß." — Oberlin, in seinem alten Rock,
nahm eine Pickclhaue auf die Schulter und gieng voraus, und siehe da,
die Bauern eilten jeder in sein Haus und folgten, der eine mit einer
Schaufel, der andere mit Spaten, der dritte mit Pickel und Brecheisen,
dem Pfarrer nach. Bei diesem war der ganze Plan schon längst überlegt
und ausgcdacht; er stellte gleich einen jeden an seinen Ort, und legte selber
mit seinem Knechte gerade da, wo die Arbeit am beschwerlichsten und ge-
fährlichsten erschien, rüstig die Hand an. Die Bauern arbeiteten mit dem
Pfarrer bis zum Mittag und dann wieder bis zum Abend, und so war
der Straßenbau begonnen und nach wenigen Monaten auch vollendet.
Bald war auch über die schäumende Breusch von dem Pfarrer im Stein-
thal und seinen Bauern die Brücke erbaut und die Verbindung mit der
Hauptstraße vollends bewerkstelligt. Jetzt wurden nun auch durch die
einzelnen Theile des Steiuthales selber Steinwege angelegt. Die Kirche
des einen Ortes war so gelegen, daß bei feuchter Witterung die Kirchen-
gänger nur durch einen See von Schmutz und Schlamm zu ihr gelangen
konnten. Oberlin empfahl, daß jeder, der zur Kirche gicnge, einen Stein
mit sich bringen und außen niederlegen sollte, zur Begründung eines festen
442
Weges und gieng dabei selber mit gutem Beispiel voran. Nachdem so das
Thal gereinigt und trocken gelegt, überall bepflanzt und blühend geworden
war, gieng Oberlin's Sorgfalt auch weiter ins Innere der Ortschaften
selber und in den Bau der Häuser ein. Schon früher hatte er seine
Bauern gelehrt, den Dünger, welcher vorher nur ein ekelhafter Schmutz
um die Häuser her gewesen war, in besondern Gruben aufzubewahren und
für den Ackerbau zu benützen, und dies hatte zur äußern Reinlichkeit vieles
gewirkt; jetzt entstanden denn auch durch seinen Betrieb allmählich statt
der schmutzigen verfallenen Hütten reinliche, steinerne Häuser, die auch
großentheils mit gemauerten Kellern zum Aufbewahren der Kartoffeln
versehen waren. Schubert.
343. Wo nichts ist, kommt nichts hin.
Was nicht ist, das kann werden.
Von zwei unbemittelten Brüdern hatte der eine keine Lust und keinen Mut,
etwas zu erwerben, weil ihm das Geld nicht zu den Fenstern hineinregnete. Er
sagte immer: „Wo nichts ist, kommt nichts hin.“ Und so war es auch. Er
blieb sein Leben lang der arme Bruder Wonichtsist, weil es ihm nie der Mühe
werth war, mit einem kleinen Ersparnis den Anfang zu machen, um nach und
nach zu einem grösseren Vermögen zu kommen. So dachte der jüngere Bruder
nicht. Der pflegte zu sagen: „Was nicht ist, das kann werden.“ Er hielt das
Wenige was ihm von der Verlassenschaft der Eltern zu Theil geworden war, zu
Bath und vermehrte es nach und nach durch eigenes Ersparnis, indem er fleissig
arbeitete und eingezogen lebte. Anfänglich gieng es hart und langsam. Aber
sein Sprichwort: „Was nicht ist, das kann werden“, gab ihm immer Mut und
Hoffnung. Mit der Zeit gieng es besser. Er wurde durch unverdrossenen Fleiss
und Gottes Segen noch ein reicher Mann und ernährt jetzt die Kinder des armen
Bruders Wonichtsist, der selber nichts zu heissen und zu nagen hat.
Hebel.
344. Ter Winter.
Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an
Und schmeckt nicht süß, nicht sauer.
War je ein Mann gesund wie er?
Er krankt und kränkelt nimmer;
Er trotzt der Kälte, gleich dem Bär,
Und schläft im kalten Zimmer.
Aus Blumen und aus Vogelsang
Weiß er sich nichts zu machen,
Haßt warmen Trank und Liedcrklang
Und alle warmen Sachen.
Doch wenn die Füchse bellen sehr,
Wenn's Holz im Ofen knittert,
! Und um den Ofen Knecht und Herr
Die Hände reibt und zittert;
Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht,
Und Teich und Seen krachen:
Das klingt ihm gut, das haßt er nicht,
Dann will er todt sich lachen.
Sein Schloß von Eis liegt weit hinaus
Beim Nordpol an dem Strande;
Doch hat er auch ein Sommerhaus
Im lieben Schweizerlande.
Da ist er denn bald dort, bald hier,
Gut Regiment zu führen;
j Und wenn er durchzieht, stehen wir
1 Und sehn ihn an und frieren.
M. Claudius.
345. vie drei grossen christlichen Feste.
1. 0 du fröhliche, o du selige,
Gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt gieng verloren,
Christ ist geboren:
Freue, freue dich, o Christenheit!
2. 0 du fröhliche, o du selige,
Gnadenbringende Osterzeit!
Welt lag in Banden,
Christ ist erstanden;
Freue, freue dich, o Christenheit!
3. 0 du fröhliche, o du selige,
Gnadenbringende Pfingstenzeit!
Christ, unser Meister,
Heiligt die Geister:
Freue, freue dich, o Christenheit.
J. Falk.
443
346. Gei; ist eine Wurzel alles Übels.
Die Jahre 1779, 80 und 81 waren Wasser- und Hungerjahrc.
Damals lebte in den Odergegenden ein Mann, des Feld war Höhenland
und hatte gut getragen. Und sein Feld war groß, so daß er eine gewaltige
Masse Roggen in der Scheuer und endlich auf dem Boden hatte. Hoch
waren die Preise schon im Herbste. Mit dem Winter und dem Frühjahre
stiegen sie immer höher. Mancher Handelsmann klopfte an die Thür des
Reichen; mancher Handwerker bettelte, er möge ihm doch für gutes Geld
ein Scheffelchen ablassen. Alle aber wurden abgewiesen mit der Antwort:
„Ich habe mir einen Satz gemacht; der Boden wird nicht eher geöffnet,
bis der Scheffel acht Thaler kostet. Dabei bleibe ich!" Und zum Zeichen
hatte er an die Bodenthür eine große, schwarze 8 mit Kohle gemalt. Der
Winter vergieng, der Mai kam heran; aber die Preise waren hoch gestiegen,
denn die gewaltigen Fluten hatten großen Schaden gethan.
Am 7. Mai kam ein armer Leinweber, ein ehrlicher Meister aus dem
Orte. Sein Gesicht sah vor Hunger und Grämen selber aus wie graue
Leinwand. Er zahlte ihm, damit der reiche Mann Geld sähe, für einen
halben Scheffel 3 Thaler 22 Groschen auf den Tisch. Die 22 Groschen
bestanden aus Dreiern, Sechsern und Groschen; denn der Mann hatte alles
zusammengesucht. Aber der Bauer sprach: „Euer Aufzählen hilft cncb
nicht; der Scheffel kostet 8 Thaler; das ist mein Satz. Eher thue ich
meinen Boden nicht auf. Und dann muß es ordentlich Courant sein."
Des Bauers Söhncheu, ein Bürschchen von 10 Jahren, zupfte den Alten
am Rock: „Vater, gebt's ihm doch!" Aber der Vater prägte ihm mit
einem Rippenstoß andere Grundsätze ins Herz. Der Weber mußte sein
Geld zusammenstreichen und heimwandern.
Den 8. Mai in der Abenddämmerung kam die Zeitung an. Einen
Blick hinein, und der Bauer fand, was er finden wollte: „Roggen
8 Thaler." Da zitterten ihm die Glieder vor Freude. Er nahm ein Licht,
gieng auf den Boden und wollte übersehen, wie viel er wohl verfahren
könne, und überschlagen, wie groß seine Einnahme wäre. Indem er so
durch die Haufen und gefüllten Säcke hinschreitet, strauchelt er an einem
umgefallenen, fällt selber, das Licht fliegt ihm aus der Hand und in einen
Haufen Stroh, der daneben liegt. Ehe er sich aber aufraffen kann, steht
das Stroh in hellen Flammen. Ehe an Hülfe zu denken ist, hat das
Feuer Dachstuhl und Dielen ergriffen. Um Mitternacht an demselben
Tage, wo der Scheffel Roggen 8 Thaler galt, wo er auf seinen Satz ge-
kommen war und seinen Boden geöffnet hatte, stand er am Schutthaufen
seines ganzen Gutes als ein armer Mann. —
Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne, und
nähme doch Schaden an seiner Seele? Matth. 16, 26.
Jesus sprach zu seinen Jüngern: Wahrlich, ich sage euch: ein Reicher
wird schwerlich ins Himmelreich kommen. Und weiter sage ich euch: es
ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher
ins Reich Gottes komme. Matth. 19, 23. 24.
Ahlfeld.
444
347. Geiz und Verschwendung.
Der Geizige rafft Geld und Gut zwecklos zusammen; der Verschwender
bringt es zwecklos durch.
Der Geizige hat keinen, der Verschwender hat einen unnützen Genuß
von dem Seinigen.
Der Geizige kann aus die goldene Mittelstraße zurückkehren, sobald
er will; dem Verschwender wird es immer schwerer, je weiter er sich da-
von entfernt.
Der Geizige kann, aber er will es selten; der Verschwender möchte
oft, aber er kann nicht mehr.
Der Eine macht sich Feinde; der Andere erwirbt sich Freunde, die
schlimmer sind als ein Feind.
Jenen peinigt der Wunsch, immer weiter zu kommen; diesen die Reue,
daß er schon so weit gekommen ist.
Geiz ist die Wurzel alles Übels; Verschwendung ist ein Baum voll
bitterer Früchte.
Den Geizigen verzehrt die Sorge; den Verschwender die Ausschweifung.
Jenen lohnt am Ende die Furcht; diesen der Kummer.
Richt selten wird ein jugendlicher Verschwender noch ein geiziger Greis.
Sehr oft kommt das Vermögen geiziger Sammler an verschwenderische
und im eigentlichen Sinne lachende Erben. I. P. H-r->.
348. Unterschied zwischen Sparsamkeit und Geiz.
Zwei von den Einwohnern eines Dorfes, welches mit der völligen
Ernte durch den Blitz eingeäschert war, wurden von ihrer Gemeinde in die
umliegende Gegend gesendet, für diese Verunglückten einige Beisteuer zu
erbitten. Unter andern kamen sie frühmorgens auf den Hof eines wohl-
habenden Landmanns. Sie fanden ihn vor dem Stalle und hörten, als
sic sich ihm näherten, wie er dem Knecht es ernstlich verwies, daß er die
Stricke, woran die Ochsen gespannt gewesen, über Nacht im Regen am
Pfluge gelassen und nicht ins Trockne gebracht hatte. „O weh! der Mann
ist genau", sprach einer zum ander», „hier wird es nicht viel geben!«
Run wurde der Herr des Hofes die Fremden gewahr, und indes er mit
ihnen in sein Haus gieng, erzählten sie ihm ihr Unglück und brachten ihr
Begehren an. Groß war ihre Verwunderung, als er ihnen bald ein an-
sehnliches Geschenk an Geld gab und noch versprach, eben so viel an
Saatkorn der verunglückten Gemeinde zu schicken. Ja sie konnten in ihrer
dankbaren Rührung sich nicht enthalten, während des Frühstücks ihrem
Wohlthäter es zu gestehen, wie seine Mildthätigkeit ihnen um so mehr
unerwartet gewesen sei, da sie ihn wegen des vorhin um eine Kleinigkeit
dem Knechte gegebenen Verweises für sehr genau gehalten hätten.
„Lieben Freunde", war seine Antwort, „eben dadurch, daß ich das
Meiuige jederzeit zu rathe hielt, kam ich in den glücklichen Zustand, wohl-
thätig sein zu können." Wie mancher schämt sich der Sparsamkeit, der
bloß des Geizes sich zu schämen glaubt! Und wie mancher schämt sich der
Wohtthätigkeit, weil er sie fälschlich für Verschwendung hält!'
Rochow's Kinderfremid.
445
349. Der Wirt muß vorauf.
(Von einer Landwirtin.)
Du wunderst dich, daß meine Leute noch keinen Kaffee trinken und
überhaupt so ordentlich sind? O, mein liebes Kind! ich kann, was ich will,
und der Henker sollte mir den Dienstboten holen, der mir ein einzigesmal
über die Schnur hiebe! Ordnung im Haushalte ist keine Hexerei, und ich
habe ein so sicheres Mittel, meine Leute vom Kaffee abzuhalten, daß ich
alles in der Welt drauf wetten will, sie trinken ihn nicht. Das Schnackigste
aber ist, daß ich dieses Mittel von meiner Viehmagd gelernt habe. Diese
wollte, wie ich meinen Mann gcheirathet hatte und wir unsre Pachtung
antraten, nicht früh genug aufstehen, und wie ich sie darüber zur Rede
stellte, gab sie mir zur Antwort: »By us moct der Wert vorupp!" Dies
schallte mir durch die Ohren, und auf einmal erleuchtet fühlte ich die
ganze Wahrheit, daß alles in der Haushaltung durch einen guten Vorgang
gezwungen werden müsse, und daß es eine Thorheit sei, sich um acht Uhr
aus dem Bette zum Kaffee wecken zu lassen und von dem Gesinde zu
fordern, daß es um drei Uhr an der Arbeit sein und sich nicht auch eine
verstohlene Freude machen sollte. Wie es den andern Morgen drei schlug,
sagte ich darauf zu meinem Manne: „Der Wirt muß vorauf!" und so
wie er dieses einigemal gethan hatte, war alles Gesinde so geschwind bei
der Hand, daß ich seit der Zeit nicht nöthig gehabt habe, ein einzigesmal
mit der Viehmagd über ihren langen Schlaf zu schmälen. Anfangs siel es
uns etwas hart, so früh die warmen Federn zu verlassen. Wie wir es
aber erst eine Zeit lang gethan hatten, war es uns nicht möglich, lange
über die gewohnte Zeit darin zu verweilen; und wenn ein Feiertag uns
eine Stunde später aufforderte, so waren wir doch zu rechter Zeit müntcr
und feierten ihn nicht in süßem Träumen. Jeder Feiertag war uns dann
doppelt willkommen, und wir freuten uns oft seines Anbruchs.
Nun, mein Kind! weißt du mein ganzes Geheimnis, und wenn du
dasselbe wohl anwendest, so wirst du nicht nöthig haben, dich über Unord-
nung im Haushalt zu beschweren. Andern zu befehlen und Vorschriften
zu geben, ist keine Kunst; man muß vorausgehen, wenn andere folgen
sollen, auf die Bresche wie auf die Dresche; und der Soldat lacht über
den Hauptmann, der ihm hinterm Eichbaum befehlen will, als ein braver
Kerl die Sturmleiter hinauf zu klettern. So handeln aber unsre mehrsten
Haushälter; sie selbst wollen schlafen, Kaffee trinken.und hinterm Ofen
sitzen, das Gesinde aber soll sich quälen und schlecht behelfen. Das geht
nicht und wird in Ewigkeit nicht gehen, der Wirt muß vorauf. Nächstens
ein mehreres und damit Gott befohlen. I. Möser.
350. Eine Geschichte vom Schweinehirten.
Bei einem Dorfe in der Markgrafschaft Ancona lebten eine paar arme
Bauersleute, die hatten einen Sohn, der hieß Felix. Dieser Knabe hatte
zwar einen guten Verstand, weil er aber sehr arm war, mußte er die
Schweine im Felde hüten. Felix ward von seinen Eltern immer angehalten,
gegen jedermann gefällig, zuvorkommend und freundlich zu sein. Die an-
dern Knaben im Dorfe verachteten aber den Schweinehirten und waren
446
grob. Als Felix eines Tages seine Herde hütete, kam des Weges ein
Barfüßermönch, der durch den Wald einen Wegweiser begehrte. Weil es
aber schlechtes Wetter war, so sagten die andern Knaben mit ihrer gewöhn-
lichen Grobheit: „Nein, ich gehe nicht!" Da sprang Felix hervor, grüßte
freundlich und bot sich zum Wegweiser an. Da der Mönch unterwegs
aus den klugen Antworten des Knaben einen guten Verstand wahrgenommen,
hat er ihn mit sich in sein Kloster geführt und mit Bewilligung seiner Eltern
in seinen Orden aufgenommen. Felix studierte jetzt fleißig, und ungeachtet er
bald einer der gelehrtesten von allen Mönchen wurde, erhob er sich doch nicht
mit Stolz, sondern blieb demüthig, höflich und dienstfertig. Dies machte,
daß ihn alle, die ihn kannten, liebgewannen, und so wurde er von einer
Ehrenstelle zur andern erwählt, bis er sogar Bischof und zuletzt Cardinal
wurde. Endlich, da der Papst starb, wurde er einhellig am 24. April 158b
in Rom zum Papst erwählt. Und er hat unter dem Namen Sixtus V.
mit großem Ruhm regiert. — Die Bauern, welche von dem Glück des
ehemaligen Schweinehirten hörten, kratzten sich hinter den Ohren, kratzten
aber wenig Verstand heraus, sondern blieben, was sic waren, ungehobelt
und ungeschliffen.
Diese Geschichte lehrt, wie oft ein kleiner Umstand unser Glück machen
kann, und wie die Höflichkeit das erste Mittel ist, sich unter den Menschen
beliebt zu machen. Höflichkeit besteht aber nicht allein darin, daß man die
Kappe abnimmt, Kratzfüße und einen krummen Buckel macht, sondern darin,
daß man gegen jedermann freundlich ist, alle unanständigen Reden meidet,
sich zu jeder Gelegenheit bereitwillig finden läßt und an Dienstfcrtigkcit
alle andern zu übertreffen sucht. Zsch-s-.
351. Hier ist gegipst.
Benjamin Franklin nützte seinen Landsleuten, den Nordamerikanern,
nicht nur als Staatsmann, sondern auch als Landmann bestrebte er sich,
durch sein Beispiel zu wirken. Er benutzte unter anderm den Gips und
erhielt dadurch — was jetzt jeder Bauer weiß, damals aber noch wenig
bekannt war, viel schöneren Klee als seine Nachbarn. Diese aber wollten
nicht glauben, daß das Gipsen die Ursache des schönen Klees sei. Das
verdroß Franklin, und er sagte zuerst: „Nun, wenn ihr's nicht besser haben
wollt, so laßt euren Klee ungegipst!" Doch über Winter besann er sich
anders. Im Frühjahr wählte er sich einen Klecacker an der Straße aus
und streute in aller Stille die Worte: „Hier ist gegipst!" in mannsgroßen
Buchstaben mit Gips über den Klee; außerdem aber ließ er dieses Klee-
stück ungegipst. Als nun später die Leute vorbeikamen, sahen sic die dunkeln,
fetten Streifen im Klee, fiengen an zu buchstabieren und brachten bald die
drei Worte heraus: „Hier ist gegipst!" Nun wanderte alles zum Acker
hin, sah und las, — und daß von jetzt an die Belehrung wirkte, das
brauchte ich eigentlich nicht mehr hinzuzusetzen.
352. Das gute Heilmittel.
Kaiser Joseph in Wien war ein weiser und wohlthätiger Monarch,
wie jedermann weiß; aber nicht alle Leute wissen, wie er einmal der Doctor
447
y-
gewesen ist und eine arme Frau geheilt hat. Äne arme, kraute Frau
sprach zu ihrem Büblein: Kind, hole mir einen Doctor, sonst kann ich's
nimmer aushalten vor Schmerzen. Das Büblein lief zum ersten Doctor
und zum zweiten; aber keiner wollte kommen, denn in Wien kostet ein
Gang zu einem Kranken einen Gulden, und der arme Knabe hatte nichts
als Thränen, die wohl im Himmel für gute Münze gelten, aber nicht bei
allen Leuten auf der Erde. Als er aber zum dritten Doctor auf dem
Wege war, fuhr langsam der Kaiser in einer offenen Kutsche an ihm vor-
bei. Der Knabe hielt ihn wohl für einen reichen Herrn, obgleich er nicht
wußte, daß cs der Kaiser sei, und dachte: Ich will's versuchen. „Gnädiger
Herr", sagte er, „wollt ihr mir nicht einen Gulden schenken? Seid so
barmherzig!" Der Kaiser dachte: Der faßt's kurz und denkt, wenn ich
einen Gulden auf einmal bekomme, so brauch' ich nicht sechzigmal um einen
Kreuzer zu betteln. „Thut's ein Zwanziger nicht auch?" fragt' ihn der
Kaiser. Das Büblein sagte: Nein, und offenbarte ihm, wozu er des Geldes
benöthigt wäre. Also gab ihm der Kaiser den Gulden und ließ sich genau
von ihm beschreiben, wie seine Mutter heißt, und wo sie wohnt, und wäh-
rend das Büblein zum dritten Doctor springt, und die kranke Frau da-
heim betet, der liebe Gott wolle sie doch nicht verlassen, fährt der Kaiser
zu ihrer Wohnung und verhüllt sich ein wenig in seinen Mantel, also daß
man ihn nicht recht erkennen konnte, wer ihn nicht darum ansah. Als er
aber zu der kranken Frau in das Stübchen kam, meint sie, es sei der
Doctor und erzählt ihm ihren Umstand, und wie sic noch so arm dabei
sei und sich nicht pflegen könne. Der Kaiser sagte: „Ich will euch denn
jetzt ein Recept verschreiben", und sie sagte ihm, wo des Büblcins Schreib-
zeug wäre. Also schrieb er das Recept und belehrte die Frau, in welche
Apotheke sie es schicken müsse, wenn das Kind heim komme, und legte cs
auf den Tisch. Als er aber kaum eine Minute fort war, kam der rechte
Doctor auch. Die Frau verwunderte sich nicht wenig, als sie hörte, er
sei auch der Doctor, und entschuldigte sich, es sei schon einer da gewesen
und habe ihr etwas verordnet, und sie habe nur auf ihr Büblein gewartet.
Als aber der Doctor das Recept in die Hand nahm und sehen wollte,
wer bei ihr gewesen, und was für einen Trank oder was für Pillen er ihr
verordnet habe, erstaunte er auch nicht wenig und sagte zu ihr: „Frau, ihr
seid einem guten Arzte in die Hände gefallen; denn er hat euch fünf und
zwanzig Goldstücke verordnet, beim Zahlamte zu erheben, und unten an
steht Joseph, wenn ihr ihn kennt. Eine solche Arznei hätt' ich euch nicht
verschreiben können." Da that die Frau einen Blick gegen den Himmel
und konnte nichts sagen vor Dankbarkeit und Rührung, und das Geld
wurde hernach richtig und ohne Anstand von dem Zahlamte ausgezahlt, und
der Docter verordnete ihr einen Trank; und durch die gute Arznei und
durch die gute Pflege, die sie sich jetzt verschaffen konnte, stand sie in wenig
Tagen wieder auf gesunden Beinen. Also hat der Doctor die kranke Frau
geheilt, und der Kaiser die arme. H-d-l.
353. Das Känguruh.
Das Känguruh gehört zu den Beutelthieren, d. h. denjenigen,
deren Weibchen am Bauche einen häutigen Beutel tragen, worin
448
sich die Jungen solange aufhalten, bis sie der Saugung entwachsen
sind. Dies sonderbare Thier sitzt gewöhnlich nur auf den Hinter-
beinen, gestützt von dem starken Schwänze; beim Weiden geht es
auf allen vieren
in übergebeugter
IX UUvi^vt/üU^lJvI
Stellung. Seine
Nahrung besteht
ausschliesslich aus
Pflanzen, vorzüg-
lich aus Gras und
Baumblättern. Die
Nacht verbringt es
schlafend. Wird
dasKänguruh nicht
angegriffen, so ist
es ein sanftes, gut-
müthigesThier, das
einer drohenden
Gefahr sich immer
durch die Flucht
zu entziehen sucht.
Dabei übertrifft es
an Sprungfertigkeit alle anderen Thiere. Wie von einer unsicht-
baren Kraft emporgeschleudert, erhebt sich das ruhende Thier
plötzlich und eilt in 2 Meter hohen und 7 Meter weiten Sprün-
gen davon. Dazu folgen die Sprünge mit solch rasender Schnellig-
keit auf einander, dass wenige Augenblicke hinreichen, das flie-
hende Thier jeder gewöhnlichen Gefahr zu entziehen; selbst Wind-
hunde haben Mühe, es einzuholen. Beim Sprung hält es die Yor-
derfüsse dicht an den Leib an; der Schwanz wird gerade aus-
gestreckt, um das Gleichgewicht des Körpers zu erhalten. Die
Männchen sind muthige Thiere, die sich mit den starken Hinter-
beinen und dem Schwänze bei einem Angriffe kühn vertheidigen,
weshalb die Jagd für die Hunde sehr gefährlich ist. Die Ureinwohner
von Neu-Holland wissen sie aber mit bewundernswerther List,
Ausdauer und Geschicklichkeit zu beschleichen, bis sie ihnen mit
sicherer Hand ihren Wurfspiess in den Leib schleudern können.
St raes sie.
354. Die Kokospalme
Die wichtigste Pflanze der Südseeinseln ist die Kokospalme, welche
stolz ihr Haupt über die andern Bäume erhebt und zuerst dem Seefahrer
in die Augen fällt, wenn er sich einer Küste nähert. Bald vereinzelt, bald
in Gruppen stehen ihre schlanken, hohen Säulen mit der wiegenden Blätter-
kroue in erhabener Majestät da, reichen Segen um sich her verbreitend.
Nach der Sage des Volkes ist dieser Baum zu nennundueunzig Dingen
nntzbar. Der schwärzliche Stamm, der bisweilen 30 Meter hoch wird,
schwimmt als stolzer Mast ans dem Meere, trägt als Pfeiler das grüne
I
449
Dach der Wohnungen und leitet als Rohr das Wasser vom Quell nach
den Hütten. Aus den weitlaufenden Seitenwurzeln flicht mau Körbe, aus
der Nuß macht man Trinkgeschirre. Die Fasern der Rinde und der Nuß-
schale geben Schnüre, Stricke und Tauwerk. Ist der Baum noch jung, so
ist sein Blattkopf süß und schmackhaft und wird unter dem Namen Palm-
kohl als Leckerbissen gegessen. Die ausgewachsene Krone besteht aus einem
Dutzend mächtiger Blätter. Gewöhnlich bricht jeden Monat eins hervor
und fällt jeden Monat eins
ab. In drei Monaten ist
ein Blatt ausgewachsen und
alsdann fast ein Meter breit
und gegen vier Meter lang.
Es gleicht einer großen Feder,
die sich hoch in den Lüften
über den andern Waldbäumen
wiegt. Man macht daraus
Fächer,Sonnenschirme,Dach-
decken, Körbchen, Flechtwerk,
Papier, ans welches man mit
einem Griffel aus Bambus
schreiben kann; man dreht
daraus Fackeln zum Leuchten
und benutzt die Mittelrippen
als Stöcke. Die Äste stellt
man bei feierlichen Gelegen-
heiten zur Zierde oder als
Zeichen der Freude vor die
Thür. Wenn man Vorneh-
men ein Geschenk bringt, so
sind immer Palmenzweige da-
bei, und soll ein Krieg beendet
werden, so fehlen sie nicht als
Zeichen des Friedens in den Händen der Krieger. Aus der Mitte des Blatt-
kreises koinmcn drei bis vier Spannen lange Scheiden wie um die Kolben
des türkischen Weizens. Diese platzen nach drei Monaten, und dann er-
hebt sich die traubenartige Rispe, oben mit gelblichen, wohlriechenden Blüten,
unten mit sich ansetzenden Früchten. Blüte und Frucht ist als Nahrung
und Trank unschätzbar. Von der unentwickelten Blüte kann ein Wein
gewonnen werden, wenn man Einschnitte in die Rispe macht und den her-
auströpfelnden Saft in einem Gefäße auffängt. Gewöhnlich fließt der
Saft fünf Tage lang. Frisch abgezogen ist er kühlend und heilsam. Nach
kurzer Zeit gährt er und wirkt berauschend; später wird er sauer und gibt
den besten Weinessig. Durch Einkochen kann man daraus Zucker gewinnen.
Die kopfgroßen, eirunden Nüsse werden, wenn sie noch grün und unreif
sind, zu den mannigfaltigsten Speisen zubereitet. Allmählich füllen sich
die jungen Früchte mit herbem, nachher süßem Wasser. Das ist die labende
Kokosmilch, welche auf jenen Inseln das Quellwasser und die Kuhmilch er-
setzt, da dort nicht nur die Quellen, sondern auch die milchgebenden Haus-
29
450
thiere selten sind. Bei der Reife setzt sich aus der Kokosmilch ein zartes,
schmackhaftes Mark an die innere Wandung der Nuß, wie sich der Weinstein
aus dem Weine an die innere Wand des Fasses absetzt. Mittels eines
Löffels wird dieses Mark herausgenommen und entweder roh gegessen, oder
mit Salz und Öl als Salat zubereitet. Man kocht aus dem Mark auch Öl,
welches man an die Speisen thut. Der ausgepreßte Kern aber gibt das
beste Viehfutter und düngt den Acker. Wie mannigfaltig der sinnreiche
Europäer die harte Nußschale zn verarbeiten weiß, zeigen die Stockknöpfe,
Pfefferbüchsen, Näpfe und Becher, welche schön geschnitzt und polirt, nicht
selten mit Silber eingefaßt werden. Die sehr zähe, braunrothe Faser der
äußern Schale gibt die feinsten Teppiche und Flechtwerkc. — Am frucht-
barsten ist der Baum in salzigem Boden und am Meere. Dieses hat
schon manche abgefallene Nuß auf seinen Wellen den nackten Korallenriffen
zugeführt und ohne Menschenhand Palmenwälder entstehen lassen, welche
später von gestrandeten Insulanern in Besitz genommen wurden. Um der
vielen und großen Segnungen willen steht die Kokospalme in hoher Ver-
ehrung. Auf Ceylon pflanzt man bei der Geburt eines Kindes eine Kokos-
palme und die Ringe, die der Baum mit jedem Jahrestricbe um den
Stamm bildet, geben das Alter des Kindes an. Im Hafen zu Bombay
opfert man nach alter Sitte alljährlich eine vergoldete Kokosnuß zum
Zeichen reichen Ertrages und glücklicher Seefahrt. Grub-.
355. Die Auferstehung.
Auferstehn, ja auferstehn wirst du,
Mein Staub, nach kurzer Ruh!
Unsterblich's Leben
Wird, der dich schuf, dir geben!
Halleluja!
Wieder auszublühn werd' ich gesät!
Der Herr der Ernte geht
Und sammelt Garben
Uns ein, uns ein, die starben!
Halleluja!
' Tag des Danks! der Frendenthränen
Tag!
Du meines Gottes Tag!
Wenn ich im Grabe
Genug geschlummert habe,
Erweckst du mich!
Wie den Träumenden wird dann uns sein!
Mit Jesu gehn wir ein
Zu seinen Freuden!
Der müden Pilger Leiden
Sind dann nicht mehr!
Ach ins Allerheiligste führt mich
Mein Mittler; dann leb' ich
m Heiligthume
u seines Namens Ruhme!
alleluja! Kl stock.
356. Aus der Jugend Friedrich Wilhelm's UI.
Als der König ein Knabe von zehn Jahren war, so erzählt sein Kammer-
diener und nachheriger geheimer Kämmerer Wolter, und ich die Aufwartung
bei ihm hatte, brachte eines Tages im Monat Januar bei strenger Kälte
ein Gärtnerbursche ein Körbchen mit schönen reifen, im Treibhause gezogenen
Kirschen. Beim Anblicke derselben freute sich der junge Prinz und wünschte,
die in dieser Jahreszeit seltene Frucht zu genießen. Als ihm aber bemerk-
lich gemacht wurde, daß sie fünf Thaler kosten sollten, fragte er verwundert:
„Wie, für eine Hand voll Kirschen fünf Thaler?" und drehte sich dann fest
um mit den entschiedenen Worten: „Ich mag und will sie nicht!" — Und
der Gärtnerbursche entfernte sich mit seinen Kirschen.
Wenige Stunden später ließ sich ein Bürger und Schuhmachermeister
aus Potsdam melden.
451
„Wolter, hören Sic doch, was der Mann will!" sagte der Prinz.
Wolter gieng und kam dann mit dem Bescheide zurück, der arme Mann
habe lange und schwer am Nervcuficbcr darnieder gelegen; er sei dadurch
sehr zurückgekommen und bedürfe, um sich Leder anzukaufen, damit er sein
Geschäft wieder beginnen und sich und den Seinen das tägliche Brot
wieder verdienen könne, zwanzig Thaler. Er nähme, fuhr Wolter fort,
seine Zuflucht in seiner Noth zu dem milden Herzen des Kronprinzen und
bitte um die zwanzig Thaler.
„Wie viel habe ich noch in meiner Kasse?" fragte der junge Prinz
mit dem sichtbaren Ausdrucke des Mitleids in seinen Zügen.
„Noch fünfzig Thaler", sagte Wolter.
„O, daun kann ich ja noch helfen!" rief freudig der Prinz. „Geben
Sie ihm die zwanzig Thaler in meinem Namen, und sagen Sie ihm, ich
wünsche ihm viel Glück dazu!"
Erfreut und tief gerührt empficng der Handwerksmaun die Gabe, der
cs nicht ahnen konnte, wie kaum erst der Prinz die knabenhafte Nasch-
haftigkeit überwunden und hier das Vierfache so freudig dahin gab, um
in Liebe zu helfen. Er sprach den innigen Wunsch aus, dem Kronprinzen
persönlich danken zu dürfen. Wolter meldete dies. — „Nicht doch",
erwiderte der Prinz, „das würde ja den armen Mann nur beschämen!"
Eylert.
357. Die Bauernhäuser im Osnabrückschen.
Ter Herd ist fast in der Mitte des Hauses und so angelegt, daß die
Frau, welche bei demselben sitzt, zu gleicher Zeit alles übersehen kann.
Ein so großer und bequemer Gesichtspunkt ist in keiner andern Art von
Gebäuden. Ohne von ihrem Stuhle aufzustehen, übersieht sie zu gleicher
Zeit drei Thüren, dankt denen, die hereinkommen, heißt solche bei sich
niedersetzen, behält ihre Kinder und ihr Gesinde, ihre Pferde und Kühe im
Auge, hütet Keller und Kammer, spinnet immer fort und kocht dabei.
Ihre Schlafstelle ist hinter diesem Feuer, und sie behält aus derselben
eben diese große Aussicht, sieht ihr Gesinde zur Arbeit aufstehen und sich
niederlegen, das Feuer verlöschen und anbrennen und alle Thüren auf-
und zugehen, hört ihr Vieh fressen, die Weberin schlagen und beobachtet
wiederum Keller, Boden und Kämmer. Jede zufällige Arbeit bleibt eben-
falls in der Kette der übrigen. So wie das Vieh gefüttert und die
Dresche gewandt ist, kann sie hinter ihrem Spinnrade ausruhen, anstatt
daß in andern Orten, wo die Leute in Stuben sitzen, so oft die Haus-
thür aufgeht, jemand aus der Stube dem Fremden entgegengehen, ihn
wieder aus dem Hause führen und seine Arbeit so lange versäumen muß.
Der Platz bei dem Herde ist der schönste unter allen, und wer den Herd
der Feuersgefahr halber von der Aussicht auf die Diele absondert, beraubt
sich unendlicher Vortheile. Er hört die Stimme seines Viehes nicht mehr.
Er kann sodann nicht sehen, was der Knecht schneidet und die Magd
füttert. Die Einfurt wird ein Schleichweg des Gesindes, seine ganze
Aussicht vom Stuhle hinterm Rade am Feuer geht verloren; und wer
vollends seine Pferde in einem besonderen Stalle, seine Kühe in einem
andern und seine Schweine im dritten hat, und in einem eigenen Gebäude
28*
452
drischt, der hat zehnmal so viel Wände und Dächer zu unterhalten, und
muß den ganzen Tag mit Besichtigen und Aufsichthaben zubringen. Ein
ringsumher niedriges Strohdach schützt hier die allezeit schwachen Wände,
hält den Lehm trocken, wärmt Haus und Vieh und wird mit leichter Mühe
von dem Wirte selbst gebessert. Ein großes Vordach schützt das Haus
nach Westen und deckt zugleich die Schweinekoben; und um endlich nichts
zu verlieren, liegt der Mistfahl') vor der Ausfahrt, wo angespannt wird.
Kein Bitruv (ein berühmter römischer Baumeister) ist im Stande, mehr
Vortheile zu vereinigen. 3. Möser.
358. Mutterliebe.
Als die Franzosen zum ersten Male in Mainz lagen, da rückten
etliche deutschen Fürsten mit ihren Heeren vor die Stadt, um die Franzosen
herauszutreiben. Das gicng aber so schnell nicht, und den Soldaten der
Reichsarmee ward darüber die Zeit lang, so daß etliche ausrissen und, um
Grund und Ursache gefragt, alles Ernstes erwiderten, die Franzosen hätten
wirklich mit Kugeln geschossen.
Das that nun ein ehrlicher Vogelsberger, der unter den Hessen
diente, nicht; wohl aber schrieb er an seine Mutter nach Hause, das
Quartier sei schlecht, und mit Essen und Trinken verderbe man sich den
Magen auch nicht. Das jammerte denn die Mutter sehr, daß ihr lieber
Sohn neben schlechtem Quartier auch noch Hunger leiden solle, und sic
nahm aus dem Beutel hinter dem Ofen eine gehörige Faust voll Hirse
oder auch zwei und kochte ihrem Christoph einen Hirsebrei, so steif und
saftig, daß ihr selber der Mund darnach wässerte. Als aber der Brei
zum Ausschöpfen fertig war, da fiel ihr ein, daß ihr Christoph das Braune
am Rande des Topfes lieber esse als Zucker und Zimmt oder Schmalz
darauf, und sie that den Brei in kein anderes Gefäß, sondern stellte ihn
im Topfe ruhig bei Seite.
Am andern Morgen hob sie den Topf in die Kiepe, legte ein großes
Brot darauf und wanderte ungesehen aus dem Dorfe hinaus, von den
Bergen in die Ebene und durchwanderte mit rüstigen Schritten die
Wetterau. Krieg und Kriegsgeschrei kümmerte sie nicht; der Donner der
Kanonen schreckte sie nicht. Sie fragte im Lager nach ihrem Christoph,
und als man ihr sagte, daß er heute in die Laufgräben commandiert sei,
so ließ sie sich in seine Baracke führen. Dort machte sie ein Feuer an,
als ob sie allein hier zu gebieten hätte, und als der Christoph todmüde
und geschwärzt von Pulverdampf am Abend seine Ruhestätte aufsuchte, da
fand er sein Mütterlein, das mit einem dampfenden Hirsebrei seiner
wartete und zu ihm sagte: „Christoph, iß nur gleich aus dem Topfe; der
ganze braune Rand steckt noch darin."
Muttertreu ist täglich neu. Glaubr-qt.
359. Wenn du noch eine Heimat hast.
1. Wenn du noch eine Heimat hast, | Und wandre, wandre ohne Rast,
So nimm den Ranzen und den Stecken | Bis du erreicht den theuren Flecken.
>) Fahl — Stelle, Ort.
453
2. Und strecken nur zwei Arme sich 4. Und ist verweht auch jede Spur,
In sreud'ger Sehnsucht dir entgegen, j Zeigt nichts sich deinem Blick, dem nassen,
Fließt eine Thräne nur um dich, ! Als grün berast ein Hügel nur
Sprichtdirein einiger Mund den Segen,— Von allem, was du einst verlassen, —
3. Ob du ein Bettler, du bist reich, 5. O nirgend weint es sich so gut,
Ob krank dein Herz, dein Muth beklommen, ! Wie weit dich deine Füße tragen,
Gesunden wirst du allsoglcich, l Als da, wo still ein Herze ruht,
Hörst du das süße Wort: Willkommen! ! Das einstens warm für dich geschlagen.
21. Träger.
360. Tie Muttersprache.
Muttersprache, Mutterlaut,
Wie so wonnesam, so traut!
Erstes Wort, das mir erschallet,
Süßes erstes Liebeswort,
Erster Ton, den ich gelallet,
Klingest ewig in mir fort.
Ach, wie trüb ist meinem Sinn,
Wann ich in der Fremde bin!
Wann ich fremde Zungen üben,
Fremde Wörter brauchen muß,
Die ich nimmermehr kann lieben,
Die nicht klingen wie ein Gruß.
Sprache, schön und wunderbar,
Ach, wie klingest du so klar!
Will noch tiefer mich vertiefen
In den Reichthum, in die Pracht:
§st mir's doch, als ob mich riefen
ätcr ans des Grabes Nacht.
Klinge, klinge fort und fort
Heldensprache, Liebeswort!
Steig' empor aus tiefen Schlüften
Längst verschollnes altes Lied,
Leb' aufs neu in heiligen Schriften,
Daß dir jedes Herz erglüht!
Überall weht Gottes Hauch,
Heilig ist wohl mancher Brauch;
Aber soll ich beten, danken,
Geb' ich meine Liebe kund,
Meine seligsten Gedanken
Sprcch' ich wie der Mutter Mund.
M. v. S chenkendorf.
361. Friedrich Wilhelm Ul. als Kronprinz und seine
Gemahlin Luise.
Die Erscheinung des fürstlichen Paares hatte für einen jeden in der
That etwas wahrhaft Erhebendes. Wie Luise eine der reizendsten Frauen,
so war Friedrich Wilhelm in seinen jüngeren Jahren einer der schönsten
Männer. Bon größter Bedeutung aber war es, daß sich der geschlossene
Bund bald zu einem leuchtenden Vorbilde wahrhaft deutschen Familien-
lebens gestaltete. Es ward dies für das häusliche Leben in den höheren
Kreisen von den segensreichsten Folgen; denn dort war man beflissen,
manche Mängel häuslichen Glückes durch äußerliche Formen zu verdecken.
So redeten die Eheleute höherer Stände einander mit „Sie" an. Friedrich
Wilhelm und Luise führten unter sich das trauliche „Du" ein. Die Kunde
davon gieng von Ohr zu Ohr, ja die Hofleute meinten endlich, dem Könige
davon Mittheilung machen zu müssen. Als dieser den Kronprinzen darüber
befragt, erwidert dieser lächelnd, es sei allerdings wahr, daß er seine
Gemahlin mit „Du" anrede, aber er habe auch dazu seine besonderen
Gründe. Nach denselben befragt, fährt er fort: „Mit dem „Du" weiß
man doch immer, woran man ist; dagegen bei dem „Sie" ist immer das
Bedenken, ob's mit einem großen „S" geschrieben wird oder mit einem
kleinen." Ein anderes Mal that der Kronprinz die Äußerung, er sei von
allen Seiten genugsam beengt, in seinem häuslichen Leben wolle er
wenigstens seiner Neigung folgen und die Freiheit und Unabhängigkeit
haben, die jeder Privatmann genieße. Zu den Beengungen für ihn ge-
hörten öffentliche Festlichkeiten, bei denen er und seine Gemahlin Luise in
Pracht und Glanz erscheinen mußten.
Am 10. März 1794 feierte Luise in Berlin ihr erstes Geburtstagsfeft.
Der König schenkte ihr das Schloß Oranienburg, in dem Luise von
Oranien einst segensvoll gewaltet hatte. Vielleicht daß auch ihm sich der
Gedanke aufgedrängt hatte, Luise habe in ihrem tiefsten Denken und
Fühlen eine innige Verwandtschaft
mit dem Gemüthe jener frommen
Fürstin. Auf die während der
Festesfeier von dem Könige an sie
gerichtete herzliche Frage, ob sie
noch einen Wunsch habe, bat sie
um eine Hand voll Gold — für
die Armen. Ihr Wunsch wurde
ihr in reichlicher Weise erfüllt.
In das erste Jahr ihres ehe-
lichen Glückes fällt der Aufstand
in Polen unter dem tapferen
Kosciuszko. Der Kronprinz folgte
dem Könige ins Feld. Im An-
denken an die Gefahr, der ihr
Gemahl entgegen gehe, erbebte
Luisens Herz. Doch schon hier
zeigte es sich, daß ihr neben den
zartesten Empfindungen auch die
Kraft innewohnte, Unvermeidliches
mit Würde zu tragen. Als sie ver-
nahm, ihr Gemahl habe bei dem
König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Sturme auf Wola die nächste Co-
lonne hinter dem Könige geführt,
äußerte sie: „Ich zittere vor jeder Gefahr, der mein Mann sich aussetzt,
aber ich sehe ein, daß der Kronprinz, welcher der Erste nach dem Könige
auf dem Throne ist, auch der Erste nach ihm im Felde sein muß."
Bald nach der Rückkehr aus Polen kaufte der Kronprinz das zwei
Meilen von Potsdam an den Wiesen der Havel gelegene Landgut Paretz.
An Stelle des Wohnhauses wurde ein Schloß aufgebaut, in nächster
Umgebung desselben ein Park angelegt. Dem Baumeister und dem Gärt-
ner war von dem Kronprinzen aufgegeben worden, alle baulichen Ver-
schönerungen und Anpflanzungen streng in einfach ländlichem Stile zu
halten." „Nur immer denken", sagte er, „daß Sie für einen armen
Gutsbesitzer bauen." Er wolle, äußerte er ein anderes Mal scherzend,
dort nur als Schulze von Paretz angesehen werden. Streng wachte er,
daß man seinen Anweisungen gemäß verfuhr. Endlich waren Schloß,
Garten und Anlagen fertig. „Dasselbe hatte in seinem Äußern wie in
seinem Innern so wenig Hervorstechendes und Ausgezeichnetes, daß man es
kaum für ein königliches Schloß halten möchte. Da sah man keine kost-
baren Möbel, keine prächtig geschmückten Wände, keine reichgearbeiteten
*
455
Teppiche, keine seidenen Decken und Vorhänge, keine goldenen und silbernen
Geräthschaften oder andere werthvolle Kunstsachen."
In dem stillen freundlichen Paretz genossen der Kronprinz und seine
Gemahlin mit einem heiteren Herzen so ganz das Einfache der Natur.
Entfernt von allem Zwange nahmen sie Antheil an den ungekünstelten
Äußerungen der Freude der Landleute, besonders bei dem fröhlichen Ernte-
feste. Die schöne Frau vergaß alsdann ihre Hoheit und mischte sich in
Königin Lnisc von Preußen.
die lustigen Tänze der jungen Bauernsöhne und Töchter, und alle, die
zum Hofe gehörten, tanzten vergnügt mit. „Beim Erntefeste in Paretz
herrschte im besten Sinne des Wortes Freiheit und Gleichheit."
Aus die Frage einer fremden Fürstin an Luise, ob diese ländliche
Einsiedelei sie nicht bisweilen langweile, entgegnete diese, sie gefalle sich
ausnehmend als „gnädige Frau von Paretz". Daß sie auch in einem
456
noch höheren Sinne, als sie es hier meinte, eine „gnädige Frau" war,
wird von allen, die sie hier haben beobachten können, bestätigt. „Eine
Landesmutter in jenem frommen, deutschen Sinne, der eine Elisabeth trieb,
ihre Edelsteine zu verkaufen, um aus diesen Steinen Brot für die Armen
zu gewinnen, sah und grüßte Luise von Preußen in dem geringsten ihrer
Unterthanen einen Sohn oder eine Tochter; hob sie am Wege spielende
Kinder liebend empor auf ihre Arme, an ihr Herz; bückte sich tröstend
zu dem am Wege kauernden Mütterchen nieder, und wo es nicht der
milden Gabe bedurfte, dg ließ sie als Andenken wenigstens ein freund-
liches Wort fallen, das unauslöschlich im Herzen der Angeredeten blieb."
Schon bei ihrem Einzuge in Berlin hatte die Kronprinzessin Luise
alle Herzen für sich gewonnen. Auf der Stelle, wo sich jetzt das eherne
Denkmal Friedrichs des Großen erhebt, hatte man eine prächtige Ehren-
pforte erbaut, vor der, festlich geschmückt und Blumenkränze in den Händen
haltend, eine Schar von Knaben und Mädchen stand. Ein Mädchen trat
hervor und sprach in einem Gedicht der fürstlichen Braut die Wünsche der
Bevölkerung in so herzlicher Weise aus, daß die Kronprinzessin davon tief
gerührt ward. Sie beugte, dem Zuge ihres bewegten Herzens folgend,
sich nieder zu der lieblichen Sprecherin, schloß sie in ihre Arme und küßte
sie mit Innigkeit. In den Augen vieler glänzten Thränen. Die Frau
Oberhofmeisterin von Boß dagegen schauete starr vor Schrecken auf die
Scene. Die künftige Königin des Landes setzte sich über die zur Zeit
geltenden höfischen Gebräuche hinweg! Sich nahe zu der Fürstin beugend,
flüsterte die Frau Oberhofmeisterin aus gepreßter Brust: „Mein Gott!
was haben Eure königliche Hoheit gethan? Das ist ja gegen allen An-
stand und Sitte!" „Wie?" lautete die harmlose Entgegnung Luisens,
„ich darf das nicht mehr thun?"
Ihre Worte wurden von der Umgebung gehört und in dem rechten
Sinne gewürdigt. Bald vernahm man von Zügen ähnlicher Art, und das
Volk sagte sich: Luise wird nicht nur Königin, sie wird eine wahrhafte
Landesmutter werden. Mancher im Volke, der von der Kurfürstin Luise
von Oranien, die vor länger als hundert Jahren zur ewigen Ruhe ein-
gegangen war, gehört oder gelesen hatte, sagte: In der jungen Fürstin ist
die Unvergeßliche dem Lande wiedergekehrt.
Auch nach der Thronbesteigung blieb Paretz für den Sommer der
Lieblingsaufenthalt der königlichen Familie. Ein fast täglicher Tischgenosse
war der alte General von Köckeritz. Eines Tages fragte Luise den Ge-
mahl, weshalb sich jener regelmäßig so auffallend schnell nach dem letzten
Gange entfernte, statt noch eine Zeit lang an dem Gespräche Theil zu
nehmen. „Laß den alten Mann in Ruhe», versetzte der König, „der muß
nach Tische seine häusliche Bequemlichkeit haben." Die Königin vernahm
darauf, was es mit dieser „häuslichen Bequemlichkeit" zu besagen hatte, und
am nächsten Tage, als Köckeritz sich wieder um die gewöhnliche Zeit erhob, trat
sie ihm, in der einen Hand eine gestopfte Pfeife, in der andern einen brennen-
den Wachsslock haltend, entgegen und sagte mit gewinnender Freundlichkeit:
„Rein, lieber Köckeritz, heute sollen Sie mir nicht wieder entwischen; Sie
müssen hier bei uns Ihre gewohnte Pfeife rauchen, — stecken Sie an!"
Freundlich lächelnd sagte der König: „Das hast du gut gemacht, liebe Luise."
Ferd. Schmidt.
457
363. Gebet eines Kindes an den heiligen Christ.
Du lieber, heil'ger, frommer Christ,
Weil heute dein Geburtstag ist,
Drum ist auf Erden weit und breit
Bei allen Kindern frohe Zeit.
O segne mich, ich bin noch klein,
O mache mir den Busen rein!
[ O bade mir die Seele hell
In deinem reichen Himmelsquell!
Daß ich wie Engel Gottes sei
In Demuth und in Liebe treu,
Daß ich dein bleibe für und für,
Du heil'ger Christ, das schenke mir.
<&■ M. Arndt.
363. Jena und Tilsit.
Schon lange behandelte Napoleon Preußen mit unzweideutiger Ver-
achtung. Er stiftete ohne dessen Zustimmung mit Fürsten des südlichen
und westlichen Deutschlands den Rheinbund, um das deutsche Reich völlig
aufzulösen. Preußen sollte, wie er sagte, den norddeutschen Bund stiften,
aber insgeheim schreckte er durch Drohungen mehrere deutsche Fürsten vom
Beitritt ab.
Eine so grobe Verletzung seiner Ehre durfte Preußen nicht hinnehmen.
Zwar hätte der König den Krieg noch immer gern vermieden, da er allein
die Gebrechen der Verwaltung und des Heerwesens und die Macht des
Gegners mit klarem Blicke überschaute, aber zuletzt mußte er doch der
allgemeinen kriegerischen Begeisterung nachgeben. Aber Preußen stand
allein in dem, gewaltigen Kampfe; die Russen konnten so schnell nicht
heranziehen, Österreich lehnte die Theilnahme ab, und nur Sachsen
schickte 20,000 Mann Hülfstruppcn. Die preußischen Heerführer waren
alt und der neuen Kriegsweise unkundig, die Officiere voll Hochmuth und
Dünkel, die Pflege des gemeinen Mannes war mangelhaft. Napoleon
zog rasch aus Frankreich und Schwaben ein Heer von 200,000 Mann
zusammen und führte es durch das Saalthal. Schon das Treffen bei
Saalfeld fiel für die Preußen sehr unglücklich aus, und der preußische
Prinz Ludwig Ferdinand starb selbst den Heldentod (10- October 1806).
Noch unglücklicher aber war der Ausgang der Doppelschlacht bei Jena
und Auerstädt (14. October 1806) unter dem Herzog von Braunschweig
und dem Prinzen von Hohenlohe. Gleich zu Anfang der Schlacht bei
Auerstädt wurde der Herzog von Braunschweig durch eine Flintenkugel, die
über dem rechten Auge eindrang und das linke aus seiner Höhlung trieb,
niedergeworfen. Krank und des Augenlichts beraubt, ließ sich der Greis,
von Napoleon verfolgt, nach Altona bringen und starb in trostloser Ver-
bannung zu Ottensen. Die Preußen erlitten eine vollständige Niederlage.
Doch die unglückliche Schlacht sollte noch tiefer greifende Folgen nach
sich ziehen. Der böse Geist der Mutlosigkeit und der Feigheit kam über
die Befehlshaber der meisten Festungen, so daß sie die mit Geschützen und
Vorräthen wohl versehenen Bollwerke des Staates, oft ohne einen Schuß
zu thun, an feindliche Heeresabtheilungen schmachvoll überlieferten. So
kamen Erfurt, Spandau, Stettin, Küstrin, Magdeburg, Glogau, Breslau
in französische Gewalt, und nur Kolberg und Graudenz machten eine
rühmliche Ausnahme. Kolberg war durch den tapferen Lieutenant Schill
mit Vorräthen versehen worden, und der edle Joachim Nettelbeck, ein
siebzigjähriger Bürger, leitete die Vertheidigung mit bestem Erfolge, bis
der herbeigeeilte Oberst Gneisenau sie übernehmen konnte. In Graudenz
458
commandierte der alte General Courbisre. Als ihn die Franzosen zur
Übergabe aufforderten mit dem Hohne, es gebe keinen König von Preußen
mehr, erwiderte er muthig: „Nun gut, so bin ich König von Graudenz!"
und leistete der Aufforderung keine Folge. Ebenso rettete Blücher die
Ehre des preußischen Namens; mit einem kleinen Corps schlug er sich
durch eine französische Division bis Lübeck durch und leistete in den ver-
fallenen Festungswerken der Stadt den tapfersten Widerstand, bis er aus
Mangel an Schießbedarf mit allen Ehren capitulierte.
Napoleon hatte am 27. October seinen Siegeseinzug in Berlin ge-
halten. Die Victoria mit dem Viergespann auf dem Brandenburger
Thore ward herabgenommen und nach Paris geschickt. In Potsdam und
Sanssouci besuchte der Kaiser mit aufrichtiger Verehrung die Gemächer
des großen Friedrich und nahm dessen Degen und Standuhr mit. Auch
sein Grab besuchte er.
Die Trümmer des preußischen Heeres vereinigten sich mit einem in-
zwischen angelangten russischen. Napoleon gieng über die Weichsel und
verstärkte sich durch die Polen. Bei Eylau kam es am 7. und 8. Februar
1807 zu einer mörderischen Schlacht, in der sich beide Theile den Sieg
zuschrieben. Nach einer Waffenruhe von vier Monaten errang Napoleon
bei Fricdland einen entscheidenden Sieg über die Russen (44. Juni 1807).
Nach dieser Niederlage suchte Kaiser Alexander Frieden, um den Krieg
nicht in sein Land verpflanzt zu sehen. Napoleon wußte Alexanders Herz
zu gewinnen; auf dem Flusse Memel kamen beide Kaiser in einem Zelte
zusammen, das man auf einem Floß errichtet hatte, und überboten sich in
Beweisen gegenseitiger Freundschaft. Tags darauf nahm auch Friedrich
Wilhelm an der Zusammenkunft theil; er wußte in dieser trüben Zeit
seine persönliche Würde mit Ruhe und Festigkeit zu bewahren.
Die Friedensunterhandlungen wurden zu Tilsit, Preußens äußerster
Grenzstadt, eröffnet. Auch die Königin Luise erschien, um Napoleon zu
billigeren Rücksichten zu bestinimen, ohne jedoch von dem übermüthigen
Sieger etwas zu erlangen. Als Napoleon ihr die unzarte Bemerkung
machte: „Wie konnten Sie es auch wagen, einen Krieg mit mir anzu-
fangen?" da antwortete sie in den denkwürdigen Worten: „Es war uns
erlaubt, durch den Ruhm Friedrichs über unsere Machtmittel uns zu
täuschen, angenommen, daß wir uns getäuscht haben."
Der Friede zu Tilsit kam am 9. Juli 1807 zu Stande. Preußen
erhielt seine Provinzen auf dem rechten Elbufcr zurück, trat dagegen die
meisten ehemals polnischen Länder an den König von Sachsen unter dem
Namen eines Herzogthums Warschau ab; Danzig sollte als Freistaat
unter preußischem und sächsischem Schlitze stehen. Preußen verlor ferner
seine Länder zwischen Elbe und Rhein; aus diesen wurde mit Hinzuziehung
Brauuschweigs, des Kurfürstenthums Hessen und eines Theils von Han-
nover das Königreich Westfalen gebildet, das Napoleon seinem jüngsten
Bruder Hieronymus verlieh. Preußen verlor also über die Hälfte seines
Königreichs und hatte außerdem noch 140 Millionen Francs Kriegskosten
zu zahlen.
Von den Bewohnern der abgetretenen Provinzen nahm der König in
wahrhaft väterlicher Weise Abschied. „Das Schicksal gebietet", so schließt
459
er seine Ansprache, „der Vater scheidet von seinen Kindern; ich entlasse
euch aller Unterthanenpflicht gegen mich und mein Haus. Unsere heißesten
Wünsche begleiten euch zu eurem neuen Landesherrn; seid ihm, was ihr
mir wäret! Euer Andenken kann kein Schicksal, keine Macht aus meinem
und der Meinigen Herzen vertilgen!" ?. Stack-.
364. Magdeburg.
1. O Magdeburg, du starke,
Des Reiches fester Halt,
Ein Riegel vor der Marke
Der preußischen Gewalt;
Du Hort, uns einst genommen
Durch unseren Verrath,
Und nun zurückgekommen
Durch Gott und unsre That!
2. Daß man dich recht bezeichne
Als unsern Edelstein,
Soll man dir eine eigne
Schutzheilige verleihn.
Tie Königin Luise,
Die reine Himmelsmagd,
O Magdeburg, sei diese.
Warum? sei hier gesagt.
3. Als, mit uns Friede machend,
Von unserm Gut ein Stück
Der Sieger gab verlachend,
Dich gab er nicht zurück.
Damals nach der Befehdung,
In siegestrunknem Sinn,
Begehrt' er Unterredung
Mit unsrer Königin.
4. So sollst du reine treue
Vor dem nun stehen jetzt,
Der kaum noch ohne Scheue
Auf dich auch Gift gespritzt? —
Sie wollte dies auch dulden,
Die viel geduldet schon,
Und trat in ihren Hulden
Hin vor Napoleon.
5. Da ward der starre Kaiser,
Getroffen von dem Strahl
Der Anmuth, zum Lobpreiser
Der Schönheit auch einmal:
„Ich hoffte eine schöne
Königin hier zu schaun —
Und finde, die ich kröne,
Als schönste aller Fraun."
6. Er pflückte eine Rose
Vom nahen Stocke dort,
Sie dir, o Makellose,
Darreichend mit dem Wort:
„So zu verdientem Ruhme,
Zum Zeichen ihres Rechts,
Reich' ich die schönste Blume
Der schönsten des Geschlechts."
7. Hinnahm, ihr Herz bezähmend,
Die Königin das Pfand;
Wohl stach, die Rose nehmend,
Ein Dorn sie durch die Hand.
Daß er sie ehrend kränke.
Begehrt' er hochmuthsvoll,
Daß sie noch ein Geschenke
Bon ihm erbitten soll.
8. Sic sprach in hohen Sitten
Mit königlichem Sinn:
„Ich habe nichts zu bitten
Als Preußens Königin —
Als Mutter meiner Söhne
Thu' ich die Bitt' allhie,
SU geben mir die schöne
tadt Magdeburg für sie."
9. Da stand der Mann von Eisen,
Des Scheins der. Anmuth bars
„Ihr seid", sprach er, „zu preisen
Als schöne Kön'gin zwar;
Doch schöner Königinnen
Ein hundert sind zu leicht.
Wenn man sie mit den Zinnen
Von Magdeburg vergleicht."
10. O schönste von den schönen,
Der reinen reinste du.
So hörtest du das Höhnen
Und schwiegest still dazu;
Du hobest in die Lüste
Den nassen Blick hinauf —
Und wandtest über Grüfte
Bald selbst dorthin den Lauf.
11. Dort fandest du gelinder
Für deine Bitt' ein Ohr
Um die Burg deiner Kinder,
Die unsre Schuld verlor;
Dort hast du sie erbeten
Für uns von Gott zurück,
Und freust dich, zu vertreten
Im Himmel Preußens Glück.
Fr. Rückert.
365. Ein Brief der Königin Luise aus dem Jahre 1809.
(An ihren Vater, den Großherzog Karl von Mecklenburg-Strelitz.)
Mit uns ist es aus, wenn auch nicht für immer, doch für jetzt.
Für mein Leben hoffe ich nichts mehr. Ich habe mich ergeben, und in
460
dieser Ergebung in die Fügung des Himmels bin ich jetzt ruhig und in
solcher Ruhe, wenn auch nicht irdisch glücklich, doch — was mehr sagen
will — geistig glückselig.
Es wird mir immer klarer, daß alles so kommen mußte, wie es ge-
kommen ist. Die göttliche Vorsehung leitet unverkennbar neue Weltzu-
stände ein, und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die
alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben zusammenstürzt.
Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen, welcher,
der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Welt schuf. Wir sind mit der-
selben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns. Das sieht nie-
mand klarer ein als der König. Noch eben hatte ich mit ihm darüber
eine lange Unterredung, und er sagte in sich gekehrt wiederholentlich:
„Das muß auch bei uns anders werden." Auch das Beste und Über-
legtest« mißlingt, und der französische Kaiser ist wenigstens schlauer und
listiger. Wenn die Russen und die Preußen tapfer wie die Löwen ge-
fochten hatten, mußten wir, wenn auch nicht besiegt, doch das Feld räumen,
und der Feind blieb im Vortheil. Von ihm können wir vieles lernen,
und es wird nicht verloren sein, was er gethan und ausgerichtet hat.
Es wäre Lästerung zu sagen, Gott sei mit ihm; aber offenbar ist er ein
Werkzeug in des Allmächtigen Hand, um das Alte, welches kein Leben
mehr hat, das aber mit den Außendingen fest verwachsen ist, zu begraben.
Gewiß wird es besser werdeü: das verbürgt der Glaube an das
vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch
die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon
Bonaparte fest und sicher aus seinem jetzt freilich glänzenden Thron ist.
Fest und ruhig ist nur allein Wahrheit und Gerechtigkeit, und er ist nur
politisch, das heißt klug, und er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen,
sondern nach Umständen, wie sie nun eben sind. Dabei befleckt er seine
Regierung mit vielen Ungerechtigkeiten. Er meint es nicht redlich mit
der guten Sache und mit den Menschen. Er und sein ungemessener
Ehrgeiz meint nur sich selbst und sein persönliches Interesse. Man muß
ihn mehr bewundern, als man ihn lieben kann. Er ist von seinem Glück
geblendet, und er meint alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle
Mäßigung, und wer nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht
und fällt. Ich glaube fest an Gott, also auch an eine sittliche Weltord-
nung. Diese sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin
ich der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird,
diese hoffen, wünschen und erwarten alle besseren Menschen, und durch
die Lobredner der jetzigen und ihrer großen Helden darf man sich nicht
irre machen lassen. Ganz unverkennbar ist alles, was geschehen ist und
geschieht, nicht das Letzte und Gute, wie es werden und bleiben soll,
sondern nur die Bahnung des Weges zu einem besseren Ziele hin.
Dieses Ziel scheint aber in weiter Entfernung zu liegen, wir werden es
wahrscheinlich nicht erreicht sehen und darüber hinsterben. Wie Gott
will; alles, wie er will. Aber ich finde Trost, Kraft und Muth und
Heiterkeit in dieser Hoffnung, die tief in meiner Seele liegt. Ist doch
alles in der Welt nur Übergang! Wir müssen durch. Sorgen wir
nur dafür, daß wir mit jedem Tage reifer und besser werden.
---—-
461 -------
Hier, lieber Vater, haben Sie mein politisches Glaubensbekenntnis,
so gut ich als eine Frau es formen und zusammensetzen kann. Mag es
seine Lücken haben, ich befinde mich wohl dabei; entschuldigen Sie aber,
daß ich Sie damit behellige. Sie sehen wenigstens daraus, daß Sie auch
im Unglück eine fromme ergebene Tochter haben, und daß die Grundsätze
christlicher Gottesfurcht, die ich Ihren Belehrungen und Ihrem frommen
Beispiele verdanke, ihre Früchte getragen haben und tragen werden, so-
lange Odem in mir ist.
Gern werden Sie, lieber Vater, hören, daß das Unglück, welches
uns getroffen, in unser eheliches und häusliches Leben nicht eingedrungen
ist, vielmehr dasselbe befestigt und uns noch werther gemacht hat. Der
König, der beste Mensch, ist gütiger und liebevoller als je. Oft glaube
ich in ihm den Liebhaber, den Bräutigam zu sehen. Mehr in Hand-
lungen, wie er ist, als in Worten, ersehe ich die Aufmerksamkeit, die er
in allen Stücken für mich hat, und noch gestern sagte er schlicht und
einfach, mit seinen treuen Augen mich ansehend, zu mir: „Du, liebe
Luise, bist mir im Unglück noch werther und lieber geworden. Nun weiß
ich aus Erfahrung, was ich an dir habe. Mag es draußen stürmen —•
wenn es in unserer Ehe nur gut Wetter ist und bleibt! Weil ich dich
so lieb habe, habe ich unser jüngst geborenes Töchterlein Luise genannt.
Möge es eine Luise werden!" — Bis zu Thränen rührte mich diese
Güte. Es ist mein Stolz, meine Freude und mein Glück, die Liebe und
Zufriedenheit des besten Mannes zu besitzen; und weil ich ihn von Herzen
wieder liebe, und wir so mit einander eins sind, daß der Wille des einen
auch der Wille des anderen ist, wird es mir leicht, dies glückliche Ein-
verständnis, welches mit den Jahren inniger geworden ist, zu erhalten.
Mit einem Worte, er gefällt mir in allen Stücken, und ich gefalle ihm,
und uns ist am wohlsten, wenn wir zusammen sind. Verzeihen Sie,
lieber Vater, daß ich dies mit einer gewissen Ruhmredigkeit sage; es liegt
darin der kunstlose Ausdruck meines Glückes, welches keinem auf der
Welt wärmer am Herzen liegt, als Ihnen, bester, zärtlicher Vater.
Gegen andere Menschen (auch das habe ich von dem König gelernt) mag
ich davon nicht sprechen; es ist genug, daß wir es wissen.
Unsere Kinder sind unsere Schätze, und unsere Augen ruhen voll
Zufriedenheit und Hoffnung auf ihnen. Der Kronprinz ist voller Leben
und Geist. Er hat vorzügliche Talente, die glücklich entwickelt und gebildet
werden. Er ist wahr in allen seinen Empfindungen und Worten, und
seine Lebhaftigkeit macht Verstellung unmöglich. Er lernt mit vorzüglichem
Erfolge Geschichte, und das Große und Gute zieht seinen idealischeu
Sinn an sich. Für das Witzige hat er viel Empfänglichkeit, und seine-
komischen, überraschenden Einfälle unterhalten uns sehr angenehm. Er
hängt vorzüglich an der Mutter, und er kann nicht reiner sein, als er ist.
Ich habe ihn sehr lieb und ich spreche oft mit ihm davon, wie es sein
wird, wenn er einmal König ist.
Unser Sohn Wilhelm (erlauben Sie, ehrwürdiger Großvater, daß
ich Ihre Enkel nach der Reihe Ihnen vorstelle) wird, wenn mich nicht
alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig. Auch in
feinem Äußern hat er die meiste Ähnlichkeit mit ihm; nur wird er,
462
glaube ich, nicht so schön. Sic sehen, lieber Vater, ich bin noch in
meinen Mann verliebt. Unsere Tochter Charlotte macht mir immer mehr
Freude; sie ist zwar verschlossen und in sich gekehrt, verbirgt aber wie
ihr Vater hinter einer scheinbar kalten Hülle ein warmes, theilnehmendeS
Herz. Scheinbar gleichgültig geht sie einher; hat aber viel Liebe und
Theilnahme. Daher kommt es, daß sie etwas Vornehmes in ihrem Wesen
hat. Erhält sie Gott am Leben, so ahne ich für sie eine glänzende Zu-
kunft. Karl ist gutmüthig, fröhlich, bieder und talentvoll; körperlich ent-
wickelt er sich eben so gut als geistig. Er hat oft naive Einfälle, die
uns zum Lachen reizen. Er ist heiter und witzig. Sein unaufhörliches
Fragen setzt mich oft in Verlegenheit, weil ich es nicht beantworten kann
und darf; doch zeugt es von Wißbegierde — zuweilen, wenn er schlau lächelt,
auch von Neugierde. Er wird, ohne die Theilnahme an dem Wohl uud
Wehe anderer zu verlieren, leicht und fröhlich durchs Leben gehen. —
Unsere Tochter Alexandrine ist, wie Mädchen ihres Alters und Naturells
sind, anschmiegend und kindlich. Sie zeigt eine richtige Auffassungsgabe,
eine lebhafte Einbildungskraft und kann oft herzlich lachen. Für das
Komische hat sie viel Sinn und Empfänglichkeit. Sie hat Anlage zum
Satirischen und sieht dabei ernsthaft aus, doch schadet das ihrer Ge-
müthlichkeit nicht. Bon der kleinen Luise läßt sich noch nichts sagen.
Sie hat das Profil ihres redlichen Vaters und die Augen des Königs,
nur etwas heller. Sie heißt Luise; möge sie ihrer Ahnfrau, der liebens-
würdigen und frommen Luise von Oranien, der würdigen Gemahlin des
großen Kurfürsten, ähnlich werden!
Da habe ich Ihnen, geliebter Vater, meine ganze Galerie vorge-
führt. Sie werden sagen: das ist ja eine in ihre Kinder verliebte
Mutter, die an ihnen nur Gutes sieht und für ihre Mängel und Fehler
keine Augen hat. Und in Wahrheit, böse Anlagen, die für die Zukunft
besorgt machen, finde ich an allen nicht. Sie haben wie andere Menschen-
kinder auch ihre Unarten; aber diese verlieren sich mit der Zeit, sowie
sie verständiger werden. Umstände und Verhältnisse erziehen den Menschen,
und für unsere Kinder mag es gut sein, daß sie die ernste Seite des
Lebens schon in ihrer Jugend kennen lernen. Wären sie im Schoße des
Überflusses und der Bequemlichkeit groß geworden, so würden sie meinen,
das müsse so sein. Daß es aber anders kommen kann, sehen sie an dem
ernsten Angesicht ihres Vaters und an der Wehmuth und den öftern
Thränen der Mutter. Besonders wohlthätig ist es dem Kronprinzen,
daß er das Unglück schon als Kronprinz kennen lernt; er wird das Glück,
wenn, wie ich hoffe, künftig für ihn eine bessere Zeit kommen wird, um
so höher schätzen und um so sorgfältiger bewahren. Meine Sorgfalt ist
meinen Kindern gewidmet für und für, und ich bitte Gott täglich in
meinem sie einschließenden Gebete, daß er sie segne und seinen guten
Geist nicht von ihnen nehmen möge. Mit dem trefflichen Hufeland sym-
pathisiere ich auch in diesen Stücken. Er sorgt nicht bloß für das physische
Wohl meiner Kinder, auch für das geistige derselben ist er bedacht; und
der biedere freimüthige Borowsky, den der König gern sieht und lieb hat,
stärkt darin. Erhält Gott sie uns, so erhält er meine besten Schätze, die
niemand mir entreißen kann. Es mag kommen, was da will — mit
463
und in der Vereinigung mit unsern guten Kindern werden wir glück-
selig sein.
Ich schreibe Ihnen dies, geliebter Vater, damit Sie mit Beruhigung
an uns denken. Ihrem freundlichen Andenken empfehle ich meinen Mann,
auch unsere Kinder alle, die dem ehrwürdigen Großvater die Hände
küssen; und ich bin und ich bleibe, bester Vater, Ihre dankbare Tochter
Luis e.
366. Luisens Krankheit und Tod (19. Juli 1810).
Die Königin erkannte, daß des Vaterlandes Erhebung durch Belebung
des christlichen Glaubens vorbereitet werden müsse. „Weil wir abgefallen
sind, darum sind wir gesunken", sprach sie. Die Noth förderte das neue
Erwachen christlichen Lebens, und das Pflegte sie mit der größten Sorgfalt.
Der König umgab sich mit Männern, welche das Gute der neuen Zeit
einführen, auch das Heerwesen umgestalten wollten. Luise, hocherfreut
darüber, hatte selbst gesagt: „Wir sind stehengeblieben, und die alten
Generale sind auf den Lorbeeren Friedrich's des Großen eingeschlafen."
Den ganzen Sommer 1809 fühlte sie sich schon sehr schwach, doch
die Rückreise von Königsberg nach Berlin hob sie sichtlich wieder.
Es war ein Triumphzug und aller Orten wurde dem Königspaar der
rührendste Empfang zu Theil. Diese Reise und der Besuch bei ihrem
Vater, dem Herzoge von Mecklenburg-Strelitz, waren die letzten
Sonnenblicke für die Leidende, deren Antlitz schon in Strelitz den Todes-
keim deutlich zeigte.
Als dort einige Damen mit Wohlgefallen auf die Perlen, ihren
einzigen Schmuck, sahen, sagte sie: „Ich liebe sie sehr und habe sie
zurückbehalten, als ich meine Brillanten hingab. Sie passen besser für
mich; denn sie bedeuten Thränen, und Thränen habe ich viele vergossen."
— Bald stellten sich Husten und Fieber ein, ihre schlaflosen Nächte ertrug
sie mit himmlischer Geduld, ein heftiger Brustkrampf brachte sie dem Tode
nah. Früh gegen 4 Uhr am 19. Juli kam der König mit seinen beiden
ältesten Söhnen an. Es war die letzte Freude für die Sterbende. Der
König war gebrochen vom Schmerz. Dian wollte ihn trösten. „Ach",
sagte er, „wenn sie nicht mein wäre, würde sie leben, aber da sie meine
Frau ist, stirbt sie gewiß." So nahte die Todesstunde. Der König saß
an ihrem Bette, er hatte ihre rechte Hand ergriffen. Es war 10 Minuten
vor 9 Uhr, als die Königin sanft das Haupt zurückbog, die Augen schloß
und ausrief: „Herr Jesus, mach' es kurz!" Mit diesem stillen Seufzer
endete ihr Leben. Der König war zurückgesunken, doch bald raffte er
sich wieder auf, um seiner Luise die Augen zuzudrücken. Der tiefste
Schmerz eines ganzen Volkes begleitete ihren Leichenzug nach Charlotten-
burg. Hier liegt sie in der Gruft, über der ihr ein edler Gemahl
einen Tempel errichten ließ, beider würdig. Auf einem Sarkophage
ruht die schlafende Königin, unvergleichlich schön von Rauch in Marmor
geschaffen. Tausende pilgern jährlich dahin in dankbarer Erinnerung an
die Verklärte. Adami.
464
367. Luise, die Königin.
1. Rose, schöne Königsrose,
Hat auch dich der Sturm getroffen?
Gilt kein Beten mehr, kein Hoffen
Bei dem schreckenvollen Lose?
2. Seid ihr, hochaeweihte Glieder,
Schon dem düstern Reich verfallen?
taupt, um das die Locken wallen,
inkest du zum Schlummer nieder?
3. Sink' in Schlummer! Aufgefunden
Ist das Ziel, nach dem du schrittest,
Ist der Kranz, um den du littest,
Ruhe labt ani Quell den Wunden.
4. Auf, Gesang, vom Klagethale
Schweb' empor zu lichten Hallen,
Wo die Siegeshymnen schallen,
Singe Tröstung dem Gemahle!
5. Sink' an deiner Völker Herzen,
Du im tiefsten Leid Verlorner,
Du im Märtyr'thum Erkorner,
Auszubluten deine Schmerzen.
6. Herr und König, schau noch oben,
Wo sie leuchtet gleich den Sternen,
Wo in Himmels werten Fernen
Alle Heiligen sie loben!
M. v. Schenkendorf.
368. Preußens Wiedergeburt.
„Weil wir abgefallen sind, darum sind wir gesunken!" — so sprach
in den Tagen des Unglücks Königin Luise. Es war so. Wie überall in
jener Zeit, so war auch in Preußen dazumal die Frömmigkeit selten ge-
worden unter den Menschen. Der Sinn der meisten stand nach den
Gütern, die vergehen, und sie vertrauten lieber auf eigene Klugheit und
Kraft, denn auf den lebendigen Gott. Der König selbst sah die schweren
Unglückstage, welche ihn und sein Volk betroffen hatten, als eine Heim-
suchung Gottes an und beugte sich unter dessen Fügung mit demüthigen:
Sinn. Das große Unglück wurde zum Segen, man erkannte die Mängel
der bisherigen Zustände, und daß die Stärke eines Staates nicht allein
in den Beamten, in dem Heere, in dem Schatze beruhe, sondern auch auf
der lebendigen Kraft und Theilnahme des ganzen Volkes. Sein Muth
inußte erneuert, in ihm der Gemeiugeist und die Liebe zum Vaterlande
erweckt werden.
Noch am Tage des Friedensschlusses berief der König den Freiherrn
von Stein zur Leitung der Staatsgeschäfte. Durch diesen geschah es
damals, daß die Bauern das Recht erhielten, sich Grundeigenthum zu
erwerben und als freie Männer zu besitzen. Die Erbunterthänigkeit, wo
sie noch bestand, ward aufgehoben. Den Städten gab er durch die Städte-
Orduung (1808) das Recht, ihre Angelegenheiten selbst zu berathen und
ihre Behörden selbst zu wählen. Die Zünfte mit ihrem Zwange wurden
aufgehoben und der Betrieb der Gewerbe freigegeben. Stein war frei-
müthig, thatkräftig, unerschütterlich, beseelt von der feurigsten Vaterlands-
liebe: seine Zeitgenossen nannten ihn:
des Huten Hrundstein,
des IZösen Eckstein,
der Deutschen Edelstein.
Scharnhorst und Gneisenau arbeiteten an der Umgestaltung des Heer-
wesens. Von Scharnhorst gieng der Rath aus, daß jeder preußische Mann,
wenn er einen gesunden und starken Körper habe, im Heere dienen solle.
Man nannte das die allgemeine Wehrpflichtigkeit. Wer einige Jahre
gedient hatte, wurde in seine Heimat entlassen und trieb das Geschäft
weiter, das er erlernt hatte. Aber wenn der König ihn rief, mußte er
unter die Fahne eilen. Diese ausgedienten Krieger bildeten die Landwehr.
465
Auch den Bürgerlichen sollten die Officiersstellen zugänglich sein. Indem
Scharnhorst Preußen für den Kampf militärisch vorbereitete, wurde er »der
Waffenschmied der deutschen Freiheit".
Besonders lag dem Könige auch die Erziehung der Jugend am Herzen;
denn er erkannte, daß vor allen die Jugend gut erzogen werden müsse,
wenn es mit seinem Volke besser werden sollte. — So brachten die
Unglückstage dem Vaterlande gute Früchte. Buttn-r.
369. Schill.
O, eine Eiche pflanzt auf diesen Hügel!
Die grünste sucht, so weit die Amsel ruft.
Sie streue Schatten auf des Helden Gruft,
Und Lieder rausch' in ihr des Windes Flügel.
Denn gleich dem Roß, das knirschet in die Zügel
Und scharrt und stampfet, spürt es Morgenluft,
So wittert' er zuerst der Freiheit Dust,
Da alles schlief, und schwang sich in den Bügel.
Fürwahr, o Schill, du warst ein echter Reiter.
Und schneller als die Zeiten rittst du gern,
Mit dir wie Blitze deine blanken Streiter.
Dein Jagdhorn klang: „Der Tag ist nicht mehr fern!"
Da gieng der Morgen aus so roth und heiter;
Doch unter giengst du, schöner Morgenstern. Em. Gelder.
370. Die Opfer zu Wesel.
Generalmarsch wird geschlagen zu Wesel in der Stadt,
Und alle fragen ängstlich, was das zu deuten hat.
Da führen sie zuni Thore hinaus, still, ohne Laut,
Die kleine Schar, die heiter dem Tod ins Auge schaut.
Sie hatten kühn gefochten mit Schill am Ostseestrand
Und gehn nun kühn entgegen dem Tod fürs Vaterland.
Sie drücken sich wie Brüder die Hand zum letzten Mal:
Dann stehn sie ernst und ruhig die Elfe an der Zahl.
Und hoch wirft Hans von Flemming die Mütze in die Luft.
„Es lebe Preußens König!" die Schar einstimmig ruft.
Da knattern die Gewehre; es stürzt der Braven Reih';
Zehn treue Preußen liegen zerrissen von dem Blei.
Nur einer, Albert Wedell, trotzt jenem Blutgericht;
Verwundet nur am Arme steht er und wanket nicht.
Da treten neue Schergen, auch ihn zu morden, vor,
Und: „Gebet Achtung! - fertig!" schallt's schrecklich ihm ins Ohr.
„O zielet", ruft er, „besser! hier sitzt das deutsche Herz!
Die Brüder überleben, ist mir der größte Schmerz!"
Kaum hat er's ausgesprochen, die Mörder schlagen an:
Durchbohrt von ihren Kugeln lag auch der letzte Mann.
, So starben tapfre Preußen, durch Schande nie befleckt,
Die nun zu ew'gem Ruhme ein Stein zu Wesel deckt.
Ferd. Schmidt.
37l. Tlindwirt Hofer.
1. Zu Mantua in Banden
Der treue Hofer war;
In Mantua zum Tode
Führt' ihn der Feinde Schar.
Es blutete der Brüder Herz:
Ganz Deutschland, ach! in Schmach und
Schmerz,
Mit ihm das Land Tyrol.
30
466
2. Die Hände auf dem Rücken,
Der Sandwirt Hofer gieng
Mit ruhig festen Schritten;
Ihm schien der Tod gering,
Der Tod, den er so manches Mal
Vom Jseiberg geschickt ins Thal
Im heiligen Land Tyrol.
3. Doch als ans Kerkergittern
Im festen Mantua
Die treuen Waffenbrüder
Die Hand' er strecken sah,
Da rref er laut: „Gott sei mit euch,
Mit dem verrath'nen deutschen Reich
Und mit dem Land Tyrol!"
4. Dem Tambour will der Wirbel
Nicht unterm Schlägel vor,
Als nun der Sandwirt Hofer
Schritt durch das finst're Thor.
Der Sandwirt, noch in Bande» frei,
Dort stand er fest auf der Bastei,
Der Mann vom Land Tyrol.
b. Dort soll er niederknieen;
Er sprach: „Das thu' ich nit!
Will sterben, wie ich stehe,
Will sterben, wie ich stritt,
So wie ich steh' auf dieser Schanz.
Es leb' mein guter Kaiser Franz,
Mit ihm das Land Tyrol!"
6. Und von der Hand die Binde
Nimmt ihm der Corporal,
Und Sandwirt Hofer betet
Allhier zum letzten Mal;
Dann ruft er: „Nun, so trefft mich recht!
Gebt Feuer! — Ach, wie schießt ihr schlecht!
Ade, mein Land Tyrol!"
Sul. Mosen.
372. Der Schneider in Pensa.
Der Schneider in Pensa, was ist das für ein Männlein? Sechsund-
zwanzig Gesellen auf dem Brett, Jahr aus, Jahr ein für halb Russland
Arbeit genug und doch kein Geld, aber ein froher heiterer Sinn,
ein Gemüth, treu und köstlich wie Gold, und mitten in Asien
deutsches Blut rheinländischer Hausfreundschaft.
Im Jahre 1812, als Russland nimmer Strassen genug hatte für
die Kriegsgefangenen an der Beresina oder in Wilna, gieng eine
auch durch Pensa, welches für sich schon mehr als einhundert
Tagereisen weit von Lahr oder Pforzheim entfernt ist, und wo die
beste deutsche oder englische Uhr, wer eine hat, nimmer richtig
geht, sondern ein paar Stunden zu spät. In Pensa ist der Sitz des
ersten russischen Statthalters in Asien, wenn man aus Europa
hereinkommt. Also wurden dort die Kriegsgefangenen abgegeben
und übernommen und alsdann weiter abgeführt in das tiefe fremde
Asien hinein, wo die Christenheit ein Ende hat, und niemand mehr
das Vaterunser kennt, wenn’s nicht einer gleichsam als eine [fremde
Ware aus Europa mitbringt Also kamen eines Tages, mit Fran-
zosen meliert, auch sechzehn badische Officiere, die damals unter
den Fahnen Napoleons gedient hatten, über die Schlachtfelder
und Brandstätten von Europa ermattet, krank, mit erfrorenen
Gliedmassen und schlecht geheilten Wunden, ohne Geld, ohne
Kleidung, ohne Trost in Pensa an und fanden in diesem unheim-
lichen Orte kein Ohr mehr, das ihre Sprache verstand, kein Herz
mehr, das sich über ihre Leiden erbarmte. Als aber einer den
andern mit trostloser Miene anblickte: „Was wird aus uns werden!“
oder: „Wann wird der Tod unserm Elend ein Ende machen, und
wer wird den letzten begraben!“ da vernahmen sie mitten durch
das russische und kosakische Kauderwelsch, wie ein Evangelium
vom Himmel, unvermuthet eine Stimme: „Sind keine Deutsche da?“
und es stand vor ihnen auf zwei nicht ganz gleichen Füssen eine
liebe freundliche Gestalt. Das war der Schneider von Pensa, Anton
467
Egetmeier, gebürtig aus Breiten im Neckarkreis, Grossherzogthum
Baden. Hat er nicht im Jahre 1779 das Handwerk gelernt in
Mannheim? Hernach gieng er auf die Wanderschaft nach Nürnberg,
hernach ein wenig nach Petersburg hinein. Ein Pfälzer Schneider
schlägt sieben- bis achtmalhundert Stunden Weges nicht hoch an,
wenn’s ihn inwendig treibt. In Petersburg aber liess er sich
unter ein russisches Cavallerieregiment als Begimentsschneider
engagieren und ritt mit ihnen in die fremde russische Welt hinein,
wo alles anders ist, nach Pensa, bald mit der Nadel stechend, bald
mit dem Schwert. In Pensa aber, wo er sich nachher häuslich und
bürgerlich niederliess, ist er jetzt ein angesehenes Männlein. Will
jemand in ganz Asien ein sauberes Kleid nach der Mode haben,
so schickt er zu dem deutschen Schneider in Pensa. Verlangt er
etwas von dem Statthalter, der doch ein vornehmer Herr ist und
mit dem Kaiser reden darf, so liat’s ein guter Freund vom andern
verlangt; und hat auf dreissig Stunden Weges ein Mensch ein
Unglück oder einen Schmerz, so vertraut er sich dem Schneider
von Pensa an, er findet bei ihm, was ihm fehlt, Trost, Rath, Hülfe,
ein Herz und ein Auge voll Liebe, Obdach, Tisch und Bett, nur
kein Geld.
Einem Gemüthe, wie dieses war, das nur in Liebe und Wohl-
thun reich ist, blühte auf den Schlachtfeldern des Jahres 1812
eine'schöne Freudenernte. So oft ein Transport von unglücklichen
Gefangenen kam, warf er Schere und Elle weg und war der erste
auf dem Platze, und „Sind keine Deutsche da?“ war seine erste
Frage. Denn er hoffte von einem Tage zum andern, unter den
Gefangenen Landsleute anzutreffen, und freute sich, wie er ihnen
Gutes thun wollte, und liebte sie schon im voraus ungesehener
Weise, wie eine Frau ihr Kindlein schon liebt und ihm Brei geben
kann, ehe sie es hat. „Wenn sie nur so oder so aussähen!“
dachte er. „Wenn ihnen nur auch recht viel fehlt, damit ich
ihnen recht viel Gutes erweisen kann.“ Doch nahm er, wenn keine
Deutschen da waren, auch mit Franzosen vorlieb und erleichterte
ihnen, bis sie weiter geführt wurden, ihr Elend nach Kräften.
Diesmal aber, und als er mitten unter so viele geneigte Lands-
leute, auch Darmstädter und andere, hineinrief: „Sind keine Deutsche
da?“ — er musste zum zweiten Mal fragen, denn das erste Mal
konnten sie vor Staunen und Ungewissheit nicht antworten, sondern
das süsse deutsche Wort in Asien verklang in ihren Ohren wie ein
Harfenton, und als er hörte: „Deutsche genug!“ und von jedem
erfragte, woher er sei — er wäre mit Mecklenburgern oder Kursachsen
auch zufrieden gewesen, aber einer sagte von Mannheim am Rhein-
strom, als wenn nicht der Schneider vor ihm gewusst hätte, wo
Mannheim liegt, der andere sagte von Bruchsal, der dritte von
Heidelberg, der vierte von Gochsheim, — da zog es wie ein warmes,
auflösendes Thauwetter durch den ganzen Schneider hindurch.
„Und ich bin von Breiten“, sagte das herrliche Gemüthe, „Franz
Anton Egetmeier von Breiten“, wie Joseph in Ägypten zu den
30*
468
Söhnen Israels sagte: „Ich bin Joseph, euer Bruder“ — und die
Thränen der Freude, der Wehmuth und heiligen Heimatsliehe
traten allen in die Augen, und es war schwer zu sagen, ob sie
einen freudigern Fund an dem Schneider, oder der Schneider an
seinen Landsleuten machte, und welcher Theil am geriihrtesten
war. Jetzt führte der gute Mensch seine theuern Landsleute im
Triumph in seine Wohnung und bewirtete sie mit einem erquick-
lichen Mahl, wie in der Geschwindigkeit es aufzutreiben war.
Jetzt eilte er zum Statthalter und bat ihn um die Gnade, dass
er seine Landsleute in Pensa behalten dürfe. „Anton“, sagte der
Statthalter, „wann hab’ ich euch etwas abgeschlagen?“ Jetzt lief
er in der Stadt herum und suchte für diejenigen, welche in seinem
Hause nicht Platz hatten, bei seinen Freunden und Bekannten die
besten Quartiere aus. Jetzt musterte er seine Gäste einen nach
dem andern. „Herr Landsmann“, sagte er zu einem, „mit eurem
Weisszeug sieht’s windig aus. Ich werde euch für ein halbes
Dutzend neuer Hemden sorgen. — Ihr braucht auch ein neues
Röcklein“, sagte er zu einem andern, — „eures kann noch gewendet
und ausgebessert werden“, zu einem dritten und so zu allen, und
augenblicklich wurde zugeschnitten, und alle sechsundzwanzig
Gesellen arbeiteten Tag und Nacht an Kleidungsstücken für seine
werthen rheinländischen Hausfreunde. In wenig Tagen waren alle
neu oder anständig ausstaffirt. Ein guter Mensch, auch wenn er
in Nöthen ist, missbraucht niemals fremde Gutmüthigkeit; deswegen
sagten zu ihm die rheinländischen Hausfreunde: „Herr Landsmann,
verrechnet euch nicht! ein Kriegsgefangener bringt keine Münze
mit. So wissen -wir auch nicht, wie wir euch für eure grossen
Auslagen werden schadlos halten können, und wann.“ Darauf
erwiderte der Schneider: „Ich finde hinlängliche Entschädigung in
dem Gefühl, Ihnen helfen zu können. Benutzen Sie alles, was ich
habe! Sehen Sie mein Haus und meinen Garten als den Ihrigen
an!“ — so kurzweg und ab, wie ein Kaiser oder König spricht,
wenn eingefasst in Würde die Güte hervorblickt. Denn nicht nur
die hohe fürstliche Geburt und Grossmuth, sondern auch die liebe
häusliche Demuth gibt, ohne es zu wissen, bisweilen den Herzen
königliche Sprüche ein, Gesinnungen ohnehin. Jetzt führte er sie
freudig wie ein Kind in der Stadt bei seinen Freunden herum und
machte Staat mit ihnen. Der Kalender hat jetzt nimmer Zeit und
Raum genug, alles Gute zu rühmen, was er seinen Freunden erwies.
So sehr sie zufrieden waren, so wenig war er es. Jeden Tag erfand
er neue Mittel, ihnen den unangenehmen Zustand der Kriegs-
gefangenschaft zu erleichtern und das fremde Leben in Asien an-
genehm zu machen. War in der Heimat ein hohes Geburts- oder
Namensfest, es wurde am nämlichen Tage von den Treuen auch
in Asien mit Gastmahl, mit Vivat und Freudenfeuer gehalten, nur
etwas früher, weil dort die Uhren falsch gehen. Kam eine frohe
Nachricht von dem Vorrücken und dem Siege der hohen Alliierten
in Deutschland an, der Schneider war der erste, der sie wusste
469
und seinen Kindern, — er nannte sie nur noch seine Kinder, —
mit Freudenthränen zubrachte, darum, dass sich ihre Erlösung
nahte. Als einmal Geld zur Unterstützung der Gefangenen aus
dem Vaterlande ankam, ■war die erste Sorge, ihrem Wohlthäter
seine Auslagen zu vergüten. „Kinder“, sagte er, „verbittert mir
meine Freude nicht!“ -— „Vater Egetmeier“, sagten sie, „thut
unserm Herzen nicht wehe!“ Also machte er ihnen zum Schein
eine kleine Rechnung, nur um sie nicht zu betrüben und um das
Geld wieder zu ihrem Vergnügen anzuwenden, bis die letzte Kopeke
aus den Händen war. Das gute Geld war für einen andern Gebrauch
zu bestimmen, aber man kann nicht an alles denken. Denn als
endlich die Stunde der Erlösung schlug, gesellte sich zur Freude
ohne Mass der bittere Schmerz der Trennung und zu dem bittern
Schmerze die Noth. Denn es fehlte an allem, was zur Nothdurft
und zur Vorsorge auf eine so lange Reise in den Schrecknissen
des russischen Winters und einer unwirtbaren Gegend nöthig war,
und ob auch auf den Mann, so lange sie durch Russland zu reisen
hatten, täglich dreizehn Kreuzer verabreicht wurden, so reichte
doch das Wenige nirgends hin. Darum gieng in diesen letzten
Tagen der Schneider, sonst so frohen leichten Muthes, still und
nachdenklich herum, als der etwas im Sinne hat, und war wenig
mehr zu Hause. „Es geht ihm recht zu Herzen“, sagten die
rheinländischen Herren Hausfreunde und merkten nichts. Aber
auf einmal kam er mit grossen Freudenschritten, ja mit verklärtem
Antlitze zurück: „Kinder, es ist Rath. Geld genug!“ — Was
war's? Die gute Seele hatte für zweitausend Rubel das Haus ver-
kauft. „Ich will schon eine Unterkunft finden“, sagte er, „wenn
nur ihr ohne Leid und Mangel nach Deutschland kommt!“ 0 du
heiliges, lebendig gewordenes Sprüchlein des Evangeliums und
seiner Liebe: Verkaufe, was du hast, und gib es denen, die es
bedürftig sind, so wirst du einen Schatz im Himmel haben. Der
wird einst weit oben rechts zu erfragen sein, wenn die Stimme
gesprochen hat: „Kommt, ihr Gesegneten! Ich bin hungrig gewesen,
und ihr habt mich gespeist; ich bin nackt gewesen, und ihr habt
mich gekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt
euch meiner angenommen.“ — Doch der Kauf wurde, zu grossem
Trost für die edlen Gefangenen, wieder rückgängig gemacht. Nichts
desto weniger brachte er auf andere Art noch einige hundert Rubel
für sie zusammen und nöthigte sie, was er hatte von kostbarem
russischen Pelzwerk, mitzunehmen, um es unterwegs zu verkaufen,
wenn sie Geldes bedürftig wären, oder einem ein Unglück wider-
führe. Den Abschied will der Hausfreund nicht beschreiben.
Keiner, der dabei war, vermag es. Sie schieden unter tausend
Segenswünschen und Thränen des Dankes und der Liebe, und der
Schneider gestand, dass dieses für ihn der schmerzlichste Tag
y seines Lebens sei. Die Reisenden aber sprachen unterwegs un-
aufhörlich und noch immer von ihrem Vater in Pensa, und als
sie in Bialystock in Polen wohlbehalten ankamen und Geld an-
470
trafen, schickten sie ihm dankbar das vorgeschossene Reisegeld
zurück.
Das war das Gotteskind, Franz Anton Egetmeier, Schneider-
meister in Asien. j. P. Hebel.
373. Freiheit.
Wo sich Gottes Flamme
In ein Herz gesenkt,
Das am alten Stamme
Treu und liebend hängt;
Wo sich Männer finden,
Die für Ehr' und Recht
Muthig sich verbinden,
Weilt ein frei Geschlecht.
Hinter dunkeln Wällen,
! Hinter ehrnem Thor
Kann das Herz noch schwellen
I Zu dem Licht empor.
! Für die Kirchenhallen,
I Für der Väter Gruft,
Für die Liebsten fallen,
Wenn die Freiheit ruft:
Das ist rechtes Glühen,
Frisch und rosenroth;
Heldenwangen blühen
Schöner auf im Tod.
Wollest auf uns lenken
Gottes Lieb' und Lust,
Wollest gern dich senken
In die deutsche Brust!
Freiheit, die ich meine,
Die mein Herz erfüllt,
Komm mit deinem Scheine,
Süßes Engelsbild;
Freiheit, holdes Wesen,
Gläubig, kühn und zart,
Hast ja lang erlesen
Dir die deutsche Art.
Max v. Schenkendors.
374. Das Vaterland.
Wo dir, o Mensch! Gottes Sonne zuerst schien, wo dir die Sterne
des Himmels zuerst leuchteten, wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht
offenbarten, und seine Sturmwinde dir zuerst mit heiligem Schrecken
durch die Seele brauseten: da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Wo das erste Menschenauge sich liebend über deine Wiege neigte, wo
deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf dem Schoße trug, und dein
Vater dir zuerst die Lehren der Weisheit ins Herz grub: da ist deine
Liebe, da ist dein Vaterland.
Und seien cs kahle Felsen und öde Inseln, und wohne Armuth und
Mühe dort mit dir: du mußt das Land ewig lieb haben; denn du bist
ein Mensch und sollst cs nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen.
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster Wahn,
sondern in ihr lebt dein Muth und dein Stolz und die Gewißheit, daß
du vom Himmel stammst.
Freiheit, die ich meine,
Die mein Herz erfüllt,
Komm mit deinem Scheine,
Süßes Engelsbild!
Magst du nie dich zeigen
Der bedrängten Welt?
Führest deinen Reigen
Nur am Sternenzelt?
Auch bei grünen Bäumen
In dem lust'gen Wald,
Unter Blütenträumen
Ist dein Aufenthalt.
Ach! das ist ein Leben,
Wenn es weht und klingt,
Wenn dein stilles Weben
Wonnig uns durchdringt;
Wenn die Blätter rauschen
Süßen Freundesgruß,
Wenn wir Blicke tauschen,
Liebeswort und Kuß.
Aber immer weiter
Nimmt das Herz den Lauf,
Auf der Himmelsleiter
Steigt die Sehnsucht auf.
Aus den stillen Kreisen
Kommt mein Hirtenkind,
Will der Welt beweisen,
Was es denkt und minnt.
Blüht ihm doch ein Garten,
Reift ihm doch ein Feld
Auch in jener harten,
Steinerbauten Welt.
471
Da ist Freiheit, wo du in Sitten und Weisen und Gesetzen deiner
Väter leben darfst; wo dich beglücket, was schon deine Urälterväter beglückte;
wo keine fremden Unterdrücker über dich Zebieten, und keine fremden
Treiber dich treiben, wie man Vieh mit dem Stecken treibt.
Dieses Vaterland und diese Freiheit sind ein Schatz, den eine unent-
behrliche Liebe und Treue in sich verschließt, das edelste Gut, was außer
der Religion, in der noch eine höhere Freiheit ist, ein guter Mensch auf
Erden besitzt und zu besitzen begehrt. E. M. Arnri.
375. Von Soldatenehre.
Ein wackerer Soldat und Kriegsmann soll für seinen löblichen und
gerechten König und Herrn und für dessen Reich und Ruhm sterben und
aushalten bis in den Tod.
Ein wackerer Soldat soll sein Vaterland und sein Volk über alles
lieben und gern seinen letzten Blutstropfen verspritzen, wenn das liebe
Vaterland in Gefahr steht.
Ein wackerer Soldat soll immer Gott vor Augen haben und Gottes
Gebote tief ins Herz geschrieben tragen, daß auch keine Gewalt ihn zwingen
könnte, wider Gottes Gebote zu thun.
Ein wackerer Soldat soll die Gerechtigkeit und Freiheit über alles
lieben und für diese freudig das Schwert ziehen; denn ein anderer Krieg
gefällt Gott nicht, der einst von jedem Tropfen unschuldig vergoßenen Blutes
Rechenschaft fordern wird.
Ein wackerer Soldat soll nicht prunken mit der äußern Ehre, noch
sich auf Eitelkeit blähen; sondern die Treue gegen das Vaterland soll seine
Ehre sein und sein stiller Muth seine höchste Zierde. E. M. Arndt.
376. Soldaten-Morgcnlied.
Erhebt euch von der Erde,
Ihr Schläfer, aus der Ruh:
Schon wiehern uns die Pferde
Den guten Morgen zu.
Die lieben Waffen glänzen
So hell im Morgenroth,
Man träumt von Siegeskränzen,
Man denkt auch an den Tod.
Du reicher Gott, in Gnaden
Schau her vom blauen Zelt:
Du selbst hast uns geladen
In dieses Waffenfeld.
Laß uns vor dir bestehen,
Und gib uns heute Sieg,
Die Christenbanner wehen,
Dein ist, o Herr! der Sieg.
377. Aufruf des
Ein Morgen soll noch kommen,
Ein Morgen mild und klar,
Sein harren alle Frommen,
Ihn schaut der Engel Schar.
Bald scheint er sonder Hülle
Auf jeden deutschen Mann;
O brich, du Tag der Fülle,
Du Freiheitstag, brich an!
Dann Klang von allen Türmen,
Und Klang aus jeder Brust,
Und Ruhe nach den Stürmen,
lind Lieb' und Lebenslust.
Es schallt auf allen Wegen
Dann frohes Siegsgeschrei, —
Und wir, ihr wackern Degen,
Wir waren auch dabei!
M. v. Schenteadori.
Königs von Preußen.
An mein Volk.
So wenig für mein treues Volk als für Deutsche bedarf es eine
Rechenschaft über die Ursachen des Krieges, welcher jetzt beginnt: klar liegen
472
sie dem unverblendeten Europa vor Angen. Wir erlagen unter der Über-
macht Frankreichs. Der Friede, der die Hälfte meiner Unterthanen mir
entriß, gab uns seine Segnungen nicht, denn er schlug uns tiefere Wunden
als selbst der Krieg. Das Mark des Landes ward ausgesogen. Die
Hauptfestungen blieben vom Feinde besetzt, der Ackerbau ward gelähmt, so
wie der sonst so hoch gebrachte Kunstfleiß unserer Städte. Die Freiheit
des Handels ward gehemmt und dadurch die Quelle des Erwerbes und
des Wohlstandes verstopft- Das Land ward ein Raub der Verarmung.
Durch die strengste Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte ich,
meinem Volke Erleichterung zu verschaffen und den französischen Kaiser-
endlich zu überzeugen, daß es sein eigener Vortheil sei, Preußen seine
Unabhängigkeit zu lassen. Aber meine reinsten Absichten wurden durch
Übermuth und Treulosigkeit vereitelt, und nur zu deutlich sahen wir, daß
des Kaisers Verträge mehr noch wie seine Kriege uns langsam verderben
mußten. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle Täuschung über unsern •
Zustand schwindet. Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Lithauer!
Ihr wißt, was ihr seit sieben Jahren erduldet habt, ihr wißt, was euer trauriges
Los ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinner-t
euch an die Vorzeit, an den großen Kurfürsten, an den großen Friedrich.
Bleibet eingedenk der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blutig
erkämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstsleiß
und Wissenschaft. Gedenkt des großen Beispiels unserer mächtigen Ver-
bündeten, gedenkt der Spanier und Portugiesen; selbst kleine Völker sind
für gleiche Güter gegen mächtigere Feinde in den Kampf gezogen und
haben den Sieg errungen: erinnert euch an die heldenmüthigen Schweizer
und Niederländer. Große Opfer werden von allen Seiten gefordert
werden, denn unser Beginnen ist groß und nicht gering die Zahl und die
Mittel unserer Feinde. Ihr werdet jene lieber bringen für das Vaterland,
für euren angebornen König als für einen fremden Herrscher, der, wie
so viele Beispiele lehren, eure Söhne und eure letzten Kräfte Zwecken
widmen würde, die euch ganz fremd sind. Vertrauen auf Gott, Ausdauer,
Muth und der mächtige Beistand unserer Bundesgenossen werden unsern
redlichen Anstrengungen siegreichen Lohn gewähren. Aber welche Opfer
auch von einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter
nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen,
wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu sein. Es ist
der letzte entscheidende Kampf, den wir bestehen für unsere Existenz, unsere
Unabhängigkeit, unsern Wohlstand. Keinen andern Ausweg gibt es, als
einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem
würdet ihr getrost entgegengehen, weil ehrlos der Deutsche nicht zu leben
vermag. Allein wir dürfen mit Zuversicht vertrauen, Gott und unser
fester Wille werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen, mit
ihm einen sichern glorreichen Frieden und die Wiederkehr einer glück-
lichen Zeit.
Breslau, 17. März 1813.
Friedrich Wilhelm.
473
378. Preußens Erhebung im Frühjahr 1813.
Die Aufrufe des Königs, welche durch das ganze Land und weit über
dessen Grenzen hinaus hallten, brachten im Verein mit allem Vorher-
gegangenen eine Wirkung hervor, die sich nicht genügend beschreiben läßt.
Das nachfolgende Geschlecht wird davon immer nur eine schwache Vor-
stellung haben; man mußte diese Zeit selbst durchlebt haben. Alle Herzen
wurden davon bis auf den Grund erschüttert. Auch die Frauen, sonst
wenig bekümmert um öffentliche Angelegenheiten, theilten gleichmäßig das
allgemeine Gefühl. Es war kein Mann, kein Weib, keine Familie im
ganzen Lande, die nicht schwere Unbill von den Franzosen erlitten hatte.
Ganz abgesehen von der allgemeinen Schmach, die tief gefühlt wurde, hatte
fast jeder persönliche Beleidigung zu rächen und bittere Verluste zu be-
klagen. Seit beinahe sieben Jahren waren tausend und aber tausend Feinde
im Lande, die auf Kosten desselben lebten, und denen man noch„eine un-
erschwingliche Kriegssteuer hatte zahlen müssen. Des Siegers Übermuth
und Hohn hatte beleidigt; aus Kriegstrotz war von ihm so mancher ge-
mißhandelt, nicht wenige, die Widerstand versucht, geschlagen, viele beraubt
worden. Beständige Einquartierungen, nie aufhörende Lieferungen aller
Art, immerwährendes Liegen auf der Landstraße mit den Gespannen u. s. w.
hatten Bürger und Landmann zur Verzweiflung gebracht. Daher in allen
Herzen das eine Gefühl, das schimpfliche Joch abzuwerfen und blutige Rache
zu nehmen; daher der freudige Entschluß, mit Daransctzung des letzten
Blutstropfens und des letzten Gutes bis zur Vernichtung zu kämpfen;
daher der Aufstand des ganzes Volkes ans den Ruf des Königs. Wie
der Dichter gesungen hat. so geschah es: „Das Volk stand ans, der
Sturm brach los." Die Universitäten lösten sich auf, weil Studierende
und Professoren zusammen die Waffen ergriffen; die oberen Klassen der
Gymnasien wurden leer; die Regiernngscollegien und die Gerichtshöfe
schmolzen zusammen; der Landmann verließ seinen Pflug, der Handwerker
seine Werkstatt, der Kaufmann sein Geschäft, um zur Wehr zu greifen.
Der Unterschied der Stände schien vergessen; denn in den Reihen der Frei-
willigen stand der Prinz neben dem Biirgersohn der Städte; die Selbst-
sucht schwieg, cs gab nur ein Gefühl, einen Willen. Niemand wollte von
der allgemeinen Bewegung zurückbleiben. Jünglinge unter 16 Jahren,
Männer über 50 Jahre stellten sich zur Verfügung. Der Familienvater
verließ Weib und Kind. Vater und Mutter, Bräute unb. Verwandte waren
stolz darauf, ihre Söhne und Angehörigen im heiligen Kampfe zu wissen.
Viele überschätzten ihre Kräfte, mußten zurückgewiesen werden und trauerten,
nicht mitstreiten zu können. Nicht minder zeigte sich das weibliche Ge-
schlecht der großen Sache würdig. Von der Zeitströmung ergriffen, wurden
manche über ihren Bcrnfskreis hinausgeführt und kämpften in dem Frei-
heitskriege mit. Die sich zu solchem Äußersten nicht entschließen mochten,
wirkten mit Aufbietung aller ihrer Kräfte arbeitend für die Sache des
Vaterlandes. Jeder Ort wurde zur kriegerischen Werkstatt, das ganze Land
zum Kriegslager. Was die freien Staaten des Alterthums, was Rom
und Sparta an Vaterlandsliebe auszuweisen haben, cs übertrifft nicht das
erhabene Gefühl, welches Preußen jetzt entflammte. Die Flammen dieser
474
Begeisterung wuchsen höher und höher und stiegen auf zu einer Riesenlohe,
daß ganz Europa sich daran erwärmte. Nicht anders, als wenn von jedem
Hügel Alarm geblasen, der Geucralmarsch auf allen Straßen geschlagen
würde, auf den Bergen die Feuerzeichen gebrannt hätten, raffte sich jeder-
mann auf und griff zu den Waffen. Immer von neuem klang der laute
Ruf durchs Land: Das Vaterland ist in Gefahr! Begeistert hatte Theodor
Körner gesungen:
Frisch auf, »rein Volk! Die Flammenzeichen rauchen,
Hell aus dem Norden bricht der Freiheit Licht.
Du sollst den Stahl in Feindesherzen tauchen;
Frisch auf, mein Volk! — Die Flammenzeichen rauchen,
Die Saat ist reif; ihr Schnitter, zaudert nicht!
Alle Schichten des Volkes haben gleichmäßig ihr Höchstes eingesetzt; es ge-
bührt ihnen allen gleiche Ehre.
Daß in Preußen jeder nur irgend kampffähige Manu mit Begeiste-
rung zu den Waffen griff, ist nur die eine Seite der großen Leistung; die
andere eben so große war, daß jeder willig Hab und Gnt opferte, um so
große Heeresmassen auszurüsten und zu ernähren, und daß alles Thun
und Treiben nur auf diesen großen Zweck gerichtet war. „Große Opfer
werden von allen Ständen gefordert werden", hatte der König
gesagt. Es muß zur Ehre der Nation ausgesprochen werden, daß der
Drang zum Geben gleichen Schritt hielt mit der Freudigkeit, persönlich
in den Kampf zu gehen. Der Zudrang zum freiwilligen Eintritt war so
groß, daß cs sehr viele gab, welche die Ausrüstung nicht ans eigenen
Mitteln bestreiten konnten; auf diese besonders wandte sich zunächst die
Theilnahme. Die Zeitungen von Berlin, Breslau und Königsberg aus
jener Zeit, in denen diese Gaben, wie sie in diesen Hauptstädten eingiengen,
verzeichnet stehen, werden immer ein schönes Denkmal des Ruhmes sein.
Und doch sind diese Aufzeichnungen nur ein kleiner Theil dessen, was wirk-
lich in allen Gauen auf den Altar des Vaterlandes gelegt worden ist.
Viele wollten gern geben, aber sie hatten nicht bares Geld, und auf dieses,
meinten sie, käme es allein an. Ihnen mußte gesagt werden, daß in einem
Augenblick wie der jetzige, wo der Staat nur durch außerordentliche An-
strengungen seine Selbständigkeit erhalten könne, jedes Opfer für denselben
Werth habe: Pferde, Vieh, Getreide, Fourage, nngemünztes Silber, Waffen,
Tuch, Eisen, Stiefel, Schuhe, Leder, Strümpfe u. s. w.; ja selbst Fuhren,
Handarbeit u. s. w., je nachdem der eine dieses, der andere jenes geben
oder leisten könne, seien eine Unterstützung, eine Förderung für die gemein-
schaftliche Sache.
Es ist rührend, was alles hergegeben wurde. Das Heiligste, was
man besonders hoch hält, was uns sonst unschätzbar ist, wurde freudig zum
Opfer gebracht. Man gab, was irgend möglich war. Staatsdiener, viele
im stehenden Heere dienende Officiere gaben den vierten, selbst den dritten
Theil ihres Gehalts, verabschiedete Beamte und Officiere einen Theil ihrer
Pension, einige die Hälfte, einige diese sogar ganz. Andere liehen dem
Staate ein kleines erspartes Kapital ohne Zinsen während der Kriegsperiode.
Viele besoldeten eine Anzahl Freiwilliger im Felde. Mancher einzelne
schenkte mehrere tausende von Thalern. Berlin allein hat so viele Frei-
475
willige gestellt und ausgerüstet, als erforderlich sein würden, um mehrere
Infanterie- und Cavallerieregimenter daraus zu errichten. So nach Ver-
hältnis in den Provinzen. Neun Prinzessinnen, an der Spitze die hoch-
herzige Prinzessin Wilhelm von Preußen, Marianne geborne Prinzessin
von Hessen-Homburg, gründeten einen Frauenverein zum Wohl des
Vaterlandes und erließen einen Aufruf an die Frauen im preußischen
Staate. Sogleich gab auch das weibliche Geschlecht alles her, worauf es
doch sonst hohen Werth legt, jede Art von Schmuck, jedes Kleinod, jedes
Ersparte. Witwen gaben einen Theil ihrer dürftigen Pension her, die
Ärmste doch noch irgend etwas, die meisten ihre Arbeitskräfte. Auch die
dienende Klasse blieb nicht zurück. Ein glänzendes Beispiel gab in Bres-
lau ein junges Mädchen, deren Namen wir leider nicht anzugeben wissen,
die ganz arm, aber im Besitz eines schönen, reichen Haares war, welches
man ihr oft vergebens hatte abkaufen wollen. Sic opferte dasselbe, um
das gelöste Geld den Freiwilligen zukommen zu lassen. Ihr edler Zweck
wurde vollkommen erreicht. Denn die schöne That blieb nicht verschwiegen;
viele wünschten die Erinnerung daran bleibend zu machen, und es fand
dankbare Anerkennung, als jemand das verkaufte Haar wieder kaufte und
daraus allerlei Zicrrathen, Ringe, Ketten u. s. w. anfertigen ließ, nach denen
das Verlangen so groß war, daß der Verkauf derselben nach wenigen Wochen
dem Freiwilligenfonds die Summe von 139 Thalern eingebracht hat. Goldene
Trauringe wurden ans allen Gegenden des Landes zu mehreren tausenden
hingegeben. Es war die Veranstaltung getroffen, daß man dafür eiserne
Ringe mit der Inschrift: „Gold gab ich für Eisen 1813" zurückerhielt, und
diese Ringe werden in den betreffenden Familien noch jetzt wie ein Heilig-
thum betrachtet. Außer diesem Sinn der Frauen, das Liebste herzugeben,
zeigten sie sich auch in unausgesetzter Thätigkeit für die gute Sache. Frauen
und Mädchen aus allen Ständen, selbst ans den höchsten, nähten Mon-
tiernngsstückc, Mäntel, Hosen, Hemden, zupften Wundfäden und strickten mit
Emsigkeit für die Freiwilligen, und nicht wenige waren es, die, nicht im
Stande, wie andere Geld und Kleinodien darzubringen, auf solche Weise
durch ihrer Hände Arbeit dem Vaterlandc den innigsten Tribut zollten.
Später aber haben sie bei Kranken und Verwundeten in den Lazarethen
und Krankenhäusern eine Aufopferung bewiesen, die des schönsten Kranzes
werth ist. Überhaupt war das weibliche Geschlecht mit einem Feuer für
die Sache des Vaterlandes entbrannt, dem an Glanz und Glut kaum etwas
gleichkommt, was irgend die Geschichte berichtet.
Thue die patriotischen Beiträge hätte die Bildung der freiwilligen
Jägerabtheilnngen und anderer freiwilligen Scharen weder den Umfang
gewinnen können, den sie wirklich gewann, noch hätte im Kriege selbst der
Bestand derselben erhalten werden können. Millionen sind in dieser Ab-
sicht vom Lande freiwillig geopfert worden. Ohne den thatkräftigen Bei-
stand der Frauen aber hätte alles nicht so schnell ins Werk gerichtet, später
noch verstärkt und in Vollzähligkeit erhalten werden können. Durch ihre
Aufopferung und Pflege sind endlich tausende verwundeter und kranker
Krieger dem Vaterlandc erhalten worden, die in verhältnißmäßig kurzer
Zeit zu den Reihen der Kämpfer zurückkehren konnten.
So arbeitete denn in Preußen mit Aufbietung aller Kraft jeder auf
476
das gemeinsame Ziel hin. Gegen ein ganzes Volk aber, welches mit star-
kem Willen und nachhaltiger Kraft für seine höchsten Güter, Freiheit und
Unabhängigkeit, mit Freudigkeit und Vertrauen auf seine gerechte Sache
in den Tod gehen will, werden alle Eroberer der Welt auf die Länge
Nichts ausrichten können. Heinrich B-itzkx.
379. Das eiserne Kreuz.
Nicht mehr das Gold und Silber will ich preisen:
Das Gold und Silber sank herab zum Tande,
Weil würdiglich vom ernsten Baterlande
Statt Golds und Silbers ward erhöht das Eisen.
Wer Kraft im Arm hat, geh', es zu beweisen,
Ein Eisenschwert zu schwingen ohne Schande,
Es heimzutragen mit zerhau'ncm Rande,
Und dafür zu empfah'n ein Kreuz von Eisen.
Ihr goldnen, silb'ren Ordenszeichen alle,
Brecht vor dem stärkeren Metall in Splitter,
Fallt, denn ihr rettetet uns nicht vom Falle.
Nur ihr, zukünft'ge neue Eisenritter,
Macht euch hinfort zu einem Eisenwalle
Dem Vaterland, das Kern jetzt sucht statt Flitter. Fr. Rllckert.
380. Lied zur feierlichen Einsegnung des Preußischen Freicorps.
Gesungen in der Kirche zu Rochau in Schlesien am 28. Mai 1813, nach der Weise: Ich will von meiner
Misselhal rc."
Wir treten hier im Gotteshaus
Mit frommem Muth zusammen.
Uns ruft die Pflicht zum Kampf hinaus,
Und alle Herzen stammen.
Doch was uns mahnt zu Sieg und Schlacht,
Hat Gott ja selber angefacht.
Dem Herrn allein die'Ehre!
Der Herr ist unsre Zuversicht,
Wie schwer der Kampf auch werde:
Wir streiten ja für Recht und Pflicht
Und für die heil'ge Erde.
Drum retten wir das Vaterland,
So thut's der Herr durch unsre Hand,
Dem Herrn allein die Ehre!
Es bricht der freche Übermut!)
^ Der Tyrannei zusammen:
Es soll der Freiheit heilige Glut
In allen Herzen flammen.
I Drum frisch in Kampfes Ungestüm!
Gott ist mit uns und wir mit ihm.
Dem Herrn allein die Ehre!
Er weckt uns jetzt mit Siegerlust
Für die gerechte Sache,
Er rief es selbst in unser Brust:
„Auf, deutsches Volk, erwache!"
I llnb führt uns, wär's auch durch den Tod,
Zu seiner Freiheit Morgenroth,
Dem Herrn allein die Ehre!
Th. Körner.
381. Ter Trompeter au der Katzbach. ')
1. Von Wunden ganz bedecket,
Der Trompeter sterbend ruht,
An der Katzbach hingestrecket,
Der Brust entströmt das Blut.
2. Brennt auch die Todeswunde,
Doch sterben kann er nicht,
Bis neue Siegeskunde
Zu seinen Ohren bricht.
3. Und wie er schmerzlich ringet
In Todesängsten bang,
Zu ihn, herüberbringet
Ein wohl bekannter Klang.
4 Das hebt ihn von der Erde,
Er streckt sich starr und wild, —
! Dort sitzt er auf dem Pferde
! Als wie ein steinern Bild.
5. Und die Trompete schmettert, —
Fest hält sie seine Hand, —
Und wie ein Donner wettert
Victoria in das Land.
6. Victoria — so klang es
Victoria — überall,
! Victoria — so drang es
I Hervor mit Donnerschall.
0 ‘26. August 1813.
477
7. Doch als es ausgeklungen,
Die Trompete setzt er ab;
Das Herz ist ihm zersprungen,
Vom Roß stürzt er hinab.
382.
| 8. Um ihn herum im Kreise
[ HielUs ganze Regiment,
| Der Feldmarschall sprach leise:
I „Das heißt ein selig End'!"
Julius Mosen.
Lützow's wilde Zagd.
Was glänzt dort vom Walde im Sonnen-
schein?
Hör's näher und näher brausen.
Es zieht sich herunter in düstern Reihn,
Und gellende Hörner schallen darein,
Und erfüllen die Seele mit Grausen.
Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das ist Lützow's wilde, verwegene'Jagd!
Was zieht dort rasch durch den finsteni
Wald
Und streift von Bergen zu Bergen?
Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt,
Das Hurrah jauchzt und die Büchse knallt,
Es fallen die fränkischen Schergen.
Und wenn ihr die schwarzen Jäger fragt:
Das ist Lützow's wilde, verwegene Jagd!
Wo die Reben dort glühen, dort braust
der Rhein,
Der Wüthrich geborgen sich meinte,
Da naht es schnell mit Gewitterschein,
Und wirst sich mit rüstigen Armen hinein
Und springt ans Ufer der Feinde.
Und wenn ihr die schwarzen Schwimmer
fragt:
Das ist Lützow's wilde, verwegene Jagd!
Was braust dort im Thale die laute
Schlacht,
Was schlagen die Schwerter zusammen?
Wildherzige Reiter schlagen die Schlacht,
Und der Funke der Freiheit ist glühend
erwacht
Und lodert in blutigen Flammen.
Und wenn ihr die schwarzen Reiter fragt:
Das ist Lützow's wilde, verwegene Jagd!
Wer scheidet dort röchelnd vom Son-
nenlicht,
Unter winselnde Feinde gebettet?
Es zuckt der Tod auf dem Angesicht,
Doch die wackern Herzen erzittern nicht,
Das Vaterland ist ja gerettet.
Und wenn ihr die schwarzen Gefallenen
^ fragt:
Das ist Lützow's wilde, verwegene Jagd.
Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
Auf Henkers Blut und Tyrannen!
Drum, die ihr uns liebt, nicht geweint
und geklagt,
Das Land ist ja frei und der Morgen tagt,
Wenn wir's auch nur sterbend gewannen!
Und von Enkeln zu Enkeln sei's nachgesagt:
Das war.Lützow's wilde, verwegene Jagd.
Th. Körner.
383. Auf Schlirnhorst's Tod.
1. In dem wilden Kriegestanze
Brach die schönste Heldenlanze,
Preußen, euer General!
Lustig auf dem Feld bei Lützen
Sah er Freihcitswaffeu blitzen;
Doch ihn traf der Todesstrahl!
2. „Kugel, raffst mich doch nicht nieder!
Dien' euch blutend, werthe Brüder!
Führt in Eile mich „gen Prag!
Will mit Blut um Östreich werben;
Jst's beschlossen, will ich sterben,
Wo Schwerin im Blute lag."
3. Arge Stadt, wo Helden kranken,
Heil'ge von den Brücken sanken,
Reißest alle Blüten ab!
Nennen dich mit leisen Schauern, —
teil'ge Stadt! nach deinen Mauern
ieht uns manches theure Grab.
4. Aus dem irdischen Getümmel
Haben Engel in den Himmel
Seine Seele sanft geführt
n dem alten deutschen Rathe,
en im ritterlichen Staate
Ewig Kaiser Karl regiert.
5. „Grüß' euch Gott, ihr theuren Helden!
Kann euch frohe Zeitung melden:
Unser Volk ist aufgewacht!
Deutschland hat sein Recht gefunden;
Schaut, ich trage Sühnungswunden
Aus der heil'gen Opferschlacht!"
6. Solches hat er dort verkündet,
Und wir alle stehn verbündet,
Daß dies Wort nicht Lüge sei.
Heer, aus seinem Geist geboren,
Kämpfer, die sein Muth erkoren,
Wählet ihn zum Feldgeschrei!
7. Zn den höchsten Bergesforsten,
Wo die freien Adler horsten,
Hat sich früh sein Blick gewandt;
Nur dem Höchsten galt sein Streben,
Nur in Freiheit konnt' er leben:
Scharnhorst ist er druin genannt.
8. Keiner war wohl treuer, reiner!
Näher stand dem König keiner,
Doch dem Volke schlug sein Herz.
Ewig auf den Lippen schweben
Wird er, wird im Volke leben,
Besser als in Stein und Erz.
Max von Schenlendors.
478
384. Des Deutschen Vaterland.
Was ist des Deutschen Vaterland?
Jst's Preußenland, ist's Schwabenland?
Jst's, wo am Rhein die Rebe blüht?
Jst's, wo am Belt die Möve zieht?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein!
Was ist des Deutschen Vaterland?
Jst's Baierland, ist's Steierland?
Jst's, wo des Marsen Rind sich streckt?
Jst's, wo der Märker Eisen reckt?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein!
Was ist des Deutschen Vaterland?
Jst's Pommerland, Westfalenland?
Jst's, wo der Sand der Dünen weht?
Jst's, wo die Donau brausend geht?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein!
Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
Jst's Land der Schweizer? ist's Tyrol?
Das Land und Volk gefiel mir wohl;
Doch nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein!
Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das „große Land!
Gewiß, es ist das Österreich,
An Ehren und an Siegen reich?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland müß größer sein!
Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
Das ist des Deutschen Vaterland!
Wo Eide schwört der Druck der Hand,
Wo Treue hell vom Auge blitzt,
Und Liebe warm im Herzen sitzt —
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
O Gott vom Himmel, sieh darein,
Und gib uns rechten deutschen Muth,
Daß ivir es lieben treu und gut.
Das soll es sein!
Das ganze Deutschland soll es sein!
E. M. Arndt.
385. Körner's Grab.
1. Bei Wöbbelin, im freien Feld
Auf Mecklenburger Grunde,
Da ruht ein jugendlicher Held
An seiner Todeswunde.
Er war mit Lützow's wilder Jagd
Wohl in die Schlacht gezogen;
Da hat er frisch und unverzagt
Die Freiheit eingesogcn.
2. Was ihm erfüllt die Heldenbrust,
Er hat es uns gesungen,
Daß Todcsmuth und Siegeslust
In unser Herz gedrungen;
Und wo er sang zu seinem Trost
Zu seinen schwarzen Rittern, —
Das Volk stand auf, der Sturm brach los
In tausenden Ungewittern.
3. So sind die Leier und das Schwert,
Bekränzt mit grünen Eichen,
Dem Krieger wie dem Sänger werth,
Ein theures Siegeszeichen.
Wenn uns dereinst dein Lied erklingt,
Wenn an den Wehrgehenken
Die helle Eisenbraut uns winkt,
Wir werden dein gedenken!
Fr. Förster.
386. Die Völkerschlacht bei Leipzig. Den 18. und
19. Oktober 1813.'
Der große Tag brach an, da der angemaßte Siegeskranz von Napoleons
Haupte gerissen werden sollte. Europa stand zum Kampfe gegen einander.
Von allen seinen Grenzen waren die Krieger versammelt und kämpften
eine große Völkerschlacht.
Von drei Seiten sollte der Angriff auf den starken Halbkreis geschehen,
den Napoleon um Leipzig gezogen hatte. Bon Mitternacht durch den
Kronprinzen von Schweden und das schlesische Heer; von Morgen her
durch Bennigsen, der außer seinen Russen auch die Österreicher unter
Klenau und eine preußische Abtheilung unter Ziethen befehligte. Von der
Mittagsseite aber mußte der Hauptangriff kommen, weil hier noch immer
Napoleons Stärke war. Der Oberfeldherr theilte sein Heer daselbst in
479
zwei große Haufen; der erste waren die Russen und Preußen unter
Wittgenstein und Kleist, die über Wachau den französischen Mittelpunkt
angreifen sollten; der zweite aber, der Kern des österreichischen Heeres
unter dem Erbprinzen von Hessen-Homburg, sollte den Poniatowsky von
der Pleiße verdrängen und nach Leipzig zurückwerfen.
Napoleon dagegen hatte seinen Halbkreis viel enger zusammengezogen,
damit er mehr Festigkeit in sich haben möchte. Seine Scharen hatten
Wachau und Liebertwolkwitz, um welche am 10. so blutig gestritten war,
verlassen und den Mittelpunkt ihrer Stellung in Probstheida genommen;
er selbst aber hielt mit seinen Garden zwischen diesem Orte und dem
rechten Flügel an der Pleiße. Sein Standort war auf einem Hügel bei
einer durchlöcherten, halbzerstörten Windmühle. Da fieng er den großen
Tag an und endigte ihn auch.
Mit dem Schlage acht Uhr eröffnete sich der Kampf. An der Pleiße
hinab drang der Erbprinz von Hessen-Homburg gegen Dölitz und griff
das Dorf im Sturme an. Die Polen und Franzosen unter Poniatowsky
wehrten sich wie Verzweifelte, und es war ein . harter, blutiger Streit um
dieses Dorf. Mehr als einmal wurden die Österreicher zurückgeschlagen,
aber sie führten es endlich glücklich hinaus, eroberten Dölitz und Dösen
und die Höhen jenseits und behaupteten sie den ganzen Tag hindurch.
Rechts von ihnen waren auch die Russen und Preußen tapfer vor-
gedrungen, trieben die Franzosen immer fechtend vor sich her und standen
nach Mittag vor Napoleons Mittelpunkte Probstheida. Da war heute der
härteste Kampf, weil auf der Erhaltung dieses Dorfes die Rettung des
französischen Heeres beruhte. Daher hatte Napoleon in und hinter dem-
selben eine große Menge von Kriegshaufen aller Art aufgestellt und viele
Schanzen errichtet, und er selbst stand mit seinen Garden so, daß er jeden
Augenblick Hülfe leisten konnte. Die Gärten des Dorfes waren meistens
mit Lehmmauern umgeben. Diese gebrauchten die Franzosen als Schanzen,
machten Schießlöcher hinein und stellten sich dahinter; ja, sie hatten fast
jedes Haus zu einer Festung gemacht. Mit der ungestümsten Tapferkeit
drangen die preußischen Abtheilungen unter Prinz August und Pirch um
2 Uhr nachmittags in das Dorf ein; aber sie konnten es nicht behaupten.
Immer neue und neue Haufen trieb Mürat, der hier befehligte, gegen sie
daher, und die Kartätschen schmetterten von allen Seiten in ihre Reihen.
Vor dem Dorfe ordneten sie sich sogleich wieder und stürmten unerschrocken
von neuem, aber mit demselben Erfolge. Auch russische Haufen rückten
heran und versuchten die blutige Arbeit; aber sie vermochten eben so
wenig des Dorfes Meister zu werden. So entsetzlich war hier das Blut-
bad, daß die Kämpfenden zuletzt nicht mehr über die Haufen der Todten
hinwegsteigen tonnten. Da liegt mancher tapfere Jüngling erschlagen und
hat mit seinem jungen frischen Leben unsere Freiheit bezahlt; mit Recht
hat man daher zum Andenken des großen Tages an dieser Stätte, bei
Probstheida, ein Kreuz aufgerichtet.
Die drei verbündeten Herrscher hielten selbst auf einer Anhöhe in der
Nähe und sahen die übermenschliche Anstrengung der Ihrigen. Um halb
5 Uhr befahlen sie, das Stürmen aufzugeben und der tapferen Krieger zu
schonen; denn der Sieg war schon an mehreren Orten vollkommen ent-
480
schieden, und schon seit 10 Uhr morgens hatte Napoleon dem General
Bertrand Befehl gegeben, mit seinem Haufen von Lindenau nach der
Saale zu ziehen; das war ein sicheres Zeichen, daß er den Rückzug des
ganzen Heeres geschlossen hatte.
Dieses alles geschah auf der Mittagsseite des Schlachtfeldes. Von
der Morgenseite griffen Klenau und Ziethen unter Bennigsen's Oberbefehl
den Marschall Macdonald an. Der Marschall behauptete sich sehr tapfer,
besonders in Holzhansen, welches mehrmals erstürmt und wieder verloren
wurde. Dennoch eroberten die Österreicher gegen 2 Uhr nachmittags dieses
Dorf, die Preußen aber Zuckelhausen, und Macdonald zog sich nach Stöt-
teritz zurück, welches nahe bei Probstheida liegt. Um diese beiden Orte
drängte sich der übrig gebliebene Kern des französischen Mittelpunktes
zusammen und behauptete sich bis in die Nacht.
Ter linke Flügel aber unter Ney litt an diesem Tage die härteste
Niederlage. Ney sollte den ganzen Strich Landes von Macdonald an bis
an die Parthe beschützen; da kam aber das Nordheer und Blücher über
ihn und ließen ihm nicht Rast und Ruhe, bis er ganz nahe an Leipzig
Herangetrieben war. — Früh morgens den 18. hatte Feldherr Blücher mit
dem Kronprinzen von Schweden eine Unterredung zu Breitenfeld. Der
Kronprinz, der seine Schweden gern schonen wollte, verlangte, daß ihm
von dem schlesischen Heere 30,000 Mann an diesem Tage geliehen würden,
wenn er über die Parthe gehen und den 'Ney herzhaft angreifen sollte.
„Wohl!" sprach der alte Held, „aber ich will sie selbst anführen, denn es
ist die größere Hälfte meines Heeres, das bei Möckern soeben den blutigen
Strauß bestanden hat." Das war edel von dem Greise und recht deutsch
gedacht, daß er sich selbst unter den Befehl des viel jüngeren Mannes
stellte für das Gelingen der Sache. Und sogleich legte er auch Hand an
das Werk. Der Kronprinz wollte das ganze nun vereinigte Heer von
100,000 Mann auf einem weiten Umwege bei Taucha über die Parthe
setzen lassen, um an den Feind zu kommen. Blücher aber berechnete, daß
der Übergang von so vielen Tausenden über eine Brücke bis in die
Nacht dauern und der kostbare Tag verloren sein würde. Da faßte er
rasch seinen Entschluß und gieng mit den unverzagten Russen gleich bei
Mockau, viel näher bei Leipzig, durchs Wasser, obwohl das Fußvolk bis
an den Gürtel hineinfiel, und meldete dann dem Kronprinzen, er sei schon
hinüber und warte seiner weitern Befehle. Die Franzosen zogen sich
eilig gegen Schönfeld zurück. Nun drang das Nordheer von Taucha her
weiter vor und füllte den Raum zwischen Blücher rechts und Bennigsen
links, so daß der Ring von dieser Seite geschlossen war. Er zog sich
immer enger und blutiger um die Franzosen zusammen. Langeron mit
den Russen bestürmte Schönfeld. Bier Stunden währte der Kampf, und
immer neue Haufen traten von beiden Seiten auf den Platz; endlich
zwischen 5 und 6 Uhr abends, als schon Dorf und Kirche brannten, .ver-
ließen es die Franzosen und zogen sich bis hart an die Thore von Leipzig
zurück. 'Ney und Reynier, die das freie Feld über Paunsdorf hinaus
behaupten sollten, wurden am Nachmittage von dem Nordheer gleichfalls
angegriffen und durch die Preußen unter Bülow aus Paunsdorf heraus-
geschlagen. Und als sie sich noch im freien Felde behaupten wollten, da
481
machte sich die treffliche Reiterei der Russen und Preußen gegen sie auf,
und das Geschütz warf Raketen in ihre Vierecke. Diese fürchterlichen
Fenerdrachen fuhren zischend und heulend in die dichten Haufen der Reiter-
oder des Fußvolks und spieen aus vielen Röhren Feuer rund umher aus,
daß Menschen und Pferde erschrocken vor ihnen auseinander stoben. Da
half kein Widerstehen und kein Halten der Befehlshaber; die Reihen
lösten sich, auch die andern Dörfer in der Nähe giengen verloren, und erst
in Sellerhausen wurde wieder ein Halt gewonnen.
Auf diesen Feldern und in diesen Stunden war es, da die sächsischen
Kriegshaufen, die bis dahin nach dem Willen ihres Königs geduldig für
Napoleon gekämpft hatten, ihr Blut nicht länger für den Fremdherrn
vergießen wollten. In geschlossenen Reihen, mit fliegenden Fahnen und
klingendem Spiele, die Anführer an ihrer Spitze, zogen sie im Angesichte
der Franzosen zu den Verbündeten hinüber. Napoleon schickte sogleich seine
Gardereiter, die gefährliche Lücke zu füllen, und diese brechen plötzlich
hervor und wollen dem siegreichen Bülow noch dazu in die offene Flanke
fallen. Aber die Österreicher, die in der Nähe stehen, schwenken eiligst
und werfen sich dem verderblichen Stoß kühn entgegen; und von der
andern Seite feuert selbst die eben übergetretene sächsische Artillerie in die
französischen Reihen, weil es gerade an dieser Stelle an Geschütz fehlte.
Da müssen die Garden eilig umkehren und auch hier das Feld den Ver-
bündeten überlassen.
Der blutige Tag neigte sich zu seinem Ende. Mit Sehnsucht blickte
Napoleon der Nacht entgegen, die ihn erretten sollte. Sein großer Halb-
kreis war in ein schwaches Dreieck zusammengedrängt, das in seiner Spitze
Probstheida hatte. Hätte sein Heer nicht an diesem Tage noch einmal
mit recht festem Muth den schweren Kampf bestanden, wäre dieses Dreieck
noch vor Abend durchbrochen und Leipzig erstürmt worden, so war alles
verloren. Napoleon kämpfte an diesem Tage nur noch für den Rückzug,
und schon von 10 Uhr morgens an war ein zahlloser Troß von Wagen,
Pferden und Gepäck den ganzen Tag hindurch hinter dem Bertrand'schen
Heerhaufen hergezogen.
Als die dunkle Nacht schon das große Blutfeld bedeckte, befand sich
Napoleon noch auf dem Hügel bei seiner Windmühle, wo er sich ein
Wachtfeuer hatte anzünden lassen. Er hatte seinem ersten Gehülfen, Ber-
thier, die Anordnung des Rückzuges mitgetheilt, und dieser dictirte sie an
einem Seitenwachtfeuer einigen Adjutanten. Ringsum herrschte tiefe Stille.
Man hatte dem erschöpften Herrscher einen hölzernen Schemel gebracht,
auf welchem er in Schlummer sank. Jetzt saß er nachlässig auf seinem
Schemel zusammengesunken, die Hände schlaff im Schoße ruhend, die
Augen geschlossen, unter dem dunklen Zelte des Hiinmels, mitten auf dem
großen Leichenfelde, das er geschaffen hatte, und welches mit brennenden
Dörfern und unzähligen Wachtfeuern besäet war. Die Anführer standen
düster und verstummt um das Feuer, und die zurückziehenden Haufen
rauschten in einiger Entfernung am Fuße des Hügels vorüber. Nach einer
Viertelstunde erwachte Napoleon und warf einen Blick im Kreise um sich
her. Dann stand er auf und traf gegen neun Uhr in Leipzig ein.
Nach Mitternacht, als der Mond aufgieng, begann der Rückzug des
31
482
ganzen Heeres durch Leipzig. Da aber die Haufen von mehreren Seiten
vom Schlachtfelde hereinzogen, und für alle nur ein schmaler Ausweg nach
Lindenau, der Ranstädter Steinweg, da war, so war oft Aufenthalt und
Stockung. Die Wagen und Kanonen verfuhren sich in einander, und die
zu Fuß konnten sich kaum daneben hinausdrängen. Voran zogen die
Garden, auf deren Rettung am meisten ankam, dann die besten Haufen
der übrigen französischen Corps; die Polen, Badener, Darmstädter mit
einigen Franzosen sollten die Stadt vertheidigen, so lange es möglich sei.
Leipzig war keine Festung, aber man hatte die Thore verrammelt, Schan-
zen aufgeworfen und alle Gräben und Gartenmauern zur Befestigung
benutzt.
Aber das Bundesheer war nicht gesonnen so ruhig zuzusehen, daß die
Franzosen mit aller alten Beute und allem Kriegsgeräth ungestört abzogen.
Schon seit acht Uhr morgens rückten von allen Seiten die Haufen zum
Angriffe heran und beschossen die Thore. Da wurde den Abziehenden
noch bänger, und sie strömten in solchem Getümmel nach dem einen
Ausgange hin, daß sogar Napoleon nicht durchzukommen vermochte. Selbst
die Furcht vor seinem Antlitze und die Säbelhiebe seines Gefolges halfen
nicht mehr; er mußte sich von dem großen Wege abwenden und ans einem
Nebenwege um die Stadt nach dem Ranstädter Steindamme reiten. Und
auch hier konnten er und sein Gefolge sich nur einzeln an der Seite des
Gewühles fortwinden. Da zog Fußvolk und Reiterei, Geschütz und
Pulverwagen, Gesunde, Verwundete und Sterbende, Wagen mit Frauen
und Kindern, Marketender und geraubte Viehherden im wildelsten Ge-
tümmel mit Drängen und Stoßen und Geschrei bunt durch einander, und
der, welcher sich einen Herrn der Welt genannt hatte, mußte sich von
diesem Strome mit fortschieben lassen.
Die verbündeten Herrscher hätten die Verwirrung noch sehr vergrößern
können, wenn sie die Stadt hätten beschießen lassen. Aber dies war ihrem
menschenfreundlichen Herzen zuwider. Sie wollten nur die Thore und
Eingänge erstürmen lassen, und das vollbrachten ihre unerschrockenen Krie-
ger auch sehr bald. Auch zu den Seiten drangen die Kämpfenden in die
Gärten ein; die Franzosen und Polen vertheidigten jeden Schritt; jedes
Gartenhaus und jede Hecke mußte erobert werden, und noch einmal floß
viel Blut. Aber der Sieg konnte nun nicht mehr zweifelhaft sein. Halb
zwölf drangen die ersten Preußen in die Stadt ein, und der tiefe Hörner-
klang der pommerischen Schützen ertönte durch die Gassen. Das war den
betäubten, ängstlich harrenden Einwohnern ein herrlicher deutscher Klang.
Die verschlossenen Thüren öffneten sich, und noch in das Schießen hinein
weheten die weißen Tücher zum Freudengruß aus den Fenstern.
Um diese selbige Zeit wurde plötzlich die einzige Brücke, welche an
der andern Seite der Stadt den Franzosen zur Rettung diente, über den
Elster-Mühlengrabeu, in die Luft gesprengt. Alle, die sich noch auf dem
Wege zu dieser Rettungsbrücke hindrängten, stießen einen Schrei des Ent-
setzens aus und zerstreuten sich nach allen Seiten, um noch einen Ausgang
zu finden. Es war keiner mehr. Viele stürzten sich aus Verzweiflung in
die Elster, um hindurch zu schwimmen, allein sie kamen fast alle in deni
tiefen Flusse um oder blieben in seinen sumpfigen Ufern stecken. Auch
483
einige der Feldherren, die noch zurück waren, sprangen mit ihren Pferden
in das Wasser, um der Gefangenschaft zu entgehen, aber einer der ersten,
der polnische Fürst Poniatowsky, ertrank in dem Flusse; Macdonald entkam;
die meisten wurden gefangen.
An diesem Tage verlor Napoleon noch mehr als in den Tagen der
Schlacht. Über 15,000 waffenfähige Krieger, die durch das Sprengen der
Brücke abgeschnitten waren, wurden gefangen; an Verwundeten aber und
Kranken blieben noch 25,000 der Gnade der Sieger überlassen. Der
Kanonen und Wagen, die um und in der Stadt stehen geblieben, war
eine unübersehbare Menge; auf der Allee allein standen 105 Kanonen zu-
sammengefahren. Es sind ihrer in diesen Tagen gegen 400, mit 1600
Wagen, erbeutet worden.
Mch 1 Uhr zogen Alexander und Friedrich Wilhelm mit dem Gefolge
ihrer Feldherren in die nun errettete Stadt ein. Wenige Stunden nach-
her kam auch der Kaiser Franz, der dritte im Bunde. Es war ein großer
Anblick, als sich die dreie nun die Rechte reichen und zu der Errettung
Deutschlands und Europas Glück wünschen konnten. Sie erkannten es
wohl, daß dieser Sieg kein Werk menschlichen Witzes und menschlicher
Klugheit sei. Als am Tage zuvor der Oberfeldherr zu ihnen herankam,
die auf einem Hügel zusammen des Kampfes Ausgang erwarteten, und
ihnen den Sieg der gerechten Sache verkündigte, da fielen die frommen
Herrscher auf ihre Kniee nieder und dankten im stillen Gebete dem unsicht-
baren Urheber so großer Wohlthat. Kohlrausch.
387. Die Leipziger Schlacht.
Wo kommst du her in dem rothen Kleid
Und färbst das Gras auf dem grünen Plan?
Ich komme her aus dem Männerstreit,
Ich komme roth von der Ehrenbahn.
Wir haben die blutige Schlacht geschlagen,
Drob müssen die Weiber und Bräute klagen;
Da ward ich so roth.
Sag' an, Gesell, und verkünde mir,
Wie heißt das Land, wo ihr schlugt die
Schlacht-
Bei Leipzig trauert das Mordrevier,
Das manches Auge voll Thränen macht;
Da flogen die Kugeln wie Winterflocken,
Und Tausenden mußte der Athem stocken
Bei Leipzig der Stadt.
Wie hießen, die zogen ins Todesfeld
Und ließen fliegende Banner aus?
Die Völker kamen der ganzen Welt
Und zogen gegen Franzosen aus:
Die Russen, die Schweden, die tapfern
Preußen
Und die nach dem Kaiser von Östreich heißen,
Die zogen all aus.
Wem ward der Sieg in demharten Streit?
Wer griff den Preis mit der Eisenhand?
Die Welschen hat Gott wie die Spreu zer-
streut,
Die Welschen hat Gott verweht wie den
Sand,
Viel Tausende decken den grünen Rasen,
Die übrig geblieben, entflohn wie Hasen,
Napoleon mit.
Nimm Gottes Lohn! hab Dank, Gesell!
Das war ein Klang, der das Herz erfreut,
Das klang wie himmlische Cymbeln so hell,
Hab Dank der Mähr von dem blut'gen
Streit!
Laß Witwen und Bräute die Todten klagen,
Wir singen noch fröhlich in späten Tagen
Die Leipziger Schlacht!
O Leipzig, freundliche Lindenstadt!
Dir ward ein leuchtendes Ehrenmahl:
So lange rollet der Zeiten Rad,
So lange scheinet der Sonnen Strahl,
So lange die Ströme zum Meere reisen,
Wird noch der späteste Enkel preisen
Die Leipziger Schlacht.
O Leipzig! gastlich versammelst du
Ans allen Enden der Völker Schar;
Auf! ruft's dem Osten und Westen zu,
Daß Gott der Helfer der Freiheit war,
Daß Gott des Tyrannen Gewalt zerstoben,
Damit sie in Osten und Westen loben
Die Leipziger Schlacht!
E. M. Arndt.
31*
484
388. Blücher.
Was blasen die Trompeten? Husaren, heraus!
Es reitet der Feldmarschall in fliegendem Saus,
Er reitet so freudig sein mnthiges Pferd,
Er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert!
O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar!
O schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar!
So frisch blüht sein Alter wie greifender Wein,
Drum kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein.
Er ist der Mann gewesen, da alles versank,
Der muthig auf zum Himmel den Degen noch schwang!
Da schwur er beim Eisen gar zornig und hart,
Franzosen zu weisen die deutsche Art.
ö l ii ch c r.
Er hat den Schwur gehalten, als Kriegesruf erklang,
tei, wie der weiße Jüngling in'n Sattel sich schwang!
a ist er's gewesen, der Kehraus gemacht,
Mit eisernem Besen das Land rein gemacht.
Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Strauß,
Daß vielen tausend Welschen die Haare standen kraus,
Daß Tausende liefen gar hastigen Lauf,
Zehntausend entschliefen, die nie wachen auf.
Bei Katzbach an den: Wasser, da hat er's auch bewährt,
Da hat er den Franzosen das Schwimmen gelehrt.
Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab!
Üno nehmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab!
Bei Wartburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch!
Da schirmte die Franzosen nicht Schanze, nicht Burg,
Sie mußten wieder springen wie Hasen übers Feld,
Und hintendrein ließ klingen sein Hussa der Held.
Bei Leipzig auf dem Plane, o schöne Ehrenschlacht!
Da brach er den Franzosen in Trümnier Glück und Macht;
Da liegen sie so sicher nach letztem harten Fall,
Da ward der alte Blücher ein Feldmarschall.
Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus!
Du reite, Herr Feldmarschall, wie Sturmwind im Saus!
Du reit dem Glück entgegen, znni Rhein und übern Rhein,
Du alter, tapfrer Degen! und Gott soll mit dir sein.
E. M. Arndt.
389. Reiters Morgengesang
1. Morgenroth!
Leuchtest mir zum frühen Tod.
Bald wird die Trompete blasen,
Dann muß ich mein Leben lassen,
Ich und mancher Kamerad.
2. Kaum gedacht,
Wird der Lust ein End' gemacht.
Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab.
3. Ach wie bald
Schwindet Schönheit und Gestalt!
Thust du stolz mit deinen Wangen,
Die wie Milch und Purpur prangen?
Ach! die Rosen welken all'.
4. Darum still
Füg' ich mich, wie Gott es will.
Nun so will ich tapfer streiten;
Und sollt' ich den Tod erleiden,
Stirbt ein braver Reitersmann.
Hauff.
390. Der Rheinstrom.
Der Deutsche mag -wohl auf seinen Rhein stolz sein! Nicht auf
seine Grösse: viel andere Ströme, selbst europäische, übertreffen
ihn weit an Länge, Breite, Wasserfülle, an kolossaler Ausdehnung
ihres Gebietes; nicht einem aber ist ein so edles Ebenmass beschie-
den, so richtige Verhältnisse, so vollständige Entwickelung; nicht
einer sieht an seinen Ufern auf gleiche Weise Kunst und Natur,
geschichtliche Erinnerung und lebendige Gegenwart vereint. In
dem erhabensten und herrlichsten centralen Gebiete des mächtigen
Alpengürtels hangen an himmelhohen Felsgipfeln mehr als dreihundert
Gletscher, welche dem Rhein ihre vollen tosenden Gewässer zusenden.
Wo sie aus dem Gebirge hervortreten, da beruhigen und läutern
sich diese ungestümen Alpensöhne in etwa fünfzehn der grössten
und schönsten Seen: unergründlichen smaragdnen Becken, hier von
unerklimmbaren Felsen eingeengt, dort von Rebenhügeln und grünen
Matten umkränzt; einer fast wie das Meer unabsehbar. Kristall-
helle Fluten entströmen diesen Seen in raschem, doch schon ruhigerem
Lauf. Bald in einem Bette vermischt, wogen sie mächtig und
friedlich dahin durch lachende Fluren an stattlichen Schlössern,
hohen Domen, kunstreichen, belebten Städten vorbei, denen sie
reiche Lasten zuführen. Hohe Waldgebirge winken lang aus blauer
Ferne, spiegeln sich dann in dem herrlichen Strom, bis er die
weite schrankenlose Ebene betritt und nun dem Schoße des
Meeres zueilt, ihm mächtige Wasserspenden zu bringen und sich
dafür in seinem Gebiete ein neues Land zu erbauen.
An den Wiegen des Rheins erklingen die Gesänge armer, aber
freier und froher Hirten; an seinen Mündungen zimmert ein eben so
freies, dabei reiches, kunstsinniges, gewerbfleissiges, unternehmendes
Volk seine schwimmenden Häuser, welche die fernsten Länder und
486
Meere beschissen und einst beherrscht haben. Wo ist der Strom,
der eine Schweiz an seinen Quellen, ein Holland an seinen Mün-
dungen hätte, den seine Bahn so durch lauter fruchtbare, freie,
gebildete Landschaften führte? Haben andere weit grössere
Wasserfülle und Breite, so hat der Rhein klare, immer volle, sich
fast gleichbleibende Fluten, so ist seine Breite gerade die rechte,
hinreichend für Floss und Schiff, für allen Verkehr der Völker,
und doch nicht so gross, dass sie die beiden Ufer von einander
schiede, dass nicht der erkennende Blick, der laute Ruf ungehin-
dert hinüberreichte. Mächtig und ehrfurchtgebietend erscheint er
als ein bewegter Wasserspiegel in den heitersten Rahmen gefasst,
nicht als eine wässrige Ode mit nebligen Ufern.
Der Rheinstrom ist recht eigentlich der Strom des mittleren
Europas. An seinen alpinischen Quellen begegnen sich Burgund,
Italien, das südliche Deutschland. Seine oceanische Niederung
schiebt sich zwischen den Norden Frankreichs und die Ebenen des
alten Sachsenlandes ein und füjzrt zu den britischen Inseln hinüber.
Aus der schönen Stromebene des mittleren Rheines, einem bergum-
mauerten Centralgebiet, führen natürliche Wasserstrassen durch
lange enge Felsenthore zu reichen, herrlichen Landschaften, tief in
das innerste Deutschland und Frankreich hinein. Die Mosel auf
der linken, der Main auf der rechten Seite verbinden Franken
und, Lothringen. Der Rheinstrom selber aber und seine Ufer sind
die grosse Handels- und Reisestrasse zwischen Süden und Norden,
zwischen Holland und der Schweiz, England und Italien, die eine
immer grössere Bedeutung erhält, je inniger und lebendiger
die Berührungen aller Art zwischen den verschiedenen Gliedern
des europäischen Staatensystems werden. G. B. Mendelssohn.
391. Das Lied vom Rhein
Es klingt ein heller Klang,
Ein schönes deutsches Wort
In jedem Hochgesang
Der deutschen Männer sort:
Ein alter König hochgeboren,
^n jedem Hochgesang
iiiy Uvv tyciv
Sein Zürnen und sein stolzes Klagen,
Wir haben's manche Nacht belauscht,
Von Geistesschauern hehr umrauscht.
In Fesseln lag der Held geschlagen,
Die treue Seele labt.
Es regen sich in allen Herzen
Biel vaterländsche Lust und Schmerzen,
Wenn mau das deutsche Lied beginni
Vom Rhein, dem hohen Felienkind.
Dem jedes deutsche Herz geschworen,
Wie oft sein Name wiederkehrt,
Man hat ihn nie genug gehört.
Das ist der heilge Rhein,
Was sang der alte Held?
Ein furchtbar dränend Lied:
„O weh dir, schnöde Welt,
Wo keine Freiheit blüht!
Von Treuen los und bar von Ehren!
Und willst du nimmer wiederkehren,
Mein, ach! gestorbenes Geschlecht,
Und mein gebrochnes deutsches Recht?
Sie hatten ihm geraubt
Der alten Würden Glanz,
Von seinem Königshaupt
Den grünen Rebenkranz.
O meine hohe Zeit,
Mein goldner Leuzestag,
Als noch in Herrlichkeit
Mein Deutschland vor mir lag!
Und auf und ab am Ufer wallten
Die stolzen adligen Gestalten,
Die Helden, weit und breit rt
Durch ihre Tugend und ihr wert!
487
Es war ein frommes Blut
In ferner Riesenzeit,
Voll kühnem Leuenmuth
Und mild als eine Maid:
Mau singt es noch in späten Tagen,
Wie den erschlug der arge Hagen:
Was ihn zu solcher That gelenkt,
In meinem Bette lieg's versenkt.
Du Sünder, wüthe fort!
Bald ist dein Becher voll!
Der Nibelungen Hort
Ersteht wohl, wann er soll.
Es wird in dir die Seele.grausen,
Wann meine Schrecken dich umbrausen;
Ich habe wohl und treu bewahrt
Den Schatz der alten Kraft und Art!"
392.
1. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin!
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonuenschein.
2. Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar:
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar;
Erfüllt ist jenes Wort:
Der König ist nun frei,
Der Nibelungen Hort
Ersteht und glänzet neu!
Es sind die alten deutschen Ehren,
Die wieder ihren Schein bewähren:
Der Väter Zucht und Muth und Ruhm,
Das heilge deutsche Kaiserthum!
Wir Huldgen unsrem Herrn,
Wir trinken seinen Wein.
Die Freiheit sei der Stern,
Die Losung sei der Rhein!
Wir wollen ihm aufs neue schwören,
Wir müssen ihm, er uns gehören;
Vom Felsen kommt er frei und hehr:
Er fließe frei in Gottes Meer.
M. v. Schenkendorf.
Lore Lei.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei,
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
3. Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn,
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore Lei gethan. H. Heine.
393. Belle-Alliance (18. Juni 1815).
Der erste Jahrestag der Schlacht bei Leipzig war durch ganz
Deutschland mit nie erhörtem Jubel gefeiert; auf tausend und aber tausend
Bergen und Höhen flammten Freudenfeuer, und niemand dachte an einen
nahen Krieg. Aber schon der Frühling des neuen Jahres weckte wieder
die kriegerischen Töne. Unerwartet verließ Napoleon Elba und landete
in Frankreich. Überall wurde er hier mit Jubel aufgenommen, und auch
das Heer eilte zu seinen Fahnen; am 20. März 1815 zog er in Paris
ein. Da mußten die verbündeten Fürsten wieder zu den Waffen greifen.
Das Jahr Dreizehn wurde neu in Fünfzehn. Bald standen vier Heer-
scharen der Preußen unter Blücher kampfbereit in den Niederlanden;
eben da hatten auch die Engländer unter Wellington ihre Stellung.
Mit einem glänzenden Heere kampfgeübter Truppen drang Napoleon
vor. Es nahten und drängten sich die Stunden der großen Entscheidung
Zuerst griff Napoleon am 16. Juni die Preußen an. Drei Dörfer
bezeichneten die Stellung der Heere; Ligny war ihre Mitte. Um drei
Uhr nachmittags begann die Schlacht. 200 Feuerschlünde waren fünf
Stunden lang gegen das Dorf gerichtet und der Kampf um so mörderischer,
als die gegen einander drängenden Massen Stirn gegen Stirn aneinander
standen; da gab es keinen Stillstand, keine Ruhe zum freien Aufathmen,
und auch die heldenmüthigste Anstrengung gestattete nur das Vorrücken
488
von wenigen Schritten. Vergeblich war das Sehnen nach Unterstützung
durch die Engländer; auch die vierte preußische Heerschar unter Bülow
kam auf ihrem Eilmärsche nicht mehr heran. Noch stand die Schlacht
und nicht ohne Hoffnung des Sieges. Da umgiengen, von der Nacht
begünstigt, feindliche Scharen aller Waffen das Dorf und griffen hinter
demselben die auf den Anhöhen stehenden Preußen im Rücken an. Nun
wurde auch Ligny erobert, und die Schlacht war verloren. —
An diesem Tage bestand der Feldmarschall Blücher große Gefahren. Beim
Ansturm feindlicher Reiter wurde sein Pferd durch einen Schuß verwundet.
„Nostitz, nun bin ich verloren!" rief der greise Feldherr seinem Adju-
tanten zu, und in dem Augenblick stürzte das Pferd zusammen, und Blücher
lag unter dem Drucke der Last betäubt darnieder. Nostitz stellte sich
neben den Feldherrn, entschlossen, sein Los zu theilen. Die Reiter jagten
in wildem Getümmel vorüber, erst die Preußen, dann die verfolgenden
Franzosen; diese, wieder geworfen, sprengten abermals vorbei, ohne den
Feldherrn wahrzunehmen. Preußen kamen hinterher, halfen Blücher unter
dem Pferde hervorziehen, und er bestieg sogleich ein Dragonerpferd. Gottes
Hand war mit ihm.
Napoleon hielt die Preußen für gänzlich geschlagen und gab den
übermüthigen Befehl, sie in den Rhein zu stürzen.
Am 17. Juni abends war das preußische Heer bei Waver enger
zusammengezogen. Wellington hatte vier Stunden von Brüssel eine
vortreffliche Stellung. Bor ihm auf einer Höhe lagen zwei Meierhöfe,
die er in Festungen umwandeln ließ, und im Rücken der Anhöhen, die
er besetzt hielt, war er durch einen Bergwald gedeckt. In dieser Stellung,
schrieb Lord Wellington, sei er willens, die Schlacht anzunehmen,
wenn Blücher ihn mit zwei Heerhaufen unterstützen wolle. Es war
Nacht, als man Blücher diese Meldung brachte. Man weckte ihn. „Nicht
mit zwei Heerhaufen, sondern mit dem ganzen Heere will ich kommen",
sagte er und schlief dann ruhig weiter. Als er am andern Morgen vom
Lager aufzustehen trieb und rasch zu Pferde wollte, hielt ihn der Wund-
arzt zurück, um ihn noch einzureiben. „Ach was", rief er, »noch erst
schmieren! Laßt nur sein; ob ich heute balsamiert oder unbalsamiert in die
andere Welt gehe, wird wohl auf eins herauskommen." Der Regen, der
in Strömen herabfloß, war ihm eine gute Vorbedeutung für den Tag.
„Siehe da, unsere Bundesgenossen von der Katzbach", sprach er zu
seinen Kriegern. „Da sparen wir dem Könige wieder viel Pulver."
Sein froher Blick und bald auch der warme Sonnenschein gaben dem
Heere die frohe Stimmung wieder, und sein „Vorwärts, Kinder!" war
für alle die heiterste Feldmusik.
Napoleon war freudig überrascht, als er früh am 18. Juni das
englische Heer vor sich sah. „Ha, nun habe ich sie, diese Engländer!"
rief er aus und ordnete auf der Höhe von Belle-Alliance sein Heer.
Aber der durchweichte Boden hinderte jeden Fortschritt; erst um Mittag
begann die Schlacht. Von beiden Seiten wurde mit dem ausgezeichnetsten
Heldenmuthe gekämpft. Die Franzosen fochten mit andringender Wuth,
die Engländer mit ausdauernder Standhaftigkeit. Die Übermacht Napoleons
gab ihm Zuversicht. Drei-, viermal zurückgeschlagen, trieb er immer neue
489
Heeresmassen die Höhen hinan gegen den unerschütterlichen Feind. Schon
war dieser auf's Äußerste erschöpft. Mit schwerer Besorgnis sagte der
englische Feldherr: „Ich wollte, es wäre Nacht, oder die Preußen kämen!"
Ta donnerten um 125 Uhr die Kanonen von der Seite und im Rücken
der Franzosen, und mit inniger Rührung rief Wellington: »Gott sei
Dank, das ist der alte Blücher."
Blücher hatte alles gethan, den Zug zu beschleunigen; doch schon
morgens nöthigte ihn eine Feuersbrunst zu Umwegen. Unaufhörliche
Regengüsse hatten Flüsse und Gräben angeschwellt, daß Fußvolk und Rei-
terei nur mit Mühe vorwärts konnten; die Mannschaft hielt die Patron-
tasche zwischen den Zähnen, die Gewehre hoch über dem Wasser, das
kleinen Leuten selbst den Hals bespülte; das Geschütz zumal machte unsägliche
Beschwerde. Blücher, in lebhafter Sorge, sein Wort zu lösen, rief an-
feuernd sein „Vorwärts, Kinder!" in die Reihen der Krieger hinein. Sie
erlagen fast den Mühseligkeiten und riefen, es gehe nicht mehr, es sei
unmöglich. Da redet Blücher sie mit tiefster Bewegung und Kraft an:
»Kinder, wir müssen vorwärts! Es heißt wohl, es geht nicht; aber es
muß gehen, ich habe es ja meinem Bruder Wellington versprochen;
hört ihr wohl? Ihr wollt doch nicht, daß ich wortbrüchig werden sott!"
Und so gieng es denn vorwärts, Nach 4 llhr konnten zwei Brigaden zum
Angriff schreiten. Aus dem Walde hervorbrechend, die Höhe hinan, senkten
sich dann die preußischen Schlachtreihen stufenartig das Gelände hinab, so daß
die Kanonen hinter- und übereinander auf die Feinde hinabdounerten.
Napoleon, der die vom Walde andringenden Massen für Truppen
seines Marschalls Grouchy (Gruschi) gehalten hatte, war bald enttäuscht.
Der drohenden Gefahr zu begegnen, stellte er den Preußen allmählich den
ganzen sechsten Heerestheil entgegen, der noch ohne Blutarbeit im Rückhalt
gestanden hatte. Im Rücken und auf dem rechten Flügel des französischen
Heeres drängten sich nun die Ereignisse zur Entscheidung des Tages.
Gegen 80,000 Preußen richtete sich hier zwei Stunden lang ohne Unterlaß
das mörderische Gewehr- und Geschützfeuer; mauerfest stand die Schlacht.
Ta erschien um die Feierabendzeit Ziethen mit seiner ganzen Reiterei
und den Vortruppen seines Fußvolks, nahm den Franzosen das Dorf
Papelotte und verband die Kampflinien Bülvw's und der Engländer.
Gegen diese richtete Napoleon nun den letzten, furchtbarsten Stoß. 12 Ba-
taillone seiner alten Garde unter Ney drangen unaufhaltsam vor, und
wie furchtbar auch das englische Geschütz- und Gewehrfeuer ihre Reihen
zerriß, sie schritten vorwärts bis an den Höhenrand zum Kampfe Manu
gegen Mann. Zn diesem drohenden Augenblicke eilte Ziethen herbei
und schmetterte mit 24 Geschützen in den Feind. Allseitigem Sturm
erliegend, gerieth die Garde in Unordnung und Flucht. Bier Bataillone
ziehen sich geschlossen zurück, kommen in das Geschützfeuer Bülvw's,
werden umzingelt, man ruft ihnen zu, sich zu ergeben: „Die Garde
stirbt, sie ergibt sich nicht!" schallt aus ihrer Mitte. Und die Garde
starb. Das war das erhabenste Schaustück des Blutfeldes. In Vierecken
standen die gestorbenen Helden, die vorderen Reihen angelehnt an die
hinter ihnen Gesunkenen, im Tode noch aufrecht. Das Auge war verloschen,
aber das Haupt im Schmucke der Bärenkappe noch emporgerichtet.
490
J
Die Schlacht war entschieden, unser der Sieg, und die Siegesfeier
überaus herrlich. Das Vorgehen der vereinigten Heere war allgemein:
hunderttausend Mann in einem weiten Bogen bewegten sich durch das
Thal, und mit ihnen wälzte sich in immer gleicher Macht das wogende
Hurrah über die Walstatt, als wollte es zum dauernden Siegesmal sich
türmen. Tausende von Hörnern und Trompeten schmetterten ihr Vorwärts
dazwischen, und die Trommeln lärmten den Sturmschritt. Dieses An-
dringen brachte in die Franzosen allgemeines Entsetzen: „Rette sich, wer
kann!" hieß es, und die wildeste Flucht trat ein.
Es begann schon zu dunkeln, als die beiden Feldherren, Wellington
und Blücher, durch „anmuthige Gunst" bei Belle-Alliance zusammen-
trafen, sich die Hände reichten und gegenseitig als Sieger begrüßten.
Der alte Heldengreis Blücher befahl, den letzten Hauch daran zu setzen,
um den Feind nicht zum Stehen kommen zu lassen. „Wir haben gezeigt,
wie man siegt, nun wollen wir auch zeigen, wie man verfolgen muß",
sagte Gneisenau und nahm das Werk in seine Hand. Der Mond
leuchtete dazu in völliger Klarheit. Der Schreck jagte dem Feinde noch
vor Genappe sein sämmtliches Geschütz ab; kaum rettete sich Napoleon —
Wagen, Hut, Degen, Orden und Kleinodien zurücklassend. — In Blücher's
Tagesbefehl an das Heer hieß es: „Empfanget meinen Dank, ihr unüber-
trefflichen Soldaten! So lange es Geschichte gibt, wnH sie euer gedenken.
Auf euch ruht mit Sicherheit das Glück eures Königs und seines Hauses.
Nie wird Preußen untergehen, wenn eure Söhne und Enkel euch gleichen."
Napoleon dankte ab. Eine Freistätte suchend, siel er in die Hände
der Engländer und starb auf dem Felseneilande St. Helena am
5. Mai 1821. Nach Hahn und Schmidt.
394. Belle-Alliance.
Der Blücher war so lahm und wund,
Daß kaum im Bett er liegen kunnt:
Doch stand er auf, rief nach dem Pferd
Und schnallte um sein schart'ges Schwert.
Da kam, um ihn erst einzureiben/
Der Feldscheer; doch der greise Held
Rief: „Narr, laß heut ein Schmieren bleiben!
Denn geht's in eine andre Welt,
Jst's unserm Herrgott einerlei.
Ob ich einbalsamieret sei."
Rief's, stieg aufs Pferd und kommandiert:
„Vorwärts, ihr Kinder, nicht geziert!
Vorwärts! Laßt eure Fahnen wehn!
Was gehen soll, daß muß auch gehn!
Ich hab's dem Wellington versprochen
Und hab' noch nie mein Wort gebrochen.
Vorwärts! Und wenn zu dick die Reih'n
Der Feinde, schlagt mit Kolben drein!"
Und fort gieng's niuthig drauf und dran,
Da gieng ein lust'ges Tanzen an;
Die Deutschen nahmen mit den Britten
Viel tausend Franzen in die Mitten
Und ließen sie nicht früher los,
Als bis sie endlich athemlos
Vom blutbedeckten Tanzplatz floh'n,
Voran ihr Held Napoleon.
Und als der Tanz vorüber war,
Umarmte sich das Heldenpaar
Und theilte ohne Neid den Kranz
Des Sieges bei Belle-Alliance.
¡3 Sturm.
395. Ein Wort liom alten Blücher.
Sie saßen an Blücher's Tafel und hatten gut gespeist;
Da lobten sie unmenschlich des alten Helden Geist
Und lobten seine Thaten ganz grob und ungescheut
Und meinten, nur er allein habe das Volk befreit.
Das war dem alten Blücher am Ende außer'm Spaß;
Er rückte mit dem Stuhle und leerte schnell das Glas;
.— 491
Dann schrie er: „Alle Wetter! Ihr seid nicht recht gescheit;
Ich will's euch besser sagen, wer Land und Volk befreit!
„Das war der Preußen Tapferkeit,
Freund Gneisenau's Besonnenheit,
Von mir ein bischen Verwegenheit
Und Gottes große Barmherzigkeit!"
Sie saßen an der Tafel und schauten ängstlich drein;
Der Alte aber lachte still in sein Glas hinein. Hesekiel.
390. Regen, Schnee, Hagel, Thau und Reif.
Die Wassertheilchen in der Luft bilden Nebel, oder was dasselbe ist,
sie bilden Wolken, sobald sie in eine kältere Luftschicht gerathen. Aber die
Wolke ist noch immer kein Regen, sondern es hängt von Umständen ab,
ob sich nun auch Regen bildet oder nicht. Zieht über die Luftschicht, in
der sich Wolken gebildet haben, wieder eine wärmere und trockene Luft-
schicht, so saugt die neue Luftschicht wieder die Wassertheilchen auf. Es geht
der feuchten Luft ganz so, wie es der nassen Wäsche geht. Die trockene
Luft nimmt ihr die Wassertheilchen fort. Sie werden wieder mehr luft-
förmig, die Wolken lösen sich auf, der Himmel wird heiter, und es
regnet nicht. Strömt aber zu der wolkigen Luft noch kältere Luft
heran, dann verdichten sich die Wassertheilchen noch mehr, aus
der Wolke werden lauter kleine Wassertropfen; diese Wasser-
tropfen sind zu schwer, um sich in der Luft schwebend zu er-
halten, und fallen dann herunter als Regen.
Während des Fallens vergrößert sich der Tropfen immer mehr durch
die Wassertheilchen der Luft, durch die er fällt, und so kommt es, daß
der Regen oft die Erde erreicht in Form von großen Wassertropfen,
während er, als er wirklich zn fallen anfieng, nur kleine Tropfen bildete.
In der That sind auf den Dächern die Regentropfen kleiner, als die,
welche auf die Straße fallen, und der Unterschied ist so groß, daß auf
das Dach des königlichen Schlosses in Berlin durch das Jahr 12 Cen-
timeter weniger Regen fällt, als auf den Schloßplatz. Es wird sich nun
jeder leicht vorstellen können, wie in ähnlicher Weise der Schnee entsteht.
Wenn nämlich eine feuchte Luftschicht einer sehr kalten be-
gegnet, so fängt der Nebel an zu frieren und wird zu ganz
492
feinen Schneeflöckchen. Auch diese vergrößern sich beim Fallen und
kommen dann in großen Schneeflocken herab. Sie haben die Gestalt
eines regelmäßig geformten sechseckigen Sterns.
Professor Dove in Berlin erzählt eine Anekdote, die eben so interessant
wie lehrreich ist. In Petersburg nämlich gab ein Musiker ein Concert
in einem großen Saale, wo eine sehr zahlreiche Gesellschaft sich einfand.
Draußen war eine eisige Winternacht, wie man sie in unsern Gegenden
gar nicht kennt; in dem überfüllten Saale aber herrschte eine Hitze, wie
sie nur Russen ertragen können. Aber die Hitze wurde bald auch den
Russen zu viel. Es war eine große Menschenmasse beisammen, das
Gedränge war gefährlich. Mehrere Damen wurden ohnmächtig. Man
wollte ein Fenster öffnen, aber es gieng nicht, es war fest eingefroren.
Da wußte ein tapferer Officier schnell Rath; er schlug das Fenster ein.
— Und was geschah? Es schneite im Concertsaal. Wie gieng das zu?
Der Wasserdunst, den die große Menge Menschen im Saale ausathmete,
schwebte in der Höhe des Saales, wo es am heißesten war, in der Lust;
der plötzliche Eintritt der eisigen Luft durch das zerbrochene Fenster ver-
wandelte die Wassertheilchen in Schnee, und so sendete hier nicht der
Himmel, sondern der mit Wasserdunst gefüllte Raum eines Concertsaalcs
Schneeflocken hernieder.
Wenn die Regentropfen gefrieren, so bilden sie den
Hagel. Wie aber mitten im Sommer die Kälte entsteht, durch welche
sie zum Gefrieren gebracht werden, und wie die Hagelkörner die Dicke
eines Hühnereis und darüber erlangen können, ist selbst den gelehrten
Leuten bis jetzt noch ein Räthsel.
Wir haben oben gesehen, daß die luftförmigen Wassertheilchen, welche
der Athem mit sich führt, sofort zu Tropfen sich verdichten, wenn sie
mit kalten Gegenständen in Berührung kommen. Wenn an warmen
Sommertagen die Erde von der Sonne tüchtig erwärmt wird, so werden
die Wassertheilchen, welche sich in der Erdrinde befinden, von der Wärme
in Dunst aufgelöst und steigen in die Luft. Am Abende kühlen sich
die Luft und die Pflanzen schnell ab, während die Erdrinde
sich langsam abkühlt und noch fortwährend Wasserdünste in die
Höhe schickt. Sobald diese aber in die kältere Luft treten, ver-
dichten sie sich und setzen sich als Thautröpflein an die käl-
teren Gegenstände. Der Thau fällt also nicht wie der Regen hoch
oben aus der Luft, wie manche glauben, sondern er ist recht eigentlich
ein Kind der Erde. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man
einen eisernen Topf auf die Erde stülpt. Hebt mau ihn am Morgen
auf, so findet man, daß sich ebensowohl von innen, als von außen Thau-
tropfen angesetzt haben. — Sind aber die Gegenstände auf der
Erde so kalt, daß der Thau daran gefriert, so entstehen
feine Eisnadeln, die wir Reis nennen. 9I. Bernstein.
397. Der kleine Börsenhändler.
Es traf einmal ein kleiner Knabe einen stattlichen Herrn in
Officierkleidung an, der mit einer jungen Dame an einem schönen
Morgen im Thiergarten bei Berlin lustwandelte. Der Thiergarten
493
ist aber ein schöner, schattiger Wald mit lieblichen Gängen dicht
bei Berlin, der grossen Stadt, in welcher der König wohnt. Der Kleine
bat, ihm eine von den kleinen Börsen (oder Geldbeuteln) abzu-
kaufen, wovon er einen ganzen Vorrath in einem Kästchen vorzeigte.
Der Herr entgegnete: „Ich bedarf der Ware nicht“ und gieng
weiter. „Lieber Herr Lieutenant“, begann der Kleine, neben
dem Herrn herlaufend, „so kaufen Sie doch etwas für die Mamsell
da; meine arme Mutter strickt die Börsen, und wenn ich kein
Geld mitbringe, so haben wir diesen Abend nichts zu essen.“ Er
erzählte hierauf, der Vater sei Soldat gewesen, bei Leipzig geblie-
ben, und er habe noch zwei kleinere Geschwister. Der Herr sah
dem Kinde in das offene, ehrliche Gesicht, fragte nach dem Preise
und nahm, da der Knabe zwei Silbergroschen für das Stück forderte,
ein Dutzend und gab ihm ein grosses Goldstück, zehn Thaler an
Werth. „Ja, lieber Herr Lieutenant“, sagte der Junge und besah
das grosse, blanke Goldstück, „darauf kann ich nicht herausgeben.“
Der Herr meinte darauf, er solle es nur behalten und seiner
Mutter bringen, erkundigte sich nach deren Namen und Wohnung,
setzte seinen Spaziergang fort und überliess den Kleinen seinem
Staunen und Entzücken. Nach Verlauf einer guten Stunde trat
ein Adjutant des Königs in die ärmliche Hütte der Mutter und
erkundigte sich nach der Wahrheit der Aussage des Knaben. Der
edle König und dessen liebenswürdige Tochter, damalige Prinzessin
Alexandrine, waren es gewesen, denen Gott, der Vater der Armen,
das Kind gesandt hatte, um der Mutter Noth zu lindern und ihr
die Thränen über den Verlust des gefallenen Gatten und Vaters
zu trocknen. Die eingeholten Zeugnisse über das Betragen und
die Aufführung der Frau lauteten zu ihrem Lobe; und die Erthei-
lung eines lebenslänglichen Jahrgeldes von hundert Thalern und
die Unterbringung des kleinen Börsenhändlers in eine Erziehungs-
anstalt waren die Folgen jenes Gott wohlgefälligen Morgenganges.
398. Die Korallen.
Das Land Hat seine Blumen; sie prangen in unsern Gärten; sie
schmücken die Wiesen; sie dnften am Rande der Wälder; sie trotzen den
Winden, welche die erhabenen Berghäupter umwehen; sie verbergen sich
in Felsritzen, oder blühen aus Schutt und Ruinen hervor.
Aber auch der Ocean hat seine Astern und Nelken, und zwar noch
wunderbarere, als die des festen Erdbodens, da sie, mit thierischem Lxben
begabt, sich nach Willkür öffnen und schließen. In unsern Meeren sind
es besonders die Seeanemonen, welche uns den unterseeischen Fluren alle
Pracht des Regenbogens entfalten, während zwischen den Wendekreisen
vorzugsweise die geselligen, riffbildenden Korallen die Gefilde des Meeres-
bodens mit einem bunten Teppich überziehen. Das herrliche Schauspiel,
welches sie im rothen Meere entfalten, riß den Naturforscher Ehrenberg
zur lebhaftesten Bewunderung hin, so daß er begeistert ausrief: „Wo ist
das Blumenparadies, welches an Mannigfaltigkeit und Schönheit mit
diesen lebenden Wundern des Oceans wetteifern könnte?"
4Ü4
Sowohl die Seeanemonen, als die Korallen gehören zu der weitver-
zweigten Klasse der echten Polypen, welche fast auf der letzten Stufe der
Thierbildung stehen. Allen Arten gemein ist der sackförmige, eine cylin-
drische Höhle umschließende Körper, der sich nach oben in einen weiten
Mund öffnet. Dieser ist mit einem Kranze von Fangarmen umgeben,
welche sich willkürlich ausbreiten und zusammenziehen und dem hungrigen
Raubthier seine Beute zuführen. Meistentheils an ihre Geburtsstätte ge-
bunden, oder höchstens nur sehr beschränkter Ortsbewegungen fähig, sind
die Polypen außer Stande, sich durch Kampf, Körperkraft oder List ihre
Nahrung zu verschaffen. Wie die hülflosen Jungen der höheren Thiere
durch ihre Eltern gefüttert werden, so zehren sie ihr Lebenlang von dem,
was als eine gütige Mutter das Meer ihnen zuführt. Ihre Greifapparate
sind Fallen, keine Waffen; aber bei der unendlichen Menge von Geschöpfen,
von denen der Ocean wimmelt, namentlich an den Küsten und Untiefen,
wo sie ihre Wohnsitze aufgeschlagen haben, fehlt es ihnen nie an köstlicher
Speise.
Damit die Fangwertzeuge ihrer Bestimmung vollkommen genügen,
sind sie mit zahllosen kleinen, nadelförmigen Waffen versehen, welche die
in ihr Bereich geführten Thierchen nicht allein verwunden, sondern auch
noch durch eine scharfe Flüssigkeit vergiften. Wehe dem kleinen Krusten-
thiere, oder dem Fischlein, welches der ausgebreiteten Strahlenkrone einer
Seeanemone zu nahe kommt! Von hundert Armen blitzschnell umklammert,
wird es plötzlich betäubt und gelähmt und ohne weiteres dem klaffenden
Schlunde zugeführt.
Die Lebenszähigkeit vieler Polypen ist außerordentlich. Man tauche
sie in Wasser, heiß genug, um Blasen auf der Haut zu ziehen, oder lasse
sie im Frost erstarren und wieder aufthauen, oder setze sie in den luftver-
dünnten Raum einer Luftpumpe, — ihre Lebenskraft hält alle diese Feuer-
proben aus. Schneidet man ihre Fangfäden ab, so sprossen andere wieder
hervor; werden diese noch einmal entfernt, so stellt sich wiederum ein neuer
Kranz ein. Schneidet man das Thier mitten durch, so erzeugt nach einiger
Zeit der abgeschnittene Untertheil des Körpers besondere Arme, fast so,
wie sie vor der Operation waren, während der Obertheil Nahrung zu
schlucken fortfährt, als ob nichts geschehen wäre. Aber diese sonst fast
unzerstörbaren Thiere sterben fast augenblicklich, wenn man sie in süßes
Wasser taucht, — für sie ein eben so furchtbares, schnelltödtendes Gift
wie Blausäure für den Menschen.
Die in unsern nördlichen Meeren vorkommenden Polypenarten sind
völlig unbedeutend, wenn man sie mit den riffbildenden Korallen der
heißen Zone vergleicht. Zum Theil vermehren sich diese letzteren, indem
sie kleine, kugelige oder ovale, durch ein äußeres Flimmerkleid zu selb-
ständiger Bewegung befähigte Larven hervorbringen, welche eine Zeit lang
frei umherschwimmen, bis sie sich mit dem einen Ende ihres Körpers fest-
setzen und den Grund zu einer neuen Thiercolonie legen; zum Theil aber
vervielfältigen sie sich wie die Pflanzen durch Knospen und bilden auf
diese Weise zahlreiche Gesellschaften, Republiken, deren einzelne Mitglieder
in der engsten Verbindung miteinander stehen. Jedes Einzelthier hat
seinen besondern Mund und Fangapparat und seinen eignen Magen, aber>
495
weiter erstreckt sich sein eigenthümliches Dasein nicht; denn es hängt mit
seinen Brüdern durch Gewebe und Kanäle so zusammen, daß die Säfte,
welche ein jeder bereitet, dem ganzen Stocke zu gute kommen. Dieser
muß demnach als eine lebende Schicht von thierischer Materie angesehen
werden, welche durch zahlreiche Munde und eben so zahlreiche Magen er-
nährt wird. Übrigens ist das feste, kalkige Gerüst oder Skelett stets von
der gemeinschaftlichen Haut der Colonie überzogen, aus deren zahlreichen
Öffnungen ein reicher Flor von strahligen Blumen hervorkeimt.
Da die Steinkorallen ein den Pflanzen ähnliches Wachsthum haben,
so finden sich unter ihnen auch alle Pflanzenformen nachgeahmt. Es gibt
unter ihnen Flechten und Moose, Sträucher und Bäume, die eine Höhe
von zwei bis drei Metern erreichen, zierliche Vasen und regelmäßig ge-
wölbte Kuppeln, welche zuweilen einen Durchmesser von vier bis sechs
Metern besitzen.
Von den Korallenthieren der heißen Zone, welche mauerartige Riffe
erzeugen, kann man in Wahrheit sagen, daß sie unzerstörbare Bauten auf-
. richten. Das Knochengerüste der höheren Thiere verschwindet nach wenigen
Jahren von der Erde, aber das steinerne Skelett des Polypen bleibt fest
an der Stelle gewurzelt, welche es während des Lebens einnahm, und
dient einem neuen Geschlechte zum Fundament, auf dem dasselbe weiter
baut. — Wir staunen über die Größe der Pyramiden und Tempel, welche
eine längst verschwundene Vergangenheit an den Ufern des Nils auf-
türmte; aber was sind die kolossalen Prachtbauten der Pharaonen gegen
die gewaltigen Mauern, welche von kleinen, schwachen Pflanzenthieren
aufgeführt sind!
Die Naturforscher theilen aber diese thierischen Felsbauten in drei
Klassen ein. !Die Riffe der ersten Art hangen unmittelbar mit den Küsten
des festen Landes zusammen, wie dieses namentlich bei allen Korallen-
bänken des rothen Meeres der Fall ist. Eine zweite Art bildet in grö-
ßeren Abständen vom Lande einen Wall, der entweder als eine sogenannte
Barrière den Küsten entlang läuft, oder eine in seiner Mitte gelegene
Insel umschließt. Die gewaltigste Barrière findet sich der Nordostküste
Neuhollands gegenüber. Auf einer Strecke von über 200 Meilen Länge
und in einer durchschnittlichen Entfernung von 30 bis 50 deutschen Meilen
begleitet sie die Ufer des Continents. Die inselumschließenden Riffe sind
in der Südsee in großer Zahl vorhanden. Tahiti, die Königin der weiten
Jnselflur, ist in beträchtlicher Entfernung von einem solchen umzogen. Mit
seinem Gürtel von Palmen und Brotfruchtbäumen erhebt sich das para-
diesische, gebirgige Eiland in der Mitte einer ruhigen See, welche der
ringförmige Korallenwall von der heftigen Brandung des Oceans abschneidet.
Die Korallenbänke der dritten Klasse, Atolls genannt, unterscheiden
sich von den vorigen nur dadurch, daß sie keine Centralinsel, sondern
ringförmig einen Wasserspiegel oder Centralsee umgeben. Auch solche
Riffe sind in verschiedenen Gruppen der australischen Jnselflur in großer
Zahl vorhanden. Die sogenannten niedrigen Inseln weisen ihrer mehr
als achtzig auf.
Zwischen den Wendekreisen erzeugt die fortwährende Wirkung der
Passatwinde auf die Meeresfläche Brandungen von nie nachlassender Wuth.
496
Es ist unmöglich, diese brüllenden Wogen zu betrachten, ohne zu dem Ge-
danken zu kommen, daß einer solchen Macht selbst der härteste Fels weichen
müßte. Aber die Korallenbänke halten alle Angriffe siegreich aus. Die
Brandung mag ihnen Tausende von Blöcken entreißen; aber was will
das bedeuten gegen die sich immer wieder anhäufenden Arbeiten unzähliger
Millionen von kleinen Baumeistern, die Tag und Nacht, jahraus, jahrein
damit beschäftigt sind, den schäumenden Wogen Kalktheilchen -ju entziehen,
um sie zu ihren wundervollen Bauwerken zu verwenden. So besiegt die
Lebenskraft, die in dem weichen, gallertartigen Körper eines Polypen weilt,
die Riesenstärke des Oceans, welchem weder die Werke der menschlichen
Kunst, noch der leblosen Natur widerstehen können. Hartwig.
399. Vergeben — vergessen!
Die Kaiserin von Rußland hatte ihrem königlichen Vater
Friedrich Wilhelm III. eine aus Asien gekommene, bis dahin in Deutsch-
land noch unbekannte Blume von seltener Pracht und angenehmem
Dufte geschickt, die von dem Hofgärtner Fintelmann auf der Psaueninsel
bei Potsdam in dem sonnigen, prächtigen Palmenhause gepflegt wurde
und sich herrlich entfaltete. Der König, ein Freund der Blumen, hatte
seine stille Freude an dieser seltenen Pflanze, betrachtete sie oft und
nannte sie nach seiner geliebten Tochter Charlotte. So oft er um
diese Zeit nach der Pfaueninsel kam, fragte er daher gleich beim ersten
Schritte ans Land: „Wie geht es meiner lieben Charlotte?" was denn
die Aufmerksamkeit und Fürsorge des Gärtners natürlich verdoppelte.
Wer beschreibt daher den Schrecken und die Angst des Mannes, als er
an einem der drei Tage, die im Sommer allwöchentlich zum Besuche der
Pfaueninsel bewilligt sind, und an denen sich oft Tausende einfinden, im
Palmenhanse wahrnahm, daß die seinem königlichen Herrn so werthe
Blume ganz und gar abgepflückt sei.
Im höchsten Grade aufgebracht durchläuft er die Menge der fremden
Gäste, umherschauend, ob er nicht bei irgend einem das geraubte Kleinod
wahrnehmen möchte. Zuletzt,, stellt er sich ans Ufer in die Nähe des
Schisses, mit dem alle die Überfahrt machen müssen. Nicht lange hat
er dort gestanden, als er einen jungen, wohlgekleideten Mann erblickt,
der die theure Blume wirklich im Knopfloch seines Rockes trägt und
heiter und unbefangen, als wenn nichts Übels geschehen, einherschreitet.
Der Hofgärtner faßt ihn an und stellt ihn zur Rede über den von ihm
begangenen Raub; der Fremde entschuldigt sich mit seiner Unwissenheit
und bedauert und beklagt die von ihm leichtsinnig verübte That. Der
entrüstete Gärtner kann sich jedoch damit nicht zufrieden geben; er führt
den bestürzten jungen Mann in seine Wohnung und verlangt in Gegen-
wart von drei Zeugen über seinen Namen und Stand schriftliche Auskunft.
Als der König bald nachher zur^ Pfaueninsel kam und wie gewöhnlich
fragte: „Was macht meine liebe Charlotte?" und der Hofgärtner ihm
mit Thränen in den Augen den schmerzlichen Verlust mittheilte, drückte
sich zwar Unwillen auf seinem Angesichte ans; doch bemerkte er nur, es
sei doch Unrecht, ihm so auch seine kleinen Freuden zu verderben. „Das
497
wird nicht aufhören", erwiderte der aufgebrachte Beamte, „wenn Ew.
Majestät dem Publikum die Pfaueninsel nicht verschließen lassen!" —
„Was kann denn", entgegnete der König, „das Publikum dafür, wenn
unter Tausenden ein Ungezogener ist, der die verstattete Freiheit miß-
braucht? Die Insel ist ja nicht für mich allein da; ich kann doch nur
selten hier sein, und wozu denn alle diese Schönheiten, namentlich die
schnell verblühenden Blumen, wenn sonst niemand seine Freude daran
haben soll?" Als nun aber der Hofgärtner bat, daß der begangene
Raub bestraft und der Thäter zur Verantwortung gezogen werden möge,
wollte der König dessen Namen nicht einmal wissen, sondern fiel schnell
abwehrend ein: „Nein, nein, ich will den Namen gar nicht wissen!
Habe darin ein unglückliches Gedächtnis; der könnte mir wieder ein-
fallen, wenn der Mann späterhin vielleicht etwas zu bitten haben sollte,
und es würde ihm dann der unangenehme Eindruck, den er auf mich ge-
macht, vielleicht nachtheilig sein. Vergeben und vergessen!" Eyl-rt.
400. Der Blitzableiter.
Auf den Dächern mancher, besonders großer Häuser sind eine oder
zwei senkrecht emporstehende Eisenstangen mit vergoldeten Spitzen ange-
bracht. Von ihnen gehen eiserne oder kupferne Leitungen an dem Dache
und an den Mauern herunter in die Erde. Das sind Blitzableiter.
Aber wie soll eine solche Stange ein Schutz, gegen die furchtbar zuckenden,
zermalmenden Blitze sein? Höre!
Ein kluger Manu in Amerika, Namens Franklin, machte einst
einen großen Drachen (eben so einen, wie ihn die Knaben im Herbst
steigen lassen), dessen Spitze oben von Eisen war und der unten in Zeinen
eisernen Draht endigte, welcher statt des Bindfadens bis zur Erde reichte.
Diesen Drachen ließ er während eines Gewitters emporsteigen, und siehe,
sobald die Gewitterwolken sich ihm näherten, fuhren die feurigen Blitze
an dem Drahte herab in die Erde. Bei solch' einem Versuche wurde
einmal ein unvorsichtiger Mensch erschlagen. Dieses Herabgleiten der
Blitze brachte den Franklin auf die schöne Erfindung der Blitzableiter.
Die Spitzen der auf dem Dache aufgerichteten Stangen vergoldet man,
damit sich kein Rost ansetzt, wodurch das Herableiten des Blitzes ver-
hindert würde. Statt der Eisenstangen, die sich über das Gebäude hin-
ziehen, kann man auch Knpferdraht benutzen. Wenn ein Blitzstrahl auf
das Gebäude herabschießt, so wird er durch die Spitze der eisernen
Stange angezogen und, ohne Schaden zu thun, in die Erde geleitet.
Der Blitz nämlich fährt gern in erhabene Gegenstände. Daher darf man
sich während eines Gewitters nicht unter einen Baum stellen. Denn je
feuchter das Holz, desto besser dient es dem Blitze zur Herableitung in
die Erde. Aber was ist denn der Blitz nun eigentlich? ■— Wenn du
einen Brief geschrieben und versiegelt hast, da hältst du den Siegellack
in der Hand. Denkst du da wohl, daß du einen kleinen Bruder vom
furchtbaren Blitze in der Hand trägst? Wenn du Silber- und Kupfer-
münzen in den Beutel steckst, glaubst du, daß in ihnen eine Kraft sitzt,
die Ochsen tobten und Häuser anbrennen, ja sogar Eisen und Diamanten
schmelzen kann, ohne daß du es siehst!
32
498
Willst du von dieser Kraft eine ganz kleine Probe haben, so reibe
die Siegellackstange auf deinem Rockärmel, lege ein kleines Stücklein
Papier auf den Tisch und halte den Siegellack daran, so wird das Pa-
pierchen hinanspringen und daran hängen bleiben. Reibe im Dunkeln das
Fell von der ersten besten Katze gegen den Strich, und kleine Feuerfunken,
es sind kleine Blitze, fahren knisternd heraus. Was ist das für eine
Kraft? Ja, nennen will ich sie dir, wie man den Namen von einem
Menschen, der vorüber geht, nennt. Wie man aber nicht weiß, was er
alles im Herzen stecken hat, so weiß man auch von dieser Kraft nicht,
was sie eigentlich ist.
Schon vor mehreren tausend Jahren entdeckten die alten Griechen
am Bernstein die Kraft, leichte Gegenstände anzuziehen, wenn man ihn
durch Reiben warm gemacht hatte, und weil sie den Bernstein in ihrer
Sprache Elektron nannten, so gaben sie auch der Eigenschaft desselben,
leichte Körper anzuziehen, hiernach den Namen, und so nennen wir sie
noch heute Elektricität, und die Körper, die diese Kraft in sich haben,
elektrisch. Solche Elektricität erzeugt sich auch in den Wolken. Es
bilden sich jene dunkeln, blauen Wolken, an denen wir erkennen, daß ein
Gewitter heraufzieht. Die angesammelte Elektricität strömt aus, und
wir sehen den das Auge blendenden Feuerstrahl, den Blitz, hernieder-
fahren. — Was ist denn nun aber der Donner beim Blitze? Der
elektrische Funke, der Blitz, fährt mit ungeheurer Schnelligkeit und Kraft
durch die Luft und dadurch entsteht der Donner. Das Klatschen mit der
Peitsche, der Knall beim Schießen aus der Kanone entsteht ganz ähnlich
wie der Donner durch eine schnelle Bewegung der Luft. Denke nur an
das Heulen des Sturmes! Mügge.
401. Nutzen chemischer Kenntnisse.
Jedermann weiss, dass ein Stück Eisen sich beim Ausglühen
in Hammerschlag, beim Liegen in feuchter Luft oder Erde aber
in Rost verwandelt, dass der ausgepresste Saft der Weintrauben
nach und nach zu Wein wird und dieser wieder zu Essig, dass
Holz in einem Ofen oder Öl in einer Lampe beim Verbrennen
verschwindet, dass Thier- und Pflanzenstoffe mit der Zeit verderben,
zerfallen und endlich gleichfalls verschwinden. Hammerschlag und
Rost sind verändertes Eisen. Das Eisen ist hart, zähe, grauweiss
und glänzend; in der Glühhitze wird es unter Gewichtsvermehrung
schwarz, matt und brüchig, in feuchter Luft braungelb und pulverig.
Der Wein ist veränderter Most. Von dem süssen Geschmack, den
der Traubensaft besass, ist an ihm nichts mehr wahrzunehmen; er
schmeckt geistig, besitzt eine erwärmende und berauschende Kraft,
die in dem Most nicht vorhanden war. Der Essig ist veränderter
Wein; er schmeckt und riecht sauer statt geistig und sein Genuss
wirkt nicht berauschend, sondern kühlend und niederschlagend.
Das bei der Verbrennung verschwundene Holz oder Öl müssen wir
in der Luft suchen; denn beide Stoffe verwandeln sich beim Ver-
brennen in Luftarten. Bei dieser Verwandlung wird zugleich
499
Wärme und Licht erzeugt; sie erfolgt unter der Erscheinung von
Feuer. Ähnlich sind die Veränderungen, welche Pflanzen und
Thierstoffe bei längerer Aufbewahrung erleiden; sie verwandeln
sich, während sie verfaulen oder verwesen, nach und nach in
Luftarten, die zum Theil einen sehr unangenehmen Geruch
besitzen.
Solche Vorgänge, welche nicht bloss die äussere Form, sondern
das ganze innere Wesen der Körper umwandeln, nennt man
chemische Vorgänge. Durch sie werden, oft unter Erwärmung
oder Feuererscheinung, die Körper nach Gewicht, Form, Festigkeit,
Farbe, Geschmack, Geruch, Wirkung so von Grund aus verändert,
dass aus ihnen ganz neue Körper mit ganz neuen Eigenschaften
entstehen. Wohin wir nur blicken auf der Erde, überall gewahren
wir chemische Erscheinungen: auf dem Festlande, in der Luft, wie
in der Tiefe des Meeres, im Reiche der todten Gesteine, wie im
Reiche des Lebendigen, in Pflanzen und Thieren. Der festeste
Stein wird nach und nach mürbe; er verändert seine Farbe, zer-
fällt zu kleinen und immer kleineren Brocken und wird endlich zu
Erde. Eine Kartoffel, in die Erde gelegt, wird weich; ihr zuvor
mehliger Geschmack süss, dann faulig; endlich verschwindet sie
gänzlich. Was hier wie Vernichtung aussieht, ist aber nur chemische
Verwandlung. Aus den ekelhaften Producten der Fäulniss bildet
die Schöpferkraft eine lebensfrische neue Pflanze und alle darin
vorkommenden verschiedenartigen Stoffe, z. B. Zucker, Stärke, Öle.
Die Knollen der Kartoffelpflanze bilden eines unserer wichtig-
sten Nahrungsmittel. Das darin enthaltene Stärkemehl lässt sich
in Wasser nicht auflösen, im Magen aber erfährt es sehr schnell
eine solche Veränderung, dass es aufgelöst oder verdaut und
sodann als Flüssigkeit dem Blute zugeführt werden kann. Das
Blut trifft in den Lungen mit der eingeathmeten Luft zusammen;
dabei verändert es seine Farbe, und auch die Luft verändert ihre
Beschaffenheit, und durch diese Veränderungen entwickelt sich die
Wärme, welche wir in unserm Körper fühlen. Es erhellt hieraus,
dass auch in unserm Körper, wie in dem der Pflanzen chemische
Vorgänge stattfinden; die Pflanze und das Thier wie der Mensch
bestehen aus chemischen Stoffen, und chemische Vorgänge sind es,
welche ihnen nicht nur ihre Nahrung zubereiten, sondern sie auch
verdauen und in Thier- oder Pflanzenstoffe umwandeln helfen. Hört
das Leben endlich auf, so sind es wieder die chemischen Processe,
die als Todtengräber der Natur die alte Wahrheit in Erfüllung
gehen lassen: Was von Erde ist, soll wieder zu Erde werden. Was
uns Vernichtung scheint, ist aber nur Verwandlung. Die bei der
Verbrennung oder Verwesung nicht vernichteten, sondern nur un-
sichtbar gewordenen Stoffe finden sich in anderer Form in der Luft
wieder; aus dieser werden sie durch die in den lebenden Pflanzen
vorhandenen chemischen Kräfte wieder zur Erde herabgezogen.
Wir sehen hieraus, wie die unergründliche göttliche Allmacht sich
die chemischen Vorgänge zu Dienern bestellt, um durch sie den
32*
500
unaufhörlichen Wechsel hervorzubringen, den wir tagtäglich in der
Natur um uns her gewahren, und um durch sie ununterbrochen
aus dem Tode immer wieder neues Leben hervorzurufen.
Die Chemie lehrt den Apotheker Arzneimittel darzustellen; sie
lehrt den Arzt, mit diesen Arzneimitteln Krankheiten zu vertreiben;
sie zeigt dem Bergmann nicht nur die in Gesteinen versteckten
Metalle, sondern sie hilft sie ihm auch ausschmelzen und verar-
beiten. Im Bunde mit der Naturlehre hat sie innerhalb der letzt-
verflossenen Jahrzehnte viele Künste und Gewerbe zu einer ausser-
ordentlichen Ausbildung gebracht.
In der neuesten Zeit hat sich die Chemie besonders auch auf
die Erforschung der Bestandtheile der organischen Naturkörper, der
Pflanzen und Thiere gerichtet und auf die Beobachtung der Vor-
gänge, welche in diesen während ihres Lebens, wie nach ihrem
Tode stattfinden. Woraus bestehen diese Körper? Woher erhalten
sie ihre Bestandtheile, ihre Nährmittel? Welche Veränderungen
müssen diese in dem lebenden Körper der Thiere und Pflanzen er-
fahren, um die Ernährung und das Wachsthum derselben zu be-
wirken? Wie ist man im Stande, dieses Wachsthum zu beschleu-
nigen? Diese Fragen sind es hauptsächlich, welche die chemische
Forschung zu beantworten sich bemüht. Darin liegt auch der
Nutzen der Chemie für den Landwirt; denn sie ist es ja allein,
welche ihm die Bestandtheile seines Ackerlandes anzeigt, welche
ihn bekannt macht mit den Nahrungsmitteln der Pflanzen, die er
auf diesem Lande erbauen will, und mit den Mitteln, durch welche
er die Fruchtbarkeit seiner Felder zu erhöhen vermag.
StÖckhardt.
402. Der Affe.
Unter allen Thieren steht dein Menschen körperlich der Affe am
nächsten; ob auch geistig, muß bezweifelt werden. Denn alle edleren
Eigenschaften, welche man bei anderen Thieren bemerkt, scheinen gerade
dem Affen zu fehlen. Er ist zornig, tückisch, launenhaft, undankbar, frech,
rachsüchtig und besitzt fast nicht eine Tugend, durch welche er sich dem Menschen
wahrhaft nützlich machte. Denn die Possenreißerei und die Nachahmungs-
sucht dienen höchstens zur Belustigung von Kindern. Man hat deshalb
mit Recht gesagt: Der Affe stellt den Menschen von seiner schlechten Seite
dar. Indessen ist unter den Affen selbst wieder ein außerordentlicher
Unterschied, denn ihre Arten sind zahlreicher als die der meisten anderen
Thiergeschlechter. — Alt eingefangene Affen sind oft so unbändig, daß
man sie nicht dulden mag, oder sterben vor Traurigkeit über den Verlust
ihrer Freiheit. Die jung aufgezogenen sind anfangs gelehrig und sanft,
bald aber kehrt ihre ursprüngliche Art zurück, so daß manche mit ihrem
Gebiß geradezu gefährlich werden. Man hat sie mannigfaltig eingetheilt
in Nachtaffen und Tagaffen, je nach der Zeit, wo sie ihrer Nahrung nach-
gehen; oder in geschwänzte und ungeschwänzte. Unter den geschwänzten
hat man wieder die langschwänzigen Meerkatzen und die kurzschwänzigen Paviane
unterschieden. Aber im ganzen ist es dieselbe Affennatur von den dem
I
501
Menschen an Größe gleich kommenden bis zu denen von der Größe eines
Eichhorns. Nachahmungssüchtig sind sie alle, und diese^Eigenschaft macht
sie auf der einen Seite sehr spaßhaft, auf der andern Seite gibt es Ge-
legenheit, sich ihrer zu bemächtigen. Dies geht so zu. In einer Gegend,
wo man Affen auf den Bäumen vermuthet oder ihr Geschrei hört, macht
sich ein Jäger erst auf allerlei Weise bemerklich, dann zieht er ein paar
Stiefel an, oder wäscht sich aus einer Schüssel. Die neugierigen Affen
lauschen hinter den Zweigen hervor,
und kaum hat sich der Jäger entfernt
und ihnen ein paar Stiefel oder eine
Schüssel zurückgelassen, so sind sie auch
schon da, das Geschehene nachzuäffen.
Allein die Stiefel sind inwendig mit
Vogelleim beschmiert, und die Schüssel
ist mit Leimwasser gefüllt. Natürlich
wird der Affe in dem einen Falle im
Laufen gehindert, in dem andern ver-
mag er die Augen nicht zu öffnen und
wird also leicht gefangen. Übrigens hat
es keine Schwierigkeit, Affen auf glei-
chem Boden ohne weiteres Hülfsmittel
einzuholen, denn auf vierHänden laufen
sie nicht sonderlich schnell und noch viel
weniger auf zweien. Ihre eigentliche
Bewegung ist das Klettern, wozu sie durch ihre händeartig gestalteten Füße
ganz besonders ausgestattet sind. Verlassen sie deshalb den Wald, um in
Pflanzungen Obst oder sonstige Früchte zu stehlen, so stellen sie Wachen
aus, welche bei der geringsten Gefahr ein Geschrei erheben, worauf die
ganze Schar eiligst die Flucht ergreift, wobei die Mütter ihre Säuglinge
ans dem Rücken tragen. Im Walde selbst zeigen die größeren Arten mehr
Muth, ja die Orang-Utangs und die großen Paviane sollen scharenweise
geradezu die Reisenden angreifen und zwar die ersteren mit Prügeln, mit
denen sie sowohl werfen als schlagen. Ja man behauptet, daß in einigen
Gegenden die Eingebornen sich der Affen bedienen, um die hochhängenden
Kokusnüsse zu bekommen. Sie warten die Zeit ab, wo Affen auf einem
solchen Baume sitzen, und fangen durch Werfen Streit mit denselben an;
sogleich brechen die Affen Nüsse ab und schleudern sie nach den Angreifern,
welche sich weit genug halten, um nicht getroffen zu werden. H<ck bas
Spiel lang genug gedauert, so vertreibt man die Affen durch ernstliche
Mittel und liest nun die Nüsse zusammen. Nach anderen sind die Affen
dazu abgerichtet. In bewohnteren Gegenden sind indessen alle Affenarten
unangenehme Nachbarn theils wegen ihres diebischen Wesens, theils wegen
ihres durchdringenden Geschreies, welches bei einer Art geradezu in Brüllen
übergeht. Das Fleisch von manchen Arten wird zwar gegessen und mag,
weil sie pflanzenfressende Thiere sind, auch ganz wohlschmeckend sein. Allein
es macht einen unangenehmen Eindruck, Thiere von einer menschenähn-
lichen Gestalt gebraten zu sehen. Noch ist von keinem Affen bekannt, daß
er wie Hunde, Pferde und selbst Kanarienvögel alle Befehle seines Herrn
I
vollzogen, die Zeit auf der Uhr erkannt, gezählt und ähnliches verrichtet
hätte. Es scheint, daß die guten Eigenschaften dieser Affenarten nur in
der Jugend hervortreten, dagegen im Alter abnehmen. Der gemeine
türkische Affe (Maget), welcher aus der Barbarei (Nordafrika) kommt und
selbst in Europa bei Gibraltar verwildert lebt, ist nur geschickt zu allerlei
Gaukelkünsten. Nicht nur, daß er auf Kameelen und Bären sitzend durch
seine Grimassen und Neckereien den Haufen der Zuschauer ergötzt, sondern
er läßt sich auch mit Hunden gemeinschaftlich zum Seiltauzen und zu
lächerlichen Komödien abrichten, wobei er menschliche Anzüge trägt. Da
er das europäische Klima am besten erträgt, so ist er seit alten Zeiten
bekannt, und die meisten Streiche, welche von Affen erzählt werden, gelten
eigentlich von ihm. Sein Gesicht hat übrigens sehr wenig Menschliches
und nähert sich schon den hundeartigen Pavianen; auch hat er wie sie
Gesäßschwielen, aber nur einen unmerklichen Schwanz. Die abscheulichsten
unter den Affen sind indessen ohne Zweifel die schon erwähnten Paviane
und unter diesen obenan der Mandril. Seine hochrothe Nase und grell
blauen Backen und sein ähnlich gefärbtes Gesäß stechen gegen die schmutzigen
und verworrenen Haare des Körpers unheimlich ab, und seine dicht bei-
sammen stehenden, heimtückischen Augen verrathen schon, was man von
ihm zu erwarten hat. Dabei besitzt er das Gebiß und die Stärke eines
Wolfes, und die Thierführer haben mit ihm gewöhnlich am meisten zu
schaffen. Selbst der Tiger faßt eher Zutrauen zu seinem Wärter als der
Mandril. Bei den Meerkatzen und den übrigen langschwänzigen Affen ist
der Wickelschwanz das Merkwürdigste, in welchem sie nicht bloß eine ungemeine
Stärke, sondern auch ein feines Gefühl besitzen. Er ist ihnen eine fünfte
Hand, denn sie hängen sich daran fest und schwingen sich von Ast zu Ast.
Ja bei manchen Arten geht dies so weit, daß sich zwei, drei und mehr
Affen mit den Schwänzen an einander hängen und so eine Kette bilden.
Der unterste setzt diese in Schwung, bis er den gewünschten Ast erreicht,
an welchem er sich festhält nnd dann die anderen nachzieht.
An Größe und Körperfülle stehen die anierikanischen Arten dieses
menschenähnlichen Thiergeschlechts den asiatischen und afrikanischen im all-
gemeinen nach. Aber an Rührigkeit, Regsamkeit und Schlauheit thun sie
es wenigstens den letztgenannten zuvor. Während die Asien der alten
Welt zum Theil auf der Erde wohnen, scheinen die amerikanischen vor-
zugsweise auf die dichten Urwälder dieses fruchtbaren Welttheiles an-
gewiesen. Nach Curtnian, Walter und Martins
403. Das Gold.
Das Gold hat wohl mancher noch nicht viel anders gesehen, als an
den vergoldeten Gegenständen in den Kirchen; er weiß aber darum doch
so gut wie ein anderer, daß es gelb aussieht. Es gilt für das edelste
Metall wegen seiner schönen Farbe, seines schönen Glanzes, und weil es
sich mit Leichtigkeit zu jeder Form verarbeiten läßt. Mag es ferner jahre-
lang in der Luft, im Wasser, im Schmutz aller Art liegen, es ändert sich
nicht, verliert weder die Farbe, noch den Glanz, noch den Werth. Ein
einziges Pfund Gold gilt etwa 1200 Mark und ist ungefähr 14mal so
503
theuer als ein Pfund Silber. Daß die Seltenheit seinen Preis erhöht,
läßt sich leicht begreifen; allein es würde doch, wenn es noch so gemein
würde, immer wegen der genannten Eigenschaften einen hohen Werth be-
halten. Es ist sehr schwer, etwas über 19mal so schwer als das Wasser.
Reines Gold ist weicher als Silber, aber härter als Zinn und läßt sich,
ohne einen Ton zu geben, mit dem Messer schneiden. Damit es härter
wird und zu Münzen, zu Schmuck rc. benutzt werden kann, wird es ge-
wöhnlich mit anderen Metallen, insbesondere mit Kupfer oder Silber,
versetzt oder legiert. Daher kommt es, daß man von verschiedenartigem
Golde spricht. Man nennt nämlich eine Mark ('/2 Pfund) reines Gold
eine feine Mark. Diese theilt man in 24 Karat. Man gibt dann
nur den Goldgehalt an. Hat also verarbeitetes Gold z. B. 14 Karat
reines Gold und 10 Karat Zusatz, so nennt man es 14karatig rc. —
Auch durch Hämmern wird es etwas härter, aber nie sehr elastisch. Von
allen festen Körpern ist es der dehnbarste. Man schlägt es zu so dünnen
Blättchen, daß 20,000 zusammen erst die Dicke eines Zolls haben. So
kann man einen Dukaten, der doch nicht viel größer als ein Groschen ist,
so ausdehnen, daß sich ein Reiter sammt dem Pferde damit über-
golden ließe.
In unserm deutschen Vaterlande hat man sonst auch Gold aus dem
Flußsande gewaschen. Es war aber niemals sehr viel darin, und in
manchen Gegenden gehörte schon viel dazu, wenn einer den ganzen Tag
über für einen Groschen Gold herauswaschen wollte. Damals war aber
alles noch so wohlfeil, daß von einem Groschen eine ganze Familie einen
ganzen Tag erhalten werden konnte. Jetzt aber ist das anders, und da
ist es sicherer, sein Brot auf eine andere Art im Schweiße seines An-
gesichts zu essen.
In manchen Gegenden von Afrika, in Südamerika, Kalifornien und
Australien ist das freilich anders. Dort findet man nicht nur Körnlein
Goldes, sondern auch Klümpchen und manchmal große Klumpen. Ich
möchte aber deswegen doch nicht dort sein, wo so viel Gold und Silber
gegraben wird. Denn wenn ich mich auch vor den Schlangen, vor den
wilden Thieren und Menschen nicht fürchte, so ist es doch da, wo am
meisten Gold gefunden wird, öfters so theuer, daß man für ein solches
Stück Brot, das bei uns einen Groschen kostet, wohl dreißig bezahlen
muß; und das haben auch die armen Bergleute erfahren, die vor Jahren
einmal wegen des hohen Lohnes, den sie dort haben sollten, nach Amerika
giengen. Sie konnten ihren Frauen und Kindern gar kein Geld heraus-
schicken, wie sie gehofft hatten, und konnten sich für das viele Gold, das
sie dort bekamen, kaum satt an Brot essen. Auch sind die Leute dort faul
und verschwenderisch und sonst sehr schlimm, sodaß sie bei all ihrem Golde
meistens viel weniger glücklich sind als wir, und öfters auch noch ärmer.
So wurde doch auch der reiche König von Spanien, Philipp II., der fast
alle Jahre ganze Schisse, mit Gold und Silber beladen, aus Südamerika,
das damals sein war, bekommen hatte, am Ende so arm, daß er durch
Geistliche von Hans zu Haus Beisteuern für sich sammeln ließ. Denn
es kommt doch überhaupt nicht auf die vielen Einnahmen, sondern auf
Gottes Segen und auf Fleiß an, wenn man als ehrlicher Mann leben
504
und auskommen will. Ich meinestheils muß wohl sagen, daß mir ein
gutes Gewissen viel tausendmal lieber wäre, als alle Berge in der Welt,
wenn sie von Gold wären.
Bei uns glaubt manchmal auch einer, wenn er beim Pflügen oder
sonst wo ein Stücklein Schwefelkies oder Kupferkies findet, er habe Gold
gefunden. Ein solcher Fund ist aber meistens keinen Pfennig werth, ob-
gleich der Stein fast ebenso gelb aussieht und auch fast so glänzt wie
Gold. Denn es ist nicht alles Gold, was glänzt.^
Da das Gold so vielen Akenscheu das Wünschenswertheste auf der
ganzen Erde schien und oft höher als Gesundheit und Gottseligkeit ge-
schätzt wurde, so fehlte es nicht an Versuchen, sich dasselbe auf thörichten
oder gottlosen Wegen zu verschaffen. Die Einen glaubten, wenn man nur
die rechten Erdarten in einem Tiegel zusammenschmelze und allerlei Zauber-
formeln dabei ausspreche, so werde Gold in dem Tiegel entstehen. Allein
diese Thoren verloren Zeit, Geld und Frömmigkeit; ihr Hab' und Gut
flog oft als Rauch zum Schornstein hinaus. Andere wollten gemünztes
Gold in Töpfen aus der Erde graben. Mit Hülfe eines Schatzgräbers
und einer Wünschelruthe hoffte man den Geistern unter der Erde ihre
verborgenen Schätze abzugewinnen. Doch Mühe und Kosten und die gott-
lose Beschwörung der Geister sind allemal vergeblich gewesen. Durch
Zauberei wird kein Mensch reich, und der Betrug führt selten zu einem
guten Ende. Arbeit und Sparsamkeit füllen das Haus, und Morgen-
stunde hat Gold iM Munde. Schubert.
404. Friedrich Wilhelms IV. Thronbesteigung.
Ich befehle, zwei kostbare Documente der Öffentlichkeit zu übergeben,
welche mir, nach dem Willen meines in Gott ruhenden königlichen Vaters
und Herrn, am Tage seines Heimgangs eingehändigt worden, wovon das
eine bezeichnet ist: „Mein letzter Witte", das andre: „Auf Dich, meinen
lieben Fritz" anfängt, und welche beide von seiner eigenen Hand geschrie-
ben und vom 1. December 1827 datirt sind.
Der Heldenkönig aus unserer großen Zeit ist geschieden und zu seiner
Ruhe, an der Seite der Hcißbeweinten und Unvergeßlichen, eingegangen.
Ich bitte Gott, den Lenker der Herzen, daß er die Liebe des Volkes, die
Friedrich Wilhelm III. in den Tagen der Gefahr getragen, ihm sein Alter
erheitert und die Bitterkeit des Todes versüßt hat, auf mich, seinen Sohn
und Nachfolger, übergehen lasse, der ich mit Gott entschlossen bin, in den
Wegen des Vaters zu wandeln. Mein Volk bete mit mir um Erhaltung
des segensreichen Friedens, des theueren Kleinods, das er uns im Schweiße
seines Angesichtes errungen und mit treuen Vaterhänden gepflegt hat; —
das weiß ich, sollte dies Kleinod je gefährdet werden, was Gott verhüte,
so erhebt sich mein Volk wie ein Mann auf meinen Ruf, wie sein Volk
sich aus seinen Ruf erhob.
Solch ein Volk ist es werth und fähig, königliche Worte zu vernehmen
wie die, welche hier folgen, und wird einsehen, daß ich den Anfang meines
i
505
König Friedrich Wilhelm IV. von Preuße«.
Regimentes durch keinen schöneren Akt, als die Veröffentlichung derselben,
bezeichnen kann.
Sanssouci, den 17. Juni 1840. Friedrich Wilhelm.
I. Mein letzter Wille.
Meine Zeit mit Unruhe, meine Hoffnung in Gott.
An deinem Segen, Herr, ist alles gelegen! Verleihe mir ihn auch
jetzt zu diesem Geschäfte.
Wenn dieser mein letzter Wille meinen innigst geliebten Kindern,
meiner theueren Auguste und meinen übrigen lieben Angehörigen zu Ge-
sicht kommen wird, bin ich nicht mehr unter ihnen und gehöre zu den Ab-
geschiedenen. Mögen sie dann bei dem Anblick der ihnen wohlbekannten
Inschrift: „Gedenke der Abgeschiedenen" auch meiner liebevoll gedenken.
Gott wolle mir ein barmherziger und gnädiger Richter sein und
meinen Geist aufnehmen, den ich in seine Hände befehle. Ja, Vater, in
deine Hände befehle ich meinen Geist! In einem Jenseits wirst du uns
alle wieder vereinen; möchtest du uns dessen in deiner Gnade würdig
finden um Christi, deines lieben Sohnes, unseres Heilandes willen. Amen.
Schwere und harte Prüfungen habe ich nach Gottes weisem Rath-
schluß zu bestehen gehabt, sowohl in meinen persönlichen Verhältnissen, ins-
besondere als er mir vor 17 Jahren das entriß, das mir das Liebste und
Theuerste war, als auch durch die Ereignisse, die mein geliebtes Vater-
506
land so schwer trafen. Dagegen aber hat mich Gott, — ewiger Dank
sei ihm dafür! — auch herrliche, frohe und wohlthuende Ereignisse erleben
lassen. Unter die ersten rechne ich vor allen die glorreich beendeten Kämpfe
in den Jahren 1813, 14 und 15, denen das Vaterland seine Wiederher-
stellung verdankt. Unter die letzteren, die frohen und wohlthuenden, aber
rechne ich insbesondere die herzliche Liebe und Anhänglichkeit und das
Wohlgelingen meiner geliebten Kinder, so wie die besondere, unerwartete
Schickung Gottes, mir noch in meinem fünften Jahrzehend eine Lebens-
gefährtin zugeführt zu haben, die ich als ein Muster treuer und zärtlicher
Anhänglichkeit öffentlich anzuerkennen mich für verpflichtet halte.
Meinen wahren, aufrichtigen letzten Dank allen, die dem Staate und
mir mit Einsicht und Treue gedient haben!
Meinen wahren und aufrichtigen letzten Dank allen, die mit Liebe,
Treue und ihrer persönlichen Anhänglichkeit mir ergeben waren!
Ich vergebe allen meinen Feinden, auch denen, die durch hämische
Reden, Schriften oder durch absichtlich verunstaltende Darstellungen das
Vertrauen meines Volkes, meines größten Schatzes, doch Gottlob nur
selten mit Erfolg, mir zu entziehen bestrebt gewesen sind.
Berlin, den 1. December 1827. Friedrich Wilhelm.
II.
Auf Dich, meinen lieben Fritz, geht die Bürde der Regierungsgeschäfte
mit der ganzen Schwere ihrer Verantwortlichkeit über. Durch die Stellung,
die ich Dir in Beziehung auf diese angewiesen hatte, bist Du mehr als
mancher andere Thronfolger darauf vorbereitet worden. An Dir ist es nun,
meine gerechten Hoffnungen und die Erwartungen des Vaterlandes zu er-
füllen, — wenigstens darnach zu streben. Deine Grundsätze und Gesinnungen
sind mir Bürgen, daß Du ein Vater Deiner Unterthanen sein wirst.
Hüte Dich jedoch vor der so allgemein um sich greifenden Neuerungs-
sucht, hüte Dich vor unpraktischen Theorien, deren so unzählige jetzt im
Umschwünge sind; hüte Dich aber zugleich vor einer fast eben so schäd-
lichen, zu weit getriebenen Vorliebe für das Alte; denn nur dann, wenn
Du diese beiden Klippen zu vermeiden verstehst, nur dann sind wahrhaft
nützliche Verbesserungen gerathen.
Die Armee ist jetzt in einem seltenen guten Zustande; sie hat seit
ihrer Reorganisation meine Erwartungen wie im Kriege, so auch im Frieden
erfüllt. Möge sie stets ihre hohe Bestimmung vor Augen haben; möge
aber auch das Vaterland nimmer vergessen, was es ihr schuldig ist!
Verabsäume nicht, die Eintracht unter den europäischen Mächten, so
viel in Deinen , Kräften, zu befördern; vor allem aber möge Preußen,
Rußland und Österreich sich nie von einander trennen; ihr Zusammen-
halten ist als der Schlußstein der großen europäischen Allianz zu betrachten.
Meine innig geliebten Kinder berechtigen mich alle zu der Erwartung,
daß ihr stetes Streben dahin gerichtet sein wird, sich durch einen nützlichen,
thätigen, sittlich reinen und gottesfürchtigen Wandel auszuzeichnen; denn
nur dieser bringt Segen, und noch in meinen letzten Stunden soll dieser
Gedanke mir Trost gewähren.
Gott behüte und beschütze das theure Vaterland!
507
Gott behüte und beschütze unser Haus, jetzt und immerdar!
Er segne Dich, mein lieber Sohn, und Deine Regierung und ver-
leihe Dir Kraft und Einsicht dazu, und gebe Dir gewissenhafte, treue
Räthe und Diener und gehorsame Unterthanen! Amen.
Berlin, den 1. December 1827. Friedrich Wilhelm.
405. Heil dir
1. Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, König, dir!
Fühl' in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil, König, dir!
2. Nicht Roß, nicht Reisige
Sichern die steile Höh',
Wo Fürsten stehn;
Liebe des Vaterlands,
Liebe des freien Manns
Gründen des Herrschers Thron
Wie Fels im Meer.
3. Heilige Flamme, glüh',
Glüh' und verlösche nie
Fürs Vaterland!
Wir alle stehen dann
im Siegerkranz.
Muthig für einen Mann,
Kämpfen und bluten gern
Für Thron und Reich.
4. Handlung und Wissenschaft
Heben mit Muth und Kraft
hr Haupt empor,
rieger und Heldenthat
Finden ihr Lorbeerblatt
Treu aufgehoben dort
An deinem Thron.
5. Sei, König Wilhelm, hier
Lang deines Volkes Zier,
Der'Menschheit Stolz!
Fühl' in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil, König, dir!
Schumacher nach Harries.
406. Preußenlied.
1. Ich bin ein Preuße! Kennt ihr meine Farben?
Die Fahne schwebt mir weiß und schwarz voran;
Daß für die Freiheit meine Väter starben,
Das deuten, merkt es, meine Farben an.
Nie werd' ich bang' verzagen,
Wie jene will ich's wagen.
Sei's. trüber Tag, sei's heitrer Sonnenschein,
Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!
2. Mit Lieb' und Treue nah' ich mich dem Throne,
Bon welchem mild zu mir ein Vater spricht;
Und wie der Vater treu mit seinem Sohne,
So steh' ich treu mit ihm und wanke nicht.
Fest sind der Liebe Bande,
Heil meinem Vaterlande!
Des Königs Ruf dringt in das Herz mir ein:
Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!
3. Nicht jeder Tag kann glüh'n im Sonnenlichte,
Ein Wölkchen und ein Schauer kommt zur Zeit.
Drum lese keiner mir es im Gesichte,
Daß nicht der Wünsche jeder mir gedeiht.
Wohl tauschten nah und ferne
Mit mir gar viele gerne;
Ihr Glück ist Trug und ihre Freiheit Schein:
Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!
4. Und wenn der böse Sturm mich wild umsauset,
Die Nacht entbrennet in des Blitzes Glut;
Hat's doch schon ärger in der Welt gebrauset,
Und was nicht bebte, war — des Preußen Muth.
Mag Fels und Eiche splittern,
Ich werde nicht erzittern.
508
Es stürm' und krach', es blitze wild darein:
Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!
5. Wo Lieb' und Treu' sich so dem König weihen,
Wo Fürst und Volk sich reichen so die Hand,
Da muß des Volkes wahres Glück gedeihen,
Da blüht und wächst das schöne Vaterland.
So schwören wir aus's neue
Dem König Lieb' und Treue.
Fest sei der Bund! Ja, schlaget muthig ein!
Wir sind ja Preußen, laßt uns Preußen sein! Thi-rsch.
407. Vom Nutzen und Anbau der Obstbäume.
Unsere Obstbäume sind ursprünglich wildwachsende Bäume gewesen
und haben erst durch Anbau und Veredlung die Fähigkeit erlangt, die
schönen und wohlschmeckenden Früchte hervorzubringen, welche alljährlich
unsere Hand von ihren Zweigen pflückt. Und wie unter den Hausthieren
sich nach und nach zahlreiche neue Rassen gebildet haben, so ist unter der
Pflege des Menschen auch eine Menge von Obstarten entstanden, und
von Jahr zu Jahr entstehen neue.
Der Anbau von Obstbäumen wird in manchen Gegenden noch viel
zu sehr vernachlässigt. Jedermann hält zwar Äpfel und Pflaumen für
eine köstliche Speise; viele kaufen aber diese Früchte lieber um theuren
Preis oder entbehren sie ganz, als daß sie dieselben auf eigenem Grund
und Boden ziehen. Wenn durch diese Thätigkeit bedeutende Kosten ver-
ursacht und viel Zeit und Mühe in Anspruch genommen würde, so ließe
sich das begreifen. Aber die Obstbaumzucht fordert wenig Anstrengung
und ist eher eine angenehme Unterhaltung, als eine Arbeit. Jeder
Grundbesitzer sollte es sich deshalb angelegen sein lassen, um seine Woh-
nung her wenigsteus eine kleine Zahl von Obstbäumen anzupflanzen.
Im Frühling erfreuen sie uns durch ihre lieblichen Blüten, im Herbst
beschenken sie uns mit der Fülle ihrer werthvollen Früchte. Ja, wenn
wir längst nicht mehr unter den Lebenden sind, werden unsere Nachkommen
jedes Jahr der fürsorglichen Hände gedenken, welche einst die jungen
Stämme in den Boden eingesetzt haben.
Das Steinobst gedeiht am besten ans hochliegenden Stellen und
in einem mit Sand gemischten Erdreiche; das Kernobst kann auch an
niedriger gelegenen Stellen und auf festerem Erdboden wachsen, wenn
derselbe nur tief genug und nicht zu mager ist. Dünger vertragen die
Obstbäume wohl; derselbe darf aber nie dicht um die Wurzeln angebracht
werden, vielmehr muß man ihn in einiger Entfernung von dem Baume
ausbreiten. Namentlich ist darauf zu achten, daß er nicht im frischen
Zustande zur Verwendung komme.
Wer sich aus einem Baumgarten oder einer Baumschule junge
Obslbäume verschaffen kann, der braucht dieselben nur zeitig im Frühling
oder spät im Herbste so einzupflanzen, daß für jeden der nöthige Raum
bleibt. Dabei hat er zu beachten, daß der Baum eben so tief in die
Erde kommen muß, wie er in der Baumschule stand. Schon beim
Pflanzen muß man an der Westseite dicht am Stamme einen Pfahl ein-
schlagen, an welchem derselbe festgebunden wird. Der Baum wächst dann
509
empor und trägt Früchte, ohne daß eine weitere Pflege nöthig wäre, als
daß man alle Schößlinge, welche unterhalb der Krone aus dem Stamm
hervorkommen, sorgfältig abschneidet und im ersten Frühling alle Zweige
wegnimmt, welche quer in die Krone hinein wachsen wollen. So" lange
der Baum klein ist, soll die Krone nicht mehr als 3 bis 4 Hauptzweige
haben. Diese schneidet man später an ihrem obern Ende so weit ab,
daß an jedem so viel Augen oder Knospen übrig bleiben, als man will,
daß kleinere Zweige daraus hervorwachsen sollen. Auch müssen die
Wurzeln vom Rasen frei gehalten und ihre Ausläufer entfernt werden.^
— Kann mau sich dagegen keine jungen Bäumchen verschaffen, so ist es^
sehr leicht, dieselben aus Kernen zn ziehen. Man sammelt zu diesem
Zwecke Kerne von guten Obstsorten und wählt diejenigen aus, welche am
vollsten und dunkelsten sind. Diese bewahrt man in feuchtem Sande auf,
bis sie ausgesäet werden sollen, was am besten im Herbste geschieht.
Wer eine größere Menge Bäume ziehen will, säet die Kerne in ein
Gartenbeet und versetzt dann die jungen Stämmchen reihenweise in die
Baumschule. Die Hauptthättgkeit, die in einer solchen vollzogen werden
muß, besteht in „den verschiedenen Arten der Veredlung, welche nur durch
Anleitung und Übung erlernt werden können. Die Natur."
408.
Bei einem Wirte, wundermild,
Da war ich jüngst zu Gaste;
Ein goldner Apfel war sein Schild
An einem langen Aste.
Es war der gute Apfelbaum,
Bei dem ich eingekehret;
Mit süßer Kost und frischem Schaum
Hat er mich wohlgenahret.
Es kamen in sein grünes Haus
Viel leichtbeschwingte Gäste;
Einkehr.
Sie sprangen frei und hielten Schmaus
Und sangen auf das beste.
Ich fand ein Bett zu süßer Ruh
Auf weichen grünen Matten;
Der Wirt, er deckte selbst mich zu
Mit seinem kühlen Schatten.
Nun fragt' ich nach der Schuldigkeit,
Da schüttelt er den Wipfel.
Gesegnet sei er alle Zeit
Von der Wurzel bis zum Gipfel!
Uhland.
409. Der Brand von Hamburg.
Es war Donnerstag den fünften Mai 1842, am Christi-Himmel-
fahrts-Tage, eine Stunde nach Mitternacht, als die Feuerglocken in
der alten Hansestadt erschallten. Es brannte im Nicolai - Kirch-
spiele, in der Deichgasse. Ein unglückseliges Yorurtheil, als wären
die Löschanstalten von Hamburg die besten der Welt, machte,
dass die Bürger ruhig weiter schlummerten oder gar das Feuer-
zeichen als einen unnützen Lärm betrachteten. Diese blinde Zu-
versicht liess die Bewohner von Hamburg selbst da noch nicht an
die furchtbare Grösse des nahenden Unglücks glauben, als wenige
Stunden nach dem Ausbruche des Feuers ein Südwestwind sich
erhob und die Flammen an einen Speicher trieb, in welchem sich
mehrere hundert Kisten Harz befanden. Bald wurden auch einige
andere, mit Steinkohlen und Steinkohlentheer angefüllte Gebäude
von demselben ergriffen. Doch als die Gluten noch weiter und
weiter sich verbreiteten, schwand endlich die thörichte Sicherheit,
und man suchte mit aller Kraft sich dem verderblichen Elemente
510
entgegen zu stellen. Aber schon war der Mensch der Macht des-
selben nicht mehr gewachsen. Das Feuer loderte bereits in ver-
schiedenen Strassen und an verschiedenen Stellen auf; Öl und
Spiritus floss bereits in die Kanäle und gab der Flamme neue
Nahrung. Gegen Mittag näherten sich die Flammenwogen der
Nicolaikirche. Der Himmel war mit finstern Rauchwolken bedeckt.
Die Bevölkerung von Hamburg drängte sich auf den Strassen, um
Hülfe zu leisten oder sich von der Grösse des Unglücks zu über-
zeugen; in entgegengesetzter Richtung flüchteten die armen Abge-
brannten, belastet mit der wenigen Habe, die sie gerettet hatten.
Dazwischen rasselten Kanonen und Geschützwagen; denn bei der
Nutzlosigkeit alles Löschens hatte man sich zur Sprengung und
zum Nieder schiessen der Häuser entschlossen.
Um ein Uhr stieg an der Spitze des hoch über alle andere
Gebäude ragenden Nicolaiturmes der erste Rauch auf, dem bald
die helle Flamme folgte. Das furchtbarste Entsetzen erfasste jetzt
jede Menschenbrust. Alle Hoffnung war dahin; grenzenlose Ver-
wirrung herrschte überall; der Einsturz des Turmes konnte das
Leben von Tausenden vernichten und die Flammen über die ganze
Stadt hinausschleudern. Um drei Uhr brannte der ganze Turm.
Sein Glockenspiel, von der Hitze in Bewegung gesetzt, schrillte in
entsetzlichen Tönen auf die starrende Menge nieder; das geschmol-
zene Kupfer des Daches floss an den Mauern herab. Gegen fünf
Uhr wankte die Spitze und wenige Augenblicke nachher stürzte
der Turm nach der Seite des Kirchhofs nieder. Unergründet
wird es bleiben, wie viele Menschen unter seinem Sturze begraben
wurden. Das feste Mauerwerk der Kirche war nun der Krater,
aus dem sich die Gluten von geschmolzenem" Glockenguss, Eisen,
Kupfer und Blei ergossen. Nicht Funken wirbelten mehr zur Höhe
hinauf; gewaltige Feuerballen flogen durch die Lüfte und zündeten
in den fernen Strassen. Der Abend nahte, aber es blieb leuchtende
Tageshelle, und man konnte den Brand nicht mehr nach Häusern,
sondern nur nach Strassen berechnen. In der Nacht vom 6. auf
den 7. Mai wogte das Feuer bereits in der Nähe der Petrikirche.
Um neun Uhr flammte auch dieser herrliche Turm empor und
läutete sich selber das Sterbelied durch sein Glockenspiel: „Allein
Gott in der Höh’ sei Ehr’!“ Die herrliche Pyramide des Turmes
löste sich ab und schlug, nach unten gekehrt, in die Erde, zwölf
Fuss tief.
Menschenkraft war zur Ohnmacht geworden; nur Gott allein
konnte noch helfen. Und er half. Ein mächtiger Regen, der
drei Stunden anhielt, endete das Vordringen der Flammen und
gab den Verzagenden neuen Muth, das furchtbare Element zu be-
kämpfen. Erst am Sonntag-Morgen war man vollends Herr des
Feuers geworden.
Die Verheerung dieses Brandes erstreckte sich ungefähr über
den dritten Theil der Stadt. Ohne Obdach waren mehr als
einundzwanzigtausend Menschen. In der Feuersbrunst
511
kamen mehr als sechzig Personen um; verwundet wurden hundert-
undsieben.
Die Kunde eines so ungeheuren Unglücks weckte aber auch
allgemeine Theilnahme. Nicht bloss augenblickliche Hülfe mit
Lebensrnitteln und Kleidungsstücken wurde geleistet, sondern eine
Summe von mehr als zwei Millionen Thalern aus allen Gegenden
Deutschlands und Europa’s, ja aus Amerika, zusammengesteuert,
um die Noth der Bedrängten zu lindern und den baldigen Aufbau
der eingeäscherten Strassen möglich zu machen. — So öffnet
grosses Unglück die Herzen der Menschen der Bruderliebe.
Curtman.
410. Das Lied von der Glocke.
Vivo« vJbr. Mortuos plango. Fulgura frango.
(Die Lebenden rufe ich; die Todten beklag' ich; die Wetter verjag' ich.)
Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden!
Frisch, Gesellen! seid zur Hand!
Von der Stirne heiß
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben;
Doch der Segen kommt von oben.
Zum Werke, das wir ernst bereiten,
Geziemt sich wohl ein ernstes Wort;
Wenn gute Reden sie begleiten,
Dann fließt die Arbeit niunter fort.
So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten,
Was durch die schwache Kraft entspringt;
Den schlechten Mann muß man verachten,
Der nie bedacht, was er vollbringt.
Das ist's ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Daß er im innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.
Nehmet Holz vom Fichtenstamme,
Doch recht trocken laßt es sein,
Daß die eingepreßte Flamme
Schlage zu dem Schwalch hinein!
Kocht des Kupfers Brei,
Schnell das Zinn herbei,
Daß die zähe Glockenspeise
Fließe nach der rechten Weise!
Was in des Dammes tiefer Grube
Die Hand mit Feuers Hülfe baut,
Hoch auf des Turmes Glockenstube,
Da wird es von uns zeugen laut.
Noch dauern wird's in späten Tagen
Und rühren vieler Menschen Ohr
Und wird mit dem Betrübten klagen
Und stimme» zu der Andacht Chor.
Was unten tief dem Erdensohne
Das wechselnde Verhängnis bringt,
Das schlägt an die metällne Krone,
Die es erbaulich weiter klingt.
Weiße Blasen seh' ich springen;
Wohl! die Massen sind im Fluß,
Laßt's mit Aschensalz durchdringcn,
Das befördert schnell den Guß.
Auch vom Schaume rein
Muß die Mischung sein,
Daß vom reinlichen Metalle
Rein und voll die Stimme schalle.
Denn mit der Freude Feierklange
Begrüßt sie das geliebte Kind
Aus seines Lebens erstem Gange,
Den es in Schlafes Arm beginnt.
Ihm ruhen noch im Zeitenschoße
Die schwarzen und die heitern Lose;
Ter Mutterliebe zarte Sorgen
Bewachen seinen goldncn Morgen.
Die Jahre fliehen pfeilgeschwind.
Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe,
Er stürmt ins Leben wild hinaus,
j Durchmißt die Welt am Wanderstabe,
| Fremd kehrt er heim ins Vaterhaus.
| Und herrlich in der Jugend Prangen,
j Wie ei» Gebild aus Himmels Höh'n,
Mit züchtigen, verschämten Wangen,
Sieht er die Jungfrau vor sich stehn.
Da faßt ein namenloses Sehnen
Des Jünglings Herz, er irrt allein,
Aus seinen Augen brechen Thränen,
Er flieht der Brüder wilden Rcih'n.
Errötheud folgt er ihren Spuren
| Und ist von ihrem Gruß beglückt,
Das Schönste sucht er auf den Fluren,
Womit er seine Liebe schmückt.
O zarte Sehnsucht! Süßes Hoffen!
Der ersten Liebe goldne Zeit!
> Das Auge sieht den Himmel offen,
Es schwelgt das Herz in Seligkeit;
| O daß sie ewig grünen bliebe,
Die schöne Zeit der jungen Liebe!
Wie sich schon die Pfeifen bräunen!
! Dieses Stäbchen tauch' ich ein:
Seh'n wir's überglast erscheinen,
Wird's zum Gusse zeitig sein.
512
Jetzt, Gesellen! frisch!
Prüft mir das Gemisch,
Ob das Spröde mit dem Weichen
Sich vereint zum guten Zeichen!
Denn wo das Strenge mit dem Zarten,
Wo Starkes sich und Mildes paarten,
Da gibt es einen guten Klang.
Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
Ob sich das Herz zum Herzen findet!
Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.
Lieblich in der Bräute Locken
Spielt der jungfräuliche Kranz,
Wenn die hellen Kirchenglocken
Laden zu des Festes Glanz.
Ach, des Lebens schönste Feier
Endigt auch den Lebensmai,
Mit dem Gürtel, mit dem Schleier
Reißt der schöne Wahn entzwei.
Die Leidenschaft flieht,
Die Liebe muß bleiben;
Die Blume verblüht,
Die Frucht muß treiben.
Der Mann muß hinaus
Ins feindliche Leben,
Muß wirken und streben
Und pflanzen und schaffen,
Erlisten, erraffen,
Muß wetten und wagen,
Das Glück zu erjagen.
Da strömet herbei die unendliche Gabe,
Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Habe,
Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus.
Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder,
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise
Und lehret die Mädchen
Und wehret den Knaben
Und reget ohn' Ende
Die fleißigen Hände
Und mehrt den Gewinn
Mit ordnendem Sinn
Und füllet mit Schätzen die duftenden Laden
Und dreht um die schnurrende Spindel den
Faden ~
Und sammelt im reinlich geglätteten Schrein
Die schimmernde Wolle, den schneeigen Lein
Und füget zum Guten den Glanz und den
Schimmer
Und ruhet nimmer.
Und der Vater mit frohem Blick
Von des Hauses weitschauendem Giebel
Überzählet sein blühend Glück,
Siehet der Pfosten ragende Bäume
Und der Scheunen gefüllte Räume
Und die Speicher, vom Segen gebogen,
Und des Kornes bewegte Wogen,
Rühmt sich mit stolzem Mund:
Fest wie der Erde Grund
Gegen des Unglücks Macht
Steht mir des Hauses Pracht!
Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew'ger Bund zu flechten,
Und das Unglück schreitet schnell.
Wohl! nun kann der Guß beginnen,
Schön gezacket ist der Bruch.
Doch bevor wir's lassen rinnen,
Betet einen frommen Spruch!
Stoßt den Zapfen aus!
Gott bewahr' das Haus!
Rauchend in des Henkels Bogen
Schießt's mit feuerbraunen Wogen.
Wohlthätig ist des Feuers Macht,
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht,
Und was er bildet, was er schafft,
Das dankt er dieser Himmelskraft;
Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eignen Spur,
Die freie Tochter der Natur.
Wehe, wenn sie, losgelassen,
Wachsend ohne Widerstand,
Durch die volkbelebten Gassen
Wälzt den ungeheuren Brand!
Denn die Elemente hassen
Das Gebild der Menschenhand.
Aus der Wolke
Quillt der Segen,
Strömt der Regen;
Aus der Wolke, ohne Wahl,
Zuckt der Strahl!
Hört ihr's wimmern hoch vom Turm?
Das ist Sturm!
Roth wie Blut
Ist der Himmel;
Das ist nicht des Tages Glut!
Welch Getümmel
Straßen auf!
Dampf wallt auf!
Flackernd steigt die Feuersäule;
Durch der Straßen lange Zeile
Wächst es fort mit Windeseile;
Kochend, wie aus Ofens Rachen,
Glühn die Lüste, Balken krachen,
Pfosten stürzen, Fenster klirren,
Kinder jammern, Mütter irren,
. Thiere wimmern
Unter Trümmern;
Alles rennet, rettet, flüchtet,
Taghell ist die Nacht gelichtet.
Durch der Hände lange Kette
Um die Wette
Fliegt der Eimer; hoch im Bogen
Spritzen Quellen Wasscrwogem
Heulend kommt der Sturm geflogen,
Der die Flamme brausend sucht;
Prasselnd in die dürre Frucht
Fällt sie, in des Speichers Räume,
I In der Sparren dürre Bäume,
513
Und als wollte sie im Wehen
Mit sich fort der Erde Wucht
Reißen in gewalt'ger Flucht,
Wächst sie in des Himmels Höhen
Riesengroß.
Hoffnungslos
Weicht der Mensch der Götterstärke;
Müßig sieht er seine Werke
Und bewundernd untergehn.
Leergebrannt
Ist die Stätte,
Wilder Stürme rauhes Bette.
In den öden Fensterhöhlen
Wohnt das Grauen,
Und des Himmels Wolken schauen
Hoch hinein.
Einen Blick
Nach dem Grabe
Seiner Habe
Sendet noch der Mensch zurück —
Greift fröhlich dann zum Wanderstabe.
Was Feuers Wuth ihm auch geraubt,
Ein süßer Trost ist ihm geblieben:
Er zählt die Häupter seiner Lieben,
Und sieh ! ihm fehlt kein theures Haupt.
In die Erd' ist's aufgenommen,
Glücklich ist die Form gefüllt;
Wird's auch schön zu Tage kommen,
Daß es Fleiß und Kunst vergilt?
Wenn der Guß mißlang?
Wenn die Form zersprang?
Ach, vielleicht, indem wir hoffen,
Hat uns Unheil schon getroffen.
Dem dunkeln Schoß der heil'gen Erde
Vertrauen wir der Hände That,
Vertraut der Sämann seine Saat
Und hofft, daß sie entkeimen werde
Zum Segen, nach des Himmels Rath.
Noch köstlicheren Samen bergen
Wir trauernd in der Erde Schoß
Und hoffen, daß er aus den Särgen
Erblühen soll zu schönerm Los.
Von dem Dome,
Schwer und bang,
Tönt die Glocke
Grabgesang.
Ernst begleiten ihre Trauerschläge
Einen Wandrer aus dem letzten Wege.
Ach, die Gattin ist's, die theure,
Ach, es ist die treue Mutter,
Tie der schwarze Fürst der Schatten
Wegführt aus dem Arm des Gatten,
Aus der zarten Kinder Schar,
Die sie blühend ihm gebar,
Die sie an der treuen Brust
Wachsen sah mit Mutterlust. —
Ach, des Hauses zarte Bande
Sind gelöst aus immerdar;
Denn sie wohnt im Schattenlande,
Die des Hauses Mutter war;
Denn es fehlt ihr treues Walten,
Ihre Sorge wacht nicht mehr;
An verwaister Stelle schalten
Wird die Fremde liebeleer.
Bis die Glocke sich verkühlet,
Laßt die strenge Arbeit ruhn!
Wie im Laub der Vogel spielet,
Mag sich jeder gütlich thun.
Winkt der Sterne Licht,
Ledig aller Pflicht
Hört der Bursch die Vesper schlagen;
Meister muß sich immer plagen.
Munter fördert seine Schritte
Fern im wilden Forst der Wandrer
Nach der lieben Heimathütte.
Blöckend ziehen heim die Schafe,
Und der Rinder
Breitgestirnte, glatte Scharen
Kommen brüllend
Die gewohnten Ställe füllend.
Schwer herein
Schwankt der Wagen
Kornbeladen;
Bunt von Farben,
Auf den Garben
Liegt der Kranz,
Und das junge Volk der Schnitter
Fliegt zum Tanz.
Markt und Straße werden stiller;
Um des Lichts gesell'ge Flamme
Sammeln sich die Hausbewohner,
Und das Stadtthor schließt sich knarrend.
Schwarz bedecket
Sich die Erde;
Doch den sichern Bürger schrecket
Nicht die Nacht,
Die den Bösen gräßlich wecket.
Denn das Auge des Gesetzes wacht.
Heil'ge Ordnung, segensreiche
Himmelstochter, die das Gleiche
Frei und leicht und freudig bindet,
Die der Städte Bau gegründet,
Die herein von den Gefilden
Ries den ungesell'gen Wilden,
Eintrat in der. Menschen Hütten,
Sic gewöhnt zu sausten Sitten
Und das theuerste der Bande
Wob, den Trieb zum Baterlande.
Tausend fleiß'ge Hände regen,
Helfen sich in munterm Bund,
Und in feurigem Bewegen
Werden alle Kräfte kund.
Meister rührt sich und Geselle
In der Freiheit heil'gem Schutz;
Jeder freut sich seiner Stelle,
Bietet dem Verächter Trutz.
Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der Mühe Preis:
Ehrt den König seine Würde,
Ehret uns der Hände Fleiß.
33
514
tolder Friede!
e Eintracht!
Weilet, weilet
Freundlich über dieser Stadt!
Möge nie der Tag erscheinen,
Wo des rauhen Krieges Horden
Dieses fülle Thal durchtoben;
Wo der Himmel,
Den des Abends sanfte Nöthe
Lieblich malt,
Bon der Dörser, von der Städte
Wildem Brande schrecklich strahlt!
Nun zerbrecht mir das Gebäude,
Seine Absicht hat's erfüllt,
Daß sich Herz und Auge weide
An dem wohlgelungnen Bild.
Schwingt den Hammer, schwingt,
Bis der Mantel springt!
Wenn die Glock' soll auferstehen,
Muß die Form in Stücken gehen.
Der Meister kann die Form zerbrechen
Mit weiser Hand, zur rechten Zeit;
Doch wehe, wenn in Flammenbächen
Das glüh'nde Erz sich selbst befreit!
Blind wüthend mit des Donners Krachen
Zersprengt es das geborstne Haus,
Und wie aus offnem Höllenrachen
Speit es Verderben zündend aus.
Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten;
Wenn sich die Völker selbst befrei'u,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.
Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte
Der Feuerzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhülfe schrecklich greift!
Da zerret an der Glocke Strängen
Der Aufruhr, daß sie heulend schallt,
Und, nur geweiht zu Friedensklängen,
Die Losung anstimmt zur Gewalt.
Freiheit und Gleichheit! hört man
schallen;
Der ruh'ge Bürger greift zur Wehr,
Die Straßen füllen sich, die Hallen,
Und Würgerbanden zieh» umher.
Da werden Weiber zu Hyänen
Und treiben mit Entsetzen Scherz:
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreißen sie des Feindes Herz.
Nichts Heiliges ist mehr, es lösen
Sich alle Bande frommer Scheu;
Der Gute räumt den Platz dem Bösen,
Und alle Laster walten frei.
k Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,
I Verderblich ist des Tigers Zahn;
edoch der schrecklichste der Schrecken,
as ist der Mensch in seinem Wahn.
Weh denen, die dem Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackcl leihn!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt' und Länder ein.
Freude hat mir Gott gegeben!
Sehet! wie ein gold'ner Stern,
Aus der Hülse, blank und eben,
Schält sich der metallne Kern.
Von dem Helm zum Kranz
Spiclt's wie Sonnenglauz,
Auch des Wappens nette Schilder
Loben den erfahrnen Bilder.
Herein! herein
Gesellen alle! Schließt den Reihen,
Daß wir die Glocke taufend weihen!
Concordia soll ihr Name sein.
Zur Eintracht, zu herzinnigem Vereine
Versammle sie die liebende Gemeine.
Und dies sei fortan ihr Beruf,
I Wozu der Meister sie erschuf!
Hoch überm niedern Erdeuleben
Soll sie im blauen Himmelszelt,
Die Nachbarin des Donners, schweben
Und grenzen an die Sternenwelt,
Soll eine Stimme sein von oben
Wie der Gestirne helle Schar,
Die ihren Schöpfer wandelnd loben
Und führen das bekränzte Jahr.
Nur ewigen und ernsten Dingen
Sei ihr metallner Mund geweiht,
Und stündlich mit den schnellen Schwingen
| Berühr' int Fluge sie die Zeit.
: Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
S e l b st herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwünge
Des Lebens wechselvolles Spiel.
Und wie der Klang im Ohr vergehet,
Der mächtig tönend ihr entschallt,
So lehre sie, daß nichts bestehet,
Daß alles Irdische verhallt.
Jetzo mit der Kraft des Stranges
Wiegt die Glock' mir aus der Gruft,
Daß sie in das Reich des Klanges
Steige, in die Himmelslust!
Ziehet, ziehet, hebt!
Sie bewegt sich, schwebt!
Freude dieser Stadt bedeute,
Friede sei ihr erst Geläute!
Fr. v. Schiller.
411. Die Feuerspritze.
An einer Feuerspritze bemerkt man 1) in der Mitte den Windkessel (A);
2) zu beiden Seiten desselben zwei aufrecht stehende metallene Stiefel (B B),
die mit ihrem unteren, offenen Ende im Wasser des Spritzenkastens
515
stehen; 3) in den Stiefeln zwei genau anschließende Kolben (06) mit ihren
Kolbenstangen, welche oben mit einer Stange zum Drücken, einem Druck-
hebel, verbunden sind; 4) unten in jedem Stiefel ein Ventil (DD), welches sich
aufwärts öffnet; 5) Seitenröhren (EE), durch welche unten jeder Stiefel mit
dem Windkessel verbunden ist, und an jeder dieser Röhren ein Ventil (EE),
welches sich in den Windkessel hinein öffnet; 6) ein Rohr (6), welches von
oben her in den Windkessel hineingeht, dicht über dem Boden desselben
mündet und am andern Ende durch einen Hahn verschlossen werden kann;
7) einen langen Schlauch, den man an das Rohr schrauben kann.
Das Wasser wird in den Spritzenkasten gegossen; die Spritzenleute
stehen an den beiden Enden des Druckhebels und setzen diesen in Be-
wegung, wodurch die Kolben in den Stiefeln wechselweise gehoben und
niedergedrückt werden. Wird der Kolben gehoben, so wird die Luft int
Stiefel verdünnt, und von unten dringt das Wasser in denselben hinein;
wird er niedergedrückt, so drückt er das Wasser in den Windkessel. In
den Spritzenkasten zurück kaun es nicht, weil das Ventil sich schließt.
Aus dem Windkessel kann es aus demselben Grunde nicht zurück. Es tritt
in das Rohr; da dieses aber durch den Hahn noch geschlossen ist, so kann
das Wasser nicht entweichen und drückt die Luft in dem Windkessel sehr
zusammen. Bald aber wird der Hahn geöffnet; nun dringt das Wasser
in den Schlauch, und ein langer Wasserstrahl schießt aus demselben
hervor. So lange die Spritzenleute in Arbeit bleiben und hinreichend
Wasser zugetragen wird, so lange bleibt auch der Wasserstrahl.
Es gibt auch Spritzen, die so eingerichtet sind, daß das Wasser-
tragen unnöthig ist. Ihre Stiefelöffnung nämlich kann unten durch einen
Schlauch mit einem Teiche oder Wassergraben in Verbindung gebracht
werden. Crüger.
412. Eine Ansiedelung im fernen Westen.
Folgen wir einem unserer deutschen Landsleute auf seiner Reise
nach Amerika. Der Auswanderer hat etwa bei Newyork den Boden der
33*
vereinigten Staaten betreten. Eisenbahnen und Dampfschiffe bringen ihn
nach Missouri, Wisconsin oder in einen andern Staat, in dem er sich
eine neue Heimat zu gründen gedenkt. An die Stelle der schnellen
Fahrzeuge tritt endlich ein einfacher, höchstens mit zwei Pferden bespannter
Karren. An Straßen ist nicht mehr zu denken; nur die im Wege
stehenden Bäume sind niedergehauen, die tiefsten Sümpfe mit Erde aus-
gefüllt worden. Auch an Gasthäusern fehlt es; doch findet der Ankömm-
ling in der Regel für Geld und gute Worte auf einer schon eingerich-
teten Farm ein Nachtquartier. Vielleicht bietet sich Gelegenheit zum An-
käufe einer solchen Besitzung; im andern Falle sucht sich unser Lands-
mann eine passende Stelle zur Niederlassung aus und kauft der Regie-
rung für einen billigen Preis die Grundfläche ab, die er urbar zu machen
gedenkt.
Das erste Geschäft des neuen Ankömmlings ist die Errichtung eines
Blockhauses, bei dem ihm seine nächsten Nachbarn bereitwilligst Bei-
stand leisten. Denn Bäume von festem Holze werden gefällt und in
gleich lange Stücke gehauen. Vier starke Stämme werden in ein Rechteck
gelegt und an ihren übereinander stehenden Enden fest zusammengefügt.
Auf dieser ersten Grundlage des Hauses erhebt sich darauf in gleicher
Weise eine Lage nach der andern. Um den dadurch eingeschlossenen vier-
eckigen^ Raum zugänglich zu machen, haut man aus der einen Seitenwand
eine Öffnung für die Thür aus. Eine zweite Öffnung ist für das aus
Lehm aufzuführende Kamin bestimmt. Fenster läßt man ganz fehlen; das
Dach wird aus dicken, unförmlichen Brettern errichtet, die nach Schweizer-
art mit Steinblöcken beschwert werden, damit der Wind sie nicht weg-
führe. Ein Hofraum wird vermittelst starker, in die Erde gerammter
Pfähle, die weder Kühe noch Pferde überspringen können, eingefriedigt.
Dasselbe geschieht später auch mit den Feldern. Mit diesen Geschäften
hat nun bereits auch schon die Urbarmachung des Waldes begonnen, dem
alles erforderliche Holz entnommen worden ist. Die weitere Ausrodung
desselben ist eine sehr beschwerliche Arbeit, die Jahre lang, meist im
Herbste, fortgesetzt wird. Die jungen Bäume werden einen Fuß über
der Erdoberfläche abgehauen, die stärkeren aber dadurch getödtet, daß mit
der Axt Ringe in die Rinde geschlagen werden. Sind sie nach kurzer
Zeit abgestorben, so wirft sie der Wind zu Boden. Die Wurzeln der
Sträucher und Stauden werden ausgehackt, auf Haufen gebracht und wie
alles andere nicht nutzbare Holz verbrannt; die Baumstümpfe müssen
jedoch in der Erde bleiben, in der sie erst nach sechs bis zehn Jahren
verfaulen. Darum ist auch die Bearbeitung des eingehegten Landes mit
dem Pfluge höchst beschwerlich. Letzterer hat keine Räder, damit er über
die Hindernisse leicht hinweggehoben werden könne.
Nur der nothdürftigste Hausrath wird in dem Blockhause ausgestellt:
eine einfache Bank und ein Tisch, die nöthigen Bettstellen, statt der Kisten
und Kasten einige unten mit Brettern vernagelte Stücke eines hohlen
Baumes zur Aufbewahrung von Mehl, Salz u. dgl. Über dem Herde
sind Teller und Kochgeschirre aufgestellt; die Wäsche findet neben Büchse
und Pulverhorn an der Wand ihre Stelle. Erst nach einiger Zeit werden
517 -
ein Paar Hirschschinken im Rauchfange sichtbar. Ist die Einrichtung
so weit fortgeschritten, so wird bereits an den Aufbau eines Stalles für
den ersten Viehstand und eines andern Gebäudes gedacht, welches bestimmt
ist, den Ertrag der ersten Weizen- oder Maisernte in sich aufzunehmen.
Ist derselbe auf dem fernen Markte zu Gelde gemacht, so kann die Er-
richtung eines zweiten, wohnlicheren Blockhauses begonnen werden, für
welches man nun auch schon bessere Möbel herzustellen sucht. Ein fest-
gestampfter Platz dient zur Tenne; das Getreide wird meist dadurch aus
den Ähren geschafft, daß man die aufgebundenen und ausgebreiteten
Garben so lange überreitet, bis die Körner ausgefallen sind. Die Reini-
gung des Weizens geschieht dadurch, daß man denselben durch ein hoch-
stehendes Sieb laufen läßt, während man von der Seite her vermittelst
einer wollenen Decke möglichst viel Wind macht, um Spreu und Staub
davon zu jagen. Überhaupt aber ist der Hinterwäldler, wie man den
Ansiedler im fernen Westen zu nennen pflegt, fast in allen Beschäfti-
gungen auf sich selbst angewiesen; er ist Jäger, Fleischer und Gerber,
Schuhmacher und Schneider, Tischler und Zimmermann in einer Person.
Hat er ein Stück Wild erlegt, so zieht er die Haut ab und gerbt sie auf
indianische Weise, indem er sie nach Einweichung im Wasser in einer
durch zerkochtes Hirschhirn zubereiteten Brühe so lange knetet, bis sie von
dieser Masse ganz durchdrungen ist. Darauf wird sie auf einem scharfen
Brette gerieben und auseinander gezogen, bis sie trocken, weiß und sammet-
weich wird. Um sie in dieser Geschmeidigkeit zu erhalten, wird sie sogar
geräuchert, indem sie über ein schwaches Feuer gehängt wird, von dem
ein durch faules Holz unterhaltener dicker Rauch aufsteigt. Dadurch be-
kommen die Felle eine braungelbe Farbe und einen eigenthümlichen Ge-
ruch; Wasser und Sonne können ihnen fernerhin nichts mehr anhaben.
Aus solchem Leder verfertigt sich jeder Farmer seine Schuhe und Strümpfe
und sein Jagdkleid selbst. Ebenso erlangt jeder im Gebrauche der Axt
zu den verschiedensten Zwecken eine große Geschicklichkeit. Wie erfinderisch
die Noth den Menschen macht, zeigt sich ferner auch beim Schlachten der
Schweine, deren Fett unentbehrlich ist. Dieselben werden, oft bis zu 12
oder 16 Stück, in einen durch ein Gehege umschlossenen Raum, eine so-
genannte Fenz, getrieben und darin erschossen. Ist kein Kessel zum
Abbrühen vorhanden, so wird ein Faß ohne Deckel etwas schräge halb
in die Erde gegraben und mit Wasser gefüllt, und dieses dann durch
im Feuer glühend gemachte Steine erhitzt; darauf wird ein Schwein
nach dem andern hineingetaucht und durch viele Hände rasch von den
Borsten befreit. Aus Baumstämmen sind vorher mehrere Tröge aus-
gehöhlt worden. In diesen werden die zerlegten Schweine eingesalzen
und in dem Rauchhause aufgestellt; einer aber dient zur Aufbewahrung
des ausgelassenen Fettes. Dabei pflegen die Nachbarn einander hülfreich
zur Hand zu gehen. Den Tag beschließt eine festliche Mahlzeit, wie
denn überhaupt der oft zwei und mehr Meilen von jeder menschlichen
Wohnung entfernt wohnende Hinterwäldler die Gelegenheit zu geselligen
Zusammenkünften gern wahrnimmt. Fr. Gerstäcker.
518
413. Wohin König Friedrich Wilhelm IV. gehörte.
König Friedrich Wilhelm IV. war ein grundgütiger und durch und
durch christlicher Mann. Sein Wahlspruch war: „Ich und mein Haus,
wir wollen dem Herrn dienen." Einst machte er eine Reise. In einem
Dorfe wurde er festlich empfangen. Die Schulkinder mit ihrem Lehrer
begrüßten ihn, und ein kleines Mädchen sagte ihm ein Gedicht her,
worüber er sich sehr freute. „Du hast deine Sache schön gemacht, mein
Kind", sagte der hohe, freundliche Herr, „Nun will ich dir aber auch
eine Frage vorlegen. Wohin gehört das?" fragte er und zeigte dem
Kinde eine Apfelsine. „In das Pflanzenreich", erwiderte schüchtern das
Mädchen. „Wohin nun das?" fragte der Herr weiter und zeigte auf ein
Goldstück. „Ins Mineralreich", war die Antwort. „Wohin gehöre ich
denn, mein Kind?" war die dritte Frage. Freundlich blickte das Kind
den König an und sagte: „Ins Himmelreich." — Da glänzte eine
Thräne in dem Auge des Königs, und er hob das Mägdlein empor und
küßte es. Eyl-rt.
414. Brief eines Preußischen Soldaten an seinen Vater.
Mainz, den 15. Juli 1844.
Es ist wahr und gewiß, lieber Vater! das Soldatenleben striegelt
und putzt den Mann, und wer kein Soldat gewesen ist, der ist kein
rechter Mann. Weil warum? fragt unser Nachbar Martin; das will ich
sagen. Wir haben einen grundgescheiten Kameraden in der Compagnie,
einen Gefreiten, der ist ganz mit mir einverstanden, und der sagt auch:
Jeder großjährige Mann im Staat ist Bürger, das ist ein schönes Wort,
das ist der schönste Titel, den man haben kann. Ein Bürger steht mit
allem, was er hat, mit seinem ganzen Leben dafür ein und ist Bürge,
daß Ordnung und Recht im Staat ist, und daß niemand, heiß'
er Franzos oder Rufs', dem Staat was anhaben kann. Jeder Bürger
soll mithelfen, die Gesetze machen, die über ihn regieren sollen. Jeder
Bürger gibt seine Stimme dazu, wie man die Steuern umlegen soll, daß
keinem Unrecht geschieht, und daß eine ordentliche Haushaltung geführt
wird. Ich weiß wohl, es kann nicht jeder dabei sein, darum wählt man
die Abgeordneten, die auf dem Landtag für die anderen sprechen und
stimmen, aber in Gedanken ist jeder dabei. Mitrathen kann nicht jeder
für sich selber, da reicht es schon hin, wenn er einen Mann für sich ein-
gestellt hat, der seine Gedanken ausspricht; aber mithalten muß jeder,
wenn's drauf und dran kommt. Er muß helfen den Staat erhalten durch
Steuern und Soldatsein, dann erst ist er ein rechter Bürger. Vor
Zeiten hat man Soldaten gehabt, die den Staat gar nichts angegangen
sind; sie haben gerade dem gedient, der sie am besten bezahlt hat. Jetzt
sind lauter Bürger Soldaten. Sie vertheidigen und schützen ihre eigene
Sache, und darum muß auch jeder Soldat Bürger und wieder jeder
Bürger Soldat sein. Ich kann es keinem andern übertragen, daß er
meinen Vater und meine Mutter lieben, daß er ihnen beistehen und sie
beschützen soll; wenn ich ihm auch noch so viel Geld gäbe, er kann's doch
nicht recht von innen heraus, es ist eben seine Sache nicht. — Vor
V
519 —
Zeiten haben die Soldaten gar nicht heirathen dürfen. Freilich, sie waren
ja Knechte, die jede Minute sich haben halb todt schlagen lassen müssen,
für was der Herr eben gewollt hat. Jetzt ist das anders. Jetzt ist ein
Krieg jedem Bürger seine eigene Sache. Wenn meine kurze Dienstzeit
um ist, werde ich Landwehrmann bis in mein sechzigstes Jahr, und wenn
ich, will's Gott, Frau und Kinder habe, und der Staat braucht mich, bin
ich gerade ein besserer Soldat, weil ich mein eigen Haus und Hof
vertheidige.
Zweitens sagen wir auch noch, nämlich mein Kamerad und ich: als
Soldaten tragen alle Bürgersöhne gleiche Röcke und gleiche Kappen. Das
ist gut, da lernen sie alle miteinander, hoch und nieder, einsehen, daß sie
im Staat gleich sind und gleich sein sollen. Darum lob' ich mir in dieser
Hinsicht mein Preußen, da muß doch wenigstens ein jeder Soldat sein;
heiß' du, wie du willst, und sei du, wer du bist, bemberembembem! hinter-
drein mußt du. Dadurch ist alsdann kein Unterschied zwischen einem
Bürger (oder wie man's in der Garnison heißt, einem Civilisten) und
einem Soldaten; sie sollen und müssen gut Freund sein, denn jeder ist
Bürger und Soldat in einer Person. — Jeder Bürger kann und muß
ein Jahr lang exercieren lernen, das schadet keinem gesunden Menschen
was, hab' er ein Gesicht, welches er wolle. Ich weiß wohl, das gefällt
vielen Leuten ans dem Lande und in der Stadt nicht, sie dünken sich was
besseres. Aber ehrlich bedacht, ist und bleibt es eine weise Anordnung.
Oder sind die armen Burschen dazu da, daß sie sich für die Reichen todt
schießen lassen? Der Staat darf das nicht zugeben. Ich ließe, wenn ich
zu befehlen hätte, keinen gesunden Menschen heirathen, der nicht Soldat
gewesen ist und noch bei der Landwehr steht. Der schönste Schmuck eines
Mannes ist, daß er mit den Waffen umzugehen weiß, und daß er im
"Nothfall sein Land zu vertheidigen versteht.
Es ist mir lieb, lieber Vater! daß ich Euch alles so schreiben darf,
und daß ich's auch kann. Meine Kameraden auf der Stube haben sich
einen Briefsteller gekauft, und daraus schreiben sie die Briefe ab. Ist
das nicht eine Schande? Für was hat einem Gott seine eigenen fünf
Finger und Augen und Hirn gegeben? Ich müßte mich schämen, aus
einem fremden Buche abzuschreiben. Wie kann ein anderer wissen, was
ich zu schreiben habe? Habe ich Recht oder nicht, lieber Vater? Da
fällt mir ein: sagen könnte ich doch nicht „lieber Vater", ich weiß nicht,
warum; aber schreiben kann ich's. Wenn man so weit getrennt ist, geht
einem das Herz auf, und man schämt sich nicht. Wenn ich die Schur
habe, lese ich auch oft Bücher, schöne Räubergeschichten, und die Geschichte
vom Kaiser Napoleon habe ich auch vom Feldwebel gelesen. Es war doch
ein ganzer Mann, der Napoleon, aber recht ist ihm auch geschehen, ich
meine, er hat's zu weit getrieben. Ich wollte, ich hätt' ihn auch einmal
gesehen. Nicht wahr, Ihr habt ihn oft gesehen? Wir haben von dem
Kaiser Napoleon doch etwas Gutes übrig behalten, und das ist unsere
Landwehr. Mein Feldwebel sieht dem Napoleon ganz ähnlich, ich glaube,
wenn's Krieg gäbe, der würde ein großer Mann, er könnte ein Marschall
Soult werden.
Im Soldatenleben lernt sich der Mensch allein helfen. Ich koche
520
und flicke und nähe und putze die Stube auf wie ein Frauenzimmer. Es
kommt mir oft ganz absonderlich vor, so ein großes Haus voll lauter
Männer! Es ist gut, daß es nicht zehn Jahre währt.
Am letzten Dienstag war ich auf Wache draußen auf dem Harden-
berg. Ich bin gerade von 12 bis 2 Uhr auf den Posten gekommen. Es
war mir ganz eigen zu Muth, als ich so allein hoch oben auf dem Berge
da stand. Es war eine stockdunkle Nacht, kein Stern am Himmel, und
die ganze Welt war wie todt; nur dort neben zog sich der Rhein wie ein
blasser Streif hin, und man hörte sein Rauschen, von dem man bei Tag
keinen Laut vernimmt. Mir ist es vorgekommen, als ob die ganze Welt
ausgestorben und ich allein da oben übrig geblieben wäre — man kommt
doch oft auf sonderbare Gedanken, aber man kann nichts dafür — da
höre ich jetzt das Feldgeschrei, wodurch die Posten einander wach erhalten.
Ich habe doch den Zuruf schon oft und oft gehört, aber diesmal hat er
mich ganz besonders ergriffen. Zuerst habe ich ihn aus weiter Ferne
vernommen, als ob er aus einer tiefen Grube käme, aus der Auferstehung,
daun immer näher und näher und heller und heller: „Kamerad, bist du
noch da?" bis es zuletzt an mich gekommen ist, und ich habe den Ruf
weiter geschickt: „Bruder, bist du noch da?" Keiner sieht den andern,
keiner verläßt seinen Posten, aber man ruft einander den hellen ermun-
ternden Gruß zu. Das ist schön. Eine Kette von freundlichen Worten,
Glied an Glied, schließt die deutschen Brüder an einander, die weit aus
einander stehen. Alle sind wach und stehen da für das Vaterland. Und
ich habe mir da ganz Deutschland gedacht, und von einer Grenze bis zur
andern stehen sie da und rufen einander zu: „Bruder, bist du noch da?"
Vater! lieber Vater! da ist mir's warm ums Her; geworden, ich kann's
nicht sagen, wie. Und ich habe mein Gewehr mit beiden Händen hoch
hinauf gehoben und habe Gott gebeten, er soll mir's einmal für eine
rechtschaffene heilige Sache wieder in die Hand geben.
Die zwei Stunden sind mir herumgegangen wie ein Augenblick, und
so oft der Ruf an mich gekommen ist, habe ich ihn freudiger hinaus-
gerufen. Dazwischen habe ich das Lied in mich hineingesungen:
Steh' ich in finstrer Mitternacht
. so einsam auf der fernen Wacht.
Es ist mir keines von den gelernten Liedern eingefallen. Wenn man
so ein Lied auch nur leise vor sich hinsingt, ist es doch gerade, als ob
mau mit einem guten Geist spräche.
Grüßet mir alle guten Freunde und Bekannte von Eurem
getreuen Lorenz.
Auerbach.
415. Pfiiiftstlicd.
Pfingsten ist es, Kinder, hört!
Was uns dieser Tag beschert;
Jesu Jünger, still verborgen,
Machten sich gar große borgen
Um der Menschen Haß und Spott.
Doch da hat der liebe Gott
Seinen Geist auf sie gegossen,
Daß sie nun gar unverdrossen,
Stark und muthig sind gegangen,
Recht mit Eifer angesungen,
Viele Menschen treu belehrt
Und zum lieben Gott bekehrt.
Geist des Herrn! ich bitte dich,
Pfingsten ist's, komm auch auf mich!
Laß von nun an mich aus Erden
Einen Jünger Jesu werden!
521
Lehre mich und steh mir bei,
Daß ich recht verständig sei,
| Recht mit Freuden ihn vollbringe
Und mich keine Sünde zwinge.
I Geist des Herrn! o mach mich fromm,
I Daß ich in den Himmel komm'!
Daß ich recht auf Gottes Werke
Und auf seinen Willen merke,
W. Hey.
416. Der Tabak.
Am Essen und Trinken haben sich die Leute nicht mehr genügen
lassen wollen; da haben sie das Rauchen erfunden. Und wer's nicht mit
eigenen Augen sähe, der würde es nimmermehr glauben, wie unbedacht
die Groschen und Thaler ausgegeben werden für eine Pflanze, welche ohne
Wohlgeruch und von schlechtem Geschmacke ist, Übelkeit, Schwindel und
Brechen erregt und doch nur durch Mund und Nase genossen wird. Frei-
lich war es nicht des Rauchens wegen, daß die Spanier den Tabak,
dessen Gebrauch Columbns zuerst auf der Insel Jamaika wahrgenommen
hatte, aus Amerika nach Europa brachten, sondern weil sie glaubten, darin
ein gutes Heilmittel gefunden zu haben; denn die Indianer wandten das
Gewächs in ihren Kriegen beim Verbinden der Wunden an. Als Arznei-
mittel wurde es zuerst auch in Lissabon gepflanzt und von da weiter
verbreitet. Im Jahre 1592 aber erschien ein Büchlein, worin ein kurzer
und einfältiger Bericht über das Kraut Nicotiana enthalten war. Darin
wurde unter anderm Folgendes über die merkwürdige Pflanze mitgetheilt:
Johann Nicot, von 1559 —1561 französischer Gesandter in Lissabon,
besuchte einen portugiesischen Edelmann, der ihm einige Pflänzlein von
dem fremden Gewächse aus Amerika schenkte. Nicot ließ dieselben in
seinem Garten wohl verpflegen. Einst hatte sich sein Koch mit einem
Messer verwundet; da wurden die Blätter des amerikanischen Krautes
aufgelegt und durch den günstigen Erfolg in ganz Lissabon zu großem
Ruse gebracht. Wie alle neuen Mittel, so sollte auch dieses sich nun bei
allen Gebrechen der Welt heilsam erweisen; es wurde gerühmt gegen alte
und neue Wunden, gegen Geschwüre und Kröpfe. In Frankreich, wohin
Nicot das Wundermittel schickte, wandte man es auch innerlich an gegen
Lungensucht, kurzen Athem, Magenbeschwerden, Wassersucht und viele andere
Krankheiten. Anfangs wurde immer nur das frische Kraut benutzt. Aber
auch von der gedörrten Pflanze sollte die Wirkung eine vortreffliche sein,
und darum warf man die Blätter in die Glut und ließ den Rauch durch
einen Trichter in den Mund steigen. Das führe, so wurde behauptet,
viele schleimige und ungesunde Säfte aus dem Leibe, so daß der Körper
mager werde, als hätte man lange nichts gegessen. Daneben bringt das
genannte Büchlein aber auch einige Nachrichten vom wirklichen Rauchen.
„Die Bewohner einer Insel in Amerika", so heißt es, „leben eine Zeit-
lang allein von diesem Rauche; sie stecken viele dürre, zusammengewickelte
Blätter dieses Krautes in Röhren aus Palmblättern oder Schilf (tabagos
genannt), zünden sie an, empfangen den Rauch so viel als möglich durch
den Mund und geben vor, daß solcher Rauch ihnen den Hunger stille und
den unleidlichen Durst lösche. Auch wenn sie wollen seltsame und wunder-
bare Gesichte sehen, so brennen sie die Blätter an und ziehen den Rauch
der dürren Blätter durch Mund und Nasenlöcher'ein; alsbald werden sie
wie unsinnig und fallen nieder wie todt."
522
Da fieng nun die Berühmtheit dieses Wundermittels erst recht an.
Bereits im Jahre 1586 brachten englische Colonisten den Tabak bloß des
Rauchens wegen aus Virginien nach England; die gebildeten Weißen
hatten von den indianischen Wilden die Unsitte angenommen, die sich
schnell als Mode verbreitete, zuerst in England, dann in Holland, Por-
tugal, Spanien und Frankreich. Nach Holland kam das Tabakrauchen
durch junge Engländer, die in Leyden studierten. Und obwohl es damals
noch keine Eisenbahnen gab, nicht einmal immer ordentliche Straßen, so
vergiengen keine fünfzig Jahre, und es wurde schon wacker in Java und
selbst in China drauf los gedampft, von der Türkei, Persien und Indien
gar nicht zu reden. 1625 iburde denn endlich auch die Mode in Deutsch-
land durch englische Hülfstruppen eingeführt, die König Jakob seinem
Schwiegersöhne, dem Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz, zugeschickt hatte.
Allerlei Widerstand blieb indessen nicht aus, weder von weltlichen,
noch geistlichen, weder von türkischen, noch christlichen großen Herren.
König Jakob I. von England schrieb eigenhändig eine heftige Schrift gegen
das Rauchen, der Papst eiferte gegen die neue sündhafte Unsitte; der
Sultan ließ in Konstantiuopel einen Raucher durch die Straßen führen,
dem die Pfeife durch die Nase gestoßen worden, und der Czar von Ruß-
land drohte sogar mit dem Abschneiden der Nase. Auch in manchen
kleineren deutschen Fürstenthümern wurde das liederliche Werk des »Tabak-
saufens" mit den schwersten Strafen belegt.
Aber je heftiger man von allen Seiten gegen den glimmenden Tabak
blies, um so weiter nur breitete sich der Brand aus, um so dickere
Rauchsäulen wirbelten überall empor und betäubten endlich den Zorn der
Gewalthaber. Jetzt hat er sich fast überall eingebürgert, und selbst das
Verbot, niemand dürfe vor dem 24sten Jahre rauchen, ist da, wo es sonst
galt, schon lange außer Kraft getreten. Der Mißbrauch ist über alle
Maßen groß geworden. Manchem geht das Rauchen übers tägliche Brot;
mancher meint, er könne nur durch die Pfeife das Räderwerk seiner
Hände und Füße oder auch seines Kopfes im Gange erhalten. Erwachsene
spielen den großen Herrn, indem sie eine Cigarre nach der andern ab-
dampfen, während vielleicht Frau und Kinder daheim am Hungertuche
nagen; und selbst die halbwüchsige Jugend möchte bei solchem Beispiel
nicht zurückbleiben. — Abgesehen davon, daß solches Rauchen nicht gesund
ist, ist es auch kein Genuß mehr, sondern nur noch eine Gewohnheit und
zwar eine schlechte.
Noch seltsamer ist es, daß man sich an das Schnupfen des Tabaks
hat gewöhnen können, das doch gewiß kein Mensch für eine mit den For-
derungen der Reinlichkeit übereinstimmende Sitte erklären wird. Nur
ausnahmsweise kann dasselbe zum Schutze des Geruchsinnes gegen gewisse
Ausdünstungen, oder zur Ableitung schädlicher Flüssigkeiten bei einigen
Arten von Augenleiden wirklich vortheilhaft und heilsam sein. Geradezu
ekelhaft aber ist das Kauen des Tabaks, und wahrhaft unbegreiflich ist
es, wie dasselbe in manchen Ländern fast allgemein in Gebrauch hat
kommen können. Bei uns ist es nur auf die ungebildetsten Klassen be-
schränkt. Besonders beliebt ist es bei den Matrosen.
Wieviel Geld aber die ganze Tabaksliebhaberei kostet, und wie
l
523
mancher Thaler im eigentlichen Sinne des Wortes in Ranch aufgeht, zeigt
Folgendes: Im Jahre 1831 kamen 33 Millionen Pfund nach England,
das selber keinen Tabak baut; 32 Millionen davon hatte Nordamerika
geliefert. Im Jahre 1840 führte das einzige Cuba 200 Millionen Stück
Cigarren aus, und an Blättertabak 3 Millionen Pfund. Auf der ganzen
Erde mögen jetzt alljährlich etwa 400 Millionen Pfund gewonnen werden;
die Hälfte davon baut Europa, etwas weniger als die Hälfte Amerika.
70 Millionen Pfund werden in Österreich, 60 Millionen in den übrigen
deutschen Staaten geerntet. Unter diesen steht Preußen mit 25 Millionen
obenan. Dann folgen Baden mit 12, Baitzrn mit 11, Württemberg mit
6, die hessischen Länder mit 4 Millionen. Am wenigsten verbreitet ist
der Anbau in Thüringen und Sachsen. Im ganzen lieben Baterlande
aber sollen in neuerer Zeit nicht weniger als 1000 Millionen Cigarren
jährlich verdampft werden! Wird jedes Tausend im Durchschnitt auch nur
zu 30 Mark gerechnet, so macht das schon allein 30 Millionen Mark.
Das Kraut aber, das all' diesen gewaltigen Dampf in der Welt
hervorbringt, ist nichts mehr und nichts weniger als ein Giftgewächs,
der nächste Verwandte des Stechapfels, der Belladonna, des Bilsenkrautes
und anderer Täublinge, wie dieses aus der Einrichtung der Blüten
und Früchte genugsam ersichtlich ist. Auch kann eins der stärksten flüssigen
Pflanzengifte daraus bereitet werden. Wenige Tropfen desselben führen
den Tod herbei. — Der Tabak ist eine einjährige, 2 bis 3 Meter hohe
Pflanze von schönem Wuchs, deren Stengel mit zahlreichen, lanzettlichen
oder eirunden, mehr oder weniger stark gerippten Blättern besetzt ist und
aus den oberen Blattwinkeln viele große, regelmäßig gestaltete Blüten
treibt. Der Kelch ist einblätterig und fünfspaltig; die ebenfalls einblättrige
Krone besteht aus einer langen, oben etwas bauchigen Röhre, die sich. zu
einem flachen Saume mit fünf Zipfeln ausbreitet. Die inneren Blüten-
theile stimmen in ihrer Zahl mit denen der andern Täublinge überein;
aus dem Fruchtknoten entsteht eine Kapsel mit unzähligen kleinen Samen-
körnern. Durch den Anbau sind manche Abarten entstanden, welche sich
jedoch sämmtlich auf wenige Hauptarten zurückführen lassen.
Schweizer Hausb eie.
417. Die Steinkohle.
Wie der Diamant in seinem Grund und Wesen nichts anders
ist als Kohle, so ist andererseits die Steinkohle nicht minder ein
Edelstein, noch viel kostbarer als der Diamant; denn wenn sie
auch nicht die Kronen der Könige schmückt, so ist sie doch der
Schatz des arbeitenden Volkes, an ihr hängt Wohl und Wehe ganzer
Menschengeschlechter, an sie knüpft sich die Hoffnung der Armen,
welche das theure Holz nicht kaufen, aber doch noch an einem
Kohlenfeuer sich wärmen können. Das mächtigste Land der Erde,
Grossbritannien, ist durch die Steinkohle gross und mächtig geworden ;
die Steinkohle im Bunde mit dem Eisen ist für das thatkräftige
Volk ein gewaltiges Rüstzeug geworden, mit dem es gekämpft hat
um die Herrschaft der Welt und diese Herrschaft noch fort und
fort behauptet. Jetzt wo die Menschen so manche ihrer reichsten
524
Wälder mit frevelndem Übermuth vernichtet haben, wo der Bau
von Eisenbahnen und Fabriken so viele Millionen von Bäumen ver-
schlingt, die nicht so schnell wieder wachsen können, als die Hand
des Menschen sie abhaut, da erscheint die Steinkohle wie ein
rettender Engel, der zu dem über Holzmangel betroffenen Menschen
spricht: „Seht, der gute Schöpfer hiess schon vor Jahrtausenden
mich werden im dunkeln Schoss der Erde, auf dass ihr nun mit
meinem Reichthum eure Armuth bedecken möget.“
Vor tausend und aber tausend Jahren, ehe noch ein mensch-
licher Fuss auf der Oberfläche der Erde wandelte, wurden die
Schätze bereits versenkt, welche nun das Menschengeschlecht be-
gierig aus dem Schoss der Erde wühlt. In jener Urzeit, wo das
feuchte Erdreich noch gleicherweis von der inneren Glut unseres
Planeten, wie von den Sonnenstrahlen erhitzt wurde, ward eine
Pflanzenwelt hervorgerufen, die in ihrer Üppigkeit und Grösse bei
weitem alles übertraf, was jetzt die Flora uns zeigt. Da wuchsen
riesige Farnkräuter mit dicken, 15—16 Meter hohen Stämmen und
zierlich zertheiltem Laubwerk. Da sprossten baumhohe Bärlapparten
und scharfe, rohrähnliche Kalmusstengel von der Höhe und Stärke
unserer Obstbäume und zwar an Orten, wo jetzt nur noch Torfmoos
und Teichrohr und Binsen wachsen. Doch in den Revolutionen
des Erdballs wurde jenes Riesengeschlecht von Pflanzen dem Unter-
gänge geweiht, und auch dann noch, als schon die jetzige Gestalt
der Dinge immer mehr Raum gewann, mochte noch mancher baum-
reiche Wald verschüttet werden und aus dem Moder unterge-
gangener Geschlechter manch neues hervorblühen. So entstanden
mächtige Pflanzenlager; der Druck von oben und die Wärme von
unten wirkten zusammen, diese Holzmassen zu verkohlen. An
vielen Steinkohlen, welche dem blossen Auge nur wie ein dichter,
glänzender Stein erscheinen, hat das Mikroskop noch den zelligen
Bau der Pflanzen entdeckt, und hier und da lagert in der schwarzen
Masse noch ein deutlich zu erkennender Baumstamm, und beson-
ders häufig finden sich Abdrücke von Farnkräutern.
Die Adern der Steinkohlen gleichen den Ästen eines grossen
Baumes, sind aber meistens nur 60—100 Centm. mächtig, zuweilen
jedoch auch 12 Meter stark. Das Kohlengebirge steigt ebensowohl
zu bedeutender Höhe hinauf, als zu grosser Tiefe hinab. In
Amerika finden sich Steinkohlenlager, welche 2500 Meter über dem
Meeresspiegel liegen, in England gräbt man die Kohle 90 Meter
tief unter dem Meeresspiegel, schliesst aber aus dem Hinabbiegen
dieser Lager, dass ihre Tiefe noch viel bedeutender ist. Wie viel
Reichthum ruht da noch in der Erde, wie viele Wälder stecken
schon in einem einzigen solcher Steinkohlenlager! Wie lange sind
schon die englischen Kohlenbergwerke ausgebeutet! Aber je weiter
man gräbt, desto unerschöpflicher scheint der Vorrath zu werden.
Auch Deutschland hat reiche Kohlenlager, namentlich in Böhmen,
Sachsen, besonders aber im Saarbrückenschen Gebiet, dessen Kohlen
an Güte den englischen nahe 'kommen. Denn die Beschaffenheit
der Steinkohle ist sehr verschieden, je nachdem Schwefel und
andere Mineralien beigemischt sind, oder der Kohlenstoff möglichst
rein vorhanden ist.
Die Glanzkohle ist die beste; sie ist von sehr festem Kern,
hat metallischen Glanz und würflichten Bruch. Sie besitzt eine
solche Härte, dass man sie schleifen und poliren kann, wie den
Diamant selber. Zwölf Pfund vom härtesten Buchenholz geben
kaum so viel Hitze, als sieben Pfund der guten Steinkohle. Im
Feuer Hiesst sie zu einer Art von Kuchen zusammen und lässt
wenig Asche und Schlacke zurück, dahingegen die minder gute
Schieferkohle mit einer lodernden Flamme leicht wegbrennt und
viele Asche und Schlacke hinterlässt. Um den flammenden Wasser-
stoff und den übelriechenden Schwefel ganz aus der Steinkohle zu
entfernen, verkohlt man sie noch einmal, d. h. man verbrennt sie
ohne Zutritt der Luft, wie das Holz in Meilerhaufen zu Kohle ver-
brannt wird. So gewinnt man die Kochkohlen (Coks), die im
kleinsten Raum den meisten Wärmestoff bergen. Was bei dem
Holz- oder Braunkohlenfeuer nicht schmelzen will, das muss der
Glut dieser reinen Steinkohle weichen. Und weil sie dazu so
wenig Raum einnimmt, ist die Kochkohle der liebste Gast auf den
Dampfschiffen und Locomotiven der Eisenbahn; sie ist es, die den
Schiffen und Wagen Flügel gibt, indem sie das Wasser in Dampf
verwandelt, sie hilft aber auch, die Steinkohlen selber aus dunkler
Tiefe gewinnen.
Doch nicht genug, dass der Mensch mit der Steinkohle bratet
und kocht, er weiss auch den russigen schmutzigen Rauch zu be-
nutzen, der eine Menge von Ol und Leuchtgas in sich birgt. Die-
sen flüchtigen rohen Gesellen fängt man auf und zwingt ihn, das
abzuliefern, was er in alle Lüfte mit fortzuführen gedachte, und
es Hiesst dann aus den eisernen Röhren, worin man ihn gefangen
hielt, der dicke, schwere Theer, und es strömt auch das leichtluftige
Gas heraus, das in reinster, hellster Flamme die Nächte auf Erden
erleuchtet. In den Sälen, auf Flur und Treppe der Paläste, .wie
in den Strassenlaternen und im niederen Zimmer des Metallarbei-
ters erglänzen die Gasflammen und machen die Nacht zum Tage.
So gleichen die schwarzen Diamanten noch mehr der Sonne als
die weissen, denn sie geben zugleich Licht und Wärme.
Von allen Ländern der Erde ist England das am meisten mit
Steinkohlen gesegnete Land. Überall ist den Kohlenwerken das
Meer nahe, und so kann Grossbritannien die grössten Massen leicht
fortführen und zu dem billigsten Preise dem In- und Auslande
liefern. a. w. Grube.
418. Das Eisen.
Ohne Eisen könnten wir keinen Augenblick leben; denn das Eisen
rollt in unserm Blute und gibt ihm die rothe Farbe, das Eisen fertigt
die Wiege des Säuglings und den Sarg des Todten, das Eisen baut
uns die Häuser, wärmt uns die Zimmer, schließt uns die Thüren, das
526
Eisen pflügt unsere Äcker, mäht unsere Wiesen und Felder und hilft
das erworbene Gut uns schützen, wenn die Feinde den Herd und die
Freiheit bedrohen.
Mit dem Eisen stärken wir den Huf unserer Pferde und zügeln wir
ihren wilden Muth, aus Eisen bereiten wir dem Dampfwagen, diesem
geflügelten Roß, eine Straße, durch Eisen endlich erzeugen wir jenen
elektrisch-magnetischen Strom, der mit der Schnelligkeit des Blitzes auf
dünnem Drahte unsere Gedanken fortträgt von Stadt zu Stadt, von
Land zu Land. Unsere Zeit baut Schiffe aus Eisen und errichtet eiserne
Häuser und Kirchen. Und selbst die feinsten Schmucksachen werden jetzt
ans Eisen gegossen. Gold und Silber sind freilich glänzender und schöner,
aber wir können die silbernen Pokale und goldenen Ringe entbehren, und
wer nicht mit silbernen Löffeln und Gabeln speisen kann, läßt sich's auch
mit eiserner Gabel und einem Blechlöffel wohlschmecken. Das Eisen ist
das allerunscheinbarste, schmuckloseste Metall, und doch müssen wir erst
durch seine Hülfe die übrigen Metalle gewinnen und können mit ihm alle
übrigen Metalle ersetzen. Das Eisen ist wie das Getreide zur Nothdurft
und Nahrung des Leibes und Lebens erschaffen, es ist uns nöthig wie
das tägliche Brot.
Die gütige Vorsehung hat aber auch Sorge getragen, daß dieses
allernützlichste Metall in Hülle und Fülle auf Erden vorhanden sei, in
viel größeren Maßen als jedes andere Metall. Sie hat es jedoch vor-
zugsweise in die gemäßigten und kälteren Länder gepflanzt, wo der Mensch
berufen ist, seine Kräfte aufzuraffen im Kampf mit der rauhen Natur,
wo starke Fäuste und sehnige Glieder, wo heller Verstand und kräftiger
Wille zu Hause sind. Das Eisen drängt sich nach den Polen der Erde,
unter dem Äquator ist wenig zu finden. In Europa hat bisher das-
jenige Land das meiste Eisen erzeugt, welches die thatkräftigsten Menschen
hat, nämlich England; man rechnet, daß dort die jährliche Ausbeute über
sechs Millionen Centner beträgt. Auch Deutschland und Frankreich sind
mit Eisen gesegnet, und nächst England erzeugt Preußen das meiste Eisen,
nämlich zwei und eine halbe Million Centner jährlich. Besonders eisen-
reich sind die nordischen Länder Rußlands. Das vereinigte Königreich
Schweden und Norwegen könnte noch mehr Eisen erzeugen als England,
wenn es in seiner Bevölkerung und Gewerbsthätigkeit günstiger gestellt
wäre; in Schweden sind wirkliche Eisenberge, die fast nur aus Eisenstein
bestehen. Das berühmte Bergwerk von Dannemora in Upland liefert
jährlich allein 270 Millionen Pfund des besten Eisensteins.
Das Eisen, wie es das nützlichste und weitverbreitetste Metall ist,
hat auch zugleich den geringsten Preis. Und doch braucht es, damit aus
dem Eisenerz das reine Metall gewonnen werde, viel größere Mühe als
bei den andern Metallen; denn um das Eisen zu schmelzen, bedarf es
der höchsten Hitze, welche unsere Öfen hervorzubringen vermögen, — als
wollte es dem Menschen von vornherein zeigen, daß der Segen, welchen
der Schöpfer in dieses Metall gelegt hat, nur durch den angestrengtesten
Fleiß errungen wird. Da das Eisen, von der Hand des Menschen ge-
schwungen, in allen Verhältnissen des Lebens ein bequemes Werkzeug
sein soll, ist es einerseits viel leichter als Gold, auch leichter als Silber
527
und Kupfer und Blei, andererseits wieder das härteste Metall, mit dem
sich andere Metalle und Steine bearbeiten lassen. An Zähigkeit und
Dehnbarkeit wetteifert es mit dem Golde, und wie elastisch es ist, kannst
du schon an deiner Stahlfeder oder an einer Degenklinge oder an der
Uhrfeder sehen, die das künstliche Werk einer Taschenuhr treibt. Den
harten elastischen Stahl kann weder Gold noch Silber noch Kupfer
ersetzen.
Ungleich dem edlen Gold und Silber rostet aber das Eisen gern,
d. h. es verbindet sich leicht mit dem Sauerstoff der Luft; darum müssen
Stahl und Eisen fleißig gebraucht werden, um blank und rein zu bleiben.
Da das Eisen eine so große Neigung hat, mit Sauerstoff, mit Schwefel,
mit Kohle und andern Grundstoffen der Natur sich zu verbinden, sind die
ungeheuren Eisenmassen fast überall in allerlei Steinen und Kiesen ver-
erzt, und das reine lautere Eisen muß durch Feuers Macht heraus ge-
schmolzen werden. Solches geschieht in den großen turmhohen Öfen,
die man „Hochöfen" nennt. Dort wird abwechselnd eine Lage Eisenerz
und eine Lage Kohlen über einander geschüttet, dort
— Nähren früh und spät den Brand
Die Knechte mit gefchäft'ger Hand,
Der Funke sprüht, die Bälge blasen,
Als gält' es, Felsen zu verglasen.
Die Kohle facht zugleich die heiße Glut an, welche das harte Metall
zum Schmelzen bringt, trennt das Eisen vom Sauerstoff, und geht zum
Theil selbst eine Verbindung mit dem Metall ein. Wenn unten am
Hochofen das Feuerthor sich öffnet und die röthlich strahlende Flüssigkeit
mit leuchtendem Glanze hervorbricht, sind bereits hundert Pfund Eisen
mit fünf Pfund Kohle verschmolzen, und dieses „Kohleneisen" ist das
schwarzgraue Gußeisen, das spröde Metall, das mit dem Hammer nicht
weiter verarbeitet werden kann. Damit es nun aber auch für die Werk-
statt der Schlosser und Schmiede brauchbar werde, muß jener Freund
des Eisens, der Kohlenstoff, mit Gewalt entfernt werden. Solches ge-
schieht, indem man die Eiseuwürfel in das Hammerwerk bringt und sie
dort im Frischfeuer bis zur Weißglühhitze erhitzt; dann schlagen die
mächtigen Hämmer auf die erweichte Masse, die, nach allen Seiten zu-
sammengeknetet, der Luft sich öffnet, welche die Kohle verbrennt, so daß
kaum eine Spur derselben im Eisen verbleibt.
Die Werke klappern Nacht und Tag,
Im Takte pocht der Hämmer Schlag,
Und bildsam von den mächt'gen Streichen
Muß selbst das Eisen sich erweichen.
Das spröde Metall ist nun so zähe und dehnbar geworden, daß es
sich leicht schmieden, zu feinem Draht ausziehen und in dünne Bleche
auswalzen läßt. So gewinnt man das „Stabeisen". Zwei Stücke des-
selben lassen sich sogar zusammenschweißen, — eine besondere Eigen-
thümlichkeit, die außer dem Eisen nur Platin besitzt. Öhne daß eine
Schmelzung der beiden weißglühenden Theile erfolgt, werden sie durch
bloßes Hämmern so vereinigt, daß sie fortan nur eine Masse bilden.
Noch merkwürdiger ist die Stahlbereitung. Nimmt man dem Guß-
528
eisen einen Theil seiner Kohle, oder setzt man dem reinen Eisen wieder
1 bis 2 Procent Kohle zu, so entsteht wieder ein ganz anderes Eisen,
das sich von den beiden genannten Arten wesentlich unterscheidet; es läßt
sich härten, elastischer, dehnbarer machen und heißt nun Stahl. Der
Stahl ist weißer als gewöhnliches Eisen, läßt sich vortrefflich polieren und
wird dann durch verschiedene Grade des Erhitzens zuerst blaßgelb, dann
dunkler gelb, orange, roth, dunkelroth, violett, blau und endlich blan-
schwarz. Du kannst diese Farbenreihe schon deutlich wahrnehmen, wenn
du eine Stricknadel in die Spitze einer Kerzenflamme hältst und zum
Glühen bringst; an der heißesten Stelle wird der Stahl schwarz aussehen
und weiter und weiter in allen jenen Farbentönen erscheinen. An sich
ist der Stahl weich und so schmiedbar wie das Stabeisen; aber läßt man
ihn glühen und kühlt ihn dann plötzlich im Wasser ab, so ist seine ganze
Natur verändert und umgewandelt, denn er ist nun im höchsten Grade
spröde, unschmiedbar und härter als jeder andere Körper, den Diamanten
ausgenommen. Aus diesem gehärteten Stahl werden Feilen und Nadeln
gemacht. Erhitzt man nun den gehärteten Stahl abermals und läßt ihn
langsam erkalten, so wird er wieder so weich und zähe wie roher Stahl.
Diese Umwandlung findet um so vollkommener statt, je stärker man den
harten Stahl erhitzt, und durch geeignete Hitzegrade lassen sich Mittel-
stufen darstellen, wo der Stahl neben großer Härte zugleich Geschmeidig-
keit erhält. Feinste Messer läßt man nur blaßgelb anlaufen, Rasier- und
Federmesser goldgelb, Scheeren, Äxte, Meißel und gewöhnliche Messer
braun bis purpurroth, Klingen, Uhrfedern und Bohrer hellblau und endlich
Sägeblätter dunkelblau. So zeigt sich das Eisen im Dienste des Menschen
als ein wahrer Proteus; es wird geschmeidig und spröde, weich und
hart, wie es sein Herr und Gebieter verlangt. A. W. Grube.
419. Der Tag von Düppel.
Still! -
Vom achtzehnten April
Ein Lied ich singen will,
Vom achtzehnten — alle Wetter ja!
Das gab mal wieder ein Gloria!
Ein „achtzehnter" war es voll und ganz,
Wie bei Fehrbellin und Belle-Alliance, —
April oder Juni ist einerlei,
Ein Sieg fällt inimer um Monat Mai.
Um vier Uhr morgens der Donner begann;
In den Gräben standen sechstausend Mann,
Und über sie hin sechs Stunden lang
Nahmen die Kugeln ihren Gang.
Da war es zehn Uhr. Nun alles still,
Durch dieReihen gieng es:„WieGott will!"
Und vorgebeugt durch Sturm und Stoß,
Brach das preußische Wetter los.
Sechs Colonnen. Ist das ein Tritt!
Der Sturmmarsch flügelt ihren Schritt;
Der Sturmmarsch, ja, tief in den Trancheen
Dreihundert Spielleut' im Schlamme stehn.
Eine Kugel schlägt ein, der Schlamm
spritzt um,
Alle dreihundert werden stumm. —
Vorwärts! donnert der Dirigent,
Kapellmeister Piefke vom Leibregiment.
Und „vorwärts!" spielt die Musica,
Und „vorwärts" llingt derPreußenHurrah;
Sie fliegen über die Ebene hin,
Wer sich besänne, hätt's nicht Gewinn;
Sie springen, sie klettern, ihr Schritt wird
Lauf —
Feldwebel Probst — er ist hinauf!
Er steht, der Erst' auf dem Schanzenrück,
Eine Kugel bricht ihm den Arm in Stück';
Er nimmt die Fahn' in die linke Hand
Und stößt sie fest in Kies und Sand.
Da trifft's ihn zum zweiten; er wankt und
fällt:
„Leb' wohl, o Braut! leb' wohl, o Welt!"
Rache! — Sie haben sich festgesetzt,
Der Däne wehrt sich bis zuletzst
Das macht, hier ficht ein lunger Len,
Herr Lieutenant Anker von Schanze zwei.
Da donnert's: „Ergib dich, tapfres Blut!
Ich heiße Schneider und damit gut!"
Der preußische Schneider, meiner Treu!
Brach den dänischen Anker entzwei.
529
Und weiter — dieSchanze hinein und hinaus
Weht der Sturm mit Saus und Braus;
Die Stürmer von andern Schanzen her
Schließen sich an, immer mehr, immer mehr.
Sie fallen todt, sie fallen wund, —
Ein Häuflein steht am Alsener Sund.
Pallisaden starren die Stürmenden an,
Sie stutzen; wer ist der rechte Mann?
Da springt von achten einer vor:
„Ich heiße Klinke, ich öffne das Thor!" —
Und er reißt von der Schulter den Pulversack,
Schwamm drauf, als wär's eine Pfeife Tabak!
Ein Blitz, ein Krach — der Weg ist frei,
Gott seiner Seele gnädig sei!
Gottlob, solchen Klinken für und für
Offnet Gott selbst die Himmelsthür.
Sieg donnert's. Weinend die Sieger stehn.
Da steigt es herauf aus dem Schlamm der
Trancheen,
Dreihundert sind es, dreihundert Mann,
Wer anders als Piefke führet sie an?
Sie spielen und blasen, das ist eine Lust,
Mitblasen die Herzen aus voller Brust;
Clarinett' und Trompete, Hoboe und Fagott,
Sie spielen: Nun danket alle Gott!
Und das ganze Heer, es stimmt mit ein,
Und drüber Lerchen und Sonnenschein.
Bon Schanze eins bis Schanze sechs
Ist alles dein, Wilhelmns Rex;
Von Schanze eins bis Schanze zehn,
König Wilhelm, deine Banner wehn.
Grüß' euch, ihr Schanzen am Alsener Sund,
Ihr machtet das Herz uns wieder gesund —
Und durch die Lande drauß und daheim
Fliegt wieder hin ein süßer Reim:
„Die Preußen sind die alten noch!
Du Tag von Düppel, lebe hoch!"
Fontane.
420. Von der Gasbeleuchtung.
1. Wer einmal in einer größeren Stadt gewesen ist, hat wohl auch
die hellen Gasflammen gesehen, welche des Abends in den Straßen-
laternen, Kaufläden, Fabriken und in vielen andern Häusern brennen.
Die Flammen entstehen durch die Verbrennung einer Luftart, die man
das Leuchtgas nennt. \
Wir können uns leicht ein wenig Leuchtgas selbst, bereiten und uns
davon überzeugen, daß es brennt. Aus einem halben Bogen Schreibpapier
drehen wir eine lange Tüte mit einer kleinen Öffnung am spitzen Ende.
Nachdem wir dieses mit etwas Wasser befeuchtet, zünden wir die Düte an
der unteren, weitern Öffnung in der Küche an. Bald quillt eine weiß-
liche Luftart, unreines Leuchtgas, oben heraus. Zünden wir dies Leucht-
gas mit einem bereit gehaltenen Lichte an, so brennt es mit heller Flamme.
2. Das Leuchtgas bereitet man in den Gasanstalten gewöhnlich
aus Steinkohlen. Diese werden in großen, aus Chamotte-Masse (sprich
Schamott--Masse, d. i. eine unschmelzbare, irdene Masse) bestehenden,
überall verschlossenen Röhren geglüht. Das sich entwickelnde Leuchtgas
wird darauf aus diesen Röhren in geeignete Behälter geleitet, wo es von
allen Stoffen, die es noch verunreinigen, wie z. B. von Steinkohlentheer,
Kohlensäure und Schwefelwasserstoff, d. i. eine giftige, übelriechende Luft-
art, befreit wird. Dann leitet man cs in langen Röhren unter dem
Steinpflaster der Straßen überall in die Häuser hinein. Hier verzweigt
sich eine Hauptröhre wieder in mehrere Nebenröhren, welche das Leucht-
gas in die Zimmer führen, wo man es zu brennen wünscht. Das Ende
jeder Röhre verschließt ein Hahn. Dreht man diesen, so strömt das
Leuchtgas heraus und kann sofort angezündet werden.
3. Man kann das Leuchtgas auch aus Braunkohlen, Torf, Holz,
Talg, Rüböl, Petroleum und noch aus vielen andern leicht verbrennlichen
Stoffen herstellen. Aber nicht jeder denkt daran, daß eigentlich jedes
Talglicht, jede Petroleumlampe eine kleine Gasfabrik ist. Wir
halten ein brennendes Streichhölzchen an den Docht eines Talglichtes.
Die Hitze des brennenden Hölzchens verwandelt das bischen Talg im
34
530'
Dochte in Leuchtgas, das sich sogleich entzündet. Das Licht brennt. Da-
durch ist aber der lockere Docht, soweit er in die heiße Flamme hineinragt,
trocken geworden. Er saugt nun wie ein Schwamm den Talg ein, der
unter ihm in der Hitze der Flamme flüssig geworden ist. Sobald dieser
frische Talg in den Bereich der Flamme kommt, wird er sogleich in
Leuchtgas verwandelt und verbrennt. In dieser Weise geht's fort; das
Licht erzeugt das nöthige Leuchtgas immer von neuem selbst und kan»
daher ruhig weiter brennen. Nun ist's auch erklärlich, weshalb der von
einer eben ausgeblasenen Kerze aufsteigende Rauch so leicht brennt, sobald
man ihm ein brennendes Streichhölzchen nähert. Karass-r.
421. Die Überschwemmungen der Halligen.
Zur Gewohnheit sind den Bewohnern der Halligen, der kleinen
Eilande an der Westküste des Herzogthums Schleswig, die Überschwem-
mungen geworden, die, alles flache Land überwogend, an den Werften
hinaufsteigen und an die Mauern und Fenster der Hütten mit ihrein
weißen Schaum anschlagen. Da blicken denn diese Wohnungen aus der
weiten, wogenden Wasserfülle nur noch als Strohdächer hervor, von denen
man nicht glaubt, daß sie menschliche Wesen bergen, daß Greise, Männer,
Frauen und Kinder unterdessen völlig ruhig um ihren Theetisch her sitzen
und kaum einen flüchtigen Blick auf den herandrängenden Ocean werfen.
Manch fremdes, aus seiner Bahn verschlagenes Schiff segelte schon in
solchen Zeiten bei nächtlicher Weile über eine Hallig weg, und die er-
staunten Seeleute glaubten sich von Zauberei umgeben, wenn sie auf
einmal neben sich ein freundliches Kerzenlicht durch die hellen Fenster-
einer Stube schimmern sahen, die, halb von den Wellen bedeckt, keinen
andern Grund als die Wellen zu haben schien. Aber es bricht der Sturm
zugleich mit der Flut auf das bange Eiland ein. Die Wasser steigen
gegen sieben Bieter über ihren gewöhnlichen Stand hinauf. Die Wogen
dehnen sich zu Berg und Thal, und das Meer sendet in immer neuen,
langen Zügen seine volle Gewalt gegen die einzelnen Werste, um sie aus
seiner Bahn wegzuschieben. Der Erdhügel, der nur eine Zeit lang zitternd
widerstand, gibt nach; bei den unausgesetzten Angriffen bricht ein Stück
nach dem andern ab und schießt hinunter. Die Pfosten des Hauses,
welche die Vorsicht eben so tief in den Boden hineinsenkte, als sie darüber
hervorstehen, werden dadurch entblößt; das Meer faßt sie, rüttelt sie. Der
erschreckte Bewohner des Hauses rettet erst seine besten Schafe hinauf auf
den Boden; dann flieht er selbst nach. Und hohe Zeit war es; denn schon
stürzen die Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten den schwan-
kenden Dachboden, die letzte Zuflucht. Mit furchtbarem Siegesübermuth
schalten nun die Wogen in dem untern Theile des Hauses; sie werfen
Schränke, Kisten, Betten, Wiegen mit wildem Spiel durcheinander, schla-
gen sich immer freieren Durchgang, um alles hinauszureißen auf den
weiten Tummelplatz ihrer unbändigen Kraft, und der Stützpunkte des
Daches werden immer weniger, des Daches, dessen Niedersturz rettungslos
einer im sanften Arm des Schlummers ruhenden Familie ein schäumendes
Grab bereitet. Ängstlich lauscht das Ohr, ob nicht das Brausen des
Sturmes abnehme; .ängstlich pocht das Herz bei jeder Erschütterung.
531
Immer enger drängen die Unglücklichen sich zusammen. In der Finsternis
sieht keiner das entsetzenbleiche Antlitz des Andern; im Donner der toben-
den Wogen verhallt das bange Gestöhne; aber jeder kann an seiner
eigenen Qual die marternde Angst seiner Lieben ermessen. Der Manu
preßt das Weib, die Mutter ihre Kinder mit verzweiflungsvoller Todes-
gewißheit an sich; die Bretter unter ihren Füßen werden von der drän-
genden Flut gehoben. Aus allen Fugen quillen die Wasser auf; das
Dach wird durchlöchert vom Wogenstnrz; ein irrer Mondstrahl dringt
durch die zerrissenen Wolken, fällt hinein auf die Jammerscene, die, von
seinem bleichen, zuckenden Lichte beleuchtet, in all' ihrer Furchtbarkeit er-
scheint und die angstverzerrten Gesichter einander spiegelt. Da kracht ein
Balken. Ein furchtbarer Schreckruf! — Noch eine martervolle Minute! —
Noch eine! — Der Dachboden senkt sich nach einer Seite; ein neuer
Flutenberg schäumt herauf, und — im Sturmgeheul verhallt der letzte
Todesschrei. Die triumphierenden Wogen schlendern einander Trümmer
und Leichen zu. — Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat, liebt
sie über alles, und der ans der Sturmflut Gerettete baut sich nirgends
sonst wieder an als auf dem Fleck, wo er alles verlor und in kurzem
wieder alles sammt seinem Leben verlieren kann. Biernatziy.
422. Der Königsritt am Abend von Königgräh.
Schwere und gedankenvolle Stunden hatte der König auf dem Roskv-
berge unmittelbar hinter Sadowa, beim Überblicke der vor ihm wüthenden
Schlacht verlebt. Mittag war vorbei, und die Sache fieng nachgerade an
bedenklich zu werden. Endlich, es mochte zwei Uhr sein, bemerkte man
auf den Höhen, welche links bei Maslowed den Horizont begrenzten, eine
veränderte Richtung der dort postirten österreichischen Batterien, welche
nicht mehr nach Westen, sondern plötzlich gegen Norden feuerten. Gleich-
zeitig begann nach derselben Richtung hin von Chlum aus ein heftiges
Artilleriefeuer. Das war ein sicheres Zeichen, daß die zweite Armee im
lebhaften Kampfe stehe, und somit das richtige Zusammentreffen der drei
Armeen erfolgt war.
In gestrecktem Galopp eilte jetzt der König vom Roskoberge hinunter
auf Sadowa zu, um durch dieses Dorf auf die jenseitigen Höhen zu ge-
langen, mußte aber, da der Weg durch Munitiönswagen und Verwundete
verstopft war, nach Osten ausbiegen, überschritt dann die Bislritz, die
Königgrätzer Chaussee, und gelangte bei Langenhof vorbei auf das flache
Plateau vor Stresetitz. Hier nun war es, wo uyter den Augen des
Königs aus einem Gefechtsfelde von kaum 3000 Schritt Breite einer der
großartigsten Reiterkämpfe ausgefochten wurde. Achtzig österreichische und
preußische Schwadronen maßen sich mit einander. Weithin war die
Ebene erfüllt von den kaiserlichen Kürassieren in ihren malerischen weißen
Mänteln. Wie mächtige Flutwellen wirbelten die Geschwader eine Zeit
lang bald vor- bald rückwärts durch einander. Ihre geschwungenen
Waffen blitzten im Sonnenschein, die Erde bebte-unter den Hufen ihrer
Rosse, und überall bliesen die Trompeter zum Einhauen. Die öster-
reichischen Regimenter wurden gezwungen, hinter ihre Artillerie und Jn-
34*
Wilhelm I., König von Preuße».
fanterie zurückzugehen; was zum Theil in so gewaltsamer Weise geschah,
daß es nicht wenig zum Beginne der Flucht des Feindes beitrug.
‘ Inzwischen war der König von Stresetitz nach Bor zu geritten,
überall jubelnd begrüßt von den siegreichen Truppen. Bei Bor aber
kam der König in das volle Granatfeuer der den Rückzug deckenden
österreichischen Batterien. Graf Bismarck bat ihn deshalb dringend, er
möge sich nicht so großer Gefahr aussetzen, da die Schlacht ja doch schon
entschieden sei, und das Vorgehen des Königs hier keinen Nutzen mehr '
gewähren könne. „Als Major freilich", sagte der Graf, »habe ich kein
Recht, Ew. Majestät auf dem Schlachtfelde Rath zu ertheilen; aber es ist
meine Pflicht als Ministerpräsident." — „Ja", erwiederte der König
lächelnd, „wo kann ich denn auf einem Schlachtfelde hinreiten, wenn ich
den Granaten aus dem Wege gehen soll?" Indes folgte der König dem
wohlbegründeten Rathe, indem er den Weg nach Rosnitz einschlug, von
Rosnitz aber nördlich um das Dorf Wsestar herumritt, woselbst ihm ein
über 2000 Mann starker Gefangenentransport begegnete. Bei Wsestar
befand sich der König allerdings außerhalb des Bereichs der Granaten;
Friedrich Wilhelm, Kronprinz des veiitschru Reichs und non Preuße».
sonne bestrahlt, funkelten die sieben Türme von Königgrätz vor dem
stahlgrauen Osthimmel. Der König blickte still sinnend hinüber. „Euere
Majestät haben nicht eine Schlacht, Sie haben einen Feldzug gewonnen",
— soll General von Moltke ausgesprochen haben. — Der Donner der
Geschütze wurde seltener, und der König wandte sich rückwärts, um bei
Stresetitz und Dohalitz vorüber nach Sadowa zu reiten, wohin die Wagen
befohlen waren. Der Weg führte durch große Massen Infanterie, die
— *33 —
aber er vermochte auch die Verfolgung nicht mehr zu übersehen und sprengte
deshalb zur Besorgnis seiner Umgebung unverweilt und gradesweges
wieder nach Bor zu, wo er den Befehl betreffs der Lagerung der
Truppen und der Verfolgung des Feindes ertheilte.
Indessen war es Abend geworden; es fieng an zu dunkeln; aber ein
wunderbarer rosiger Schein lag über dem Gelände. Hell von der Abend-
534
sich bereits zum Biwak einrichteten. — Es war 8 Uhr, als der König
auf der Wiese nordöstlich von Problus seinem Sohne begegnete. Der
Kronprinz meldete dem königlichen Feldherrn die Anwesenheit der zweiten
Armee auf dem Schlachtfelde und beugte sich nieder,, ihm tiefbewegt die
Hand zu küssen. Der König zog ihn in seine Arme. Beide vermochten
eine Zeit lang nicht zu sprechen, bis König Wilhelm zuerst wieder Worte
fand und seinem Sohne sagte, wie er sich freue, daß derselbe bisher so
glückliche Erfolge gehabt und Befähigung zur Führung der Armee be-.
wiesen; er, der König, habe ihm, wie er wohl schon durch sein Telegramm
wisse, für die vorangegangenen Siege den Orden xour Io inöriks ver-
liehen. Jene Depesche aber hatte der Kronprinz nicht erhalten, und so
überreichte ihm denn sein Vater und König auf dem Schlachtfelde, wo
er den Sieg mit entschieden, Preußens höchsten Militär-Verdienstorden.
Dem Kronprinzen stürzten die Thränen aus den Augen. Was lag für
eine bedeutungsvolle Zeit zwischen dem letzten Abschiede und diesem
Wiedersehen! Die Sonne gieng gerade während dieser feierlichen Be-
grüßung in ihrer vollen Pracht unter; aber das Abendroth dieses Tages
war die Morgenröthe einer neuen Zeit für unser Vaterland.
Der Begrüßung folgte eine längere Besprechung, in welcher der
König auch aus Vorschlag des Kronprinzen festsetzte, der Schlacht den
Namen „Königgrätz" zu geben. Nach Louis Schneider und Max Lehmann.
423. Eisenbahn und Dampfmaschine.
Eine Eisenbahn ist nichts anderes als eine möglichst ebene Straße,
die durch Schlangenwindungen die Ecken und Winkel vermeidet, und auf
welcher man eiserne Schienen befestigt hat, worauf die Räder leicht und
bequem fortrollen, ohne Widerstand zu finden. Solche Eisenbahnen sind
schon lange in Bergwerken bekannt und wurden von dort aus zur leichten
Verbindung nahegelegener Orte verwendet. Die Eisenbahn, so wie man
sich jetzt dieselbe denkt, als die große Straßenverbindung ferngelegener
Städte und Gegenden, wird großartig durch zwei Umstände: durch die
Überwindung der Schwierigkeiten, welche sich einer solchen Straßenanlage
entgegensetzen, und durch die Anwendung der Dampfmaschine statt der
ziehenden Kraft von Pferden.
Es ist leicht gesagt, daß ein Eisenbahndamm nichts ist als die Er-
höhung niedrig gelegener, die Ausgrabung höherer und die Abglättung
ebener Strecken. Allein die Niederungen sind oft sehr beträchtlich und
erfordern eine ungeheure Menge von Erde; oft eignet sich die Gegend
nicht zur Ausführung eines Dammes, weil die Tiefe zu steil ist, oder von
einem Wasser oder von Straßen durchschnitten wird; daun müssen kostbare
Brücken gebaut werden, die oft sehr groß sind und, wenn sie über eine
Erdvertiefung gehen, Viaducte genannt werden. Oder die Erhöhungen,
welche sich der ebenen Bahn entgegensetzen, lassen sich nicht umgehen, son-
dern sind hohe, ausgebreitete Berge; dann müssen die Höhen abgetragen,
oder, wenn sie zu beträchtlich sind, müssen Gänge durch dieselben gearbeitet
werden, die man Tunnel nennt, und die viele Kunst und große Kosten
erfordern. Endlich eignet sich die flache Gegend auch nicht überall für
den Eisenbahndamm in Folge des lockeren Bodens und der tiefen Sümpfe;
535
alsdann inuß ausgegraben und fester Grund geschaffen werden. Endlich
erfordert die Herstellung einer festen Oberfläche, auf welcher die Eisen-
schienen befestigt werden, viel festes Holz, welches in die Quere in den
Sand gelegt wird.
Ihre größte Bedeutung erhalten die Eisenbahnen durch die Anwen-
dung der Dampfmaschine zur Fortbewegung der Wagenzüge. Dampfmaschine
bleibt Dampfmaschine, ob sie Wagen fortzieht, oder an einem Orte fest-
steht und künstliche Werke treibt; denn die Hauptsache davon ist die
Erzeugung einer großen Kraft, welche sich zu regelmäßiger Bewegung an-
Eiscnlmhnpig und Viadiict.
wenden läßt. Die großartige und nützliche Erfindung, welche uns diese
Triebkraft zu Gebote gestellt hat, ist wiederum die einfachste von der
Welt; denn sie beruht ganz allein auf der Eigenschaft des Wassers, sich
durch Wärme in Dampf aufzulösen, und die Bewegung, in welche der
Wasserdampf den Deckel eines Theekessels setzt, hat die Veranlassung zu
ihrer Entdeckung gegeben.
Fortgesetzte Beobachtungen haben gelehrt, daß das Wasser, wenn man
es über dem Feuer in Dampf verwandelt, einen sechzehuhundertmal größeren
Raum einnimmt als im tropfbarflüssigen Zustande, und daß die in
Dampf verwandelten Wassertheilchen sich mit einer unwiderstehlichen Kraft
ausdehnen. Ein Engländer, Namens James Watt (geb. 1736), regelte
diese Dampfkraft zuerst zum Treiben einer Maschine. Dieser Versuch
>
war natürlich noch mangelhaft; allein zu einer Erfindung bedarf es nur
der ersten brauchbaren Anwendung, die rastlose Thätigkeit des menschlichen
Geistes verfehlt dann nicht, zu verbessern und zu vervollkommnen. So
sehen wir jetzt die Dampfkraft zum gewaltigen Matrosen in Dampfschiffen,
als pfeilschnelles, riesenstarkes Pferd auf Eisenbahnen, als unermüdlichen
Wasserpumper, als tausendarmigen Baumwollenspinner, als rastlosen
Weber, als ausgezeichneten Müller, und wer weiß alles noch, umgeschaffen.
Eine Dampfmaschine, so einfach das Naturgesetz ist, auf dem sie be- >>
ruht, ist dennoch ein höchst kunstvoll zusammengesetztes Werk, welches mau
nur durch den Augenschein ganz begreifen kann. Im Allgemeinen ist ihre
Einrichtung folgende: Unter einem großen, langrunden, fest verschlossenen
Kessel, der zu zwei Dritteln mit Wasser angefüllt ist, befindet sich ein
Feuerherd, der in der Regel mit Steinkohlen geheizt wird und durch eine
große Glut das Wasser im Kessel zum Sieden bringt. Der Dampf,
welcher sich dadurch entwickelt, steigt aus dem Kessel durch eine Röhre in
einen starken, aus Gußeisen verfertigten Cylinder, d. h. in ein langes,
drehrundes Gefäß. In diesem Cylinder bewegt der Dampf, indem er
vermöge einer besonderen Vorrichtung abwechselnd bald an der einen, bald
an der andern Seite einströmt, einen an die Wände des Cylinders ganz
eng anschließenden Kolben abwechselnd hin und zurück. An dem Kolben ist !
eine starke Eisenstange befestigt, so daß der Verbindungspunkt beweglich
ist; dieselbe steht mit ihrem äußeren Ende wieder in Verbindung mit i
einer andern, welche an einer Kurbel das Schwungrad und vermittelst
desselben die ganze Maschine in Bewegung setzt. Der Dampf, nachdem
er seine Kraft ans den Kolben des Cylinders ausgeübt hat, wird in
Röhren aufgefangen, in denen er durch Abkühlung wieder zu Wasser nie-
dergeschlagen und in den Kessel zurückgeführt wird.
Die Kraft der Dampfmaschinen hängt von der Größe ihres Kessels
ab, nach welchem natürlich die ganze übrige Maschine eingerichtet werden
537
muß. Man hat jetzt Dampfmaschinen erbaut, welche die Kraft von 1200
Pferden ersetzen. Neben der großen Kraftentwickelung ist die Regelmäßig-
keit und Unermüdlichkeit der Bewegung ein Hauptvorzug der Dampfmaschine,
und deshalb läßt sich ihre Treibkraft mit so großem Erfolge für die Be-
wegung der künstlichsten Maschinen in Anwendung bringen.
Lesebuch von Au ras u. Gn erlich.
424. Die Trichine, der Bandwurm und die Finne.
1.
Die Trichinen verursachen die schreckliche Trichinenkrankheit, die von
den Ärzten erst in neuester Zeit erkannt worden ist. Das winzig kleine
Würmchen lebt im Fleische mancher Thiere, namentlich der Schweine.
Genießt der Mensch trichinenhaltiges Schweinefleisch, so erkrankt er mehr
oder weniger schwer, ja nicht selten tritt der Tod ein. Die genossenen
Trichinen setzen sich nämlich im Darm des Menschen fest und erzeugen
hier lebendige Junge, Fadenwürmchen, wie man sie kleiner kaum kennt.
Die alten Trichinen bleiben im Darm, bis sie untergehen; die junge Brut
aber wandert vom Darm aus in den Körper des Menschen ein. In dem
Fleische allein treffen die jungen Trichinen eine für ihr weiteres Wachs-
thum geeignete Wohnstätte. Schon 14 Tage nach der Einwanderung ist
das Würmchen ausgewachsen. Nun rollt es sich spiralig zusammen, wie
eine Uhrfeder, und es bildet sich dann nach und nach um ein jedes Thier-
chen eine Kapsel aus Kalksalz, so daß es zuletzt in einer Kalkschale steckt
wie ein Vogelei. Sind die Trichinen eingekapselt, so können sie sich nicht
mehr weiter bewegen und weiter entwickeln. Die Kapsel ist für sie ein
Gefängnis, aus welchem sie nur frei werden, wenn sie mit dem Fleisch,
in dem sie liegen, in den Blagen eines Essers gelangen.
Der Gesammtverlauf in der Entwickelung der Trichinen ist also fol-
gender: 1) die genossenen Trichinen bleiben im Darm und kommen nicht
in die Muskeln; 2) sie erzeugen lebendige Junge, welche in die Muskeln
einwandern; 3) die in die Muskeln eingewanderte Brut wächst darin,
aber sie vermehrt sich nicht.
Die eigentliche Gefahr liegt demnach in der Erzeugung junger Brut
durch die Darmtrichinen. Eine Trichinenmutter hat gegen 100 lebendige
Junge in ihrem Leibe, und hinter diesen Jungen erzeugt sie immer wieder
noch neue Eier. Rechnen wir auch nur 200 Junge auf eine Trichinen-
mutter, so genügen 5000 solcher Mütter, um eine Million Junge für die
Einwanderung zu liefern, und so viele Mutterthiere können in wenigen
Bissen Fleisch enthalten sein, wenn auch noch kein sehr hoher Grad von
Anfüllung desselben vorhanden ist.
Je mehr lebende Trichinen genossen werden, und je länger sie im
Darm verweilen, um so mehr Junge werden geliefert, und um so höher
steigt die Gefahr.
Die Erscheinungen der Trichinenkrankheit stellen sich sehr verschieden
dar. Gewöhnlich sind es ruhrartige Zufälle, dann Schwäche, Mattigkeit,
Schmerzen wie bei Gicht; ferner tritt Fieber ein wie bei Nervenfieber.
Meist schwillt das Gesicht auf, namentlich die Angengegend. Zuweilen
sterben die Menschen innerhalb drei bis vier Wochen nach dem Genusse;
538
nicht selten nimmt die Krankheit einen mehr schleichenden Verlauf, und es
tritt eine langsame Genesung ein, oder statt deren ein langwieriges Siech-
thum. — Durch ein einziges Schwein sind im October 1863 in Hettstedt
bei Eisleben 150 Menschen schwer erkrankt und 25 gestorben. In dem
Dorfe Hedersleben bei Quedlinburg erkrankten 1865 gegen 300 Personen
an der Trichinenkrankheit; es starben über 80. Solche Beispiele sollten
uns warnen vor dem Genuß des rohen Schweinefleisches, wie es im
Schinken und mancher Wurst uns dargeboten wird. Durch Kochen und
Braten, sowie durch starke Räucherung des Fleisches werden die Trichinen
getödtet.
2.
Den Trichinen gleichen in vieler Beziehung die Finnen, welche be-
kanntermaßen bei Schweinen nicht selten sind. Die Finnen sitzen auch im
Fleische, sie kommen häufig in großer Zahl vor, sie haben nie Eier und
erzeugen nie Junge, geradeso wie die Muskeltrichinen. Die Finnen sind
aber ungleich größer. Während die Trichinen, auch wenn man die Kapseln
zu dem Thier rechnet, höchstens einen kleinen weißen Punkt oder einen
feinen Strich darstellen, so erreichen die Finnen die Größe einer Erbse,
zuweilen die einer kleinen Kirsche oder Bohne. Eine Verwechselung beider
ist daher nicht möglich.
Schon die besseren Untersucher des porigen Jahrhunderts hatten be-
merkt, daß der Finnenwurm eine große Übereinstimmung des Baues mit
dem Kopfe eines Bandwurmes besitze, und sie hatten daher beide, den
Finnenwurm und den Bandwurm, zu einem und demselben Geschlecht ge-
rechnet. Indes betrachteten sie doch beide als getrennte Arten derselben
Gattung, welche neben einander beständen, wie etwa Esel und Pferd, Hund
und Wolf, ohne jemals in einander über- oder auseinander hervorzugehen.
Erst die weitergehende Forschung der neuesten Zeit führte zu dem Ergeb-
nis, daß der Finnenwurm des Fleisches, wenn er von einem Thiere oder
Menschen gegessen wird, sich im Darm desselben in einen Bandwurm ver-
wandelt oder vielmehr zu einem Bandwurm entwickelt, daß also derselbe
Wurm eine Zeit lang in dem Finnenzustand lebt, um später in den Band-
wurmzustand überzugehen.
Schwieriger war die Frage, wie der Wurm in den Finnenzustand
und in das Fleisch gelangt. In dem Bandwurmzustand erzeugt er an
seinem hintern Leibesende durch Wachsthum und Abschnürung immer neue
Glieder, von denen jedes in sich nicht bloß Eier und Samen, sondern auch
lebendige Junge hervorbringt. Diese schlüpfen aber aus der Eierschale
erst aus, nachdem sie mit den Stuhlgängen aus dem Körper entleert
worden und aus irgend eine Weise mit der Nahrung oder mit dem Ge-
tränk wieder von> einem Thiere (Schweine) genossen sind. Sobald sie in
den Magen gelangt sind, löst sich die Schale; die jungen, dann noch ganz
kleinen Thierchen werden frei, durchdringen die Darmwand und gelangen
in verschiedene Theile des Körpers, um sich zu Finnenwürmern zu
entwickeln.
Es ist dies eine lange und in hohem Maße dem Zufalle überlassene
Entwickelungsreihe. Der Finnenwurm muß gegessen werden, um im Darm
des Essers zum Bandwurm zu werden, und die von diesem in seinen ein-
539
getiten Gliedern erzeugten Eier und Junge müssen wiederum genossen oder
wenigstens eingenommen werden, um in das Innere des Körpers und
namentlich in das Fleisch eindringen und sich hier zu neuen Finnenwürmern
ausbilden zu können. r>,-. Birchow.
425. Ebbe und Flut.
Sehr merkwürdig ist das regelmäßige Steigen und Fallen des Meer-
wassers, welches man Flut und Ebbe nennt. Das Steigen dauert, wie
man fast an allen Meeresküsten beobachten kann, etwas über sechs Stun-
den. Hat die Flut den höchsten Stand erreicht, so verharrt das Wasser
einige Minuten in demselben; dann tritt die Ebbe ein, die gleichfalls
etwas mehr als sechs Stunden andauert. Ebbe und Flut wiederholen
sich also täglich zweimal, genauer gesagt in beinahe 25 Stunden, so daß
die Flut an jedem Tage fast um eine Stunde später eintritt. Zur Zeit
des Neu- und Vollmondes entstehen die gefährlichsten Springfluten, welche
oft ganze Inseln bedecken und das niedrigliegende Küstenland wegschwemmen.
So ist die Zuydersee an der holländischen Küste entstanden oder doch ver-
größert worden. Noch sicherer weiß man dieses vom Dollart an der
deutschen Küste. In den furchtbaren Sturmfluten des Jahres 1277 hat
die Nordsee eine reiche Küstengegend von sechs Quadratmeilen bedeckt und
eine Stadt nebst fünfzig Dörfern in die Tiefe begraben.
Übrigens ist die Höhe, welche die Flut in den verschiedenen Küsten-
strichen erreicht, sehr ungleich. In den Binnenmeeren ist sie viel geringer,
als an den Küsten der offenen Meere. In der Ostsee ist sie kaum wahr-
zunehmen; im Mittelmeer beträgt sie nur J/2 bis 3/4 Meter. An den
Küsten der Nordsee wechselt die Höhe der Flut zwischen zwei und sechs
Metern. Eine noch viel bedeutendere Höhe erreicht sie da, wo sich das
Meer plötzlich verengt. Es sind Beispiele bekannt, daß sie an solchen
Stetten bis zu 20 Metern gestiegen ist.
Neben der großen Gefahr, mit welcher die Flut den Küstenbewohnern
droht, gewährt sie ihnen aber auch große Vortheile. Die Gräben, die
noch vor einigen Stunden kaum ein Boot zu tragen vermochten, sind nach
dem Eintritt der Flut selbst für größere Fahrzeuge fahrbar geworden.
Alle die Schiffe, welche die Ebbe auf den Sand setzte, schief auf die
Seite gebeugt, — sie richten sich wieder empor und erheben sich wie arme
Kranke, die man der frischen Luft zurückgibt. Endlich lösen sie sich völlig
aus dem klebrigen Boden und schwanken empor auf dem klaren Elemente,
wie flüchtende Enten, die sich vom festen Lande auf den glatten Teich ge-
rettet haben. Nun wird an allen Häfen und an allen Ufern gerüstet.
Schiffe von allen Arten spannen die Segel auf, entfernen sich vom
Strande und tragen Reisende und Waren von Ufer zu Ufer. Die Ebbe
dagegen enthüllt die Geheimnisse der Tiefe. Die Ernte der Muschel-
sammler und Krabbenfänger ist gereift; die armen Menschen schleichen an
den Bollwerken der Häfen umher, um die Saat des Meeres in Empfang
zu nehmen. Da kommt auch manches wunderliche Ungethüm der Wasser-
welt zu Tage, das sich verspätet hat und von der Ebbe überrascht worden
ist; da erblickt man neben den Korallen und Gewächsen der dunklen Tiefe
versandete Wracks und allerlei Balkenwerk gestrandeter Schiffe. Selbst
540
in der Luft herrscht zur Zeit der Ebbe ein regeres Leben; den Vögeln ist
nicht umsonst ihre Tafel auf den Sandbänken so reichlich gedeckt. Die
Strandläufer, die Möven, selbst die Schnepfen und Störche flattern und
laufen am Ufer umher, oder sie schweben zu den blosgelegten Schwamm-
inseln hinüber und machen Jagd ans das Gewürm der See. Während
der Flutzeit, die ihnen ihre Beute entzieht, sitzen sie dann ruhig am
Lande, auf den Wiesen und hinter den Deichen, um das leckere Gericht
zu verdauen und sich zu neuer Thätigkeit zu stärken. «„»i.
426. Die Wacht am Rhein.
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
„Zmn Rhein, zum Rhein, zum deutschen
Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?“
Lieb Vaterland, magst ruhig sein.
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Durch hunderttausend zuckt es schnell,
Und aller Augen blitzen hell.
Der deutsche Jüngling fromm und stark
Beschirmt die heil’ge Landesmark.
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Auf blickt er in des Himmels Blau’n,
Wo todte Helden niederschaun,
Und schwört mit stolzer Kampfeslust:
„Du Rhein bleibst deutsch wie meine
Brust.“
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,'
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
„Und ob mein Herz im Tode bricht,
Wirst du doch drum ein Welscher nicht.
Reich wie an Wasser deine Flut
Ist Deutschland ja an Heldenblut.“
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
„So lang’ ein Tröpfchen Blut noch
glüht,
Noch eine Faust den Degen zieht,
Und noch ein Arm die Büchse spannt,
Betritt kein Welscher deinen Strand.“
Lieb Vaterland, magst ruhig sein.
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
Die Fahnen flattern in dem Wind.
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen
Rhein!
Wir alle wollen Hüter sein.
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Max S ch n e c k e n b u r g e r. 1840.
427. Die Schlacht Don Gravclotte am 18. August 1870.
Durch die Schlachten vom 14. und 16. August war deu Franzosen der
Rückzug auf der Straße nach Verdun >) abgeschnitten; jetzt sollte ihnen
auch der Abzug in nördlicher Richtung durch die Ardennen unmöglich
gemacht werden. Am 17. wurden die Truppen, die an den letzten Ge-
fechten nicht betheiligt waren, herangezogen. Am folgenden Tage über-
nahm König Wilhelm die persönliche Leitung der bevorstehenden Schlacht
und überschaute mit dem General v. Moltke und dem Prinzen Friedrich
Karl von den Höhen die Stellung des Feindes, deren Mittelpunkt das
Dorf St. Prjvat2) war, während die französische Nachhut bei Gravelotte3)
stand.
Die deutschen Truppen hatten am Morgen des 18. August folgende
Aufstellung: Drei Corps, das Gardecorps, das IX. und das XII. Corps,
bildeten die erste Linie. Sächsische und preußische Kavallerie giengen zur
Aufklärung den Colounen voraus. In zweiter Linie folgten das III. und
das X. Corps; als letzte Reserve verblieb das II. Armeecorps, die Pommern,
die aber erst von Pont a Mousson^) im Anmarsch waren.
Das IX. Corps stieß zunächst auf vorgeschobene Abtheilungen des
Sprich: fl Werdöng. fl ßiing Priwah. fl Graw'lott'. fl Pong ta Mußong.
541
Feindes und eröffnete nm 12 Uhr durch Geschützfeuer die Schlacht; die
erste Armee erhielt Befehl, auf dem rechten Flügel die auf den Höhen
von Gravelotte und RezonvilleH stehenden Feinde durch Artilleriefeuer zu
beschäftigen, und eröffnete um 3j4l Uhr eine langsame und wohlgegezielte
Kanonade, welche der Feind aus zahlreichen Batterien erwiderte. Der
Prinz Friedrich Karl non Preußen.
Donner der Geschütze wurde übertönt durch das seltsame Geräusch der
Mitrailleusen -). Zwischen 2 und 3 Uhr begann der Jnfanteriekampf. Die
Stellung des Feindes dehnte sich über den ganzen Höhenzug von St.
Marie aux Chönes3) bis zu der von Metz nach Verdun führenden Land-
straße aus und war eine außerordentlich starke. Diese Höhen waren ohnehin
Spricht 1) Reßongwihl. 2) Mitrajösen. 3) ßiing Mari oh Schähn.
542
sehr schwer einzunehmen, aber die Franzosen hatten noch besondere Be-
festigungswerke angelegt und Schützengräben in mehreren Stockwerken hinter
und über einander aufgeworfen, so daß der Höhenzug an einzelnen Stellen
ganz einer Festung glich.
Lange und schwer wogte der Kampf an den verschiedenen Punkten.
Auf dem linken Flügel kämpften die Sachsen und das Gardecorps um
St. Marie aux Chönes und die
dahinter sich erhebende Anhöhe
von St. Privat und das gleich-
namige Dorf; es war der Schlüssel
der feindlichen Stellung und
wurde endlich unter großem Blut-
vergießen erobert. Während aber
der Sieg auf diesem Flügel er-
rungen war, stand es auf dem
rechten, bei Gravelotte, noch be-
denklich. Nur wenn das zweite
Corps noch rechtzeitig zum Ein-
greifen erschien, konnte eine gün-
stige Entscheidung noch herbei-
geführt werden. Und die braven
Pommern, die seit 2 Uhr früh
im Marsch begriffen, kommen zu
rechter Stunde und stürmen, von
dem General v. Moltke selbst in
Schlachtreihe geführt, unter ihrem
heldenmütigen Führer Fransecky
sofort auf die verschanzten Höhen
von Gravelotte los, und dieser
Sturm entschied den Kampf.
Der König, welcher die Schlacht zuletzt von der Höhe von Grave-
lotte geleitet hatte, war mit seinem Gefolge in ein heftiges Granatfeuer
gerathen, aus dem er sich auf dringendes Bitten des an seiner Seite
befindlichen Kriegsministers v. Roon entfernte. An einer Gartenmauer
von Rezonville hatte man einen Sitz für ihn hergerichtet, indem man
eine Leiter von einem Bauerwagen mit dem einen Ende auf eine Decimal-
wage, mit dem andern auf einen verendeten französischen Grauschimmel
gelegt hatte. Ganz in der Nähe warf eine in Flammen stehende Woll-
spinnerei ihr unheimliches Licht auf seine nächste Umgebung, in der sich
Prinz Karl, der Großherzog von Weimar, der Erbgroßherzog von Mecklen-
burg, Graf Bismarck, v. Roon und Gras Dönhoff befanden. Tiefes
Schweigen herrschte, während jeder mit dem König fühlte, daß das auf
dem Höhenpunkte tobende Schlachtgetümmel die Entscheidung bringen
mußte/ Da sprengt Moltke im gestreckten Laufe seines Pferdes heran
mit den Worten: „Majestät, wir haben gesiegt, der Feind ist aus allen
Stellungen geworfen!" Ein kräftiges Hurrah der Umstehenden war die
Antwort. Jetzt gedachte man auch der Erquickung. Ein Marketender,
der mit seinem Wagen in der Nähe hielt, mußte das Nöthigste liefern.
M 011 li t.
- 543
Der König trank aus einem abgebrochenen Tulpenglase, Bismarck kaute
vergnügt an einem großen Stück Kommisbrot. Mit Blühe wurden für
den König einige Stücke Fleisch und später ein Nachtlager beschafft.
Bismarck zerschlug einige Eier am Degenknvpf und machte sich dann auf,
So war es denn der un-
übertrefflichen Tapferkeit der
deutschen Truppen gelungen,
den Feind aus allen seinen
Linien zu werfen. Abends
gegen J/29 Uhr bei völliger
Dunkelheit endete die
Schlacht. Im Laufe der
Nacht zogen sich die ge-
worfenen feindlichen Trup-
pen in das verschanzte Lager
von Metz zurück. Die ge-
sammte französische Haupt-
armee war in der Schlacht
betheiligt gewesen. Es war
ein Riesenkampf; 270,000
Deutsche hatten gegen
220,000 Franzosen gefochten,
deren Macht durch ihre Stel-
lungen mehr als verdoppelt
war. Preußen, Sachsen und
Hessen hatten in treuer
Waffenbrüderschaft zusam-
men gefochten und einen
blutigen, in der Kriegs-
Einstimmig ist das Urtheil,
daß sich sämmtliche Befehlshaber durch musterhafte Führung und alle
Truppen durch außerordentliche Tapferkeit und Ausdauer ausgezeichnet'
haben. Das große Ziel des Kampfes, den Feind in die Mauern von
Metz zu bannen, war erreicht, aber über alle Maßen schwer waren auch
die Verluste auf deutscher Seite: 14,000 lagen todt und verwundet auf
der Walstatt, und in tausenden von Familien knüpften sich an die Schlacht
von Gravelotte die schmerzlichsten Erinnerungen.
In langen fast unübersehbaren Reihen wurden die Todten bestattet,
zunächst die Officiere. Eine Leichenfeier ward gehalten. Die Soldaten,
den Helm auf dem Haupte, traten an. Die ergreifende Predigt der
Geistlichen, die Trauermusik und der Anblick der Todten machte einen so
erschütternden Eindruck auf die Umstehenden, deren Gemüth ohnehin schon
durch die Ereignisse des vorigen Tages angegriffen war, daß die Thränen,
stromweis flössen und nur allgemeines Schluchzen gehört ward. Zuletzt
warf jeder eine Hand voll Erde in die Gruft, und in weniger als einer
halben Stunde wölbten sich die Hügel über den Gefallenen, deren Ruhe-
stätte durch einfache Kreuze aus Brettern bezeichnet wurde. Stack-.
ein Unterkommen für die Nacht zu suchen.
U 0 011.
qeschichte einzig dastehenden Sieg errungen.
544
428. Die Nasse von Gravelotte.
Heiß war der Tag und blutig die Schlacht,
Kühl wird der Abend und ruhig die Nacht.
Droben vom Waldsaum nieder ins Thal
Dreimal schmettert Trompetensignal;
Ladet so laut und schmettert so hell,
Ruft die Dragoner zurück zum Appell.
Truppweis, in Rotten, zu drei'n und zwei'n
Stellen die tapfern Reiter sich ein.
Aber nicht alle kehren zurück,
Mancher liegt da mit gebrochenem Blick.
Kam zur Reveille frisch noch und roth,
Liegt beim Appell bleich, blutig und todt.
Ledige Rosse, den Sattel leer,
Irren verwaist ans der Walstatt umher,
Doch der Trompete schmetternd Signal
Rust aus der Ferne zum drittenmal.
Schau, und der Rappe, dort spitzt er das Ohr,
Wiehernd wirft er die Nüstern empor.
Sieh, und der Braune gesellt sich ihm bei,
Trabt ihm zur Seite wie sonst in der Reih'.
Selber der blutige Schimmel, so müd,
Hinkt auf drei Beinen und reiht sich ins Glied.
Trnppweis, in Rotten, zu drei'n und zwei'n
Stellen die ledigen Rosse sich ein.
Rosse wie Reiter verstehn den Appell;
Ruft die Trompete, so sind sie zur Stell.
Ueber dreihundert hat man gezählt,
Rosse, zu denen der Reitersmann fehlt.
Über dreihundert, o blutige Schlacht,
Die so viel Sättel hat ledig gemacht!
Uber dreihundert, o tapfre Schar,
Wo bei vier Mann ein Gefallener war!
Uber dreihundert, o ritterlich Thier,
Ohne den Reiter noch treu dem Panier! —
Wenn ihr die Tapfern von Gravelotte nennt,
Denkt auch der Rosse vom Leibregiment!
R. Geros.
429. Tie Trompete von Bionville.
Sie haben Tod und Verderben gespie'n:
Wir haben es nicht gelitten.
8wci Colonnen Fußvolk, zwei Batterie'n,
Kr haben sie niedergeritten.
Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt,
Tief die Landen und hoch die Fahnen,
So haben wir sie znsammengesprengt, —
Kürassiere wir und Ulanen.
Doch ein Blutritt war es, ein Todesritt,
Wohl wichen sie unsren Hieben,
Doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt,
Unser zweiter Mann ist geblieben.
Die Brust durchschossen, die Stirn zerklafft,
So lagen sie bleich aus dem Rasen,
In der Kraft, in der Jugend dahingerafft, —
Nun Trompeter, zum Sammeln geblasen!
Und er nahm die Trompet', und er hauchte hinein;
Da, — die muthig mit schmetterndem Grimme
Uns geführt in den herrlichen Kampf hinein, —
Der Trompete versagte die Stimme!
Nur ein klangloses Wimmern, ein Schrei voll Schmerz,
Entquoll dem metallenen Munde;
Eine Kugel hatte durchlöchert ihr Erz, —
Um die Todten klagte die wunde!
Um die Tapsern, die Treuen, die Wacht am Rhein,
Um die Brüder, die heut gefallen, —
Um sie alle, es gieng uns durch Mark und Bein,
Erhob sie gebrochnes Lallen.
Und nun kam die Nacht, und wir ritten hindann;
Rundum die Wachtfeuer lohten:
Die Rosse schnoben, der Regen rann —
Und wir dachten der Todten, der Todten! F. FreiUgrath.
545
4130. Die Schlacht bei Sedan') am 1. September 1870.
(Brief König Wilhelms an die Königin Augusts.)
V end reffe-), 3. September 1870.
Du kennst nun durch meine drei Telegramme den ganzen Umfang
des großen geschichtlichen Ereignisses, das sich zugetragen hat. Es ist wie
ein Traum, selbst wenn man es Stunde für Stunde hat abrollen sehen!
Wenn ich mir denke, daß nach einem großen, glücklichen Kriege ich
während meiner Regierung nichts Ruhmreicheres mehr erwarten konnte,
und wenn ich nun diesen weltgeschichtlichen Act erfolgt sehe, so beuge ich
mich vor Gott, der allein mich, mein Heer und meine Mitverbündeten
ausersehen hat, das Geschehene zu vollbringen, und uns zu Werkzeugen
seines Willens bestellt hat. Nur in diesem Sinne vermag ich das Werk
aufzufassen, um in Demut Gottes Führung und seine Gnade zu preisen.
Nun folge ein Bild der Schlacht und deren Folgen in gedrängter Kürze.
Die Armee war am Abend des 31. und am 1. früh in den vorge-
schriebenen Stellungen angelangt, rund um Sedan. Der Kampf begann
trotz dichten Nebels schon früh am Morgen, und es entspann sich nach
und nach ein sehr hitziges Gefecht, wobei in den Dörfern Haus für Haus
genommen werden mußte, was fast den ganzen Tag dauerte. Als ich um
8 Uhr auf der Front vor Sedan eintraf, begann die große Batterie gerade
ihr Feuer gegen die Festungswerke. Auf allen Punkten entspann sich nun
ein gewaltiger Geschützkampf, der stundenlang dauerte, und während dessen
von unserer Seite nach und nach Terrain gewonnen wurde.
Sehr tief eingeschnittene Schluchten mit Wäldern erschwerten das
Vordringen der Infanterie und begünstigten die Vertheidigung. Die Dörfer
wurden genommen, und allmählich zog sich der Feuerkreis immer enger
um Sedan zusammen. Es war ein großartiger Anblick von unserer
Stellung auf einer Höhe hinter jener genannten Batterie. Der heftige
Widerstand des Feindes fieng allmählich an nachzulassen, was wir an den
aufgelösten Bataillonen erkennen konnten, die eiligst aus den Wäldern
und Dörfern zurückliefen. Die Cavallerie suchte einige Bataillone unseres
fünften Corps anzugreifen, die eine vortreffliche Haltung bewahrten; die
Cavallerie jagte durch die Zwischenräume zwischen den Bataillonen durch,
kehrte dann um und auf demselben Wege zurück, was sich dreimal von
verschiedenen Regimentern wiederholte, so daß das Feld mit Leichen und
Pferden besäet war, was wir alles von unserm Standpunkte genau mit
ansehen konnten.
Da sich der Rückzug des Feindes auf vielen Stellen in Flucht auf-
löste, und alles, Infanterie, Cavallerie und Artillerie, in die Stadt und
die nächsten Umgebungen sich zusammendrängte, aber noch immer keine An
deutung sich zeigte, daß der Feind sich durch Capitulation aus dieser ver-
zweifelten Lage zu ziehen beabsichtige, so blieb nichts übrig, als durch die
genannte Batterie die Stadt bombardieren zu lassen. Da es nach ungefähr
20 Minuten bereits an mehreren Stellen brannte, was mit den vielen
brennenden Dörfern in dem ganzen Schlachtkreise einen erschütternden
Sprich: >) Sedang. 2) Wangdrähß.
35
546
Eindruck machte, so ließ ich das Feuer schweigen und sendete den Oberst-
lieutenant von Bronsart vom Generalstabe als Parlamentär mit weißer
Fahne ab, der Armee und Festung die Capitulation antragend. Ihm be-
gegnete bereits ein bayrischer Officier, der mir meldete, daß ein französi-
scher Parlamentär mit weißer Fahne am Thore sich gemeldet habe. Der
Oberstlieutenant von Bronsart wurde eingelassen, und auf seine Frage
nach dem Oberbefehlshaber wurde er unerwartet vor den Kaiser geführt,
der ihm sofort einen Brief an mich übergeben wollte. Als der Kaiser
fragte, was für Aufträge er habe, und zur Antwort erhielt: „Armee und
Festung zur Übergabe aufzufordern", erwiderte er, daß er sich dieserhalb
an den General von Wimpffen zu wenden habe, der für den blessirten
Mac-Mahon so eben das Commando übernommen habe, und daß er nun-
mehr seinen Generaladjutanten Reille mit dem Briefe an mich absenden
werde. Es war 7 Uhr, als Reille und Bronsart zu mir kamen; letzterer
kam etwas voraus, und durch ihn erfuhren wir erst mit Bestimmtheit, daß
der Kaiser anwesend sei. Du kannst Dir den Eindruck denken, den es
auf mich vor allem und auf alle inachte! Reille sprang vom Pferde und
übergab mir den Brief seines Kaisers, hinzufügend, daß er sonst keine
Aufträge habe. Roch ehe ich den Brief öffnete, sagte ich ihm: „Aber ich
verlange als erste Bedingung, daß die Armee die Waffen niederlege." Der
Brief fängt an: „Da ich nicht an der Spitze meiner Truppen habe sterben
können, übergebe ich Eurer Majestät meinen Degen", alles weitere mir
anheimstellend.
Meine Antwort war, daß ich die Art unserer Begegnung beklage
und um Sendung eines Bevollmächtigten ersuche, mit dem die Capitula-
tion abzuschließen sei. Nachdem ich dem General Reille den Brief über-
geben hatte, sprach ich einige Worte mit ihm als altem Bekannten, und
so endigte dieser Act. — Ich bevollmächtigte Moltke zum Unterhändler
und gab Bismarck auf, zurückzubleiben, falls politische Fragen zur Sprache
kämen, ritt dann zu meinem Wagen und fuhr hierher, auf der Straße
überall von stürmischen Hurrahs der voranziehenden Trains begrüßt, die
überall die Volkshymne anstimmten. Es war ergreifend! Alles hatte
Lichter angezündet, so daß man zeitweise in einer unvorbereiteten Illu-
mination fuhr. Um 11 Uhr war ich hier und trank mit meiner Umgebung
auf das Wohl der Armee, die solches Ereignis erkämpfte.
Als ich am Morgen des 2. noch keine Meldung von Moltke über
die Capitulationsverhandlungen erhalten hatte, die in Donchery l) smtt-
finden sollten, so fuhr ich verabredetermaßen nach dem Schlachtfelde um
8 Uhr früh und begegnete Moltke, der mir entgegenkam, um meine Ein-
willigung zur vorgeschlagenen Capitulation zu erhalten, und mir zugleich
anzeigte, daß der Kaiser früh 5 Uhr Sedan verlassen habe und auch nach
Donchery gekommen sei. Da derselbe mich zu sprechen wünschte und sich
in der Nähe ein Schlößchen mit Park befand, so wählte ich dies zur Be-
gegnung. Um 10 Uhr kam ich auf der Höhe vor Sedan an; um 12 Uhr
erschienen Moltke und Bismarck mit der vollzogenen Capitulationsurkunde;
um ein Uhr setzte ich mich mit' Fritz in Bewegung, von der Cavallerie-
Sprich: >) Dongjcherie.
547
Stabswache begleitet. Ich stieg vor dem Schlößchen ab, wo der Kaiser
mir entgegenkam. Der Besuch währte eine Viertelstunde; wir waren beide
sehr bewegt über dieses Wiedersehen. — Was ich alles empfand, nachdem
ich noch vor drei Jahren Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht gesehen
hatte, kann ich nicht beschreiben.
Nach dieser Begegnung beritt ich von 21/2 bis 7 >/2 Uhr die ganze
Armee vor Sedan. Den Empfang der Truppen, das Wiedersehen des
so stark gelichteten Gardecorps, das alles kann ich Dir heute nicht be-
schreiben; ich war tief ergriffen von so vielen Beweisen der Liebe und
Hingebung.
Nun Lebewohl mit bewegtem Herzen am Schluffe eines solchen Brieses!
Wilhelm.
431. Napoleon und Bismarck nach der Schlacht von Sedan.
(Brief Bismarck’§ an seine Gemahlin.)
Vendrefse, 3. September.
Mein liebes Herz!
Vorgestern vor Tagesgrauen verließ ich mein hiesiges Quartier, kehre
heute zurück und habe in der Zwischenzeit die große Schlacht von Sedan
am 1. erlebt, in der wir gegen 30,000 Gefangene machten und den Rest
der französischen Arinee, der wir
seit Bar le Duc') nachsagten, in
die Festung warfen, wo sie sich mit
dem Kaiser kriegsgefangen ergeben
mußte. Gestern früh 5 Uhr, nach-
dem ich bis 1 Uhr früh mit Moltke
und den französischen Generälen über
die abzuschließende Capitulation ver-
handelt hatte, weckte mich der Ge-
neral Reille, den ich kenne, um mir
zu sagen, daß Napoleon mich zu
sprechen wünschte. Ich ritt unge-
waschen und ungefrühstückt gegen
Sedan, fand den Kaiser im offenen
Wagen mit drei Adjutanten und
drei zu Pferde daneben auf der
Landstraße von Sedan haltend. Ich
saß ab, grüßte ihn ebenso höflich
wie in den Tuilerien2) und fragte
nach seinen Befehlen. Er wünschte
den König zu sehen; ich sagte ihm
der Wahrheit gemäß, daß Se. Ma-
Fiirst von Lismarck. jestät drei Meilen davon an dem
Orte, wo ich jetzt schreibe, sein
Quartier habe. Auf Napoleons Frage, wohin er sich begeben solle, bot
>ch ihm, da ich der Gegend unkundig, mein Quartier in Donchery an,
sprich: ff Bar le Dük. 2) Tüilerien (Napoleons Palast in Paris).
35*
548
einem kleinen Orte in der Nähe dicht bei Sedan; er nahm es an und
fuhr, von seinen sechs Franzosen, von mir und von Karl, der mir in-
zwischen nachgeritten war, geleitet, durch den einsamen Morgen nach
unserer Seite zu. Vor dem Ort wurde es ihm leid, wegen der möglichen
Menschenmenge, und er fragte mich, ob er in einem einsamen Arbeiter-
hause am Wege absteigen könne; ich ließ es besehen durch Karl; der
meldete, es sei ärmlich und unrein. „Das macht nichts aus", meinte
Napoleon, und ich stieg mit ihm eine gebrechliche enge Stiege hinauf.
In einer Kammer von zehn Fuß Gevierte, mit einem fichtenen Tisch
und zwei Binsenstühlen, saßen wir eine Stunde, die andern waren unten.
Ein gewaltiger Contrast mit unserm letzten Beisammensein 1867 in
den Tuilerien. Unsere Unterhaltung war schwierig, wenn ich nicht
Dinge berühren wollte, die den von Gottes gewaltiger Hand Nieder-
geworfenen schmerzlich berühren mußten. Ich hatte durch Karl Officiere
aus der Stadt holen und Moltke bitten lassen zu kommen. Wir schickten
dann einen der ersteren auf Recognosciruug und entdeckten eine halbe
Meile davon in Fresnois *) ein kleines Schloß mit Park. Dorthin
geleitete ich ihn mit einer inzwischen herangeholten Escorte vom Leib-
Kürassierregimente, und dort schlossen wir mit dem französischen Ober-
general Wimpffen die Capitulation, vermöge deren 40- bis 60,000
Franzosen (genauer weiß ich es noch nicht) mit allem, was sie haben,
unsere Gefangenen wurden. Der vor- und gestrige Tag kosten Frankreich
100,000 Mann und einen Kaiser. Heut früh gieng letzterer mit allen
seinen Hofleuten, Pferden und Wagen nach Wilhelmshöhe bei Kassel ab.
Es ist ein weltgeschichtliches Ereignis, ein Sieg, für den wir Gott
dem Herrn in Demuth danken wollen, und der den Krieg entscheidet, wenn
wir auch letzteren gegen das kaiserlose Frankreich noch fortführen müssen.
Ich muß schließen. Mit herzlicher Freude ersah ich heut aus Deinen
und Marias Briefen Herberts Eintreffen bei Euch. Bill-) sprach ich gestern,
wie schon telegraphirt, und umarmte ihn angesichts Sr. Majestät vom
Pferde herunter, während er stramm im Gliede stand. Er ist sehr gesund
und vergnügt. Leb wohl, mein Herz. Grüße die Kinder.
Dein v. B.
4:42. Am 3. September 1870.
1. Nun laßt die Glocken
Bon Turm zu Turm
Durchs Land frohlocken
Im Jubelsturm!
Des Flammenstoßcs
Geleucht facht an!
Der Herr hat Goßes
An uns gethan!
Ehre sei Gott in der Höhe!
2. Es zog von Westen
Der Unhold aus,
Sein Reich zu festen
In Sturm und Graus.
Mit allen Mächten
Der Hält' im Bund
D'ie Welt zu knechten,
Das schwur sein Mund.
Furchtbar dräute der Erbfeind.
3. Vom Rhein gefahren
Kam fromm und stark
Mit Deutschlands Scharen
Der Held der Mark.
Die Banner flogen,
Und über ihm
In Wolken zogen
Die Cherubim.
Ehre sei Gott in der Höhe!
Sprich: >) Frenoa. 1 2) Maria, Herbert und Bill, d. i. Wilhelm, sind Bismarck's
Kinder. Karl ist sein Reitknecht.
549
Und bangend lauschte
Ter Erdenball.
4. Drei Tage brüllte
Die Völkerschlacht,
Ihr Blutrauch hüllte
Die Sonn' in Nacht;
Drei Tage rauschte
Ter Würfel Fall,,
6. Nun bebt vor Gottes
Und Deutschlands Schwert
Die Stadt des Spottes,
Der Blutschuld Herd.
Ihr Blendwerk lodert
Wie bald zu Staub!
Und heimgesodert
Wird all ihr Raub.
Nimmermehr dräut uns der Erbfeind.
Am dritten Tage
Der Herr des Lichts
Und warf den Drachen
Vom güldnen Stuhl
Furchtbar dräute der Erbfeind.
5. Da hub die Wage
Des Weltgerichts
7. Drum laßt die Glocken
Von Turm zu Turm
Durchs Land frohlocken
Im Jubelsturm!
Des Flammenstoßes
Geleucht facht an!
Der Herr hat Großes
An uns gethan.
Ehre sei Gott in der Höhe!
Mit Donnerkrachen
Hinab, zum Pfuhl.
Ehre sei Gott in der Höhe!
E. Geibel.
433. Hei' elektrische Telegraph.
Ausser der Elektricität, welche durch Reibung hervorgerufen
wird, gibt es auch noch Berührungselektricität, d. b. solche,
welche sich zeigt, wenn man zwei Platten von verschiedenem Me-
tall, etwa eine Zink- und Kupferplatte, mit ihren glatten Flächen
fest gegeneinander drückt, oder auch dann, wenn eine Metallplatte
in eine Flüssigkeit, z. B. in verdünnte Schwefelsäure getaucht wird.
Auf dieser Art von Elektricität beruht die merkwürdigste Erfin-
dung unserer Zeit, der elektrische Telegraph.
Das einfachste Werkzeug zur Erregung der Berührungselektrici-
tät erhält man dadurch, dass man einen Kupferdraht mit dem
einen Ende an eine Kupferplatte, mit dem andern an eine Zinkplatte
löthet. Steckt man die beiden Platten in den feuchten Erdboden,
so nehmen wir an dem Draht höchst auffallende Erscheinungen
wahr. Reisst man ihn mit feuchten Händen auseinander, so fühlt
man in den Gelenken einen stechenden Schmerz. Findet das Zer-
reissen im Dunkeln statt, so bemerkt man einen kleinen Funken,
der von dem einen Ende zum andern überspringt. Wickelt man
endlich den Draht um eine hölzerne Spule, in deren Höhlung man ein
Stück weiches Eisen gelegt hat, so wird dieses zu einem Magnet,
der anderes Eisen anzieht. Es behält jedoch die magnetische
Kraft nur so lange, als man es in der Spule stecken lässt; wird es
herausgenommen, so ist es wieder Eisen wie jedes andere. Aber
auch in der Spule hört es sogleich auf ein Magnet zu sein, wenn
man den Draht an irgend einer Stelle durchschneidet; eben so
rasch erhält es die Anziehungskraft wieder, wenn man die beiden
Enden aufs neue in Verbindung bringt. Legt man daher ein
zweites Stück Eisen ganz in die Nähe desjenigen, welches in der
Spule steckt, so springt es zu diesem hinan und bleibt an ihm
hangen, wenn die beiden Enden des Kupferdrahts verbunden werden;
dagegen fällt es wieder ab, sobald ihre Trennung erfolgt, und es
steht somit in unserm Belieben, die auf- und abwärts oder hin-
550
und hergehende Bewegung des zweiten Stückes Eisen rasch nach-
einander folgen zu lassen.
Leicht zu begreifen ist es, dass in dem Kupferdrahte, so lange
er ungetrennt ist, eine Kraft erzeugt oder eine Bewegung hervorge-
rufen wird, welche die erwähnten merkwürdigen Erscheinungen
verursacht. Wir nennen dieses geheimnisvolle Etwas den galva-
nischen Strom, nach dem italienischen Arzte Galvani, der gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts auf diese besondere Art von Elek-
tricität, den Galvanismus, zuerst hingewiesen hat.
Das Wunderbarste ist nun, dass der galvanische Strom im Nu
Hunderte von Meilen durcheilt, wenn man dem Leitungsdrahte eine
solche Länge gibt und ihm selber durch ein vollkommeneres Instru-
ment, eine sogenannte galvanische Batterie, die zu diesem
Wege erforderliche Kraft verleiht. Angenommen, eine solche Batterie
sei in Berlin aufgestellt, ein Kupfer- oder starker Eisendraht gehe
von derselben in die feuchte Erde, ein eben solcher Draht aber
sei über die neben den Eisenbahnen aufgerichteten Stangen hinweg
bis nach Köln und dort mit seinem letzten Ende ebenfalls in die
feuchte Erde geführt. In Berlin befinde sich eine Vorrichtung,
etwa ein wie eine Thürklinke gestalteter Drücker, durch welche
dieser letztere Draht in zwei Theile zerlegt, aber auch sofort
wieder in Zusammenhang gebracht werden kann; in Köln aber sei
derselbe um ein hufeisenförmiges Stück weiches Eisen, den soge-
nannten Elektromagnet gewickelt; vor den Armen des Hufeisens
aber und in geringer Entfernung von demselben liege eine Eisen-
platte, der Anker. Ein Druck in Berlin zur Verbindung der beiden
Drahtenden, und der galvanische Strom ist hergestellt; er umfliesst
das Hufeisen in Köln und macht dasselbe magnetisch, so dass es
den Anker anzuziehen vermag; der Drücker in Berlin wird losge-
lassen, die Theile des Drahtes gehen auseinander, der Strom wird
unterbrochen, der Elektromagnet in Köln verliert seine anziehende
Kraft, der Anker fällt ab. So lassen sich vermittelst des Drückers
in Berlin und des Ankers in Köln allerlei Zeichen geben; man hat
sich über die Bedeutung derselben verständigt und kann demnach
telegraphieren, d. h. in die Ferne schreiben. Am meisten Ein-
gang hat der von dem Amerikaner Morse erfundene Schreib-
telegraph gefunden, durch welchen die Zeichen sogar sichtbar dar-
gestellt werden. Mit dem Anker des Elektromagnets ist nämlich
ein Eisenstift in Verbindung gebracht, über welchem sich vermittelst
eines Uhrwerkes ein Papierstreifen in gleichförmiger Schnelligkeit
fortbewegt. Wird der Anker nur für einen Augenblick angezogen,
so macht der Stift einen vertieften Punkt in das Papier; dauert
die Anziehung dagegen etwas längere Zeit, so entsteht ein kurzer
Strich. So kann nun ein Telegraphist in Berlin auf dem Papier-
streifen in Köln rasch nach einander Punkte und Striche in ver-
schiedener Aufeinanderfolge erzeugen, und es brauchte nur ausgemacht
zu werden, dass z. B. ein einzelner Punkt den Buchstaben e, ein
Punkt in Verbindung mit einem gleich darauf folgenden Striche
551
den Buchstaben a zu bedeuten habe u. s. f., und es war möglich,
durch Wörter und ganze Sätze seine Gedanken in weiter Ferne
sichtbar und lesbar darzustellen. — Ein geübter Telegraphist kann
in der Minute 80 bis 100 Zeichen hervorbringen und die Bedeu-
tung der seltsamen Schrift auf den Papierstreifen in derselben
Zeit angeben, welche andere Leute nöthig haben, um Gedrucktes
ZU lesen. Nach Steinthoil.
434. Das Münster zu Straßburg.
Wer den Fremersberg bei Baden-Baden besteigt, der erfreut sich,
wenn der Himmel klar ist, einer wunderbar schönen Fernsicht. Die weite
oberrheinische Ebene bis znm Wasgaugebirge hinüber liegt zu seilten Füßen
da; in ihrer Mitte läßt sich des Stromes schimmernde Flut auf einer
iveiten Atrecke verfolgen. An Sommerabenden ist die Beleuchtung präch-
tig; der Münsterturm zu Straßburg ist dann mit rosigem Schein umgossen
und hebt sich aufs schärfste vom Horizonte ab. Wie ein gewaltiger Mast
streckt er sich hoch empor.
Am Abhange des Fremersberges liegt das freundliche Dorf Steinbach.
Hier erblickte der Erbauer des Münsters das Acht des Lebens. Hier ist
ihm ein einfaches Denkmal gesetzt; von hier aus schaut der Meister hinab
auf sein großes Werk, auf den majestätischsten Turm des Erdkreises mit
seiner durchsichtigen Pyramide, die nur von der gewaltigsten in Ägypten
an Höhe übertroffen wird.
Noch werden Erwin's Pläne aufbewahrt; er selber aber ist 1318 von
dem Bau abberufen worden, als er ihn kaum zur Hälfte vollendet hatte.
Auch sein Sohn, dem er die Fortführung hinterließ, starb frühzeitig. Da
übernahm die Tochter Sabine des Vaters Erbschaft. Rüstig und glücklich
legte sie Hand ans Werk, das unter ihrer Leitung mächtig emporwuchs.
Keine Familie der Welt hat ein Mausoleum wie die des Meisters Erwin;
— alle ihre Glieder ruhen unter diesem Münster. Ihre Standbilder zeu-
gen von gerechter Würdigung unsterblichen Verdienstes.
Die schönste, den Beschauer mit Bewunderung erfüllende Seite des
Gebäudes ist die westliche mit dem überaus reich durch Bildhauerarbeit
gezierten Portale. Der röthliche Sandstein, aus dem das Münster wie so
manche andere rheinische Kirche erbaut ist, läßt die herrlichen Figuren nur
um so deutlicher hervortreten. Die prachtvolle Fensterrose über dem
Haupteingange und die das Innere in geheimnisvoller Dämmerung hal-
tenden Fenster steigern die Schönheit des Ganzen. Das weite Schiff ist
ohne Altar, überhaupt ohne jede schmückende Zuthat, die hier doch nur
störend wirken müßte. Auch das bedeutend erhöhte Chor mit seinem ein-
fachen Hochaltar stimmt zu der ernsten Würde des erhabenen Baues. Das
unter dem Chore befindliche Gewölbe, die Krypta, in welcher am Char-
freitag Gottesdienst gehalten wird und die der Sage nach schon von Karl
dem Großen herrührt, stellt das heilige Grab dar. Die schöne Stein-
kanzel, die Kapelle des heiligen Laurentius, die berühmte astronomische
Uhr im südlichen Querflügel fesseln die Aufmerksamkeit. Nach Erwin's
Plane sollte das Münster zwei Türme erhalten: doch ist nur der eine,
nach Norden gelegene vollendet worden. Mächtig zieht es zu seiner Höhe
552
Vjt
inHii:
:,fit K,, ....... -
hinan. Das Aufsteigen bis zur Plattform ist bequem. Auf derselben
erhebt sich kühn der obere Turmtheil, eine völlig durchbrochene Pyramide,
an welcher in ebenfalls durchsichtigen Türmchen vier Wendeltreppen zur
Gallerte des ersten Stockwerks führen. Von dieser Stelle aus spitzt sich
der Helm zu; acht Wendeltreppen reichen zur Krone hinauf, über welche
sich noch das Kreuz mit dem achteckigen Knopfe erhebt. Nur vermittelst
553
der hier angebrachten eisernen Stangen kann man zu diesem höchsten
Punkte gelangen. Zu denen, die ihre Namen hier angeschrieben haben,
um anzuzeigen, daß sie das Wagnis bestanden, gehören auch die Dichter
Herder und Goethe. „Globus-,
435. Schäfers Soiuitagslied.
1. Das ist der Tag des Herrn !
Ich bin allein aus weiter Flur;
Noch eine Morgenglocke nur —
Nun Stille nah und sern!
2. Anbetend knie ich hier.
O süßes Graun! geheimes Wehn!
Als knieten viele ungesehn
Und beteten mit mir.
3. Der Himmel, nah und fern,
Er ist so klar und feierlich,
So ganz, als wollt' er öffnen sich.
Das ist der Tag des Herrn!
Uhland.
436. O Straßburg.
O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt!
Darinnen liegt begraben so mannicher Soldat.
So mancher, so schöner, auch tapferer Soldat,
Der Vater und lieb Mutter böslich verlassen hat.
Verlassen, verlassen, es kann nicht anders sein!
Zu Straßburg, ja zu Straßburg Soldaten müssen sein.
Der Vater, die.Mutter, die gieng'n vors Hauptmanns Haus:
„Ach Hauptmann, lieber Herr Hauptmann, gebt uns den Sohn heraus."
Euren Sohn kann ich nicht geben für so und so viel Geld;
Euer Sohn, der muß hier sterben im weit und breiten Feld.
Was laust ihr, was rennt ihr nach fremdem Dienst und Land?
Es hat's euch niemand geheißen, dient ihr dem Vaterland!
Volkslied.
437. Der Luftballon.
Zhr wisset, daß ein Stück Holz, welches in das Wasser getaucht
wird, so viel an seinem Gewichte verliert, als das durch dasselbe ver-
drängte Stück Wasser wiegt. Da nun die Luft nichts anders ist als
recht dünnes Wasser, so muß auch jeder in der Luft befindliche Körper
so viel an seinem Gewichte einbüßen, als die durch ihn verdrängte Luft-
masse wiegt. Sind wir also im Stande einen Körper aufzufinden, von
welchem ein Kubiksuß weniger als 1jn Pfand wiegt, so muß derselbe in
der Luft emporsteigen. Ein solcher Körper ist das Wasserstoffgas, das
beinahe 14 Mal leichter ist als die gewöhnliche Luft. Auf diesem llm-
stande beruht die Einrichtung. des Luftballons. Er besteht aus einem
großen Beutel, dem Ballon. Dieser ist gewöhnlich aus Leinwand oder
Tafset, beide durch einen Gummifirniß luftdicht gemacht, angefertigt. Zur
größeren Festigkeit ist er mit einem Netze von Seilen überspannt. An
diesem Netze sind die Stricke befestigt, welche die meist aus Weideuruthen
geflochtene Gondel (Kahn) tragen. Diese ist darauf berechnet, außer
etlichen für die Fahrt durch die Luft nothwendigen Sachen 2—6 Menschen
aufzunehmen. Der Ballon endet unten in einen verschließbaren Schlauch.
Ist er durch diesen mit Gas gefüllt, so steigt er augenblicklich und nimmt
die Gondel sammt allem, was in ihr ist, mit in die Höhe hinauf. Es
ist nothwendig, daß der Luftschiffer sein Fahrzeug nach Belieben steigen
und wieder sinken lassen kann. Um das Letztere bewerkstelligen zu können,
sind im Ballon ein paar Klappen angebracht, die durch eine Feder ange-
drückt werden und durch ein Seil, das bis in die Gondel hinab reicht,
554
geöffnet werden können. Will nun der Luftschiffer mit dem Ballon sich
senken, so öffnet er eine der Klappen; Gas strömt ans, atmosphärische
Luft ein, und so wird der Ballon schwerer. Aber wenn er nun steigen
will? Dann muß er das ganze Fuhrwerk leichter machen und etwas aus
der Gondel hinauswerfen. Dazu nimmt er Ballast mit, Sand in kleinen
Säcken. Wirft er einen derselben über Bord oder entleert ihn seines
Inhaltes, so ist der Ballon für diese Erleichterung gleich dankbar und
steigt wieder höher.
Eine der interessantesten Luftfahrten in neuerer Zeit ist diejenige,
welche unter der Leitung Coxwell's 1851 von Leipzig aus unternom-
men wurde. Der Ballon hatte 65 Fuß Höhe, 125 Fuß Umfang, 35,000
Kubikfuß Raumgehalt und in der Gondel für vier Personen Platz; er
wurde im Hofe der Gasbereitungsanstalt mit etwa 25,000 Kubikfuß
Leuchtgas angefüllt. Kurz nach fünf Uhr stieg er schnell und sicher über
die Stadt empor und verschwand nach wenigen Minuten in der dichten
Masse der Regenwolken, welche den Himmel gleichmäßig bedeckten. Mit
Eintritt in die Wolkengrenze, gegen 4000 Fuß über der Stadt, überflorte
zuerst leichter Nebel das interessante Bild des bewegten Meßplatzes und
entzog es, dichter und dichter werdend, sehr schnell dein Auge. In dem-
selben Augenblicke bildete das Nebelgrau der Wolken mit der Farbe der
Erde ein nächtliches Dunkel unterhalb der Gondel, während neben und
über ihr sich überall ein trübes Hellgrau zeigte. Schnell jedoch verschwand
dieses Nachtdunkel wieder und mit ihm das letzte sichtbare Zeichen der
Erdnähe. Die Geräusche drangen nur verworren und dumpf zum Ohr;
das Auge vermochte seine Kraft an keinem Gegenstände zu messen; schweres
Athmen und leichte Kopfbeklemmung erinnerten lebhaft an die dicksten
Herbstnebel, deren Dichtigkeit hier übertroffen ward. Die Temperatur war
merklich gesunken und feuchtkalt. Neue Ballastverminderung beschleunigte
den Flug des Ballons, und mit freierer Kraft schwank er sich zur oberen
Grenze der wohl 3000 Fuß im Durchmesser haltenden Wolkenschicht.
Überall streifte das Auge über ein ungeahntes Panorama. Unter riesigem
Nebelgewölke breitete sich ein unabsehbares Wolkenmeer wunderschön von
Horizont zu Horizont. Die reinste Luft gestattete zwischen den beiden
Wolkenlagen den fernsten Blick innerhalb der scheinbaren Wolkenbegrenzung.
Die bald malerisch zarten, aber seltsamen Gebilde schienen die Formen
der Erdoberfläche in allen Farbenverbindungen von weiß und blau zu
grau und in zauberisch matter Beleuchtung nachbilden zu wollen. Die
sich anscheinend neigenden Grenzen und die Wölbung des über 2000
Fuß entfernten Nebelhimmels gaben dem Ganzen die Gestalt einer riesigen
Zauberhöhle und verriethen die gleichmäßige Ausbreitung der gewaltigen
Wolkenlagen über der Erde. Von letzterer herauf drang in die lautlose
Ruhe dieser abgeschlossenen Luftwelt nur noch der leise Ton des rollenden
Dampfwagens. Die Luft war trocken und deshalb angenehm kühl, das
Athmen leicht und frei, die Benommenheit des Kopfes verschwand. Aber
der Genuß trieb auswärts zu neuen Genüssen; etwas Ballast weniger,
und der leichte Papierstreisen, an welchem die Geschwindigkeit des steigen-
den Ballons gemessen wird, sank pfeilschnell neben der Gondel hinab.
Der Ballon mußte wieder gegen 2000 Fuß höher, ehe er die zweite
555
Wolkenschicht völlig durchmaß. Ein unbemerkt gebliebener SDiitrcifenber,
eine große Mücke verließ Plötzlich den Ballon. Sie schwirrte kurze Zeit
nebenher und war plötzlich, wahrscheinlich erstarrt, nicht mehr zu sehen.
Mit dem Austritt des Ballons aus der zweiten Wolkenlage zeigte sich
wieder das Bild einer riesigen Wolkenhöhle, begrenzt von oben herab
durch ein silbergrau strahlendes Dunstfirmament und von unten herauf
durch tropfsteinähnliche Wolken, mit derselben Wölbung der Horizonte, den-
selben Gebilden, aber überall erhabneren Formen, krystallähnlich leuchtend,
starr und dennoch weich in einander gewoben, von zauberischem Zwielicht,
voll reizender Widerscheine und mit einer geisterhaften Ruhe übergössen.
Nirgends Leben und dennoch kein Grabgefühl. „Ist das nicht wonnevoll?"
rief Coxwell tief bewegt; aber der Ton seiner Stimme war metalllos,
sein Hauch streifte winterlich, weiß vorüber. Ein Zug am Ventil: der
sonst so laute Schall war matt. Das Glutlicht des Gases im Ballon
war dunkler, und dieser, vorher nur unvollständig gefüllt, völlig gespannt.
Er stand dicht an der Grenze der dritten Wolkenzone, ungefähr 11,000
Fuß hoch. Es war 18 Minuten nach 5 Uhr.
Der Zweck der Reise war erfüllt: der Blick in die Wolkenschleier
des Himmels gethan. Scheidend grüßte noch einmal der Blick die
Wunderwelt, die Hand zog das Ventil und urplötzlich zeigte der Druck
auf das Gehirn die Schnelle der Rückfahrt. Bald war die zweite
Wolkenschicht wieder durchschnitten, schon nahm derselbe Nebel, der es
aufwärts zuerst empfangen, das Schiff wieder auf; wieder tönte das
Rollen des Dampfwagens, drang Hundegebell herauf. Plötzlich ent-
schleierte sich das frische Bild von Wäldern und Auen in einzelnen Dör-
fern, zwischen denen das Silberband der Saale sich hinzog. Der Ballon
gieng über den Fluß hinweg der in der Ferne liegenden Stadt Lützen zu.
Aber der Wind trieb linkwärts von ihr ab, und so galt es, in der Nähe
eines der größeren Dörfer zu ankern, Über zwei Dörfer strich das Schiff
hinweg, ohne daß die Frage nach dem Namen der Gegend unten gehört
ward, aus dem dritten Dorf drang der Freudenruf: „Ein Ballon! Ein
Ballon!" herauf. Das bewog herabzugehen. Coxwell bestimmte ein hoch-
liegendes Stoppelfeld zwischen den Salinen Dürrenberg und Kötschau
zum Landungsplätze und ließ sich 6 */4 Uhr so sanft am Rande des
Feldes nieder, daß selbst der leiseste Rückprall der Gondel vermieden wurde.
In ganz anderer Weise lief eine der Luftschiffahrten ab, die in der
letzten Zeit unternommen worden sind. Sie wurde von Paris aus durch
Radar veranstaltet. Der riesenmäßige Ballon, welcher zu seiner Füllung
über 200,000 Kubikfuß Gas brauchte, erhob sich kurz vor dem Einbrüche
der Dunkelheit in die Lüfte. Nach einer ziemlich unerquicklichen Fahrt
die Nacht hindurch hatte man in 14 Stunden einen Weg von etwa 180
Meilen zurückgelegt und beschloß, bei Nienburg an der Weser niederzu-
gehen. Aber durch den Thau und Nebel der Nacht waren die Stricke,
welche das Ventil öffnen sollten, so zähe und schlüpfrig geworden, daß sie
beinahe den Dienst versagten; der Ausfluß des Gases war so unvollständig,
daß die Gondel nur den Boden berührte. .Sobald sich der Ballon da-
durch erleichtert fühlte, hob er sich und zog die Gondel mit in die Höhe.
Auf diese Weise war die weitere Reise ein fortwährendes Springen in
weiten Bogen über Felder und Hecken, Felsen und Bäume. Den Anker
hatte man schon in Nienburg eingebüßt. Nicht weit von der Stadt
passirte das Ungethüm die Bahn, riß mit der Gondel ein Stück Damm
ein und setzte nachdem es die starken Telegraphendrähte zerrissen, mit
einem Rucke über die Bahn hinweg. Immer weiter gieng die gefährliche
Reise. Im Innern der Gondel herrschte die größte Verwirrung, und die
Insassen wurden nach allen Richtungen umhergeschleudert. Endlich gelingt
es, durch Ballastauswerfen den Ballon wieder zum Steigen zu bringen.
Einer von den Luftschiffern, vor den anderen muthig, steigt an den Stricken
in die Höhe und öffnet die Luftklappe; der Ballon fällt. Sobald sich
die Gondel der Erde nähert, springen die halbwegs noch Gesunden heraus.
Radar's Frau verwickelt sich dabei und wird von der gegen 25 Eentner
schweren Gondel bedeckt. Mehr als eine halbe Stunde vergeht, bis es
gelingt, die unglückliche Frau unter der Last hervorzuholen; außer den
schlimmsten Quetschungen hatte sie den Bruch des Schlüsselbeins zu bekla-
gen. Unbeschädigt hatte keiner der Gesellschaft die Fahrt mitgemacht;
einer hatte den Arm gebrochen, andere waren ganz bedenklich verwundet,
und Radar selbst war aus die verschiedenartigste Weise blessirt.
F-lisch.
438. Die Verkündigung des deutschen Kaiserreichs.
Mitten in die Zeit der Schlachten und Siege, die der Monat
Januar des Jahres 1871 nach allen Richtungen über das ganze fran-
zösische Land trug, fällt die feierliche Erklärung der Wiederherstellung des
deutschen Kaiserreiches. König Wilhelm von Preußen wählte dazu den
18. Januar, den Erinuerungstag der vor 170 Jahren vollbrachten Erhöhung
des „Herzogtums" zum „Königreich" Preußen. Ein doppelter Festtag
sollte der 18. Januar werden.
Nach.Königsberg und nach Versailles weist dieses und weist jenes
Fest. Dort im fernsten Osten der deutsch redenden Stämme, fast ab-
geschieden vom europäischen Staateuleben, gieng das preußische Königsthum
auf. Hier, weit über die westliche Grenze Deutschlands hinaus, im leben-
digsten Mittelpunkt der europäischen Völker- und Staatenmacht, stieg das
deutsche Kaiserthum empor.
Ein durch seinen Hochmuth zu Boden gestürztes Volk lag zu den
Füßen des geeinigten Deutschlands. Der erinneruugsreiche Abglanz der
königlichen Macht Ludwigs XIV., des einstigen Weltbeherrschers, erhöhte
die strahlende Helle des kaiserlichen Wiegenfestes.
Die Mitglieder der fürstlichen Häuser Deutschlands, die am Kriege
theilnahmen, ferner die Generale und Minister, die dem Hauptquartier
angehörten oder nahe waren, ferner ans sämmtlichen um Paris lagernden
Truppen Abgesandte der Officiercorps, sowie Abtheilungen der Soldaten,
— in militärischem Schmuck, also Vertreter aller Stände und Stämme
des deutschen Volkes — waren in Versailles um den Fürsten, jetzt noch
den „König", bald den „Kaiser", versammelt.
Es war gegen 12 Uhr vormittags, als sich der Kronprinz von Preußen
mit seinem Stabschef, Generallieutenant von Blumenthal, und seinem
Adjutanten in das königliche Schloß zu Versailles begab.
---- 557 —
Bald nach 12 Uhr traf der König ebendort ein und wurde vom
Kronprinzen in die Vorzimmer der Festräume, die „Zimmer der Königin",
geführt; dann nach kurzer Begrüßung der dort versammelten Prinzen,
Fürsten, Generale und Minister trat er in den Festsaal, die „Spiegel-
gallerie".
Wilhelm I., Sculschcr Kaiser, König von Preußen.
An dem Mittelpfeiler der Südseite dieses langgestreckten, geräumigen
Saales war ein rothgedeckter, mit einem großen Abbild des eisernen
Kreuzes geschmückter Altar erhoben. Rechts und links davon standen die
entsandten Mannschaften der Truppen. Auf der Erhöhung an der Ost-
seite des Saales waren die Fahnen, von Unterofficieren gehalten, auf-
gepflanzt. An der Nordseite hatte die Aufstellung der Officiere (gegen 600
an der Zahl) so stattgefunden, daß dem Altar gegenüber der Raum frei blieb.
558
In diesen Raum trat der
König. Im Halbkreise um
ihn stellten sich die Prinzen
und Fürsten: der Kronprinz,
Prinz Karl und Adalbert
von Preußen, der Kronprinz
und Prinz Georg von Sach-
sen^ die Großherzöge von
Baden, Sachsen und Olden-
burg, die Herzöge von Ko-
burg, Meiningen und Alten-
burg, die Prinzen Otto,
Luitpold und Leopold von
Bayern, die Prinzen Wil-
helm und August, sowie die
Herzoge Eugen der Ältere
und Eugen der Jüngere von
Württemberg, die Erbgroß-
herzöge von Sachsen, Meck-
lenburg - Schwerin und
-Strelitz, die Erbprinzen
von Meiningen, Anhalt,
die Fürsten von Schaum-
Ludwig II.. König mm ßwrn. bürg-Lippe und Schwarz-
burg-Rudolstadt, der Erbprinz von Hohenzollern, der Landgraf von Hessen
und andere.
Äibcrt, König mm Sachsen, als Kronprinz Commandriir
des XII. Ärmrccorps, spater der Maas-Ärmer.
Hinter den Fürsten und
ihnen zur Seite standen die
Generale und Minister, der
Bundeskanzler Graf von
Bismarck, die Generale Graf
von Moltke, von Hindersin,
von Boyen, von Alvens-
leben, von Kirchbach, von
Tümpling, von Blumenthal,
von Stosch, von Podbielski,
von Kamele, von Hartmann
und viele andere.
Während der König ein-
trat und alles sich ordnete,
stimmte ein Sängerchor, aus
den Singmannschaften dreier
Regimenter gebildet, eine
Strophe des Chorals „Jauch-
zet dem Herrn alle Welt"
au. Und gleich darauf be-
gann — nach militärischem
Gebrauch — vollständiger Gottesdienst mit Choral, Liturgie, Predigt
und Segen.
In der Predigt, die der Hof- und Garnisonprediger Rogge hielt,
wurden folgende Gedanken besonders hervorgehoben: „Gottes Wille ist
es, der wunderbar und gnaden-
reich in unserer Geschichte sich ver-
zeichnet findet. Eine 170jährige
Vergangenheit des preußischen
Königreichs liegt hinter uns, eine
Zeit, in der, durch gottgegebene
Anlagen geweckt, durch gottgesandte
Prüfungen gestärkt, Fürsten der
seltensten Art und der mannig-
fachsten Kraft ein kleines Land zum
Segen des ganzen Deutschlands
in eine große Völkermacht umge-
wandelt haben; jetzt ein Fürst,
SC eiserne Zucht des ehrbaren Fleißes
M und des strengen Rechtsgefühles
M im Herzen — dann ein anderer
M voll Kühnheit des hohen Willens
¡Ü —: dann ein anderer voll Treue
|S des Ausharrens in den Bedräng-
|§' nissen schwerer Tage; alle voll von
C Selbstvergessen und Verleugnen
ihrer selbst, voll Gewissenhaftigkeit
in der Sorge um das Vaterland,
Friedrich Fra»? II., Sroßl,cr?og von Mecklenburg- um den Wohlstand, die Kraft und
Schwerin, Lommandeur des XIII. Xrmcccorps. Bildung des Volkes. Wir bekennen
uns froh des Dankes, den wir dem
Ewigen schulden, wir Angehörige des Volkes, das Gott so gesegnet hat.
Der Herr segne das Reich, seine Fürsten, seine Stämme! er befestige sie
in dem Bande der Eintracht und Treue!"
Nachdem der Segen gesprochen war, gieng der König von Preußen
auf die Erhöhung der rechten Seite, stellte sich vor die Fahnen und ver-
kündete mit lauter Stimme, die darüber ausgestellte Urkunde vorlesend,
die Wiederherstellung des deutschen Kaiserreichs. . f
Der Bundeskanzler Graf von Bismarck empfieng darauf den Beseht,
die Proclamation, welche der Kais^an das deutsche Volk gerichtet, zu
lesen: „Wir, Wilhelm von Gottes Gnaden König von Preußen, —
nachdem die deutschen Fürsten und freien Städte den einmüthlgen Rus
an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des deutschen Reiches dre seit
mehr denn 60 Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu
übernehmen, und nachdem in der Verfassung des deutschen Bundes me
entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß Wir
es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem
Rufe der verbündeten deutschen Fürsten und freien Städte Folge zu leisten
und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß werden Wir um
560
Unsere Nachfolger an der Krone Preußens fortan den kaiserlichen Titel
in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des deutschen Reiches
führen und hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation gegeben sein werde,
unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segens-
reichen Zukunft entgegenzuftihren. Wir übernehmen die kaiserliche Würde
in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches
und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit
Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu vertheidigen.
Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volke vergönnt
sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermüthigen Kämpfe in dauern-
dem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vater-
lande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe
Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiser-
krone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des deutschen Reiches zu sein,
nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des
Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung!"
Eine ernste, freudige Erhebung durchdrang die Herzen aller Gegen-
wärtigen. In den Ruf des Großherzogs von Baden: „Seine Majestät
der Kaiser Wilhelm lebe hoch!" stimmte die Versammlung mächtig schal-
lend ein; und unter den Klängen der Volkshymne schloß das Fest.
Werner Hahn.
439. Deutschland über alles.
1. Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Bon der Maas bis an die Memel,
Bon der Etsch bis an den Belt.
Deutschland, Deutschland über alles,
Ueber alles, in der Welt!
2. Deutsche Fraun und deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Saug
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten, schönen Klang,
Und zu edler That begeistern
Unser ganzes Leben lang.
Deutsche Fraun und deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!
3. Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Darnach laßt uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand. —
Blüh' im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!
Hoffmann v. Fallersleben.
440. Der Feldpostbrief.
Ein Soldat aus Mecklenburg stand vor Paris auf Vorposten.
Hier erhielt er einen Brief aus seiner Heimat, und da er lange ohne
Nachricht geblieben war, konnte er sich nicht enthalten, denselben gleich zu
erbrechen. Beim Lesen vertieft er sich nun so, daß er kein Auge und
Ohr für das hat, was um ihn her passiert. Plötzlich hört er Geräusch,
sieht auf und erblickt den König und den Kronprinzen nebst Gefolge.
Erschreckt läßt er den Brief fallen und macht die üblichen Honneurs.
Der König, der seine Angst und Verwirrung bemerkte, kam freundlich
auf ihn zu geritten und fragte: „Nun, ein Brief von der Braut?" —
»Nein, Majestät, von meinem Vater!" eutgegnete dieser. — „Darf ich
den Brief lesen, oder enthält er Geheimnisse?" fragte der König weiter.
— Der Soldat übergab hierauf den Brief dem Könige. Dieser wendete
sich zu seiner Umgebung und las unter anderm folgendes laut vor: „In
561
14 Tagen hat Deine Schwester Hochzeit; wir alle werden Dich an diesem
Büge schmerzlich vermissen; am meisten grämt sich aber Deine alte Mutter,
Dich nicht zu sehen. Schadet aber nichts, haue nur tüchtig auf die
Franzosen ein, damit diesen Kerls recht bald das große Maul gestopft
werde!"
Der König gab den Brief zurück und ritt weiter. Es wahrte aber
nicht lange, so wurde der Soldat von seinem Posten abgelöst. Er erhielt
14 Tage Urlaub und konnte auf Kosten des Königs die Reise nach
Mecklenburg antreten. x. Schneider.
441. Altes Gold.
„Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“
Dies Sprichwort hält gar manches warnend vor, das der und die beherzigen
könnte. Freilich wär’s im Sinne des Sprichworts besser, wenn der Krug gar nicht
zum Brunnen gienge! Merk’s, Lügner, Betrüger, Dieb! Du lügst dich heute
glücklich heraus aus einer unsaubern Geschichte — oder hast heute einmal mit
Erfolg gegen andere Leute falsch Zeugniss geredet, verleumdet, verdächtigt, be-
schimpft, — aber der Krug bricht morgen schon, und Verachtung und Strafe
trifft dich. Redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, dann bricht
der Krug nicht! Du übervortheilst andere im Handel und Wandel, und es ge-
lingt prächtig [ Du lachst im Herzen über die Esel, die sich anführen liessen,
wenn du dein Profitchen berechnest, und du wirst kecker.
Sieh, dem Kruge wackelt schon der Henkel! Noch ein-, zwei-, dreimal —
und er bricht — deine Spitzbüberei ist entdeckt. Schmach und Schande, schuld-
belastetes Gewissen — der Arm der Gerechtigkeit und seine wohlverdiente Strafe
— sie haben dich ereilt, und der Krug ist in Scherben. Du stiehlst! — Alle
Diebe, Räuber und Mörder haben mit kleinen Dingen in der Jugend angefangen
und an den Krug gar nicht gedacht. Es gelang, und sie wurden nicht entdeckt.
Das war gerade ihr Unglück; denn nun gieng immer rascher der Krug zum
Brunnen. Der Dieb wuchs am Leibe und an Geschicklichkeit zu stehlen und an
Irechheit und Sicherheit. Patsch! da bricht der Krug! die Gerichte haben ihn
und das Urtheil dieser Welt lässt nicht lange auf sich warten — das droben
bleibt nicht aus.
„Eine Hand wäscht die andehe“,
sagt man wohl, wenn ein Schelm dem andern durchhilft, und mancher unehrliche
Mensch sagfs einem andern, dem er einen kleinen Gefallen gethan hat. — Pfui!
so meint’s das Sprichwort nicht! Denk’ einmal nach! Wenn ihr euch die Hände
waschet, so wird, wenn ihr auch die eine nach allen Ecken im Wasser herum-
schlenkert, sie dennoch nicht rein; die andere muss wischen und waschen, streichen
und kneten helfen, dann geht’s. Was lehrt euch das? — Nun, einer, der allein
steht, ohne den treuen Beistand seiner Nachbarn und Freunde, bringt nichts
fertig. Wenn aber diese sagen: „Warf, Nachbar, ich komme und helfe!“ dann
wäscht eine Hand die andere. Wenn nun aber der Nachbar deiner Hülfe be-
darf? Ei nun, dann muss wieder deine Hand der seinen waschen helfen, und
es geht rein und herrlich ab. Verstanden? Der liebe Gott will, dass wir ein-
ander helfen und dienen sollen mit der Gabe, die wir empfangen haben. So soll
eine Hand die andere waschen. w. o. v. Horn.
442. Barbarossa im Khsshäascr.
Es eilt der Zwerg zum Rothbart ; Verschwunden von der Warte
athemlosem Lauf: Ist traun der Rabenchor;
„Bch bringe gute Märe; Frei gehst du aus Bann und Zauber
Mein Kaiser, wache auf! Als neuer Kaiser hervor."
Deutschland ist einig, einig Aussährt der Barbarossa: —
Zm treuen Bruderbund, „„Ich fühl's — Erlösung naht; —
Aun schlägt auch dir, mein Kaiser, Es sagt mir Ohr und Äuge,
Bald die Erlösungsstund'. Geschehn ist große That!
36
Hellklar mein Auge schauet;.
Allsehend dünkt mich's gar;
Mein Ohr zum Allvernehmen
Geschärft ist's wunderbar.""
stnd als sie nun gestiegen
Zur Höh' aus tiefer Kluft,
Vor seinem Blick zerrinnet
Der fernste Nebelduft.
Er siehet über die Berge,
Sieht weithin über den Rhein,
Weithin in den fernen Westen,
Ins ferne Frankreich hinein.
Er schaut wie deutsche Heermacht
Mit Frankreichs Scharen ringt,
Das welsche Heer und den Kaiser
Im Siege niederzwingt;
Er schaut in der Schar der Sieger
Eine greise Heldengestalt
Das ist, er ahnt es im Geiste,
Die Säule der deutschen Gewalt.
Er hört durch Deutschlands Gauen
Schallen den Hymnenklang,
Zu König Wilhelms Ruhme
Den hellsten Heldensang.
Da hat der Hohenstaufe
Sein stolzes Haupt geneigt
Und auf den Hohenzollcr"
Mit segnender Hand gezeigt:
„Mehr wahrlich als ich "vor Zeiten
Erhobst du Deutschlands Macht,
Du hast mein Volk geeinigt,
Das hab' ich nicht vollbracht.
Du hast die Kraft des Reiches
um Heile nur verwandt,
ch habe sie fast verschwendet
u knechten ein freies Land.
Heil dir, du glücklicher Enkel!
Die Kaiserkrone nimm du;
Ich aber, den du erlöset,
Geh ein zur ewigen Ruh." H. Hölty.
448. Berlin.
Berlin liegt mitten in der Geestfläche, nur 115 Fuß über dem Meere,
an der für kleine Fahrzeuge schiffbaren Spree. Die Stadt steht durch
diesen Fluß mit der Elbe und Oder in fahrbarer Verbindung; dazu
kommen verschiedene Eisenbahnen, durch die sie der Nord- und Ostsee,
sowie dem Innern Deutschlands nahe gerückt ist.
Das Aussehen der Stadt ist ein durchgehend neumodisches. Nur
wenige von ihren 476 Straßen und Gassen sind eng und krumm; manche
bestehen aus lauter großartigen Häusern, und fast überall ziehen sich
schöne Wege zu beiden Seiten der Straßen für die Fußgänger hin. Die
herrlichste aller Straßen ist die unter den Linden; sie ist 72 Schritte
breit und 1600 Schritte lang. In schnurgerader Linie und abgemessenen
Zwischenräumen stehen in zwei langen Reihen Linden- und Kastanienbäume
und bilden einen grünen Wald, inmitten der glänzendsten Straße der
Residenz. Die Straße besteht aus fünf Theilen. In der Mitte ist eine
breite, nur für Spaziergänger bestimmte Allee; neben dieser läuft zu
beiden Seiten ein Weg für Reiter, den abermals Baumreihen einfassen,
alsdann folgt aus jeder Seite die Fahrstraße, und nun erst kommt der
Fußweg an den Häusern hin. An einer Stelle wird die Straße von
der über Fünfviertelstunden langen schnurgeraden Friedrichstraße durch-
schnitten.
An prächtigen Gebäuden ist Berlin sehr reich. Da steht am Ende
der Linden das große königliche Schloß am Schloßgarten. Hoch über
das Dach erhebt sich die mit Kupfer bedeckte Kuppel mit dem vergoldeten
Kreuze darüber und der Inschrift um den blauen Ring der Kuppel: In
dem Namen Jesu sollen sich beugen aller derer Kniee, die im Himmel
und auf Erden und unter der Erde sind. Ein anderes mächtiges Ge-
bäude ist das Zeughaus, in welchem die Siegeszeichen angesammelt
sind, welche die preußischen Heere zu verschiedenen Zeiten den Feinden
abgenommen haben. Auch befindet sich hier das Magazin für das Kriegs-
geräth. In dem unteren Raume finden sich Geschütze und Wagen, während
----563
der obere durch Gewehre, Säbel, Fahnen u. s. w. gefüllt ist. Nicht
weit von diesem Gebäude steht die Universität, die unter allen Anstal-
ten dieser Art die meisten Studenten zählt, und an der jede Wissenschaft
durch große Männer würdig vertreten ist. Zwei andere Gebäude, welche
aller Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind das alte und das neue
Museum; in jenem erblicken wir Landschaftsgemälde aus Ägypten,
ägyptische Statuen, Mumien, Alterthümer, Gräber, Gemälde, und im
Cabinet für das nordische Alterthum zieren entsprechende Gemälde die
Wände. In diesem sehen wir Bilder griechischer und römischer Bauwerke,
Darstellungen aus der Natur und dem Leben des griechischen und römischen
Alterthums, Alterthümer der Griechen, Römer, des christlichen Mittel-
alters und Darstellungen der modernen Bildhauerkunst.
Vor dem alten Museum befindet sich die granitne Riesenschale, in
deren Nähe ein Springquell von 60 Fuß Höhe emporsteigt. Diese
Schale wiegt l500 Centner und ist aus der einen Hälfte eines Blockes
gearbeitet, der bei Fürstenwalde liegt. Fast zwei Jahre arbeiteten 2ü Ge-
sellen an Ort und Stelle daran, und nur unter großen Anstrengungen
von 70 Mann und mit Hülfe von Maschinen gelang es, die 22 Fuß
im Durchmesser haltende Schale nach Berlin zu schaffen.
Unter den Thoren Berlins ist das berühmteste das Brandenburger
Thor am Ausgange der Lindenstraße. Auf ihm befindet sich die Statue
der Siegesgöttin mit dem Viergespann. Es ist 195 Fuß breit und hat
fünf Ein- und Ausfahrten.
Was der Stadt vorzüglich zur Zierde gereicht, sind die Standbil-
der der großen preußischen Helden. Da steht die Reiterstatue des
großen Kurfürsten, das Standbild Blücher's, des Marschalls Vorwärts,
der mit blankem Husarensäbel vordringt, bis er seinen Fuß auf die
eroberten Geschütze gestellt hat; ihm zur Linken Gneisenau, in die Ferne
schauend und mit erhobener Rechte den Weg bezeichnend, der allein zum
Ziele führen wird; zur Rechten Dort, sein trotziges Haupt von Blücher
und Gneisenau abgewandt, beide Hände auf den Knopf seines Säbels
über einander gelegt, erinnernd an das Wort: „Es tritt kein anderer für
ihn ein, auf sich selber ruhet er ganz allein." Auf dem Wilhelmsplatze
sehen wir die Helden des siebenjährigen Krieges: Schwerin, Winterfeld,
Keith, Seidlitz, den alten Dessauer mit dem dreieckigen Hute und den
Husarengeneral Ziethen mit der hohen Mütze und dem fliegenden Dolman.
Im Thiergarten steht das Standbild Friedrich Wilhelms III. Das
großartigste Denkmal aber ist das Denkmal Friedrichs des Großen am
Eingänge der Linden. Es zeigt uns nicht bloß den großen König,
sondern auch auf seinen Ecken und Flächen alle diejenigen Männer,
welche die bedeutendsten Geistesrichtungen zur Zeit Friedrichs II. ver-
traten: seine Minister, Feldherren, die Männer der Kunst und der
Wissenschaft.
Unter den zahlreichen Fabriken wollen wir nur an die vortreffliche
Eisengießerei erinnern, in der nicht bloß Brücken mit Bogen und Gelän-
dern, sondern auch Bildsäulen und Brustbilder, ja selbst die feinsten
Schmucksachen, als Finger- und Ohrringe, Armbänder und Busennadeln
aus Gußeisen verfertigt werden. Im Durchschnitt liefert die Fabrik
36*
jährlich 10 —12,000 Centner solcher Gußeisenwaren, von denen die
leichtesten l/io Loth, die schwersten über 40 Centner wiegen. Neben ihr
müssen wir die Maschinenfabrik Borsig's nennen, des einstigen armen
Arbeiters, der zum reichen Arbeitergeneral geworden ist. Sein Sohn
hat bereits die Locomotiven dieser Anstalt bis in das fünfte Tausend ver-
mehrt. Auch die königliche Porzellanfabrik gehört zu den vorzüglichsten
in Europa. Da werden die feinsten Geschirre von den schönsten Formen
verfertigt.
Bon den Vergnügungsorten der Berliner ist der bekannteste der
Thiergarten, ein 819 Morgen großer, von Spaziergängen und Fahrstraßen
durchzogener Park, worin Kaffeewirtschaften, Reitschulen und Schaubuden
aller Art zerstreut sind. Dieser Garten übertrifft an Ausdehnung, Reiz
und Abwechselung, sowie an üppigem Baumwuchs alles, was von künst-
lichen Gärten dieser Art gefunden wird. Eine große Annehmlichkeit ist,
daß die Hauptallee deß Nachts durch viele Gasflammen erleuchtet ist,
wie denn überhaupt die Erleuchtung von Berlin sehr glänzend und voll-
ständig ist.
Großartig ist das Leben und Treiben in der Stadt. Schon am
frühen Morgen, wenn die Nachtwächter ihre letzte Stunde „abtüten",
fängt es an lebendig zu werden, und der junge Tag begrüßt zuerst die
arbeitenden Klassen, welche zwischen Nachtschwärmern zu ihren Bauten
und in ihre Fabriken eilen. Die Ladendiener öffnen die mit Eisen be-
schlagenen Läden, verschlafene Dienstmädchen laufen nach Frühstück, um-
liegende Dörfer spenden Milch, Butter, Käse, Gemüse, Obst und Getreide
auf Hunde- oder Pferdekarren zu allen Thoren hinein, und die Milch-
mädchen mit schwarzen, beklunkerten Hüten lenken ihre Klepper mit der
Würde echter Kutscher. Die Fenster schlagen ihre Rouleaux und Läden
aus, hinter welchen die Nacht unzählige Leiden und Freuden, Thränen
und Schmerzen barg, ohne nun dem neugierigen Tage etwas zu ver-
rathen. Geputzte und lumpige, frische und mehr blasse Kinder mit Spu-
ren von Kaffeebrocken an den Backen eilen in Scharen nach den Schulen.
Um 9 bis 10 Uhr herrschen Beamte mit Acten, Droschken, Branntwein-
und Bierwageu, Hausierkarren u. dgl. vor. In den Hauptstraßen kann
man wenigstens acht verschiedene Strömmungen unterscheiden, auf beiden
Fußwegen je zwei Ströme, unmittelbar an den Rinnsteinen die Milch-
und Hundewagen mit gräßlich schreienden Hausierkärrnern, in der Mitte
wenigstens zwei an einander vorbeirollende Equipagen- und Wagenreihen.
Mittags ist die größte Flut. Unzählige Kinder purzeln aus den Schul-
stnben, Tausende von männlichen und weiblichen Fabrikarbeitern gehen
bleich zum kargen Tische, die feine Welt fährt und geht spazieren, kauft
Bänder und Spitzen. Die lebhafteste Straße ist die alte Königslraße.
Ein Kaufgewölbe reiht sich in ihr an das andere. Unter die wimmelnden
Werkstätten und Läden haben sich Bierhallen, Kaffee-, Wein- und Früh-
stücksstuben, Conditoreien und Bilderhandlungen eingedrängt. Ein ununter-
brochener doppelter Wagenzug bedeckt den Damm der Straße; ein rastlos
sich verändernder Menschenstrom wogt an beiden Seiten auf den Bürger-
steigen hin. Überall lautes Gewühl: Officiere in goldgestickten Unifor-
men, Regierungsbeamte im Fracke, Zeitungsverkäufer, Apfelsinen- und
Cigarrenmädchen, die ihre Waren anpreisen, Kaufleute, welche die ellenlangen
Anschlagzettel studieren, und überall die unvermeidlichen Schusterjungen.
Der echte Berliner trägt einen bestimmten, scharf ausgeprägten Charakter.
Wollte man ihm Herz und Gemüth absprechen, so würde man ihm sehr
Unrecht thun; rühmte doch Graf Bismarck bei einem Festmahle im Jahre
1866 an den Berlinern „offenen Mund, offene Hand und offenes Herz".
Jedoch ist eine scharf zugespitzte Verständigkeit überwiegender Charakterzug;
mit ihr steht die unleugbare Gabe für Witz in Verbindung. Der Berliner-
ist immer schlagfertig, immer im Stande, für jedes Begegnis und Ereig-
nis eine scharfe, witzige Form und Fassung zu finden. Berliner Kinder
im Felde sind tapfer und immer guten Muthes und voll Witzes. Die
Geschichte Preußens zeigt den Berliner mit Wort und Werk immer vor-
weg. Aber dieses dreiste, vorlaute Wesen des Berliner Stadtkindes, das
sich auch in der scharfgeschliffenen, hellen, an Mirs und Dirs überreichen
Mundart, die jedes G in ein scharfes I verwandelt, treffend genug aus-
spricht, ist eben in diesem stets straffen und entschlossenen Zu- und Vor-
greifen abstoßend, mitunter sogar grob anmaßend. Dazu ist ein ganz
ungemessener Stolz auf Berlin und seine Herrlichkeit dem Berliner eigen-
thümlich, und er selbst hält sich, weil in der Residenz geboren, für besser
als andere Leute. Jede Annäherung an den echten Berliner ist für
diesen eine Herausforderung; er fragt mit prüfendem Blicke von oben her-
unter: „Na nu?" oder er verachtet den Anspruch an seine Person und
geht mit einem: „I Jott bewahre!" seiner Wege; und auch wenn er
gutmüthig ist, so liebt er es doch oft, durch eine witzige Wendung den
Fragenden anzustechen. „Rechts um schenkt man Weißbier!" antwortet
er, gibt nachher aber doch noch die rechte Auskunft. Nach Kühner u. Daniel.
444. Vom Bau des menschlichen Körpers.
Unser Körper verdankt seine feste Grundlage den Knochen und
Knorpeln. Beide sind mit einer festen, sehnigen Haut (der Knochen-
und Knorpelhaut) überzogen, welche die Blutgefäße für die Ernährung
dieser Theile trägt. Zur Vereinigung der Knochen unter einander zu
einem festen Gerüste, zum Gerippe oder Skelett, dienen die festen, aber
biegsamen Knochenbänder. Sie verbinden die meisten Knochen beweglich
mit einander, bilden auf diese Weise die Gelenke und machen so aus
dem Gerippe ein in allen seinen Theilen sehr bewegliches Gerüste. Um
dessen Gewicht nicht zu schwer zu machen, bestehen die Knochen nicht durch
und durch aus Knochenmasse, sondern sind in ihrem Innern mit dem
leichten Knochenmarke ausgefüllt, welches gleichzeitig auch ein schützendes,
weiches Lager für die Gefäße und Nerven des Knochens bildet.
An das Knochen- und Knvrpelgerüste sind die weichen Theile, vor-
zugsweise aber die Muskeln oder das Fleisch angeheftet. Die Muskeln,
aus weicher, feuchter, rother und faseriger Masse, verleihen unserm Körper-
seine Form und vermitteln auch, indem sie sich zusammenziehen und da-
durch verkürzen tonnen, alle Bewegungen, die mit und in unserem Körper
vor sich gehen.
Die Knochen, Knorpel und Muskeln bilden verschiedene Höhlen; die
drei größten sind die Schädel-, Brust- und Bauchhöhle. Die
I
56(3------
Schädelhöhe schließt das Gehirn ein; in der Brusthöhle liegen die
Lungen und das Herz; in der Bauchhöhle, welche das Zwergfell von
der Brusthöhle trennt, liegt links der Magen, rechts die Leber und
gegen den Rücken die Nieren; zum größten Theil wird die Bauchhöhle
von dem Dünn- und Dickdarm ausgefüllt.
Alle die genannten Be-
standtheile unseres Körpers,
die Knochen, Knorpel, Mus-
keln und Eingeweide werden
von einer größeren und ge-
ringeren Anzahl dickerer und
dünnerer Röhren durchzogen,
die sich entweder baumförmig
oder netzförmig verbreiten.
Diese Röhren heißen Ge-
fäße oder Adern und ent-
halten in ihrem Innern
entweder eine rothe Flüssig-
keit, das Blut, oder eine
weiße, milchige Flüssigkeit,
die Lymphe. Danach wer-
den sie als Blutgefäße und
Lymphgefäße bezeichnet. In
den Blutgefäßen wird das
Blut, die Quelle des Lebens,
fortwährend im Kreise her-
umgetrieben, und zwar aus
folgenden Wegen: vom Her-
zen aus läuft das Blut in
die dickwandigen, klopfenden
Puls- oder Schlagadern; diese bringen dasselbe zu allen Theilen hin.
Hier strömt es dann langsam durch die ganz feinen, dünnwandigen und netz-
förmig ausgebreitetenHaargefäße hindurch und gelangt hierauf in die nicht-
pulsierenden Blutadern, welche das Blut zum Herzen zurückschaffen. Während
das Blut durch die Haargefäße hindurch fließt, dringt aus denselben durch die
äußerst dünnen Haargefäßwände die klare Ernährungsflüssigkeit heraus
in die Gewebe der Theile. Sie besteht aus lauter guten Blutbestandtheilen
und liefert jedem Theile das Material zu seiner Ernährung.
Die Lymphgefäße oder Saugadern ziehen sich aus allen Theilen
unseres Körpers, wo sie zwischen den Haargefäßen entspringen, mit den
Blutadern in die Brusthöhle gegen das Herz hin. Die weiße Flüssigkeit,
welche die Gefäße enthalten und in ihnen das Blut schaffen, ist entweder
Lymphe, der Überschuß der Ernührungsflüssigkeit, oder Speisesaft,
der aus den Nahrungsmitteln gezogen wird. Auf dem Wege nach dem
Blutstrome durchströmen diese beiden Flüssigkeiten kleine, mit den Saug-
adern zusammenhängende Knötchen, die Lymphdrüsen. Hier werden
Lymphe und Speisesaft in feinen Zellenräumen durch Zumischung gewisser
Bestandtheile (Bläschen) dem Blute ähnlicher gemacht.
□
567
Außer den genannten Gefäßen durchziehen aber auch noch weiße
Fäden wie Telegraphendrähte alle Theile unseres Körpers. Das sind
die Nerven, welche die vereinzelten und sehr verschiedenartigen Theile
unseres Körpers zu einem innig zusammenhängenden Ganzen verbinden.
Sie dienen entweder den Empfindungen und Sinnen, oder den Be-
wegungen. Um dies zu können, befinden sich am Anfange wie am
Ende der Nerven Apparate, die entweder das Fühlen wie die Sinnes-
und Empfindungsorgane, oder das Bewegen wie die Muskelapparate
vermitteln. Die ans einer größeren Portion Nervenmasse bestehenden
Gebilde werden Nerven-Mittelpunkte genannt; solche sind: das Gehirn,
das Rückenmark und die Nervenknoten. Sie sind die Sammelstellen
für die Nerven und hängen mit deren Wurzeln innig zusammen. Diese
Nervenmittelpunkte sammt den Nerven bilden das Nervensystem, und
dieses vermittelt, aber immer erst in Folge von Anregung durch äußere
oder innere Reize, nicht nur alle Lebens-, sondern auch die Berstandes-
thätigkeiten.
Die äußere Oberfläche des Körpers hat als allgemeine Bedeckung
die äußere Haut, welche aus drei über einander liegenden Schichten zu-
sammengesetzt ist. Pros. llr. Bock.
44». „Warum", „was" und „wie" müssen wir esseu und trinken?
„Essen und Trinken erhält den Leib", ist eine alte und sehr wahre
Redensart. Mit dem Bane unseres Körpers verhält es sich auf ziemlich
ähnliche Weise wie mit dem Baue eines Hauses. Dian braucht zu einem
Hausbaue sehr verschiedenes Baumaterial; man braucht da Holz, Steine,
Eisen, Glas, Lehm u. dergl. m. Alle diese müssen aber ihrer Bestimmung
gemäß verarbeitet werden, so das Holz zu Brettern und Balken, das Eisen
568
zu Platten und Nägeln. Erst dann sind sie zur Herstellung von Wänden
und Räumen mit Thüren, Fenstern, Öfen, Schlössern u. s. w. zu verwen-
den. Ganz dasselbe ist der Fall mit dem Bau des menschlichen Körpers.
Es sind dazu ebenfalls eine Anzahl ganz verschiedener Stoffe nöthig, wie
Wasser, Eiweiß, Fette, Salze, Kalke, Eisen u. s. w. Diese Stoffe müssen
nun aber erst innerhalb unseres Körpers für den Aufbau vorbereitet und
zu den kleinsten Körpertheilchen, wie zu Bläschen (Zellen), Fäserchen,
Röhrchen, Plättchen und Häutchen verarbeitet werden. Erst dann können
sie zur Zusammensetzung der Knochen, Knorpel, Muskeln (oder Fleisch)
und Nerven dienen.
Wie bekannt, gibt es an jedem Gebäude fortwährend auszubessern,
da es ja durch die Zeit und den Gebrauch außen und innen Schaden
leidet, Natürlich sind dann die Schäden au den ruinierten Theilen nur
mit demjenigen Material auszubessern, aus welchem sie gearbeitet waren;
die Fenster müssen durch Glas, die Mauern durch Steine, die Schlösser
durch Eisen repariert werden. — Ebenso verhält es sich mit unserm
Körper. So lange wir leben, nutzt sich derselbe fortwährend in allen
seinen Theilen ab, und er kann nur dann ordentlich ausgebessert, dadurch
aber gesund erhalten werden, wenn das Abgenutzte immerfort wieder auf-
gebaut wird: das Fleisch durch Fleischstoffe, die Knochen durch Leim und
Kalk, die Nerven durch Eiweiß und Fett. Das fortwährende Abnutzen
(Absterben) unserer Körpertheile und das immerwährende Wiederersetzen
(Erneuern) derselben nennt man den Stoffwechsel. So lange dieser
vor sich geht, leben wir, hört er auf, dann sterben wir; hat er aufge-
hört, so sind wir todt; geht er schlecht und falsch von statten, dann sind
wir krank.
Der Stoffwechsel wird mit Hülfe des Blntes im Gange erhalten.
Die Stoffe, aus denen sich das Blut bildet, werden demselben durch die
Nahrung mit Hülfe der Verdauung übergeben; aus dem Blute aber bauen
sich alle Theile unseres Körpers auf. Deshalb wird das Blut als die
Quelle des Lebens bezeichnet.
In einem Gebäude werden wir uns aber nur dann wohl befinden
können, wenn in dessen Räumen eine angenehme Temperatur herrscht.
Wir heizen deshalb bei kaltem Wetter ein. — Auch innerhalb unseres
Körpers ist stets ein gewisser Grad von Wärme (-j- 30 o R.) nöthig,
wenn der Stoffwechsel ordentlich vor sich gehen soll. Um diese Wärme
zu erzeugen, heizen wir auch ein, und zwar mit Stoffen, die dem Ver-
brennungsmaterial unserer Öfen (Holz, Stein- und Braunkohle) in ihren
Grundbestandtheilen ähnlich sind. Zu ihnen gehören: fettige, stärkemehl-
haltige, zuckerhaltige und spirituöse Sachen. Wir genießen dieselben mit
unseren 'Nahrungsmitteln und zum Theil gleichzeitig auch als ernährende
Stoffe. Einige dieser Stoffe, wie das Stärkemehl und der Zucker, ver-
wandeln sich in unserm Körper allmählich in Fett; man nennÖdiese Stoffe
deshalb auch Fettbildner.
Wir bedürfen also sehr verschiedener Nahrungsmittel. Nur die
Milch und die Eier enthalten alle jene Stoffe, die unsern Körper auf-
bauen, und deshalb könnte der Mensch auch von Milch oder Eiern allein
leben. Alle übrigen Nahrungsmittel dagegen enthalten nur den einen oder
569
den anderen von den Stoffen, die wir dem Blute zuführen müssen. Des-
halb ist es am zweckmäßigsten, wenn unsere Nahrung eine gemischte, näm-
lich aus thierischen und pflanzlichen Nahrungsmitteln zusammengesetzte ist.
Zu einem gesunden kräftigen Leben bedürfen wir der Abwechselung in den
Speisen. Würden wir z. B. bloß von magerem Fleische, von Käse oder
vom Weißen der Eier leben wollen, so müßten wir ebenso verhungern, als
wenn unsere Nahrung bloß in Fett, Butter oder Eidotter bestände. Ebenso
können aber auch alle Mehlsachen, besonders das Brot, nur dann als
nahrhaft gelten, wenn in ihnen außer dem Mehle auch noch Kleber (d. i.
der mit dem Weißen im Ei zu vergleichende Eiweißstoff, der dicht unter
der Schale der Getreidesamen lagert) vorhanden ist. Da sich nun in der
Kleie noch viel Kleber befindet, so muß Kleienbrot auch viel nahrhafter
sein, als das gewöhnliche Brot ohne Kleie. Freilich wird aber durch 'die
Kleie das Brot schwerer verdaulich, und würde darum Kleienbrot einem
schwachen Magen nicht anzurathen sein.
Die Getränke sollen die wässerigen Bestandtheile unseres Blutes
und Körpers ersetzen, die derselbe fortwährend durch Lungen, Haut und
Nieren verliert. Außerdem enthalten aber auch noch alle Getränke, selbst
das Trinkwasser, solche Nahrungsstoffe in sich, die zum Ersatz der festen
Körperbestandtheile dienen können. Unter allen Getränken können nur
zwei für den Menschen als wirkliches Bedürfnis gelten: das Wasser und
im Kindesalter die Milch. Letztere kann für den Erwachsenen gleichzeitig
als Getränk und Speise dienen.
Wenn wir nun auch wissen, was wir essen sollen, so ist es ferner
noch von großer Bedeutung zu wissen, wie wir die Speisen genießen
müssen. Viele Menschen essen so, daß ihnen das Genossene den Nutzen
nicht bringt, den es bringen könnte. Alles Feste, was wir genießen, ganz
besonders das Fleisch, muß so zubereitet und im Munde mit den Zähnen
so lange verarbeitet (gekaut) werden, daß es im Magen und Darmkanale
von den Verdauungssäften, vorzugsweise vom sauren Magensafte, leicht
durchdrungen und aufgelöst werden kann. Je flüssiger und breiiger ein
Nahrungsmittel ist, oder je schneller es im Magen in eine solche Form
verwandelt werden kann, desto verdaulicher ist es, und desto besser können
seine Nahrungsstoffe ausgezogen und in das Blut geschafft werden. Des-
halb kommt auf die Zubereitung und das Kauen der Speisen sehr viel
au. Ein gut gekochtes oder gebratenes, weiches Stück Fleisch muß, wie
ein tüchtig zu Brei zerkautes Stück, weit verdaulicher sein, als hartes,
wenig zerkautes Fleisch. — Hartes Ei ist sehr unverdaulich, weiches da-
gegen sehr leicht verdaulich. — Feste, unlösliche (also unverdauliche) Stoffe
in unseren Speisen, wie Hülsen, Schalen, Körnchen, Blätter u. dergl.,
erschweren, indem sie im Magen die löslichen, verdaulichen Nahrungsstoffe
einhüllen, das Eindringen des Magensaftes in dieselben und hindern da-
durch die Lösung dieser löslichen Stoffe. So gehen nicht durchgeschlagene
Hülsenfrüchte (auch Reis) fast ganz unverdaut im Stuhlgange wieder mit
fort.. Sehr fette Speisen werden ebenfalls unverdaulicher, sobald das
flüssige Fett, welches vom wässerigen Magensaft? nicht durchdrungen werden
kann, eine Art Hülle rings um die löslichen Nahrungsstofse bildet. —
Trinkt man Milch langsam in kleinen Schlucken und ißt dazwischen Brot,
570
so gerinnt dieselbe im Magen nur in ganz kleinen Portionen und wird
dann für den Magensaft leichter durchdringlich und löslicher. Dagegen
bildet sich beim schnellen Trinken größerer Massen Milch im Magen ein
großer Klumpen Quark und dieser ist für den Magensaft schwer zu lösen.
Aus diesen wenigen Beispielen wird man schon erkennen, daß auf das
Wie beim Essen und Trinken viel ankommt. Professor vr, Bos.
446. Vom Waschen und Baden.
„Reinlichkeit ist das halbe Leben", dieser Satz wird von allen ge-
sitteten Menschen anerkannt und deshalb das tägliche Waschen des Ge-
sichtes, der Hände, mitunter auch des Halses und der Brust als noth-
wendig und unentbehrlich angesehen. Die immer neu auftauchenden Bäder
und Badeanstalten für Reiche und Arme zeigen ferner deutlich genug, daß
der Mensch das Bedürfnis hat, seinen Körper zuweilen vollständig zu
reinigen, wenn mau sich auch nicht immer der wohlthätigen Wirkungen
dieser Reinigung des ganzen Leibes und der Erfrischung der Haut ganz
klar bewußt ist. Die Bedeutung des Waschens und Badens kann nur der
begreifen, der die Naturbeschaffenheit der Haut kennt, in welcher wir stecken.
Die Haut des Menschen besteht aus drei verschiedenen Lagen, die
zusammen ein gar nicht schwaches Leder liefern. Die obere Schicht heißt
die Hornhaut. In ihr fließt weder Blut, noch sind in derselben Nerven
vorhanden; sie ist blut- und gefühllos, reibt oder nutzt sich fortwährend
ab und erneut sich außerordentlich schnell. Wenn man sich ein Stückchen
dieser Haut z. B. von der Handfläche mit einem scharfen Federmesser ab-
schneidet, so kaun man, wenn man dieselbe gespannt gegen das Licht hält,
sehr deutlich sehen, daß sie außerordentlich viel Löcher hat. Es sind dies
die Schweißlöcher, deren Bestimmung wir sofort kennen lernen werden.
Unter dieser Hornhaut befindet sich die Lederhaut, welche von Nerven
und Blutäderchen vielfach durchwebt ist. In dieser Haut liegen die Wurzeln
der Haare eingebettet, weshalb es auch schmerzt, wenn man sich ein Haar
ausreißt. Auch diese zweite Haut ist durchlöchert, denn die Schweißkanäle
führen noch tiefer unter derselben fort.
In der That ist es eben die dritte Hautschicht, in welcher alle
Schweißkauäle ihre Wurzeln haben. Es sind dies eigenthümlich gewnndene
Kuäul-Drüsen, die, durch ein starkes Vergrößerungsglas betrachtet, wie
Därme aussehen. Diese stecken meist in einem Fettlager und haben das
Geschäft, das Wasser aus dem im Umlauf begriffenen Blut, das an ihnen
vorüberstreicht, aufzunehmen und durch den Kanal hinaus zu befördern.
Mit diesem Wasser werden auch noch einzelne andere Stoffe aus dem
Körper hinaus befördert, deren Verbleiben im Körper durchaus schädlich
ist. Es ist daher sehr wichtig, die Oberhaut in einem Zustande zu er-
halten, welcher der Absonderung den Durchzug gestattet. Wenn man zwei
Drittel der Haut durch irgend einen Lacküberzug undurchdringlich macht
und so die Thätigkeit derselben stört, dann erfolgt nach kurzer Zeit der
Tod. Dies wird begreiflich, wenn wir die Sache noch näher betrachten.
Es haben nämlich gewissenhafte Naturforscher die Zahl der Schweißlöcher
des ganzen Körpers mit ziemlicher Genauigkeit bestimmt. Auf einem Stück
Haut von der Größe eines Dreiers am Nacken und am Rücken finden sich
an 400 Schweißlöcher, auf einem ebenso großen Stück Haut von den
Wangen sind 540, ein gleich großes Stück Haut von Bauch und Brust
hat 1130, von der Stirn 1258, vom Halse 1300, von der Fußsohle so-
gar 2685 solcher Schweißlöcher. Alles in allem gerechnet, ergibt für den
ganzen Körper eines erwachsenen Menschen an 2,380,000 offene Kanäle
der Verdunstung. Könnte man dieselben an einander legen, so erhielte
man ungefähr ein so großes Loch, daß man es mit einem gewöhnlichen
Teller zudecken könnte. Außerdem findet auch ein Durchdringen von luft-
förmigen Ausdünstungen durch die Haut an solchen Punkten statt, wo
keine Schweißlöcher sind. Ein Mensch verliert durch die Hautansdünstung
in 24 Stunden an zwei Pfund.
Die Haut ist also ein äußerst wichtiges Organ, und man darf über
dieser bereits dreifachen Hautschicht nicht noch eine vierte anwachsen lassen,
eine Schmutzschicht, welche die Grenzsperre zwischen innen und außen in
gefahrvoller Weise verstärken würde. Der wässerige Schweiß, der sich aus
den Schweißporen drängt und der unsern Körper mehr oder weniger be-
feuchtet, ist kein reines Wasser. Es befinden sich in diesem gar viele
Stoffe arifgelöst, die man schwerlich sonst hier suchen würde. Es ist eine
Portion Salz, einiges von Schwefelverbindungen, ferner Säuren in dem
Schweiß enthalten. Die Natur lagert demnach mit dem Strom von
Schweiß, den sie vom Innern des Körpers nach außen hin sendet, auf die
Haut eine ganze Masse ihr nicht mehr nützlicher Stoffe ab. Nun führt
zwar die Luft das Wasser in Form von feinem Dunst fort, und mit diesem
Dunst verbinden sich eine Menge flüchtiger Säuren des Schweißes, die
ihm seinen eigenthümlichen Geruch verleihen; aber die anderen Stoffe
bleiben als feste Kruste auf der Haut zurück und bilden einen Überzug
über dieselbe. Aus einer andern Quelle wird sogar wirklicher Talg ab-
gelagert. In der mittleren Hautschicht, woselbst die Haare eingebettet
sind, befinden sich an der Wurzel derselben kleine traubenförmige Drüsen,
welche eine ölartige Flüssigkeit absondern. Aus der Oberfläche der Haut
wird das Ol hart wie Talg, erhält ein gelbes, schmutziges Ansehen und
verleiht der Haut jene Klebrigkeit und das sogenannte ungewaschene An-
sehen, das wir an recht gehörig verschlafenen Gesichtern bemerken, bevor
frisches Wasser und gute Seife die Reinigung vollzogen. Kommt nun zu
dieser klebrigen Naturschminke noch von außen her der Staub aller Art,
den kein Mensch ganz von sich abwehren kann, so vollendet sich ein Über-
zug, der nicht nur unserer Schönheit, sondern hauptsächlich unserer Gesund-
heit schweren Abbruch thut.
Indessen müssen wir der Natur die Gerechtigkeit widerfahren lassen,
daß sie nicht so ganz und gar unbarmherzig mit unserer Haut umgeht,
sondern ein sehr praktisches Mittel weiß, ihre Ablagerungen fortzuschaffen.
Die Oberhaut, der sie so viel aufbürdet, wird von der Natur selber in
kleinen Schüppchen abgestoßen, während sich neue Oberhaut unter derselben
bildet. Wir stecken nicht gar lange Zeit in unserer Haut, sondern werfen
sie in feinen Stückchen von uns ab. Wir häuten uns, nicht wie die
Schlangen und dergleichen Kreaturen mit einem Male, sondern fahren
äußerst langsam und einzeln aus der Haut; weshalb denn Menschen, die
572
sich lange nicht gewaschen oder sonst die Haut einzeln durch Arbeit abge-
rieben haben, wie z. B. nach Hautkrankheiten, sich förmlich abpellen und
als neue Menschen aus ihrer eigenen Haut kriechen.
Das ist nun freilich eine Naturreinignng, aber eine, auf die man
nicht warten kann; denn wenn sich Fettigkeit auf der Oberhaut befindet,
so werden die Schüppchen der Hornhaut von derselben festgehalten und
helfen so den Leib noch mehr verkleistern. Wer feine Gesundheit
erhalten will, muß daher für gründliche Hautreinigung seines
Körpers sorgen. Mit dem Wasser muß man ein wenig Seife an-
wenden, weil Seife die Fette löslich macht. Es ist Thatsache, daß die
meisten der gewöhnlichen Krankheiten ihren Grund in unterdrückter Haut-
thätigkeit haben.
Zum Lobe der Abwaschung mit kaltem Wasser und des kalten Bades
sei schließlich noch folgendes gesagt. In der zweiten Haut stecken Blut-
adern und Nerven; auch auf diese hat es Einwirkung, wenn die Ober-
haut rein gehalten wird. Durch fleißiges Baden hebt sich die ganze Lebens-
thätigkeit des Körpers, was man am Appetit bald merkt; auch fühlt man
sich abgehärtet gegen Einwirkungen der Witterung, die sonst nicht selten
die Quelle schwerer Leiden sind. A. Bernstein.
447. Athmen und Einheizen.
Das Athmen des Menschen bringt ganz so die Erwärmung des
Körpers hervor, wie der Zutritt der Zugluft beim Heizen die Erwär-
mung des Ofens. Alle Menschen haben einen ganz bestimmten Grad
von Körperwärme, der sich ganz gleich bleibt, es mag Soinmer oder
Winter, Hitze oder Kälte herrschen. Man nennt diese Wärme Körper-
oder Blutwärme, und sie beträgt ungefähr 29 Grad. Diese Wärme
im Innern des Körpers darf sich weder steigern, noch darf sie abnehmen,
wenn nicht Krankheit und Tod folgen soll; sie muß sich vielmehr stets gleich
bleiben, und dies ist auch beim gesunden Menschen immer der Fall, so
lange er essen und athmen kann. Alles Fett, das der Mensch genießt,
wie alle Stoffe, die im Körper sich in Fett umwandeln, dienen haupt-
sächlich dazu, diesen Grad von Wärme zu erhalten. Das Fett nämlich
besteht aus Kohlenstoff und den Bestandtheilen des Wassers. Der
Kohlenstoff ist das Heizmaterial und die Bestandtheile des Wassers be-
wirken unter Umstünden die Abkühlung durch Schweiß. Beim Athmen,
wo man Sauerstoff in den Körper einführt, geschieht die Verbindung
des Sauerstoffs und des Kohlenstoffs zur Kohlensäure, und bei dieser
Verbindung wird Wärme entwickelt, ganz so wie im Ofen bei der Bil-
dung von Kohlensäure Wärme frei wird. Diese Thatsachen erklären auch
manche Erscheinung, die sonst unerklärlich gewesen ist. Woher kommt es,
daß wir im Winter mehr essen und fetteres Essen vertragen können als
im Sommer? Es kommt daher, daß wir im Winter schneller kalt werden
und daher stärker athmen müssen, um uns zu erwärmen. Aber zuni
stärkeren Athmen gehört mehr Kohlenstoff im Körper, und darum müssen
wir mehr und Fetteres essen als im Sommer. Deshalb darf man sich
nicht wundern, wenn in den ewigen Eisfeldern des Nordens die Menschen
573
Thran trinken und sogar Talglichte mit gutem Appetit verzehren, während
.in heißen Ländern jede Fleischspeise mäßig und fettes Fleisch nur mit
Widerstreben genossen wird. Warum ißt derjenige, der eine sitzende
Lebensart führt, weniger? Weil er beim Sitzen weniger athmet und
darum auch nicht viel Kohlenstoff verbraucht. Deshalb aber friert er
auch weit leichter als derjenige, der sich viel bewegt, also auch kräftiger
athmet und folglich auch mehr essen muß. — Athmen und essen gehören
so genau zu einander, um den Körper zu erwärmen, wie Zugluft und
Brennmaterial zu einander gehören, um die Erwärmung des Ofens
zu unterhalten. Freilich wird mancher fragen: Wo ist denn das Feuer
im Körper vorhanden, das im Ofen nöthig ist, um ans Sauerstoff und
Kohlenstoff die Kohlensäure zu bilden?
Zur Antwort auf die Frage müssen wir uns daran erinnern, daß
in vielen Fällen durch die Verbindung zweier Körper Wärme entsteht,
ohne daß wir dabei Feuererscheinungen wahrnehmen. Wenn man in ein
Glas kaltes Wasser etwas kalte Schwefelsäure gießt, wird das Wasser
so heiß davon, daß oft das Glas zerspringt. Wenn man den Versuch in
einem irdenen Topf macht, so fühlt sich der Topf so an, als ob heißes
Wasser darin wäre. Und doch war das Wasser für sich kalt und die
Schwefelsäure für sich ebenfalls kalt. Die Wärme entstand erst in dem
Augenblicke, wo beide Stoffe sich mit einander vermischten. Nicht minder
ist es bekannt, wie kaltes Wasser, auf ungelöschten Kalk gegossen, einen
sehr heißen Kalkbrei herstellt.
Dies sind zwei Beispiele, wie die Verbindung von zwei Körpern
Wärme erzeugt wird, und zwar ohne Feuererscheinung. A. Bernstein.
448. Wanderlied.
1. Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.
2. DieBächlein von den Bergen springen,
Die Lerchen jubeln hoch vor Lust;
Wie sollt ich nicht mit ihnen singen
Aus voller Kehl' und frischer Brust?
3. Den lieben Gott laß ich nur walten,
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd' und Himmel will erhalten,
Hat auch mein' Sach' aufs best' bestellt.
I. v. Eichendorff.
449. Die Fixsterne.
Im matten Dämmerlicht liegt die Erde da, oben aber erglänzen des
Himmels Sterne und leuchten aus unermeßlichen Fernen herüber in die
Erdennacht. Still ziehen sie dahin, jene ewigen Zeugen der Allmacht,
hoch erhaben und nie erreicht vom Gewirre der Erde, daher auch unge-
stört von aller irdischen Macht, von allem, was hienieden vorgehen mag.
Wie klein, bis zum verschwindenden Nichts erscheint da der Mensch vor
der Unendlichkeit, aber dennoch freut er sich und fühlt sich innerlich ge-
hoben und groß, weil sein Auge die Wunder der Schöpfung schauen, und
sein Geist darin die Herrlichkeit und Weisheit Gottes erkennen kann.
Alle Sterne, mit Ausnahme der Planeten und Nebenplaneten, sind
Fixsterne. Die Fixsterne werden nicht wie die Planeten und Monde
von der Sonne beleuchtet, sondern haben, gleich der Sonne, eigenes
Licht. Nach ihrer scheinbaren Größe theilt Man die Fixsterne, die mit un-
bewaffnetem Auge wahrgenommen werden können, in Sterne erster,
574
zweiter, dritter bis sechster und siebenter Größe. Unendlich groß ist die
Zahl der Fixsterne, denn schon mit dem bloßen Auge kann man an 6000
zählen. Damit nun aber die Astronomen unter der Masse von Sternen
sich besser zurechtfinden können, so haben sie gewissen merkwürdigen
Sternen einen Namen gegeben, oder sie haben denen, welche zusammen
ein Bild vorstellen, den Namen eines Bildes gegeben, z. B. das Kreuz,
die Krone, oder sie haben um eine Anzahl von Sternen herum in Ge-
danken einen Strich gezogen, der bald aussieht wie ein Bär oder Krebs,
und nennen das Sternbilder. Z. B. die 12 Zeichen des Thier-
kreises: die Jungfrau, die Zwillinge, der Skorpion rc., und
alle Sterne, groß und klein, die in einem Sternbilde stehen, gehören zu
diesem Sternbilde.
Aber das ist alles noch nichts; sondern es gibt noch viel mehr
Sterne, die wir nicht sehen, als die wir sehen. Man rechnet die Zahl
der Sterne, die man mit den besten Fernröhren wahrnehmen kann, über
534,000 Millionen. Aber wer kennt und zählt die Millionen Sterne,
die selbst mit Fernröhren von uns nicht wahrgenommen werden können!
Kennen wir nicht alle die Milchstraße, die wie ein breiter
Gürtel den Himmel umwindet? Sie gleicht einem ewigen Nebelstreif,
den eine schwache Helle durchschimmert. Aber durch die Gläser der
Sternseher betrachtet, löset sich dieser ganze Lichtschimmer in unzählige
kleine Sterne auf.
Was aber die Bewegung der Sterne betrifft, wenn man auch sagen
will, sie gehen auf und unter, so gehen sie doch nicht alle aus und unter,
sondern wenn man sich gegen Norden stellt und am Himmel hinauf-
schaut: nicht gar weit vom großen Bären steht ein Stern, der sich
nicht sonderlich bewegt und der Polarstern heißt. Auf diesen schauen
die andern Sterne bis zum Thierkreise oder den 12 Zeichen hinaus als
auf ihren Flügelmann, oder ihren Mittelpunkt, und drehen sich um ihn
herum also, daß sie auch nie untergehen. Deswegen kann man z. B.
den großen Bären im Sommer und Winter die ganze Nacht sehen, bald über,
bald unter dem Polarsterne. Aber die entfernten in ihren großen Kreisen
müssen schon unten um die Erde herumgehen und auf der andern Seite
wieder hinauf. Also kann man z. B. das Siebengestirn nicht immer
sehen. Stellt man sich aber gegen Süden, dem Polarsterne gegenüber,
eben so tief unter uns als dieser über uns, da steht wieder so ein
Polarstern, der sich nicht bewegt. Auf den schauen die Sterne, die jenseit
des Thierkreises stehen, und bewegen sich auch um ihn heruin, immer in
kleineren Kreisen, je näher sie ihm kommen, ganz so wie hier zu Lande.
Allein das alles ist im Grunde doch nur Schein. In der That
selber aber ist es, wie hier folgt: Die Erde schwebt ringsum zwischen
lauter himmlischen Sternen ohne Zahl und Ende. Der eine Pol der
Erde, unserer, dem wir am nächsten sind, der Nordpol, schaut gegen den
obersten Polarstern am Himmel, nicht ganz, aber ungefähr; der andere
Pol der Erde schaut gegen den andern Polarstern am Himmel, den wir
hier zu Lande und auf unsern Bergen nicht sehen, gegen den untern, und
die Axe, welche gleichsain durch die Erde hindurchgeht, wenn sie unten und
oben bis in die Sterne hinausreichte, so würde sie sich in die zwei
57Ö
Polarsterne am Himmel hineinbohren und sich in ihnen sammt der Erde
gleichsam als in ihrem Gewinde umdrehen; — und so dreht sich die Erde
wirklich herum, daß immer die Pole gegen die Polarsterne schauen.
Daraus folgt, wie wir meinen, die Sonne geht in 24 Stunden um die
Erde herum, und auch alle Sterne gehen um die Erde herum. Aber
nein. Die Erde vollendet in 24 Stunden ihren Wirbel um sich selbst
und führt so alle Punkte ihrer Oberfläche an den Sternen vorbei.
Was bisher über die Fixsterne gesagt ist, kann zum Theil mit dem
leiblichen Auge gesehen und erkannt werden. Allein das Auge des Ver-
standes sieht mehr als das Auge des Leibes.
Erstens: Die Fixsterne sind so weit von uns entfernt, daß man
früher meinte, es sei gar kein Mittel möglich, ihre ungeheure Entfernung
auszurechnen; in neuester Zeit aber hat man die Entfernungen von
wenigstens 30 Fixsternen gemessen und gefunden, daß der uns zunächst
stehende ungefähr 9 Billionen Meilen von uns entfernt ist. Zu den
uns zunächst stehenden Fixsternen gehört der Sirius; man schloß das
früher schon aus seiner Größe und aus seinem wunderschönen Glanze.
Dessen ungeachtet muß er doch zum allerwenigsten 27,66'
uns entfernt sein als die Sonne, und eine Kanonenkugel^
abgeschossen, müßte mit gleicher Geschwindigkeit mehr als 6(
lang fliegen, ehe sie die Erde erreichte.
Zweitens: Der Sirius, der aus einer so unermeßlicher
noch so groß aussieht und ein so strahlendes Acht hat, inuj
Heimat noch oies____größer als die Sonne, und folglich selber eine glor-
reiche strahlende Sonne sein. Das' kann nicht fehlen. Haben wir aber
Ursache zu glauben, der Sirius sei eine Sonne, so haben wir auch Ur-
sache zu glauben, jeder andere Fixstern sei auch eine Sonne. Denn
wenn sie auch noch so viel kleiner erscheinen, so sind sie nur noch so viel
weiter von uns entfernt. Aber alle strahlen in ihrem eigenthümlichen
himmlischen Lichte; oder wo hätten sie's sonst her.
Drittens: Die Entfernung unserer Sonne von dem Sirius dient
uns nun zu einem muthmaßlichen Maßstabe, wie weit eine himmlische
Sonne oder ein Fixstern von dem andern entfernt sei. Denn wenn
zwischen unserer Sonne und der Sirius-Sonne ein Zeitraum ist, den eine
Kanonenkugel in 600,000 Jahren nicht durchfliegen könnte, so kann man
wohl glauben, daß die andern Sonnen auch eben so weit jede von der
nächsten entfernt fei bis zur obersten Milchstraße hinauf, wo sie so klein
und so nahe bei einander zu stehen scheinen, daß uns einige hundert von
ihnen zusammen kaum aussehen wie ein Nebelfleck, den man mit einem
Groschenslücke bedecken könnte. Es gehört nicht viel Verstand dazu, daß
er einem stille stehe. — Wenn man nun
viertens das alles bedenkt, so will es nicht scheinen, daß alle diese
zahllosen Sterne, zumal diejenigen, die man mit bloßem Auge nicht sehen
kann, nur unsertwegen erschaffen worden wären. Und da wollen denn
verständige Leute glauben, wo in einer solchen Entfernung von einander
so unzählige prachtvolle Sonnen strahlen, da müssen auch Planeten und
Erdkörper zu einer jeden derselben gehören, welche von ihr Licht und
Wärme und Freude empfangen, wie unsere Planeten von unserer Sonne,
576
und es müssen darauf lebendige und vernünftige Geschöpfe wohnen wie
auf unserer Erde, die sich des, himmlischen Lichts erfreuen und ihren
Schöpfer anbeten. Und wenn sie etwa bei Nacht in den glanzvollen
Himmel hinausschauen, wer weiß, so erblicken sie auch unsere Sonne wie
ein kleines Sternlein; aber unsere Erde sehen sie nicht. Sie sehen nicht
die Schönheit unserer Erde, wenn der Frühling voll Blüten und Som-
mervögel an allen Bäumen und Hecken hängt, und wir sehen die Schön-
heit ihres himmlischen Frühlings nicht. Aber der ewige und allmächtige
Geist, der alle diese Lichter angezündet hat und alle die Heere von Welt-
körpern in den Händen trägt, sieht das Kindlein lächelnd auf der Mutter-
Schoß und umfaßt die Erde und den Himmel und aller Himmel Himmel
mit Liebe und Erbarmen. Seier.
450. Die Heimat der Seele.
1. Wo findet die Seele die Heimat, die
Ruh?
Wer deckt sie mit schützenden Fittigen zu?
Ach, bietet die Welt keine Freistatt uns an,
Wo Sünde nicht herrschen, nicht anfechten
kann?
Nein, nein, nein, nein, hier ist sie nicht:
Die Heimat der Seele ist droben im Licht.
2. Verlasset bie' Erde, die Heimat zu
sehn,
Die Heimat der Seele, so herrüch, so schön!
Jerusalem droben, von Golde erbaut,
Ist dieses die Heimat der Seele, der Braut?
Ja, ja, ja, ja, dieses allein
Kann Rnhplatz und Heimat der Seele nur
sein.
3. Wie selig bie Ruhe bei Jesu im Licht!
Tod, Sünde und Schmerzen, die kennt man dort nicht!
Das Rauschen der Harfen, der liebliche Klang,
Bewillkommt die Seele mit süßem Gesang.
Ruh, Ruh, Ruh, Ruh, himmmlische Ruh
Im Schoße des Mittlers, ich eile dir zu.
451. An meinen Sohn Johannes.
Gold und Silber habe ich nicht; was ich
r ^ , n, aber habe, gebe ich dir-
Lieber Johannes!
Die Zeit kommt allgemach heran, daß ich den Weg gehen muß, den
man nicht wiederkommt. Ich kann dich nicht mitnehmen und lasse dich
in einer Welt zurück, wo guter Rath nicht überflüssig ist. Niemand ist
weise von der Geburt an; Zeit und Erfahrung lehren hier und fegen
die Tenne. Ich habe die Welt länger gesehen als du. Es ist nicht
alles Gold, was glänzet, und ich habe manchen Stern vom Himmel fallen
und manchen Stab, auf den man sich verließ, brechen sehen. Darum
will ich dir einigen Rath geben und dir sagen, was ich gefunden habe,
und was die Zeit mich gelehrt hat.
Es ist nichts groß, was nicht gut ist, und nichts ist wahr, was
nicht Bestand hat.
Der Mensch ist hier nicht zu Hause, und er geht nicht von ungefähr
in dem schlechten Rocke umher. Denn siehe nur, alle anderen Dinge mit
ihm und neben ihm sind und gehen dahin, ohne es zu wissen; der Mensch
aber ist seiner bewußt und ist wie eine hohe, feste Wand, an welcher die
Schatten vorüber wandeln. Alle Dinge mit ihm und neben ihm sind
einer fremden Willkür und Macht unterworfen; er allein ist sich selbst
577
anvertraut und trägt sein Leben in seiner Hand. Es ist für ihn nicht
gleichgültig, ob er rechts oder links gehe. — Laß dir nichts weis machen,
daß er sich selbst rathen könne und am besten seinen Weg selber wisse.
— Diese Welt ist für ihn zu wenig, und die unsichtbare siehet er nicht
und kennet sie nicht. — Spare dir also vergebliche Mühe; bereite dir
kein Leid und bewahre dein Bewußtsein. — Halte dich zu gut, um Böses
zu thun. — Hänge dein Herz an kein vergängliches Ding.
Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern wir
müssen uns nach ihr richten. — Was du sehen kannst, das sieh, und
brauche deine Augen; aber über das Unsichtbare und Ewige halte dich au
Gottes Wort. — Bleibe der Religion deiner Väter getreu und hasse alle
Streitigkeiten darüber; Gott wird dein Herz schon lenken. — Scheue
niemand so viel als dich selbst. Denn inwendig, in uns selbst wohnet
der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme mehr gelegen ist als
an dem Beifalle der ganzen Welt und der Weisheit aller alten Völker.
Niinm es dir fest vor, mein Sohn, nie gegen seine Stimme zu handeln;
was immer du sinnest und vorhast, schlage zuvor an deine Stirn und
frage den inneren Richter um Rath. Er spricht anfangs nur leise und
stammelt wie ein unschuldiges Kind; wenn du aber seine Unschuld ehrest,
so löset er gemach seine Stimme und wird dir vernehmlicher sprechen.
Lerne gern von anderen, und wo von Weisheit, Menschenglück,
Gottesfurcht und Edelsinn geredet wird, da höre fleißig zu. Doch traue
nicht zu schnell und in allem; denn die Wolken haben nicht alle Wasser,
und es gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch oft, daß sie schon die
Sache hätten, wenn sie davon reden können und davon reden. Dem ist
aber nicht so, mein Sohn! Worte sind nur Worte, und wo sie so gar
leicht und behende dahin fahren, da sei sorgfältig auf deiner Hut; denn
die Pferde, welche einen Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen
langsamen Schrittes. — So dich jemand Weisheit lehren will, so siehe
in sein Angesicht. Dünket er sich noch selber, und sei er noch so ge-
lehrt und noch so berühmt, lasse ihn und gehe seiner Kundschaft ferne.
Was einer nicht hat, das kaun er auch nicht geben. Und der ist nicht
frei, der da will thun können, was er will; sondern derjenige ist frei,
der da wollen kann, waö er thun soll. Und er ist nicht weise, der sich
dünkt, daß er wisse, sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit inne
geworden und durch die Sache von seinem Dünkel genesen ist. ■— Wenn
es dir um Weisheit zu thun ist, so suche nur sie und nicht das Deine;
brich deinen Willen und erwarte geduldig die Folgen.
Denke oft au heilige Dinge und sei gewiß, daß es nicht^ohne Vor-
theil für dich abgehe, und daß der Sauerteig deu ganzen Teig davon
säure. Verlache keine Religion; denn sie ist dem Geiste aufrichtig ge-
meint, und du weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen
sein könne. — Es ist leicht zu verachten, mein Sohn! aber verstehen ist
viel besser. — Lehre nicht andere, bis du es selbst gelernt hast. — Nimm
dich der Wahrheit an, wo und wann du kannst, und lasse dich ihretwegen
gern hassen und verspotten. Doch wisse, daß deine Sache nicht die Sache
der Wahrheit ist; hüte dich, daß sie nicht in einander fließen, sonst möchte
die Wahrheit von dem Deinigen überwogen werden, und dann ist dein
87
Lohn dahin. -— Thue das Gute für dich hin, weil es gut ist, und be-
kümmere dich nicht, was daraus folgen werde. — Wolle immer nur
Einerlei, und das wolle von Herzensgründe.
Sorge für deinen Leib, jedoch nicht .so, als wenn er deine Seele
wäre. — Gehorche der Obrigkeit und überlasse es andern, sich über sie
zu streiten. — Sei rechtschaffen gegen jedermann; doch vertraue dich nie-
manden gleich an. — Mische dich nicht in fremde Dinge; aber die dei-
nigen thue mit Fleiße. — Schmeichle niemandem und laß auch dir nicht
schmeicheln. — Ehre einen jeden nach seinem Stande, und dann mag er
sich schämen, wenn er es nicht verdient. — Werde niemandem etwas
schuldig; doch sei zuvorkommend, als ob sie alle deine Gläubiger wären.
— Wolle nicht immer den Großmüthigen spielen; aber gerecht sei immer.
— Hilf und gib gerne, wenn du hast, und dünke dich darum nicht mehr;
wenn du aber nicht hast, so halte den Trunk kalten Wassers zur Hand,
und dünke dich darum nicht weniger. — Sage nicht alles, was du weißt,
aber wisse immer, was du sagest. — Hänge dich nicht au die Großen.
— Sitze nicht, wo die Spötter sitzen; denn sie sind die elendesten unter
allen Creaturen. — Nicht die frömmelnden, aber die frommen Menschen
achte und gehe ihnen nach. — Ein Mensch, der wahre Gottesfurcht im
Herzen hat, ist wie die Sonne, die da scheinet und wärmt, wenn sie auch
nicht redet. — Thue, was des Lohnes werth ist, aber begehre keinen. —
Wenn du Noth hast, so klage sie dir und nicht leicht einem andern. —
Habe immer Gutes im Sinne.
Wenn ich gestorben bin, so drücke mir die Augen zu und denke, daß
ich hingegangen bin zum Besseren. — Stehe deiner Mutter bei; ehre sie,
so lange sie lebt, und begrabe sie neben mir. — Sinne täglich nach über
Tod und Leben und habe einen freudigen Muth. Gehe nicht aus der
Welt, ohne deine Liebe und Ehrfurcht für den Stifter des Christenthums
durch irgend ein Werk öffentlich bezeugt zu haben. Dein treuer Vater.
Matth. Claudius.
452. Abschicdswortc eines Balers nn seinen Sohn.
Du wanderst in die Welt hinaus
Auf dir noch fremden Wegen,
Doch folgt dir aus dem stillen Haus
Der treu'sten Liebe Segen.
Ein Ende nahm das leichte Spiel,
Es naht der Ernst des Lebens;
Behalt' im Auge fest dein Ziel,
(steh keinen L-chritt vergebens.
Gerader Weg, gerades Wort,
So will's dem Mann gebühren;
Wer Ehre sich erwählt zum Hort,
Den kann kein Schalk verführen.
Nimm auf die Schulter Last und Müh
Mit frohem Gotlvertrauen!
Und lerne, wirkend spät und früh,
Den eignen Herd dir bauen.
Halt hoch das Haupt, was dir auch droht,
Und werde nie zum Knechte;
Brich mit dem Armen gern dein Brot
Und wahre seine Rechte.
Treib nicht mit heil'gen Dingen Spott
Und ehre fremden Glauben,
Und laß dir deinen Herrn und Gott
Von keinem Zweifler rauben.
Und nun, ein letzter Druck der -Hand
Und eine letzte Bitte:
Halt dich getreu im fremden Land
Zu deines Volkes Sitte.
I. Sturm.
---- IV
geworden ist, alles Ungesunde und Tendenziöse zu vermeiden und
unserm Lesebuche den Grundstock der klassischen Lesestücke zu erhalten,
welche alle guten Lesebücher gemein haben, und welche durch die
Schule Gemeingut der gesammten deutschen Jugend werden müssen,
damit ein wackeres Volk aufkomme, welches, treu gegen Gott, Kaiser
und Reich, mit Frömmigkeit und Biederkeit, mit Einsicht und Fleiß,
mit Zufriedenheit und edler Freude seinen Wandel schmücke in dem
häuslichen und bürgerlichen Berufe und Geduld, Ausdauer und
standhaften Muth bewähre in allen Widerwärtigkeiten.
Die Lesestücke stehen in bunter Reihe, nur die geschichtlichen
Darstellungen stehen in der Folge der geschichtlichen Entwickelung,
und hier und da treten einzelne zu Gruppen zusammen. Die An
ordnung und Auswahl für das Lesen und die Besprechung ver
bleibt also dem Lehrer, und wir geben deshalb für die Hand der
Lehrer eine Beigabe, in welcher die Lesestücke zuerst nach den Sachen,
dann nach den Verfassern, dann nach den Darstellung-formen ge-
ordnet sind.
Das Buch mag nun für sich selber reden und nach unserm
Wunsche sich würdig erweisen, an der hohen Aufgabe der Bildung der
Jugend unseres deutschen Volkes mithelfen zu dürfen.
Alfeld und Hannover, Michaelis 1878.
Dr. G. Schumann und H. Rncte.
I
IttlialisverMchnisi
'Jfv. Seite
*1. Das walte Wott. K. Simrock . l
2. Wett grüßt manchen, der ihm nicht
dankt. Hebel................. 1
3. Wo wohnt der liebe (hott? W. Hey 1
*4. Wie oft (iott zu danken sei.
Wuntlerhoni.................. 2
'5. Gott sorgt auch für die Kinder.
Ä. Hey....................... 2
«>. Das Hirtcnbüblein. Märchen von
den Brüdern G r i m n«.......... 2
*7. Hirtenreigen. I. Falk.......... 3
*8. Das Hufeisen. W. v. Goethe . 3
;t. Deutschland. Luden............. 4
*10. Gelübde. Bi a ß m a n n ....... 5
11. Die Eiche. Aug. Grube . . . . 0
12. Sinngrün und Epheu. „Deutsche
Pslanzenfagen* von A. v. P erg er 7
*1.1. Wanderlust. E. Geibel......... 8
‘14. Wuotau. Th. Colshorn ... 9 !
*15. Waldlied. Ebrrt..................11
10. Win Brief Luthers an seinen Sohn
Hans. Mart in uS Luther . . . II
‘17. Die Schönheit der Natur. Spitta 12
IS. Die Hermannsschlacht. Duller. 12
*19. Vaterlandslied. E. M. Arndt . 1 f>
‘20. Siegfrieds Schwert. Uhland. . 15
21. Aus der Nibelungensage. Nachdem
Volksbuche.....................10
22. Kindetzdank. P. Hebel ...........28 |
*21. GotteS Zucht, de la Motte-
F v u g u e....................28 !
*24. Stand und Beruf. W. Hey . . . 28 !
25. Von den mancherlei Ständen.
Dr. M. Lut her................ . 30
20. Der Fuchs. Mafius . . .... . . 30
27. Der Fuchs und der Nabe. Äsop 35 j
*28. Die Kinder im Walde. Christoph
Ernst v. Houwald................35 I
*29. Polykarpus. I. G. v. Herder . 37 !
*30. Sonntagsfrühe. M.v.Schenken-
dorf...................................38
31. Du sollst den Feiertag heiligen.
Fliegende Blätter des rauhen Hauses 38
32. Die Sonne und die Thiere. Willa-
mow..............................39
33. Herrschaften und Dienstboten.
Dr. M. Luther....................40
*34. Saat und Ernte. M. Claudius 4o!
35. Der alte Gott lebt noch. Alte Er-
zählung ...............................41
*30. Alles ist vergänglich. Volkslied.
lAus Georg Scherer's Jung-
brunnen) .......................42
37. Aus den deutschen Alpen.........42 I
Nr. Seite
38. Der Gemsenjügcr. Nösselt . . . 54
*39. Der Älpler. Seidl.............57
*40. Berglied. Schiller............59
41. Der Hund von St. Bernhard.
Lenz...........................00
*42. Des Knaben Bcrglied. Uhland. 01
43. Herder an seine Kinder. Joh.
Gott fr. v. Herder.............01
*44 Heimweh. Sch ne hier.............02
45. Des Königs Grab. Deutsche Sagen
von den Brüdern Grimm .... 02
*40 Das Grab im Busento. A. v.
Platen...........................03
47. Nothkäppchcn. Br. G r i m m . . 03
*48. Gebet. E. Geibel.................05
49. Der Pilger. Christoph Schmid 05
*5>0. .lohanna Selms. Wolfgang
v. Goethe........................00
51. Der geheilte Kranke. Hebel. . . 07
52. Der Bote im Junius. Aus dem
Haushalt der Natur. Matth.
Claudius....................08
*53. Das Gewitter. G. Schwab. . . 09
*54. St. Martinus. Johannes Fall 09
*55. Das Riesenspielzeug. Adalbert
v. Chamisso...........................70
50. TaS Rothkehlchen. I. C. G. v.
Walther..........................71
57. Das Rothkehlchen. Krummacher 72
<58. Die gefiederten Lehrmeister. Dr.
M. Luther........................72
*59. Der Sonntag. Hey.................73
*00. Die wandelnde Glocke. W.v.G o ethe 73
61. Das Wunderkästchen. Auerbachcr 74
02. Der Frosch und die Maus. Dr.
M. Luther nach Äsop..............74
63- Der Hirtenhund. Mathesius . 75
04. Das Pferd. R. Meyer.............75
65. Zeus und das Pferd. Lessing . 77
00. Gesundheit ist ein großer Schah.
Gotth. Salziirann................77
*07. Nach oben. PH. Spitta . . . . 78
*08. Johann der Seifensieder. Fr. v.
Hagedorn.........................78
09. Die Bremer Stadtmusikanten.
Brüder Grimm.....................79
*70. Der getreue Eckart. W. v. Goethe 82
71. Die Bekehrung des Augustinus.
Lindemann........................83
*72. Hinauf. E. Bl. Arndt...........80
73. Hundert Jahre in einer L-tunde.
Ferd. Bäßler, Sagen..............80
74. Erratische Blöcke und Hünen-
gräber. Kutzen...................87