188 101. Das Erdbeben zu Lissabon im Jahr 1755. Freundlich war die Sonne aufgegangen; Tausende von Menschen waren in ihren Festkleidern nach den Kirxchen geeilt, um das Fest Aller— heiligen zu feiern, als man plötzlich nach neun Uhr ein unterirdisches Getöse wie das Rollen eines gewaltigen Donners vernahm und in ihm das drohende Vorzeichen eines Erdbebens erkannte. In demselben Augenblick flüchteten die Bewohner der Stadt aus den Kirchen und Wohnungen auf die Straßen; aber nur noch einem Teil gelang die Rettung. Von einem fürchterlichen Erdstoß wankten die Häuser; die oberen Stockwerke in ganzen Straßen stürzten ein und begruben die Bewohner unter den Trümmern; selbst die festeren Bauwerke pracht⸗ voller Kirchen brachen zusammen und wurden der Betenden Grab. 2. Nicht lange währte es, so erfolgte ein zweiter Stoß des Erdbebens und warf, was von Kirchen, Palästen und Häusern noch nicht einge⸗ stürzt war, vollends gänzlich nieder. In das Krachen der zusammen⸗ brechenden Gebäude mischte sich das Wehgeschrei des Volkes, daß es weithin gehört wurde. Noch lauter aber erscholl es, als nach wenigen Sekunden das Wasser des Flusses sich hoch wie ein Gebirge empor— bäumte und gegen die Stadt heranwälzte. „Das Meer, das Meer! Wir sind des Todes!“ riefen viele Tausende und flohen den Straßen zu, in welchen ihnen durch niederfallendes Gemäuer ein anderer Tod drohte. Wild brauste das Wasser in die Stadt. Die an dem Ufer ankernden Schiffe wurden losgexissen und mehrere derselben von dem Strudel verschlungen. Viele Menschen fanden hier ihren Tod. Ein Damm, auf dem wohl hundert Menschen standen, versank mit ihnen. Diese fürchterliche Erscheinung erneuerte sich bald darauf mit dem dritten Erdstoß auf dieselbe Weise und wiederholte sich bei jedem folgenden. 3. Jetzt zeigte sich ein neuer Feind mit gräßlicher Zerstörungswut: es entstand ein Sturm, der finstere Staubwolken in die Luft trieb und das Licht des Tages verdunkelte. Der jüngste Tag schien zu kommen. Der Sturm war der Vorbote einer Feuersbrunst, die vollends das ver— zehrte, was das Erdbeben und Wasser verschont hatte. Was nicht er— schlagen war oder mit dem Tode rang, floh jetzt aus der Stadt. Auf den Feldern umher lagerten die unglücklichen Bewohner Lissabons zu Tausenden ohne Obdach, ohne Nahrung und zum Teil ohne Kleidung, einem fast ununterbrochenen Regen ausgesetzt. Denn die benachbarten Städte und Dörfer, in welchen sie Zuflucht hätten finden können, hatten durch die Verheerungen des Erdbebens gelitten. Unsäglich war das Elend, das über die Stadt Lissabon gekommen w. Acht Tage wütete die alles verzehrende Flamme. 16 000 Ge⸗ S