96 — Meine Mutter ging also zu dem Geistlichen, Hilfe heischend, daß ich zum Studieren kommen könne. Der Herr Dechant sagte ihr aber: „Lass' die Wald— bäuerin das bleiben! Wenn der Bub' sonst keine Anzeichen für den Priester hat, als daß er schwach ist, so soll er was andres werden. Er kann ja ein Handwerk lernen.“ Nun, so ging denn meine Mutter vom Herrn Dechanten zum Schneider— meister; sie hätte einen Buben, der möcht' Schneider werden. — Was ihn auf diesen Gedanken brächte? — Weil er halt so schwächlich wäre. Da stand der Meister auf und sprach: „Ich will der Waldbäuerin nur sagen, daß der richtige Schneider ein kerngesunder Mensch sein muß. Einmal das viele Sitzen, nachher zur Feierabendzeit das weite Gehen über Berg und Tab und das ganze Zeug mitschleppen wie der Soldat seine Rüstung. Her— nach die unterschiedliche Kost: bei einem Bauern mager, beim andern seist; in einem Hause lauter Mehlspeisen, im andern wieder alles von Fleisch; heut' nichts als Erdäpfel und Grünzeug, morgen wieder alles Suppen und Brei. Ein Magen, der das aushält, muß in besonderer Gnade Gottes stehen. Und red' ich erst von den unterschiedlichen Leuten, mit denen man sich ab— geben muß! Da eine bissige; brummige Bäuerin, der kein ordentlicher Zwirn feil ist; dort ein geiziger Bauer, der mit seinen närrischen Späßen den Hand— werker erheitern und satt machen will. All die Leut' soll der Schneider mit einem Maße messen. Und, was die Hauptsache ist: Kopf muß einer haben! Was an einem krummen, buckligen Menschenkinde verdorben ist, das soll der Schneider wieder gutmachen. Der Schneider muß aber nicht allein den Körper seines Kunden, er muß auch, sozusagen, sein ganzes Wesen erfassen, um ihm ein Kleid zu geben, das paßt. Ebenso muß er den Stoff kennen, von dem er den Anzug zu verfertigen hat. Manches Tuch dehnt sich, manches kriecht zusammen; dieses hält Farbe, das andre verschießt. Wer das vorher nicht weiß, der macht ein Unding zusammen. Kurz, der Kleidermacher muß Menschen- und Weltkenner sein. Na, werd' ihn mal anschaun; soll nächster Tage zum Alpelhofer kommen, dort wird er mich finden!“ 2. So bin ich denn an einem der nächsten Tage in heller Morgenfrühe zum Alpelhofer hingegangen. Lange stand ich auf dem Antrittsstein der Haustür und dachte: „Wie wird es sein, wenn ich wieder heraustrete?“ Eine fast feierliche Stimmung lag um das Haus, das auf dem Berge zwischen Linden stand. Drinnen saß die Entscheidung meines Schicksals. Da ich in die Stube trat, saß der Meister am Tisch und nähte. Vor ihm lag das Handwerkszeug, daneben zugeschnittenes Lodentuch, an der Sitz— bank hing das Bügeleisen. Ich blieb an der Tür stehen. Es war alles still. Er zog die Nadel auf und nieder. Nur die Wanduhr und mein Herz pochte. „Was willst du denn?“ fragte mich nach einer Weile der Meister.