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81. Die Watten der Nordseeküste.
Vor dem durch mächtige Deiche geschützten fruchtbaren Marsch⸗
lande sehen wir an den Küsten der VNordsee nicht selten weit sich
ausdehnende Schlamm · und Sandlager. Es sind die sogenannten
Watten, die zur Zeit der Flut vom Meere überströmt werden. Sie
sind völlig pflanzenleer, abgesehen von wenigen und sehr spärlich
stehenden Algenarten. So öde sie aber auch auf den ersten Blick
erscheinen mögen, so herrscht doch ein reiches Tierleben über und
auf ihnen.
Kaum sinkt die Flut, so kommen gleich Schwärme von Seevögeln,
um zu sehen, welches Gewürm sich für sie auf der eben entblößten Fläche
ertappen läßt. Namentlich sind es ungeheure Scharen weißer und
schwarzköpfiger Möwen, die die Luft nah und fern mit ihrem Ge⸗
flatter und Geschrei erfüllen; dazwischen segeln die kleinen, reizenden
Seeschwalben mit ihren langen Gabelschwänzen und den fein ge⸗
schweiften Flügeln; sie stehen oft wie Schwebfliegen unbeweglich in
der Cuft, bis sie pfeilschnell auf ihre Beute herabschießen. W
ein Falke und wohl gar ein Seeadler schwebt mit ruhigem Fluge
über die Fläche, indes die hochstelzigen Strandreiter, die rotbeinigen,
elsterbunten Austernfischer und Scharen von Kiebitzen, Regenpfeifern
und kleinen, schnellfüßigen Strandläufern die Sandbänke und
Schlammflächen bevölkern. Alles sucht, hascht, schluckt und frißt
von dieser mit so vielerlei Speisen bedeckten großen Tafel. Aber
was für Herrlichkeiten sind auch darauf zu finden! Für den Falken,
für die große Seemöwe, für den Austernfischer und andere ansehn⸗
lichere Vögel schleicht dort der fette Taschenkrebs über den Sand,
und seitwärts gehende Urabben suchen eine Priele Wasserrinne) zu
erreichen, oder es zappelt der platte Butte und der silberweiße Stint,
von der Ebbe überrascht, auf dem Trockenen, und Muscheln klaffen
in Menge. Für Seeschwalben, Kiebitze und Regenpfeifer wimmelt
es in den Prielen von Garneelen, und für die ganz kleinen Strand⸗
läuferarten findet sich noch Gewürm in Unzahl, und so wiederholt
sich die große Atzung in bester Ordnung Tag für Tag zweimal,
jahraus und jahrein.
Aber auch der Mensch eilt herbei, wenn das Watt bloßliegt,
um teilzunehmen an dessen Gaben. Dort sieht man barfuß und
hochgeschürzt Männer und Frauen in den Prielen waten, kleine Netz⸗
hamen vor sich herschiebend, die sie dann und wann in umgehängte
Beutel leeren. Sie fangen die kleinen, wohlschmeckenden Krebse,