hauerleihgabe von:
deutsches Instütut für internationale padago-
güsche forschung (01Pf), frankfurt /Main
Weimarisches 2
Weimarisches Lesebuch.
Für die Oberstufe.
II. Ceil
* 20
Preis: roh 75 Pf, gebunden 1,10 Mek.
Weimar Hermann Böhlaus Vachfolger , 1912.
Ministerialbekanntmachung.
Das Weimarische Lesebuch
für die Oberstufe gelangt mit Beginn des Schuljahrs 1912/13 in den
Volksschulen des Landes in der Weise zur Einführung, daß der J. Ceil
beim Schulbeginn zu Ostern, der II., im wesentlichen geschichtliche, erd⸗
kundliche und naturgeschichtliche Stoffe enthaltende Teil alsbald nach
seinem Erscheinen im Laufe des Sommerhalbjahrs in Gebrauch zu
nehmen ist.
Die Anschaffung ist im nächsten Schuljahr nur dem ersten und
zweiten Jahrgang der Oberstufe anzusinnen; die bei Einführung des
Cesebuchs für die Mittelstufe getroffenen Anordnungen finden für die
übergangszeit sinngemäße Anwendung.
Es wird bemerkt, daß das neue Lesebuch der Oberstufe nur in
einer, für alle Volksschulen bestimmten Ausgabe erscheint, und daß
es, wie das Lesebuch der Mittelstufe, der von einer größeren Zahl von
Lehrern unterstützten gemeinsamen Arbeit der Herren Schulräte Fischer,
Hheiland, Muthesius, Reich und des Herrn Rektor Schleichert
seine Entstehung verdankt.
Weimar, den 12. Dezember 1911.
Großherzoglich Sächsisches Staatsministerium,
Departement des Kultus.
Rothe.
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1. Mein Vaterland.
Treue Liebe bis zum Grabe
schwör' ich dir mit Herz und Hand:
was ich bin und was ich habe,
dank' ich dir, mein Vaterland.
Nicht in Worten nur und Liedern
ist mein Herz zum Dank bereit;
mit der Tat will ich's erwidern
dir in Not, in Uampf und Streit.
In der Freude wie im Leide
ruf' ich's Freund und Feinden zu:
ewig sind vereint wir beide,
und mein Trost, mein Glück bist du.
Treue Liebe bis zum Grabe
schwör' ich dir mit Herz und Hand:
was ich bin und was ich habe,
dank' ich dir, mein Vaterland.
Hoffmann v. Fallersleben.
2. Das Vaterland.
Wo dir, o Mensch, Gottes Sonne zuerst schien; wo dir die
Sterne des Himmels zuerst leuchteten; wo seine Blitze dir zuerst
seine Allmacht offenbarten und seine Sturmwinde dir zuerst den
heiligen Schrecken durch die Seele brausten: da ist deine Liebe; da
ist dein Vaterlandl
Wo das erste Menschenauge sich liebend über deine Wiege neigte;
wo deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf dem Schoße trug und
dẽin Vater dir zuerst die Lehren der Weisheit ins Herz grub: da
ist deine CLiebe; da ist dein Vaterlandl
Und seien es kahle Felsen und öde Inseln, und wohne Armut
und Mühe dort mit dir, du mußt das Land ewig liebhaben;
denn du bist ein Mensch und sollst nicht vergessen, sondern behalten
in deinem Herzen.
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster
Wahn, sondern in ihr lebt dein Mut und dein Stolz und die Ge—
wißheit, daß du vom Himmel stammst.
Da ist Freiheit, wo du in den Sitten und Weisen und Gesetzen
deiner Väter leben darfst; wo dich beglückt, was schon deinen
Ureltervater beglückte; wo keine fremden Henker über dich gebieten,
und keine fremden Treiber dich treiben, wie man das Vieh mit
dem Stecken treibt.
Dies Vaterland und diese Freiheit sind ein Schatz, der eine unend⸗
liche Liebe und Treue in sich verschließt, das edelste Gut, was ein
guter Mensch auf Erden besitzt und zu besitzen begehrt.
Ernst Moritz Arndt.
3. Die Schlacht im Teutoburger Walde.
Die mächtigen Römer hatten um die Zeit der Geburt Christi
das Land zwischen dem Rhein und der Weser besetzt, betrachteten
es als ihr Eigentum und behandelten es als solches. Die römischen
Cegionen befehligte zu der Zeit Varus. Der saß unter den Ger—
manen zu Gericht, als wäre es auf dem römischen Marktplatze
gewesen, und richtete die Männer in einer Sprache, die sie nicht
verstanden, und nach Gesetzen, die sie nicht kannten, und die nicht für
sie paßten. Da ergrimmten die Männer und sahen sich nach einem
Manne um, der sie anführen könnte, und die Völkerschaften taten
sich zusammen, damit sie widerstehen könnten. Und Gott wollte
nicht, daß die Germanen Unechte werden sollten; er hatte einen
Jüngling erweckt unter ihnen, der sie erlösen sollte; dieser Jüng—
ling hieß Arminius.
Es war aber Arminius ein Fürst aus dem Volke der Cherusker,
die in dem Cande zwischen dem Harz und der Weser wohnten,
und er hatte einen hohen und kühnen Mut und verstand auch den
Krieg, wie die Römer ihn führten; denn er war als Uriegsmann
unter ihnen gewesen und Freund und Ritter genannt worden von
ihnen, und er war ein gewandter, geschickter und kluger Jüngling.
Der ergrimmte in seinem Herzen, als er sah, wie sein freies Volk
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unterdrückt ward, und wie freie Männer, die nichts fürchteten als
ihre Götter, vor römischen Sachwaltern und Beilen zittern mußten.
Und er entwich in die Orte und redete zu den Fürsten und Ültesten,
wie sie sich verbünden möchten und die Römer erschlagen und die
Schmach der Unechtschaft abtun von ihrem Lande. Da traten sie
zusammen und ratschlagten und schlossen einen Bund und gelobten
den Göttern, einander treu zu sein; denn es sei besser, einmal
ehrlich zu sterben, als lange in Schande zu leben. Und es ward
dem Varus angesagt und denen, die mit ihm waren: „Siehe, es
ist unruh:g im CLande, darum sei auf deiner Hut, auch hüte dich
vor dem Arminius und denen, die mit ihm sind;, denn sie meinen
Arges in ihrem Herzen gegen die von Rom.“ — Denn unter den
Germanen waren Verräter, die mehr hielten von den Fremden als
von den Ihrigen, und denen die Römer Gnadengelder bezahlten;
und unter diesen war ein germanischer Fürst, der hieß Segestes
und war ein Erzbösewicht gegen sein Cand bis in seinen Tod. Er
warnte Varus noch den Cag vor dem Unglück; der aber glaubte
ihm nicht, denn er dachte in seinem Herzen: „Diese werden sich
nicht rühren, die so bleich werden vor den Beilen meiner Unechte.“
Denn so ist es: Will Gott das Glück wegwenden, so verwirrt
er die Ratschläge und verblendet die Augen, daß sie nicht sehen, und
doch liegt das offene Verderben vor ihnen.
Arminius aber hatte seine Völker versammelt — denn er wußte,
daß Varus sicher war — und hatte ihnen in Wäldern und Sümpfen
ihre Stellen angewiesen, wo sie im Hinterhalt liegen sollten. Man
sagt, daß er selbst Unruhen entstehen ließ in dem Cande, das gegen
die See liegt, und daß er den Varus, der gegen die Aufrührer zog,
begleitete und den Weg belauschte und dann entwich zu den Seinen.
Varus aber zog in aller Sicherheit durch einen tiefen Bergwald, der
lag in dem Cande, wo die Ems der Cippe am nächsten fließt, und
hieß der Teutoburger Wald; und Varus lagerte in ihm. Als er
den nächsten Morgen aufbrechen wollte aus seinem Cager, daß er
weiter zoge, — siehe, da sah er alle Anhöhen mit feindlichen Scharen
besetzt und Arminius an ihrer Spitze, und war nirgends ein Aus—
weg, denn wo nicht Wald war, da war Sumpf. Und der Weg,
wo die Römer ziehen sollten, war eng, und sie drängten sich sehr;
jene aber warfen ihre Geschosse von oben herab auf die dichten
Reihen und trafen leicht; diese hingegen konnten ihnen, die da hinter
Bäumen und Steinen standen, wenig schaden; auch konnten die
Römer nicht hinaufklimmen, denn es war steil und schlüpfrig und
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regnete. Der Abend kam, und es ward Nacht, und sie schlugen
ihr Cager auf, und es war eine düstere und grauenvolle Nacht.
Varus aber, damit er leichter ziehen möchte, ließ viele Wagen und
Karren und Gepäck verbrennen und nahm die Troßbuben und
Weiber und Kinder in die Mitte; denn es waren ihrer viele mit,
die waren nicht ausgezogen wie zum Uriege. Den zweiten Tag,
als es licht ward, kamen sie zuerst auf ein kleines, offenes Feld;
dann mußten sie wieder durch Wald ziehen, und der Regen fiel
dicht vom himmel herab, und es wehte ein gewaltiger Wind, so
daß sie ihre Waffen nicht gebrauchen und in ihrer schweren Rüstung
auf dem schlüpfrigen Wege oft weder vor⸗ noch rückwärts gehen
konnten. — Und die Germanen freuten sich und riefen: „Siehe, das
tut unser Gott, der uns heute rächen will an unsern Feinden!“ Sie
zogen aber den Römern immer zur Seite im Walde, und waren
ihrer noch mehr denn gestern; denn auf die Nachricht, Varus sei
umzingelt, liefen immer neue Scharen herbei, daß sie an dem Siege
und an der Beute teilhätten. Und als sie sahen, daß die Römer
fast ermatteten, setzten sie tapfer an und trafen auf sie und durch-
brachen ihre Reihen, und wurden alle Römer erschlagen bis auf
wenige. Varus aber stürzte sich in sein eigenes Schwert. — Diese
Schlacht geschah im Jahre 9 nach Christus.
Nach Ernst Moritz Arndt.
4. Attilas Totenfeier.
Der erste Tag des Götterfestes war verronnen, nun rüsteten die
hunnen ihrem großen Herrscher Attila die Leichenfeier.
Vorerst schoren sich Männer und Weiber Bart und Haupt—
haar auf der ganzen rechten Seite des Gesichtes und des Kopfes
völlig kahl ab.
Dann schnitten sich die Männer mit ihren Dolchen Wunden in
beide Wangen, so tief, daß man einen Finger darein legen mochte;
denn nicht in weibischen Klagen und Tränen, in Männerblut sollte
der gewaltige Fürst betrauert werden.
Alsdann ward auf dem großen freien Platz mitten in dem
CLager, in dem sogenannten „Ring“, der zur Versammlung und
Musterung der Urieger, dann aber auch als Tummelplatz und
Rennbahn für Reiter und Rosse diente — deshalb war er von sehr
weiter Ausdehnung — eine der größten Kostbarkeiten aufgestellt des
ganzen hunnischen Königshortes.
Das war ein gewaltig hohes und geräumiges Zelt von eitel
Seide, feinster dunkelpurpurroter Seide; aus China war es als
Geschenk des Uaisers nach Tibet, von da nach Persien gelangt;
dort hatte ein römischer Feldherr das Kleinod erbeutet und nach
der Hauptstadt gebracht; Attila aber erfuhr durch seine Gesandten
von dieser purpurnen Herrlichkeit und machte bei einem seiner Er⸗
pressungsverträge die Auslieferung des Prunkstücks zur Bedingung,
welche der jämmerliche Imperator nicht abschlagen konnte.
Dies Zelt, in dem Attila nur selten, bei Entfaltung höchster
Pracht, fremde Könige empfangen hatte, ward jetzt auf seinen
gediegen goldnen Stangen aufgerichtet: ein goldner Drache mit
beweglichen Flügeln, der im Winde auf und nieder zu schlagen
schien, mit züngelnder Zunge und mit ringelndem Schweif, prangte
oben auf dem Knauf der Hauptstange.
In dieses Felt, das von unten bis oben mit erbeuteten kostbaren
Waffen und Pferdegeschirr, funkelnd von Perlen und Edelsteinen,
angefüllt ward, trugen sie den Toten in einem goldnen Sarge:
diefer ward in einen silbernen, der silberne in einen eisernen gestellt.
Nachdem diese Füllung und Ausschmückung des Zeltes vollendet
war, versammelten Dsengisitz, Chelchal und die andern Vornehmen
alle Hunnen im Lager, die über ein Roß verfügten — es waren
aber viele, viele Tausende, — ordneten sie in Geschwader, und nun
ritten sie dreimal im Schritt, dreimal im Trabe, dreimal im Drei⸗
sprung, dreimal in vollstem Jagen um das von dem Fußvolk dicht
umdrangte Zelt, indem sie in eintöniger Weise das von Attilas
hunnischem Lieblingssänger, dem reich beschenkten, gedichtete Toten⸗
lied dazu sangen oder heulten, gar oft von Schluchzen unterbrochen. —
Unterdessen waren die gefangenen Germanen, die vielen Tau⸗
sende, welche hier länger oder kürzer geweilt hatten als Geiseln,
als Gefangene, als Bittsteller, als Kläger oder als Beklagte, aber
auch als ständige Besatzung und Bewohner der Hauptstadt, von
Ardarich, dem König der Gepiden, aus dem Cager geführt worden.
Auf seinem mächtigen Schlachtrosse sitzend, hielt er draußen vor
dem Tore und warf einen letzten Blick auf das Hunnenlager zurück:
„Schaut,“ rief er, „was flammt dort plötzlich für eine Röte auf?“
„Ja,“ fiel Daghar ein, „und darüber hin schwebt schwarzer
Qualm. Wie eine ungeheuere Trauerfahnel“
„Horch,“ sagte Gerewalt, „welch Geheull welch Geschreil“
Einer der befreiten Germanen hatte bei dem ersten Ausruf
Ardarichs einen hochragenden Pappelbaum neben dem Tor erklettert:
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„O Herr,“ rief er jetzt herab, „welch Schauspiell“
„Was ist's?“
„Das Zelt! Das TCotenzelt! Das ganze Grabmal mit allen
Schätzen! Sie haben's angezündetl Es steht in hellen Flammen.
Und o — schrecklichl“
„Was siehst du?“
„Sie werfen Menschen lebendig in die Lohel Ich seh' es deutlich.
Ich erkenne siel Es sind die Sklaven, welche das Zelt errichtet,
das Gerüst gezimmert haben.“
„Ich verstehe,“ sprach der Uönig, „sie ahnen es, daß sie bald
all dies Land räumen müssen: die stolze Königsstadt, sie wird
schutzlos daliegen und leer. Dann soll niemand mehr wissen, wo
Attila begraben liegt, niemand nach seinen Schätzen wühlend seine
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Asche stören. Felin Dahn.
5. Das Grab im Busento.
Näãchtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder;
aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder!
Und den Fluß hinauf, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten,
die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten.
Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,
während noch die Jugendlocken seine Schultern blond umgaben.
Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette,
um die Strömung ahzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.
In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
senkten tief hinein den Leichnam, mit der Rüstung auf dem Pferde;
deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.
Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen:
Mãchtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.
Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren!
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab versehrenl“
Sangen's, und die Cobgesänge tönten fort im Gotenheere;
wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meerel
August von Platen.
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6. Altdeutsches Festmahl.
Im Hofe des Fürsten wurde den CLandgenossen das Fest gerüstet.
Die Hausfrau schritt mit den Mägden durch die Räume, wo die
Vorräte der Küche bewahrt wurden, in langer Reihe hingen dort
die Schinken, runde Würste und im Rauch gedörrte Zungen der
Rinder; sie freute sich des guten Vorrats, ließ abheben für die
Küche und befahl den Mägden, in die besten Stücke ein Feichen
zu ritzen, damit der Vorschneider diese den Tischen der Ältesten auf⸗
setze. Dann ging sie in den kühlen Keller, der von Stein gewölbt
in einer Ecke lag, wo das Sonnenlicht wenig hinkam, hochbedeckt
mit Erde und Rasen. Dort wählte sie die Fässer mit starkem Bier
und die KUrüge mit Met und sah zweifelhaft auf einige große fremd⸗
artige Tongefäße, die halb im Boden vergraben in einer Ecke
standen. „Ich meine nicht, daß mein Herr des Weines begehren
wird, doch wenn er danach ruft, so sagt dem Schenken, daß sie das
kleine nehmen; denn die anderen stehen und harren auf einen größeren
Festtag. Und sehet selbst zu, daß die ungeschickten Gesellen mir
den teuren Ton nicht zerschlagen; denn was mühsam im Stroh
durch Rosse und Männer hergeführt wurde aus dem welschen Land,
dem könnte die lange Reise durch das Ungeschick der metgefüllten
Unaben wohl verdorben werden.“ Ernsthaft blickte sie noch einmal
durch den großen Raum: „Es ist Vorrat genug für eines Häupt—
lings Haus, und manches liebe Jahr mag der Met das Herz der
Mãänner erfreuen; mögen die Götter uns schaffen, daß unsere Helden
alles fröhlich und in Ehren leeren. Und höre, Frida, man weiß
ja wohl, was die Männer zumal gebrauchen, aber beim Trunk
trügt der Anschlag, auch wenn er reichlich war. CLaß noch drei
Krüge von altem Met in Vorrat herausheben, und sage dem
Schenken, wenn die Männer friedlich sind und in ehrlichem Gespräch,
so wird ihnen am Ende noch dies geboten, wenn sie aber wider
einander eifern und zwieträchtig hadern, so soll er vorsichtig sein
mit dem Gießen, daß uns kein großes Unheil entstehe.“
Die Herrin schritt zu dem Uüchenhause; darin brannten mächtige
Feuer auf steinernen Platten. Die Jünglinge waren vor dem Hause
beschäftigt, die Opfertiere zu zerlegen, dazu große Hirsche und
drei Eber des Waldes, und das Fleisch an lange Spieße zu stecken.
Die Mägde aber saßen in langer Reihe, vieles Geflügel rupfend,
oder sie rundeten mit den Händen gewürzten Weizenteig zu ansehn⸗
lichen Bällen. Und Knaben des Dorfes warteten mit lachendem
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Antlitz auf die Zeit, wo sie die Spieße drehen würden, damit auch
ihnen vom Fest der Helden ein wohlschmeckender Anteil werde.
Unterdes schafften die Mannen des Häuptlings um die große
Halle. In der Mitte des Hofes stand der mächtige Bau, aus
dicken Fichtenbalken gefügt, eine Treppe führte zu dem geöffneten
Tor; im Innern trugen zwei Reihen hoher Holzsäulen die Balken
des Daches, von den Säulen bis zu den Wänden liefen auf drei
Seiten erhöhte Bühnen; in der Mitte, gegenüber der Tür, stand
darauf der Ehrensitz des Wirtes und der vornehmsten Gäste, daneben
ein schön geschmückter Raum, einer Laube gleich, für die Frauen
des Hauses, damit sie dem Festmahl der Männer zuschauen konnten,
solange sie begehrten. Und die jüngsten der Mannen schmückten
die Holzlaube mit blühenden Zweigen, die sie in der Flur abgehauen.
Der Fürst stand vor dem Herrenhause und empfing dort die
Edeln und die freien Bauern, die auf allen Wegen zu Fuß und
Roß heranzogen und am geöffneten Tor von Hildebrand, dem
Sprecher, begrüßt wurden. Wer zu Roß nahte, der stieg dort ab,
und die Jungen führten sein Pferd in ein weites Gehege und
banden es fest, damit die Unechte ihm den Schaum mit Stroh
abrieben und alten Hafer in die Urippe schütteten. Würdig war
Gruß und Anrede, in weitem Ringe standen die Gäste auf dem
Hofe, eine stolze Genossenschaft, ansehnliche Männer aus zwanzig
Dörfern der Gegend, alle in ihrem Kriegsschmuck, den Eschenspeer
in der Hand, Schwert und Dolch an der Seite, in schöner Leder—
kappe, die mit Zähnen und Ohren des wilden Ebers geschmückt
war. Mancher ragte unter dem Eisenhut, in einem Lederkoller
oder Kettenpanzer über dem weißen Hemd und in hohen Leder—
strümpfen, die bis zum Leibe reichten; mancher auch, der reich war
und die Ware der rheinischen Krämer beachtete, trug einen Über⸗
wurf von fremdem Zeug, das feine Hhaare von bunter Farbe
hatte und wie das zarte Fell eines Raubtiers glänzte. Schweigend
standen die Männer und freuten sich der Versammlung; nur einige,
die zueinander traten, tauschten leise Worte über die Gerüchte,
welche durch das Cand flogen von der großen Schlacht im Westen
und von bedrohlicher Zeit. Aber wer die Meinung der Menschen
kannte wie Hildebrand, der Sprecher, der merkte wohl, daß ihr
Sinn kraus war und ihre Gedanken ungleich. Cange währte die
Begrüßung; denn immer noch kamen einzelne, die sich verspätet
hatten, bhis der Sprecher an den Häuptling trat und auf den Stand
der Sonne wies.
Da lud der Sprecher die Gesellschaft zum Mahle. In fröhlicher
Erwartung folgten die Männer dem Rufe und schritten die Stufen
der Halle hinauf. Der Sprecher und der Truchseß traten ihnen vor
und ordneten an den Tafeln der Halle jeden nach Rang und Gebühr.
Dies war eine sorgliche Arbeit, denn jeder begehrte den Platz, der
ihm geziemte: entweder am Tisch des Häuptlings oder nahe bei
ihm, lieber auf der rechten Seite als auf der linken. Es war eine
lange Reihe von Cischen, die Sitze daran für die Vornehmsten mit
einer Armstütze und für die Ansehnlichen immer noch mit hoher
Cehne, für die Jüngeren ein schöner Schemel. Schwer war's, allen
mit dem Ehrensitz Genüge zu tun, aber der Sprecher verstand
sein Amt und wußte manchem seinen Platz zu loben wegen der
Nachbarn und der Nähe der Frauen und wegen gutem UÜberblick
über den Saal. Zunächst der Tür lagerten die Bankgenossen des
hausherrn in langer Reihe. Da alle erwartend saßen, trat der
Schenk mit den Dienern ein und trug in schönen Holzbechern den
Begrüßungstrank; der Wirt erhob sich, trank den Gästen gutes
Heil zu, und alle standen auf und leerten die Becher. Darauf kam
der Truchseß mit seinem Stabe und hinter ihm eine lange Reihe
Diener, welche die erste Tracht auf die Tische setzten; da ergriff
jeder sein Messer, das er an der Seite trug, und begann rüstig
das Mahl. Gustav Freytag.
7. Die Gründung des Klosters Fulda.
In einem Briefe an den Papst Zacharias schreibt Bonifatius:
Es liegt ein waldiger Ort in einer sich weit ausdehnen-
den wüsten Einôõde, in der Mitte der Völker, denen wir
predigen. An diesem Orte haben wir ein Kloster errichtet
und Mönche dorthin gesetzt, die nach der Regel des heiligen
Vaters Benedikt leben, Männer von strengster Enthaltsamkeit,
die nicht Fleisch, auch nicht Wein, noch sonstige berauschende
Getrãnke genießen, die, nicht von Knechten unterstũutzt, durch
ihrer genen Hànde Arbeit Genũge finden. Diesen Ort habe
ich von frommen und gottesfürchtigen Männern, zum größten
Teil von dem verewigten Fürsten der Franken, Karlmann,
dureh meine gerechten Bemüũhungen empfangen und ihn dem
heiligen Erlõöser geweiht. An diesem Orte beabsichtige ich,
mit Erlaubnis Eurer Frömmigkeit, bisweilen kurze Zeit und
nur wenige Tage meinen durch das Alter ermüdeten Körper
auszuruhen, und dort wüunsche ich nach dem Tode zu liegen.
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Denn vier Völker, denen ich durch die Gnade Gottes das
Wort Christi verkündet, wohnen, wie bekannt, im Umkreise
dieses Ortes. Ihnen kann ich, solange ich lebe und des
Geistes Kraft besitze, unter Eurem Beistande nũützen. Es ist
nämlich mein Wunsch, durch Eure von der Gnade Gottes
begleiteten Furbitten in treuer Verbindung mit dem rõmischen
Stuhle und in Eurem Diensste unter den Völkern Germaniens,
zu denen ich gesandt bin, zu bleiben, gehorsam Eurem
Befehl.
8. Heerbann Karls des Großen.
Wir gebieten Dir, Dich am 17. Juni 802 in Staßfurt an
der Bode als dem festgesetzten Sammelpunkte punktlich ein-
zufinden. Du sollst aber mit Deinen Leuten so vorbereitet
dahin kommen, daß Du von da, wohin immer der Befehl
ergeht, schlagfertig ziehen kannst, nämlich mit Waffen und
Gerãt und anderen Kriegserfordernissen an Lebensmitteln und
Kleidern, daß jeder Reiter Schild und Lanze, ein zweihän-
diges und ein kurzes Schwert, Bogen und Köcher mit Pfeilen
habe. Dann, daß Ihr habet auf Euren Wagen: Hacken, Keile,
Mauerbohrer, äxte, Grabscheite, eiserne Schaufeln, und was
sonst im Kriege nötig ist. Die Wagenvorräte mussen vom
Sammelplatze an auf drei Monate reichen, VWaffen und Kleider
auf ein halbes Jahr. Insbesondere aber gebieten wir Euch,
wohl darauf zu achten, daß Ihr in guter Ordnung zu dem
angegebenen Orte ziehet, durch welchen Teil unseres Reiches
Euch der nächste Weg führt, nämlich, daß Ihr Euch nicht
unterstehet, irgend etwas zu nehmen, außer Futter für das
Vieh und Holz und Wasser. Die Leute eines jeden von
Euch sollen bis zur Ankunft am Sammelplatze immer neben
den Vagen und Reitern gehen, damit die Abwesenheit des
Herrn nicht Gelegenheit zu Ubertretungen gebe. Was Du
sonst an unsern Hof zu liefern hast, das sende uns in Mitte
Mai dahin, wo wir uns aufhalten, venn nicht etwa Dein Zug
gerade dahin trifft, daß Du uns dasselbe persöõnlich ubergeben
kannst. Dies wünschen wir sehr. Laß Dir keine Nachlässig-
keit zuschulden kommen, so lieb Dir unsere Gnade ist.
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9. Heinrich der Vogler.
Herr Heinrich sitzt am Vogelherd
recht froh und wohlgemut;
aus tausend Perlen blinkt und blitzt
der Morgenröte Glut.
In Wies' und Feld und Wald und Au,
horch, welch ein süßer Schalll
Der Lerche Sang, der Wachtel Schlag,
die süße Nachtigalll
Herr heinrich schaut so fröhlich drein:
„Wie schön ist heut die Welt!
Was gilt's? Heut gibt's 'nen guten Fangl“
Er lugt zum Himmelszelt.
Er lauscht und streicht sich von der Stirn
das blondgelockte Haar:
„Ei dochl Was sprengt denn dort herauf
für eine Reiterschar?“
Der Staub wallt auf, der Hufschlag dröhnt,
es naht der Waffen Klang.
„Daß Gott! Die Herrn verderben mir
den ganzen Vogelfangl“
„Ei nunl Was gibt's?“ — Es hält der Troß
vorm Herzog plötzlich an;
herr Heinrich tritt hervor und spricht:
„Wen sucht Ihr da? Sagt anl“
Da schwenken sie die Fähnlein bunt
und jauchzen: „Unsern Herrnl
Hhoch lebe Kaiser Heinrich!l Hoch
des Sachsenlandes Sternl“
Dies rufend, knien sie vor ihn hin
und huldigen ihm still
und rufen, als er staunend fragt:
„'s ist Deutschen Reiches Will'!“
Da blickt Herr Heinrich tiefbewegt
hinauf zum Himmelszelt:
„Du gabst mir einen guten Fangl
z2 *st⸗
herr Gott, wie dir's gefällt! vvppo
10. Otto der Große und Hhermann Billung.
Es war um das Jahr 940 nach Chr. G., da hütete nicht weit
von hermannsburg in der Lüneburger Heide ein dreizehn- bis vier⸗
zehnjähriger Unabe die Rinderherde seines Vaters. Da kommt ein
prächtiger Zug von gewappneten Rittern dahergezogen, stolz zu
Roß. Der Knabe sieht mit Cust die blinkenden Helme und Har—
nische, die glänzenden Speere und die hohen Reitersleute an und
denkt wohl in seinem Herzen: das sieht noch nach etwas aus!
Aber plötzlich biegen die Reiter von der sich krümmenden Straße
ab und kommen querfeldein auf die Stelle zugeritten, wo er das
Vieh hütet. Das ist ihm zu arg, denn das Feld ist keine Straße,
und es gehört doch seinem Vater. Er besinnt sich kurz, geht den
Rittern entgegen, stellt sich ihnen in den Weg und ruft ihnen zu:
„Kehrt uml die Straße ist Euer, das Feld ist mein!“ Ein hoher
Mann, auf dessen Stirn ein majestätischer Ernst thront, reitet an
der Spitze des Zuges und sieht ganz verwundert den Knaben an,
der es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Er hält sein Roß
an und hat seine Freude an dem mutigen Jungen, der so kühn
und furchtlos seinen Blick erwidert und nicht vom Platze weicht.
„Wer bist du, Unabe?“ — „Ich bin Hermann Billungs ältester
Sohn und heiße auch Hermann, und dies ist meines Vaters Feld;
Ihr dürft nicht hinüberreiten!“ — „Ich will's aber, Unabe“,
erwiderte der Ritter mit drohendem Ernst; „weiche, oder ich stoße
dich nieder!“ Dabei erhebt er den Speer. Der Unabe aber bleibt
furchtlos stehen, sieht mit blitzendem Auge zu dem Ritter hinauf
und spricht: „Recht muß Recht bleiben, und Ihr dürft nicht über
das Feld reiten, Ihr reitet denn über mich wegl“ — „Was weißt
du vom Rechte, Unabe?“ — „Mein Vater ist der Billung, und ich
werde es nach ihm“, antwortete der Unabe; „vor einem Billung
darf niemand das Recht verletzen!“ — Da ruft der Reiter noch
drohender: „Ist denn das recht, Knabe, deinem Könige den Ge—
horsam zu versagen? Ich bin Otto, dein Königl“ — „Ihr seid
Otto, unser König, Deutschlands Hort und der Sachsen Fierde, von
dem mein Vater uns so viel erzählt? Otto, Heinrichs des Sachsen
Sohn? Nein, Ihr seid es nichtl Der König schützt das Recht,
und Ihr brecht das Recht! Das tut Otto nicht, sagt mein Vaterl“
— „Führe mich zu deinem Vater, braver Unabe!“ antwortet der
König, und eine ungewöhnliche Milde und Freundlichkeit erglänzt
auf seinem ernsten Angesicht. — „Dort ist meines Vaters Hof, Ihr
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könnt ihn sehen,“ sagt Hermann; „aber die Rinder hier hat mein
Vater mir anvertraut; ich darf sie nicht verlassen, kann Euch also
nicht führen. Seid Ihr aber Otto, der König, so lenkt ab vom
Felde auf die Straße; denn der König schützt das Rechtl“
Und der König Otto, der Große genannt, gehorcht der Stimme
des Unaben — denn der Knabe hat recht — und reitet zurück auf
die Straße. Bald aber wird Hermann vom Felde heimgeholt; der
König ist bei seinem Vater eingekehrt und hat zu ihm gesagt:
„Billung, gib mir deinen ältesten Sohn mit! Ich will ihn bei
hofe erziehen lassen; er wird ein treuer Mann werden, und ich
brauche treue Männer.“ Und welcher treue Sachse konnte einem
önige wie Otto etwas abschlagen?
So sollte denn der mutige Unabe mit seinem Könige ziehen,
und als Otto ihn fragte: „Hermann, willst du mit mir ziehen?“
da antwortete der Unabe freudig: „Ich will mit dir ziehen; du
bist der Uönig, denn du schützest das Rechtl!“ Cudwig Harms.
11. Die Herzogin von Schwaben zu Besuch im
Kloster St. Gallen.
Es ist ein schönes Stück deutscher Erde, was dort zwischen
Schwarzwald und schwäbischem Meer sich auftut. Wer's mit einem
Gleichnis nicht allzu genau nimmt, mag sich der Worte des Dichters
erinnern:
Das CLand der Alemannen mit seiner Berge Schnee,
mit seinem blauen Auge, dem klaren Bodensee,
mit seinen gelben Haaren, dem ührenschmuck der Auen:
recht wie ein deutsches Antlitz ist solches Cand zu schauen.
Düster ragte die Uuppe des hohen Twiel mit ihren Klingstein—
zacken in die Lüfte. Als Denkstein stürmischer Vorgeschichte unserer
alten Mutter Erde stehen jene schroffen malerischen Bergkegel in
der Niederung, die einst gleich dem jetzigen Becken des Sees von
wogender Flut überströmt war.
Zur Zeit, da unsere Geschichte anhebt, trug der hohe Twiel
schon Turm und Mauern, eine feste Burg. Dort hatte Herr
Burkhard gehaust, der Herzog in Schwaben. Er war ein fester
Degen gewesen und hatte manchen Kriegszug getan; die Feinde des
Kaisers waren auch die seinen, und dabei gab es immer Arbeit:
wenn's in Welschland ruhig war, fingen oben die Normänner an,
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und wenn die geworfen waren, kam etwann der Ungar geritten,
oder es war einmal ein Bischof übermütig oder ein Graf wider—
spenstig, — so war Herr Burkhard zeitlebens mehr im Sattel als
im LCehnstuhl gesessen.
Als Herr Burkhard zu seinen Vätern versammelt ward, hinter⸗
ließ er als Ehegemahl die junge Frau Hadwig, eine Tochter des
herzogs von Bayern. Diese saß nun allein auf der Burg Hohen⸗
twiel; es waren ihr die Erbgüter des Hauses und mannigfalt
Befugnis, im Land zu schalten und zu walten, verblieben, sowie
die Schutzvogtei über das Hochstift Konstanz und die Klöster um
den See, und hatte ihr der Kaiser gebrieft und gesiegelt zugesagt,
daß sie als Reichsverweserin in Schwaben gebieten solle, solange der
Witwenstuhl unverrückt bleibe.
Eines Tages, als die Frau Herzogin CLangeweile empfand,
beschloß sie, den Mönchen in dem weithin berühmten Benediktiner—
kloster St. Gallen einen Besuch in ihrer Eigenschaft als Schirmvogt
abzustatten, und schon des andern Tages fuhr sie mit ihrer Dienerin
Praxedis, ihrem Kämmerer Spazzo und großer Gefolgschaft im
lichten Schein des Frühmorgens über den Bodensee.
Es war Mittagszeit vorüber, schweigende Ruhe lag über dem
Tal. Des heiligen Benedikt Regel ordnet für diese Stunde, daß
ein jeder sich still auf dem Cager halte. Nur der Wächter auf dem
Torturm stand, wie immer, treulich und aufrecht im mückendurch—
summten Stüblein.
Der Wächter hieß Romeias und hielt gute Wacht. Da hörte
er durch den nahen Cannwald ein Roßgetrabe; er spitzte sein
Ohr nach der Richtung. „Acht oder zehn Berittene!“ sprach er
nach prüfendem Causchen; er ließ das Fallgatter vom Tor hernieder—
rasseln, zog das Brücklein, was über den Wassergraben führte, auf,
langte sein Horn vom VNagel und blies dreimal hinein.
Da füllten sich die Fenster im Saal der UKlosterschule mit neu—
gierigen jungen Gesichtern, manch lieblicher Traum in einsamer
Zelle entschwebte, ohne seinen Schluß zu finden, manch tiefsinnige
Betrachtung halbwachender Denker desgleichen.
Der Abt Cralo sprang aus seinem Lehnstuhl und reckte seine
Arme der Decke des Gemaches entgegen, ein schlaftrunkener Mann;
auf schwerem Steintisch stund ein prachtvoll silbern Wasserbecken,
darein tauchte er den Zeigefinger und netzte die Augen, des Schlummers
Rest zu vertreiben. Dann hinkte er zum offenen Söller seines Erkers
und schaute hinab.
Und er war betrüblich überrascht, als wär' ihm eine Walnuß
aufs Haupt gefallen: „Heiliger Benedikt, sei mir gnädig, meine
Base, die Herzogin!“
Sofort schürzte er seine Kutte, strich den schmalen Büschel Haare
zurecht, der ihm inmitten des kahlen Scheitels noch stattlich empor⸗
wuchs, gleich einer Fichte im öden Sandfeld, hing das güldene
Kettlein mit dem Klostersigill um, nahm seinen Abtsstab von Apfel⸗
baumholz, dran der reichverzierte Elfenbeingriff erglänzte, und stieg
in den Hof hernieder.
„Wird's bald?“ rief einer der Berittenen draußen. Da gebot
er dem Wächter, daß er die Angekommenen nach ihrem Begehr
frage. Romeias tat's. Jetzt ward draußen ins Horn gestoßen,
der Kämmerer Spazzo ritt als Herold ans Tor und rief mit tiefer
Stimme: „Die Herzogin und Verweserin des Reiches in Schwaben⸗
land entbeut dem heiligen Gallus ihren Gruß. Schaffet Einlaßl“
Der Abt seufzte leise auf. Er stieg auf Romeias Warte; an
seinen Stab gelehnt gab er denen vor dem Tore den Segen und
sprach: „Im Namen des heiligen Gallus dankt der Unwürdigste
seiner Jünger für den erlauchten Gruß. Aber sein Kloster ist keine
Arche, darin jegliche Gattung von Cebendigem, Reines und Unreines,
Männlein und Weiblein, Eingang findet. Darum ist Einlaßschaffen
ein unmöglich Ding. Kanonische Satzung sperrt das Tor.“
Frau Hadwig saß schon lange ungeduldig im Sattel; jetzt schlug
sie mit der Reitgerte ihren weißen Zelter, daß er sich mäßig
bäumte und rief lachenden Mundes: „Spart die Umschweife, Vetter
Cralo, ich will das Kloster sehen!“
Wehmütig hob der Abt an: „Wehe dem, durch welchen Argernis
in die Welt kommt! Ihm wäre heilsamer, daß an seinen Hals
ein Mühlstein ..“ Aber seine Warnung kam nicht zu Ende.
Frau Hadwig änderte den Ton ihrer Stimme: „Herr Abt, die
herzogin von Schwaben muß das Kloster sehen!“ sprach sie scharf.
Da ward es dem Schwergeprüften klar, daß weiterer Widerspruch
kaum möglich ohne große Gefahr für des Gotteshauses Zukunft.
Noch sträubn sich sein Gewissen. Darum rief Herr Cralo jetzt
hinunter: „Da Ihr hartnäckig darauf besteht, muß ich's der Rats⸗
versammlung der Brüder vortragen. Bis dahin geduldet Euchl“
Er schritt zurück über den Hof; sein hinkender Gang war eilig
und aufgeregt, und es ist nicht zu verwundern, daß berichtet wird,
er sei in selber Zeit in dem Klostergange auf- und abgeflattert wie
ein Schwälblein vor dem Gewitter.
Weimar. Cesebuch U.ꝛ)·. 2 a
Main
2
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Fünfmal erklang jetzt das Glöcklein von des heiligen Othmar
Kapelle neben der Hauptkirche und rief die Brüder zum Kapitel—
saal. Und der einsame Ureuzgang belebte sich mit einherwandelnden
Gestalten; gegenüber vom sechseckigen Ausbau, wo unter säulen—
getragenen Rundbogen der Springquell anmutig in die metallene
Schale niederplätscherte, war der Ort der Versammlung, eine einfache
graue Halle; auf erhöhtem Fiegelsteinboden hob sich des Abtes
Marmorstuhl, dran zwei rohe Löwenköpfe ausgehauen, Stufen
führten hinauf.
In scharfem Gegensatze der Farbe hoben sich die weißen Kutten
und dunkelfarbigen Oberkleider vom Steingrau der Wände; lautlos
traten die Berufenen ein, flüchtig Nicken des Hauptes war der gegen—
seitige Gruß. Es waren erprobte Männer.
Die Beratung war stürmisch, sie sprachen hin und her. Da
hob sich unter den Jüngeren einer und erbat das Wort.
„Sprechet, Bruder Ekkehardl“ rief der Abt.
Und das wogende Gemurmel verstummte; alle hörten den Ekke⸗
hard gern. Er war jung an Jahren, von schöner Gestalt und fesselte
jeden, der ihn schaute, durch sittige Anmut, dabei weise und beredt,
von klugverständigem Rat und ein scharfer Gelehrter. An der
Klosterschule lehrte er den Virgilius, und wiewohl in der Ordens—
regel geschrieben stund: „Zum Pörtner soll ein weiser Greis gewählt
werden, damit die Ankommenden mit gutem Bescheid empfangen
seien“, so waren doch die Brüder eins, daß er die erforderlichen
Eigenschaften besitze, und hatten ihm das Pörtneramt übertragen.
Er erhob seine Stimme und sprach: „Die Herzogin in Schwaben
ist des Klosters Schirmvogt und gilt in solcher Eigenschaft als wie
ein Mann. Und wenn in unserer Satzung streng geboten ist, daß
kein Weib den Fuß über des Klosters Schwelle setze: man kann
sie ja darüber tragen.“
Da heiterten sich die Stirnen der Alten, als wäre jedem ein
Stein vom Herzen gefallen, beifällig nickten die Uapuzen, und der
Abt sprach: „Fürwahr, oftmals offenbart der Herr einem Jüngeren
das Dienstlichste. Bruder Ekkehard, Ihr seid sanft wie die Taube,
aber klug wie eine Schlange, so sollt Ihr des eigenen Rats Voll—
strecker sein.“
Der Abt pflog noch eine lange flüsternde Verhandlung mit Gerold,
dem Schaffner, wegen des Vesperimbisses; dann stieg er von seinem
Steinsitz und zog mit der Brüder Schar den Gästen entgegen. Die
waren draußen schon dreimal um des Klosters Umfriedung herum—
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geritten und hatten sich mit Glimpf und Scherz des Wartens Un—
geduld vertrieben. In einer eintönigen Tonweise kamen die schweren
Klänge des Cobliedes auf den heiligen Benediktus aus dem Kloster⸗
hofe zu den Wartenden gezogen, das schwere Tor knarrte auf, heraus
schritt der Abt, paarweise langsamen Ganges der Zug der Brüder,
die beiden Reihen erwiderten sich die Strophen des Hymnus. Dann
gab der Abt ein Zeichen, daß der Gesang verstumme, und eröffnete
die Bedingung, die auf den Eintritt gesetzt.
Da sprach Frau Hadwig lächelnd: „Solang ich den Zepter
führe in Schwabenland, ist mir ein solcher Vorschlag nicht gemacht
worden. Aber Eures Ordens Vorschrift soll von uns kein Leides
geschehen. Welchem der Brüder habt Ihr's zugewiesen, die CLandes-
herrin über die Schwelle zu tragen?“ Da sprach der Abt: „Das
ist des Pörtners Amt, dort steht er.“ Anmutig sprang sie aus dem
Bügel, trat auf den Pörtner zu und sprach: „So tut, was Eures
Amtesl⸗
Ekkehard umfaßte mit starkem Arm die Herzogin, und fröhlich
schritt er unter seiner Bürde über die Schwelle, die kein Frauenfuß
berühren durfte, der Abt ihm zur Seite, Kämmerer und Dienst—
mannen folgten, hoch schwangen die dienenden Unaben ihre Weih—
rauchfässer, und die Mönche wandelten in gedoppelter Reihe, wie
sie gekommen, hinterdrein, die letzten Strophen ihres Cobliedes
singend.
Als Ekkehard im kühlen Klostergang seine Bürde mit schüch—
ternem Anstand abgesetzt hatte, brachten zwei der Brüder eine
Truhe herbei. Drein griff jetzt der Abt, zog eine funkelneue Kutte
herfür und sprach: „So ernenne ich denn unseres Klosters erlauchten
Schirmvogt zum Mitglied und zugeschriebenen Bruder und schmück'
ihn dessen zum Zeugnis mit des Ordens Gewandung.“ Frau Had⸗
wig fügte sich. Sie warf das ungewohnte Kleidungsstück um, es
stand ihr gut, faltig war's und weit, wie die Regel besagt. Bald
prangten auch die Gefolgsmänner im Schmuck des Ordenskleides.
Darauf geleitete der Abt seine Gäste zuerst zur Kirche. Als Frau
Hadwig am Grabe des heiligen Gallus ihre Andacht verrichtet
hatte, gedachte der Abt, ihr einen Gang im schattigen Klostergarten
vorzuschlagen, aber sie bat, ihr zuvörderst den Nirchenschatz zu zeigen.
Er ließ die gebräunten Schränke öffnen; da war viel zu bewundern
an purpurnen Meßgewändern, an Priesterkleidern mit Stickerei und
gewirkten Darstellungen aus heiliger Geschichte. Hernach wurden
die Truhen aufgeschlossen, da glänzte es vom Schein edler Metalle,
*
2*
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silberne Ampeln gleißten herfür und Kronen, Streifen getriebenen
Goldes zur Einfassung der Evangelienbücher und der Altarverzie—
rung; Mönche des Klosters hatten sie, ums Knie gebunden, aus
welschen Canden über unsichere Alpenpfade sicher eingebracht; —
köstliche Gefäße in seltsamen Formen, Leuchter in Delphinengestalt,
säulengetragene Schalen, CLeuchttürmen gleich, Weihrauchbehälter
und viel anderes — ein reicher Schatz Auch ein Kelch von Bern—
stein war dabei, der schimmerte lieblich, so man ihn ans Licht
hielt; am Rand war ein Stück ausgebrochen.
„Als mein Vorgänger Hartmut im Sterben lag,“ sprach der
Abt, „ward's gepulvert und ihm mit Wein und Honig eingegeben,
das Fieber zu stillen.“ Mitten im Bernstein saß ein Mücklein, so
fein erhalten, als wär's erst neulich hineingeflogen, und hat sich
dies Insekt, wie es in vorgeschichtlichen Zeiten vergnüglich auf
seinem Grashalm saß und vom zähflüssigen Erdharze überströmt
ward, auch nicht träumen lassen, daß es in solcher Weise auf die
Nachwelt übergehen werde.
Auf derlei stummes Feugnis wirkender Naturkraft ward aber
damals kein aufmerksames Auge gerichtet; wenigstens war der Käm⸗
merer Spazzo, der ebenfalls mit Sorgfalt alles musterte, mit anderen
Dingen beschäftigt. Er dachte, um wieviel ergötzlicher es sein
möcht', mit diesen frommen Männern in Fehde zu liegen und,
statt als Gastfreund einzureiten, Platz und Schatz mit stürmender
hand zu nehmen. Und weil er schon manchen Umschlag vornehmer
Freundschaft erlebt, bereitete er sein Gemüt auf diese Moõglichkeit,
faßte den Eingang der Sakristei genau ins Aug' und murmelte:
„Also vom Chor die erste Pforte zur Rechten!“
Der Abt mochte auch der Ansicht sein, daß lang fortgesetzter
Unblick von Gold und Silber Hunger nach Besitz errege; er ließ
die letzte Truhe, welche der Kostbarkeiten vorzüglichste barg, nicht
mehr erschließen und drängte, daß sie ins Freie kamen.
Sie lenkten ihre Schritte zum Klostergarten. Der war weit⸗
schichtig angelegt und trug an Uraut und Gemüse viel nach Bedarf
der Küche, zudem auch nützliches Arzneigewächs und heilbringende
Wurzeln. Auf einem Apfelbaum saß ein dienender Bruder, pflückte
die üpfel und sammelte sie in die Körbe. Jetzt ertönte es wie
Gesang zarter Knabenstimmen in des Gartens Niederung: die Zög—
linge der inneren Klosterschule kamen heran, der Herzogin ihre
Huldigung zu bringen; blutjunge Bürschlein, trugen sie bereits
die Kutte, und mancher hatte die Tonsur aufs elfjährige Haupt
21
geschoren. Wie sie aber in Prozession daherzogen, die rotbäckigen
Übtlein der Zukunft, geführt von ihren Cehrern, den Blick zur Erde
niedergeschlagen, und wie sie so ernst und langsam ihre Verse
sangen, da stieß mit starkem Fuß Frau Hadwig den nahestehenden
Korb um, daß die Apfel lustig unter den Zug der Schüler rollten
und an ihren Kapuzen emporsprangen. Aber unbeirrt zogen sie
des Weges; nur der kleinsten einer wollte sich bücken nach der
verlockenden Frucht, doch streng hielt ihn sein Nebenmännlein am
Gürtel.
Wohlgefällig sah der Abt die Haltung des jungen Volkes und
sprach: „Disziplin unterscheidet den Menschen vom Tierl Und wenn
Ihr der Hesperiden Apfel unter sie werfen wolltet, sie blieben fest.“
Frau Hadwig war gerührt.
Wie die Herzogin mit dem Abt den Klostergarten verlassen, sprach
dieser: „Es übrigt noch, Euch des Klosters Bücherei zu zeigen, die
Arzneikammer lernbegieriger Seelen, das Zeughaus für die Waffen
des Wissens.“ Aber Frau Hadwig war ermüdet, sie dankte.
Herr Cralo führte seinen Gast nach seinen Gemächern. Den
Kreuzgang entlang wandelnd, kamen sie an einem Gelaß vorüber,
des Tür war offen. An kahler Wand stand eine niedere Säule,
von der in halber Mannshöhe eine Kette niederhing. Über dem
Portal war in verblaßten Farben eine Gestalt gemalt, sie hielt in
magern Fingern eine Rute. „Wen der Herr lieb hat, den züchtigt
er; er stäupet einen jeglichen, den er zum Sohne annimmt“, war
in großen Buchstaben darunter geschrieben.
„Die Geißelkammer!“ sprach er.
„Ist keiner der Brüder zurzeit einer Strafe verfallen?“ fragte
sie, „es möcht' ein lehrreich' Beispiel sein....“
Der Abt drängte, daß sie vorüberkamen. Seine Prunkgemächer
waren mit Blumen geschmückt. Frau Hadwig warf sich in den
einfachen Cehnstuhl, auszuruhen vom Wechsel des Erschauten. Sie
hatte in wenig Stunden viel erlebt. Es war noch eine halbe Stunde
zum Abendimbiß.
Wer zu dieser Zeit einen Rundgang durch des Klosters Fellen
gemacht, der hätte sich überzeugen mögen, wie kein einziger Bewohner
des Stiftes unberührt vom Eindrucke des vornehmen Besuches
geblieben. Auch die weltabgeschiedensten Gemüter fühlen, daß einer
Frau Hhuldigung gebührt.
Dem grauen Tutilo war's beim Empfang schwer aufs Herz
gefallen, daß der linke Armel seiner Kutte mit einem Coche geschmückt
22
war; sonst wär's noch bis zum nächsten hohen Festtag ungeflickt
geblieben, aber itzt galt kein Verzug; mit Nadel und Zwirn bewaffnet,
saß er auf dem Schragen und besserte den Schaden. Und weil er
gerade im Zuge war, legte er auch seinen Sandalen eine neue
Sohle an und festigte sie mit Nägeln.
Radolt, das Denkmännlein, ging mit gerunzelter Stirn auf
seiner Zelle auf und nieder, vermeinend, es werde sich eine Gelegenheit
ergeben, in frei ersonnener Rede des hohen Gastes Ruhm zu preisen.
Er wollte des Tacitus Spruch von den Germanen zugrund legen:
„Sie glauben auch, daß den Frauen etwas Heiliges und Zukunft—
voraussehendes inwohne, darum verschmähen sie niemals ihren Rat
und fügen sich ihren Bescheiden.“ Es war dies fast das einzige,
was er vom Hörensagen von den Frauen wußte.
In anderer Zelle saßen der Brüder sechs unter dem riesigen
Elfenbeinkamm, der an eiserner Uette von der Decke herabhing —
Abt Hartmuts nützliche Stiftung — die vorgeschriebenen Gebete
murmelnd, erwies einer dem andern den Dienst sorglicher Glättung
des Haupthaares. Ward auch manch überwachsene Tonsur in jener
Zeit zu strahlendem Glanze erneut.
In der Küche aber ward unter Gerold des Schaffners Leitung
eine Tätigkeit entwickelt, die nichts zu wünschen übrig ließ. Jetzo
lãutete das Glöcklein, dessen Ton auch von den frömmsten Brüdern
noch keiner unwillig gehört, der Ruf zur Abendmahlzeit. Abt Cralo
geleitete die Herzogin ins Refektorium. Sieben Säulen teilten den
luftigen Saal hälftig ab, an vierzehn Tischen standen, wie Heer—
scharen der streitenden Kirche, des Klosters Mitglieder, Priester und
Diakonen. Das Amt des Vorlesers vor dem Imbiß stund in dieser
Woche bei Ekkehard, dem Pörtner. Der Herzogin zu Ehren hatte
er den 44. Psalm erkoren; er trat auf und sprach einleitend: „Herr,
öffne meine Lippen, auf daß mein Mund dein Cob verkünde“, und
alle sprachen's ihm murmelnd nach, als Segen zu seiner Lesung.
Nun erhub er seine Stimme und las den Psalm, den die Schrift
selbst einen lieblichen Gesang nennet.
Die Mahlzeit begann. Der Küchenmeister, wohl wissend, wie
bei Ankunft fremder Gäste Erweiterung der schmalen Klosterkost
gestattet sei, hatte es nicht beim üblichen Mus mit Hülsenfrüchten
bewenden lassen. Wohl erschien zuerst ein dampfender Hirsebrei,
auf daß, wer gewissenhaft bei der Regel bleiben wollte, sich daran
ersättige; aber Schüssel auf Schüssel folgte, bei mächtigem Hirsch—
ziemer fehlte der Bärenschinken nicht, sogar der Biber vom obern
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Fischteich hatte sein CLeben lassen müssen; Fasanen, Rebhühner,
Turteltauben und des Vogelherds kleinere Ausbeute folgten, der
Fische aber eine unendliche Auswahl, so daß schließlich ein jeglich
Getier, watendes, fliegendes, schwimmendes und kriechendes, auf der
Klostertafel seine Vertretung fand.
Der stattliche Nachtisch, auf dem Pfirsiche, Melonen und trockene
Feigen geprangt hatten, war verzehrt, nun war — so wollte es
des Ordens Regel — zur Erbauung der Gemüter ein Abschnitt
aus der Schrift oder dem CLeben heiliger Väter zu verlesen. Darum
las Ekkehard ein Stück aus dem Leben des heiligen Benediktus, das
einst Papst Gregorius abgefaßt. Hierauf stürmten etliche hinaus
und kamen wieder mit Instrumenten. Der brachte eine Caute, jener
ein Geiglein, worauf nur eine Seite gespannt, ein anderer eine Art
hackbrett mit eingeschlagenen Metallstiften, zu deren Anschlag ein
Stimmschlüssel dienlich war, wiederum ein anderer eine kleine zehn⸗
saitige Harfe, Psalter hießen sie das seltsam geformte Instrument
und sahen in seiner dreieckigen Gestalt das Symbol der Dreieinigkeit.
Und dem Tutilo reichten sie seinen dunkeln Caktstab von Ebenholz.
Lächelnd erhob sich der graue Künstler und gab ihnen das Zeichen
zu einer Musika, die er selbst in jungen Tagen aufgesetzet; mit
Freudigkeit hörten's die anderen.
Zu unterst am Cische saß ein stiller Gast mit blaßgelbem Ange⸗
sicht und schwarzkrausem Gelock; er war aus Welschland und hatte
von des Klosters Gütern im Lombardischen die Saumtiere mit
Kastanien und Ol herübergeleitet. In wehmütigem Schweigen ließ
er die Flut der Töne über sich erbrausen.
„Nun, Meister Johannes,“ sprach Folkard, der Maler, zu ihm,
„ist die welsche Feinfühligkeit jetzt zufriedengestellt? Den Kaiser
Julian mutete einst unserer Vorväter Gesang an wie das Geschrei
wilder Vögel, aber seitdem haben's wir gelernt. Klingt's Euch
nicht lieblicher als Sang der Schwanen?“
„Lieblicher — als Sang der Schwanen —“ wiederholte der
Fremde wie im Traum. Dann erhob er sich und schlich leise von
dannen. Es hat's keiner im Kloster zu lesen bekommen, was er
in jener Nacht noch ins Tagebuch seiner Reise eintrug:
„Diese Männer diesseits der Alpen,“ schrieb er, „wenn sie auch
den Donner ihrer Stimmen hoch gegen Himmel erdröhnen lassen,
können sich doch nimmer zur Süße einer gehobenen Modulation
erschwingen. Wahrhaft barbarisch ist die Rauheit solch abgetrunkener
Uehlen; wenn sie durch Veugung und Wiederaufrichtung des Tons
24
einen sanften Gesang zu ermöglichen suchen, schauert die Natur,
und es klingt wie das Fahren eines Wagens, der in Winterszeit
über gefrorenes Pflaster dahinknarrt.“
Auch der Frau Herzogin klang die Musik gellend in die Ohren.
Sie sprach: „Es ist Feit, schlafen zu gehen!“ und ging mit ihrem
Gefolge nach dem Schulhause hinüber, wo ihr Nachtlager sein sollte.
Frühmorgens darauf saß die Herzogin samt ihren Leuten im Sattel,
heimzureiten — und bald darauf lag das Kloster in stiller Ruhe.
Viktor v. Scheffel.
12. Die Raiserwahl.
Der fromme Kaiser Heinrich war gestorben,
des sächsischen Geschlechtes letzter Zweig,
das glorreich ein Jahrhundert lang geherrscht.
Als nun die Botschaft in das Reich erging,
da fuhr ein reger Geist in alles Volk,
ein neu Weltalter schien heraufzuziehn,
da lebte jeder längst entschlafne Wunsch
und jede längst erloschne Hoffnung auf.
ein Wunder jetzo, wenn ein deutscher Mann,
dem sonst so Hohes nie zu Hirne stieg,
sich, heimlich forschend, mit den Blicken maß:
Kann's doch nach deutschem Rechte wohl geschehn,
daß, wer dem Kaiser heut den Bügel hält,
sich morgen selber in den Sattel schwingt!
Jetzt dachten unsre freien Männer nicht
an Hub⸗ und Haingericht und Markgeding,
wo man um Esch' und Holzteil Sprache hält.
Nein, stattlich ausgerüstet, zogen sie
aus allen Gauen, einzeln und geschart,
ins Maienfeld hinab zur Kaiserwahl.
Am schönen Rheinstrom, zwischen Worms und Mainz,
wo unabsehbar sich die ebne Flur
auf beiden Ufern breitet, sammelte
der Andrang sich: die Mauern einer Stadt
vermochten nicht, das deutsche Volk zu fassen.
Am rechten Ufer spannten ihr Gezelt
die Sachsen samt der slav'schen Nachbarschaft,
die Bayern, die Ostfranken und die Schwaben;
am linken lagerten die rhein'schen Franken,
die Ober⸗ und die Niederlotharinger.
25
So war das Mark von Deutschland hier gedrängt,
und mitten in dem Cager jedes Volks
erhub sich stolz das herzogliche Zelt.
Da war ein Grüßen und ein Händeschlag,
ein Austausch, ein lebendiger Verkehr!
Und jeder Stamm, verschieden an Gesicht,
an Wuchs und Hhaltung, Mundart, Sitte, Tracht,
an Pferden, Rüstung, Waffenfertigkeit,
und alle doch ein großes Brüdervolk,
zu gleichem Zwecke festlich hier vereint.
Was jeder im besondern erst beriet,
im hüllenden Gezelt und im Gebüsch
der Inselbuchten, mählich war's gereift
zum allgemeinen, offenen Beschluß.
Aus vielen wurden wenige gewählt,
und aus den wenigen erkor man zween,
allbeide Franken, fürstlichen Geschlechts,
erzeugt von Brüdern, Namensbrüder selbst,
Kunrade, längst mit gleichem Ruhm genannt.
Da standen nun auf eines Hügels Saum
im Kreis der Fürsten, sichtbar allem Volk,
die beiden Männer, die aus freier Wahl
das deutsche Volk des Thrones wert erkannt
vor allen, die der deutsche Boden nährt,
von allen Würdigen die Würdigsten
und so einander selbst an Würde gleich,
daß fürder nicht die Wahl zu schreiten schien,
und daß die Wage ruht' im Gleichgewicht.
Da standen sie, das hohe Haupt geneigt,
den Blick gesenkt, die Wange schamerglüht,
von stolzer Demut überwältiget.
Ein königlicher Anblick war's, ob dem
die Träne rollt' in manchen Mannes Bart.
Und wie nun harrend all die Menge stand
und sich des Volkes Brausen so gelegt,
daß man des Rheines stillen Zug vernahm, —
denn niemand wagt' es, diesen oder den
zu küren mit dem hellen Ruf der Wahl,
um nicht am andern Unrecht zu begehn,
noch aufzuregen Eifersucht und Zwist, —
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da sah man plötzlich, wie die beiden Herrn
einander herzlich faßten bei der Hand
und sich begegneten im Bruderkuß.
Da ward es klar, sie hegten keinen Neid,
und jeder stand dem andern gern zurück.
Der Erzbischof von Mainz erhub sich jetzt:
„Weil doch“, so rief er, „einer es muß sein,
so sei's der ältre.“ Freudig stimmten bei
gesamte Fürsten, und am freudigsten
der jüngre Konrad. Donnergleich erscholl,
oft wiederholt, des Volkes Beifallsruf.
Als der Gewählte drauf sich niederließ,
ergriff er seines edlen Vetters Hand
und zog ihn zu sich auf den Königssitz.
Und in den Ring der Fürsten trat sofort
die fromme Kaiserwitwe Kunigund:
glückwünschend reichte sie dem neuen KNönig
die treu bewahrten Reichskleinode dar.
Zum Festzug aber scharten sich die Reihn,
voran der König, folgend mit Gesang
die Geistlichen und Caien; so viel Preis
erscholl zum Himmel nie an einem Tag.
Wär' Kaiser Karl gestiegen aus der Gruft,
nicht freudiger hätt' ihn die Welt begrüßt.
So wallten sie den Strom entlang nach Mainz,
woselbst der König im erhabnen Dom
der Salbung heil'ge Weihe nun empfing.
Wen seines Volkes Ruf so hoch gestellt,
dem fehle nicht die Kräftigung von Gott!
Und als er wieder aus dem Tempel trat,
erschien er herrlicher als je zuvor,
und seine Schulter rag! ob allem Volk.
Ludwig Uhland.
13. Schwäbiseche Kunde.
Als Kaiser Rotbart lobesam
zum heil'gen Cand gezogen kam,
da mußt' er mit dem frommen heer
durch ein Gebirge wüst und leer.
Daselbst erhub sich große Not,
viel Steine gab's und wenig Brot,
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und mancher deutsche Reitersmann
hat dort den Trunk sich abgetan;
den Pferden war's so schwach im Magen,
fast mußt' der Reiter die Mähre tragen.
Nun war ein Herr aus Schwabenland,
von hohem Wuchs und starker Hand,
des Rößlein war so krank und schwach,
er zog es nur am Faume nach;
er hätt' es nimmer aufgegeben,
und kostet's ihn das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stüch
hinter dem Heereszug zurück:
da sprengten plötzlich in die Quer
fünfzig türkische Reiter daher;
die huben an, auf ihn zu schießen,
nach ihm zu werfen mit den Spießenl
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
ging seines Weges Schritt vor Schritt,
ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
und tät nur spöttlich um sich blicken,
bis einer, dem die Zeit zu lang,
auf ihn den krummen Säbel schwang
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut,
er trifft des Türken Pferd so gut,
er haut ihm ab mit einem Streich
die beiden Vorderfüß zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
da faßt er erst sein Schwert mit Macht,
er schwingt es auf des Reiters Kopf,
haut durch bis auf den Sattelknopf,
haut auch den Sattel noch zu Stücken
und tief noch in des Pferdes Rücken:
zur Rechten sieht man wie zur Linken
einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus;
sie fliehen in alle Welt hinaus,
und jedem ist's, als würd' ihm mitten
durch Kopf und Leib hindurch geschnitten.
Drauf kam des Wegs 'ne Christenschar,
die auch zurückgeblieben war;
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die sahen nun mit gutem Bedacht,
was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Kaiser vernommen.
Der ließ den Schwaben vor sich kommen;
er sprach: „Sag' an, mein Ritter wertl!
Wer hat dich solche Streich' gelehrt ?
Der Held bedacht sich nicht zu lang:
„Die Streiche sind bei uns im Schwang;
sie sind bekannt im ganzen Reiche:
man nennt sie halt nur Schwabenstreiche.“
Ludwig Uhland.
14. Meier Helmbrecht und sein Sohn.
Ein reicher Bauer, Helmbrecht mit Namen, hatte einen Sohn,
der ebenfalls Helmbrecht hieß. Dieser Sohn war stolz auf sein
schönes Gesicht und schämte sich, ein Bauer zu sein. Er trug eine
kunstreich gestickte Mütze, die seine Mutter von einer Nonne hatte
anfertigen lassen, und sein Rock war von dem feinsten Tuche.
Auch einen Kettenpanzer und ein Schwert hatte ihm seine Mutter
geschenkt, und sie und seine Schwester machten ihn durch allerlei
Cobsprüche nur noch eitler und stolzer. Um dem Sohne in allen
Dingen zu Willen sein und ihm silberne Unöpfe und was er sonst
wünschte, anschaffen zu können, verkaufte die Mutter neben den
Eiern auch die Hühner. Der Vater war mit solch hoffärtigem
Wesen wenig einverstanden; was er aber dawider redete, das war
alles in den Wind gesprochen.
Einst sprach der Sohn zu seinem Vater: „Es ist mein Wille,
an den Hof zu gehen; es wäre doch schade um mich, wenn ich
nichts als ein Bauer würde. Ich bedarf dazu aber eines Rosses;
das wirst du mir nicht versagen, nachdem Mutter und Schwester
mich mit Kleidern so wohl ausgestattet haben.“ Da warnte ihn
der Vater, schilderte ihm die Gefahren des Hoflebens und mahnte
ihn, zu bleiben, was er sei. „Du wirst dem Spotte der Hofleute“,
sprach er, „zur Fielscheibe dienen, wenn du dich über deinen Stand
erheben willst.“ Der Sohn aber blieb bei seinem Vorsatze und
sprach: „Redet mir nicht länger dawider! Befindet Euch wohl bei
Wasser und Haferbrei, ich will es einmal mit Wein und gebratenen
hühnern versuchen. Und meine schönen Kleider passen sicher besser
zu einem CTanze mit schönen Ritterfräulein, als hinter Pflug und
Egge herzugehen.“ VNoch ein Mittel versuchte der Vater, den Sohn
zurückzuhalten. Er erzählte ihm, wie er geträumt habe, sein Sohn
sei blind und verstümmelt aus der großen Welt zurückgekehrt und
endlich an einem Baume aufgeknüpft worden, daß die Raben ihm
sein lockiges Haar zerzausten. Aber alles war umsonst; der Sohn
bestand auf seinem Sinn, und der Vater gab ihm endlich ein RVoß,
auf dem der junge Helmbrecht stolz und zuversichtlich in die Welt ritt.
Er kam zu einer Burg, deren Besitzer ohne Streit und Fehde
nicht leben konnte und streitbare Männer gern bei sich behielt.
helmbrecht trat in seine Dienste und ward bald einer der ver—
wegensten und schlimmsten Gesellen, vor dem nichts sicher war.
Nach einem Jahre gedachte er seiner Eltern wieder einmal und
machte sich auf, sie zu besuchen. Große Freude hatten die Seinigen,
als sie ihn kommen sahen. Er aber tat, als ob er ein fremder
Herr sei, und mengte in seine Rede bald französische, bald böhmische,
bald niederdeutsche Brocken. Da sprach der Vater, das könne sein
Sohn nicht sein, und er wollte ihn nicht im Hause behalten. Weil
es aber schon spät war und Helmbrecht nirgends anders unter—
kommen konnte, gab er sich endlich zu erkennen; doch nun wollte
der Vater Beweise haben, ob er auch sein Sohn sei, und er verlangte,
daß ihm der Angekommene die Namen der vier Ochsen nenne, die
im Stalle standen. Das konnte der Sohn, und nun ward er wohl
empfangen. Er ward aufs beste bewirtet, und auch ein gebratenes
Huhn fehlte nicht auf dem Tische. Selbst ein Herr hätte mit
solcher Mahlzeit wohl zufrieden sein dürfen. Nach dem Essen
fragte der Vater, wie es jetzt auf den Burgen der Ritter zugehe,
und er schilderte, wie es in seiner Jugend daselbst zugegangen sei.
Damals hätten die adligen Herren, erzählte er, mit allerlei ritter—
lichen Spielen den Tag verbracht, und die Frauen hätten mit Freuden
zugesehen. Dann hätten sie gesungen und getanzt, ein Spielmann
habe dazu die Geige gestrichen, und endlich habe man am Feuer
des Kamins allerlei alte Sagen, z. B. vom Herzog Ernst, erzählt
oder vorgelesen. Damals sei der Schlimmste wohl besser gewesen,
als jetzt der Beste; da habe Recht und Gesetz gegolten, Treulose
oder solche mit übeln Sitten habe man nicht geduldet. Darauf
lobte der Sohn das Ceben der jetzigen Ritter. Da trinke man den
ganzen Tag und fahre auf Raub aus, und es sei ein gar lustiges
Ceben. Wenn er nicht von dem weiten Ritte gar zu ermüdet wäre
und gern schlafen möchte, so könnte er wohl manchen lustigen
Streich erzählen, den er selbst mit erlebt habe. Am anderen Tage
verteilte er die Geschenke, die er den Seinigen mitgebracht hatte.
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Seinem Vater gab er einen guten Wetzstein, der Mutter einen
schönen Fuchspelz, der Schwester aber seidene Bänder und einen
gestickten Gürtel. Doch sagte er nicht, daß er alle diese Sachen auf
seinen Raubzügen erbeutet hatte.
Etliche Tage blieb Helmbrecht bei den Seinigen; dann aber
ward ihm die Zeit lang, und er sehnte sich nach der Gesellschaft
seiner Raubgesellen. Als er wieder aufbrechen wollte, machte ihm
der Vater wieder die eindringlichsten Vorstellungen; aber nichts
konnte ihn zurückhalten, er war zu sehr schon an das Verderben
gewöhnt. Mit unverhohlener Freude erzählte er von seinen und
seiner Genossen Schandtaten, wie sie selbst in bitterer Winterkälte
den von ihnen Beraubten kein Kleid auf dem Leibe gelassen, wie
sie den Bauern Pferde, Ochsen und Kühe aus den Hõfen getrieben,
wie er selbst einen Bauer in einen Ameisenhaufen gebunden habe
und andere Schandtaten mehr. Da mahnte ihn der Vater noch
einmal, sich vor dem Galgen zu hüten, damit sein CTraum nicht
in Erfüllung gehe; der Sohn nahm aber solche Rede so übel, daß
er erklärte, er wolle nun auch seines Vaters Gut nicht länger vor
seinen Raubgesellen schützen. Auch erzählte er, wie er vorgehabt
habe, seine Schwester mit dem vornehmsten seiner Raubgesellen, der
den Übernamen Lämmerschling führte, zu vermählen, das wolle er
aber nun unterlassen. Dann ritt er, noch immer drohend, davon.
Gotelind, Helmbrechts Schwester, hatte die Rede ihres Bruders mit
großer Freude gehört; denn sie war ebenso töricht wie er und hielt
in Ceben, wie es der Bruder ihr geschildert hatte, für besser als
ein Leben in treuer, ehrlicher Arbeit, und sie hatte daher ihren
Bruder, als er heimlich mit ihr davon gesprochen hatte, gebeten,
dafür zu sorgen, daß sie Lämmerschlings Weib werde.
Als Helmbrecht wieder bei seinen Genossen war, hörte man
bald wieder von allerlei schlimmen Taten. Witwen und Waisen
wurden beraubt, um reiche Vorräte zu Cämmerschlings Hochzeit
herbeizuschaffen. Als aber alle Vorbereitungen getroffen waren,
sandte Helmbrecht einen heimlichen Boten zu seiner Schwester und
ließ sie herbeiholen. Gotelind und Cämmerschling wurden vermählt,
und man setzte sich zum Mahle nieder. Wie ausgelassen fröhlich
dabei auch die Gesellen waren, konnte doch Gotelind ein geheimes
Grausen nicht überwinden. Trübe Ahnungen beschlichen sie, und
schon begann sie in Gedanken zu bereuen, daß sie heimlich von
Haler und Mutter entwichen war. Nach dem Essen kamen Spiel⸗
leute und spielten ihre schönsten Stücklein auf. Dann gingen sie
herum, die Gaben der Gäste einzusammeln. Aber kaum hatten
Brãäutigam und Braut, als die ersten, ihre Gabe auf den Teller
gelegt, so erschien an der Türe des Hochzeitsgemaches der Richter
mit etlichen starken Männern, und bald waren die Räuber alle
gefangen und mit starken Fesseln gebunden. Gotelind ward in dem
Gedränge ihr Brautkleid zerrissen, und sie floh voll Angst und
Kummer hinter einen Zaun. Die Räuber wurden zum Tode ver—
urteilt und von dem Henker hingerichtet; dem zehnten schenkte der
henker nach seinem alten Rechte das CLeben, und dieser zehnte war
helmbrecht. Doch wäre ihm der Tod besser gewesen, denn der
henker strafte an ihm, daß er seine Eltern verachtet hatte; er stach
ihm die Augen aus und hieb ihm eine Hand ab.
Von einem Knaben ließ sich der blinde Helmbrecht nun zu seines
Vaters Hause führen, und flehentlich bat er, ihn aufzunehmen.
Dem Vater brach fast das Herz, als er seinen Sohn so reden hörte;
aber er sprach: „Einen, den ich nie mit meinen Augen gesehen
habe, wollte ich lieber aufnehmen als dich. Wie trotzig zogst du
in die Welt! Da hat manches Herz um deinetwillen gefeufzt, und
mancher ehrliche Mann ist durch dich des Seinen beraubt worden.
Gedenke an meine Träumel Zum CTeil sind sie schon eingetroffen,
denn blind und verstümmelt bist du heimgekehrt. Nun wird sich
auch das Ende meines Traumes erfüllen, und darum will ich dich
nicht aufnehmen. Unecht, schließ das Tor und stoß den Riegel
vorl“ Der Vater war ins Haus gegangen. Die doppelt unglück—
liche Mutter, die an dem Unglück ihres Sohnes einen großen Teil
der Schuld trug und nun den Unglücklichen nicht in ihr Haus auf⸗
nehmen durfte, holte ein Brot herbei und gab es ihrem LKinde.
Dann ging der Blinde an der Hand seines Führers dahin; die
Bauern aber riefen ihm nach: „Ja, Dieb Helmbrecht, hättest du
den Pflug zur Hand genommen, so brauchtest du jetzt nicht den
Blindenstecken zu tragen.“
Ein Jahr lang litt der Blinde Not. Da ging er eines Morgens
durch einen Wald, in dem Bauern Holz fällten. Als sie ihn sahen,
sprach der eine: „Da kommt der Blinde, der mir einst meine Uuh
geraubt hat.“ Ein anderer sprach: „Ich will ihn zerreißen in
Stücke, die kleiner sind als Sonnenstäubchen; denn er hat mir und
meinen Kindern die Kleider vom Leibe gestohlen.“ Der dritte
sprach: „Mir hat er meine Hütte aufgebrochen und daraus ge⸗
nommen alles, was ich hatte.“ Alle stürzten mit Geschrei auf
Helmbrecht los. „Nimm deine schöne Mütze in acht, mit der du
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so geprahlt hast“, riefen sie ihm höhnend zu und fielen über ihn
her und zerzausten ihm Haar und Mütze. Endlich ließen sie ihn
seine Beichte sprechen, dann hängten sie ihn an einen Baum. So
ging des Vaters Traum in Erfüllung, zur Warnung allen Kindern,
die Vater und Mutter nicht achten wollen.
Albert Richter nach Werner dem Gärtner.
15. Herzog von Alba bei einem Frühstũck
auf dem Schlosse zu Rudolsstadt im Jahre 1547.
Eine deutsche Dame aus einem Hause, das schon ehedem
durch Heldenmut geglänzt und dem Deutschen Reich einen
Kaiser gegeben hat, war es, die den fürchterlichen Herzog
von Alba durch ihr entschlossenes Betragen beinahe zum
Zittern gebracht hätte. Als Kaiser Karl V. im Jahre 1547
nach der Schlacht bei Mühlberg auf seinem Zuge nach
Franken und Schwaben auch durch Thüringen kam, wirkte
die verwitwete Gräfin Katharina von Schwarzburg, eine ge-
borene Fürstin von Henneberg, einen Schutzbrief bei ihm
aus, daß ihre Untertanen von der durehziehenden spanischen
Armee nichts zu leiden haben sollten. Dagegen verband sie
sich, Brot, Eier und andre Lebensmittel gegen billige Be-
zahlung aus Rudolstadt an die Saalbrũcke schaffen zu lassen,
um die spanischen Truppen, die dort übersetzen würden, zu
versorgen. Doch gebrauchte sie dabei die Vorsicht, die
Brũcke, welche dicht bei der Stadt war, in der Geschwindig-
keit abbrechen und in einer größeren Entfernung über das
WVasser schlagen zu lassen, damit die allzugroße Nahe der
Stadt ihre raublustigen Gaste nicht in Versuchung fuhrte.
Zugleich wurde den Einwohnern aller Ortschaften, durch
welche der Zug ging, vergönnt, ihre besten Habseligkeiten
auf das Rudolstãdter Schloß zu flũchten.
Mitllerweile nãherte sich der spanische General, von Her-
zog Heinrich von Braunschweig und dessen Söõhnen begleitet,
der Stadt und bat sich durch einen Boten, den er voran-
gchickte, bei der Grafin von Schwarzburg auf ein Morgen-
brot zu Gaste. Eine so bescheidene Bitte, an der Spitze
eines Kriegsheeres getan, konnte nicht wohl abgeschlagen
werden. Man würde geben, was das Haus vermõöchte, war
die Antwort; Seine Exzellenz möchten kommen und vorlieb⸗
nehmen. Zugleich unterließ man nicht, des Schutzbriefes
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noch einmal zu gedenken und dem spanischen General die
gewissenhafte Beobachtung desselben ans Herz zu legen.
Ein freundlicher Empfang und eine gut besetzte Tafel
erwarten den Herzog auf dem Schlosse. Er muß gestehen,
daß die thuringischen Damen eine sehr gute Küche führen
und auf die Ehre des Gastrechts halten. Noch hat man sich
kaum niedergesetzt, als ein Eilbote die Gräfin aus dem Saal
ruft. Es wird ihr gemeldet, daß in einigen Dörfern unter—
wegs die spanischen Soldaten Gewalt gebraucht und den
Bauern das Vieh weggetrieben hätten. Katharina war eine
Mutter ihres Volks; was den ärmsten ihrer Untertanen wider-
fuhr, war ihr selbst zugestoßen. Aufs äußerste über diese
Wortbruchigkeit entrustet, doch von ihrer Geistesgegenwart
nicht verlassen, befiehlt sie ihrer ganzen Dienerschaft, sich
in aller Geschwindigkeit und Stille zu bewaffnen und die
Schloßpforten wohl zu verriegeln; sie selbst begibt sich
wieder nach dem Saale, wo die Fürsten noch bei Tische
sitzen. Hier klagt sie ihnen in den beweglichsten Ausdrucken,
was ihr eben hinterbracht worden, und wie schlecht man das
gegebene Kaiserwort gehalten. Man erwidert ihr mit Lachen,
daß dies nun einmal Kriegsgebrauch sei, und daß bei einem
Durchmarsch von Soldaten dergleichen kleine Unfälle nicht
zu verhüten stünden. „Das wollen wir doch sehen“, ant-
wortete sie aufgebracht. „Meinen armen Untertanen mub
das Ihrige wieder werden, oder, bei Gottl“ — indem sie
drohend ihre Stimme anstrengte, „Fürstenblut für Ochsen-
blutl· Mit dieser bündigen Erklaärung verließ sie das Zimmer,
das in wenigen Augenblicken von Bewaffneten erfüllt war,
die sich, das Schwert in der Hand, doch mit vieler Ehrer-
bietigkeit hinter die Stühle der Fürsten pflanzten und das
Fruhstũck bedienten. Beim Eintritt dieser kampflustigen
Schar veränderte Herzog Alba die Farbe; stumm und be-
treten sah man einander an. Abgeschnitten von der Armee,
von einer überlegenen, handfesten Menge umgeben, was
blieb ihm übrig, als sich in Geduld zu fassen, und, auf
welche Bedingung es auch sei, die beleidigte Dame zu ver-
söhnen? Heinrich von Braunschweig faßte sich zuerst und
brach in ein lautes Gelächter aus. Er ergriff den vernuntf-
tigen Ausweg, den ganzen Vorgang ins Lustige zu kehren,
und hielt der Grafin eine große Lobrede uber ihre landesmũtter-
Weimar. CLesebuch IIL, 2.
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liche Sorgfalt und den entschlossenen Mut, den sie bewiesen.
Er bat sie, sich ruhig zu verhalten, und nahm es auf sich,
den Herzog von Alba zu allem, was billig sei, zu vermögen.
Auch braclte er es bei ihm wirklich dahin, daß er auf der
gtelle einen Befehl an die Armee ausfertigte, das geraubte
Vieh den Eigentümern ohne Verzug wieder auszuliefern.
Sobald die Grafin von Schwarzburg der Zurückgabe gewiß
war, bedankte sie sich auss schönste bei ihren Gãsten, die
sehr höflich von ihr Abschied nahmen.
Ohne Zweifel war es diese Begebenheit, die der Grafin
Katharina von Schwarzburg den Beinamen der Heldenmũtigen
erworben. schiller.
16. Der Pilgrim vor St. Just.
Nacht ist's, und Stürme sausen für und für;
hispanische Mönche, schließt mir auf die Tür!
Caßt hier mich ruhn, bis Glockenton mich weckt,
der zum Gebet Euch in die Kirche schreckt!
Bereitet mir, was Euer Haus vermag,
ein Ordenskleid und einen Sarkophagl
Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein!
Mehr als die Hälfte dieser Welt war mein.
Das Haupt, das nun der Schere sich bequemt,
mit mancher Krone ward's bediademt.
Die Schulter, die der Kutte nun sich bückt,
hat kaiserlicher Hermelin geschmückt.
Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich,
und fall' in Trümmer wie das alte Reich.
August v. Platen.
17. Ein Überfall im dreißigjährigen Krieg.
Mein Vater und meine Mutter samt unserm Ursele, welches
meines Vaters einzige Tochter war, hatten Reißaus gespielt, als
ich mit den Reitern, die mich im Walde aufgegriffen hatten, auf
meines Vaters Hof kam.
Das erste, was die Reiter taten und in den Zimmern meines
Vaters anfingen, war, daß sie ihre Pferde in sie einstellten; hernach
hatte jeglicher seine besondere Arbeit zu verrichten, deren jede lauter
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Untergang und Verderben anzeigte. Denn, obzwar etliche anfingen,
zu schlachten, zu sieden und zu braten, daß es sahe, als sollte ein
lustiges Bankett gehalten werden, so waren hingegen andere, die
durchstürmten das Haus unten und oben. Andere machten von
Tuch, Kleidungen und allerlei Hausrat große Päcke zusammen, als
ob sie irgends einen Krempelmarkt errichten wollten; was sie aber
nicht mitzunehmen gedachten, ward zerschlagen. Etliche durchstachen
Heu und Stroh mit ihren Degen, als ob sie nicht Schafe und
Schweine genug zu stechen gehabt hätten; etliche schüttelten die
Federn aus den Betten und füllten hingegen Speck, andere dürres
Fleisch und sonst Gerät hinein, als ob alsdann besser darauf zu
schlafen gewesen wäre. Andere schlugen Ofen und Fenster ein,
gleichsam als hätten sie einen ewigen Sommer zu verkündigen.
Uupfer⸗ und Finngeschirre schlugen sie zusammen und packten die
verbogenen und verderbten Stücke ein. Bettladen, Tische, Stühle und
Bänke verbrannten sie, da doch viele Klafter dürres Holz im Hofe
lagen. Häfen und Schüsseln mußten endlich alle entzwei; entweder
weil sie lieber gebraten aßen, oder weil sie gedachten, nur eine
einzige Mahlzeit allda zu halten. Den Unecht legten sie gebunden
auf die Erde, steckten ihm ein Sperrholz ins Maul und schütteten
ihm einen Melkkübel voll garstigen Mistlachenwassers in den Leib;
das nannten sie einen schwedischen Trunk, wodurch sie ihn zwangen,
eine Partei anderwärts zu führen, allda sie Menschen und Vieh
hinwegnahmen und in unsern Hof brachten, unter welchen mein
Vater, meine Mutter und meine Schwester auch waren.
Da fing man erst an, die Steine von den Pistolen und hin⸗
gegen anstatt deren der Bauern Daumen aufzuschrauben und die
armen Schelme zu foltern; so steckten sie auch einen von den gefan⸗
genen Bauern in den Backofen und waren mit Feuer hinter ihm
her, obgleich er noch nichts bekannt hatte. In Summa, es hatte
jeder seine eigne Erfindung, die Bauern zu peinigen, und also auch
jeder Bauer seine besondere Marter. —
Christoph v. Grimmelshausen.
18. Der Friede.
O schöner Tag, wenn endlich der Soldat
ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit,
zum frohen Zug die Fahnen sich entfalten,
und heimwärts schlägt der sanfte Friedensmarschl
Wenn alle Hüte sich und Helme schmücken
mit grünen Maien, dem letzten Raub der Felder!
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Der Städte Tore gehen auf, von selbst,
nicht die Petarde braucht sie mehr zu sprengen;
von Menschen sind die Wälle rings erfüllt,
von friedlichen, die in die Lüfte grüßen, —
hell klingt von allen Türmen das Geläut,
des blutgen Tages hohe Vesper schlagend.
Aus Dörfern und aus Städten wimmelnd strömt
ein jauchzend Volk, mit liebend emsiger
Zudringlichkeit des Heeres Fortzug hindernd. —
Da schüttelt, froh des noch erlebten Tags,
dem heimgekehrten Sohn der Greis die Hände.
Ein Fremdling tritt er in sein Eigentum,
das längstverlaßne, ein; mit breiten Ästen
deckt ihn der Baum bei seiner Wiederkehr,
der sich zur Gerte bog, als er gegangen,
und schamhaft tritt als Jungfrau ihm entgegen,
die er einst an der Amme Brust verließ.
O glücklich, wem dann auch sich eine Tür,
sich zarte Arme sanftumschlingend öffnen!
Schiller.
19. Der Choral von Leuthen.
Gesiegt hat Friedrichs kleine Schar. Rasch über Berg und Tal
von dannen zog das Kaiserheer im Abendsonnenstrahl.
Die Preußen stehn auf Leuthens Feld, das heiß noch von der Schlacht;
des Tages Schreckenswerke rings umschleiert mild die Nacht.
Doch dunkel ist's hier unten nur, am Himmel Licht an Licht,
die goldnen Sterne ziehn herauf, wie Sand am Meer so dicht;
sie strahlen so besonders heut', so festlich hehr ihr Cauf,
es ist, als wollten sagen sie: Ihr Sieger, blicket aufl
Und nicht umsonst. Der Preuße fühlt's: es war ein großer Tag.
Drum still im ganzen Lager ist's, nicht Jubel noch Gelag,
so still, so ernst die Krieger all, kein Lachen und kein Spott. —
Auf einmal tönt es durch die Nacht: „Nun danket alle Gottl“
Der Alte, dem's mit Macht entquoll, singl's fort, doch nicht allein;
am'raden, Grenadier' umher, gleich stimmen sie mit ein,
die Nachbarn treten zu, es wãchst lawinengleich der Chor,
und voller, immer voller steigt der Cobgesang empor.
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Aus allen Zelten strömt's, es reiht sich singend Schar an Schar,
einfallen jetzt die Jäger, jetzt fällt ein auch der Husar;
auch Musika will feiern nicht, zu reiner Harmonie
lenkt Horn, Hobo' und Klarinett' die heil'ge Melodie.
Und stärker noch, und lauter noch, es schwillt der Strom zum Meer,
am Ende wie aus einem Mund lobsingt das ganze Heer;
im Echo donnernd widerhallt's das aufgeweckte Tal,
wie hundert Orgeln braust hinan zum Himmel der Choral.
Hermann Besser.
20. Wie schön leuchtet der Morgenstern.
„Wie schön leuchtet der Morgenstern!“
hab' doch kein andres Lied so gern!
Mit Tränen füllt sich jedesmal
mein Auge, spiel' ich den Choral.
s war damals, als der alte Fritz
noch stritt um Schlesiens Besitz.
hier in den Schluchten lag sein Heer,
der Feind dort auf den Höhn umher.
Da sah's im Dorf gar übel aus,
die Scheuern leer, kein Brot im Haus,
im Stalle weder Pferd noch UNuh,
und vor dem Feind die Furcht dazu!
So hatt' ich eben eine Nacht
mit Seufzen und Gebet durchwacht
und stieg beim ersten Morgengraun
den Turm hinauf, um auszuschaun,
wie's draußen stünd': 's war still umher,
und ich sah keine Feinde mehr.
Da zog ich still mein Käpplein ab,
dem lieben Gott die Ehre gab.
horchl plötzlich trabt's ins Dorf herein,
der himmel woll' uns gnädig sein!
Ein alter Schnauzbart jagt im Trab
nach meinem Haus, dort steigt er ab;
kaum bin ich unten, schreit er: „Lauf,
schließ mir geschwind die Kirche aufl“
Ich bat: „Bedenkt, 's ist Gottes Gut,
was man vertraut hat meiner Hut,
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und Kirchenraub bestraft sich schwer.“
Doch er schrie wild: „Was schwafelt Er?
Flink aufgeschlossen, sonst soll Ihn —l⸗
Schon wollt' er seinen Säbel ziehn,
da dachN ich bang an Weib und Kind
und öffnete die Kirch' geschwind
und trat dann zagend mit ihm ein;
mein Weib schlich weinend hinterdrein.
Er ging vorüber am Altar,
hinauf dann, wo die Orgel war;
da stand er still: „Gesangbuch her!
Hier den Choral da spielet Er,
und daß Sie brav die Bälge trittl
Marschl vorwärts jetzt und zögert nitl“
Ich fing mit meinem Vorspiel an,
wie ich's mein Lebetag getan.
Da fiel der Alte grimmig ein:
„Was soll mir das Geklimper sein ?
hab' ich's denn nicht gesagt dem Herrn:
Wie schön leuchtet der Morgenstern!“ —
„'s ist nur das Vorspiell“ — „Dummes Zeugl
Was spielt Er den Choral nicht gleich ?⸗
So spielt' ich denn, weil er's befahl,
ganz ohne Vorspiel den Choral;
der alte Schnauzbart sang das Lied,
ich und mein Weib, wir sangen mit.
Das Cied war aus, still saß der Mann,
ein heißer Strom von Tränen rann
ihm übers braune Angesicht,
die funkelten wie Demantlicht.
Dann stand er auf und drückte mir
die Hand und sprach: „Da nehmt das hier!“
Es war ein großes Talerstück.
Ich wies das Geld beschämt zurück;
er aber rief: „Was soll das, Mann,
bei Gott, es klebt kein Blut daran!
Gebt's an die Armen in dem Ortl“
Drauf gingen wir zusammen fort,
und noch im Gehen sprach er weich:
„Kein Lied kommt diesem Cied mir gleich;
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es hat mich in vergangner Nacht
zum lieben Gott zurückgebracht.
s rief gestern abend der Major
vor unsrer Front: Freiwill ge vorl
s soll ein verlorner Posten stehn
dem Feinde nah, dort auf den Höhn;
hat keiner Cust, hat keiner Mut?
Das trieb mir ins Gesicht das Blut:
Da müßten wir nicht Preußen sein!
Ich rief's und trat rasch aus den Reihn,
drei meiner Söhne folgten mir:
Gehst du, so gehen wir mit dir!
So zogen wir nach jenen Höhn,
um dort die ganze VNacht zu stehn.
Es blitzte hier, es krachte da,
es war der Feind uns oft so nah,
daß er uns sicherlich entdeckt,
wenn uns nicht droben der versteckt.
Ja Mann, ich hab so manche Nacht
im Feld gestanden auf der Wacht,
doch war mir nie das Herz so schwer,
s kam nur von meinen Jungens her;
Ihr habt ja Kinder, — nun da wißt
Ihr selbst, was Vaterliebe ist.
Drum hab ich auch emporgeblickt
und ein Gebet zu Gott geschickt!l
Und wie ich noch so still gefleht,
da ward erhört schon mein Gebet.
Denn leuchtend ging im Osten fern
auf einmal auf — der Worgenstern,
und mächtig mir im Herzen klang
der längst vergess'ne fromme Sang;
hätt gern gesungen gleich das Lied,
doch schwieg ich, weils uns sonst verriet.
Zugleich fiel mir auch manches ein,
was anders hätte sollen sein,
vor allem, daß ich dieses Jahr
noch nicht im Gotteshause war.
Das machte mir das Herz so schwer,
das war's, das trieb mich zu Euch her.“
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Der Alte sprach's, bestieg sein Pferd
und machte munter rechtsumkehrt.
Seht! Drum hab ich das Lied so gern:
„Wie schön leuchtet der Morgenstern!“
Und spiel' noch heute jedesmal
ganz ohne Vorspiel den Choral,
und wenn ich spiel', sitzt immerdar
mir dicht zur Seite der Husar,
ich höre seinen kräft'gen Baß,
und da — wird mir das Auge naß.
Julius Sturm.
21. Am 4. Oktober 1806 in Weimar.
Herzogin Cuise an ihren Bruder Prinz Philipp von Hessen.
Den 28. Oktober.
Der Vierzehnte war ein Tag, der uns in jeder Hinsicht sehr
unglücklich gemacht hat. Bis dahin hatten Stadt und Land schon
viel von dem preußischen Heere zu leiden, das sich in seiner ganzen
Ausdehnung hineingelegt und uns schon ausgehungert hatte. Am
Vierzehnten, diesem Schreckenstage, hörten wir vom Morgengrauen
an Kanonenschüsse. Bis Mittag empfingen wir die besten Bot—
schaften; von da an wurden sie jedoch immer schlechter. Wir sahen
glüchtlinge vorbeiziehen, und Einwohner der nahen Dörfer stürzten
herein und kündigten die nahe Ankunft der Franzosen an. Sie
können sich vorstellen, daß unsere Cage keine liebliche war. Die
Zahl der Fliehenden nahm beträchtlich zu, und endlich, zwischen vier
und fünf, zogen die Franzosen in die Stadt ein; man kämpfte auch
hier noch, und es wurden sogar Kanonen abgeschossen. Viele Per—
sonen kamen ins Schloß, um darin Schutz zu suchen. Der General
Rapp kam an, der sich sehr grobianisch betrug, und einige Augen—
blicke später der General Murat, den ich bat, die Stadt zu ver—
schonen; er antwortete mir, das habe er sich schon vorgenommen
gehabt. Die Nacht brach ein, und nun begann die Plünderung, bei
der nur sehr wenige der Einwohner verschont blieben; man erlaubte
sich die abscheulichsten Ausschreitungen. Ein Haus gegenüber dem
Schlosse wurde angezündet, das Feuer verzehrte fünf Häuser; der
Umstand, daß kein Lüftchen ging, rettete das übrige. Die Bürger
wagten sich vor Angst nicht aus den Häusern. Ich schrieb dem
Fürsten Murat ein Billett und bat ihn, das Feuer löschen zu lassen
und der Plünderung Einhalt zu gebieten, aber es half nichts; am
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nächsten Tage beklagte er sich noch bei mir, daß man die Soldaten
beschuldige, das Feuer angelegt zu haben. Sicher ist jedoch, daß
man noch mehrere Tage in manchen Häusern Pulver und Kar—
tuschen herumliegen fand. In der Stadt wie im Schlosse hatte
niemand etwas zu essen. Während 24 Stunden hatte ich kein Brot
und kaum ein paar Kartoffeln. Auch die KNüche hatte man geplündert.
Kurz, wir haben viel VNot gelitten.
Am anderen Tage gegen Abend kam der Kaiser an. Ich empfing
ihn, er behandelte mich sehr unhöflich. Ich begleitete ihn zu seinen
Zimmern; dort angekommen, machte er mir eine Verbeugung und ließ
mich stehen. Am folgenden Tage, vormittags, bat ich um eine Unter⸗
redung. Er empfing mich sehr streng und sagte mir viel Hartes
gegen mich und gegen den Herzog. Ich antwortete ihm freimütig
und suchte mich, so gut ich konnte, herauszuziehen. Er drohte viel,
sprach von den Fehlern, die wir gegen ihn begangen usw. Ich
tat mein Bestes, ihm zu beweisen, daß der Herzog gänzlich dem
Beispiele des Kurfürsten von Sachsen gefolgt sei und sich immer
vorgenommen habe, bei dieser Gelegenheit wie der Kurfürst zu
handeln. Endlich besänftigte ich ihn, und er wurde ein wenig
höflicher. Abends stattete er mir einen Besuch ab und blieb lange
bei mir, unterließ jedoch nicht, gegen den Herzog bittern Spott zu
schleudern. Ich gab mir Mühe, mich nicht aus der Fassung bringen
zu lassen. Wir haben noch viel zu fürchten und wenig zu hoffen;
ich fürchte sehr für unseren künftigen Bestand. Der UKaiser forderte,
daß der Herzog sofort den preußischen Dienst verlasse; seitdem sucht
man ihn, und es ist bisher noch nicht gelungen, ihn und sein Uorps
zu finden. Er ist seit dem Tage der Schlacht, an der er nicht teil—
nahm, vom Hauptheere getrennt, und seitdem weiß man nicht genau,
wohin er sich gewandt hat. Sie können sich denken, daß dies meine
Angst und Verlegenheit noch vermehrt.
Ich hatte auch die größte Unruhe um Bernhard, der als Frei—
williger im Heere des Prinzen Hohenlohe diente; aber zu meinem
Glück habe ich von ihm gute Nachrichten. Ich sah ihn eine Viertel⸗
stunde am Tage der Schlacht, an der er teilnahm, und wo er sich
glücklicherweise gut geführt hat, indem er dem heftigsten Feuer aus—
gesetzt war und dabei die beste Haltung bewahrt hat. Er kam
während der Flucht auf einen Augenblick, hatte die bestmögliche
Haltung und zeigte viel Mitleid für die armen Verwundeten. Der
Junge hat mir wirklich große Befriedigung gegeben; möge Gott
ihn erhalten und ihn immer seines Namens würdig sein lassen!
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Herr v. Hintzenstern hat ihn nach Stralsund zu seinen Verwandten
gebracht, daß er sich dort von allen Strapazen ausruhe.
Meine Schwiegertochter ist am Elften nach Berlin gereist, und
offenbar ist sie jetzt unterwegs nach Rußland. Die Herzogin (Amalie)
reiste am Vierzehnten nach Braunschweig; dort ist sie jedoch nicht
gewesen, sondern in Göttingen und Kassel; ich hatte ihr Karoline
mitgegeben, weil ich sie lieber von hier fort haben wollte, da ich
nicht wußte, welche Wendung das hier nähme. Auch Karl ist an
jenem Tage abgereist, weil das Volk hier es wünschte, aber er wird
auch wiederkommen.
Man hat uns alle Pferde weggenommen, die Kutschen sind verdor⸗
ben. Mit einem Worte: wenn ich das nächste Mal ausfahre, geschieht
es mit den Pferden des Herrn Voigt, der die seinigen behalten hat.
Der arme Park hat sehr gelitten. Die Franzosen haben sich
einen Spaß daraus gemacht, an dem großen Wege, der zum Römischen
Hause führt, eine Anzahl Bäume abzuschlagen, und einige Partien
sind ganz ruiniert. Das Innere dieses Hauses hat auch äußerst
gelitten. Diese Nation hat im allgemeinen einen Zerstörungsgeist;
es ist enorm, was sie aus bloßem Spaß am Zerstören ruiniert
haben. Seit ich in der Nähe sehe, wie dieses Heer organisiert ist,
verstehe ich seine Erfolge; nur eine ebenso organisierte Armee könnte
es besiegen.
22. Die Belagerung von Kolberg.
Aus Nettelbecks wundersamer Lebensgeschichte.
Als Magdeburg und Stettin, die beiden Herzen des Staates,
gefallen waren und die ungestüme französische Windsbraut sich
immer näher und drohender gegen die Weichsel heranzog, da ließ
sich's freilich wohl voraussehen, daß bald genug auch die Feste
Kolberg an die Reihe kommen würde.
Kaum war Stettin übergegangen, so machte sich von dorther,
aus einer Entfernung von sechzehn Meilen, ein französischer Offizier
als Parlamentär auf den Weg und erschien bei uns in Kolberg,
um die Festung zur Übergabe aufzufordern. Darauf erfolgte zwar
eine abschlägige Antwort, allein es ist wohl sehr gewiß, daß der
Franzose, anstatt allein zu kommen, nur einige wenige Hunderte
zur Begleitung hätte haben dürfen, um in diesem Ausenblicke
unaufgehalten zu unseren Toren einzuziehen.
Seit undenklicher Zeit war für die Unterhaltung der Festung
so gut wie gar nichts getan worden. Wall und Graben verfallen,
43
von Palisaden keine Spur. Nur drei Kanonen standen in der
Bastion Pommern auf Cafetten und dienten allein zu Lärmschüssen.
Alles übrige Geschütz lag am Boden, hoch vom Grase überwachsen,
und die dazu gehörigen Lafetten vermoderten in den Remisen.
Rechnet man hierzu die unzureichende Zahl der Verteidiger, sowie
ihre unkriegerische Haltung, die allgemeine Entmutigung, so be—⸗
haupte ich sicherlich nicht zuviel, wenn ich meine, daß ein rascher
kecker Anlauf in jenen ersten Tagen mehr als hinreichend gewesen
wäre, den Kommandanten in seinen eigenen Gedanken zu ent—
schuldigen, daß er keinen ernstlichen Widerstand gewagt habe.
Dieser Kommandant war damals der Oberst v. Coucadou, ein
alter, abgestumpfter Mann, der seit dem bayrischen Erbfolgekriege,
wo er ein Blockhaus gegen die Üsterreicher mutig verteidigt hatte,
zu dem Rufe gekommen war, ein besonders tüchtiger Offizier zu
sein. Gegenwärtig war der Geist verflogen oder hing noch so
blind an dem alten Herkommen, daß er sich in der neuen Feit und
Welt gar nicht zurechtfinden konnte. Das war nun ein großes
Unglück für den Platz, und ein Jammer für alle, welche die
dringende Gefahr im Anzuge erblickten.
Ich entschloß mich also in Gottes Namen und der winter—
lichen Jahreszeit zum Trotz, zu Schiff unsern guten, unglücklichen,
so schlecht bedienten König unmittelbar selbst in Königsberg, Memel
oder wo ich ihn finden würde, aufzusuchen und ihm Kolbergs Cage
und Not vorzustellen. Gerade in diesem Augenblicke traf der Uriegs⸗
rat Wisseling von Treptow in Kolberg ein. Er war mein Freund,
und es tat mir wohl, alle meine Klagen, Sorgen und Bedenken
in sein redliches Herz auszuschütten. Er mißbilligte mein Wage—
stück, setzte aber sogleich auch hinzu: „Ich übernehme es, mich selbst
zu Cande zum Könige zu begeben. So Gott will, wird es uns
gelingen, dem Könige den Platz zu retten.“
Durch seine Vermittelung beim König erhielten wir nicht nur
ganze Heerden Schlachtvieh, lange Reihen von Getreidewagen, Heu
und Stroh in reichem Überflusse, sondern auch einen Vizekomman—
danten, und bald darauf den Major von Gneisenau als neuen
Kommandanten. Ein freudiges Erschrecken fuhr mir durch alle
Glieder, als ich den jungen, rüstigen Mann von edler Haltung zum
erstenmal erblickte, und Tränen stürzten mir aus den alten Augen.
Zugleich zitterten mir die Unie, ich fiel vor unserem neuen Schutz—
geiste nieder, umklammerte ihn und rief aus: „Ich bitte Sie um
Gotteswillen, verlassen Sie uns nicht; wir wollen Sie auch nicht
verlassen, solange wir noch einen warmen Blutstropfen in uns
haben, sollten auch all unsere Häuser zu Schutthaufen werden! So
denke ich nicht allein, in uns allen lebt nur ein Sinn und Gedanke
Die Stadt darf und soll dem Feinde nicht übergeben werden!“
Der Kommandant hob mich freundlich auf und tröstete mich:
„Nein, Kinderl Ich werde Euch nicht verlassen, Gott wird uns
helfen!“ —
Alles, was von Anbeginn der Belagerung bis jetzt vom Feinde
unternommen worden, mochte nur als ein leichtes Vorspiel von
demjenigen gelten, wozu die dritte Morgenstunde des 1. Juli die
Cosung gab. Denn da eröffnete er aus allen seinen zahlreichen
Batterien ein Feuer gegen die Stadt, so ununterbrochen, so von
allen Seiten kreuzend und so mörderisch und zerstörend, wie wir es
noch nie erlebt hatten. Die Erde dröhnte, und man kann sagen,
daß es war, als ob die Welt untergehen sollte.
Es ist nicht auszusprechen, wie höllenmäßig das Aufblitzen und
Donnern des Geschützes Schlag auf Schlag und Zuck auf Zuck um
uns her wütete, während auch das Feuer unserer Festung in seiner
Antwort nichts schuldig blieb. In der Cuft schwärmte es lichterloh
von Granaten und Bomben, wir sahen sie hier und da und überall
ihren lichten Bogen nach der Stadt hineinwälzen, hörten das Krachen
ihres Zerspringens, sowie das Einstürzen der Giebel und Häuser,
vernahmen den wüsten Lärm, der drinnen wogte und toste, und
waren Zeuge, wie bald hier, bald dort, wo es gezündet hatte, eine
Feuerflamme emporloderte. Von dem allen war die Nacht so hell,
als ob tausend Fackeln brennten, und das gräßliche Schauspiel schien
nicht ein Menschenwerk zu sein, sondern als ob alle Elemente gegen⸗
einander in Aufruhr geraten wären, um sich zu zerstören.
Was aber drinnen in der Stadt unter dem armen, wehrlosen
Haufen vorging, ist vollends so jammervoll, daß meine Feder nicht
vermag, es zu beschreiben. Da gab es bald nirgends ein Plätzchen
mehr, wo die zagende Menge vor dem drohenden Verderben
sich hätte bergen können. Überall zerschmetterte Gewölbe, ein—
stürzende Böden, krachende Wände und aufwirbelnde Säulen von
Dampf und Feuer. Überall die Gassen wimmelnd von ratlos um—
herirrenden Flüchtlingen, die ihr Eigentum preisgegeben hatten,
und die unter dem Gezisch der feindlichen umherkreisenden Feuer⸗
bälle sich verfolgt sahen von Tod und Verstümmelung. Geschrei
von Wehklagenden, Geschrei von Säuglingen und Kindern, Geschrei
von Verirrten, die ihre Angehörigen in dem Gedränge und der
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allgemeinen Verwirrung verloren hatten, Geschrei der Menschen,
die mit Löschung der Flammen beschäftigt waren, Lärm der Trom—
meln, Geklirr der Waffen, Rasseln der Fuhrwerke, — nein, es ist
nicht möglich, das furchtbare Bild in seiner ganzen Lebendigkeit
auch nur annähernd zu schildern!
Indem ich in diesem allgemeinen Tumult mich veranlaßt fand,
einmal nach meinem eigenen Hause zu sehen, erwartete mich dort
ein Anblick, der auch nicht dazu geeignet war, mich sonderlich zu
erfreuen. Eine Bombe war, durch den Giebel einschlagend, durch
zwei Böden bis in den Keller hinabgefahren und hatte, da sie dort
platzte, sieben Orhoft voll Branntwein zersprengt, deren Inhalt
nun gänzlich für mich verloren ging. Außerdem waren überall im
hause die größten Verwüstungen angerichtet; die ganze Eingangs—
flur war aufgerissen und ebensowenig irgendeine Fensterscheibe, als
ein Fiegel auf dem Dache unbeschädigt geblieben. All meine Ceute
hatten, wie leicht begreiflich, das Weite gesucht, und so stand es
nicht bloß bei mir, sondern auch links und rechts und in vielen
Nachbarhäusern.
Mit wenig verminderter Stärke hielt den ganzen Cag des
. Juli das Bombardement an und häufte Verwüstung auf Ver—
wüstung. Dennoch waren unsere Löschanstalten wirksam genug,
um immer noch des Feuers Meister zu bleiben.
So von Schrecken umgeben und auf noch Schrecklicheres gefaßt,
sahen wir der nächsten Nacht entgegen. Das feindliche Geschütz
vereinigte sich zu neuen, noch höheren Anstrengungen, und seine zer—
störenden Wirkungen im anhaltenden Geprassel einstürzender Häuser,
fallender Ziegel und klirrender Fensterscheiben betäubten das Ohr.
Alle jammervollen Szenen der vorigen VNacht erneuerten sich in
noch weiterem Umfange. Mitten in der Nacht schlug eine Bombe
ins Rathaus, das die Stadtarchive und viele andere wertvolle Sachen
barg, und steckte es in Brand. Die Löschanstalten konnten das
brennende Gebäude nicht retten, vermochten jedoch dem Feuer ein
Fiel zu setzen.
Der Morgen des 2. Juli brach an, aber auch das feindliche
Bombardement schien mit dem Morgen wieder neue Kräfte zu ge—
winnen. VNot und Elend, Jammergeschrei und Auftritte der blutigsten
Art, einstürzende Gebäude und prasselnde Flammen: das war fast
das einzige, was bei jedem Schritte den entsetzten Sinnen sich dar—
stellte. Um neun Uhr morgens, während noch das Rathaus loderte,
geriet, durch eine andere Bombe entzündet, auch das Gebäude des
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Stadthofes in Flammen. Man mußte brennen lassen, was brennen
wollte.
Es war drei Uhr nachmittags. — Da plötzlich schwieg das
feindliche Geschütz auf allen Batterien; auf das Krachen eines
Donners, wie am Tage des Weltgerichtes, folgte eine lange, öde
Stille. Jeder Atem bei uns stockte, niemand begriff diesen schnellen
Wechsel, dies schauerliche Erstarren so gewaltiger losgelassener
Kräfte.
Da nahte ein feindlicher Parlamentär, und neben ihm ein
Mann, den man als einen bekannten preußischen Offizier erkannte.
Das erste Wort, als er sich fast atemlos in den Kreis seiner Be⸗
kannten stürzte, war der Ausruf: „Friedel Kolberg ist gerettet!“
O des Freudenbotenl O der willkommenen Botschaft! Also—
gleich ward die fröhliche Kunde den Bürgern durch die ganze Stadt
unter Crommelschlag bekannt gemacht, samt der Ermahnung, nun—
mehr mit verdoppelter Tätigkeit zur Löschung der immer noch
brennenden Gebäude zu eilen. Es geschah, und die Flammen
waren nach wenigen Stunden bezwungen. Poachim Nettelbeck.
23. Königin Cuise an ihren Vater
im Frühling 1809.
Bester Vater!
Mit uns ist es aus, wenn auch nicht für immer, doch für jetzt.
Für mein Leben hoffe ich nichts mehr. Ich habe mich ergeben,
und in dieser Ergebung, in dieser Fügung des Himmels bin ich
jetzt ruhig, und in solcher Ruhe, wenn auch nicht irdisch glücklich,
doch, was mehr sagen will, geistig glückselig.
Es wird mir immer klarer, daß alles so kommen mußte, wie
es gekommen ist. Die göttliche Vorsehung leitet unverkennbar neue
Weltzustände ein, und es soll eine andere Ordnung der Dinge
werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben
ʒusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Corbeeren Friedrichs
des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Feit
schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb über—
flügelt sie uns. Das sieht niemand klarer ein als der König.
Noch eben hatte ich mit ihm darüber eine lange Unterredung, und
er sagte in sich gekehrt wiederholentlich „Das muß auch bei uns
anders werden.“ Auch das Beste und Überlegteste mißlingt, und
der französische Kaiser ist wenigstens schlauer und listiger. Wenn
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die Russen und die Preußen tapfer wie die CLöwen gefochten hatten,
mußten wir, wenn auch nicht besiegt, doch das Feld räumen, und
der Feind blieb im Vorteil. Von ihm können wir vieles lernen,
und es wird nicht verloren sein, was er getan und ausgerichtet
hat. Es wäre Lästerung, zu sagen, Gott sei mit ihm, aber offen⸗
bar ist er ein Werkzeug in des Allmächtigen Hand, um das Alte,
welches kein Leben mehr hat, das aber mit den Außendingen selbst
verwachsen ist, zu begraben.
Gewiß wird es besser werden, das verbürgt der Glaube an das
vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt
durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Laiser
Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem jetzt freilich glänzenden
Thron ist. Fest und ruhig ist nur allein Wahrheit und Gerechtigkeit,
und er ist nur politisch, das heißt klug, und er richtet sich nicht
nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie nun eben
sind. Dabei befleckt er seine Regierung mit vielen Ungerechtigkeiten.
Er meint es nicht redlich mit der guten Sache und mit den Menschen.
Er und sein ungemessener Ehrgeiz meint nur sich selbst und sein
persönliches Interesse. Man muß ihn mehr bewundern, als man
hn lieben kann. Er ist von seinem Glück geblendet, und er meint
alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle Mäßigung, und wer
nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt.
Ich glaube fest an Gott, also auch an sittliche Weltordnung.
Diese sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich
in der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird.
Diese hoffen, wünschen und erwarten alle besseren Menschen, und
durch die Cobredner der jetzigen und ihres großen Helden darf man
sich nicht irremachen lassen. Ganz unverkennbar ist alles, was
geschehen ist und geschieht, nicht das letzte und gute, wie es werden
und bleiben soll, sondern nur die Bahnung des Weges zu einem
besseren Fiele hin. Dieses Fiel scheint aber in weiter Entfernung
zu liegen, wir werden es wahrscheinlich nicht erreicht sehen und
darüber hinsterben. Wie Gott will, alles, wie er will. Aber ich
finde Trost, Uraft und Mut und Heiterkeit in dieser Hoffnung die
tief in meiner Seele liegt. Ist doch alles in der Welt nur Über⸗
gang. Wir müssen durch. Sorgen wir nur dafür, daß wir mit
jedem Tage reifer und besser werden.
Hier, lieber Vater, haben Sie mein politisches Glaubensbekenntnis,
so gut ich als eine Frau es formen und zusammensetzen kann. Mag
es feine Lücken haben, ich befinde mich wohl dabei; entschuldigen
48
Sie aber, daß ich Sie damit behellige. Sie sehen wenigstens daraus,
daß Sie auch im Unglück eine fromme, ergebene Tochter haben,
und daß die Grundsätze christlicher Gottesfurcht, die ich Ihren Be—
lehrungen und Ihrem frommen Beispiel verdanke, ihre Früchte
getragen haben und tragen werden, solange Odem in mir ist.
Gern werden Sie, lieber Vater, hören, daß das Unglück, welches
uns getroffen, in unser eheliches und häusliches Leben nicht ein—
gedrungen ist, vielmehr dasselbe befestigt und uns noch werter
gemacht hat. Der König, der beste Mensch, ist gütiger und liebe—
voller als je. Oft glaube ich in ihm den Liebhaber, den Bräuti—
gam zu sehen. Mehr in Handlungen, wie er ist, als in Worten
sehe ich die Aufmerksamkeit, die er in allen Stücken für mich hat,
und noch gestern sagte er schlicht und einfach, mit seinen treuen
Augen mich ansehend, zu mir: „Du, liebe Luise, bist mir im Un—
glück noch werter und lieber geworden. Nun weiß ich aus Erfahrung,
was ich an Dir habe. Mag es draußen stürmen — wenn es in
unserer Ehe nur gut Wetter ist und bleibt. Weil ich Dich so lieb
habe, habe ich unser jüngst geborenes Töchterchen Luise genannt.
Mõge sie eine Cuise werden.“
Bis zu Tränen rührte mich diese Güte. Es ist mein Stolz,
meine Freude und mein Glück, die Liebe und Zufriedenheit des
besten Mannes zu besitzen, und weil ich ihn von Herzen wieder
liebe und wir so miteinander eins sind, daß der Wille des einen
auch der Wille des anderen ist, wird es mir leicht, dies glückliche
Einverständnis, welches mit den Jahren inniger geworden ist, zu
erhalten. Mit einem Worte, er gefällt mir in allen Stücken, und
ich gefalle ihm, und uns ist am wohlsten, wenn wir zusammen
sind. Verzeihen Sie, lieber Vater, daß ich dies mit einer gewissen
Ruhmredigkeit sage; es liegt darin der kunstlose Ausdruck meines
Glückes, welches keinem auf der Welt wärmer am Herzen liegt
als Ihnen, bester, zärtlicher Vater! Gegen andre Menschen, auch
das habe ich von dem Könige gelernt, mag ich davon nicht sprechen;
es ist genug, daß wir es wissen.
Unsre Kinder sind unsre Schätze, und unsre Augen ruhen voll
Zufriedenheit und Hoffnung auf ihnen. Der Kronprinz ist voller
Ceben und Geist. Er hat vorzügliche Talente, die glücklich entwickelt
und gebildet werden. Er ist wahr in allen seinen Empfindungen
und Worten, und seine Lebhaftigkeit macht Verstellung unmöglich.
Er lernt mit vorzüglichem Erfolge Geschichte, und das Große und
Gute zieht seinen idealistischen Sinn an sich. Für das Witzige hat
—
er viel Empfänglichkeit, und seine komischen, überraschenden Einfälle
unterhalten uns sehr angenehm. Er hängt vorzüglich an der Mutter,
und er kann nicht reiner sein als er ist. Ich habe ihn sehr lieb
und spreche oft mit ihm davon, wie es sein wird, wenn er einmal
König ist.
Unser Sohn Wilhelm (erlauben Sie, ehrwürdiger Großvater, daß
ich Ihre Enkel nach der Reihe Ihnen vorstelle) wird, wenn mich
nicht alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig.
Auch in seinem Außern hat er die meiste Ähnlichkeit mit ihm, nur
wird er, glaube ich, nicht so schön. Sie sehen, lieber Vater, ich
bin noch in meinen Mann verliebt. Unsre Tochter Charlotte macht
mir immer mehr Freude, sie ist zwar verschlossen und in sich gekehrt,
verbirgt aber, wie ihr Vater, hinter einer scheinbar kalten Hülle
ein warmes, teilnehmendes Herz. Scheinbar gleichgültig geht sie
einher, hat aber viel Liebe und Teilnahme. Daher kommt es, daß
sie etwas Vornehmes in ihrem Wesen hat. Erhält sie Gott am
Leben, so ahne ich für sie eine glänzende Zukunft. UKarl ist gut—
mütig, fröhlich, bieder und talentvoll; körperlich entwickelt er sich
ebenso gut als geistig. Er wird, ohne die Teilnahme an dem
Wohl und Wehe andrer zu verlieren, leicht und fröhlich durchs
Leben gehen. Unsre Tochter Alexandrine ist, wie Mädchen ihres
Alters und Naturells sind, anschmiegend und kindlich. Sie zeigt
eine richtige Auffassungsgabe, eine lebhafte Einbildungskraft und
kann oft herzlich lachen. Von der kleinen Luise läßt sich noch nichts
sagen. Sie hat das Profil ihres redlichen Vaters und die Augen
des Königs, nur etwas heller. Sie heißt Cuise; möge sie ihrer
Ahnfrau, der liebenswürdigen und frommen CLuise von Oranien,
der würdigen Gemahlin des großen Kurfürsten, ähnlich werden.
Da habe ich Ihnen, geliebter Vater, meine ganze Galerie vor—
geführt. Sie werden sagen: das ist ja eine in ihre Kinder verliebte
Mutter, die an ihnen nur Gutes sieht und für ihre Mängel und
Fehler kein Auge hat. Und in Wahrheit, böse Anlagen, die für
die Zukunft besorgt machen, finde ich an allen nicht. Sie haben,
wie andre Menschenkinder, auch ihre Unarten, aber diese verlieren
sich mit der Feit, sowie sie verständiger werden. Umstände und
Verhältnisse erziehen den Menschen, und für unsre Uinder mag es
gut sein, daß sie die ernste Seite des Lebens schon in ihrer Jugend
kennen lernen. Wären sie im Schoße des Überflusses und der Be—
quemlichkeit groß geworden, so würden sie meinen, das müsse so
sein. Daß es aber anders kommen kann, sehen sie an dem ernsten
Weimar. Cesebuch U, 2.
T
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Angesicht ihres Vaters und an der Wehmut und den öfteren Tränen
der Mutter. Besonders wohltätig ist es dem Kronprinzen, daß er
das Unglück schon als Kronprinz kennen lernt; er wird das Glück,
wenn, wie ich hoffe, künftig für ihn eine bessere Zeit kommen wird,
um so höher schätzen und um so sorgfältiger benehmen. Meine
Sorgfalt ist meinen Kindern gewidmet für und für, und ich bitte
Gott täglich in meinem sie einschließenden Gebete, daß er sie segne
und seinen guten Geist nicht von ihnen nehmen möge. Erhält
Gott sie uns, so erhält er meine besten Schätze, die niemand mir
entreißen kann. Es mag kommen, was da will, mit und in der
Vereinigung mit unsern guten Kindern werden wir glückselig sein.
Ich schreibe Ihnen dies, geliebter Vater, damit Sie mit Be—
ruhigung an uns denken. Ihrem freundlichen Andenken empfehle
ich meinen Mann, auch unsre Kinder alle, die dem ehrwürdigen
Großvater die Hände küssen, und ich bin und ich bleibe, bester Vater,
Ihre dankbare Tochter
Cuise.
24. Andreas Hofer.
Zu Mantua in Banden
der treue Hofer war,
in Mantua zum Tode
führt' ihn der Feinde Schar;
es blutete der Brüder Herz,
ganz Deutschland, achl in Schmach und Schmerz!
mit ihm das Land Tirol!
Die Hände auf dem Rücken
Andreas Hofer ging
mit ruhig festen Schritten,
ihm schien der Tod gering,
der Tod, den er so manchesmal
vom lIselberg geschickt ins Tal
im heil'gen Land Tirol.
Doch als aus Kerkergittern
im festen Mantua
die treuen Waffenbrũder
die Händ' er strecken sah,
da rief er laut: „Gott sei mit euch,
mit dem verratnen Deutschen Reich
und mit dem Land Tiroll
51
Dem Tambour will der Wirbel
nicht unterm Schlegel vor,
als nun Andreas Hofer
schritt durch das finsstre Tor.
Andreas, noch in Banden frei,
dort stand er fest auf der Bastei,
der Mann vom Land Tirol.
Dort soll er niederknieen;
er sprach: „Das tu' ich nit!
Will sssterben, wie ich stehe,
will sterben, wie ich stritt,
so wie ich steh' auf dieser Schanz.
Es leb' mein guter Kaiser Franz,
mit ihm das Land Tiroll
Und von der Hand die Binde
nimmt ihm der Korporal;
Andreas Hofer betet
allhier zum letztenmal;
dann ruft er: „Nun, so trefft mich recht!
Gebt Feuer! — Ach, wie schießt ihr schlecht!
Ade, mein Land Tirol!“ sJulius Mosen.
25. Rückkehr der Franzosen aus RBußland.
Es war nach dem Neujahr 1813. Das scheidende Jahr hatte
dem neuen einen strengen Winter als Erbschaft zurückgelassen, aber
in Haufen standen die CLeute auch in einer mäßigen Stadt vor dem
Posthause. Glücklich, wer zuerst das Zeitungsblatt nach Hause
trug. Kurz und vorsichtig war der Bericht über die Ereignisse
dieser Tage, denn in Berlin saß der französische Militärgouverneur
und bewachte jede Üußerung der verschüchterten Presse. Dennoch
war längst die Kunde von dem Schicksal der großen Armee bis
in dle entlegenste Hütte gedrungen, zuerst dunkle Gerüchte von Vot
und Verlust, dann die Nachricht von einem ungeheuren Brande in
Moskau und den himmelhohen Flammen, die rings um den Kaiser
aus dem Boden gestiegen waren. Dann von einer Flucht durch Eis
und Wüsteneien, von Hunger und unsäglichem Elend. Vorsichtig
sprach auch das Volk darüber, denn die Franzosen lagerten nicht nur
in der Hauptstadt und den Festungen des Candes, sie hatten ihre
geheimen Helfershelfer auch in den Provinzen, Späher und verhaßte
52
Angeber, denen der Bürger aus dem Wege ging. Seit den letzten
Tagen wußte man, daß der Kaiser selbst von seinem Heer geflohen
war. In offenem Schlitten, nur einen Begleiter neben sich, war
er verhüllt, als Herzog von Vicenza, Tag und VNacht durch preußi⸗
sches Cand gefahren. Am 12. Dezember war er um acht Uhr
abends in Glogau angelangt, dort hatte er eine Stunde geruht,
und war um zehn Uhr in grimmiger Kälte aufgebrochen. Am
nächsten Morgen war er zu Hainau in der alten Burg eingefahren,
wo damals der Posthof war. Dort hatte die entschlossene Post⸗
meisterin Gramsch ihn erkannt, in ihrer Uüche mit den Löffeln ge⸗
schlagen und geschworen, ihm keinen Tee zu gönnen, sondern einen
anderen Trank zu brauen. Durch die ängstlichen Vorstellungen
ihrer Umgebung war sie endlich bis auf Kamillentee erweicht
worden, den sie mit hartem Fluch in die Uanne goß. Er hatte
doch getrunken und war weiter gejagt, auf Dresden zu. Jetzt war
er in Paris angekommen; man las in den Zeitungen, wie glück⸗
lich Paris war, wie zärtlich ihn seine Gemahlin und sein Sohn
begrüßt hatten, wie wohl sich der Kaiser befinde, und daß er be⸗
reils am 27. Dezember die schöne Oper „Das befreite Jerusalem“
angehört habe. Und man las weiter, daß die große Armee trotz
Ungunst der Jahreszeit doch noch in furchtbaren Massen über
Preußen zurückkehren solle, und daß der Kaiser von neuem rüste.
Aber man las auch von der Untersuchung gegen General Mallet.
Und man wußte, wie frech sich die Lüge in den französischen Fei⸗
tungen breitete.
Man sah, was von der großen Armee übrig war. In den
ersten Tagen des Jahres fielen die Schneeflocken; weiß wie ein
Ceichentuch war die Candschaft. Da bewegte sich ein langsamer
Zug gerãäuschlos auf der CLandstraße zu den ersten Häusern der
Vorstadt. Das waren die rückkehrenden Franzosen. Sie waren vor
einem Jahre der aufgehenden Sonne zugezogen mit Trompetenklang
und Trommelgerassel, in kriegerischem Glanz und empörendem
übermut. Endlos waren die Truppenzüge gewesen, Tag für Tag
ohne Aufhören hatte sich die Masse durch die Straßen der Stadt
gewälzt, nie hatten die Ceute ein so ungeheures Heer gesehen, alle
Hölker Europas, jede Art von Uniformen, Hunderte von Generälen.
Die Riesenmacht des Kaisers war tief in die Seelen gedrückt, das
militärische Schauspiel mit seinem Gepränge und seinen Schrecken füllte
noch die Phantasie. Aber auch die unbestimmte Erwartung eines
furchtbaren Verhängnisses. Einen Monat hatte der endlose Durch⸗
53
zug gedauert, wie Heuschrecken hatten die Fremden von Kolberg bis
Breslau das Cand aufgezehrt. Denn schon im Jahre 1811 war
eine Mißernte gewesen, kaum hatten die Landleute Samenhafer
erspart, den fraßen 1812 die französischen Uriegspferde, sie fraßen
den letzten Halm Heu, das letzte Bund Stroh, die Dörfer mußten
das Schock Häckselstroh mit sechzehn Talern, den Zentner Heu mit
zwei Talern bezahlen. Und gröblich, wie die Tiere, verzehrten
die Menschen. Vom Marschall bis zum gemeinen Franzosen waren
sie nicht zu sättigen. König Hieronymus hatte in Glogau, keiner
großen Stadt, täglich vierhundert Taler zu seinem Unterhalt er—
preßt, der Herzog von Abrantes vier Wochen lang täglich fünf—
undsiebzig Taler. Die Offiziere hatten von der Frau des armen
Dorfgeistlichen gefordert, daß sie ihnen die Schinken in Rotwein
koche; den fettesten Rahm tranken sie aus Krügen und gossen Fimt—
essenz darüber, auch der Gemeine bis zum Trommler hatte getobt,
wenn er des Mittags nicht zwei Gänge erhielt, wie Wahnsinnige
hatten sie gegessen. Aber schon damals ahnte das Volk, daß die
Frevelhaften so nicht zurückkehren würden. Und die Franzosen
fagten das selbst. Wenn sie sonst mit ihrem Kaiser in den Krieg
gezogen waren, hatten ihre Rosse gewiehert, so oft sie aus dem
Stall geführt wurden, damals hingen sie traurig die Köpfe; sonst
waren die Krähen und Raben dem Heere des Uaisers entgegen—
geflogen, damals begleiteten die Vögel der Walstatt das Heer nach
Osten, ihren Fraß erwartend.
Aber was jetzt zurückkehrte, das kam kläglicher, als einer im
Volk geträumt hatte. Es war eine Herde armer Sünder, die ihren
letzten Gang angetreten hatten, es waren wandelnde Leichen. Un—
geordnete Haufen aus allen Truppengattungen und Nationen zu—
sammengesetzt, ohne Kommandoruf und Trommel, lautlos wie ein
Totenzug nahten sie der Stadt. Alle waren unbewaffnet, keiner
beritten, keiner in vollständiger Montur, die Bekleidung zerlumpt
und unsauber, aus den Kleidungsstücken der Bauern und ihrer
Frauen ergänzt. Was jeder gefunden, hatte er an Kopf und
Sschultern gehängt, um eine Hülle gegen die markzerstörende Kälte
zu haben: alte Säcke, zerrissene Pferdedecken, Teppiche, Schals, frisch
abgezogene Häute von Katzen und Hunden; man sah Grenadiere
in großen Schafpelzen, Kürassiere, die Weiberröcke von buntem
Fries wie spanische Mäntel trugen. Nur wenige hatten Helm und
Tschako, jede Art Kopftracht, bunte und weiße Nachtmützen, wie
sie der Bauer trug, tief in das Gesicht gezogen, ein Tuch oder ein
54
Stück Pelz zum Schutz der Ohren darübergeknüpft, Tücher auch
über den untern Teil des Gesichts. Und doch waren der Mehr—
zahl Ohren und Nasen erfroren und feuerrot, erloschen lagen die
dunklen Augen in ihren Höhlen. Selten trug einer Schuh oder
Stiefel; glücklich war, wer in Filzsocken oder in weiten Pelzschuhen
den elenden Marsch machen konnte; vielen waren die Füße mit
Stroh umwickelt, mit Decken, CLappen, dem Fell der Tornister oder
dem Filz von alten Hüten. Alle wankten auf Stöcke gestützt, lahm
und hinkend. Auch die Garden unterschieden sich von den übrigen
wenigs, ihre Mäntel waren verbrannt, nur die Bärenmützen gaben
ihnen noch ein militärisches Ansehen. So schlichen sie daher, Offi—
ziere und Soldaten durcheinander, mit gesenktem Haupt, in dumpfer
Betäubung. Alle waren durch Hunger und Frost und unsägliches
Elend zu Schreckensgestalten geworden.
Tag für Tag kamen sie jetzt auf der Candstraße heran, mei—
stens sobald die Abenddämmerung und der eisige Winternebel
über den Häusern lag. Dämonisch erschien das lautlose Erscheinen
der schrecklichen Gestalten, entsetzlich die Ceiden, welche sie mit sich
brachten; die Kälte in ihren Leibern sei nicht fortzubringen, ihr
Hunger sei nicht zu stillen, behauptete das Volk. Wurden sie in
ein warmes Fimmer geführt, so drängten sie mit Gewalt an den
heißen Ofen, als wollten sie hineinkriechen, vergebens mühten sich
mitleidige Hausfrauen, sie von der verderblichen Glut zurückzuhalten.
Gierig verschlangen sie das trockene Brot, einzelne vermochten nicht
aufzuhören, bis sie starben. Bis nach der Schlacht bei Leipzig
lebte im Volke der Glaube, daß sie vom Himmel mit ewigem
Hunger gestraft seien. Noch dort geschah es, daß Gefangene in
der Nähe ihres Lazaretts sich die Stücke toter Pferde brieten, ob⸗—
gleich sie bereits regelmäßige CLazarettkost erhielten; noch damals
behaupteten die Bürger, das sei ein Hunger von Gott, einst hätten
sie die schönsten Weizengarben ins Cagerfeuer geworfen, hätten
gutes Brot ausgehöhlt, verunreinigt und auf dem Boden gekollert,
jetzt seien sie verdammt, durch keine Menschenkost gesättigt zu werden.
Überall in den Städten der Heerstraße wurden für die Heim⸗
kehrenden Siechhäuser eingerichtet, und sogleich waren alle Uranken—
stuben überfüllt, giftige Fieber verzehrten dort die letzte Cebenskraft
der Unglücklichen. Ungezählt sind die Ceichen, welche herausgetragen
wurden, auch der Bürger mochte sich hüten, daß die Ansteckung
nicht in sein Haus drang. Wer von den Fremden vermochte, schlich
deshalb nach notdürftiger Ruhe, müde und hoffnungslos der Heimat
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zu. Die Buben auf der Straße aber sangen: „Ritter ohne Schwert,
Reiter ohne Pferd, Flüchtling ohne Schuh, nirgend Rast und Ruh.
So hat sie Gott geschlagen, mit Mann und Roß und Wagen“,
und hinter den Flüchtlingen gellte der höhnende Ruf: „Die Kosaken
sind dal“ Dann kam in die flüchtige Masse eine Bewegung des
Schreckens, und schneller wankten sie zum Tore hinaus.
Gustav Freytag.
26. Das Mantellied.
Schier dreißig Jahre bist du alt,
hast manchen Sturm erlebt,
hast mich wie ein Bruder beschützet,
und wenn die Kanonen geblitzet,
wir beide haben niemals gebebt.
Wir lagen manche liebe Nacht
durchnäßt bis auf die Haut;
du allein, du hast mich erwärmet,
und was mein Herze hat gehärmet,
das hab' ich dir, Mantel, vertraut.
Geplaudert hast du nimmermehr,
du warst mir still und treu,
du warst getreu in allen Stücken;
drum laß ich dich auch nicht mehr flicken,
du, Alter, würdest sonst neu.
Und mögen sie mich verspotten,
du bleibst mir teuer doch;
denn wo die Fetzen runterhangen,
sind die Kugeln hindurch gegangen,
jede Kugel, die macht ein Coch.
Und wenn die letzte Uugel kommt
ins preuß'sche Herz hinein,
lieber Mantel, lasse dich mit mir begraben,
weiter will ich von dir nichts mehr haben,
in dich hüllen sie mich ein.
Da liegen wir zwei beide
bis zum Appell im Grabl
Der Appell, der macht alles lebendig,
da ist es denn auch ganz notwendig,
daß ich meinen Mantel hab'! Rarl v. Bollei.
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27. Theodor KRörner an seinen Vater.
Wien, am 10. März 1813.
Cieber Vater!
Ich schreibe Dir diesmal in einer Angelegenheit, die, wie ich
das feste Vertrauen zu Dir habe, Dich weder befremden noch
erschrecken wird. Neulich schon gab ich Dir einen Wink über mein
Vorhaben, das jetzt zur Reife gediehen ist. Deutschland steht auf;
der preußische Adler erweckt in allen treuen Herzen durch seine
kühnen Flügelschläge die große Hoffnung einer deutschen, wenigstens
norddeutschen Freiheit. Meine Kunst seufzt nach ihrem Vaterlande,
— laß mich ihr würdiger Jünger sein!
Ja, liebster Vater, ich will Soldat werden, will das hier
gewonnene glückliche und sorgenfreie Leben mit Freuden hinwerfen,
um, sei's auch mit meinem Blute, mir ein Vaterland zu erkämpfen.
Nenn's nicht Übermut, Leichtsinn, Wildheit! Vor zwei Jahren
hätte ich es so nennen lassen; jetzt, da ich weiß, welche Seligkeit
in diesem Leben reifen kann, jetzt, da alle Sterne meines Glücks
in schöner Milde auf mich niederleuchten, jetzt ist es bei Gott ein
würdiges Gefühl, das mich treibt, jetzt ist es die mächtige Über—
zeugung, daß kein Opfer zu groß sei für das höchste menschliche
Gut, für seines Volkes Freiheit. Vielleicht sagt Dein bestochenes
väterliches Herz: Theodor ist zu größeren Zwecken da, er hätte auf
einem andern Felde Wichtigeres und Bedeutendes leisten können,
er ist der Menschheit noch ein großes Pfund zu berechnen schuldig.
Aber, Vater, meine Meinung ist die: Zum Opfertode für die Frei⸗
heit und für die Ehre seiner Nation ist keiner zu gut, wohl aber
sind viele zu schlecht dazu! Hat mir Gott wirklich etwas mehr
als gewöhnlichen Geist eingehaucht, der unter Deiner Pflege denken
lernte, wo ist der Augenblick, wo ich ihn mehr geltend machen
kann? Eine große Zeit will große Herzen, und fühl' ich die Kraft
in mir, eine Klippe sein zu können in dieser Völkerbrandung, ich
muß hinaus und dem Wogensturm die mutige Brust entgegendrücken.
Soll ich in feiger Begeisterung meinen siegenden Brüdern meinen
Jubel nachleiern ? Soll ich Komödien schreiben auf dem Spott—
theater, wenn ich den Mut und die Uraft mir zutraue, auf dem
Theater des Ernstes mitzusprechend Ich weiß, Du wirst manche
Unruhe erleiden müssen, die Mutter wird weinen! Gott tröste siel
Ich kann's Euch nicht ersparen. Des Glückes Schoßkind rühmt
ich mich bis jetzt, es wird mich jetzo nicht verlassen. — Daß ich
mein Leben wage, das gilt nicht viel; daß aber dies CLeben mit
allen Blütenkränzen der Liebe, der Freundschaft, der Freude geschmückt
ist, und daß ich es doch wage, daß ich die süße Empfindung hin—
werfe, die mir in der Überzeugung lebte, Euch keine Unruhe, keine
Angst zu bereiten, das ist ein Opfer, dem nur ein solcher Preis
entgegengestellt werden darf. — Sonnabend oder Montag reise ich
von hier ab, wahrscheinlich in freundlicher Gesellschaft, vielleicht
schickt mich auch Humboldt als Uurier. In Breslau, als dem
Sammelplatze, treffe ich zu den freien Söhnen Preußens, die in
schöner Begeisterung sich zu den Fahnen ihres Königs gesammelt
haben. Ob zu Fuß oder zu Pferd, darüber bin ich noch nicht
entschieden; es kommt einzig auf die Summe Geldes an, die ich
zusammenbringe.
Toni hat mir auch bei dieser Gelegenheit ihre große, edle Seele
bewiesen. Sie weint wohl, aber der geendigte Feldzug wird ihre
Tränen schon trocknen. Die Mutter soll mir ihren Schmerz ver—
geben; wer mich liebt, soll mich nicht verkennen, und Du wirst
mich Deiner würdig finden. Dein
Theodor.
28. Aufruf.
Frisch auf, mein Volkl Die Flammenzeichen rauchen;
hell aus dem Vorden bricht der Freiheit Licht.
Du sollst den Stahl in Feindesherzen tauchen.
Frisch auf, mein Volkl — Die Flammenzeichen rauchen,
die Saat ist reif; ihr Schnitter, zaudert nicht!
Das höchste Heil, das letzte, liegt im Schwerte.
Drück dir den Speer ins treue Herz hinein!
Der Freiheit eine Gassel Wasch die Erde,
dein deutsches CLand, mit deinem Blute reinl
Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen;
es ist ein Kreuzzug, 's ist ein heil'ger Kriegl
Recht, Sitte, Tugend, Glauben und Gewissen
hat der Tyrann aus deiner Brust gerissen;
errette sie mit deiner Freiheit Siegl
Das Winseln deiner Greise ruft: „Erwachel“
Der Hütte Schutt verflucht die Räuberbrut,
die Schande deiner Töchter schreit um Rache,
der Meuchelmord der Söhne schreit nach Blut.
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58
Zerbrich die Pflugschar, laß den Meißel fallen,
die Leier still, den Webstuhl ruhig stehn;
verlasse deine Höfe, deine Hallen!
Vor dessen Antlitz deine Fahnen wallen,
er will sein Volk in Waffenrüstung sehn.
Denn einen großen Altar sollst du bauen
in seiner Freiheit ew'gem Morgenrot;
mit deinem Schwert sollst du die Steine hauen!
Der Tempel gründe sich auf Heldentodl
Was weint ihr, Mädchen, warum klagt ihr, Weiber,
für die der Herr die Schwerter nicht gestählt,
wenn wir entzückt die jugendlichen Leiber
hinwerfen in die Scharen eurer Räuber,
daß euch des Nampfes kühne Wollust fehlt?
Ihr könnt ja froh zu Gottes Altar treten.
Für Wunden gab er zarte Sorgsamkeit,
gab euch in euern herzlichen Gebeten
den schönen, reinen Sieg der Frömmigkeit.
So betet, daß die alte Uraft erwache,
daß wir dastehn, das alte Volk des Siegs!
Die Märtyrer der heil'gen deutschen Sache,
o, ruft sie an als Genien der Rache,
als gute Engel des gerechten Uriegs!
Cuise, schwebe segnend um den Gatten!
Geist unsers Ferdinand, voran dem Zugl
Und all ihr deutschen, freien Heldenschatten,
mit uns, mit uns und unsrer Fahnen Flug!
Der Himmel hilft, die Hölle muß uns weichen!
Drauf, wackres Volk! Draufl ruft die Freiheit, drauf!
hoch schlägt dein Herz, hoch wachsen deine Eichen.
Was kümmern dich die Hügel deiner Leichen?
Hoch pflanze da die Freiheitsfahne auf!
Doch stehst du dann, mein Volk, bekränzt vom Glücke,
in deiner Vorzeit heil'gem Siegerglanz:
vergiß die treuen Toten nicht, und schmücke
auch unsre Urne mit dem Eichenkranz!
Theodor Körner.
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29. Lützows wilde Jagd.
Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein?
hör's näher und näher brausen.
Es zieht sich herunter in düsteren Reihn,
und gellende Hörner schallen darein
und erfüllen die Seele mit Grausen.
Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
Was zieht dort rasch durch den finstern Wald
und streift von Bergen zu Bergen?
Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt;
das Hurra jauchzt, und die Büchse knallt,
es fallen die fränkischen Schergen.
Und wenn ihr die. schwarzen Jäger fragt:
Das ist Cützows wilde, verwegene Jagd.
Wo die Reben dort glühen, dort braust der Rhein,
der Wütrich geborgen sich meinte;
da naht es schnell mit Gewitterschein
und wirft sich mit rüst'gen Armen hinein
und springt ans Ufer der Feinde.
Und wenn ihr die schwarzen Schwimmer fragt:
Das ist CLützows wilde, verwegene Jagd.
Was braust dort im Tale die laute Schlacht,
was schlagen die Schwerter zusammen?
Wildherzige Reiter schlagen die Schlacht,
und der Funke der Freiheit ist glühend erwacht
und lodert in blutigen Flammen.
Und wenn ihr die schwarzen Reiter fragt:
Das ist Cützows wilde, verwegene Jagd.
Wer scheidet dort röchelnd vom Sonnenlicht,
unter winselnde Feinde gebettet?
Es zuckt der Tod auf dem Angesicht;
doch die wackern Herzen erzittern nicht.
Das Vaterland ist ja gerettet!
Und wenn ihr die schwarzen Gefall'nen fragt:
Das war LCützows wilde, verwegene Jagd.
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Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
auf Henkersblut und Cyrannen!
Drum, die ihr uns liebt, nicht geweint und geklagt;
das Land ist ja frei, und der Morgen tagt,
wenn wir's auch nur sterbend gewannen.
Und von Enkeln zu Enkeln sei's nachgesagt:
Das war LCützows wilde, verwegene Jagd.
Theodor Körner.
30. Blücher am Rhein.
Die Heere blieben am Rheine stehn:
soll man hinein nach Frankreich gehn?
Man dachte hin und wieder nach;
allein der alte Blücher sprach:
„Generalkarte her!
Nach Frankreich gehn, ist nicht so schwer.
Wo steht der Feind?“ Der Feind? Dahier.
„Den Finger drauf, den schlagen wir!
Wo liegt Paris?“ — Paris? Dahier.
„Den Finger drauf, das nehmen wirl
Nun schlagt die Brücke übern Rhein!
Ich denke, der Champagnerwein
wird, wo er wächst, am besten sein.
Vorwärts!“ August Kopisch.
31. Dem Fürsten Blücher.
In Harren und Krieg,
in Sturz und Sieg
bewußt und groß:
So riß er uns
vom Feinde los. Goethe.
32. Die Großzmutter Karsten erzählt von
Anno 1806 und cBls.
Also es war Anno Sechs, als der Franzos im Lande rumorte
und drunten schrecklich hausen sollte; denn er hatte einen großen
Sieg erfochten und glaubte das Recht dazu zu haben. Die Ceute
fürchteten sich alle sehr, gruben ihre Löffel weg und nähten ihren
Kindern jedem ein Goldstück in den Rocksaum auf den Fall, daß
sie abhanden kämen oder mitgenommen würden. Aber mein
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Seliger tat gar nicht, als ob ihn das was anginge. „Wenn sie
kommen, sind sie da,“ sagte er, und dabei blieb er, und wenn die
Nachbarn kamen und klagten und jammerten, sagte er nur: „Ein—
mal wir, einmal siel“ Und wenn sie ihm die Ohren zu voll
schrien, zog er eine weiße Fipfelmütze, die er zu meiner Ver—
wunderung seit kurzer Zeit immer in der Tasche führte, darüber
und tat, als ob er einschliefe. Er war immer ein sonderlicher
Mann, Annchen, dein Vater.
Gut. Eines Morgens erhub sich ein Lärm: „Sie sind dal“
Heiliger Gottl mir fuhr's ordentlich in die Unie; meine Jungen
— Gott hab' sie seligl — in allen Gassen, Gott weiß wo, und
nur mein Annchen hatt' ich in der Wiege; mein Alter hatte 'mal
wieder die Zipfelmütze hervorgekriegt und übergezogen und sägte
im Hofe.
„Gottfried, Gottfriedl!“ schrie ich, „sie sind dal Sie sind dal“
Er tat, als ob er's nicht hörte, obgleich ich dicht bei ihm stand.
In meiner Angst und auch vor Arger riß ich ihm die dumme
Mütze ab, warf sie auf die Erde und schrie wieder: „Und die
Jungen sind auf der Straße — heiliger Vaterl — und unsere
Cõffell — Mannl Mannl“
Er hob ganz ruhig seine Mütze auf, klopfte die Sägespäne
an mir ab, setzte sie ruhig wieder auf und sagte: „Ja, wenn's so ist,
so werden sie wohl durchs Wassertor kommen, da her geht der Weg
von Jena.“ Ich glaube, so hieß es. Dann sägt' er weiter.
Richtig, da trommelte es schon die lange Straße vom Wasser—
tor her, herunter — mir zitterte das Herz immer mehr!
„Meister Karsten! Meister Karsten! Schnell, schnelll“ schrien
plötzlich mehrere Nachbarn, die in den Hof stürzten im besten Sonn-⸗
tagsstaat. „Ihr sollt mit zur Deputation an den französischen
Generall“
„So?!“ sagt mein Gottfried, stellte seine Säge hin und ging
langsam in das Haus, gefolgt von den Nachbarn. Alle zogen mit
meinem Alten in die Stube, weil sie dachten, er würde nun gleich
in den Bratenrock fahren und mitrennen. Aber proste Mahlzeitl
— An den Tabakskasten ging mein Alter, stopfte sich eine Pfeife,
schlug langsam Feuer und sagte: „Nun, so kommt meine Herrenl“
Die standen alle mit offenen Mäulern da, aber mein Gottfried
ließ sich nicht irremachen. In Schlafrock und Pantoffeln marschierte
er ruhig — ich sehe ihn wie heute — voran bis an die nächste
Straßenecke. Da blieb er stehen und die Nachbarn um ihn herum;
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zeigte mit der Pfeifenspitze auf einen Zettel, der da klebte, und auf
welchem stand: „Ruhe ist die erste Bürgerpflichtl“ oder so was —
ich hab's vergessen — klappte seinen Pfeifendeckel zu, drehte sich
langsam um und ging ins Haus zurück. Meine beiden Jungen
brachte er mit, worüber ich seelenfroh war. „Da, Mutter,“ sagte
er, als er sie in die Tür schob, „heb' sie mir auf, wir brauchen
sie einmal.“
Ich wußte damals nicht, was das heißen sollte; später erfuhr ich's!
Hier traten der alten Frau die Tränen in die Augen, und ihr
Spinnrad hörte auf zu schnurren. Es herrschte eine tiefe Stille
im Zimmer.
Gut. Von nun ab bekümmerte sich mein alter Seliger um
nichts mehr draußen, sondern ging wieder zu seinem Sägebock und
sägte weiter, bis die Einquartierung kam. Herr meines Lebens,
da hättet Ihr den Mann sehen sollen! Das ganze Haus kam in
Aufruhr; das Beste, was Küch' und Keller hielt, ward aufgetischt,
und je mehr die kleinen gelben Uerle schwadronierten und saker—
mentierten, desto fröhlicher wurde mein Alter.
„Das ist die rechte Sortel“ rief er immer, sich die Hände reibend.
„Solche mußten's seinl Wenn nur genug von ihnen da sindl“
Französisch hatt' er etwas von der Wanderschaft mitgebracht, und
so waren sie bald die besten Freunde miteinander und auf du und
du, daß die Nachbarn ordentlich die Nasen rümpften. Die aber
gingen zu allen Deputationen und illuminierten und bekränzten ihre
häuser und so — das tat aber mein Gottfried nicht, und wenn
er einen vom Rat der Stadt sah, zog er jedesmal richtig die
Zipfelmütze herunter über die Ohren. Gut, da war ein Franzos
zwischen den andern, der war von daher, wo sie halb deutsch, halb
französisch sprechen, den konnt' ich auch verstehen, und es war so
gut, als wenn ich französisch gekonnt hätte. Was geschieht? Eines
Abends sitzen sie alle zusammen, und mein Alter mitten drinnen,
und kauderwelschen, daß einem Hören und Sehen verging, und saß
ich im Winkel und strickte, und die Jungen spielten im Winkel.
Spricht mein Alter auf einmal zu dem Deutschfranzos: „Nun sagt
mal, Kamerad, wie lange denkt Ihr denn eigentlich noch in Deutsch⸗
land zu bleiben?“
Der Deutschfranzos stieß mit den andern den Kopf zusammen,
und sie schnatterten was in ihrer Sprache. Dann lachten sie aus
vollem Halse. „Immer bleiben wir dal“ sagte der Deutschfranzos.
„Wir sein einmal da; wir gehen nit raus wiederl“
63
„Noui!“ schrien die andern und hielten sich die Bäuche, „nit
rausl nit raus!“
„Nee,“ sagt mein Alter, „immer nicht. Ihr seid zwar da,
und unsereins kann unserm Herrgott nur dankbar sein, daß er Euch
geschickt hat, aber immer — „Vit rausl nit raus!“ schrien die Fran⸗
zosen. „Lasset mit Euch handeln!“ sagt mein Alter, „ich biete zwölf
Jahr — höchstens!“ — ,Nit raus! nit raus!“ kauderwelschten die
wieder. „Wilhelm! Cudwigl kommt mal her!“ rief mein Alter jetzt
die Jungen, die sogleich angesprungen kamen und sich an seine Unie
stellten. „Richt't Euchl“ rief mein Alter. „Augen rechts! Seht
mal, Jungens, die da, — das sind Franzosen, die eigentlich hier
nicht in unsere Stube gehören. Das kleine Annchen kann gar nicht
schlafen vor ihrem Spektakel — und doch haben sie Cust, immer
da zu bleiben! Was meint ihr, Jungens — wenn ihr stark
genug wäret ?“
Guckten meine Jungen gewaltig wunderbar aus den Augen
und die Franzmänner an, und dann sich und dann meinen Alten!
— „Das sich finden — ich groß werden — ich schon Pustebacks
Theodor zwinge“, sagte Wilhelm, mein Kleinster. Cudwig, mein
Ültester, sagte gar nichts, aber auf einmal rann ihm eine dicke
Trãäne über die Backe, und sein Vater klopfte ihn auf die Schulter
und sagte: „Warte nur, mein Junge, du kommst zuerst.“
Die Franzosen hatten ihren Heidenjubel; und besonders einer,
sie nannten ihn Piär oder so, wußte sich gar nicht zu helfen vor
Cachen. Mein Alter aber war sehr ernst geworden und sprach
den ganzen Abend kein Wort mehr. Die andre Woche zogen die
Franzmänner ab und lachten noch beim Abschied, als sie uns allen
die Hände drückten und ordentlich sich bedankten für gute Bewirtung.
„Vit rausl nit raus!“
„Wird sich finden!“ sagte mein Alter. „Wird sich finden!“
schrien meine beiden Jungen.
Gut, nun kamen lange Jahre und immer andre Franzosen.
„Bald ist's genug“, brummte mein Gottfried. Und einmal
zogen sie alle hinauf nach Norden, aber zurück kam keiner. Und
dann fing's auf einmal an zu rumoren im Cande, und an den
Ecken klebten ganz andre Zettel, die mein Alter immer las
und wobei er mit dem Kopfe nickte. Er war die Zeit nicht viel
zu Haus.
Da kam er eines Tages zurück und rief den Cudwig aus der
Werkstatt, und sie kamen beide in die Küche zu mir.
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„Sieh, Mutter,“ sagte mein Gottfried, „'s ist gut, daß dein
Feuer brennt! Paß auf, Cudchen!“ Damit zog mein Alter seine
Zipfelmütze aus der Tasche und warf sie unter meinen Topf, daß
sie verschwielte und das ganze Haus voll Qualm ward; dann ging
er mit meinem Cudwig fort und kam allein und ganz still wieder.
Am andern Morgen zog ein Trupp schwarzer Reiter in die Stadt
— auch durch das Wassertor. Einer kam zu Pferd hier in die
Sperlingsgasse vor unser Haus und stieg ab — mir sank das Herz
in die Unie — es war mein Cudwigl —
„Adjes, Mutter! Adjes, Vater!“ rief er, „behüt' Euch Gott!
s wird sich schon machen!“ und dann ritt er fort, den andern
nach, die schon durch das Grüne Tor zogen.
„Da geht's nach Frankreich, Altel“ rief mein Mann, während
ich heulte und jammerte. Aber es war noch so weit nicht.
Wir hörten lange Zeit nichts, bis eines Tages alle Glocken
in der Stadt läuteten, und auch im ganzen Cand, wie sie sagten.
Es war eine große Schlacht gewesen, und unsere hatten gewonnen,
und mein Cudwig war — tot!
„Der erstel“ sagte mein Alter.
Wieder ging eine Zeit hin, und einmal kam das Kanonen—
schießen so nahe, daß die CLeute vor das Tor liefen, es zu hören;
natürlich liefen mein Gottfried und ich mit. Da kamen bald aus
der Gegend her, wo es so rollte und donnerte, Wagen mit Ver—
wundeten, Freund und Feind durcheinander, und immer mehr und
mehr. Die wurden alle in die Stadt gebracht.
„Herr mein Heiland!“ muß ich auf einmal ausrufen, „ist das
nicht der Piär von damals, von Anno Sechs?“
Richtig, er war's. Mit abgeschossenem Bein lag er auf dem
Stroh und wimmerte ganz jämmerlich. „Den nehm' ich mit“,
sagte mein Alter und bat ihn sich aus, und wir brachten ihn hier
ins Haus. Da kurierten wir ihn. Als er besser wurde, hatte mein
Mann oft seine Reden mit ihm. Einmal war der Franzos oben
auf, einmal mein Alter. Da hieß es plötzlich, die Deutschen seien
wieder geschlagen und der Napoleon abermals Obermeister. Mein
Alter sah den Wilhelm bedenklich an, als ginge er mit sich zu Rat;
als aber in der Nacht die Sturmglocken auf allen Dörfern läuteten,
wußte ich, was geschehen würde, und weinte die ganze Nacht, und
am Morgen zog auch mein Wilhelm fort mit den grünen Jägern
zu Fuß. Vorher aber führte ihn mein Alter noch an das Bett
des Franzosen und sagte: „Das ist der zweitel“ — Der Franzos
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schaute ganz kurios drein und sagte gar nichts, sondern drehte sich
nach der Wand.
Das Kanonenschießen kam nun nicht wieder so nah, und der
Wilhelm schrieb von großen Schlachten, wo viele tausend Menschen
zu Tod kamen, aber er nicht, und die Briefe kamen immer ferner
her, und auf einmal standen gar welsche Namen drauf. Die brachte
mein Alter dem Franzos herauf, der nun schon ganz gut Deutsch
konnte, und sagte lachend zu ihm: „Nun Gevatter! Vit raus? nit
raus?“ Und der Franzos machte ein gar erbärmlich Gesicht und
sagte, den Brief in der Hand: „Das sein mein 'Eimatsort, da
wohnen mein Vater und mein Mutter!“ Mein Alter aber saß
am Bett und rechnete an den Fingern: „Eins, zwei, vier — acht.
Acht Jahr, Gevatter Franzos! Warum habt Ihr dunnemalen
meine zwölf nicht genommen?“
Die Briefe von unserm Wilhelm kamen nun immer seltener, und
auf einmal blieben sie ganz aus, und eines Tages — kommt mein
Alter nach Haus, setzet sich an den Tisch, legt den Kopf auf beide
Arme und — weint. Ich dachte, der Himmel fiele über mich —
— — der und weinen! —
„Der andrel!“ stöhnte mein Alter in sich hinein, und ich fiel
in Ohnmacht zu Boden.
Da vor der großen Franzosenstadt Paris muß ein Berg sein —
ich kann den Namen nicht ordentlich aussprechen — von wo man
die Stadt ganz übersehen kann. Da schossen sie zum letztenmal
aufeinander, und da ist auch dem Wilhelm eine Kugel mitten
durch die Brust gegangen, wie der Kamerad schrieb, und ist er da
begraben mit vielen, vielen andern aus Deutschland. — Das ist
meine Geschichte. Den Franzosen aber kurierten wir aus, und mein
Alter gab ihm einen Fehrpfennig und brachte ihn an das Tor,
wo der Weg nach Frankreich geht, den auch meine Jungen gezogen
waren, sah ihn da abhumpeln und kam wieder nach Haus, murmelnd:
„VNit raus, nit rausl“ — Gott hab' ihn selig, den Mann, es war
ein Wunderlicher, dein Vaker, Annchen. Wilhelm Raabe.
33. Reiters Morgengesang.
Morgenrot,
leuchtest mir zum frühen Tod?
Bald wird die Trompete blasen,
dann muß ich mein Leben lassen,
ich und mancher Kameradl!
Weimar. Cesebuch III, 2.
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Kaum gedacht
ward der Lust ein End' gemacht.
Gestern noch auf stolzen Rossen,
heute durch die Brust geschossen,
morgen in das kühle Grabl
Ach, wie bald
schwindet Schönheit und Gestalt.
Tust du stolz mit deinen Wangen,
die wie Milch und Purpur prangen?
Ach, die Rosen welken all!
Darum still
füg' ich mich, wie Gott es will.
Nun, so will ich wacker streiten,
und soll ich den Tod erleiden,
stirbt ein braver Reitersmann.
Wilhelm Hauff.
34. Vom böhmischen Kriegsschauplatz.
GBismarck an seine Gemahlin.)
Hohenmauth, Montag, 9. Juli 66.
Weißt Du noch, mein Herz, wie wir vor 19 Jahren auf der
Bahn von Prag nach Wien hier durchfuhren ? Kein Spiegel zeigte
die Zukunft, auch nicht, als ich 1852 mit dem guten Lynar diese
Eisenbahn passierte. Wie wunderbar romantisch sind Gottes Wege.
Uns geht es gut, trotz Napoleon; wenn wir nicht übertrieben in
unsern Ansprüchen sind und nicht glauben, die Welt erobert zu
haben, so werden wir auch einen Frieden erlangen, der der Mühe
wert ist. Aber wir sind ebenso schnell berauscht wie verzagt, und
ich habe die undankbare Aufgabe, Wasser in den brausenden Wein
zu gießen und geltend zu machen, daß wir nicht allein in Europa
leben, sondern mit noch drei Mächten, die uns hassen und neiden.
Die sterreicher stehn in Mähren, und wir sind so kühn, daß für
morgen unser Hauptquartier da angesagt wird, wo sie heut noch stehn.
Gefangene passieren noch immer ein, und Kanonen seit dem 3. bis
heut 180. Holen sie ihre Südarmee heran, so werden wir sie mit
Gottes gnädigem Beistande auch schlagen, das Vertrauen ist allge⸗
mein. Unsre Leute sind zum Küssen, jeder so todesmutig, ruhig,
folgsam, gesittet, mit leerrem Magen, nassen Kleidern, nassem Lager,
wenig Schlaf, abfallenden Stiefelsohlen, freundlich gegen alle, kein
Plündern und Sengen, bezahlen, was sie können und essen verschim⸗
meltes Brot. Es muß doch eine tiefe Gottesfurcht im gemeinen
Manne bei uns sitzen, sonst könnte das alles nicht sein. Nachrichten
über Bekannte sind schwer zu haben; man liegt meilenweit aus—
einander, keiner weiß, wo der andere, und niemand zu schicken,
Menschen wohl, aber keine Pferde. Seit vier Tagen lasse ich nach
Philipp (Bismarcks Neffe) suchen, der durch einen Lanzenstich am Kopfe
leicht verwundet ist, wie Gerhard mir schrieb; aber ich kann nicht
entdecken, wo er liegt, und jetzt sind wir schon acht Meilen weiter.
Der König setzte sich am 3. allerdings dem feindlichen Feuer sehr
aus, und es war sehr gut, daß ich mit war; denn alle Mahnungen
anderer fruchteten nicht, und niemand hätte gewagt, ihn so hart
anzureden, wie ich es mir beim letzten Male, welches half, er—
laubte, nachdem ein Unäuel von 10 Kürassieren und 15 Pferden vom
6. Kürassierregiment sich neben uns blutend wälzte und die Granaten
den Herrn in unangenehmster Nähe umschwirrten. Die schlimmste
sprang zum Glücke nicht. Er kann mir noch nicht verzeihen, daß
ich ihm das Vergnügen, getroffen zu werden, verkümmerte; „an
der Stelle, wo ich auf allerhöchsten Befehl wegreiten mußte“, sagte
er mit gereiztem Fingerzeig auf mich. Es ist mir aber doch lieber
so, als wenn er die Vorsicht übertriebe. Er war begeistert über
seine Truppen, und mit Recht, so daß er das Sausen und Ein—
schlagen neben sich gar nicht zu merken schien, ruhig und behaglich
wie am Kreuzberg, und fand immer wieder Bataillone, denen er
danken und „guten Abend Grenadiere“ sagen mußte, bis wir dann
richtig wieder ins Feuer hineingetändelt waren. Er hat aber so
viel darüber hören müssen, daß er es künftig lassen wird, und Du
kannst beruhigt sein; ich glaube auch kaum noch an eine wirkliche
Schlacht.
Wenn Ihr von jemand keine Nachricht habt, so könnt Ihr
unbedingt annehmen, daß er lebt und gesund ist; denn alle Ver—
wundungen von Bekannten erfährt man in längstens 24 Stunden.
Mit Herwarth und Steinmetz sind wir, auch der Uönig, noch gar
nicht in Berührung gekomnmen, ich habe also auch Schreck nicht
gesehn, weiß aber, daß beide gesund sind. Gerhard führt ruhig
seine Schwadron mit dem Arm in der Binde. Leb wohl, ich muß
in Dienst.
Dein treuster
v. B.
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5*
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35. Von Ems nach Berlin.
Der 15. Juli 1870 ist angebrochen. Kurgäste und Emser
Einwohner stehen zahlreich um das Kurhaus versammelt.
Da erscheint der König, zur Reise nach seiner Hauptstadt
gerüstet. Ein begeistertes Hochrufen, das nicht enden will,
begrüßt ihn. Blumen bedecken seinen Weg. Er erwidert
— Traänen der Ruhrung in den Augen — einige Worte und
ruft den Versammelten zu: „Auf Wiedersehen! Auf Wieder—-
sehen!“ Der Wagen fährt ihn zum Bahnhofe. Auch dort ein
dreifaches Hoch, und fort braust der Zug.
Und nun geht es den vierundachtzig Meilen langen Weg
von Ems nach Berlin. Schweigsam lehnt der König in dem
Armstuhle seines Vagens; selten schweift sein Blick hinaus
auf die reichgesegneten Fluren seines Landes. Gar manche
Sorge lagert noch auf seinem Haupte. „Wie werden die
Hessen, wie wird Hannover die neue VWendung der Dinge
aufnehmen? Wird Suddeutschland fest und unerschutterlich
zu uns stehen?“
Da fahrt der Zug in einen großen Bahnhof. Es ist Kassel.
Der Bahnsteig ist von Menschen überfüllt. Tausende von
Bũrgern aller Stande, aller Partelen kommen mit dem Ober-
bũrgermeister, um die Ergebenheitsadresse, die er überreicht,
mit herzlicher Zustimmung zu begleiten. Und niemand weicht
von dem Bahnsteig, bis der König mit seinem Gefolge im
WVartesaal sein Mittagsmahl beendet hat. Als er heraustritt
und wieder in den Wagen steigt, erneuern sich die jubeln-
den Hochrufe, das Hüte- und Tüucherschwenken. Mit solcher
Begeisssterung und Liebe empfangen ihn die Hessen. Bewegt
winkt der Monarch wieder und wieder vom Fenster seines
WVagens den Draußenstehenden seinen Dank zu. Dann geht
es rasch vorwãrts.
Es ist eine denkwürdige Reise. Die Liebe und Begeiste-
rung des Volkes, das auf allen Stationen, ja oft weite Strecken
längs der Bahn in großen Scharen versammelt ist und ihm
zuruft: „Auf nach Frankreich! Auf nach Paris! Hoch König
WVilhelm!“ scheinen ihn mehr zu tragen als die Flügel des
Dampfes, die den Zug dahintreiben.
Der Empfang der Hannoveraner in Göttingen, der Braun-
schweiger in Börßbum tut dem König ganz besonders wohl.
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Er weiß jetzt, dab nur ein Sinn in Norddeutschland herrscht,
und er zweifelt nicht mehr, daß auch der Süden desselben
Sinnes sein werde. Und ist noch ein Rest von Sorge in
seinem Herzen, jetzt weicht er, als es in Brandenburg hinein-
geht. Sein ernstes Gesicht heitert sich auf, als er seinen
Sohn, den Kronprinzen, erblickt, und als gleich dahinter
Bismarck, Moltke und Roon erscheinen. In ihrer Begleitung
macht er den letzten Teil seiner Reise.
Der blumenbekränzte Potsdamer Bahnhof in Berlin emp-
fängt den König. Der Bahnsteig ist überfüllt. Ein donnern-
des Hurra ertõôõnt. Der König steigt aus, reicht dem greisen
Wrangel die Hand und schreitet dann langsam, die Hände
links und rechts reichend, nach allen Seiten freundlich grüßend
und von den Frauen Blumensträuße entgegennehmend, ins
Wartezimmer.
Nach kurzem Verweilen besteigt der König seinen VWagen
und fãhrt langsam durch die dichtgedrangten, ihm zujubeln-
den Menschenmassen nach seinem Palais. Dort erdröhnt
noch einmal ein hunderttausendstimmiges Hurra; der König
richtet einige Worte des Dankes an das Volk, dann tritt er
ins Schlobß.
Doch nicht lange ist dem Ermuüdeten Ruhe gegönnt. Die
Volksmenge umsteht noch immer das Palais und läßt nicht
nach, bis der König sich aufs neue am Fenster zeigt. Da
entblõßen sich rasch alle Haupter, und aus vieltausendstim-
migem Chor braust das Lied zu ihm hinauf: „Heil dir im
Siegerkranz!“ Der Feuergeist von 1813 leuchtet aus dem
Gesange hervor.
Es ist elt Uhr. Noch immer wogt das Volk vor dem
Palaste auf und ab. Da erscheint Moltke, der schweigsame
Denker der Schlachten. Stürmisches VWillkommen wird ihm
von allen Seiten zuteil; fast hebt man ihn auf die Schultern,
um ihn ins Schloß zu tragen. Eine halbe Stunde spãter, da
die begeisterten Rufe nicht aufhören, treten einige Schutz-
leute unter die Versammelten: Der König lasse bitten, nach
Hause zu gehen; er habe noch viel zu arbeiten diese Nacht.
„Der König will Ruhe! Nach Hausel Nach Hause!“ erschallt
es durch die Menge, und in wenigen Augenblicken ist der
ganze Platz geleert.
Aus dem Daheim.
70
36. Die Wacht am Rhein.
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
„Gum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein ?“
LCieb' Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht am Rheinl
Durch Hunderttausend zuckt es schnell,
und alle Augen blitzen hell.
Der Deutsche, bieder, fromm und stark,
beschirmt die heil'ge CLandesmark.
Cieb' Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht am Rheinl
Er blickt hinauf in Himmelsaun,
wo Heldenväter niederschaun,
und schwört mit stolzer Uampfeslust:
„Du Rhein bleibst deutsch wie meine Brust!“
Cieb' Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht am Rheinl
„Und ob mein Herz im Tode bricht,
wirst du darum ein Welscher nicht.
Reich wie an Wasser deine Flut
ist Deutschland ja an Heldenblut.“
Cieb' Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
„Solang ein Tropfen Blut noch glüht,
noch eine Faust den Degen zieht
und noch ein Arm die Büchse spannt,
betritt kein Feind hier deinen Strandl“
Lieb' Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht am Rheinl
Der Schwur erschallt, die Woge rinnt;
die Fahnen flattern hoch im Windl
„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wir alle wollen Hüter seinl“
Lieb' Vaterland, magst ruhig sein!
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Max Schneckenburger.
37. Nach der Schlacht bei Wörth.
Die Schlacht war entschieden; die Franzosen räumten das Dorf
Fröschweiler, und die Deutschen folgten ihnen auf dem Fuße.
Während das siegreiche Heer teils in geschlossenen Zügen vorüber⸗
flutete, teils in aufgelösten Haufen das eroberte Dorf ausplünderte,
erscholl plötzlich von Wörth herauf ein unbeschreibliches Getöse. Es
mußte wieder etwas Neues, Außerordentliches im Anzuge sein. Die
Soldaten sprangen wie von elektrischem Feuer entzündet zu allen
Häusern und Höfen heraus, stellten sich in Reih und Glied und
bildeten auf beiden Seiten der Straße eine undurchdringliche Mauer.
Ich stand auf der Haustreppe. „Was ist denn?“ — „Der Kron—
prinz kommtl der Kronprinz kommt!“ — Ich kann nicht sagen, wie
diese Nachricht meine Seele durchzuckte. Ich rief meinen Ceuten:
„Schnell heraus!l der Kronprinz von Preußen kommtl“ Und das
Getsse dringt immer näher, und das Triumphgeschrei wird immer
größer. Jetzt sind sie im Unterdorf; horch, wie sie jubeln! Gebt
acht; jetzt biegen sie um die brennende Kirche. Die Trommeln
wirbeln, die Siegeslieder brausen, eine ungeheure Begeisterung flammt
durch die Reihen. Alle Häupter sind entblößt, die Mützen fliegen
hoch empor, und aus aller Munde tönt ein tausendfaches, donnern⸗
des Hurral Hochl Hurral Wir stehen da wie verzaubert.
Wahrhaftig, da zieht er, umgeben von seinen Generalen —
Kirchbach trägt einen Uranz von Eichenlaub — an unsern Blicken
vorüber. Wie sein Angesicht vor Freude strahlt, und wie er so
wohlwollend die jubelnden Scharen begrüßt! Kein Wunder, sie
haben ihr Blut vergossen, und ihr Hurrarufen läutet dem geschlagenen
Franzosenkaiser zu Grabe. Welch großartiges, majestätisches Schau⸗
spiell Was doch in diesem Augenblicke sein fürstliches Herz emp⸗
funden haben mag? Durch Flammen und Ruinen über die blutige
Walstatt! — Ob durch die Siegesfreude auch eine Ahnung zieht
von dem tausendfachen Weh, das der Krieg über die Völker wälzt?
und ob es ihm nicht lieber wäre, einst wie ein rechter Salomo
Deutschland im Frieden zu regieren, als mit Siegespalmen geschmückt
auf schäumendem Schlachtroß über blutgetränkte Gefilde zu ziehen?
Wir glauben's gerne; sein Blick ist milde, seine ganze Erscheinung
erweckt Vertrauen; wir vernehmen es auch aus den wenigen Worten,
die er zu den verzagten Einwohnern spricht: „Die Leute sollen sich
nicht fürchten.“ Auch sieht man's den immer wieder Hurra rufen—
den Kriegern an: sie haben ihn lieb, denn er ist ihres Vaterlandes
7
72
Hoffnung. Und ihm sieht man's auch an, er hat das Bewußtsein:
„Ich bin das Haupt; ich schlage, wenn sie streiten.“ Gott weiß,
was die Zukunft in ihrem verschleierten Schoße birgt.
Der Siegeszug bewegt sich vorwärts in der Richtung nach Reichs—
hofen. Im Oberdorf aber schwenkt der hohe Feldherr rechts ab
in die Schindergasse. Dort liegt in Reisehenners Stube der tapfere
General Raoul, blutend aus vielen Wunden, mit zerbrochenem
Schwert und brechendem Herzen. Der deutsche Sieger tritt in die
Bauernhütte ein, schaut freundlich in die fieberglühenden Augen,
drückt teilnahmvoll die todesmatte Hand — ein Wort huldvoller An⸗
erkennung, eine Träne hochherzigen Mitleids vergelten den erbitterten
Widerstand. Und noch einmal unter gewaltigen Siegesmärschen und
endlosem Freudengeschrei wogt der Triumphzug vorüber. Wir
schauen zu; unser Herz möchte in Stücke zerspringen. Uberall Schrecken,
Brand und Verwüstung, und hier vor unsern Augen in stolzer
Ruhmespracht der fremde Eroberer, in unbändiger Begeisterung
die feindlichen Scharenl O Krieg, wie schmerzlich, wie tränenreich
sind deine Folgen!
Jetzt rauschen die Feierklänge weiter hinab ins Tal. Aus dem
Kirchturm schlagen die Flammen hoch gen Himmel und leuchten
weit hinaus ins Schlachtgefilde. Aber das Getöse will kein Ende
nehmen. Es naht ein anderer Zug. Da kommen sie als Ge—
fangene, hundert-, tausendweise aus allen Waffengattungen, unsere
armen geschlagenen, vor etlichen Tagen noch so fröhlichen, sieges—
gewissen Soldaten! Da kommen sie, entwaffnet, zerrissen, staub—
bedeckt, niedergeschlagen wie verurteilte Missetäter, umschlossen, ge—
drängt, verhöhnt von deutschen Truppen, die sie triumphierend ins
LCager abführen. Ist's möglich? Ganze Haufen Kanonen, Mitrail—
leusen, Wagen und sonstige Siegesbeute, ganze Bataillone. Welche
Demütigung, welche Niederlagel und für uns alle welch wehmuts—
voller Anblick, welch herzzerreißendes Schauspiell Da kommen sie,
todesmüde von dem langen, schweren Kampfe, bleich vor Schrecken,
Gram und Verzweiflung, und: Vorwärts! donnert's hinterdrein,
und: Viktorial schallt's von allen Seiten. Warl Rlein.
38. Tod in Ahren.
Im Weizenfeld, in Korn und Mohn
liegt ein Soldat, unaufgefunden,
zwei Tage schon, zwei Vächte schon,
mit schweren Wunden, unverbunden.
73
Durstüberquält und fieberwild,
im Todeskampf den Kopf erhoben.
Ein letzter Traum, ein letztes Bild;
sein brechend Auge schlägt nach oben.
Die Sense sirrt im Ährenfeld,
er sieht sein Dorf im Arbeitsfrieden,
ade, ade, du Heimatwelt, —
und beugt das Haupt und ist verschieden.
Detlev v. Liliencron.
39. An die Königin Augausta.
Auf dem Schlachtfelde vor Sedan,
1. September 1870.
Die französische Armee ist in Sedan eingeschlossen, und der Kaiser
Napoleon hat mir seinen Degen angeboten. Ich habe ihn ange—
nommen und verlange die KNapitulation der Armee als Uriegs-
gefangene. Gott hat uns sichtlich gesegnet. Wilhelm.
Vor Sedan, 2. September 1870.
Die Kapitulation, wodurch die ganze Armee in Sedan kriegs—
gefangen, ist soeben mit dem General Wimpffen geschlossen, der
an Stelle des verwundeten Marschalls Mac Mahon das Kommando
führte. Der Kaiser hat nur sich selbst mir übergeben, da er das
Kommando nicht führte und alles der Regentschaft in Paris über—
läßt. Seinen Aufenthaltsort werde ich bestimmen, sobald ich ihn
gesprochen habe in einem Rendezvous, das sofort stattfindet. Welch
eine Wendung durch Gottes Führung! wilhelm.
40. Napoleons Begegnung mit Bismarck.
Vendresse, 3. September 1870.
Mein liebes Herz!
Vorgestern, vor Tagesgrauen, verließ ich mein hiesiges Quartier,
kehre heut zurück und habe in der Zwischenzeit die große Schlacht
von Sedan am 1. erlebt, in der wir gegen 30000 Gefangene machten
und den Rest der französischen Armee, der wir seit Bar le Duc
nachjagten, in die Festung warfen, wo sie sich mit dem Kaiser
kriegsgefangen ergeben mußte. Gestern früh fünf Uhr, nachdem ich
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bis ein Uhr früh mit Moltke und den französischen Generälen über
die abzuschließende Kapitulation verhandelt hatte, weckte mich der
General Reille, den ich kenne, um mir zu sagen, daß Napoleon
mich zu sprechen wünschte. Ich ritt ungewaschen und ungefrühstückt
gegen Sedan, fand den Kaiser im offenen Wagen mit drei Ad⸗
jutanten und drei zu Pferde daneben auf der CLandstraße vor
Sedan haltend. Ich saß ab, grüßte ihn ebenso höflich wie in den
Tuilerien und fragte nach seinen Befehlen. Er wünschte den König
zu sehen; ich sagte ihm der Wahrheit gemäß, daß Se. Majestät
drei Meilen davon an dem Orte, wo ich jetzt schreibe, sein Quar—
tier habe. Auf Napoleons Frage, wohin er sich begeben solle, bot
ich ihm, da ich Gegend unkundig, mein Quartier in Donchery
an, einem kleinen Ort an der Maas dicht bei Sedan; er nahm
es an und fuhr mit seinen sechs Franzosen, von mir und von
Karl, der mir inzwischen nachgeritten war, geleitet, durch den
einsamen Morgen nach unserer Seite zu. Vor dem Orte wurde
es ihm leid wegen der möglichen Menschenmenge, und er fragte
mich, ob er in einem einsamen Arbeiterhause am Wege absteigen
könne; ich ließ es besehen durch UNarl, der meldete, es sei ärmlich
und unrein. „Das macht nichts!“ meinte Napoleon, und ich stieg
mit ihm eine gebrechliche, enge Stiege hinauf. In einer Kammer
von zehn Fuß im Gevierte, mit einem sichtenen Tisch und zwei
Binsenstühlen, saßen wir eine Stunde, die andern waren unten.
Ein gewaltiger Gegensatz mit unserm letzten Zusammensein, 1867
in den Tuilerien. Unsere Unterhaltung war schwierig, wenn ich
nicht Dinge berühren wollte, die den von Gottes gewaltiger Hand
Niedergeworfenen schmerzlich berühren mußten. Ich hatte durch
Karl Offiziere aus der Stadt holen und Moltke bitten lassen zu
kommen. Wir schickten dann einen der ersteren auf Rekognoszierung
und entdeckten eine halbe Meile davon in Fresnois ein kleines Schloß
mit Park. Dorthin geleitete ich ihn mit einer inzwischen heran⸗
geholten Eskorte vom Ceib⸗Kürassier⸗Regiment, und dort schlossen
wir mit dem französischen Obergeneral Wimpffen die Kapitulation,
vermöge deren 40 bis 60000 Franzosen, genauer weiß ich es noch
nicht, mit allem, was sie haben, unsere Gefangenen wurden. Der
vor⸗ und gestrige Tag kosten Frankreich 100 000 Mann und einen
Kaiser. Heut früh ging letzterer mit allen seinen Hofleuten, Pferden
und Wagen nach Wilhelmshöh bei Kassel ab.
Es ist ein weltgeschichtliches Ereignis, ein Sieg, für den wir
Gott dem Herrn in Demut danken wollen, und der den Krieg ent—
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scheidet, wenn wir ihn auch gegen das kaiserlose Frankreich noch
fortführen müssen.
Lebe wohl, mein Herz, grüße die Kinder!
Min von Bismarck.
41. Am 5. September 1870.
Nun laßt die Glocken der Würfel Fall,
von Turm zu Turm und bangend lauschte
durchs Cand frohlocken der Erdenball.
im Jubelsturm! Furchtbar dräute der Erbfeind.
Des Flammenstoßes Da hub die Wage
Geleucht facht an! des Weltgerichts
Der Herr hat Großes am dritten Cage
an uns getan. der Herr des Cichts
Ehre sei Gott in der Höhel und warf den Drachen
Es zog von Westen vom güldnen Stuhl
der Unhold aus, mit Donnerkrachen
sein Reich zu festen hinab zum Pfuhl.
in Sturm und Graus. Ehre sei Gott in der Höhel
Mit allen Machten Nun bebt vor Gottes
der Hoͤll im Bund, und Deutschlands Schwert
die Welt zu knechten, die Stadt des Spottes,
de hr sen Vtund der Blutschuld herd.
Furchtbar dräute der Erbfeind. Ihr Blendwerk lodert,
Vom Rhein gefahren wie baldl zu Staub,
kam fromm und stark und heimgefodert
mit Deutschlands Scharen wird all ihr Raub.
der Held der Mark. Nimmermehr dräut uns der
Die Banner flogen, Erbfeind.
w n Drum laßt die Glocken
n e eee von Turm zu Turm
ie
durchs Cand frohlocken
Ehre sei Gott in der Höhel
Drei Tage brüllte Des Flammenstoßes
die Völkerschlacht, Geleucht facht anl
ihr Blutrauch hüllte Der Herr hat Großes
die Sonn' in Nacht; an uns getan.
drei Tage rauschte Ehre sei Gott in der Höhel
Emanuel Geibel.
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42. Des deutschen Knaben Tischgebet.
Das war einmal ein Jubeltag!
Bei Sedan fiel der große Schlag:
Mac Mahon war ins Garn gegangen,
der Kaiser und sein Heer gefangen.
Und blitzschnell flog die Siegespost
am Draht nach Süd und Vord und Ost.
Da gab's ein Jubeln ohne Maßen,
von Flaggen wogten alle Straßen,
vieltausendstimmig scholl Hurra!
Und waren noch Kanonen da,
so schoß man auch Viktoria.
Doch jedenfalls die Wacht am Rhein
ward angestimmt von groß und klein;
denn auch durch der Unmünd'gen Mund
wird Gottes Cob von alters kund.
Und einer von den kleinen Jungen,
der hat am lautsten mitgesungen;
die bunte Mütze auf dem Ohr,
das Höslein flott im Stiefelrohr,
marschiert er wacker mit im Chor,
beteiligt sich den Morgen lang
an jedem Schrei und jedem Sang.
So wichtig nahm's der kleine Wicht,
als ging's ohn' ihn entschieden nicht,
war so mit Leib und Seel dabei,
als ob er selbst die Rheinwacht sei,
hat drum den Glockenschlag vergessen
und kam zu spät zum Mittagessen.
Mit heißen Wangen, rotem Kopf,
mit offner Brust, verwehtem Schopf
erscheint er endlich siegesmatt —
die andern waren halb schon satt —
grüßt obenhin, setzt sich zu Tisch
und greift nach seinem Löffel frisch.
Jedoch der biedre Vater spricht:
„Fritz, ungebetet ißt man nicht!“
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worauf mein Fritz vom Stuhl ersteht,
die Hände faltet zum Gebet,
und weil sein Kopf noch stark zerstreut,
gibt's, wie der Geist ihm just gebeut,
spricht: „Lieber Gott, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rheinl Amen!“
NWUarl Gerok.
43. Die deutsche Feldpost im französischen Kriege.
Die französische Kriegserklärung vom 16. Juli 1870 war
zugleich das Signal zur Mobilmachung der Feldpost. Dank
der fieberhaften Tãtigkeit, die die Posstbehöôrde, von ihrem
Leiter angefeuert, entwickelte, stand die Feldpost schon am
24. Juli zum Abmarsch bereit. Indessen war es nicht mög-
lich, sie nach dem Kriegsschauplatz abzulassen, da die Militär-
verwaltung alle Transportmittel mit Beschlag belegt hatte;
die Post konnte weder VWagen noch Pferde erlangen. Stephan
hatte kaum von diesen Stockungen gehört, als er auch schon
unterwegs war, um persönlich einzugreifen. Mit sicherem
Blicke erkannte er, wo der Hebel anzusetzen sei, und schon
Mitte August war die Feldpost zu ordnungsmaßigem Betriebe
gebracht. Wenn aber die deutsche Feldpost so überaus
Ruhmvolles leistete, so ist dies vor allem dem obersten Leiter
zu danken, der es verstand, diese Kräfte am rechten Orte
und in der rechten Art zu verwenden. „Behandeln Sie jeden
Feldpostbrief wie ein Kind, das Ihrer Sorgfalt anvertraut
wird!‘ hatte Stepnan den Feldpostbeamten des Gardekorps
beim Abmarsch zugerufen. Die Feldpost sollte das Band
sein, das den Krieger in steter Verbindung mit dem Vater-
lande erhielt, sie sollte ium mit den warmen Grüßen, Auf-
munterungen und Segenswünschen von den Lieben daheim
zugleich neue Kraft zum Ertragen, frischen Mut zum wackeren
Dreinschlagen geben. — Stephan selber hat überall mit Hand
angelegt, wo es not tat. Er hat keine Strapaze des Feldzuges
gescheut, um überall an Ort und Stelle wichtige Feldpost-
amter einzurichten. Der Geist der Opferfreudigkeit und Pflicht-
treue ging von seiner Persönlichkeit unmittelbar auf die Be-
amten über. Der Dienst der Feldpostbeamten war oft auf-
reibender als der der Truppen. Tag und Nacht, entweder
den voranmarschierenden Truppen nacheilend, oder in den
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engen, fliegenden Amtssstuben, ostmals auch in Wind und
Wetter unter freiem Himmel waren sie mit der Versendung
von Postsachen beschäftigt. Haäufig waren sie gezwungen,
den kurzen Augenblick der Ruhe stehend zwischen Brief-
sãcken und Paketen zuzubringen. Nach der Schlacht von
Gravelotte am 18. August richtete die Feldpost im ersten
Morgengrauen mitten unter Toten und Verwundeten ihre Feld-
tische auf, um den Uberlebenden Gelegenheit zu geben, gleich
vom blutigen Schlachtfelde aus den Angehörigen mit der
Kunde vom Siege die Beruhigung zu senden, daß sie noch
unter den Lebenden weilten. Vahrend der Schlacht bei Sedan
haben Feldpostbeamte ganze Sacke voll Postkarten mitten
im Kugelregen eingesammelt, und mancher, der vielleicht
im nãcusten Augenblicke schon zu Tode getroffen nieder-
sank, hat noch einen letzten Grub, ein letztes teures Andenken
nach Hause gesandt.
So schreibt ein braver Musketier während einer Pause in
der Schlacht von Gravelotte an seine Dienstherrschaft in
Berlin: „Eben kommt ein Feldpostbote, der Briefe von uns
einsammelt, und da will ich die Gelegenheit benutzen, um
Ihuen zu schreiben, daß ich noch wohl und munter bin, ob-
gleich wir viel Verlust an Mann und Pferden haben. Aut
dem Rũucken eines Kameraden, auf einem Stein am Wege,
auf der flachen Hand, sitzend, stehend, liegend, so warfen
Fie mit Bleistift einige Zeilen auf die ihnen von der Feldpost
zugetragenen Postkarten, der tröstenden Hoffnung gewiß, daß
dicse Lebenszeichen, so flüchtig sie waren, sicher in die
Heimat befördert werden würden.
Und wenn dann die Schlacht ruhte und es einsam wurde
auf den blutgetrankten Feldern, dann eilte wieder die Feld-
post herbei und suchte und spahte gewissenhaft und barm-
herzig, ob nicht vielleicht einer der so sstill und bleich aut
dem Boden ausgestreckten Kampfer eine Botschaft bei sich
trug, die der Versendung harrte. Vielleicht hatte er noch
in veinen letzten Augenblicken ein Lebewohl hingekritzelt,
das man den Angehörigen als letzten Gruß zugleich mit der
clmerzlichen Gewißheit seines Todes zusenden konnte.
Nicht durch VWind und Wetter, nicht durch Kugel und
gchwert, nicht durch Strapazen und Hunger ließ sich die
deutsche Feldpost abhalten, ihren schweren und vielseitigen
79
pflichten nachzukommen. Solches Wirken aber läßt sich durch
straffe Ordnung allein nicht erreichen. Es war der Geist der
Brũüderlichkeit, der die Feldpostbeamten durchglũhte, das
Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Soldaten im Felde,
die ja für dieselben Güter ihr Blut dahingaben, die auch
ihnen heilig waren.
Stephan sagte spãter: „Wer bezweifeln mõchte, daß durch
diesen tãglichen Verkehr das Band zwischen der Armee und
dem Vaterlande fester geknũüpft, daß die Begeisterung für die
hohen Güter, denen der Kampf galt, dadurch beständig rege
gehalten wurde, den möchte ich bitten, mir einen Augenblick
auf die Straße nach Sedan zu folgen. Dort erkundigte ich
mich, bald nach der Schlacht, im Gespräch mit gefangenen
Franzosen nach ihrer Feldpost und erhielt zur Antwort, sie
hätten seit ihrem Abrücken keinen Brief aus der Heimat
erhalten, und dieser Mangel an Nachrichten von den Ihrigen
habe zu ihrer Niedergeschlagenheit nicht wenig beigetragen.
Vie klang dagegen der Freudenruf unserer Bataillone, wenn
die Feldpostwagen angeruckt kamen! Pulver, Brot und Briefe
waren die Hauptbedũrfnisse. Das Verlangen nach den Briefen
war so groß, daß die Soldaten zuletzt gar nicht mehr der
Schwierigkeiten gedachten, mit denen die Beförderung der
Briefe in Feindesland verknüpft war; man betrachtete ihr
sicheres, regelmaßiges Eintreffen als etwas Selbstverständ-
liches.“
Nachdem der Briefverkehr in ordnungsmäßigen Betrieb
gebracht war, ging Stephan daran, auch einen regelrechten
Paketverkehr für die Truppen herzustellen. Anfang Dezember
konnte der Betrieb eröffnet werden; er wurde aufrechterhalten,
bis die letzten Truppen aus Frankreich abmarschiert waren.
WVelche Massen von Paketen er zu bewältigen hatte, erhellt
aus der Zahl der nach Frankreich gehenden Sendungen, die
sich 1779 taglich im Durchschnitt auf 22000, 1871 aut 43800
sStück belief. Da die Eisenbahnen von den Truppen in An-
spruch genommen waren, so mußte fast alles dureh Fuhrwerk
befördert werden. Und was befand sich nicht alles in diesen
Paketen! War doch jeder nach besten Kräften bestrebt, dem
Angehörigen im Felde sein Los so erträglich wie möglich
zu machen. Da wanderte denn manche gar seltsame Gabe
schlecht verpackt in die Hande der Feldpost, es ihr über-
80
lassend, wie sie es dem geliebten Sohne, Bruder oder Vater,
der irgendwo da drũüben in Frankreich stand, in brauchbarem
Zustande ubergeben würde. Hier kam ein altes Mütterchen,
das mit zitternden Fingern ein Paar warme Socken für den
einzigen Enkel gestrickt hatte, und bat um ganz besondere
Sorgfalt gerade für ihr Packchen; dort wollte ein biederer
Landmann durchaus nicht einsehen, daß er die prächtigen
Würste nicht in Zeitungspapier gewickelt versenden könnte.
Dieser hatte hartes Geld, eine Tafel Schokolade oder wohl
gar Zigarren lose in einen Brief gesteckt, jener eine Flasche
Rum in eine zerbrechliche Zigarrenkiste getan. Aber allen
Anforderungen suchte die Feldpost mit wahrer Engelsgeduld
gerecht zu werden. Und mit welchem Jubel wurden diese
Liebesgaben aus der Heimat begrũßt, wie schnellte der Mut
empor, der soeben noch, von Entbehrungen niedergedrũckt,
tief am Boden gelegen hatte, wenn eine solche Sendung in
Sicht kam! Die deutsche Feldpost hatte in der Zeit ihrer
umfangreichsten Tatigkeit 77 Feldpostanstalten und 136 Post-
stellen in Betrieb; ihr Verkehrsnetz dehnte sich über eine
Flãche halb so groß wie Deutschland aus. Versendet wurden
gegen 90 Millionen Briefe und Postkarten, 212 Millionen Zei-
tungen, 60 Millionen Mark bares Geld und 2 Millionen Pakete.
Krickeberg.
44. Ein Todesritt.
Ein hochvornehm ausgestatteter Raum, in welchem wirres
Durcheinander herrscht. Zwei schief aufgesteckte, verschieden lange
Wachskerzen erhellen nur mäßig den weiten Saal; besser geschieht
dieses durch einen auf dem persischen Teppich liegenden Tannen-
stamm, dessen Zapfende in den Marmorkamin hineinragt und dort
in heller Glut lodert.
Funken sprühen und fallen; sie versengen die kostbaren Stoffe
des Hausrats. Am Fenster hockt ein Soldat, welcher von Zeit zu
Zeit den Baum weiter in die Flammen vorschiebt; will das Holz
nicht gut brennen, so hilft er mit einem abgebrochenen vergoldeten
Stuhlbein nach. Auf den Sofas liegen Schläfer; es sind Offiziere,
gestiefelt und gespornt.
Pferdegetrappel ist öfter zu vernehmen. Eben schlägt die Bronze—
pendule elf Uhr. Die Tür eines Nebenzimmers wird aufgerissen;
ein höherer Offizier, der eine Generalstabskarte lose in der linken
Hand hält, tritt ein. Es ist der Chef des Stabes; keine Spur von
Müdigkeit ist an ihm zu entdecken.
Einer der ruhenden Offiziere erwacht, erhebt sich rasch und ver—
neigt sich achtungsvoll vor seinem Vorgesetzten.
„Schön, lieber M., daß Sie bei der Hand sind! Sie müssen
sofort reiten.“
„Eckert! Satteln! — Den Said, die Cise ist zu laut.“
Der Soldat erhob sich, machte ein klägliches Gesicht und ging.
Leiser sprach der Chef: „Der Gegner hat sich zwischen uns und
unsere zweite Armee geschoben; die Meldungen bestätigen es über—
einstimmend. General W. muß unter allen Umständen schon morgen
mit uns gemeinsame Sache machen. Mit Gewalt ist nicht durch⸗
zukommen; einem einzelnen Reiter kann es gelingen.“
„Ich soll es versuchen ?“
„Nein, nicht versuchen! Sie müssen es ausführen; denn das
Schicksal der ganzen Armee hängt davon ab.“
„Zu Befehl, Herr Oberst! Darf ich gehorsamst bitten, mir
das diktieren zu wollen, was ich zu melden habe; es kommt wohl
auf den Wortlaut an.“ Er hatte seine Brieftasche hervorgeholt
und hielt den Stift in der Hand.
„Geht nicht.““
„Herr Oberst, die große Verantwortung —“
„Cragen Sie natürlich.“
Der Adjutant steckte die Brieftasche wieder ein.
„Was ich Ihnen sage, ist strengstes Geheimnis; niemand darf
eingeweiht werden, sonst wird aller Erfolg aufs Spiel gesetzt. Also
merken Sie genaul“
Im Flüsterton gab der Chef seine Weisung, dabei mit dem
Zeigefinger auf die vom Kaminfeuer hell beleuchtete Uarte deutend
und die Kriegslage erläuternd.
„Haben Sie noch eine Frage zu tun, lieber M.?“
„Vein, Herr Oberst!“
„Halt! Keinerlei Papiere, die etwa dem Feinde von Nutzen sein
könnten, dürfen Sie bei sich tragen — für alle Fälle.“
„Sehr wohll“
„Und nun sehen Sie sich vor dem Wegreiten die Karte noch
einmal genau an; denn draußen ist es stockfinster, und die höchste
Eile ist geboten!“
Dann schüttelte der Oberst dem Hauptmann freundschaftlich die
hand und sagte: „Reiten Sie mit Gottl“ Er ging in sein Zimmer zurück.
Weimar. Cesebuch U, 2.
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82
Der Adjutant holte aus seiner Brust- und Kartentasche ver—
schiedene Papiere hervor, wickelte sie in einen Umschlag, trat zu
einem der Ruhenden und sprach: „Fritzl“
„Ich habe alles gehört und gesehen. Gib her, ich verwahre
es dirl!“ antwortete der Angerufene. „Leb' wohl, alter Freundl —
Weißt du, um deinen Auftrag beneide ich dich — nichtl“
„Ich mich eigentlich auch nicht“ Er war ans Cicht getreten
und besah die Karte aufmerksam; dann öffnete er einen Fenster—
flügel und spähte in die Nacht hinaus.
„Wahrhaftigl Mein Pferd wird schon vorgeführt. Auf Wieder⸗
sehen!“ Er eilte fort. Bald ertönte Hufschlag; dann wurde es
wieder still.
Das Schloß im Park lag schon weit hinter dem Reiter; der
letzte Lichtschimmer der erleuchteten Fenster war verschwunden. Nun
passierte der Offizier ein Gehöft. Jetzt konnte er seitwärts des
Weges die dunkeln Umrisse lagernder Truppen erkennen. Auf dem
weichen Wege griff der Wallach in schlankem Trabe brav aus.
Schweres Novembergewölk bedeckte den Himmel; leiser Wind strich
von rechts. Es war recht kühl.
Tiefe Finsternis herrschte, man konnte nicht auf drei Schritte
sehen. Mit langen Fügeln überließ sich der Reiter der sicheren
Führung seines Pferdes. Rasch flogen Roß und Reiter dahin.
Ab und zu wurde das Gewölk lichter; so kam man durch einen
Wald, zum Glück auf gerader Bahn.
Zwõlf Kilometer sind zurückgelegt, also ein Viertel des Weges!
überlegte der Offizier. Jetzt Vorsicht!
Aus der Ferne erklang Geräusch. An der Einmündung des
Pfades in eine Landstraße hielt er an und horchte.
Hufschlag auf hartem Wege war zu vernehmen, sechs bis zehn
Pferde mochten es sein. Ohne Zögern lenkte der Adjutant sein
Tier von der Straße; es verlor sofort den Boden unter den Füßen,
sprang aber sicher ab, wohl auf eine tiefer liegende Wiese. Gebüsch
war in der Nähe. Bald trabten, von der feindlichen Seite kommend,
Reiter vorüber; aus rasch gesprochenen einzelnen Worten war sicher
zu entnehmen, daß es Feinde seien. Der Wallach stand wie eine
Mauer. Das letzte Geräusch ist verhallt. Der Offizier setzt seinen
Weg in schnellerer Gangart fort, denn der Zeitverlust muß ein—
geholt werden.
Rechts und links vorwärts erscheint der Horizont leicht rötlich
gefärbt. Es ist der Widerschein feindlicher Biwaksfeuer.
Da — plötzlich will das Pferd im Caufe anhalten; es bricht
vorn zusammen und stürzt kopfüber in eine Vertiefung, den Reiter
unter sich begrabend.
Die Straße war mittels eines drei Meter tiefen, mit senkrechten
Rändern versehenen Grabens quer durchstochen. Bei der großen
Dunkelheit war das niederträchtige Hindernis erst zu sehen gewesen,
als es zu spät war. Das schwer verletzte VRoß stöhnte laut.
Die scharfen Ecken des Grabens schützten den fast Begrabenen
vor der Gefahr des Erdrücktwerdens. Mühsam arbeitete sich Herr
von M. unter dem Pferd hervor und vermochte seitlich aus dem
Graben zu klettern. Er fühlte nur Schmerzen in der Rippengegend,
schien aber sonst unverletzt zu sein. Das Tier war verloren.
Aus der Ferne ertönte Stimmengewirr; der Vorfall war bei
der nächtlichen Stille wohl gehört worden. — Die Wolken hatten sich
etwas geteilt, es wurde heller.
Jetzt galoppierte ein Reiter heran; am Graben hielt er und
spähte hinab.
„Vorwärts, hierher!“ rief er seinen Ceuten zu, die im CLaufschritt
heraneilten.
In diesem Augenblicke wurde der linke Fuß des feindlichen
Reiters von nervigen Fäusten aus dem Bügel gerissen, er selbst
aber unmittelbar darauf aus dem Sattel geschleudert, so daß er an
der rechten Seite seines Pferdes herunterglitt und niederstürzte.
Aber während der behende Hauptmann die Zügel des stutzenden
Tieres ergriff, erhob der am Boden Liegende seinen Revolver und
— lautlos ließ er ihn sinken, ächzend sank der Körper zurück. Die
Ulinge des Hauptmanns war ihm durch die Kehle gedrungen.
Eine Minute später jagte an den herbeikommenden Infanteristen
ein Reiter vorüber, der ihnen zurief, sich zu beeilen. Angetan mit
dem Mantel und der Kopfbedeckung des getöteten Gegners, gelang
es dem Verwegenen, der die Sprache des Feindes vollkommen
beherrschte, beim ersten Cagesgrauen unangefochten durch die feind—
lichen Linien zu jagen und dann, die Richtung etwas ändernd, abermals
feindliche Vorposten zu passieren, nun aber von hinten nach vorn.
Er hatte aber doch endlich Verdacht erregt, man setzte ihm nach.
Konnte sich das erbeutete Pferd auch nicht mit dem armen Said
messen, so war es doch immerhin ein etwas frischeres Tier. Um—
sichtig verließ er die Straße; bei jedem Hindernis lichtete sich die
Schar seiner Verfolger. Wenige nur blieben ihm hart auf den
Fersen. Man näherte sich dem Ziel.
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8
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Ein Rennen auf Tod und Leben begann. Der kühne Reiter
beurteilte die Gegend so richtig, als ob er sich auf wohlbekanntem
Gebiet bewege. Dort, an jener Geländewelle, mußte er wohl auf
die Vorposten der zweiten Armee stoßen.
Die zu enge Kopfbedeckung war ihm längst entfallen; den
Mantel abzuwerfen gelang ihm nicht. Drei seiner Gegner hatten
ihn fast erreicht; zwei davon ritten ihm nahezu Seite an Seite. Mit
der Ulinge hieb er auf die Flanken des keuchenden Rappen. Brüllend
drängten die anderen heran.
Drüben war man aufmerksam geworden, man hielt die Daher—
stürmenden für tollkühne KNundschafter. Eben erhielt der Haupt—
mann einen Säbelhieb von links, der flatternde Mantel machte den
Streich unwirksam.
Da krachte aus einer unfernen Hecke eine Gewehrsalve. Drei
Pferde stürzten mit ihren Reitern, der Haupmann blieb aufrecht.
Caut rufend gab er sich zu erkennen; dann bazeichnete ihm der
herbeieilende Feldwachkommandeur die eee un In
mäßiger Gangart nahte er sich dem Ort.
Vor einer Gruppe von Offiz eren sant er teuchend vom Pferde,
gehalten von hilfsbereiten Armen
Man flößte ihm rasch Stärkung ein; dann berichtete er stockend,
mit leiser Stimme, aber klar. Nur der General hörte es, die
anderen waren zurückgetreten.
Můhsam schloß von M. die Meldung, er w aschfahl geworden.
Man rief nach Hilfe.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht öffnete der Tapfere die Augen.
Er starrte ins Leere. Ein Seufzer — dann lag er tot auf dem
Rasen.
Er hatte einen Schuß im Unterleib, zwei Rippen waren gebrochen.
In Verkleidung hatte er seinen Ritt zu Ende führen müssen,
aber es war doch eine Heldentat.
So stirbt ein braver Soldat. Max von La Roche.
45. Die Trompete von Vionville.
Sie haben Cod und Verderben gespien!
Wir haben es nicht gelitten.
Zwei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterien,
wir haben sie niedergeritten.
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Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt,
tief die Canzen und hoch die Fahnen!
So haben wir sie zusammengesprengt, —
Kürassiere wir und Ulanen.
Doch ein Blutritt war es, ein Todesritt.
Wohl wichen sie unsern Hieben;
doch von zwei Regimentern, was ritt, und was stritt,
unser zweiter Mann ist geblieben.
Die Brust durchschossen, die Stirn zerklafft,
so lagen sie bleich auf dem Rasen,
in der Kraft, in der Jugend dahingerafft, —
nun, Trompeter, zum Sammeln geblasen!
Und er nahm die Trompet', und er hauchte hinein, —
da, — die mutig mit schmetterndem Grimme
uns geführt in den herrlichen Kampf hinein, —
der Trompete versagte die Stimme!
Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz
entquoll dem metallenen Munde;
eine Kugel hatte durchlöchert ihr Erz, —
um die Toten klagte die wunde!
Um die Tapfern, die Treuen, die Wacht am Rhein,
um die Brüder, die heut gefallen,
um sie alle — es ging uns durch Mark und Bein —
erhub sie gebrochenes CLallen.
Und nun kam die VNacht, und wir ritten hindann,
ringsum die Wachtfeuer lohten;
die Rosse schnoben, der Regen rann, —
und wir dachten der Toten, der Toten!
Ferdinand Freiligrath.
46. Moltke.
Wie dienstlich so blieb der General v. Moltke auch außerdienst—
lich stets in naher Berührung mit seinem Stabe. Das einfache
Mittagsmahl nahm er in der Regel gemeinschaftlich mit ihm
ein, wenn er nicht zur königlichen Tafel befohlen war. Sehr be—
kannt ist seine Tafelrunde im Hotel des Reservoirs in Versailles
geworden. Hier speiste er monatelang fast täglich mit seinen Offi⸗
seren an einer Quertafel im Hhintergrunde des großen Speisesaales,
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beim Ein- und Austritt achtungsvoll begrüßt von den deutschen
Fürsten und Prinzen, sowie von den ab⸗ und zugehenden Offizieren
und Fremden, welche alle an einer Längstafel und an vielen kleinen
Tischen in demselben Raum ihr Mahl einnahmen. An der Unter—
haltung sich selbst nur beteiligend, wenn ein ihn besonders inter—
essierendes Thema angeschlagen wurde, erfreute er sich doch sichtlich
an der guten Caune, die stets in seiner Umgebung herrschte. Im
Essen und Trinken war er bekanntlich sehr anspruchslos und mäßig;
was ihm vorgesetzt wurde, war ihm gleichgültig, wenn es nur aus—
reichte, seinem bedürfnislosen Uörper das Notwendige zuzuführen.
Nach Tisch rauchte er mit Behagen eine oder zwei Figarren, zu
anderen Tageszeiten fast niemals. Die Mäßigkeit und Regelmäßig⸗
keit seiner Lebensweise wird aber nicht wenig dazu beigetragen haben,
ihm einen gesunden Schlaf zu sichern. Zwar konnte er trotz seines
hohen Alters mit wenig Schlaf auskommen, ohne zu ermüden.
Aber wenn nicht unaufschiebbare Geschäfte ihn abhielten, so erfreute
er sich von 11 Uhr abends bis gegen 7 Uhr morgens erquickender
Ruhe in seinem einfachen Feldbette, auch vor großen Entscheidungs⸗
tagen.
Abends nach Tisch pflegten ihn einige Offiziere seines Stabes
in sein Quartier zur Whistpartie zu begleiten. Nur selten, selbst
nicht in Zeiten hoher Spannung der Kriegslage, ist von dieser Ge—
wohnheit abgewichen worden. Man spielte mit Aufmerksamkeit
und Eifer; Spielfehler oder fortgesetztes Unglück im Spiele konnten
den großen Strategen sehr verdrießen, wenn er auch seinem Verdruß
nie in Worten Ausdruck gab.
In der Zeit des Aufenthaltes in Versailles machte er, begleitet
von einem oder zwei Offizieren seines Stabes, bei gutem Wetter
nach dem Frühstück häufig Spazierfahrten in der Umgebung von
Paris, teils um sich an der schönen Natur und dem reichen Anbau
der Gegend zu laben, teils um die Stellungen der Truppen und
ihre Verteidigungsmaßnahmen kennen zu lernen, nach Beginn des
artilleristischen Angriffes auch, um den Geschützkampf zu beobachten.
Im Bereich des feindlichen Feuers wurde der Wagen verlassen; es
war dann erstaunlich zu sehen, mit welcher Leichligkeit und Äus⸗
dauer der siebzigjährige General noch bedeutende Geländeschwierig⸗
keiten überwand. Bei ungünstigem Wetter aber besuchte er nach
dem Frühstück fast stets die berühmte Gemãldegalerie des Versailler
Schlosses. Dorthin ging er, der Kunstfreund und Kunstkenner, allen
Warnungen und anonymen französischen Drohungen zum Trotz,
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immer ohne Begleitung, um sich dem Kunstgenuß ungestört hin—
geben zu können. Furcht kannte er nicht.
In dem Stabe des Generals v. Moltke ist während des ganzen
Feldzuges von mehr als halbjähriger Dauer niemals auch nur der
geringste Mißton zutage getreten. Der Stab bestand aus einem
Ureise von Freunden, von denen jeder bestrebt war, das Beste an
seinem Platze zu leisten, jeder aber auch dem andern das Beste
gönnte. Feugt das von einer glücklichen Zusammensetzung des
Stabes, so war das Einvernehmen doch vorwiegend eine Wirkung
des FZaubers, den die Persönlichkeit des an der Spitze stehenden
großen Mannes ausübte. Die Uberlegenheit seines Geistes ließ für
Eifersüchteleien keinen Platz. Seine Pflichttreue, seine strenge Sach—
lichkeit, seine Anspruchs- und Selbstlosigkeit, die würdevolle vor—
nehme Ruhe, die ihn auch unter den schwierigsten Verhältnissen
keinen Augenblick verließ, die Güte, die nie auch nur ein ungedul—
diges Wort von seinen Lippen kommen ließ, diese vorbildlichen,
durch weltgeschichtliche Erfolge in das hellste CLicht gestellten Eigen⸗
schaften wirkten mächtig auf seine Umgebung. Gehilfe eines solchen
Mannes in großer Zeit zu sein, war ein Glück und eine Ehre,
deren sich jeder durch hingebende Pflichterfüllung und Unterdrückung
kleinlicher Regungen würdig zu machen trachtete. In diesem Sinne
darf man sagen, daß Moltkes Geist in Moltkes Stabe herrschte.
General v. Blume.
47. Die Verkündigung des deutschen Kaiserreichs.
Am 18. Januar 1871 in Versailles.
An das deutsche Volkl
Wir Wilhelm,
von Gottes Gnaden König von Preußen,
nachdem die deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen Ruf
an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reiches die seit
mehr denn sechzig Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern
und zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen
Bundes die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden
hiermit, daß Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vater—
land betrachtet haben, diesem Rufe der verbündeten deutschen Fürsten
und Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiserwürde anzu—
nehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der
Urone Preußen fortan den kaiserlichen Titel in allen Unseren Be—
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ziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen und
hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation gegeben sein werde,
unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer
segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die kaiser—
liche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die
Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu
wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte
Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der
Hoffnung, daß dem deutschen Volke vergönnt sein wird, den Cohn
seiner heißen und opfermütigen Uämpfe in dauerndem Frieden und
innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit
Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frank—
reichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiser—
krone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu
sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern
und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt,
Freiheit und Gesittungl
Gegeben Hauptquartier Versailles, den 18. Januar 1871.
Wilhelm.
48. Nach der Feier.
An die Deutsche Kaiserin und Königin von Preußen.
Versailles, 18. Januar 1871.
Eben kehre ich vom Schlosse nach vollbrachtem Kaiserakt zurück!
Ich kann Dir nicht sagen, in welcher morosen Emotion ich in
diesen letzten Tagen war, teils wegen der hohen Verantwortung,
die ich nun zu übernehmen habe, teils und vor allem über den
Schmerz, den preußischen Titel verdrängt zu sehen! Erst nachdem
ich in inbrünstigem Gebet mich an Gott gewendet habe, habe ich
Fassung und Uraft gewonnen! Er wolle geben, daß so viele Hoff—
nungen und Erwartungen durch mich in Erfüllung gehen mögen, als
gewünscht wurdel An meinem redlichen Willen soll es nicht fehlen!
Die Feier ist sehr würdig vor sich gegangen. Um 12 Uhr ver—
sammelten sich die Fürsten in einem der Salons vor der galerie
des glaces; in den drei darauffolgenden stand meine Stabswache
als Ehrenwache. In der Mitte der Galerie am Fenster war der
Altar errichtet, zu beiden Seiten längs der Fenster über 150 Sol—
daten mit dem Eisernen Kreuz; gegenüber längs der Spiegelnischen
die Offizierkorps, mehrere hundert Personen. Am Ende der Galerie
war ein Hauptpas gestellt, dessen Hintergrund die Fahnen ein—
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nahmen. Wir stellten uns vis-a-vis des Altars, wo Rogge eine ver—
kürzte Liturgie sprach und ein schönes, nicht zu langes Gebet und
Anrede sprach mit dem Schluß: Nun danket alle Gott. Dann
ging ich mit den Fürsten nach dem Hauptpas und sprach dieselben
mit kurzen Worten an, worauf Bismarck die Proklamierung verlas
und Fritz von Baden das erste Hoch auf mich mit dem neuen Citel
ausbrachte, was von der ganzen Versammlung langtönend wider—
halltel Es war ein sehr ergreifender Momentll Es folgte die
Gratulation der Fürsten, worauf eine Defiliercour stattfand, und
zum Schluß ging ich längs den Fahnen und Eisernen-Kreuz-Mann—
schaften herunter, womit alles endigtel
Dein treuester Freund W.
49. Bismarcks Erhebung in den Fürstenstand.
Berlin, den 21. März 1871.
Mit der heutigen Eröffnung des ersten deutschen Reichstags nach
Wiederherstellung eines Deutschen Reiches beginnt die erste öffent—
liche Tätigkeit desselben. Preußens Geschichte und Geschick wiesen
seit längerer Zeit auf ein Ereignis hin, wie es sich jetzt durch dessen
Berufung an die Spitze des neugegründeten Reiches vollzogen hat.
Preußen verdankt dies weniger seiner Ländergröße und Macht,
wenngleich beides sich gleichmäßig mehrte, als seiner geistigen Ent—
wicklung und seiner Heeresorganisation. In unerwartet schneller
Folge haben sich im Caufe von sechs Jahren die Geschicke meines
Candes zu dem Glanzpunkte entwickelt, auf dem es heute steht.
In diese Zeit fällt die Tätigkeit, zu welcher ich Sie vor zehn Jahren
zu mir berief. In welchem Maße Sie das Vertrauen gerechtfertigt
haben, aus welchem ich damals den Ruf an Sie ergehen ließ, liegt
offen vor der Welt. Ihrem Rat, Ihrer Umsicht, Ihrer unermüd—
lichen Tätigkeit verdankt Preußen und Deutschland das weltgeschicht—
liche Ereignis, welches sich heute in meiner Residenz verkörpert.
Wenngleich der Cohn für solche Taten in Ihrem Innern ruht,
so bin ich doch gedrungen und verpflichtet, Ihnen öffentlich und
dauernd den Dank des Vaterlandes und den meinigen auszudrücken.
Ich erhebe Sie daher in den Fürstenstand Preußens mit der Be—
stimmung, daß sich derselbe stets auf das älteste männliche Mitglied
Ihrer Familie vererbt.
Mõgen Sie in dieser Auszeichnung den nie versiegenden Dank
erblicen Ihres Kaisers und Königs
Wilhelm.
90
50. Zum siebzigsten Geburtstage Bismarcks.
Berlin, 1. April 1885.
Mein lieber Fürst!
Wenn sich in dem deutschen Cande und Volke das warme Ver⸗
langen zeigt, Ihnen bei der Feier Ihres 70. Geburtstages zu be—
tätigen, daß die Erinnerung an alles, was Sie für die Größe des
Vaterlandes getan haben, in so vielen Dankbaren lebt, so ist es
mir ein tiefgefühltes Bedürfnis, Ihnen heute auszusprechen, wie
hoch es mich freut, daß ein solcher Zug des Dankes und der Ver—
ehrung für Sie durch die Nation geht. Es freut mich das für Sie
als eine wahrlich im höchsten Maße verdiente Anerkennung, und
es erwärmt mir das Herz, daß solche Gesinnungen sich in so großer
Verbreitung kundtun; denn es ziert die Nation in der Gegenwart,
und es stärkt die Hoffnung auf ihre Zukunft, wenn sie Erkenntnis
für das Wahre und Große zeigt, und wenn sie ihre hochverdienten
Männer feiert und ehrt. An einer solchen Feier teilzunehmen, ist
mir und meinem Hause eine besondere Freude, und wünschen wir
Ihnen durch beifolgendes Bild (die Kaiserproklamation in Ver—
sailles) auszudrücken, mit welchen Empfindungen dankbarer Erinne—
rung wir dies tun. Denn dasselbe vergegenwärtigt einen der
größten Momente der Geschichte des Hohenzollernhauses, dessen
niemals gedacht werden kann, ohne sich zugleich auch Ihrer Ver—
dienste zu erinnern.
Sie, mein lieber Fürst, wissen, wie in mir jederzeit das vollste
Vertrauen, die aufrichtigste Zuneigung und das wärmste Dankgefühl
für Sie leben wird! Ihnen sage ich daher mit diesem nichts, was
ich Ihnen nicht oft genug ausgesprochen habe, und ich denke, daß
dieses Bild noch Ihren späten Nachkommen vor Augen stellen wird,
daß Ihr Kaiser und König und sein Haus sich dessen wohl bewußt
waren, was wir Ihnen zu danken haben.
Mit diesen Gesinnungen und Gefühlen endige ich diese Feilen
als, über das Grab hinaus dauernd,
Ihr dankbarer und treu ergebener
Kaiser und König
Wilhelm.
51. Förderung des Wohles der Arbeiter
durech Kaiser und Reich.
1.
Aus der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881.
Wir Wilhelm,
von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser und König von Preußen,
tun kund und fügen hiemit zu wissen:
Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Uber-
zeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen
Schaden nicht ausschließlich im VWege der Repression sozial-
demokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmaßig auf dem
der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen
sein werde. Wir halten es für Unsere kaiserliche Pflicht, dem
Reichstage diese Aufsgaben von neuem ans Herz zu legen und
würden mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit
denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurück-
blicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewubßtsein mit-
zunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bũrgschaften
seines inneren Friedens und den Hilfsbedürfstigen größere
Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie An-
spruch haben, zu hinterlassen. In Unseren darauf gerichteten
Bestrebungen sind wir der Zustimmung aller verbündeten
Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des
Reichstags ohne Unterschied der Parteistellungen. In diesem
Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in
der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes uber
die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfalle einer Um-
arbeitung unterzogen, um die erneute Beratung desselben vor-
zubereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten,
welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen
Krankenkassenwesens zur Aufgabe sstellt. Aber auch diejenigen,
welche durch Alter oder Invaliditat erwerbsunfähig werden,
haben der Gesamtheit gegenũber einen begründeten Anspruch
auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher
hat zuteil werden können. Für diese Fürsorge die rechten
Mittel und Vege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine
der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den
sittlichen Fundamenten des chrisstlichen Volkslebens steht.
Aus der Reichstagsthronrede
vom 22. November 1888.
Als ein teures Vermãchtnis Meines in Gott ruhenden Herrn
Großvaters habe Ich die Aufgabe übernommen, die von ihm
begonnene sozialpolitische Gesetzgebung fortzuführen. Ich
gebe Mich der Hoffnung nicht hin, daß durch gesetzgebe—
rische Maßbnahmen die Not der Zeit und das menschliche
Elend sich aus der Welt schaffen lassen, aber Ich erachte es
doch für eine Aufgabe der Staatsgewalt, auf die Linderung
vorhandener wirtschaftlicher Bedrängnisse nach Kraften hin-
zuwirken und durch organische Einrichtungen die Betätigung
der auf dem Boden des Christentums erwachsenden Nãchsten-
liebe als eine Pflicht der staatlichen Gesamtheit zur Aner-
kennung zu bringen. Die Schwierigkeiten, welche sich einer
aut staatliches Gebot gestũtzten durchgreifenden Versicherung
aller Arbeiter gegen die Gefahren des Alters und der In—
validitãt entgegenstellen, sind groß, aber mit Gottes Hilfe
nicht unüberwindlich. Als die Frucht umfänglicher Vorar-
beiten wird Ihnen ein Gesetzentwurf zugehen, welcher einen
gangbaren VWeg zur Erreichung dieses Zieles in Vorschlag
bringt.
52. Ernst Abbe.
Abbe hat in aller Stille gelebt, und doch ist der Blick so vieler
auf ihn gerichtet gewesen.
Am 17. Januar 1905 erwies man dem Toten die letzte Ehre.
Im Volkshause in Jena war er aufgebahrt. Der Sarg stand in
einem Hain von Corbeerbäumen und verschwand fast unter Kränzen
und Blumengewinden. Arbeiter aus dem Zeißwerk hielten die
CTotenwacht. Hunderte, Männer und Frauen aus allen Ständen,
zogen an dem Toten vorüber, um still seiner zu gedenken. Eine
ergreifende Trauerfeier folgte. Bis auf den letzten Platz war der
große Saal gefüllt, und viele harrten auf dem Vorplatz und selbst
auf den Treppen aus. Das Zeißwerk, die Stadt, die wissenschaft—
lichen Anstalten der Stadt, die fürstlichen Erhalter der Universität,
gelehrte Gesellschaften aus nah und fern und Vereine für wohl⸗
lãtige und gemeinnützige Zwecke, — sie alle hatten ihre Vertreter
gesandt, um öffentlich zu bekunden, was sie dem Verewigten schul⸗
deten. Der Karl-Feiß-Platz war zu Ehren des Toten geschmückt,
92
2
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und in der Nacht zuvor hatten auf hohen Kandelabern Pechfeuer
geflackert.
Wie bescheiden hat Abbe selbst über sich gedacht! Er hatte
allezeit eine offene Hand; aber daß er der Wohltäter wäre, das
sollte niemand erfahren. Hatte ihn eine gelehrte Gesellschaft zum
Ehrenmitgliede ernannt, so durfte niemand darum wissen. Selbst
die Stadt Jena konnte es nicht bekanntgeben, als er ihr Ehren—
bürger geworden war. Ja, nicht einmal seine Stiftung trägt seinen
Namen.
Abbe war ein Kind aus dem hartschaffenden Volke. Sein Vater
entstammte einer Lehrerfamilie und war Aufseher in der Eichel⸗
Streiberschen Rammgarnspinnerei in Eisenach. Die Fabrik nahm
den Vater so in Anspruch, daß er sich nicht einmal eine längere
Mittagspause gönnen konnte. Kaum fand er Zeit, hastig die Suppe
zu essen, die ihm seine Kinder, Ernst und seine Schwester, täglich
im Henkeltopf brachten.
Abbes außerordentliche Begabung konnte nicht lange verborgen
bleiben. In der Volksschule zeigte sich der Knabe so geweckt, daß
ihn der Vater, unterstützt von seinem Arbeitgeber, in die Realschule
schickte. Diese Anstalt durchlief der Sohn mit Auszeichnung. Be—
sonders in der Mathematik waren seine Leistungen so ungewöhnlich,
daß Hofrat Koepp, der Direktor der Realschule, die Eltern bestimmte,
den Sohn die Universität beziehen zu lassen. Nur schweren Herzens
konnten sich die Eltern dazu entschließen, wußten sie doch, daß sie
kaum 85 Taler jährlich für den Sohn aufzubringen vermochten.
Die Unterstützung, die der Arbeitgeber von neuem anbot, lehnte
der Vater entschieden ab.
Abbe studierte in Jena und Göttingen Mathematik und Physik.
Schon im dritten Semester errang er — er war damals erst
18 Jahre alt — durch eine wissenschaftliche Arbeit einen Preis, und
die ärmliche äußere Cage vermochte seinen wissensdurstigen Geist
nicht zu beirren. In Göttingen bestand er das Doktorexamen
glänzend. Er wählte sich den strengsten Examinator aus; ja, er
bat ihn, mit schweren Fragen nicht sparsam zu sein.
Nach einigen tastenden Versuchen fand er 1863 die Beschäftigung,
die ihm zusagte: an der Universität in Jena wurde er Dozent für
Physik und Mathematik. 1877 übernahm er außerdem die Stern⸗
warte.
Abbes Blick lenkte sich bald auf die optischen Instrumente. Als
Cehrer der Physik hatte er zuweilen Veranlassung, in der Werk—
4
statt des Universitätsmechanikers Karl Zeiß selbst Hand mit anzu—
legen. Zeiß war seit langem bemüht, bessere Mikroskope herzustellen.
Sogar sachkundige Wissenschaftler hatte er bereits zu Rate gezogen;
aber auch das hatte keinen wesentlichen Erfolg gehabt. Leider!
Ob Schweinefleisch trichinenfrei und daher genießbar ist, ob ein
Rind durch Milzbrand gefallen und daher ein ganzer Viehstand
gefährdet ist, ob ein Brunnen mehreren Gliedern einer Familie
durch Typhuskeime den Tod gebracht hat, das alles und vieles
andere kann man nur mit dem Mikroskop entscheiden. Und wie
gern greift zum Mikroskop, wer die Kleintierwelt und die Klein—
pflanzenwelt unserer Gewässer untersuchen will.
Die älteren Mikroskope ließen viel zu wünschen übrig. Die
mikroskopischen Bilder waren zu lichtschwach, sie waren auch fast
immer wie die Bilder einer einfachen Linse farbig umrandet und
farbig durchsetzt, daher nicht deutlich genug. Wie muß das Mikro—
skop gebaut werden, damit es hinreichend vergrößert und dabei
doch lichtstarke und farbenfreie Bilder liefert? Das ist die Frage,
die Abbe so vollständig und so einwandfrei wie keiner seiner Vor—
gänger beantwortet hat. Wer heutzutage ein Mikroskop baut,
weiß im voraus, welche Glassorte er zu nehmen, wie er die Linsen
zu formen und zu vereinigen hat. Ist das Mikroskop aufgebaut,
so muß es arbeiten; und der Optiker hat nicht erst nötig, diese
oder jene Abänderung an dem einen oder anderen Teile versuchs—
weise vorzunehmen, um eine bessere Wirkung zu erzielen. Das
Abbesche Mikroskop, gewöhnlich das Zeißsche genannt, kennt man
in der ganzen Welt. Sei's in Japan oder China, in Hinter- oder
Vorderindien, in Australien oder sonstwo, überall greift der Forscher
gern zum Zeißschen Mikroskop.
Und was Abbe für das Mikroskop geleistet hat, das ist auch
den andern optischen Instrumenten zugute gekommen.
Wie begehrt die Feißschen Instrumente sind, zeigt die Ent—
wicklung der optischen Werkstätte. 1866 beschäftigte die Firma
nur 3 Personen, 1888 bereits 350, jetzt bis 3800, darunter über
30 Wissenschaftler. An Lohn und Gehalt wurden 1881 100000,
1900 bereits 2 000 000 Mark bezahlt. 1877 betrug der Umsatz
300000, 1900 31 und jetzt über 5 Millionen Mark.
Abbe erkannte gar bald, wie bedeutungsvoll das Glas für die
optischen Instrumente sei. Welche Stoffe muß man einschmelzen,
damit ein Glas entsteht, das die Lichtstrahlen in geeigneter Weise
bricht und zerstreut, und das dabei doch luftbeständig ist? Das ist
2—
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die Frage, die Abbe mit dem Glastechniker Dr. Schott in gründ—
lichster Weise löste. Früher hatte man das Glas nur aus wenigen
Stoffen hergestellt; Abbe und Schott aber erstreckten die Versuche
— die preußische Regierung unterstützte sie mit 60000 Mark —
auf eine ganze Reihe von Stoffen.
Mie freuten sich die beiden Forscher, als sie ein Glas gewannen,
das die Lichtstrahlen in geeigneter Weise brach und zerstreute. Leider
war es nicht luftbeständig und daher unbrauchbar. So folgte
zunächst Enttäuschung auf Enttäuschung. Endlich aber waren alle
Schwierigkeiten überwunden. Auch das Schottsche Glaswerk hat
sich bald zu einem Weltgeschäft entwickelt. Gegenwärtig beschäftigt
es über 1200 Personen und hat einen Umsatz von über 2 Millionen
Mark.
Abbe war zunächst nur Mitleiter der optischen Werkstätte. 1875
trat er in die Firma ein, und 1889 ging der ganze Betrieb in seinen
Besitz über. Überdies stand ihm vom Schottschen Glaswerk die
Hälfte zu.
Jetzt vollbrachte Abbe eine außerordentliche Tat: er rief die Karl⸗
Zeiß ⸗Stiftung ins CLeben. Diese Stiftung wollte vor allem die Wohl—
fahrt der Arbeiterschaft des Betriebes heben und die wissenschaftlichen
Institute der Universität in Jena unterstützen. Durch die Stiftung
entäußerte sich Abbe fast seines ganzen Vermögens von mehreren
Millionen Mark. Den Seinigen blieb nur der gesetzliche Pflichtteil.
Unzweifelhaft eine Tat, die viel Selbstüberwindung gekostet hat.
Da, wo er unbeschränkt hätte walten können, begnügte er sich damit,
an der Leitung teilzunehmen.
Abbe hat eben weniger an sich als an die Arbeiter und Be—
amten des Betriebs gedacht. Die Arbeitszeit ist auf acht Stunden
beschränkt. Wer unschuldig entlassen wird, ist zu entschädigen.
Während eines Urlaubs oder bei Verhinderung durch öffentliche
Ehrenämter wird der Cohn weitergewährt. Damit die Beamten
des Stiftungsbetriebs nicht einseitig auf Steigerung ihres Gehalts
bedacht sein können, ist festgelegt, in welchem Verhältnis das Gehalt
der Beamten zum Durchschnittsgehalt eines erwachsenen Arbeiters
stehen soll. Kantinen und Schlafräume, Spar- und Darlehnskassen
stehen zur Verfügung. Für Fortbildungsunterricht ist gesorgt. Der
Erwerb eines eigenen Hauses wird erleichtert, auch fehlt es nicht an
billigen Arbeiterwohnungen. Abbe war also auf Arbeiterfürsorge
bedacht, bevor das Reich sie forderte; und er führte sie in so weit—
gehendem Maße durch, wie sie das Reich nicht vorsehen konnte.
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Es ist unmöglich, im einzelnen anzugeben, was die Uarl⸗-Feiß⸗
Stiftung an namhaften Beiträgen für wohltätige und gemeinnützige
Zwecke bisher schon geleistet hat, sei's an Kochschulen und Volks—
küchen, an Kinderhorte und Heilanstalten, an Volksbäder usf. Das
eine oder andere Institut der Universität stellt sich nur deshalb so
schmuck dar und ist nur deshalb so gut ausgestattet, weil Abbe eine
offene Hand gehabt hat. Wer könnte in dem Volkshause sehen,
wie sich alt und jung an den Schaltern der Bücherei drängt, wie
in den Lesesälen die einen zu Nachschlagewerken, die anderen zu
Zeitschriften aller Art greifen, ohne dankbar Abbes zu gedenken!
Abbe nahm seine Kräfte freilich über Gebühr in Anspruch.
Auch späterhin war er noch die Seele des Betriebs, und gern sparte
er schwierige Arbeiten für die Nachtzeit auf. Die Folgen blieben
trotz der liebevollen Pflege durch seine Frau nicht aus. Bald stellte
sich eine Schlaflosigkeit ein, die schließlich auch durch Schlafmittel
nicht mehr zu bekämpfen war. Seine Kräfte schwanden daher mehr
und mehr. Am 1. April 1905 sah er sich genötigt, aus dem Be—
triebe auszuscheiden. Zur gewohnten Stunde verließ er das Geschäfts⸗
zimmer, ohne den Mitleitern und Arbeitern des Betriebs ein Wort
des Dankes zu gestatten.
Nach zweijährigem Siechtum erlöste ihn der Tod.
Abbe stammte aus einer einfachen Familie, und einfach ist er geblie⸗
ben trotz seiner Erfolge. Wie anspruchslos war er in seiner Kleidungl
1911 wurde ihm auf dem Zeißplatz ein Denkmal errichtet. Möge
es den Beschauer an den Mann erinnern, der uns durch rastloses
Schaffen, durch Bescheidenheit und Selbstlosigkeit ein erhabenes Vor⸗
bild bleiben wird! Nach Marx Vollert.
53. Fünfzig Jahre nach Gründung
der Verfassung des Großzherzogtums Sachsen.
Am 5. Mai 1866.
An Seine Königliche Hoheit den Großherzog von Sachsen!
Eure Königl. Hoheit haben den Vertretern des Landes, der Bezirke
und der Gemeinden gnädigst gestattet, in Erinnerung an ein für
die politische Bedeutung unseres Staates hochwichtiges Ereignis, den
Gefühlen, Wünschen und Bestrebungen der ganzen Bevölkerung an
dieser Stelle Ausdruck zu geben.
Seit Jahrhunderten standen Eurer Königl. Hoheit erhabene Vor—
fahren, allen deutschen Fürsten voraus, entschlossen im Kampfe für
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Recht und geistige Freiheit. Wissenschaft und Uunst umgaben den
weimarischen Hof mit hellem Glanze, dem heut noch wie damals
sorgsam gepflegten Erbteile hochbegabter Fürsten und Fürstinnen. —
Dem Tage, dessen Gedächtnis uns in dieser Stunde zusammenführt,
war es vorbehalten, unserem Staate die Bedeutung zu geben, welche
ihm mit Recht in der Geschichte des deutschen Verfassungslebens
zuzuschreiben ist. Das Volk unseres Landes wird nie aufhören, mit
dankbarer Anerkennung der hohen Verdienste des unvergeßlichen
Gründers unserer Verfassung zu gedenken; es wird den Cag freudig
begrüßen, an welchem ein dauerndes äußeres Feichen die Dankbar—
keit der Nachkommen bekunden wird. — Treu hat Karl August das
gegebene Wort erfüllt! Treu sind seine Nachfolger stets bestrebt
gewesen, das bestehende Recht zu bewahren und im Geiste ihres
großen Ahnherrn fortzubilden. In nie gestörter gesetzlicher Ent—
wickelung hat unsere Staatsverfassung den Forderungen, welche fort⸗
schreitende politische Bildung an sie stellte, entsprochen. Sie ruht
auf einer freien Gemeindeverfassung als ihrer festesten Grundlage.
Mit voller Befriedigung blicken wir auf das Gedeihen der öffent⸗
lichen Zustände unter der Herrschaft unserer Gemeindeordnung, welche
in dem volkstümlichen Institute der Bezirksausschüsse ihren folge⸗
richtigen Ausdruck finden.
Derselbe Geist der Freiheit, welcher in der Verfassung unseres
Staates und unserer Gemeinden zur Herrschaft gelangte, hat sich
gleichmäßig zum Segen des Landes auch auf volkswirtschaftlichem
und geistigem Gebiete Bahn gebrochen. Befreit von drückenden
Casten und beengenden Schranken erhebt sich unsere Candwirtschaft
auf einen vordem nie geahnten Höhepunkt. Frei entfaltet sich der
Gewerbfleiß, und frei bewegt sich der Bürger in den Grenzen unseres
Candes. Frei und gleichberechtigt stehen nebeneinander die Glieder
aller Religionsgesellschaften, und erst vor kurzem ist auf diesem Ge—
biete die letzte Schranke gefallen.
Daß wir einer solchen staatlichen und gesetzlichen Entwickelung
uns erfreuen, verdanken wir vor allem den erhabenen Fürsten, welche,
freidenkende Ratgeber zur Seite, stets aus eigenem Antriebe die
Bahn des Fortschrittes betraten.
Mõge der Geist des Rechtes, der Freiheit und der Humanität
auch ferner über alle Teile unserer Gesetzgebung sich verbreiten!
Sorglicher werden die Gedanken, wenn wir sie ablenken von
unserem kleinen Lande auf die Zustände des gemeinsamen Vater—
landes.
Weimar. Lesebuch III, 2.
98
Moõge es, unter Teilnahme einer wahren Vertretung der Nation,
gelingen, in friedlicher Entwickelung zu dem lang erstrebten Fiele
deutscher Einheit und Freiheit zu gelangen! Mögen so die Gefahren
abgewandt werden, welche gegenwärtig drohend vor dem Vater—
lande stehen!
Sollte aber wirklich Unvermeidliches über uns hereinbrechen,
dann wird dennoch das deutsche Volk den Mut und die Hoffnung
nicht sinken lassen, daß selbst aus Trümmern ein frei geeinigtes
Vaterland erstehe. Ihm werden sicher Fürst und Volk unseres Landes
diejenigen Opfer eigener Selbständigkeit bereitwillig darbringen, welche
das große Ganze von dem einzelnen zu verlangen berechtigt ist.
Ein gütiges Schicksal walte schirmend über dem teueren Vater⸗
lande und unserem innig verehrten Fürstenhause!
Der Candtagspräsident.
Fries.
54. Kaiser Wilhelms letzter Besuch beim
Grafen von RVoon.
Es war fast 6 Uhr, als ich herausgerufen wurde; der Jäger
Sr. Majestät, der nun den Weg herüber so oft schon gemacht, wollte
mir selbst, ohne eigentlichen Auftrag, sagen, daß Se. Majestät ihm
fast auf dem Fuße folge, um den teuern Uranken zu sehen. W. (der
Sohn von Roons) konnte dem KNönige entgegeneilen. Dieser benutzte
den Fahrstuhl, und ich konnte, während W. die Treppe wieder herauf—
eilte, dem gnädigen Herrn entgegengehen. Er sagte noch vor der Tür
zu mir: „Steht es wirklich so schlimm ? Es wird ihm doch nicht
schaden ?“ Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Er trat ein und
bat mich mit bewegter Stimme: „Sagen Sie dem Feldmarschall, die
Ürzte haben es mir erlaubt.“ Ich ging auf diesen Befehl voraus und
sagte es ihm schnell. Da richtete sich der teure Kranke auf, streckte
beide Hände ihm entgegen und sagte laut: „Majestät, welche
Freudel Wie dankbar bin ichl“ Der König reichte ihm beide
Hände und sagte bewegt: „Muß ich Sie so finden, mein alter
Freund“ (oder mein lieber Roon). Ich weiß die Worte, und wie sie
folgten, nicht so genau, war auch zu bewegt im Herzen; aber ich
weiß, ich sah und fühlte, wie beglückt mein herzenslieber Mann war.
Der Kaiser ließ sich auf einem tiefen CLehnstuhl am Bette nieder.
Die beiden Köpfe der alten Herren waren dicht zusammen. Der
König hielt die Rechte des Uranken in seiner Linken, die Rechte
hing noch in der schmalen, schwarzen Binde. Mein lieber Mann
90
beugte sich auf die Hand; ich glaube, der Uaiser hat es diesmal
auch gelitten, daß er sie ihm küßte. Sie sprachen leise; mein lieber
Kranker sprach schon schwer, so daß der König mich zweimal fragte:
„Wie sagte er ?“
Es war immer wieder: „Dank, Dank, mein Königl“ und dann
sagte er ihm auch, daß er morgens immer nach seinem Fenster
schaue und nach der Fahne, ob er schon auf sei und schon wieder
arbeite.
Wichtiges oder gar Politisches wurde nicht gesprochen. Als der
König aufstehen wollte, durfte ich ihn etwas unterstützen, da er
nur eine Hand brauchen konnte.
„Ach, der tiefe Stuhl!“ — sagte der Kranke. „Geht schon, geht
schon.“ — Dann stand der geliebte Herr noch am Bett, hielt die
eine Hand, und die andere aus der Binde nehmend, streckte er die
Finger nach oben: „Dort sehen wir uns wieder!“ drehte sich langsam
um, sah noch einmal zurück und rief: „Grüßen Sie die alten
riegskameradenl! Sie finden vielel“ — Das war erschütternd.
Im andern Fimmer hielt er sich das Tuch vor die nassen
Augen und schluchzte. Seine Cränen fielen auf meine und meines
Sohnes Hände, als er uns die seine reichte und wir sie küssen durften.
„Gott stärke Siel“ Damit ging er langsam und leise, wie er ge⸗
kommen, den Korridor wieder hinunter, von meinem Sohne geleitet.
Das war der Abschied eines großen Königs und Kaisers von
seinem treuen Diener.
Als ich wieder an des Kranken Bett trat, strahlte sein liebes
Antlitz, und er sagte: „Mein König, mein Königl Ach, daß ich
diese Freude noch erleben durftel“ sran v. Roon
55. Dem Fürsten Bismarck.
(Zum 1. April 1890.)
Du gehst von deinem Werke,
dein Werk geht nicht von dir,
denn wo du bist, ist Deutschland,
du warst, drum wurden wir.
Was wir durch dich geworden,
wir wissens und die Welt —
was ohne dich wir bleiben,
Gott sei's anheimgestellt. Ernst v. Wildenbruch.
3
2
100
56. Der Alte im Sachsenwalde.
Dort, wo die Elbe, ihr Bette breiter und breiter grabend, der
Nordsee entgegeneilt, liegt eine kurze Strecke oberhalb Hamburgs
zur rechten Seite das Ländchen Cauenburg, früher ein Herzogtum.
Einst hatte auch hier der Uönig von Dänemark regiert; dann ist
es nach Schleswig-⸗Holsteins Befreiung an Preußen gekommen. Zu
Karls des Großen Zeit und später noch haben die Sachsen und
Slaven hier um das Land gekämpft; seitdem heißt der mächtige
Wald, der sich dort meilenweit hinzieht, der Sachsenwald. Als nun
Kõnig Wilhelm von Preußen im Jahre 1871 deutscher Kaiser gewor⸗
den war, erhob er seinen Kanzler Bismarck zum Fürsten und schenkte
ihm den Sachsenwald nebst einigen Candgütern, damit er auch
fürstlich zu leben vermöchte. Da hat sich Bismarck in Friedrichs—
ruh das alte Wirtshaus herrschaftlich ausgebaut und alles nach
seinem Sinne eingerichtet. Wenn er dann Ferien hatte von seinem
großen schweren Amt, so hat er hier mit den Seinigen gern
geweilt; und als er im Jahre 1890 gänzlich Ferien bekam und
seines Dienstes entlassen worden war, da wählte er sich Friedrichs-
ruh zu seinem Ruhesitz. Dort mußte ihn aufsuchen, wer ihn kennen
lernen wollte; und das deutsche Volk hat ihn dort aufgesucht und
wird die Stätte aufsuchen, solange es deutsch bleibt.
Wir machen uns heute gleichfalls auf die Fahrt. Hier halt
der Zug, und dort ist der Weg. Aber wo steht denn das fürst—
liche Schloß mit seinen Türmen und Zinnen? Mächtige Bäume
strecken ihre Arme empor und schließen uns ein, aber von einem
Palast, wie er einem Fürsten gebühren will, nicht eine Spur. Doch
mach nur die Augen auf, und denke, wen wir suchen wollen! Hier
dieser Sachsenwald, der sich nach allen Seiten hinstreckt, der ist Bis—
marcks Schloß und Palast, und an stattlichen Türmen und Finnen
fehlt's dem doch wahrlich nicht. Da sind uralte Eichen und Buchen
die Menge, Eschen und Birken, Kiefern und Fichten, und was sonst
zum deutschen Walde gehören mag. Ein Flüßlein, die Au, windet
sich auf der einen Seite durchs Tal. Tiefer aber im Forst liegen
zahllose Hünengräber und gewaltige Malsteine und erzählen von
der Urväter Zeiten.
Das Wohnhaus freilich ist nur einfach und gar nicht sehr groß,
aber zu erzählen hat es gleichwohl nicht wenig; denn darin steht
manch Kunstwerk und Andenken, das von den großen Cagen im
Ceben des Kanzlers Zeugnis gibt, wie z. B. der Tisch, auf dem im
2
Frühling 1871 zu Versailles der Vorfriede mit Frankreich unter⸗
schrieben wurde, oder das bronzene Abbild des Denkmals vom
Niederwald, das Kaiser Wilhelm J. seinem treuen Diener 18853 zu
Weihnachten schenkte. Die Gastzimmer aber im oberen Stock sind
fürstlich für fremde Gäste eingerichtet.
Haben denn wirklich so viele Gäste hierher sich aufgemacht?
Ja, so viele, wie ich gar nicht erzählen kann; das ist auch gar
nicht nötig, denn die fremden Staatsmänner und Herren braucht
ein Deutscher nicht alle zu kennen. Daß aber auch unser Kaiser
Wilhelm U. ein paarmal unter dem Dache des alten Kanzlers ge⸗
schlafen und bei Tage sich mit ihm in dem herrlichen Waldes⸗
schatten ergangen hat, müssen wir wissen, und nicht minder, daß
ganze Scharen aus allen Stämmen und Gauen des deutschen Volkes
hierhergeströmt sind.
Das ist eine seltsame Geschichte, und spätere Zeiten werden's ein
Mãrlein nennen, was am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in
die ruhigen Deutschen gefahren ist. Im Sommer 1892, da hat's
begonnen. Als der Fürst damals zu Kissingen seinen Brunnen
trank, kamen aus Thüringen und Württemberg, aus Franken und
Baden, aus Hessen und der Pfalz Männer dorthin gewandert, um
ihn als den Einiger Deutschlands zu begrüßen, und er gab ihnen
allen ernste und herrliche Worte mit auf den Weg von der Einig—
keit die wir gewonnen haben und festhalten wollen. Im andern
Fruhjahr aber machten sich ganze Scharen aus dem nördlichen
Deusschland nach Friedrichsruh auf, Scharen aus Schleswig-Holstein,
Cübeck, Hamburg, Oldenburg, Mecklenburg, Lippe und Braun—
schweig, die Bismarck ihre dankbare Huldigung brachten. Im Früh⸗
ling 1894 kamen sogar die Frauen und Jungfrauen aus dem Sud⸗
westen des Reiches gepilgert und hörten von ihm, daß auch sie an
der Zukunft des Vaterlandes mitarbeiten sollen.
Ale diese Wallfahrten waren aber doch nur ein Linderspiel
gegen die nächsten, die vom März bis zum Mai 1895 stattfanden.
Denn am 1. April dieses Jahres war der Tag, an dem Bismarck
vor achtzig Jahren dem deutschen Volke geschenkt worden war, und
welcher Deutsche iue sich des Tages nicht freuen sollen? Allen
voran traf am 26. März der Kaiser selbst mit dem Kronprinzen
ein. Er führte ihm eine Schwadron der Magdeburger Lürassiere
vor und sprach: „Wollen Eure Durchlaucht hinter dieser Schar den
kampfgerüsteten Heerbann aller germanischen Stämme sehen, die
den heutigen Tag mitfeiern!l“ Unter denen, die am Geburtstage
102
selbst ihm ihre Glückwünsche brachten, waren auch ungefähr fünf⸗
tausend Studenten. Von allen deutschen Universitäten waren sie
mit fliegenden Bannern herangezogen und gelobten, das Cebenswerk
des Fürsten weiterbauen zu helfen. Da wurde sein Herz froh, und
er meinte, nun sähe er die Zukunft Deutschlands sicher voraus, und
er sprach die Hoffnung aus, sie würden auch Anno 1950, so viele
ihrer noch lebten, dem Kaiser und dem Deutschen Reiche ihre Huldi⸗
gung bringen.
Stand Bismarck jetzt nicht auf der hochsten Hõöhe zu der ein
Mensch auf Erden gelangen kann, verklärt vom Sonnenschein der
Ciebe und Begeisterung seines Volkes?
Oft hat Bismarck, wenn er durch den Sachsenwald ging, mit
den Ceuten, die er dort an der Arbeil traf, eine Unterredung be⸗
gonnen. Eines Tages sprach er auch mit einem Bauersmanne
der sich Holz auf den Wagen lud. Der erzählte ihm treuherzig,
er wäre neulich auch in iSchlose gewese e alles beschaut
„Wos hat Ihnen denn am besten gefallen ⸗ agte der Furse
nun, das beste ist doch wo l das Ureuz mit dem Heiland, das in
——— en en
die Hand und —— —— Sie das für d beste
halten; wenn wir den Heiland nicht hätten, wären wir beloren—
Schãächer.“
Wer so viel Ruhm und Liebe der Menschen gewonnen hat wie
Fürst Bismarck, der ist sicher ein reicher Mann. Wenn er aber
keinen Heiland hat, so ist er doch bettelarm. Bismarck aber hatte
seinen Gott und Heiland gelannt und geliebt. Ich begreife nicht
wie ein Mensch, der über sich nachdentk e von Gott nichts
weiß oder nichts wissen will, sein Leben e asen lat n.“ Wir
sollen uns nicht an diese Welt en und nicht in m heimisch
werden; es wäre des An und Ausziehens nicht wert, wenn es
damit vorbei wäre.“ Ich weiß nicht wo ich mein Pflichtgefůhl
hernehmen soll, wenn nicht aus Gotl.“ So und ähnlich hat er
oftmals gesprochen und geschrieben.
Darum hat er sich auch aus Gottes Wort fleißig erbaut. Als
er am Morgen nach der Schlacht bei Sedan aus dem Schlafe
geweckt und gleich darauf zu Napoleon gerufen wurde, fand man
neben seinem Bette die „Geistlichen Erquickungsstunden“ und noch
ein zweites Andachtsbuch liegen. Jährlich um die Fastenzeit pflegte
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er mit den Seinen das heilige Abendmahl zu nehmen, aber nicht
in der Kirche, sondern zu Hause, damit ihn die Leute nicht störten.
Nun waren Jahre vergangen, sein Tagewerk war vollendet
und der Feierabend angebrochen. Im Herbste 1894 hatte er zu
Varzin in Pommern seiner Lebensgefährtin die Augen zudrücken
müssen. Seine Kinder und Kindeskinder blieben ihm noch, und er
freute sich gern ihrer Liebe. Aber auch er sehnte sich nach Ruhe.
Zu Ostern 1898 hat er noch einmal mit den Seinen das heilige
Abendmahl empfangen. Da sagte er hinterher wie ein Soldat, der
nur noch einen schweren Ritt zu machen hat: „Wohlan, ich bin
bereit zum Aufsattelnl“ Vier Monate später, am Abend des
30. Juli, als der Zeiger auf elf stand, schied seine Seele friedlich
von hinnen. Deutschland stand an der Bahre seines großen Sohnes.
Der Kaiser und der Mann im Arbeitsrock haben ihm mit Weh—
mut, aber dankbaren Herzens, ihr Lebewohl nachgerufen. Viele
kostbare Kränze lagen um seinen Sarg. 8 von einfachem
Eichenlaub waren darunter, und der Prinzregent vom Bayerland
schickte ein Edelweißsträußchen hoch aus den Bergen. — Wo aber
ist sein Grabẽ
Das hat er sich selber ausgesucht Seinem Hause gegenüber am
Waldesrande liegt eine Höhe. Eine alle, kleine Holzbank stand dort,
bon Eichenästen überdacht. dn er oftmals gesessen. Weit
schaut der Blick hinaus auf die wogenden Wipfel des Sachsenwaldes,
vernimmt ein nie ermüdendes wunderbares Lied. Dort
hat er seinem Leibe die lehte Ruhestätte gewünscht. Der Leser weiß
schon, warum. Der Wald, der deutsche Wald hatte es ihm angetan.
Dem wollte er auch im Tode nicht fern sein. termanu Petrich
57. Wo Bismarck liegen soll.
Vecht in Dom oder Fürstengruft,
er ruh' in Gottes freier Cuft
draußen auf Berg und Halde,
noch beffer tief, tief im Walde;
Widukind lãdt sich ein:
„Ein Sachse war er, drum ist er mein,
im Sachsenwald soll er begraben sein.“
Der Leib zerfällt, der Stein zerfällt,
aber der Sachsenwald, der hält,
und kommen nach dreitausend Jahren
Fremde hier des Weges gefahren
und sehen, geborgen vorm Licht der Sonnen,
den Waldgrund in Efeu tief eingesponnen
und staunen der Schönheit und jauchzen froh,
so gebietet einer: „Lärmt nicht sol —
hier unten liegt Bismarck irgendwo.“
Theodor Fontane.
58. Deutschland über alles
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt,
wenn es stets zu Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhält,
von der Maas bis an die Memel,
von der Etsch bis an den Belt.
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt!
Deutsche Frau'n und deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang
sollen in der Welt behalten
ihren alten schönen Klang
und zu edler Tat begeistern
unser ganzes Leben lang
Deutsche Frau'n und deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sangl
Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand. —
Blüh' im Glanze deines Glückes,
blühe, deutsches Vaterland!
Hoffmann v. Fallersleben
09
59. Weimars Volkslied.
Von der Wartburg Finnen nieder
weht ein Hauch und wird zu Klängen,
hallt von Ilm und Saale wieder
hell in frohen Festgesängen.
Und vom Cand, wo sie erschallten,
tönt's in alle Welt hinaus:
Möge Gott dich stets erhalten,
Weimars edles Fürstenhaus!
Hochgepriesner Helden Wiege,
Wirkungsstätte hehrer Frauen,
felsenfest in CLeid und Siege,
zierest du die deutschen Gauen.
Deiner Ahnen weises Walten
strömt Gedeihen auf dich aus:
Mõge Gott dich stets erhalten,
Weimars edles Fürstenhaus!
Schöne Sage deutscher Treue
lebe fort in Fürst und Bauerl
Volkes Liebe sei die neue
stets lebend'ge Wartbhurgsmauer!
Caßt die Banner uns entfalten:
Heut' wie einst der Feit voraus!
Mõge Gott dich stets erhalten,
Weimars edles Fürstenhaus! Peler Cornelius
106
bo0. In Dornburg an der Saale.
Dornburg, den 18. Juli 1828.
Freudig trete herein und froh entferne Dich wieder,
Ziehst Du als Wandrer vorbei, segne die Pfade Dir Gott!
Ich eröffne mit obigen zwei Zeilen meinen gegenwärtigen Brief.
Ich fand sie als Überschrift der Hauptpforte des Dornburger neu
akquirierten Schlößchens, wo mir durch höchste Nachsicht in den
traurigsten Tagen eine Zuflucht zu finden vergönnt worden.
Als ich nach Verlauf von einigen Tagen und Vächten mich
ins Freie wagte, begann ich die Anmut eines wahrhaften Custortes
in mich aufzunehmen. Da sah ich vor mir auf schroffer Felsen—
kante eine Reihe einzelner Schlösser hingestellt, in den verschiedensten
Zeiten erbaut, zu den verschiedensten Zwecken errichtet. Hhier, am
nördlichen Ende, ein hohes, altes, unregelmäßig weitläufiges
Schloß, große Säle zu kaiserlichen Pfalztagen umschließend, nicht
weniger genugsame Räume zu ritterlicher Wohnung. Es ruht auf
starken Mauern zu Schutz und Crutz. Dann folgen später hinzu—
gesellte Gebäude, haushälterischer Benutzung des umherliegenden
Feldbesitzes gewidmet.
Die Augen an sich ziehend aber steht weiter südlich auf dem
solidesten Unterbau ein heiteres Custschloß neuerer Zeit zu anstän—
digster Hofhaltung und Genuß in günstiger Jahreszeit. Zurück—
kehrend hierauf an das südliche Ende des steilen Abhanges, finde
ich zuletzt das alte, nun auch mit dem Ganzen vereinigte Freigut
wieder, dasselbe, welches mich so gastfreundlich einlud. Auf diesem
Wege nun hatte ich zu bewundern, wie die bedeutenden Zwischen—
räãume, einer steil abgestuften Lage gemäß, durch Cerrassengänge
zu einer Art von auf- und absteigendem Cabyrinthe architektonisch
auf das schicklichste verschränkt worden, indessen ich zugleich die
sämtlichen übereinander zurückweichenden Cokalitäten auf das voll—
kommenste grünen und blühen sah. Weithingestreckt, der belebenden
Sonne zugewendete, hinabwärts gepflanzte, tiefgrünende Weinhügel;
aufwärts an Mauergeländern üppige Reben, reich an reifenden,
Genuß zusagenden Traubenbüscheln; hoch an Spalieren sodann eine
sorgsam gepflegte, sonst ausländische Pflanzenart, das Auge nächstens
mit hochfarbigen, am leichten Gezweige herabspielenden Glocken zu
ergötzen versprechend. Ferner vollkommen geschlossen⸗gewölbte Caub⸗
wege, einige in dem lebhaftesten Flor durchaus blühender Rosen höch⸗
lich reizend geschmückt; Blumenbeete zwischen Gesträuch aller Art.
Von diesen würdigen landesherrlichen Höhen sehe ich ferner in
einem anmutigen Tal so vieles, was, dem Bedürfnis der Menschen
entsprechend, weit und breit in allen Canden sich wiederholt. Ich
sehe zu Dörfern versammelte Wohnsitze, durch Gartenbeete und
Baumgruppen gesondert; einen Fluß, der sich vielfach durch Wiesen
zieht, wo eben eine reichliche Heuernte die Emsigen beschäftigt;
Wehr, Mühle, Brücke folgen aufeinander; die Wege verbinden sich
auf· und absteigend. Gegenüber erstrecken sich Felder an wohlbe⸗
bauten Hügeln bis an die steilen Waldungen hinan, bunt anzu—
schauen nach Verschiedenheit der Aussaat und des Reifegrades.
Büsche, hie und da zerstreut, dort zu schattigen Räumen zusammen—
gezogen. Reihenweis auch den heitersten Anblick gewährend seh'
ich große Anlagen von Fruchtbäumen; sodann aber, damit der
Einbildungskraft ja nichts Wünschenswertes abgehe, mehr oder
weniger aufsteigende, alljährlich neu angelegte Weinberge. Das
alles zeigt sich mir wie vor fünfzig Jahren und zwar in gesteigertem
Wohlsein, wennschon diese Gegend von dem größten Unheil mannig⸗
fach und wiederholt heimgesucht worden. Keine Spur von Ver—
derben ist zu sehen, schritt auch die Weltgeschichte hart auftretend
gewaltsam über die Täler. Dagegen deutet alles auf eine emsig
folgerechte, klüglich vermehrte Kultur eines sanft und gelassen regierten,
sich durchaus mäßig verhaltenden Volkes. elhe.
61. Der Rennstieg.
Auf Bergesscheiteln läuft ein alt Geleise
oft ganz verdeckt vom Farnkrautüberschwang.
Ein deutscher Bergpfad ist's! Die Städte flieht er
und keucht zum Kamm des Waldgebirgs hinauf,
durch Caubgehölz und Tannendunkel zieht er
und birgt im Dickicht seinen scheuen Cauf.
Das Eichhorn kann von Ast zu Ast sich schwingen,
soweit er reicht, und nicht zu Boden springen.
Der Rennstieg ist's: die alte Candesscheide,
die von der Werra bis zur Saale rennt
und Recht und Sitte, Wildbann und Gejaide
der Thüringer von dem der Franken trennt.
Du sprichst mit Fug, steigst du auf jenem Raine:
Hhie rechts, hie links! Hie Deutschlands Süd, dort Nord..
07
G...
Wenn hie der Schnee schmilzt, strömt sein Guß zum Maine,
was dort zu Tal träuft, strömt zur Elbe fort;
doch auch das Ceben weiß den Pfad zu finden,
was Menschen trennt, das muß sie auch verbinden.
Und wer zu hören weiß in frommem CLauschen,
wie, herrlicher als CLied und Kunstgedicht,
in stundenlangem, leisen Wipfelrauschen
des Waldes Seele mit sich selber spricht,
der muß, wenn sommerliche Lüfte wehen,
auf diesem Steig als Wandrer sich ergehen.
Viktor v. Scheffel.
62. Ilmenau.
Weimar, den 4. September 1831.
Sechs Tage, und zwar die heitersten des ganzen Sommers, war
ich von Weimar abwesend und hatte meinen Weg nach Ilmenau
genommen, wo ich in früheren Jahren viel gewirkt und eine lange
Pause des Wiedersehens gemacht hatte. Auf einem einsamen Bretter⸗
häuschen des höchsten Gipfels der Cannenwälder rekognoszierte ich
die Inschrift vom 7. September 1783 des Ciedes, das Du auf den
Fittichen der Musik so lieblich beruhigend in alle Welt getragen hast:
„Über allen Gipfeln ist Ruh.“
Nach so vielen Jahren war denn zu übersehen: das Dauernde,
das Verschwundene. Das Gelungene trat vor und erheiterte, das
Mißlungene war vergessen und verschmerzt. Die Menschen lebten
alle nach wie vor, ihrer Art gemäß, vom Köhler bis zum Porzellan⸗
fabrikanten. Eisen ward geschmolzen, Braunstein aus den Klüften
gefördert, wenn auch in dem Augenblick nicht so gesucht wie sonst.
Pech ward gesotten, der Ruß aufgefangen, die Rußbüttchen künst—
lichst und kümmerlichst verfertigt, Steinkohlen mit unglaublicher
Můhe zutage gebracht, kolossale Urstämme in der Grube unter dem
Arbeiten entdeckt; und so ging's denn weiter fort vom alten Granit
durch die angrenzenden Epochen, wobei immer neue Probleme sich
entwickeln.
Im ganzen herrscht ein wundernswürdiges Benutzen der mannig⸗
faltigsten Erd- und Bergoberflächen und Tiefen.
athe.
108
Ge.
09
63. Heidelberg.
Alt Heidelberg, du feine, Und kommt aus lindem Süden
du Stadt an Ehren reich, der Frühling übers Land,
am Neckar und am Rheine so webt er dir aus Blüten
kein' andre kommt dir gleich. ein schimmernd Brautgewand.
Stadt fröhlicher Gesellen, Auch mir stehst du geschrieben
an Weisheit schwer und Wein, ins Herz gleich einer Braut.
klar ziehn des Stromes Wellen, Es klingt wie junges Lieben
Blauäuglein blitzen drein. dein Name mir so traut.
Und stechen mich die Dornen
und wird mir's drauß' zu kahl,
geb' ich dem Roß die Spornen
und reit' ins Neckartal. viklor v. Scheffel.
64. Rast vor einem Schwarzwälder Bauernhause.
Wir wanderten im Schwarzwalde zu dreien durch den
Morgennebel dem Tag entgegen. Bald begegneten uns Maher,
die dem taufrischen Wiesental zuschritten. Allmählich be-
gann auch das Leben in den Häusern. Eine Frau trat aus
der Tũr und füllte am nahen Brunnen ihren Eimer. Freund-
lich erwiderte sie unsern Morgengruß. Der jüngere meiner
beiden jugendlichen Freunde blieb stehen, sah bald mir
fragend ins Auge und richtete dann wieder die Blicke auf
das freundliche Weib. Ich verstand seine Augensprache und
fragte die Bauerin, ob sie uns wohl ein Glas Milch ablassen
wosle. Dienstfertig schritt sie dem Stalle zu und brachte
bald im reinlichen Gefäße die köstliche Milch, die sie eben
erst dem Euter entnommen hatte. Wir nahmen sie als Früh-
stuck gern entgegen und ließen uns auch das krãstige Schwarz-
brot der gastfrelen Frau schmecken. Nun schlüpften auch
einige fast nackte Kindlein aus dem Hause und betrachteten
halb schüchtern, halb neugierig die fremden Vanderer. Als
wir aber eine Unterhaltung mit ihnen anknüpfen wollten, da
huschten sie scheu wieder in das Haus wie junge Füchslein
in die sichere Hõöhle. Dann aber schauten sie im Gefuühle
yoller Sicherheit durch die kleinen Fensster und lachten und
chãkerten mit uns ohne Unterlaß.
Welche Heimstãtte könnte aber auch den Bewohnern das
Gefũühl des Geborgenseins in hõherem Grade geben als solch
ein Schwarzwälder Bauernhausl Alles, was der Landmann
an Vohnung, Stallung und sonstigen Wirtschaftsräumen be-
darf, wird von einem einzigen mächtigen Dache uberschattet.
Lang und breit, hoch und weit dehnt es sich über einen
bedeutenden Flãachenraum aus und reicht mitunter an manchen
Stellen bis herab zum Erdboden. Oft muß der Wanderer
dem Hause ganz nahe kommen, wenn er die vielen, aber
kleinen Fenster der Wohnräume erblicken will, die von dem
weit überhängenden Dache halb verdeckt werden. Vor den
Fenstern laufen holzgeschnitzte Galerien her, über die man
in die verschiedenen Raume des Hauses gelangt. Neben
den Stuben befinden sich die Stallungen.
Uber allen diesen Gelassen breitet sich ein außerordent-
lich umfangreicher Speicher oder Boden aus, auf dem — und
das erscheint dem Fremdling gar seltsam — Pferde und Vagen
verkehren. Wie aber kommen diese auf den Speicher? Der
Schwarzwälder baut sein Haus gerne so, daß die eine Schmal-
seite einer Bodenerhebung zugekehrt ist, die der Hõhe des
Speichers annähernd gleichkommt. Diese Höhe verbindet
er nun dureh eine Brücke mit dem Speicher, auf den er
dadurch mit Pferd und Vagen gelangen kann. Ist eine natur-
liche Erhöhung nicht vorhanden, so muß die erhöhte Zufahrt
künstlich hergestellt werden, indem ein Damm aufgeworfen
wirdd. Während nun die Mutter mit ihren Kindern in den
holzgetãfelten niedrigen Stuben sich bewegt und wirtschaftet,
führt der Vater über den Köpfen der Seinigen die Pferde
am Zaum und bringt die Ernte auf dem wohlbeladenen
WVagen ein. Diese Brũucke am Hause dient außerdem als
Dach bei Hantierungen, die im Freien vorgenommen werden.
Unter ihr sägt und spaltet der Schwarzwälder sein Holz,
das rings um das Haus an trockenen Stellen aufgesetzt
wird. Da steht wohl auch eine Schnitzbank, auf der gar
manches Haus- und Ackergeräte von kundiger Hand verfertigt
oder wenigstens wieder ausgebessert wird.
In der Naähe des Hauses fehlt selten eine kleine Kapelle
oder ein Kruzifix.
Gewiß aber sssteht ,der beste Mann im Ort“ gleich beim
Hause und verläßt nicht seinen Posten.
710
Wer kennt den besten Mann im Ort?
Ja, der gemũtliche, immer freundlich plaudernde Brunnen
ist es, der hier Mensch und Tier stets neu erfrischt, an
dessen Trog die Kleinen stundenlang spielen, wo im Vorbei-
gehen alt und jung ein kurzes Zwiegespräch hält, an dem
das Pferd selten vorbeikommt, ohne einen kräftigen Zug zu
tun, zu dem der Spitz, der treue Wächter des Heimwesens,
hinaufsteigt, zu dem sich das Rotschwänzchen vom gastlichen
Dache herabschwingt, um zu trinken. Die Wäsche, die dort
an den äußersten Gangen des Hauses aufgehängt ist, wurde
hier gewaschen, und die Küchenkräuter, die in dem Haus-
gärtchen gedeihen, werden vom „besten Mann“ am Hause
getränkt. Außer ihm bilden gewöhnlich noch einige statt-
liche Tannen die vertrauten Nachbarn am Hause.
So umschließt die Schwarzwälder Heimstätte eine kleine
Welt, in der die Familie allein haust. Geot lang.
bb. Grußz an das Elsaßz.
Den Berg hinab fährt sacht der Wagen,
o legt ihm nur den Hemmschuh an,
daß ich mein Elsaß mit Behagen
nach Herzenslust betrachten kann.
Willkomm, ihr heimatlichen Cäler,
beschirmt von hoher Berge Wall,
und ihr, der Vorzeit graue Mäler,
ihr sagenreichen Schlösser alll
Willkomm, ihr grünen Rebenhügel,
wo purpurrot die Traube schwillt,
wo unter heißer Lüfte Flügel
des goldnen Weines Feuer quillt.
Sieh, wie vom Himmel reich gesegnet
das weite Fruchtgefilde sprießt,
wo kaum ein Fleck dem Aug begegnet,
der nicht von Segen überfließt.
Und sieh die trauten Dörflein alle
von Obstbaumgärten rings umlacht,
die Städtchen dort mit Curm und Walle,
wo Bürgermut das CLand bewacht.
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Und sieh, wie dort im Abendglanze,
wo silbern blinkt des Rheines Strom
aus Straßburgs altem Mauerkranze
gen Himmel ragt der schlanke Dom.
Und weiter siehst du dort erglänzen
des Rheines schillernd Silberband.
Ein Land, o ja, nicht scharfe Grenzen,
das ganze Rheintal ist ein Candl
Ob jenseits andre Mächte thronten,
die Herzen blieben sich verwandt;
die hüben und die drüben wohnten,
sie reichen sich die Bruderhand. Karl Stsber.
66. Flößerei auf der Isar.
Unter den Flüssen, die die Mauern deutscher Städte durchrauschen,
hat die Isar, das Gewässer der bayrischen Hauptstadt, ihre besondere
Art. Be unter die Brückenbogen der Stadt hinein ist sie ein wilder,
blaugrüner Bergstrom geblieben, spielend mit kristallklaren Wellchen
in mancher Jahreszeit; ein andermal wieder mit graugelben Wirbeln
dahertosend, als wollte sie die Ufer verschlingen. Und in der Tat
gelang es ihr vor wenigen Jahren noch, zwei schõne, neue Brücken
umzuwerfen und deren Trümmer talabwärts zu reißen, obwohl man
seit Menschenaltern bemüht war, ihre Wildheit zu bekämpfen mit
allen Mitteln alter und neuer Kunst.
Ihr Rücken trägt keine Schiffe außer denen, die das Flußbau⸗
amt zur Ausführung von Strombauten braucht. Die einzigen Fahr⸗
zʒeuge, die den Strom beleben, sind die Flöße, die auf ihm aus dem
Hochgebirge herunterschwimmen. Die Isarflößerei ist ein altes
Verkehrsmittel und war weit wichtiger für die Stadt München vor
dem Zeitalter der Eisenbahnen und der guten Landstraßen.
Die Isar hat ihren Ursprung in wilden Hochgebirgsbãchen, die
aus den grausig schönen Felsentälern des Karwendelgebirges hervor⸗
brechen. Für Flöße fahrbar wird sie bei dem einst vielumkämpften
Bergpaß der Scharnitz an der Grenze von Bayern und Tirol. Die
eigentliche Flößerei aber beginnt ein paar Stunden weiter strom—
abwärts bei dem schönen bayrischen Marktflecken Mittenwald. Der
war schon gegen das Ende des Mittelalters ein wichtiger Platz für
den Grenzverkehr. Damals wurden allerhand Waren, die aus dem
Suden durch Tirol gebracht worden waren, auf Flöße verladen
E
und nach Bayern herausgebracht. Heute dient die Flößerei fast
nur dem Holzgeschäft. Die ungeheuren Waldungen, die den ganzen
Oberlauf der Isar begleiten, konnten Jahrhunderte hindurch gar
nicht anders nutzbar gemacht werden als mittels der Fahrbahn, die
der Strom darbot. Sie machte es möglich, die schlanken Hochwald—⸗
stämme, die in den einsamen Bergtälern des Grenzlandes gewachsen
waren, hinabschwimmen zu lassen nach München und CLandshut
und weiterhin in die Donau nach Linz und Wien, so daß mancher
dieser schönen Hochwaldstämme in einen Wiener Dachstuhl ein—
gefügt ward.
Die Flöße der Isar werden an den Holzplätzen des obern Fluß—
laufes zusammengestellt. Sie sind immer nur kurz gebaut, aber aus
starken Stämmen. Für die Arbeit der Flößerei ist in den grünen,
langgestreckten Tälern des sogenannten „Isarwinkels“ ein Geschlecht
von Bergbewohnern herangewachsen, wie es im ganzen Alpenland
nicht stattlicher und schneidiger gefunden werden kann: Männer von
riesiger Gestalt mit braunen, sehnigen Gliedern, malerischer Tracht
und wehenden Hahnenfedern auf den Spitzhüten. Es sind jene
Menschen, die nicht nur die kühnsten Floßfahrer sind, sondern auch
in allen Kriegen, die Bayern zu führen hatte, die verwegensten
Kämpfer gestellt haben.
Sind die Flöße zusammengestellt, was wegen der schweren,
rollenden Stämme, mit denen dabei hantiert werden muß, eine
keineswegs gefahrlose Arbeit ist, da sie im rasch fließenden Wasser
getan werden muß, so werden sie noch mit einer Ladung von Brenn⸗
holz, Brettern und anderm Baumaterial versehen. Manche gehen
auch ohne Ladung, bloß als Bauholz. Am vorderen und am
hinteren Ende des Floßes ist ein rohes, mächtiges Steuerruder be—
festigt; an jedem dieser Ruder steht einer jener kraftvollen Isar—
winkler Bergmenschen, um das schwere und ungefüge Fahrzeug durch
die tosenden Stromschnellen zu lenken, die es oft genug mit einem
solchen Wasserschwall überfluten, daß die CLenker bis an das Knie
in den Wellen stehen.
Passagiere werden auf den Flößen seltener; diese Art des Reisens
ist zu naß für die verwöhnte Menschheit geworden. Ehedem konnte
man von München bis Wien um vier Gulden auf dem Floß fahren,
mußte aber unter Umständen selbst mithelfen, das Floß flottzumachen,
wenn es sich etwa auf einer Kiesbank festgefahren hatte. Das kann
um so leichter trotz der Tüchtigkeit der Steuerleute geschehen, da das
Fahrwasser des Stromes sich beständig ändert. Hie und da fährt
Weimar. Lesebuch II, 2.
14
noch ein armer Teufel mit, dem das Geld für anderes Reisen
ausging, oder ein paar lustige Studenten, denen es Spaß macht,
sich von Isarwellen ein paar Stunden lang übersprühen zu lassen.
Die Flößer führen stets einen Vorrat von losen Holzscheiten mit
sich. Der gehört für arme Kinder, die, wenn die Flußfahrt im
Gange ist, an den Ufern stehen, um Holz zu erbetteln. Schallt die
bittende Kinderstimme über den Fluß, dann ergreift der Flößer eins
der Scheite und läßt es als Wurfgeschoß im weiten Bogen ans
Ufer sausen. Die Kleinen aber freuen sich und ziehen mit ihrer
Beute vergnügt nach Hause.
Vor wenigen Jahrzehnten noch gingen viele Flöße durch München
hindurch, und es war für die Spaziergänger auf den Münchener
Brücken ein landesübliches Vergnügen, das Anlanden der ungefügen
Holzfahrzeuge zu betrachten.
Jetzt ist der Landeplatz etwa eine Stunde oberhalb Münchens.
Da kann man auf breiten Kiesbänken zwischen den hohen, bewaldeten
Stromufern das Treiben der Flößer und das Ende der Flöße mit
ansehen. Sie werden auseinandergebrochen, die einzelnen Stämme
werden durch vorgespannte Pferde auf den Kies herausgeschleift
und auf Wagen verladen.
Dann verschwinden die Bäume in den unersättlichen Rachen der
Münchener Sägemühlen, und statt des rauschenden Bergwindes, der
einst durch ihre Äste sang und ihre hohen Wipfel umwehte, hören
sie nun den unermüdlichen, rastlos arbeitenden Eisenzahn, der ihren
schönen, schlanken Wuchs zerteilt. Max Haushofer.
67. Einzug des Winters ins bayrische Hochland.
Fast unmittelbar, ehe der erste Schnee kommt, wird es noch ein—
mal warm und milde; ein rauschender Föhn geht durch die Luft,
die blau ist wie der Himmel des Südens. Dieses Zeichen ist fast
untrüglich. „Morgen gibt's Schneel“ sagt der Bauer und beschleunigt
sein Tagewerk.
Und er hat recht. Denn wenn wir morgen erwachen, dann ist
der Himmel bleischwer und grau; Nebelwolken umhüllen die Gipfel
der Berge, und schauerlich schwarz sind unter ihrem Drucke die breiten
Tannenwälder, die den See umsäumen. Ein eisiger Hauch zieht
über das düstere Bild; aber noch ist alles stumm und regungslos
— noch eine Stunde lang — noch wenige Minuten, — dann
wachen die Lebenskräfte auf, die in dieser Finsternis verborgen
sind, — der Kampf beginnt.
11
Wie mit rasendem Stoße bricht der Sturmwind hervor aus
dieser finsteren Umwölkung, es heult und braust über den See
herüber, daß die Wogen mit weißen Kämmen sich bäumen, und
am hellen Tage wird es dunkel. Und nun fängt es auf einmal
an zu schneien; die brütende Stille und der brausende Sturm werden
abgelöst durch ein tausendfältiges flockiges Gewirr: der Schnee,
unermeßlicher Schnee beginnt zu fallen.
Stunde um Stunde, Tag und Nacht, ohne Ende und Unterlaß
sinken die weißen Massen; schon am nächsten Morgen ist. kein
Pfad mehr sichtbar, und so geht es weiter. Wie die Flut bei Über⸗
schwemmungen steigt und wächst, so wächst der Schnee über der
armen Erde; die Bäume brechen, die Dächer stöhnen: sie können
ihn nicht mehr tragen.
Der Mensch aber sitzt schlaflos in seiner Kammer und lauscht
dem Sturme; wie mag es jetzt erst brausen auf dem Meere? Das
ist derselbe Nord, der gestern noch die Wogen des Ozeans empor⸗
getürmt hat, und heute jauchzt er um die Felsenzacken der Berge und
legt in ihren verborgenen Klüften die Grüße des Meeres nieder.
Eine volle Woche lang wütet dieser Kampf der Elemente,
immer neuer Schnee, immer neuer Schnee; haushoch steigen die
weißen Mauern, und die niedere, bleierne Luft lastet darauf wie
der Deckel auf einem ungeheuren Sarge. Wird es noch einmal
gelingen, ihn zu sprengen oder zu lüften? Neinl heult der Sturm,
der über die weiße Fläche jagt und mit Riesengewalt den Deckel
niederhält, bis das zuckende CLeben, das drunten im Schnee sich regt,
verhaucht ist.
So kommt der siebente Tag, und noch immer schneit und stürmt
es ohne Unterlaß; da endlich tritt Ruhe ein; der Wind verstummt,
der Himmel, der so niedris war, daß man sich unter ihm schier
bücken mochte, beginnt, sich wieder hoch und luftig zu wõölben —
das erste Blau, die erste Sonne glänzt; aber drunten liegt eine
stumme, schneebegrabene Welt.
Der Winter hat seine Herrschaft erobert, und nun ist sie sein
eigen; schweigend trägt die Natur das Joch, in stummer Ergeben⸗
heit fügen sich ihre Geschöpfe seiner grausamen Macht über Leben
und Tod.
So zieht der Winter ein in die Berge.
Erst jetzt tritt auch der Mensch vor seine Tür und sucht wieder
den Weg ins Freie; denn während jener Sturmeswoche sah die
Welt wie entvölkert aus: tagelang sah man niemand auf der pfad—
3
losen Straße; der Bauer schloß sich in sein Gehöfte ein, wo die
Weiber in der Stube spannen und die Männer auf der Cenne
draschen, daß der Wind den einförmigen Taktschlag über den See
trug. Jetzt aber gilt's vor allem, wieder den Weg zu bahnen;
groß und klein, alt und jung geht an die Arbeit, und als könnt'
es nicht anders sein, legt' ich die Feder fort und griff zur Schaufel,
wie die Nachbarn mit ihren Dirnen und Unechten.
Die erste und schwerste Arbeit muß der Schneepflug tun, der
mit acht, oft mit zwölf Pferden bespannt ist; bisweilen kommt es
auch vor, daß zwanzig bis dreißig der stärksten Rosse zusammen—
getrieben werden, die nun bis an die Brust den Schnee durchwaten
müssen und so eine Bahn ausstampfen, die dann erweitert und ver—
bessert wird.
Ununterbrochen ist nun der Himmel klar und blau; kein Schnee
fällt mehr, denn der härteste Frost beginnt, und so ist in einigen
Tagen wenigstens die Bahn zwischen den nächsten Dörfern, die eine
Stunde weit im Umkreise liegen, fertig. Der Bauer aber steht
unter der Tür und reibt sich lachend die Hände: „Heut ist's kalt,
das ist gescheit: da friert's meine Unechte recht, wenn sie nicht
arbeiten mögen.“ Karl Stieler.
68. Im Hhochgebirge.
1. Fischerknabe.
Es lächelt der See, er ladet zum Bade,
der Unabe schlief ein am grünen Gestade,
da hört er ein Klingen,
wie Flöten so süß,
wie Stimmen der Engel
im Paradies.
Und wie er erwachet in seliger Lust,
da spülen die Wasser ihm um die Brust,
und es ruft aus den Tiefen:
„Lieb Knabe, bist mein!
ich locke den Schläfer,
ich zieh' ihn herein.“
2. Hirte.
Ihr Matten, lebt wohl,
ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muß scheiden,
der Sommer ist hin.
116
ẽ
Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder,
wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder,
wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai.
Ihr Matten, lebt wohl,
ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muß scheiden,
der Sommer ist hin.
3. Alpenjäger.
Es donnern die Höhen, es zittert der Steg,
nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg,
er schreitet verwegen
auf Feldern von Eis,
da pranget kein Frühling,
da grünet kein Reis;
und unter den Füßen ein neblichtes Meer,
erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr;
durch den Riß nur der Wolken
erblickt er die Welt,
tief unter den Wassern
das grünende Feld. Schiller.
69. Ein Gletscher⸗Abenteuer.
Pontresina ist ein schmucker Ort, dessen Häuser sich über einen
Lilometer weit zu beiden Seiten der Berninastraße hinziehen. Es
liegt 1800 Meter über Meeresfläche, also so hoch wie der Rigi,
und mindert durch diese eigene hohe Cage die noch zu ersteigende
höhe der Berge. Es erhält seine Bedeutung für Alpenbesucher durch
die Nähe der Berninakette, die das Ober-Engadin und Bergell
vom Veltlin trennt und an Großartigkeit der Monterosa-Gruppe
wenig nachsteht. Der Besuch dieses mit weiten Firnfeldern und
Gletschern bedeckten Hochgebirges hat seit einigen Jahrzehnten große
Ausdehnung angenommen, und im Hochsommer ist in Pontresina
häufig schwer ein Unterkommen zu finden. An einem VNachmittag
machte ich mich auf, um unter Führung des bewährten Hans Graß
die höchste Spitze der ganzen Gruppe, den 4052 Meter hohen Piʒ
Bernina zu ersteigen und zwar auf dem schwierigsten, nur geübten,
schwindelfreien Bergsteigern möglichen Wege von der Bovalhütte
aus. Die nötigen Lebensmittel waren auf unsere beiden Ranzen
verteilt, und mit dem Seile und den Gletscherbeilen versehen, zogen
wir um 3 Uhr 20 Minuten in froher, ahnungsloser Stimmung aus.
Um 6 Uhr standen wir vor der Tür der Bovalhütte, und unsere
Einrichtung war bald beendet.
Der Hergang in solchen Alpenhütten ist fast stets derselbe: man
zündet aus dem gesammelten Holz ein Feuer an, das die halbe
Nacht über brennen bleibt, und kocht Kaffee oder Schokolade; ich
ziehe, um nicht auch die letzte Möglichkeit eines leichten Schlum—
mers mutwillig zu verscheuchen, die Schokolade vor, und deshalb
saßen dann Hans Graß und ich sehr bald nach unserer Ankunft
jeder ruhig auf einem Bänkchen, versunken in die friedliche Beschäf—
tigung, Schokoladetafeln mit unsern Messern klein zu schaben. Mittler⸗
weile kochte das Wasser, und bald konnten wir uns des heißen
Getränks und der übrigen mitgenommenen Lebensmittel erfreuen;
ein Glas Wein bildete den Schluß der Mahlzeit.
Da gerade Neumond war, der Himmel um 1 Uhr nachts ganz
bezogen erschien, und wir keine Caterne zu unserer Verfügung hatten,
so erfolgte der Aufbruch von der Bovalhütte am folgenden Morgen
verhältnismäßig spät: um 2 Uhr 45 Minuten. Nur wenige Sterne
leuchteten, und bei diesem matten Lichte mußten wir über eine
Stunde auf der Seitenmoräne des Morteratsch-Gletschers gehen;
wer den Gletscher kennt, der weiß, wie unerquicklich solche Über—
gänge sind. Wir stiegen gemächlich auf; denn in diesem mittleren
Teile ist der Gletscher wenig geneigt und spaltenfrei; erst bei
2700 Meter änderte sich der Fallwinkel und das Gefüge der Eis—
massen. Schroff und deutlich setzt sich hier die Basis des eigent—
lichen Bernina gegen das Firnmeer ab; die fast tausend Schritte
lange Felsmauer steigt 200 250 Meter auf, scheinbar senkrecht,
fast schneelos; zu ihren Füßen liegt der obere Morteratsch-Gletscher.
Die Führer nennen diesen Teil den „Gletscherfall“ oder das Caby⸗
rinth. Der Gletscher stürzt hier in einer Neigung von etwa 30 Prozent
ab und bietet das Seitenstück eines Wasserfalls, der aus einem
ruhigen See gespeist wird und selbst wieder einen sanft fließenden
Strom erzeugt. Das Cabyrinth ist außergewöhnlich geklüftet und
trägt auf seiner Oberfläche ein Chaos märchenhafter Gestalten, die
als Pyramiden, als Wände, als Säulen in wunderlich ausgezackten
Umrissen erscheinen. Durch dieses Wirrsal spröder Eisgebilde hatten
wir uns durchzuarbeiten. Wir taten es, nicht ahnend, welches Schick—
sal uns zehn Stunden später daselbst erwartete; die Freude über
den in voller Reinheit aufsteigenden herrlichen Tag belebte uns,
118
119
und ohne langes Besinnen entschlossen wir uns, die Spitze des Ber—
nina, die hoch zu unserer Rechten aufragte, auf möglichst geradem
Wege zu gewinnen. Freilich riskierten wir, bei diesem unseres
Wissens ersten Versuche steckenzubleiben und Mühe und Gefahren
umsonst auszustehen; aber der Reiz des Unbekannten trieb uns
vorwärts. Die Schwierigkeit, sehr steile Felsklettereien durchʒzuführen,
hängt viel weniger von der Steilheit der Wand als von der Be—
schaffenheit des Felsens selbst ab. Der Fels, mit dem wir es zu
tun hatten, war, zart ausgedrückt, von sehr zweifelhafter Güte, wie das
ja oft bei Granit vorkommt; daher erforderte das Aufklettern an
dieser Wand, bei der das häufige Einsetzen der Hände in kleine,
mit Eis ausgekleidete Felsspalten die Finger noch überdies klamm
und schmerzend vor Kälte machte, ungeteilte Aufmerksamkeit und
Vorsicht. Um 8 Uhr begannen wir die Arbeit, eine halbe Stunde
später hatten wir sie vollendet, standen auf dem Kamm des Grates
und hatten gewonnenes Spiel. Um 10 Uhr war die Spitze erreicht.
Fast zwei Stunden hielten wir uns oben auf. In ruhiger Behag⸗
lichkeit konnte ich all die Freuden der Umschau genießen, die der
Mehrzahl der Menschen verschlossen bleiben.
Um 12 Uhr wurde der Rückweg vom Piz Bernina angetreten.
So lästig und ermattend das Aufsteigen über diese sanft geneigten
Schneefelder ist, so angenehm uud leicht erscheint das Hinuntersteigen,
namentlich wenn der Schnee nicht zu weich ist und man nur bis
an die Knöchel statt bis an die Knie einsinkt. Bei hinlänglich
hartem Schnee „fährt“ man hinab, nämlich man stützt sich auf
den Bergstock und fährt auf den Stiefelsohlen wie ein Schlitten
oft pfeilschnell hinab, wenn nötig mit dem Bergstock leitend, hemmend
oder ganz anhaltend. Das Hinabfahren ist ein Hochgenuß, allein
man muß vorsichtig sein und auf das Schneefeld genau achtgeben.
Weiter unten, da wo das Firnfeld in den eigentlichen Morteratsch-
Gletscher übergeht, zeigten sich weite Querrisse, deren Umgehung
ʒiemlich zeitraubend war. Es mochte 2 5 Uhr geworden sein, als
wir uns wieder mikten in dem oben erwähnten „Gletscherfall“
befanden und unsere Spuren vom Worgen erreicht hatten. Die
Eisgestalten um uns herum, auf ihren durch Abschmelzen häufig
dünn gewordenen Füßen, sahen unheimlich aus; wenn einer von
diesen plötzlich überstürzte, so konnte er andere, weniger feststehende
mit sich fortreißen und Eismassen in Bewegung setzen, denen
wir keinen Widerstand zu leisten vermochten, und die uns auf
ihrer Bahn niederwerfen mußten. — Wir standen gerade still, um
120
nach dem Wege zu sehen; zu unserer Rechten, so daß wir sie mit
den Händen berühren konnten, erhob sich eine mächtige Eiswand,
unmittelbar zur Linken öffnete sich eine 50 bis 70 Meter tiefe Gletscher⸗
spalte. Es herrschte Grabesruhe, und es war, als ob den Führer
zuerst eine Ahnung befallen hätte, daß uns hier etwas begegnen
könnte; er sagte nur: „Lassen Sie uns sehen, daß wir hier schnell
durchkommen.“ Ich sah die starre, blau schimmernde Eiswand zu
unserer Rechten an und dachte: „Wenn sie sich bewegtel“ Weiter
hatte ich nicht nötig zu denken; denn kaum waren wir zwei Schritte
vorwärts gekommen, als von dem höchsten Teile des Gletscher⸗
falles her ein dumpfes Dröhnen unser Ohr erreichte; bewegungslos,
erwartend blieben wir stehen; wir wußten nur zu genau, was vor
sich gingß: in der Höhe war eine Eislawine entstanden; sie wuchs
im Sturz, immer neue Massen der steilen, zerklüfteten Oberfläche
fortreißend; immer lauter wurde das Dröhnen, donnerähnliches
Gekrach schlug an unser Ohr, und in wenigen Sekunden kam der
Augenblick, wo die Erde sich aufzutun schien: mächtige Eisblöcke
flogen zu beiden Seiten und über die Eiswand zu unserer Rechten
fort. Diese selbst begann plötzlich sich zu bewegen; der Boden ent—
zog sich meinen Füßen fast in demselben Augenblicke, wo ich den
Führer vor mir verschwinden sah, und ohne den geringsten Wider—
stand leisten zu können, stürzte ich in den Abgrund. Ich fühlte
deutlich die immer wachsende Schnelligkeit, mit der ich fortgerissen
wurde, und war bei vollem Bewußtsein. „Dies ist das Letzte“,
war der Gedanke, den ich während des etwa fünf Sekunden dauernden
Sturzes mehr als einmal fassen konnte. Wie langsam die Zeit
während eines Sturzes fließt, wie viele Gedanken da durch unsere
Seele mit höchster Deutlichkeit ziehen, das kann uns kein Verstand
der Verständigen erklären. Während des Sturzes empfand ich weniger
Angst als Verwunderung; ich unterlag dem großen Gesetz wie alle
anderen fallenden Massen, unterschied mich nur durch unvermögendes
Bewußtsein, und dieses sagte mir: Es ist dein Ende. Eine feste
Unterlage unterbrach den nahezu 100 Fuß tiefen Fall; zur eigenen
Verwunderung konnte ich auf meine Füße springen. Das erste
war, nach dem Führer zu rufen. Es antwortete eine Stimme unter
mir; den Mann selbst sah ich nicht. Ich stand wie auf einem
Keil, in der halben Tiefe der Spalte. Ihr Grund sandte ein
dämmerndes Licht zu mir auf, rechts und links schimmerten die
feuchten, bläulichen Eiswände, sonst sah das Auge nichts als ein
ausgeschnittenes Stück des unbewölkten Firmaments. Ich tat einen
121
Schritt zur Seite, da rief die Stimme: „VNicht da, Herr, da ist mein
Kopf.“ Niederkniend kratzte ich mit den Händen das feinkörnig
zertrümmerte Eis fort, das unsern Sturz begleitet hatte; da lag
der getreue Mann, durch die mit uns gestürzten Eisblöcke fest ein—
gekeilt zwischen den Wänden der Spalte; die Unie waren gegen
die Brust gepreßt, der Kopf lag tiefer als die Füße, feinkörniger Eis—
staub bedeckte ihn und entzog ihn deshalb anfänglich meinen Blicken.
Es war zum Erbarmen! Neben mir, mit der Hand zu greifen, lagen
mein Hut, meine Schneebrille und unsere beiden Gletscherbeile. Diese
letzten Gegenstände waren das erste, was ich in Sicherheit brachte;
unsere ganze Rettung konnte davon abhängen. Die Uhr war durch
den Sturz aus der Casche geflogen, aber vollkommen unversehrt
geblieben. Der einzige Gegenstand, der gelitten hatte, war die
zwischen den Blättern meines Notizbuches befindliche Bleistifthülse,
welche zersplittert war; das Buch befand sich gerade an der Stelle,
welche den letzten Aufschlag auszuhalten hatte — in der Gegend
der linken Rippen, von denen eine gebrochen war; der rechte ürmel
meines sehr starken Rockes und meines Hemdes waren zerfetzt; ein
scharfes Eisstück, das in den Oberarm eingedrungen war, hatte
einen langen scharfen Schnitt hervorgebracht, die Fetzen hingen um
den nackten Arm, an dem die Kälte zunächst fühlbar wurde. Die
Spalte mochte an der Stelle, wo wir uns befanden, vier Fuß Breite
haben. Mein Standpunkt war für den Augenblick gesichert, denn
was unsern Sturz vor seinem natürlichen Ende aufgehalten hatte,
das war ein schmaler Eisvorsprung, der simsartig aus der un—
teren Spaltenwand hervortrat. Diese Leiste, der Ranzen auf dem
Rücken des Führers und die Eisstücke, welche mit uns gefallen
waren, hielten zunächst den Fall von Hans Graß auf und dieser
selbst den meinigen. Nun kam es aber darauf an, den Gefährten
aus seiner fürchterlichen Lage zu befreien. Dazu war es nötig,
eines der festklemmenden Eisstücke fortzubewegen. Doch wie leicht
konnte es eintreten, daß wir in dem Augenblick, wo dies gelang,
unserer sesten Unterlage beraubt, tiefer stürzten. Ich tat das Außerste,
um die Befreiung des Führers zu bewirken, war auch so glücklich,
dies zustande zu bringen, ohne daß wir beide tiefer fielen. Mittels
des unzerrissenen Seiles, das uns noch immer verband, zog ich ihn
zu mir auf den schmalen Vorsprung. Damit waren meine Kräfte
erschöpft. Der Schreck hatte sie gebrochen; ich fühlte das Heran—
nahen einer Ohnmacht, die mich unempfindlich machte gegen die oft
wiederholten Worte des Führers: „Du himmlischer Vater, da
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kommen wir nicht wieder heraus.“ Zwei Minuten lag ich da, von
lieblichen Cräumen umgaukelt, in vollster Vergessenheit all der
Schrecknisse, in deren Mitte ich mich befand. Als ich erwachte, stand
der Führer über mich gebeugt da; der Mann war ganz verändert,
tiefe Sorge, mehr noch als Schrecken sprach aus seinem erbleichten
Gesichte. Für mich war es leichter, das Ende zu erwarten; aber
er hörte nicht auf zu jammern: „Ach, mein Weib, ach, meine
armen Uinder!“
Ein Versuch, aus der Spalte zu entkommen, mußte gemacht
werden; selbst den hoffnungslosen Ort macht man nicht ohne Kampf
zu seinem Grabe. Es boten sich uns zwei Möglichkeiten des Ent—
kommens: entweder über die untere große Wand der Spalte, welche
durch die herabgestürzte Cawine so gebrochen war, daß wir fast
darüber hinwegsehen konnten, in eine Tiefe von 30 bis 40 Fuß
auf die unten liegenden Eistrümmer zu springen, oder die nahe
Eissäule, welche die beiden Hauptwände der Spalte miteinander
verband, zu erklettern. Das letztere wurde versucht. Hans Graß
kletterte voran, während ich seine Füße so lange durch meine Hände
und Schultern unterstützte, als dies überhaupt anging; das Seil blieb
stets gespannt, damit, wenn der Führer abglitt, für mich die Mög—
lichkeit nicht verloren ging, ihn zu halten. Dieser Versuch, den
man nur machen konnte, weil Cod und Leben miteinander rangen,
gelang; Hans erklomm die 30 Fuß hohe Eissäule, ich folgte ihm,
unterstützt durch das Seil. Die Pein war groß; denn das Seil
ging über die gebrochene Rippe fort und wurde stark gezerrt, damit
wir nur möglichst schnell und sicher davonkämen. So entstiegen wir
der Spalte und standen von neuem auf der Oberfläche — freilich
noch immer mitten im „Gletscherfall“, indes, wenn keine Cawine
abkam, so waren wir gerettet. Wir eilten, was wir konnten und
so gut die zerschlagenen Glieder dies gestatteten, hinab durch den
unteren Teil des Gletscherfalles. Gegen 4 Uhr bei 2700 Meter
hõhe konnten wir uns als gerettet betrachten. Wir waren beide
zu Tode erschöpft und hart mitgenommen; jedes Glied schmerzte,
unsere CLeiber waren mit Quetschungen bedeckt, und noch stand uns
ein drei- bis vierstündiger Weg bevor. Eine Flasche Wein, die
wir beim Aufstieg auf den Gletscher unter dem Schutz eines Steines
zurückgelassen hatten, gab uns neues Leben. Damit hinkten wir
zu Tal und erreichten wieder Pontresina um 28 Uhr abends.
Paul Güßfeld.
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70. Mignon.
Kennst du das Cand, wo die Fitronen blühn,
im dunkeln Caub die Goldorangen glühn,
ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
die Myrte still und hoch der Corbeer steht,
kennst du es wohl?
Dahinl dahin
möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Kennst du das Haus ? Auf Säulen ruht sein Dach,
es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan ?
Kennst du es wohl?
Dahin! dahin
möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
es stürzt der Fels und über ihn die Flut,
kennst du ihn wohl ?
Dahin!l dahin
geht unser Weg, o Vater, laß uns ziehn!
Goethe.
71. Venedig.
iche Nnoen Venedig, den 6. Juni 1789.
Nun bin ich in solch einem kleinen, schwarzen Hause geschwommen,
das man eine Gondel nennt, vorn und hinten spitz, und sieht wie
ein Frauenpantoffel aus; das viereckige Rämmerchen darauf mit
vier Spitzen ist mit schwarzem Tuche beschlagen, sowie auch die
Gondel schwarz ist. Der Gondelier steht hinten darauf und lenkt
die Gondel mit seinem Ruder so geschickt, daß man sich es kaum
denken kann, wenn man's nicht gesehen hat. Man schwimmt dicht
auf den Wellen so sanft wie in einer Wiege und sieht an beiden
Seiten große, hohe Paläste, einen dicht am andern; unter den
Brücken fährt man durch, zwischen Gondeln, Schiffen, Barken fährt
man wie auf einem Pfeile hin, daß im größten Gedränge die eine
124
Gondel die andere kaum berührt. In manchen ziemlich engen
Kanälen gehen drei Gondeln nebeneinander so schnell vorbei, als
wenn man aneinander vorüberflöge. Die Damen sitzen mit ihren
Hherren darin, und sie haben es zehnmal bequemer, als wenn
sie in den Kutschen gerüttelt würden. In Venedig sind keine
Kutschen. Alles wiegt sich in Gondeln, was nicht über die Brücken⸗
treppe auf- und ablaufen will. Es ist eine sonderbare Stadt, die
gleichsam aus dem Meere emporsteigt, voll Gedränges von Menschen,
voll Fleiß und Betrügerei. Es ist mir lieb, daß ich sie gesehen
habe. Morgen geht's nach Padua, auch zu Wasser, dann weiter—
hin zu Cande und endlich zweimal über die Berge, bis ich bei Euch
bin und Euch wiedersehe.
CLebt wohl, Ihr Lieben, lebt wohll Ich sehe Euch bald; be—
haltet mich lieb, wie ich Euch lieb habe. Gebt alle sechs der
Mutter einen Uuß in meinem Namen, und seid hübsch artig und
gehorsaml! Lebt wohl, Ihr Lieben!
Herder.
72. In Italien.
Rom, den 13. Dezember 1786.
Den Kindern mögt Ihr folgendes lesen oder erzählen: Man merkt
den Winter nicht: die Gärten sind mit immergrünen Bäumen be—
pflanzt, die Sonne scheint hell und warm, Schnee sieht man nur
auf den entferntesten Bergen gegen Norden. Die Zitronenbäume,
die in den Gärten an den Wänden gepflanzt sind, werden nun nach
und nach mit Decken von Rohr überdeckt, die Pomeranzenbäume
aber bleiben frei stehen. Es hängen viele Hunderte der schönsten
Früchte an so einem Baum, der nicht wie bei uns beschnitten und
in einen Kübel gepflanzt ist, sondern in der Erde frei und froh in
einer Reihe mit seinen Brüdern steht. Man kann sich nichts Custi—
geres denken als einen solchen Anblick. Für ein geringes Trink—
geld ißt man deren, soviel man will. Sie sind schon jetzt recht
gut, im März werden sie noch besser sein.
Neulich waren wir am Meere und ließen einen Fischzug tun;
da kamen die wunderlichsten Gestalten zum Vorschein, an Fischen,
Krebsen und seltsamen Unformen; auch ein Fisch, der dem Be—
rührenden einen elektrischen Schlag gibt.
Goethe.
2
125
73. Straße und Werkstatt in Italien.
Eine Straßenwanderung gewährt in allen italienischen
Städten einen so wechselnden und nie versiegenden Reiz,
daß man in unserm Norden sich nicht im entferntesten eine
Vorstellung davon macht. Die Straßen sind in den Städten
ltaliens nicht wie bei uns nur die Verbindungsmittel der ver-
schiedenen Stadtteile, sie sind nicht blobß zum flüchtigen
Hin- und Herrennen bestimmt, sondern sie dienen dem Volke
vielmehr zum ruhigen Aufenthalt; es arbeitet und ruht, es
ißt und trinkt, es spielt und tanzt auf der Straße und ent-
faltet so ein ganz anderes, reicheres und freieres Leben auf
ihr als im Norden, und das nimmt zu, je tiefer man in den
Suden dringt. Mich fesselte und beschaftigte am liebsten
der Blick in die vielen verschiedenen Arbeitsstätten des
kleinen Handwerks, die sich alle in ihrer ganzen Breite gegen
die Straße öffnen und von früh bis spät vom muntersten und
buntesten Treiben erfüllt sind. Und je weiter nach Süden,
desto weiter öffnen sich die unteren Vohnungen, bis man
zuletzt tief ins Herz derselben hineinblickt und alles Leben
und Treiben seiner Bewohner von der Straße aus sich ruhig
betrachten kann. Man sieht sie morgens sich ankleiden,
waschen und kämmen, sieht sie dann arbeiten und wirt-—
schaften, schneidern und schustern, hobeln und meißeln,
kochen und ihr Pranzo (Mittagsessen) einnehmen, vor dem
Marienbilde mit dem brennenden Lampchen das gemeinsame
Abendgebet verrichten. — Vorzũglich reizend ist es nun,
wenn solch eine offene Vohnung abends von ihrer drei—
armigen Lampe erleuchtet ist, und es war mir ganz, als ob
ich vor einer kleinen erhellten Bühne stände, auf der eben
ein Stũuck aus dem Volksleben gespielt würde. Welch ein
Gegensatz zu unsern Städten im Norden!
Wahrend hier das kleine Gewerke sich gerade zurũückzieht
und verkriecht auf himmelhohe Dachkammern, in öde Hinter-
häuser oder in schmutzige, enge Höfe, und dafür die vor-
nehme und elegante Welt mit ihren blumengeschmückten
Spiegelfenstern sich der Straße zuwendet, haust diese in
ltalien fast immer ein Stockwerk hoch hinter ihren Jalousien
oder wohl gar mit ihren Fenstern dem brunnengeschmückten
Hofe zugekehrt und überläßt die Straßbe dem Volke. — Aber
126
noch nicht einmal mit solch offener Wohnung z2ufrieden,
rückt der Schneider oder Schuster, wenn er irgend kann,
seinen Tisch oder Stuhl völlig ins Freie und so weit hinaus,
als nur die vorüberjagenden Reiter und Karossen es erlauben,
um nur ja recht die liebe Straße auszunutzen, damit ihm
nicht das mindeste von allen Seiten entgehe. In Palermo
und anderen Städten Siziliens fand ich sogar die Lokale der
geschlossenen Kasinos oft ohne Wande und Fenster nach
der Strabe zu, und man stellte die Spieltische beinahe auf
den Burgersteig; gleicherweise waren dort alle Kaffeehäuser.
In Neapel liegen in den belebtesten Straßen oft zu halben
Dutzenden schlafende Lazzaroni mitten auf dem Burgersteig.
Der ganze Strom der Fußgänger geht daran vorbei oder vor-
sichtig darüuber hin; denn der Schlaf ist heilig, und auch
dafur ist in Italien die liebe Straße bestimmt.
Hermann Allmers.
74. Eine Besteigung des Vesuvs.
Neapel, den 6. März 1787.
Obgleich ungern, doch aus treuer Geselligkeit, begleitete Cischbein
mich heute auf den Vesuv. —
Wir fuhren auf zwei Kaleschen, weil wir uns als Selbstführer
durch das Gewühl der Stadt nicht durchzuwinden getrauten. Der
Fahrende schreit unaufhörlich: „Platz, Platz!“, damit Esel, Holz
oder Kehricht tragende, entgegenrollende Kaleschen, lastschleppende
oder freiwandelnde Menschen, Kinder und Greise sich vorsehen, aus⸗
weichen, ungehindert aber der scharfe Trab fortgesetzt werde.
Der Weg durch die äußersten Vorstädte und Gärten sollte schon
auf etwas Plutonisches hindeuten. Denn da es lange nicht geregnet,
waren von dickem, aschgrauem Staube die von Natur immergrünen
Blätter überdeckt, alle Dächer, Gurtgesimse und was nur irgend—
eine Fläche bot, gleichfalls übergraut, so daß nur der herrliche
blaue Himmel und die hereinscheinende mächtige Sonne ein Zeugnis
gab, daß man unter den Lebendigen wandle.
Am Fuße des steilen Hanges empfingen uns zwei Führer, ein
älterer und ein jüngerer, beides tüchtige Ceute. Der erste schleppte
mich, der zweite Tischbein den Berg hinauf. Sie schleppten, sage
ich: denn ein solcher Führer umgürtet sich mit einem ledernen Riemen,
in welchen der Reisende greift und, hinaufwärts gezogen, sich an
einem Stabe auf seinen eigenen Füßen desto leichter emporhilft. So
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erlangten wir die Fläche, über welcher sich der Regelberg erhebt,
gegen Vorden die Trümmer der Somma. Ein Blick westwärts
über die Gegend nahm wie ein heilsames Bad alle Schmerzen der
Anstrengung und alle Müdigkeit hinweg, und wir umkreisten nun—
mehr den immer qualmenden, Stein und Asche auswerfenden Kegel⸗
berg. Solange der Raum gestattete, in gehöriger Entfernung zu
bleiben, war es ein großes, geisterhebendes Schauspiel. Erst ein
gewaltsamer Donner, der aus dem tiefsten Schlunde hervortönte,
sodann Steine, größere und kleinere, zu Tausenden in die Luft ge—
schleudert, von Aschenwolken eingehüllt. Der größte Teil fiel in
den Schlund zurück. Die andern, nach der Seite zu getriebenen
Brocken, auf die Außenseite des Kegels niederfallend, machten ein
wunderbares Geräusch: erst plumpten die schwereren und hüpften mit
dumpfem Getön an der Kegelseite hinab, die geringeren klapperten
hinterdrein, und zuletzt rieselte die Asche nieder. Dies alles geschah
in regelmäßigen Pausen, die wir durch ein ruhiges Zählen sehr
wohl abmessen konnten. Zwischen der Somma und dem Kegel—
berge ward aber der Raum enge genug; schon fielen mehrere Steine
um uns her und machten den Umgang unerfreulich. Tischbein fühlte
sich nunmehr auf dem Berge noch verdrießlicher, da dieses Ungetüm,
nicht zufrieden, häßlich zu sein, auch noch gefährlich werden wollte.
Wie aber durchaus eine gegenwärtige Gefahr etwas Reizendes
hat und den Widerspruchsgeist im Menschen auffordert, ihr zu
trotzen, so bedachte ich, daß es möglich sein müsse, in der Zwischen-⸗
zeit von zwei Eruptionen den Kegelberg hinauf an den Schlund zu
gelangen und auch in diesem Feitraum den Rückweg zu gewinnen.
Ich ratschlagte hierüber mit den Führern unter einem überhängen—
den Felsen der Somma, wo wir, in Sicherheit gelagert, uns an den
mitgebrachten Vorräten erquickten. Der Jüngere getraute sich, das
Wagestück mit mir zu bestehen; unsere Hutköpfe fütterten wir mit
leinenen und seidenen Tüchern; wir stellten uns bereit, die Stäbe in
der Hand, ich seinen Gürtel fassend. Noch klapperten die kleinen
Steine um uns herum, noch rieselte die Asche, als der rüstige Jüng—
ling mich schon über das glühende Gerölle hinaufriß. Hier standen
wir an dem ungeheuren Rachen, dessen Rauch eine leise Cuft von
uns ablenkte, aber zugleich das Innere des Schlundes verhüllte, der
ringsum aus tausend Ritzen dampfte. Durch einen Zwischenraum
des Qualmes erblickte man hie und da geborstene Felsenwände. Der
Unblick war weder unterrichtend noch erfreulich; aber eben deswegen,
weil man nichts sah, verweilte man, um etwas herauszusehen.
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Das ruhige Zählen war versäumt; wir standen auf einem scharfen
Rande vor dem ungeheuren Abgrund. Auf einmal erscholl der
Donner, die furchtbare Cadung flog an uns vorbei: wir duckten
uns unwillkürlich, als wenn uns das vor den niederstürzenden Massen
gerettet hätte; die kleineren Steine klapperten schon, und wir, ohne
zu bedenken, daß wir abermals eine Pause vor uns hatten, froh,
die Gefahr überstanden zu haben, kamen mit der noch rieselnden
Asche am Fuße des Kegels an, Hüte und Schultern genugsam ein—
geäschert. Goethe.
75. Der Zigeunerbube im Norden.
Fern im Süd das schöne Spanien,
Spanien ist mein Heimatland,
wo die schattigen Kastanien
rauschen an des Ebro Strand,
wo die Mandeln rötlich blühen,
wo die heiße Traube winkt,
und die Rosen schöner glühen,
und das Mondlicht goldner blinkt.
Und nun wandr' ich mit der Laute
traurig hier von Haus zu Haus,
doch kein helles Auge schaute
freundlich noch nach mir heraus.
Spärlich reicht man mir die Gaben,
mürrisch heißet man mich gehn;
ach, den armen braunen Unaben
will kein einziger verstehn.
Dieser Nebel drückt mich nieder,
der die Sonne mir entfernt,
und die alten lust'gen Lieder
hab' ich alle fast verlernt.
Immer in die Melodien
schleicht der eine Ulang sich ein:
In die Heimat möcht' ich ziehen,
in das Land voll Sonnenschein!
Als beim letzten Erntefeste
man den großen Reigen hielt,
hab' ich jüngst das allerbeste
meiner Cieder aufgespielt.
2
Doch wie sich die Paare schwangen
in der Abendsonne Gold,
sind auf meine dunkeln Wangen
heiße Tränen hingerollt.
Ach, ich dachte bei dem Tanze
an des Vaterlandes CLust,
wo im duft'gen Mondenglanze
freier atmet jede Brust,
wo sich bei der Zither Tönen
jeder Fuß beflügelt schwingt
und der Knabe mit der Schönen
glühend den Fandango schlingt.
Neinl des Herzens sehnend Schlagen
länger halt' ich's nicht zurück;
will ja jeder Lust entsagen,
laßt mir nur der Heimat Glück!
Fort zum Südenl Fort nach Spanien!
In das LCand voll Sonnenscheinl
Unterm Schatten der Kastanien
muß ich einst begraben sein. Enmanuel Geibel.
76. Rheinsage.
Am Rhein, am grünen Rheine, Bei Rüdesheim, da funkelt
da ist so mild die Nacht, der Mond ins Wasser hinein,
die Rebenhügel liegen und baut eine goldene Brücke
in goldner Mondenpracht. wohl über den grünen Rhein.
Und an den Hügeln wandelt Der Kaiser geht hinüber
ein hoher Schatten her und schreitet langsam fort,
mit Schwert und Purpurmantel, und segnet längs dem Strome
die Urone von Golde schwer. die Reben an jedem Ort.
Das ist der Karl, der Kaiser, Dann kehrt er heim nach Aachen,
der mit gewalt'ger Hand und schläft in seiner Gruft,
vor vielen hundert Jahren bis ihn im neuen Jahre
geherrscht im deutschen Cand. erweckt der Trauben Duft.
Er ist heraufgestiegen Wir aber füllen die Römer,
zu Aachen aus der Gruft und trinken im goldenen Saft
und segnet seine Reben, uns deutsches Heldenfeuer
und atmet Traubenduft. und deutsche Heldenkraft.
Emanuel Geibel.
Weimar. Lesebuch III, 2.
2
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77. Die Weinlese am Rhein.
Eine frohe Zeit ist im Herbssste die Zeit der Weinlese.
Dann entfaltet sich in den Weinorten Rheinlands ein lustiges
Leben und Treiben. Wenn auch unser heutiges Geschlecht
mit manchen schönen alten Sitten gebrochen hat, so ist doch
die frohe Stimmung dieser Zeit geblieben. Sie kommt be-
sonders dann zur Geltung, wenn die VWeinstöcke einen guten
Behang haben, und wenn neben einem guten Ertrag — der
WVinzer redet von einem halben oder dreiviertel Herbst —
auch eine gute Qualität zu erwarten ist. Mit solcher Ernte
ist der Vinzer wohl zufrieden; kennt er doch all die Feinde,
die sie hätten vernichten können, die Tücken der Witterung,
die Plagen der Insekten und die Pilzkrankheiten. Helle
Freude lacht aus seinem Auge, wenn er sieht, wie unter der
Kraft der kochenden Sonne die Beeren der Trauben anfangen
zu reifen. Er merkt's an dem Durchsichtigwerden der Beeren.
Die Gemeindevater besstimmen jetzt die Schließbung der Wein-
berge. Selbst der Besitzer darf sie nicht mehr betreten.
Vahrend des ganzen Tages geben die Hüter der Weinberge
scharf acht.
Endlich sind die Trauben vollständig reif. Der Beginn
der Lese wird öffentlich bekannt gemacht. Böllerschüsse
kündigen den bedeutungsvollen Tag an, und Glockenklang
lãutet ihn feierlich ein.
Mit Jubel im Herzen steigt das Vinzervölkchen hinauf in
die Weinberge. Die Sonne hat die Herbstnebel zerstreut,
und herrlich blickt's sich hinab in das liebliche Rheintal.
Dort unten liegt das Heimatörtchen, so traut gebettet am
Ufer des blinkenden Stromes und umgeben von den Gruppen
der Obssstbaume. Dort das Kirchlein mit dem alten, moosigen
Schieferdachel Selbst das eigene VWohnhauschen ist zu sehen.
Bald sind die ersten Tragkörbe voll Trauben gepflückt.
Die starken Burschen tragen sie hinab. Dort unten hält auf
dem WVege ein Ochsengespann. Große Bottiche stehen auf
dem WVagen, die die süße Last aufnehmen wollen. Wie flink
springen die Burschen die vielen Stufen des Bergpfades
hinab! Voll Lust schwenken sie die Mützen, nach oben und
nach unten grüßend. Dort oben aber, bei der Lese, sind
die Madchen bald in fröhlicher Stimmung. Das Tal erklingt
von frohen Weisen, bis ein Scherzwort alle zum Lachen
bringt und den Gesang verstummen macht.
Auch in dem RKelterraum der Winzerhäuser herrscht ge·
schäftiges Leben. Die ankommenden Bottiche werden in die
Presse geleert. Schon fliebt der Traubensast, der suße Most,
heraus. Wie herrlich er schmeckt! Die Wage zeigt ein hohes
Mostgewicht an. Das gibt ein Weinchen! so schmunzelt der
Alte, der von vielen guten Weinjahren, doch auch von
schlechten zu erzählen weib.
Nach etwa acht Tagen fängt der Most an zu gären. Er
verliert seinen sußen Geschmack und nimmt einen bitteren
an. Zugleich wird seine Farbe milchig trübe. Der erfahrene
Winzer weiß schon am Federweiben, wie der Most jetzt heißt,
herauszuschmecken, wie der spãtere Wein wird. Mit der fort-
schreitenden Gärung entsteht aus dem Federweißen der junge
Wein. Erst nachdem er geklart ist und genug gelagert hat,
kommt er in den Handel. Im Frühjahr beginnen die Wein-
händler, die Virte, die Kasinos, ihre Veineinkaufe zu machen,
und in manchen Weinorten, wie in Bingen, Mainz, Rudesheim,
Kloster Eberbach, Kreuznach, Koblenz und namentlich Trier,
finden dann öffentliche Weinversteigerungen statt. Dann
klingen die Taler in des Winzers Tasche, fast noch heller
als vorher das Jauchzen in seiner Brust.
Heinrich Kerp.
78. Corelei.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die CLuft ist kühl und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar,
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.
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Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn;
und das hat mit ihrem Singen
die Corelei getan. Beinrich Heine.
79. Von Antwerpen nach Condon.
Es war kein Hotel erster Klasse, auch keins der zweiten. Für
beides hatte ich meine Gründe. Ein erfahrenerer Weltreisender, als
ich es damals war, hätte behaupten können, der Schwarze Anker
zu Antwerpen grenze bedenklich nahe an eine anständige Matrosen⸗
kneipe. Aber seine Cage behagte mir, seine Preislage hatte selbst
für mich nichts Erschreckendes, wenigstens im zweiten und letzten
Stock. Seit zwei Tagen bewohnte ich dort ein Stübchen von hol—
ländischer Größe und Sauberkeit. Mein Fensterchen sah nach der
Schelde auf eins der großen Wassertore des Kontinents, die in die
weite Welt hinausführen. Als ich vorgestern zum erstenmal die
glänzende Fläche im Lichte der untergehenden Sonne schimmern sah,
mit ihren Masten und Segeln, ihren behaglich rauchenden Dampf-
schiffen, den plätschernden, hin und her schießenden Schleppbooten,
die in der größten Eile schienen, heute noch fortzukommen, und
immer wieder da waren, klopfte mir das Herz fühlbar. Ich selbst
— soll ich, oder soll ich nicht?
Inzwischen hatte das Wetter sich geändert. Ein schwerer April—
himmel hing in schwarzen Wolkenfetzen über der Stadt. Bleigrau
starrte die Schelde zu ihm empor. Von Zeit zu Zeit fegte ein
Windstoß über den Strom und kräuselte ein silbernes Band in die
tote Fläche. Die Masten der Schiffe wackelten nachdenklich hin und
her, scheinbar ohne Ursache; doch schien es ihnen mit jeder Viertel—
stunde unbehaglicher zu werden. Jetzt klatschten sogar schwere
Regentropfen an die Fensterscheiben. In einer solchen Nacht hinaus
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in die weite, nasse, fremde Welt? Keines der Schiffe entlang dem
dämmerigen Staden, das nicht den Kopf schüttelte!
In der Mauer von Schiffen, welche dem Staden entlang lagen,
war die helle Lücke, die quer über der Straße gestern einen herrlichen
Blick auf den munteren Strom gestattet hatte, plötzlich verschwunden.
Ein schwarzes Ungetüm von Dampfer füllte sie aus, stieß träge
Wolken Rauchs in die tiefhängenden Regenwolken und rasselte an
vier Stellen zugleich mit Uetten und Dampfwinden, von denen jede
ihre eigne schnarrende Tonart aufdringlich zur Geltung brachte.
Unten im feuchten Halbdunkel verwirrte sich ein Dutzend Wagen
und Karren, welche Waren aller Art herbeischleppten. Fässer,
Listen und Ballen flogen zuckend in die Luft, um mit einem behag⸗
lichen Grunzen im Bauch des Schiffs zu versinken. Peitschenknallen
und Fluchen kam stoßweise zu mir herüber. Immer neue Karren
kamen angerumpelt. Das Ungeheuer fraß mit Appetit, schwarz
und schweigend. Eben schien ein besonders fetter Bissen an die
Reihe zu kommen: ein Riesensarkophag dem Aussehen nach, in
Wirklichkeit ein Eisenbahnwagen. Er hing schwarz und viereckig
gegen den schmutzigroten Abendhimmel und drehte sich langsam an
der Kette des Schiffskranes in der Cuft. Dann versank er plötzlich
mit wütendem Gerassel in dem nicht zu füllenden Bauch. Der dicke,
kurze Schornstein machte eine ganz kleine, behagliche Bewegung.
Diesmal hatte es dem Ungetüm sichtlich geschmeckt. Und morgen,
um vier Uhr, frißt es auch Menschen!
Es war jetzt völlig Nacht geworden, man hatte aber ein paar
Pechfackeln um das Ungetüm herum angezündet. Es fraß noch
immer, es ging sogar wieder rascher: kleine Bissen, die ihm leicht
durch die Zähne schlüpften, immer drei Fässer auf einmal. Ich
hatte sie schon nachmittags bereitliegen sehen und wußte, daß es
dreitausend westfälische Schinken waren. Alles für England. Wenn
man mit dreitausend westfälischen Schinken ankommt, kann es einem
nicht allzuschlecht ergehen. —
Ein sonniger Morgen weckte mich aus wogenden Träumen.
Draußen rasselten die Dampfwinden mit einer Lebenslust und Arbeits⸗
wut, die fast wehe tat. Mein schwarzer Freund mit seinem un—
erschöpflichen Appetit war schon am ersten Frühstück. Er verspeiste
soeben zehntausend Bretter. Dazu Geschrei und Peitschenknallen,
Pfeifen und zischendes Abblasen von Dampf in allen Richtungen.
Mein letzter Tag auf dem alten Kontinent war angebrochen. Diesen
letzten Tag aber wollte ich noch in vollen Zügen und nach deutscher
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Art genießen. Ich hatte in den letzten zwei Tagen nur Werkstätten
und Werften der geschäftigen Seestadt Belgiens gesehen. Nun
wollte ich zum Schluß das alte, niederländische Antwerpen durch—
pilgern und mir's sechs Stunden lang in einem andern Jahrhundert
wohl sein lassen. Es war ein Genuß, den ich heute nicht mehr
wiederzugeben vermöchte: die Kathedrale mit ihrem wundervollen
Spitzenwerk aus Stein, die unsterblichen Niederländer im Museum,
die alten Häuser aus der Zeit der Hansa und der ganze versteinerte
Reichtum eines stolzen freien Bürgertums, das uns die Spanier
halb zertreten haben, und das wir selbst mit zertraten in unserm
dreißigjährigen Kriege. Als ich im Halbdunkel einer der abgelegen⸗
sten Kirchen der Stadt nach der Uhr sah, war es halb vier —
höchste Zeit, mein deutsches Leben und Träumen abzuschließen.
Im Sturmschritt verirrte ich mich zweimal; im Galopp langte
ich im Schwarzen Anker an. Der „Northern Whale“ — der
„Nordische Walfisch“ — pfiff schon zum erstenmal, während ich in
mein Fimmer trat, und spie Dampf und Wasser aus, als ob er
es keinen Augenblick länger in der Schelde aushalten könne. Mein
kleiner Koffer wurde in wilder Eile gepackt. Es war allerdings
nur ein paar Schritte; aber die mächtigen Räder des Walfisches
drehten sich schon, schläfrig, ein wenig vorwärts, ein wenig rück—
wärts, wie wenn das Ungetüm am Erwachen wäre und sich gähnend
besänne, was vorn und was hinten sei. Ich war die steile Can—
dungstreppe hinauf wie der Blitz, trotz Koffer, Reisetasche, Plaid
und Schirm. Ein Matrose, der am oberen Ende stand, vermutlich
der Kontrolleur der heraufkommenden Reisenden, erhielt von meinem
Koffer einen unbeabsichtigten schweren Stoß in die Magengegend
und sah mir mit einem ‚Damm these Germans?“ — diese ver—
dammten Deutschen — ärgerlich nach. Es mußte ihm genügend
deutlich geworden sein, daß ich mitfahren wolle. Und damit war
ich auf englischem Boden und hatte den ersten englischen Gruß
gehört.
Mit dem Gefühl behaglichèr Geborgenheit hatte ich jetzt Zeit,
mich umzusehen. Zunächst, bescheiden wie ich war, suchte ich nach
der zweiten Kajüte, fand ihren Geruch nicht nach meinem Geschmack,
verbarg aber trotzdem, wie ich es andre tun sah, meinen Koffer
vorläufig in einer der schmalen Bettstellen, die, zwei Stockwerke hoch,
entlang den Uajütenwänden liefen. Dann versuchte ich voll Wissens-
drang in den Maschinenraum hinabzuklettern. Ein mürrisches
Gebrüll veranlaßte mich zu beschleunigtem Rückzug. Aber es war
3
auch von oben ein erhebender Anblick: die mächtigen Kurbeln und
Kurbelstangen, die blinkenden CLager, die kurzen, trutzigen Zylinder,
die wuchtigen Gelenke der Steuerung. Und als sich das alles zu
regen anfing, die riesigen Massen lautlos hin und her schaukelten,
das ganze mächtige Schiff zitternd zu leben begann und es draußen
rauschte und sprudelte, da vergaß ich, daß jetzt der Augenblick ge⸗
kommen war, in dem ich dem Lande meiner Väter den Rücken
kehrte. In der geistigen Welt, die eine große Maschine umgibt,
kann man, wie in jeder andern, versinken. Als ich wieder auf—
tauchte, waren wir in der Mitte der Schelde und schwammen
feierlich den großen Strom hinunter dem Meere zu.
Alles um mich her war so neu, so interessant, daß es mich
völlig gefangen nahm: der schimmernde, sonnige Strom, der frische
VNordwest, der uns von der fernen See her entgegenbläst; jetzt ein
Dreimaster mit ausgespannten Segeln, der aus Westindien kommt
und zierlich wie ein Schwan an uns vorübergleitet, ein Dampfer,
schwaͤrzer als der unsre, mit Kohlen aus Kardiff; kleine Schoner
und Fischerboote, die wir hinter uns lassen, andre, die in gefähr—
licher Nähe an uns vorübersegeln. Dann die flachen, grünen Ufer,
hinter deren Dämmen die roten Hausdächer und die Turmspitzen
holländischer Städte kaum hervorragen. Auf den Dämmen erscheint
hier und da eine Herde schwarz⸗weißer Holländer Rinder, die neu—
gierig nach unserm Dampfer sehen. Über all dem spannt sich der
glänzende Himmel mit fliegenden Wölkchen, ein riesiger Dom in
diesem flachen Cande voll eignen, sonnigen Lebens, das sich in seiner
Frühlingsfreude regt und bewegt wie das plätschernde Wasser um
uns her und die stillvergnügte Erde hinter den Dämmen. Und
da draußen muß es ja bald kommen, das große, ersehnte Meer,
das ich heute zum erstenmal sehen soll. Drum bleibt es wahr: Wem
Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt!
Doch es wollte Abend werden. Ein purpurner Sonnenunter—
gang spiegelte sich in der gewaltigen Wasserfläche, deren Ufer rechts
und links kaum mehr als dünne, violette Streifen erschienen, die
Hhimmel und Erde trennten. Ein Kellner benachrichtigte mich,
daß das Abendessen in der Kajüte bereitstehe. In dem niederen,
düsteren Raum standen auf einer langen Tafel, die mit einem
nicht übermäßig reinen Tischtuch gedeckt war, zwei mächtige Keulen
kalten Fleisches, Brote, Salzbutter, Pickles, Senf, alles, was ein ein—
35
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faches Herz begehren konnte, in reichlicher Menge. Jedermann griff
zu, die meisten mit einer scheuen, unruhigen Hast, wie wenn es
die höchste Zeit wäre. Ein Steward (Kellner) schenkte den Leuten
in mächtigen Tassen Tee ein. Eine eigentümliche Bewegung des
Schiffes war zu spüren. Die Hängelampen neigten sich höflich nach
links zu mir herüber. Die Beefkeule machte eine kaum merkliche,
gespenstige Bewegung auf ihrer Platte. Die Teelöffel zitterten hör⸗
bar, und der Tee in jeder Tasse kam nachdenklich an den Rand,
besann sich eines Besseren, da er keine Lippen fand, und schien ver—
stimmt sein altes Niveau aufzusuchen. Dann war alles wieder wie
zuvor; nur statt des dumpfen Gemurmels der Gäste war eine plötz-
liche Stille eingetreten. „Ich denke, wir sind draußen“, sagten zwei
Herren gleichzeitig; „und eine glatte Überfahrt gibt's heute nicht“,
fügte der eine kleinlaut hinzu.
Ich hatte glücklich die Kajütentreppe erreicht, ehe die Lampen
ihre nachgerade zudringlichen Höflichkeitsbezeigungen wiederholen
konnten, und arbeitete mich am Geländer hinauf in die frische Luft.
Das Klappern eines Porzellanbeckens tönte mir von unten nach,
mahnend, drohend. Aber ich war oben. Ein scharfer Wind blies
mir ins Gesicht. Die Sonne war untergegangen. Einsam und
schwarz lag die weite Meeresfläche vor uns, besät mit weißen Flöck—
chen, den Wellenkämmen, die uns die dumpfbrausende Nacht rastlos
entgegenjagte. An der Spitze des Schiffes tauchte das kurze Bug—
spriet auf und nieder, bald über die dunkle Horizontlinie sich in den
lichteren Himmel hinaufbäumend, bald unter derselben in tiefem
Dunkel versinkend. Manchmal hörte man von dort einen schweren,
dumpfen Schlag, wenn das Schiff eine große Welle spaltete. Dann
spritzte das Wasser über die Brüstung, weiß in lustigem Aufbrausen,
als ob drunten in dem schwarzen Gischte ein grober Triton seinen
Witz mit uns treiben wollte. Zuweilen aber kam es auch ernst—
hafter, wenn der UNobold ein paar Tonnen soliden Wassers über
das ächzende Geländer warf, die dann mit rasender Geschwindigkeit
auf dem Deckboden hinjagten, so daß achtbare ältere Herren erster
Klasse, die sich zu uns herübergewagt hatten, in unziemlichen
Sprüngen Rettung suchten. Doch sah das Ganze eher ernstlich und
feierlich als wild und gefährlich aus. Wir hätten keinen Sturm —
weit entfernt! lachte ein deutscher Matrose, bei dem ich mich er—
kundigte. Nur eine steife Brise, die uns in die Zähne blies.
„So also zieht man in die Welt hinaus“, dachte ich und klam—
merte mich an die Brüstung auf der weniger feuchten Seite des
Schiffs. In Gottes Namen! Etwas bedenklich darf es den Würm—
chen doch wohl vorkommen, hoffe ich, die der Trockenheit bedürfen
und fast hilflos in diesem Urweltselement herumplätschern. Aber
bange machen gilt nicht. Es sieht schließlich nur so aus. Sind
wir doch dazu da, die Erde zu beherrschen und die Meere zu zähmen,
und tun es mit leidlichem Erfolg; jeder in dem Schiffchen, in das
ihn der Herr der Welt gesetzt hat.
Und das herrliche Bild bekommen wir noch drein in den Kauf:
die blauschwarze Nacht, die grauschwarze, weißgefleckte See mit
ihrem gespenstigen Ceben, das einförmige Brausen der Räder, die
dumpfen Wasserschläge am Bug, das fühlbare Fittern, das durch
den Riesenleib des Schiffes läuft in seinem rastlosen Kampf mit den
Elementen. Es war herrlich; aber es dauerte nicht allzulange.
Auf und ab, auf und ab stieg und senkte sich das brave Schiff,
emsig seinen Weg durch die entgegenstürzenden Wogen brechend,
ohne sich aufzuregen, ohne zu stocken, gleichgültig für alles, was
hinter uns lag; vorwärts! Auf und ab, auf und ab.
„Das nennt man auf deutsch stampfen“, meinte ein Lands—
mann, der kreidebleich auf mich zukam, ein geisterhaftes Lächeln auf
den verzerrten Zügen. „Jetzt fängt das Schiff auch an zu rollen.
Wir bekommen voraussichtlich Seitenwind — Südwest, wenn wir
noch etwas weiter draußen sind. Rollen nennt man —“ er unter⸗
brach sich selbst mit erschreckender Plötzlichkeit. Eine heftige Be—
wegung des Bootes schoß ihn in der Richtung nach der Kajüten⸗
treppe und polternd, mit etwas Seewasser, die Treppe hinunter.
„So, dies nennt man rollen“, dachte ich mit dem Rest von Ver—
gnügen, dessen ich noch fähig war. Es war nicht viel. Auch ich
begann die Macht des großen Ozeans zu fühlen, und auch der
Tapferste kann mit Ehren der Übermacht weichen. Die nächste
Sturzwelle schwemmte auch mich in die KNajüte hinunter.
Ruhig und gemessen rauschten die Räder des Dampfers. Wir
waren in der Themse. Es war ein herrlicher Morgen nach eng-
lischen Begriffen, wie ich sie später kennen lernte. Es schneite nicht,
es regnete nicht, und man sah nichts. Grau in Grau lag Wasser
und Land vor uns: stahlgrau, silbergrau, blau-, grün- und braun⸗
grau, alles merkwürdig fern und groß und wunderbar zart, das
gespenstige Bild einer kaum irdischen Welt, über welcher eine
verschwommene, rundliche Lichtquelle zu schweben schien, an der
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Stelle, wo in andern Ländern zu dieser Tages- und Jahreszeit die
Sonne steht.
Glatt und munter schwammen wir mit der steigenden Flut den
Strom hinauf. Dampfer plätscherten in weiter Ferne, ehe sie aus
dem Nebel heraustraten und, selbst Nebelbilder, an uns vorbeiglitten.
himmelhohe Segelschiffe, alle Segel ausgespannt, traten plötzlich still
und feierlich wie Gespenster aus dem Silbergrau heraus, schwebten
lautlos vorüber und waren verschwunden, ehe man sich zweimal
umsah. Am Ufer zeigten sich jetzt nackte Masten, wie entnadelte
Tannenwälder, formlose Wesen mit Sparren und Stangen nach
allen Richtungen. Dann hörte man ein leises, dumpfes Brausen,
das langfam anschwoll und alles in geheimnisvoller Weise durch—
drang, felbst das laute Rauschen unsrer Räder; dazwischen manch—
mal einen scharfen Unall, einen Pfiff, ein lautes Gepolter, weit—
schallende Rufe von Schiffern aus unsichtbaren Fischerbooten. Alles
kühl und feucht und fröstelnd. Bald aber kamen deutlichere Um—
risse von Häusern, riesige, schwerfällige Vierecke, himmelhohe Schorn⸗
steine. Das Brausen wurde lauter und schwoll zum dumpfen, un—
ablässigen Brüllen der erwachenden Millionenstadt. Jetzt zeigte sich
über den zackigen Umrissen unzähliger Schornsteine der Cower mit
seinen vier Ecktürmchen. Und gleich darauf sperrte uns in dem
immer glänzender werdenden Nebel eine gewaltige Geisterbrücke den
Weg, welche die glasartig spiegelnde Wasserfläche begrenzte; Condon
Bridge.
Unser Dampfer machte jetzt unruhige, stockende Bewegungen.
Mãchtige Schiffe wimmeln um uns her, durch die er sich durch⸗
arbeiten muß. Scharfe Kommandoworte, Pfeifen und Schreien
scheint hierzu nötig zu sein. Alles drängt sich aufs Deck; Koffer und
Mantelsäcke, Kinder und Frauen. Der Kampf ums Dasein erwacht
rücksichtslos unter Menschen und Dingen. Ein halbes Dutzend
Matrosen drängt sich nach dem einen Radkasten durch. Sie schieben
die Candungsbrücke zurecht. Das dröhnende Brausen der Riesen—
stadt lastet betäubend auf den Ohren. Erdrückende, wirre Häuser⸗
massen hängen über uns herein, feindlich, drohend. Jetzt heult
unsre Dampfpfeife ein ohrenzerreißendes Geheul. Jemand, der halb—
verrückt sein muß, läutet auf einem benachbarten Schiff eine Glocke,
als wollte er den jüngsten Tag einläuten. Unsre Maschine hält still.
Zischend und speiend fährt der überflüssige Dampf durch das Rohr
am Schornstein, das zitternd wie eine Orgelpfeife im tiefsten Baß
in den Lärm einstimmt. Die Candungsbrücke fällt ans Ufer. Wie
159
Schafe, die den Kopf verloren, drängt sich alles zwischen die Geländer
des engen Stegs. Wehe dem Regenschirm, der quer zwischen die
aufgeregten Beine der sich bildenden Seeschlange aus Menschen—
leibern gerät!
Ich selbst stak mitten in dem sich langsam durchtrichternden
Knäuel und riß an meinem Koffer, der zwischen den Knien eines
Herrn stak, welcher hinter mir drei Kinder zusammenzuhalten suchte.
So ging's über die Brücke. Ich spürte jetzt festen Boden unter den
Füßen. Alles rannte durch die finstern Gebäude und schwarzen
höfe des Katharinendocks in die Lower-Thamesstraße hinaus, nach
Fiakern schreiend, nach Gepäckträgern, nach Gepäck, nach Weib und
ind. Einen Augenblick lang lag mein Koffer auf einem Cisch,
der das Zollamt vorstellte; ich suchte nach meinen Schlüsseln. Im
nächsten hatte ihn ein Mann ergriffen, auf die Schulter geschleudert
und rannte davon. Ich sah, schon ziemlich in der Ferne, das teure,
wohlbekannte gelbe Leder über den Köpfen manchmal auftauchen.
Das ging denn doch über den Spaß: mein ganzes Hab und Gut!
Ich rannte ihm nach; natürlich.
Draußen, im Getümmel einer engen, düsteren Straße, in der das
Fuhrwerk ineinandergriff wie die Zähne eines Uhrwerks, stand mein
Mann neben einem Handsome, auf dessen Dach sich bereits mein
Koffer befand, als ob er dort zu hHause wäre. Es blieb keine Zeit,
mich zu besinnen. Das Maul eines Pferdes stieß mir an den
Hinterkopf. Der Mann streckte mir eine riesige Hand entgegen.
Ich legte einen Franken hinein, in der bangen Erwartung einer
schwer durchzuführenden Auseinandersetzung über die fremde Münze
und von etwas Kleingeld englischen Geprägs. Aber ich wurde an—
genehm enttäuscht. Mit einem gutmütigen Nicken, halb Herab—
lassung, halb Zufriedenheit andeutend, war der Mann verschwunden,
ohne seine Ruhe, ohne eine Sekunde seiner Zeit zu verlieren. Einige
Augenblicke später sah ich ihn noch einmal unter einer riesigen
schwarzen Kiste, von zwei Damen verfolgt, die laut schreiend ihre
Regenschirme in der Cuft schwangen.
Staunend nahm ich in dem ersten Handsome Platz, das ich in
meinem Leben sah. Eine wunderbare Maschine, deren sinnige Kon—
struktion mir erst nach Wochen einleuchtete. Durch ein Loch in der
Decke schien mein Kutscher herunterzuschreien, wo ich hin wolle.
Kaum hatte ich Feit, in meinem besten Gymnasialenglisch: „Midd—⸗
leton square, Islington“ zu rufen, als der Deckel, mit dem das
Coch geschlossen werden kann, wieder zuflog und sich mein Pferd,
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scheinbar führerlos — denn der Führer sitzt hinter mir, in einem
Kistchen auf dem Dach des Fahrzeuges — ruhig trabend in dem
reißenden Strom von Karren und Wagen, Pferden und Menschen
verlor. Staunend, halbbetäubt betrachtete ich das wirre Bild:
ein Kaleidoskop, von einer Riesenmaschine gedreht, mit rennenden
Menschen aus allen Weltteilen statt der übereinanderstürzenden far—
bigen Steinchen. Und jeder schien genau zu wissen, was er wollte,
und rücksichtslos draufloszugehen. Der Themsenebel hing in den
Straßen, und die riesigen Warenhäuser mit ihren Schätzen aus
Ceylon und Uuba, aus Hongkong und Kallao neigten sich schwarz
und schwermütig gegeneinander; düstere Geldprotzen, die still brütend
der Welt Arbeit geben und Bewegung. Wer weiß, vielleicht auch
mir, dachte ich und sah sie etwas scheu an. Sie gefielen mir nur
halb. Seitdem die Candungsbrücke des Dampfers ausgeworfen
worden war, konnten kaum fünf Minuten vergangen sein. Welcher
Reichtum an Erlebnissen und Eindrücken in dieser Spanne Zeit;
welches Volk, mit seinem „Feit ist Geld!“ — Ich war in England. —
Max Eyth.
80. Das Fleet.
Vieles hat sich im Caufe der Jahre, die ich zurückdenken kann, in
Hamburg verändert, das CLeben und Treiben in den kleinen Fleeten
aber nicht. Genau so wie vor vierzig Jahren geht es noch heute in
ihnen her, vor hundert Jahren wird es auch nicht anders gewesen sein.
In den großen Fleeten erinnert Euch wohl einmal eine Dampf⸗
winde oder ein kleines Bugsierboot an die moderne Zeit, im übrigen
ist auch dort alles beim alten geblieben.
Wollt Ihr das unsrige gut überschauen, so stellt Euch auf die
St. Annenbrücke, von dort könnt Ihr nach beiden Seiten weit entlang
sehen. Ein Strom trüben, braungelben Wassers fließt langsam
unter der Brücke her. Verachtet es nicht wegen seines häßlichen Aus⸗
sehens, es ist ein treues, altes Arbeitswasser. Als es auf der Elbwiese
unfern der Schneekoppe im Riesengebirge hervorquoll, war es kristall⸗
klar. In tollen Sprüngen sprang es hinunter in die tiefe Wald—
schlucht unterhalb der Wiese. Gar wonnig ist es dort unten! Moosige,
graue Felsen liegen im Grunde, beschattet von uralten Bäumen.
Kein Weg und kein Steg ist in der Schlucht; will man darin entlang⸗
kommen, so muß man mit dem tollen Wasser gemeinsame Sache
machen, mit ihm zwischen den Felsen sich durchwinden und unter
den riesigen Stämmen durchkriechen, die der Blitz gefällt hat. Niemand
vermag die Stämme fortzuschaffen. Und das Wasser murmelt und
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sprudelt und springt über Stock und Stein, daß es eine Freude ist
und die alten Felsen vor Arger zittern. Aber leider — nach einigen
Stunden schon wird der Wald lichter, und endlich kommt man
nach St. Peter. Da fängt der Sägemüller das lustige Wasser ein.
Es muß ihm sein Holz sägen, eher läßt er es nicht weiter. Und
dann kommen andere Müller, und es muß Korn mahlen und Eisen
hämmern und Sensen schleifen und Gott weiß, was sonst alles für
„nützliche Sachen“ lernen, wie Hebel sagt.
Ach, wären es nur die Mühlen! Aber je weiter das arme
Wasser kommt, desto mehr muß es arbeiten. Erst ladet man ihm
einzelne Baumstämme auf, dann ganze Flöße, dann Nachen und
Kähne, immer schwerer und schwerer, endlich gar große Dampf⸗
schiffe. Was Wunder, wenn es nun nicht mehr lustig sprudelt,
wenn es gemessen dahingeht und ernst und gelb aussiehtl Nun
muß es hier in Hamburg im Fleet arbeiten, seht, wie es dort die
Schuten vorsichtig hin und her trägt, es ist so zahm und vernünftig
geworden, wie nur irgendeiner in seinen alten Tagen! Aber das
Schwerste steht ihm noch bevor. Hat es in den Fleeten seine
Schuldigkeit getan, werden ihm zahllose Seeschiffe aufgeladen, riesige
Casten, ungeheure schwimmende Häuser, die muß es geduldig bis
ins Meer tragen. Dann freilich ist es vorbei mit der Plage. Dann
fließt es hinein in das ewige, reine Weltmeer. All die Schlacken und
Schwielen, die es sich bei der Arbeit geholt, fallen von ihm ab, alles
Unreine, das sich ihm auf seinem langen Laufe beigemengt, sinkt zu
Boden. Es wird wieder rein und kristallklar, wie es war, als es an
der Schneekoppe entsprang und sich der lichte Himmel in ihm spiegeltel
Nun in den Fleeten also, da muß das Wasser noch tüchtig
arbeiten, wie alle Menschen, die da zu tun haben. Seht, wie die
Männer auf den Schuten sich abplagen! Die Spitze des langen
Stakens auf den Grund gesetzt, das andere Ende gegen die Schulter
gestemmt, gehen sie, kriechen sie, ganz vornübergebeugt, langsam,
einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend, auf dem Rande der
Schute entlang. Sie brauchen kein Taschentuch, um sich die Stirn
zu trocknen, die Tropfen fallen ganz direkt ins Wasser. Viele
tausend Perlen ehrlichen Schweißes werden so alltäglich mit hinaus⸗
geschwemmt ins Weltmeer. Manchmal ergreifen die Männer auch
mit dem Haken ihres Stakens eine entgegenkommende oder fest—
liegende Schute oder einen Vorsprung am Bollwerk. Dann gehen
sie ganz steif, sich weit hintenüberlegend, rückwärts auf ihrem Fahr⸗
zeug entlang. Begegnen sich zwei Schuten, dann gilt es, geschickt
142
aneinander vorbeizusteuern. Kommen mehrere von beiden Seiten,
so entsteht mitunter ein wirrer Knäuel; dann geht es ohne eine
derbe Unterhaltung selten ab, und manches derbe Wort fliegt von
Bord zu Bord. Die Ceute bleiben auf den Brücken stehen, um zu
sehen, was aus der Sache wird. Aber diese Hamburger Schuten—
leute sind ebenso gutmütig wie grob. Beginnt der Knäuel sich zu
entwirren, sehen sie, daß sie nun doch aneinander vorbeikommen
werden, dann ist der Zorn verraucht. Dieselben Leute, die sich mit
Schimpfworten überschütteten, als ihre Fahrzeuge Schnabel gegen
Schnabel lagen, tauschen Witze, wenn sie sich nun Seite an Seite
aneinander vorbeidrängen, und bieten sich ein Priemchen Kautabak
an, ehe sich ihre Hintersteven ganz voneinander trennen. Und so
löst sich, was feindselig begann, friedfertig in Gelächter auf, in
welches die Zuschauer auf der Brücke einstimmen.
Aber freilich — plattdeutsch muß man können, und Hamburger
muß man auch sein, sonst versteht man die Witze und die urkomischen
Redensarten da unten nicht. Denn es ist wohl kein Stand in unserer
Stadt, in den so wenig Leute von außerhalb eingedrungen sind.
„Jede Kunst hett sien Wetenschaft“, sagt man in Hamburg, und
es scheint, daß diese tiefsinnige Wahrheit in diesem Falle besonders
zutrifft. „Staken“ kann nicht jeder. Es gehört neben großer KNörper⸗
kraft, Geistesgegenwart und Voraussicht eine gewisse Seelenruhe dazu,
um solch ein ungelenkes, schweres, oft mit kostbaren Waren beladenes
Fahrzeug durch das Gewimmel im Hafen und die engen Fleete zu
steuern. Man setze die besten Matrosen eines Seeschiffes auf eine
Schute, und es ist zehn gegen eins zu wetten, daß sie mit ihr in
allerkürzester Zeit irgendwo festsitzen. Auf den Hamburger Fleeten
kommt nur zurecht, wer hier geboren ist und so lange mit seinem
„Pekhaken“ gespielt hat, bis ihm der Vater eines Tages feierlich
den großen „Staken“ auf die Schulter legt und ihn fortan im Ernste
mitarbeiten läßt in seiner Schute.
Vicht zu allen Tageszeiten übrigens geht es in den Fleeten so
regsam her, nicht immer ist genügend Wasser in ihnen vorhanden.
Zur Zeit der tiefen Ebbe laufen die meisten fast ganz leer; nur in
der Mitte rieselt dann noch ein trauriges, dunkelbraunes, fast schwarzes
Rinnsal mühsam entlang. Stille, ganz stille wird es dann dort
unten. Hie und da liegt eine Schute, die ihr Fiel nicht mehr
erreichen konnte, fest auf dem Grunde. Ein Mann bleibt zur
Bewachung an Bord. Er fährt mit der schwieligen Hand über
die Stirn, verzehrt ein tüchtiges Stück Schwarzbrot mit Wurst,
40
nimmt einen herzhaften Schluck aus seiner Flasche und legt sich länge—
lang auf seine Ladung. Bald kommt der Schlaf über ihn, er
schnarcht, daß man es oben auf der Straße hören kann. Nichts
regt sich mehr, stundenlang — doch nein, was ist das? Da bewegt
sich etwas Kleines, Dunkles, unten am Bollwerk. Eine Ratte ist's!
Vorsichtig kommt sie zwischen dem Schlamm und dem Steingeröll
dahergeschlichen — nun hat sie die Wursthaut erwischt, die der
Mann über Bord geworfen. Sie setzt sich auf die Hinterbeine und
verzehrt sie mit Behagen. Das sehen ihre Gefährten — da kommt
noch eine angelaufen, dort eine dritte, viertel Überall schlüpfen sie
aus ihren Winkeln hervor — schon ist eine ganze Gesellschaft bei⸗—
sammen. Ein Mann auf der Brücke bemerkt sie, legt die Arme
aufs Geländer und sieht dem lustigen Treiben zu. Ein zweiter
und dritter tut desgleichen. Bald stehen das ganze Geländer ent—
lang Leute, die da hinabstarren. Nun werden alle Vorübergehenden
neugierig, die Brücke füllt sich mit Menschen. Üngstliche Fragen
werden laut: „Ist ein Unglück geschehen?“ — „Ist ein Kind ins
Fleet gefallen?“ — „Liegt da etwa ein Ertrunkener?“ — „Um
Gottes willen, was ist vorgefallen?“ Jeder drängt nach vorn, um
zu sehen, was es gibt, bis einer der am Geländer Stehenden ärger—
lich wird und ruft: „et sünd ja bloß Rotten!“ Dann stiebt die
ganze Gesellschaft enttäuscht und unwillig auseinander.
Alles wird wieder stille, auch die Ratten verkriechen sich plötzlich
furchtsam, denn unten auf dem Grunde des Fleetes kommt ein Mann
langsam dahergegangen, die Augen stier auf den Boden geheftet.
Seine Uleidung besteht aus Sackleinwand, seine Füße und Beine
stecken in schweren Wasserstiefeln. Auf dem Rücken trägt er einen
Korb, in der Hand einen Haken. Das ist der „Fleetenkieker“!
Sorgsam sucht er rings den Boden ab, hier und da tastet er mit
dem Haken im Schlamm umher, ob er etwas finde, was des Mit—
nehmens wert ist. Und er findet gar manches. Vieles fällt zufällig
von den Schuten ins Wasser oder aus den Speichern und Häusern,
wo diese hart am Fleet liegen. Manches aber auch, was den
Besitzern wertlos geworden, wird absichtlich ins Wasser geworfen,
um es auf das rascheste zu beseitigen. Der Fleetenkieker kann das
alles noch gebrauchen; sorgsam sammelt er, was er findet, in
seinen Korb. Auch nachts ist enn unterwegs, den Haken in
seiner Rechten, eine Caterne in der Linken. Dann sieht man das
Licht geheimnisvoll auf dem dunklen Fleetengrunde hin- und her—
huschen wie ein Irrlicht. Paul Hertz.
2
144
81. Die Watten der Nordseeküste.
Vor dem durch mächtige Deiche geschützten fruchtbaren Marsch⸗
lande sehen wir an den Küsten der VNordsee nicht selten weit sich
ausdehnende Schlamm · und Sandlager. Es sind die sogenannten
Watten, die zur Zeit der Flut vom Meere überströmt werden. Sie
sind völlig pflanzenleer, abgesehen von wenigen und sehr spärlich
stehenden Algenarten. So öde sie aber auch auf den ersten Blick
erscheinen mögen, so herrscht doch ein reiches Tierleben über und
auf ihnen.
Kaum sinkt die Flut, so kommen gleich Schwärme von Seevögeln,
um zu sehen, welches Gewürm sich für sie auf der eben entblößten Fläche
ertappen läßt. Namentlich sind es ungeheure Scharen weißer und
schwarzköpfiger Möwen, die die Luft nah und fern mit ihrem Ge⸗
flatter und Geschrei erfüllen; dazwischen segeln die kleinen, reizenden
Seeschwalben mit ihren langen Gabelschwänzen und den fein ge⸗
schweiften Flügeln; sie stehen oft wie Schwebfliegen unbeweglich in
der Cuft, bis sie pfeilschnell auf ihre Beute herabschießen. W
ein Falke und wohl gar ein Seeadler schwebt mit ruhigem Fluge
über die Fläche, indes die hochstelzigen Strandreiter, die rotbeinigen,
elsterbunten Austernfischer und Scharen von Kiebitzen, Regenpfeifern
und kleinen, schnellfüßigen Strandläufern die Sandbänke und
Schlammflächen bevölkern. Alles sucht, hascht, schluckt und frißt
von dieser mit so vielerlei Speisen bedeckten großen Tafel. Aber
was für Herrlichkeiten sind auch darauf zu finden! Für den Falken,
für die große Seemöwe, für den Austernfischer und andere ansehn⸗
lichere Vögel schleicht dort der fette Taschenkrebs über den Sand,
und seitwärts gehende Urabben suchen eine Priele Wasserrinne) zu
erreichen, oder es zappelt der platte Butte und der silberweiße Stint,
von der Ebbe überrascht, auf dem Trockenen, und Muscheln klaffen
in Menge. Für Seeschwalben, Kiebitze und Regenpfeifer wimmelt
es in den Prielen von Garneelen, und für die ganz kleinen Strand⸗
läuferarten findet sich noch Gewürm in Unzahl, und so wiederholt
sich die große Atzung in bester Ordnung Tag für Tag zweimal,
jahraus und jahrein.
Aber auch der Mensch eilt herbei, wenn das Watt bloßliegt,
um teilzunehmen an dessen Gaben. Dort sieht man barfuß und
hochgeschürzt Männer und Frauen in den Prielen waten, kleine Netz⸗
hamen vor sich herschiebend, die sie dann und wann in umgehängte
Beutel leeren. Sie fangen die kleinen, wohlschmeckenden Krebse,
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Garneelen, die, mit Salz abgekocht, einen Leckerbissen zum Frühstück
und Nachtisch ausmachen und nach allen Städten und Hafenorten
der Gegend verschickt werden. Andere fangen in diesen Cachen und
Rinnen den Butt, einen Hauptfisch des Brackwassers.
Bei schönem, warmem Wetter sieht man auf dem Sande nicht
selten Seehunde sich behaglich sonnen. Man beschleicht sie mit guter
Büchse unter dem Winde. Früher waren sie viel häufiger; man
suchte sie sogar im Schlafe zu überfallen und mit Knütteln zu er—
schlagen, ganz wie in den Polarländern.
Nur mit großer Umsicht und genau die Feit beachtend, kann
man sich weit aufs Watt hinauswagen, und mancher schon mußte
seine Unvorsichtigkeit oder Kühnheit mit seinem CLeben bezahlen;
denn wehe dem, der noch weit vom höheren Cande entfernt ist, wenn
die Flut eintritt!
Eben vorher kann noch weit und breit alles still und ruhig sein,
da kommt der Augenblick der Flut; es erhebt sich ein frischer Wind,
das Wasser fängt an zu rauschen, zu schwellen, zu tönen. Jetzt
schießt es heran, schneller, immer schneller, rauschender, gieriger,
brausender, und nun kann oft kaum ein Reiter auf schnellem Rosse
der gierig heranwühlenden Flut entfliehen. Sicher verloren und dem
entsetzlichen, allmählichen Ertrinken verfallen ist der arme Fuß⸗⸗
gänger; er eilt atemlos dem Lande zu, schon brüllt die wütende
Flut durch alle Prielen, und in den weiten Irrgewinden derselben
verirrt er sich äußerst leicht. Schon strömt das Wasser über den
eilenden Fuß, schon erreicht es das Unie; in grauenvollster Angst
eilt er weiter, aber seine Eile wird gehemmt, denn die Fluten netzen
jetzt schon den Gürtel des Unglücklichen, und soweit er späht, ist viel⸗
leicht alles eine wildrauschende Wasserwüste. Die Menschen hören und
sehen ihn nicht, sie wohnen ferne und hinter ihren sicheren Deichen;
jetzt ergibt er sich stumpf hinstarrend in sein Schicksal, denn eilen
kann er nicht mehr, bloß angstvoll schreien, jammern und beten.
Bald schaut nur sein verzweiflungsvolles Antlitz aus der grauen,
wallenden Fläche. Auch das ist nun verschwunden. Nichts sieht
und hört man mehr auf der weiten Wasserfläche, und nur die Wogen
singen ihr uraltes CLied fort und fort, wie sie es taten gestern und
vorgestern und tun werden morgen und übermorgen und alle Tage
und Jahre, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Hhermann Allmers.
Weimar. Lesebuch II, 2.
E
10
82. Der Halligmatrose.
„Kapitän, ich bit! Euch, laßt mich fort,
o laßt mich frei, sonst lauf' ich vom Bord,
ich muß heim, muß heim nach der Hallig!
Schon sind vergangen drei ganze Jahr',
daß ich stets zu Schiff, daß ich dort nicht war
auf der Hallig, der lieben Hallig.“ —
„Nein, Jasper, nein, das sag' ich dir,
noch diese Reise machst du mit mir,
dann darfst du gehn nach der Hallig. —
Doch sage mir, Jasper, was willst du dort?
Es ist ein so öder, armseliger Ort,
die kleine, die einsame Hallig.“ —
„Ach, mein Kapitän, dort ist's wohl gut,
und an keinem Ort wird mir so zu Mut,
so wohl als auf der Hallig;
doch mein Weib hat um mich manch' traurige Nacht,
hab' so lang' nicht gesehn, wenn mein Kind mir gelacht,
und Hof und Haus auf der Hallig.“ —
„So höre denn, Jasper, was ich dir sag':
es ist gekommen ein böser Tag,
ein böser Tag für die Hallig;
eine Sturmflut war wie nie vorher,
und das Meer, das wildaufwogende Meer,
hoch ging es über die Hallig.
Doch sollst du nicht hin, vorbei ist die Not,
dein Weib ist tot, und dein Kind ist tot,
ertrunken beid' auf der Hhallig;
auch die Schafe und Lämmer sind fortgespült,
auch dein Haus ist fort, deine Wurt zerwühlt:
was wolltest du tun auf der Hallig?“ —
„Ach Gott, Kapitän, ist das geschehn?
Alles soll ich nicht wiedersehn,
was lieb mir war auf der hallig?
Und Ihr fragt mich noch, was ich dort will tun?
Will sterben und im Grabe ruhn
auf der Hallig, der lieben Hallig.“ germann Allmers.
46
⸗
83. Nis Randers.
Krachen und Heulen und berstende Nacht,
Dunkel und Flammen in rasender Jagd —
ein Schrei durch die Brandung!
Und brennt der Himmel, so sieht man's gut:
ein Wrack auf der Sandbankl! Noch wiegt es die Flut;
gleich holt sich's der Abgrund.
Nis Randers lugt — und ohne Hast
spricht er: „Da hängt noch ein Mann im Mast;
wir müssen ihn holen!“
Da faßt ihn die Mutter: „Du steigst mir nicht ein!
Dich will ich behalten, du bliebst mir allein,
ich will's, deine Mutter!
Der Vater ging unter und Momme, mein Sohn;
drei Jahre verschollen ist Uwe schon,
mein Uwe, mein Uwel“
Nis tritt auf die Brücke. Die Mutter ihm nach!
Er weist nach dem Wrack und spricht gemach:
„Und seine Mutter ?“
Nun springt er ins Boot und mit ihm noch sechs:
hohes, hartes Friesengewächs;
schon sausen die Ruder.
Boot oben, Boot unten, ein Höllentanz!
Nun muß es zerschmettern . . .! Nein: es blieb ganzl...
Wie lange? Wie lange?
Mit feurigen Geißeln peitscht das Meer
die menschenfressenden Rosse daher;
sie schnauben und schäumen.
Wie hechelnde Hast sie zusammenzwingt!
Eins auf den Vacken des andern springt
mit stampfenden Hufen!
Drei Wetter zusammen! Nun brennt die Welt!
Was da? — Ein Boot, das landwärts hält —
Sie sind esl Sie kommenl ñ —
Und Auge und Ohr ins Dunkel gespannt ...
Still — ruft da nicht einer ? — Er schreit's durch die Hand:
„Sagt Mutter, 's ist Uwel“ Otto Ernst.
10*
84. Der deutsche Kriegshafen Kiel.
Nähert man sich mit der Bahn der schönen Holstenstadt Kiel,
so erblickt man schon vor der Einfahrt in die großartige neue
Bahnhofshalle eine Menge hochragender Masten. Es sind die
Handelsschiffe, die vom nahen Hafen herübergrüßen. Ein paar
hundert Schritte, und wir stehen an einem schmalen Wasser; es ist
das Südende des Kieler Hafens, die sogenannte Hörn. Hier ist der
handelshafen. Englische und deutsche Schiffe entladen große Massen
Kohlen. Schwedische Barken löschen Holz und stapeln es zu haus—
hohen Bergen auf. Dänische, norwegische und russische Schiffe
bringen die Erzeugnisse ihrer Länder. Die rauchenden Schlote und
die ganz aus Eisen und Glas bestehenden riesigen Hallen am rechten
Ufer gehören zur Kruppschen Werft.
Vor uns nordwärts erweitert sich das Wasserbecken zu dem
eigentlichen Uriegshafen. Um ihn näher kennen zu lernen, besteigen
wir ein Dampfboot. Schon nach kurzer Fahrt verändert sich plötzlich
das Bild. In einer Länge von mehr als 10 Kilometer dehnt sich
vor unsern Augen der schönste und beste Kriegshafen des Deutschen
Reiches aus. Während der schmale Handelshafen von massigen
häuserreihen und hochragenden Schornsteinen umgeben ist, umsäumen
bewaldete Hügel und blühende Ortschaften die weiter zurücktretenden
Ufer des Kriegshafens. Auf der Mitte der Flut fesselt eine Reihe
mächtiger Uriegsschiffe unsere Blicke. Dicke Dampfwolken entsteigen
den grauen Kolossen und kündigen an, daß die Flotte wohl heute
noch den Hafen verlassen wird, um sich in der nahen Ostsee für
das rauhe Kriegshandwerk zu üben. Majestätisch hebt sich aus
der ganzen Linie der schneeweiße Rumpf eines stolzen Schiffes ab:
es ist die Hohenzollern, das prächtige Kaiserschiff. Die Kaiser—
standarte im Topp des Schiffes zeigt uns an, daß Se. Majestät an
Bord ist. Nahe dem Ufer ziehen sich in langer Linie die schmucken
Fahrzeuge des Kaiserlichen Jachtklubs hin, die zur Feier des Tages
bunten Flaggenschmuck angelegt haben. Kleine Dampfboote, Pinassen
genannt, eilen von Schiff zu Schiff und vermitteln den Verkehr
zwischen den Kriegsschiffen und dem Lande. Die Hafendampfer,
mit einer dichtgedrängten Menge Schaulustiger besetzt, umfahren
vorsichtig die Reihe der Kriegsschiffe, während die leichten, schmalen
Boote der Rudervereine wie spielende Delphine durch die Flut dahin⸗
eilen. Immer neue Uriegsschiffe tauchen vor unsern Augen auf.
Unter ihnen fallen uns zwei Schiffe durch ihre abweichende Farbe
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und ihre fremde Flagge auf. Custige Musik tönt uns vom Bord
des einen entgegen. Es sind amerikanische Ureuzer, die zum Besuche
hier weilen. Der Blumen- und Flaggenschmuck am Oberdeck des
größeren Schiffes deutet an, daß die fremden Offiziere ihren Kameraden
von der deutschen Marine ein Fest geben wollen.
Doch wenden wir unsern Blick wieder den Ufern zu. Zwischen
den Kronen uralter CLinden und Buchen lugen schöne Villen und
vornehme Paläste hervor. Hart an der Grenze des Uriegshafens
erhebt sich das ehrwürdige Kieler Schloß, der Sitz des Prinzadmirals.
hier in der Düsternbroker Allee finden wir das Admiralitätsgebäude,
in dem der Höchstkommandierende der Kieler Flottenstation wohnt.
Dort liegt, vom schönsten Grün umschlossen, das Palais des Prinzen
Adalbert. Von diesem Ufer schaut auch ein prächtiger roter Back⸗
steinbau auf den Hafen hinaus; es ist die Marinehochschule, in der
die Seeoffiziere ihre Ausbildung empfangen. Am andern Ufer
erblicken wir wieder hohe Schornsteine und große Arbeitsräume.
Es ist die Kaiserliche Werft, eine der größten Werften Deutschlands,
auf der Kriegsschiffe gebaut, ausgebessert und ausgerüstet werden.
Doch was für schwarze Fahrzeuge sind das, die durch das ohren⸗
betäubende Geheul ihrer Dampfsirenen unsere Aufmerksamkeit auf
sich ziehen? Wie eine dampfende schwarze Masse, in der man das
einzelne Fahrzeug kaum erkennt, kommen sie rasch heran. Es sind
Torpedoboote, jene kleinen Schiffe, die im Kriege lautlos ihren
Gegner beschleichen und ihm durch ihr unterseeisches Geschoß den
Untergang bereiten. Vor ihrem haarscharfen Bug treiben sie eine
mächtige Schaumwelle her, schießen pfeilschnell an uns vorüber und
steuern in den nun folgenden breiteren Teil des Kriegshafens hinaus.
Bald verschwinden sie in der Wiker Bucht. Am Vordufer dieser
kleinen Bucht erblicken wir gewaltige Ufermauern und gleich hinter
ihnen auf einem kleinen Hügel einen schlanken Leuchtturm. Hier
mündet der KUaiser-Wilhelm-Kanal in den Hafen. Eine Reihe
stattlicher Segler wartet vor der Mündung auf den Schlepper, der
sie durch die künstliche Wasserstraße befördern soll, und mehrere
große Dampfer hissen die Cotsenflagge.
Wir nähern uns dem Ausgange des Kriegshafens. Schon aus
der Ferne erkennen wir in seiner Nähe eine Reihe massiger Gebäude.
Es sind die Kasernen der Festung Friedrichsort, die als starke
Brustwehr im Verein mit mehreren andern Forts den Hafen
schützen soll. Hier, wo die Ufer des Hafens sich die Hand zu
reichen scheinen, steht auf einer flachen Sandbank nahe der westlichen
150
Küste ein zweiter Ceuchtturm; er ist den Schiffen in Friedenszeiten
ein sicherer Wegweiser in den schützenden Hafen. Hunderte von
Kanonen scheinen auf uns gerichtet zu sein, während wir durch
die enge Einfahrt auf die Ostsee hinaussteuern. Von den Höhen
der Ufer, die nun auf beiden Seiten immer weiter zurückweichen,
starren uns ebenfalls zahlreiche Feuerschlünde entgegen. Wehe dem
feindlichen Schiffe, das versuchen wollte, mit Gewalt die Einfahrt
in den Hafen zu erzwingen! Hermann Rohwedder.
85. Deutsches Matrosenlied.
Hurral Ihr blauen Jungen, Hhurral Wir blauen Jungen
wohlauf an Bug und Heck! sind Brüder allzumal.
Aus kräft'gen Seemannslungen Uns hält ein Band umschlungen,
laßs dröhnen über Deck, das fester als von Stahl:
laßt brausen durch die Meere Denn wo wir auch geboren,
den Spruch, dem keiner gleich: an Düne, Strom und Deich,
Mit Gott für Deutschlands Ehre, wir haben Treu' geschworen,
Hurral Hurral
für Kaiser und für Reichl dem Kaiser und dem Reich!
Hurral Wir blauen Jungen, Hurral Wir blauen Jungen,
wir schirmen jeden Strand, wir führen gute Wehr,
wo deulscher Fleiß errungen und wird dereinst gerungen
ein neues Vaterland. zur See um Sieg und Ehr',
In eis'gen Nordwindsschauern, dann stehn wir jedem Rede
im Südhauch, lind und weich, und zahlen Streich mit Streich.
steh'n wir wie Wall und Mauern, Wir scheuen keine Fehde,
Hurral! Hurral
für Kaiser und für Reich! für Kaiser und für Reichl
Hhurral Wir blauen Jungen,
wir lachen der Gefahr!
Zu Häupten, unbezwungen,
rauscht uns des Reiches Aarl
Und seh'n den Tod wir winken,
wird keiner schwach und bleich:
wir rufen noch im Sinken:
Hurra!
für Kaiser und für Reichl Nenaln guchn.
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86. Der Untergang des Kanonenboots „Iltis“.
Am 25. Juli 1896 verließ der „Iltis“ Tschifu, um eine Fahrt
nach Kiautschou zu unternehmen. Bei seinem Abgange war
die Vitterung gut; im Laufe des Tages wurde es jedoch
regnerisch. Vind und See nahmen zu, der Sturm wurde
gegen 10 Uhr abends so stark, daß die Sturmsegel gesetzt
werden mußten. Es wurden dazu ,Alle Mann“ gepfiffen, aber
niemand dachte an Gesahr; hatte das Schiffchen doch früher
schon schlechtes Wetter genug durchgemacht und sich dabei
stets vortrefflich bewãährt.
Da erschũtterten eine halbe Stunde später zwei heftige
Stõße das Kanonenboot, und unmittelbar darauf erfolgte das
Kommando: „Alle Mann aus dem Zwischendeckl! Das Schiff
sitzt festl
Es war die höchste Zeit; denn schon stürzte das Wasser
in solchen Mengen in den Maschinenraum, daß die Feuer
gelõscht wurden und das Personal keine Zeit hatte, das Deck
zu erreichen. Es gelang dies zwar allen andern Leuten und
selbst den Kranken, aber dort oben war der Anblick hoff-
nungslos. Es wehte orkanmäßig, und die Nacht war stock-
finster. Schwere Regen- und Hagelschauer peitschten her-
nieder. Die brandende See mischte ihr brüllendes Toben
mit dem Heulen des Sturmes, und aus dem Phosphorlichte
der überbrechenden Wellenkämme hoben sich in nächster
Nahe schwarze, zackige Felsen drohend und gespenstisch ab.
Jeder wußte, daß sich das Verhängnis bald erfüllen mũßte,
aber mit eiserner Ruhe sahen Offiziere und Mannschaften
dem Tode ins Angesicht. Er ließ nicht lange auf sich warten.
Nach kurzer Zeit brach das Schiff mitten auseinander.
Das bis dahin noch in freiem Wasser befindliche Hinterschiff
wurde durch eine gewaltige See neben das festsitzende Vorder-
schiff auf die Klippen geworfen, und nun war alles vorbei;
es handelte sich nur noch um wenige Minuten. Aber diese
Minuten legten Zeugnis davon ab, welcher Heldengeist Offi-
ziere und Mannschaft beseelte, ein Geist, welcher wohl selten
oder nie von einer Schiffsbesatzung in solchem grausigen
Augenblicke gezeigt ist.
Die Stimme des Kommandanten, Kapitänleutnants Braun,
der seither die Kommandobrũucke nicht verlassen, ũübertönte
das brausende Chaos mit einem dreimaligen Hurra auf den
Kaiser, in das die fast sùmtlich auf das Hinterdeck gefluch-
tete Mannschaft donnernd einstimmte. Dann war er ver-
schwunden; eine überbrechende See hatte ihn von der Brücke
gerissen und mit sich in die dunkle Tiefe genommen.
Nun aber stimmte ein anderer der Helden, der Oberfeuer-
werksmaat Raahm, das Lied von der Flagge schwarz-weiß-rot
an. Alle andern fielen ein und besiegelten damit ihre Treue
bis zum Tode. Kaum war der zweite Vers verklungen, da
ertõnte ein letzter, furchtbarer Schrei durch die Nacht. Das
Hinterschiff war gekentert und begrub die auf ihm Weilenden
unter seinen Trũmmern. Nur zwei Mann wurden durch die See
vom Wrack frei gespũlt und erreichten schwimmend das Land.
Auf dem Vorderschiff hatten sich neun Mann in die Vanten
des stehengebliebenen Fockmastes gerettet, aber das furcht-
bare Wetter blieb auch während des folgenden Tages und
der Nacht, so daß sie noch bis zum zweiten Tage ohne
Schlaf und Nahrung auf dem Wrack zubringen mußten.
Einundsiebzig Mann, darunter alle Offiziere, sanken ins Grab
elf Mann wurden gerettet.
Wahrlich, eine solche Seelengröße, wie sie die Besatzung
des „Iltiss gezeigt, steht wohl einzig in der Welt da! Und
unser Vaterland darf mit gerechtem Stolze auf seine Seeleute
blicken, die sich so glänzend in Not und Tod bewähren.
Die Kunde des furchtbaren Unglücks erregte nicht nur
in Deutschland, sondern ũberall das tiefste Mitgefühl, aber
auch die größte Bewunderung über das heldenhafte Ver-
halten der Besatzung.
Es ist eine schöône Sitte in der deutschen Marine, daß
den neuen Schiffen die ruhmvollen Namen ihrer Vorgänger
wiederum verliehen werden. Schon im Herbst 1898 ging ein
neuer „Iltiss unter dem Kommando des Korvettenkapitäns
Lans hinaus, um in Ostasien an die Stelle seines unglück-
lichen Vorgängers zu treten. Seine erste Pflicht zu erfüllen,
legte der Kapitän an dem Denkmal, das von den Landsleuten
in der Heimat zum Andenken an das ruhmvolle Sterben der
„Iltis“ Männer in Schanghai gestiftet ist, einen Kranz nieder
und ermahnte dabei seine Besatzung, daß der neue „Iltis“
und seine Besatzung des alten sich würdig zeigen solle.
Reinhold Werner.
57
153
87. Die Köhler des Brockens.
Das anmutige Glockengeläute der Herden und das Lied der
Vögel war längst hinter mir verklungen. Da wirbelt blauer
Rauch aus den Tannen in die Höhe, ein kräftiger Harzgeruch dringt
durch die Zweige, ich sehe brennende Meiler und stehe bald vor
ihnen. Diese kleinen Feuerberge rauchen und dampfen rings um
den Brocken herum. In ihrem Innern brennen Holzstöße, die
mit vieler Kunst aufgetürmt und mit einer Decke von Zweigen und
Erde umhüllt sind, daß das Ganze eine große, hohe Halbkugel
bildet. In dem umhüllenden Mantel sind Löcher angebracht, aus
denen Rauch in die Höhe steigt. Durch das Schließen und Offnen
dieser Löcher erhält das unsichtbar fortbrennende Feuer den erforder—
lichen Zug. Nach wochenlangem Brennen stürzt der Berg zusammen,
das Holz aber ist alsdann in eine glänzende Kohle verwandelt und
wird nun den Besitzern von Eisenhütten und an Schmiedemeister
verkauft. Die CLeute, welche das Meilergeschäft betreiben, heißen
Köhler. Ihr Tagewerk gleicht dem der Sennhirten. Ist der Schnee
in den Bergen geschmolzen, so ziehen sie mit ihren zweirädrigen
Kohlenkarren fort von Weib und Uind und kehren nicht eher
wieder heim, bis der herannahende Winter sie zwingt. Unter allen
harzbewohnern bleiben sie am längsten im Walde.
Der Köhlermeister hat, wie der Sennhirt, seine Handbuben, die
ihn bei der Arbeit unterstützen; auch Glocken klingen beständig um
ihn, es sind die Glocken seiner Pferde, die das Holz auf Schlitten
über Moos und Gras aus dem Walde herbeischaffen. Diejenigen
seiner Ceute, welche den Schlitten laden und das Holz zum Meiler
fahren, heißen Schlittner. Die erste Arbeit, welche vorgenommen
wird, ist der Aufbau einer Hütte, die sie „Nöte“ nennen. Junge
Tannenstämme werden mit den Spitzen zusammengestellt und mit
Baumrinde ganz überkleidet. Eine einzige Offnung vertritt Cür
und Fenster. In der Mitte ist die Feuerstelle, über der ein
Kessel an einem eisernen Haken hängt. In die Zeltstangen sind
Pflöcke geschlagen; daran werden Beutel mit Salz, Zwiebeln und
dergleichen und Kleidungsstücke aufgehängt. Ein paar hölzerne
Risten, Laden genannt, nehmen das Brot, die Kartoffeln, Wurst,
Mehl und dergleichen auf. Die Lagerstätte ist aus dünnen Baum—
stämmen zu breiten Bänken zusammengefügt, auf denen Moos und
Moossäcke statt der Federbetten liegen. Jede Woche, gewöhnlich
Mittwochs und Sonnabends, kommen die Frauen der Köhler, um
die notwendigsten Lebensmittel zu bringen. Abends wird die beliebte
Scheibensuppe gekocht. Man schneidet Brotscheiben in einen Napf,
gießt kochendes Wasser darauf, tut etwas Butter, viel Salz und
Kümmel daran, und die Suppe ist fertig. Ist einer der Cischge⸗
nossen noch im Walde beschäftigt, so wird ihm ein Zeichen gegeben.
Zwischen zwei Stricken hängt in der Schwebe ein plattes Buchen—
brett, dagegen schwingt einer den hölzernen Hammer, und weit in
den Wald hinein dringt der Ruf dieser Tischglocke. Einfache Sitte
und Zucht ist auch in der Tischordnung. Nach dem Händefalten
fährt der Köhlermeister zuerst mit seinem Löffel in die Schüssel,
dann kommt der Schlittner und dann erst der Lehrjunge. Legt der
Meister seinen Löffel zur Seite, so tun's die andern auch. Der
Junge reinigt darauf den Napf und die Löffel, trägt Holz für die
Nacht zur Feuerstätte und begibt sich mit den übrigen zur Ruhe.
Der Köhlermeister aber macht noch die Runde von Meiler zu
Meiler und beobachtet prüfend den Brand. Und wenn es prasselnd
durch den jungen Tannenhorst bricht, er kennt den Wald, das ist ein
Eber; und wenn es hoch oben durch die Tannenwipfel saust und
braust, als wenn der wilde Jäger mit seiner Meute die Luft durch—
zöge, er weiß, das ist der Flügelschlag des Auerhahns; und wenn im
Sturm der Wald stöhnt, knarrt und kracht, der Köhler bleibt ruhig;
denn er ist sicher, daß die Drossel bald ihr Morgenlied anstimmt.
Nach Gulde.
88. Das Ilsetal.
Je tiefer wir vom Brocken hinabstiegen, desto lieblicher rauschte
das unterirdische Gewässer; nur hier und da, unter Gestein und
Gestrüppe, blinkte es hervor und schien heimlich zu lauschen, ob es
ans Licht treten dürfe, und endlich kam eine kleine Welle entschlossen
hervorgesprungen. Nun zeigt sich die gewöhnliche Erscheinung: ein
Kühner macht den Anfang, und der große Troß der Fagenden
wird plötzlich, zu seinem eigenen Erstaunen, von Mut ergriffen
und eilt, sich mit jenem ersten zu vereinigen. Eine Menge anderer
Quellen hüpften jetzt hastig aus ihrem Versteck, verbanden sich mit
der zuerst hervorgesprungenen, und bald bildeten sie zusammen ein
schon bedeutendes Bächlein, das in unzähligen Wasserfällen und in
wunderlichen Windungen das Bergtal hinabrauscht. Das ist nun
die Ilse, die liebliche, süße Ilse. Sie zieht sich durch das gesegnete
Ilsetal, an dessen beiden Seiten sich die Berge allmählich höher
erheben, und diese sind bis zu ihrem Fuße meistens mit Buchen,
Eichen und gewöhnlichem Blattgesträuche bewachsen, nicht mehr
154
155
mit Tannen und anderm VNadelholz. Denn jene Blätterholzart wird
vorherrschend auf dem Unterharze, wie man die Ostseite des Brockens
nennt, im Gegensatz zur Westseite desselben, die der Oberharz heißt
und wirklich viel höher ist, also auch viel geeigneter zum Gedeihen
der Nadelhölzer.
Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und
Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten
Felsstücke, die sie in ihrem Caufe findet, so daß das Wasser hier
wild emporzischt oder schäumend überläuft, dort aus allerlei Stein—
spalten, wie aus vollen Gießkannen, in reinen Bögen sich ergießt
und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt wie ein munteres
Mädchen. Ja, die Sage ist wahr: die Ilse ist eine Prinzessin, die
lachend und blühend den Berg hinabläuft. Wie blinkt im Sonnen⸗
schein ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im Winde ihre
silbernen Busenbänder! Wie funkeln und blitzen ihre Diamanten!
Die hohen Buchen stehen dabei gleich ernsten Vätern, die verstohlen
lächelnd dem Mutwillen des lieblichen Uindes zusehen; die weißen
Birken bewegen sich tantenhaft vergnügt, und doch zugleich ängstlich
über die gewagten Sprünge; der stolze Eichbaum schaut drein wie
ein verdrießlicher Oheim, der das schöne Wetter bezahlen soll; die
Vöglein in den Lüften jubeln ihren Beifall; die Blumen am Ufer
flüstern zärtlich: „O, nimm uns mit, nimm uns mit, lieb Schwester—
chen!“ — aber das lustige Mädchen springt unaufhaltsam weiter.
Heinrich Heine.
89. Die Heide.
Ein großer, grauer Stein mit grünen Flecken, so groß wie ein
Eßtisch. Ich klettre hinauf und sehe über das Cand; rosenrot ist's,
soweit ich sehen kann. Soweit ich sehen kann, nichts als rosenrote
Blüten, Hunderte, Tausende, Millionen — die Augen tun mir weh
davon. — Gleich unten an dem Stein fängt's an, Blümchen neben
Blümchen, alle auf kleinen, krausen Sträuchern, alle überein. So
blüht die Heide: leuchtendes Rot, weit bis zum fernen Himmel.
Nicht eine einzige Butter- oder Spiegelblume dazwischen.
Und über dem blütenbedeckten Lande summende Bienen, Hunderte,
Tausende, Millionen. Die ganze Cuft summt und brummt. Jede
Biene sammelt Honig. Jede fliegt von einer Blüte zur andern,
unermüdlich, unermüdlich!
Ein großer, goldgrüner Caufkäfer quält sich ab, auf meinen
Stein zu kommen. Er fällt zurück, versucht's wieder, fällt jedesmal
156
zurück und wird nicht müde; das nenne ich beharrlich sein. Zehn
Minuten habe ich ihm zugesehen, endlich läuft er weiter, endlich.
Es raschelt zu meinen Füßen. Zwei kluge, schwarze Augen sehen
mich scharf an. Ich bewege die Hand, in einem Nu ist die zier—
liche Eidechse verschwunden.
Nicht weit von mir ist ein Sandhügel, breit und flach und rund.
Ich gehe hin und grabe. Sand, Sand, nichts als feiner, gelber
Sand. Denke ich, ich habe ein Loch, fällt's von den Seiten her
wieder zu. Unverdrossen grabe ich, die Stirn voller Schweißtropfen.
Endlich eine Kuhlel Aha, da unten gräbt's sich besser, da ist der
Sand feucht und läßt sich abstechen. Ich habe schon so tief gegraben,
daß ich nicht mehr über den Rand hinwegsehen kann. Da stößt
der Spaten auf etwas Hartes. Nun heißt's vorsichtig sein. Ich
trete etwas zur Seite und arbeite mit den Händen einen großen,
flachen Stein heraus. Darunter steht der Topf, ein großer, braun—
schwarzer Topf, wie eine sehr dicke Waschkanne ohne Henkel. Be—
hutsam hebe ich ihn heraus und besehe ihn. Außen ist er gemustert:
Fickzacklinien und Punkte ringsum. Ich nehme den Deckel ab.
Die Urne ist mit Asche gefüllt. Ich schütte sie aus und suche
darin herum. Vichts als Aschel Die Urne unter dem Arm und
den Spaten auf der Schulter, gehe ich langsam durch die blühende
Hheide nach Hause. Es dunkelt. Unser Kiefernwald ist schon in
Schatten gehüllt. Die Füße versinken bei jedem Schritte in den
roten Blüten. Schwer ist das Gehen in dem niedrigen Gestrüpp.
Der Weg mit seinen tief ausgefahrenen Wagenspuren und den
zerstreut liegenden Kieseln ist noch schlechter zu gehen.
Endlich bin ich da. Unsre Ceute sitzen vor der Tür auf der
nüppelbank, Großvater schläft, die Pfeife im Munde. „He drömt
von sine Immen!“ sagt Fritz, der Flachskopf. Ich zeige meinen
Topf. „Wer nicks dobi?“ Nel“ „Cowilen find se olet Isen
in'n Pott.“ „Ick hev dorno socht, aber nicks funnen. — Wat givt
hüt abend?“ „Baukweitenklüten!“ „Dat's goodl“ Ich setze mich
zu Tisch und esse Buchweizenklöße, bis ich nicht mehr kann. Dann
gehe ich wieder hinaus, durch den kleinen Garten, an den ein—
hundertzwanzig Bienenkörben vorbei — „Großvaddern sine Immen“
— zwischen den Buchweizenfeldern und dem Kiefernholze durch und
stehe wieder am Rande der Heide. Die schwarze Nacht zieht herauf.
Dunkelgrau ist der Himmel, noch dunkler das Cand. Vor mir
nichts als schweigende Heide, kein Baum, kein Strauch, kein Haus.
Dort hinten ist man mutterseelenallein. Nur weißer Nebel ist dort
157
und die große Stille. Man hört sie ordentlich. Nichts rührt sich
mehr, nicht einmal ein Hund bellt in der Ferne.
Ich bekomme heimwehl
Schnell gehe ich zurück ins Haus, da hört man doch wenigstens
menschliche Stimmen. Heinrich Scharrelmann.
90. Abseits.
Es ist so still; die Heide liegt
im warmen Mittagssonnenstrahle,
ein rosenroter Schimmer fliegt
um ihre alten Gräbermale;
die Kräuter blühn; der Heideduft
steigt in die blaue Sommerluft.
Caufkäfer hasten durchs Gesträuch
in ihren goldnen Panzerröckchen,
die Bienen hängen Zweig um Zweig
sich an der Edelheide Glöckchen,
die Vögel schwirren aus dem Kraut —
die Cuft ist voller Cerchenlaut.
Ein halb verfallen niedrig Haus
steht einsam hier und sonnbeschienen;
der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
behaglich blinzelnd nach den Bienen;
sein Junge auf dem Stein davor
schnitzt Pfeifen sich aus Nälberrohr.
Kaum zittert durch die Mittagsruh'
ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
dem Alten fällt die Wimper zu,
er träumt von seinen Honigernten.
Kein Klang der aufgeregten Feit
drang noch in diese Einsamkeit.
Theodor Storm.
91. Eine Bootfahrt im Spreewalde.
Nach kurzem Gange durch Stadt und Park von Lübbenau er⸗
reichten wir den Hauptspreearm, auf dem der für uns bestimmte
Kahn bereits im Schatten eines Buchenganges lag. Am Stern des
Bootes, das lange Ruder in der Hand, stand ein Fünfziger mit
hohen Backenknochen und eingedrückten Schläfen, dem für gewöhnlich
158
die nächtliche Sicherheit von Lübbenau obliegt, der heut aber den
Ruder⸗ und Steuermannsdienst in unserm Spreeboot versehen sollte.
Wir stiegen ein, setzten uns auf die mit Polster und Rücklehne
versehenen Bänke, und die Fahrt begann. Gleich die erste halbe
Meile nach Lehde zu zeigt uns die Besonderheit des Spreewaldes
in seinem Netz- und Inselcharakter. Nur ein Einheimischer kann
sich in diesem vieldurchschnittenen Gelände zurechtfinden, in dem die
Flußfäden sich gleichsam zu Maschen verschlingen.
Die Wassergewãchse, die von beiden Seiten her uns stromauf⸗
wärts begleiten, bleiben dieselben; Sumpflilie und Pfeilkraut lösen
sich untereinander ab, und nur hier und da gesellt sich, unter dem
überhangenden Rande geborgen, eine wuchernde Vergißmeinnicht⸗
einfassung hinzu.
Es ist Sonntag; die Arbeit ruht, und die große Fahrstraße
zeigt sich verhältnismäßig leer; nur selten treibt ein mit frischem
Heu beladner Kahn an uns vorüber; Burschen handhaben das
Ruder mit großem Geschick. Sie sitzen weder auf der Ruderbank,
noch schlagen sie taktmäßig das Wasser; vielmehr stehen sie grade
aufrecht am Hinterteile des Boots, das sie nach Art der venetianischen
Gondoliere vorwärts bewegen. Dies Aufrechtstehen und mit ihm ein
beständiges Anspannen der Uräfte hat dem ganzen Volksstamm
eine Haltung und Straffheit gegeben, die man bei der Mehrzahl
unsrer sonstigen Dorfbewohner vermißt. Wenn es nun schon ein
reizvoller Anblick ist, diese schlanken und stattlichen Ceute in ihren
Booten vorüberfahren zu sehen, so steigert sich dieser Reiz im Winter,
wo jeder Bootfahrer ein Schlittschuhläufer wird. Das ist dann die
eigentliche Schaustellung ihrer Kraft und Geschicklichkeit. Dann
sind Fluß und Inseln eine gemeinschaftliche Eisfläche, und ein paar
Bretier unter den Füßen, die halb Schlitten, halb Schlittschuhe sind,
dazu eine sieben Fuß lange Eisstange in der Hand, schleudert sich
jeht der Spreewälder mit mächtigen Stößen über die blinkende
gläche hin. Dann tragen sie auch ihre Volkstracht: kurzen Lein—
dandrock und leinene Hose, beide mit dickem Fries gefüttert, und
Spreewald⸗Stiefel, die fast bis an die Hüfte reichen.
Es ist Sonntag, sagt' ich, und die Arbeit ruht. Aber an
Wochentagen ist die Straße, die wir jetzt still hinauffahren, von
früh bis spät belebt, und alles nur Denkbare, was sonst auf Knüppel⸗
hanm und Candstraße seines Weges zieht, das bewegt sich dann
auf dieser Wasserstraße hinab und hinauf. Selbst die reichen Herden
dieser Gegenden wirbeln keinen Staub auf, sondern werden ins Boot
—159
getrieben und gelangen in ihm von Stall zu Stall oder von Wiese
zu Wiese. Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen
Flußnetz uud wird nur auf Augenblicke unterbrochen, wenn auf
blumengeschmücktem Kahn, Musik vorauf, die Braut zur Kirche
fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn
und zwanzig KNähnen gefolgt, ein schwarzverhängtes Boot strom—
abwärts gleitet.
Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste
Spreewalddorf, erreicht. Man kann nichts Lieblicheres sehen als
diesen Ort, der aus ebensovielen Inseln besteht, als er Häuser hat.
Die Spree bildet die große Dorfstraße, in die schmälere Gassen von
links und rechts her einmünden. Wo sonst Heckenzäune verlaufen,
um die Grenze eines Grundstücks zu bezeichnen, ziehen sich hier
vielgestaltige Kanäle hin; die Höfe selbst aber sind in ihrer Grund—
anlage meistens gleich. Dicht an der Spreestraße steht das Wohn⸗
haus, ziemlich nahe daran die Stallgebäude, während klafterweis
aufgeschichtetes Erlenholz als schützender Kreis um das Inselchen
herläuft. Obstbäume und Düngerhaufen, Blumenbeete und Fisch—
kasten teilen sich im übrigen in das Gebiet und geben eine Fülle
der reizendsten Bilder ab.
Das Wohnhaus ist jederzeit ein Blockhaus mit kleinen Fenstern
und einer tüchtigen Schilfdachkappe; das ist das Wesentliche. Seine
Schönheit aber besteht in seiner reichen und malerischen Einfassung
von Blatt und Blüte: Kürbis rankt sich auf, und Geißblatt und
Winde schlingen sich mit allen Farben hindurch. Endlich zwischen
Hhaus und Ufer breitet sich ein Grasplatz aus, an den sich ein
Brückchen oder ein Holzsteg schließt, und um ihn herum gruppieren
sich die Kähne, kleiner und größer, immer aber dienstbereit, sei es,
um bei Tag einen Hheuschober in den Stall zu schaffen oder am
Abend zu Besuch bei Nachbarsleuten behilflich zu sein.
Theodor Fontane.
92. Die Pußta.
GBrief Bismarcks an seine Gattin.)
Szolnok, 27. Juni 1852.
In den vorhandenen Atlanten wirst Du eine Uarte von Ungarn
finden, auf dieser einen Fluß Theiß, und wenn Du den über
Szegedin hinauf nach der Quelle suchst, einen Ort Szolnok, von
dem Dein Liebster Dir schreibt. Ich bin gestern mit Eisenbahn von
Pest nach Alberti-Irsa gefahren, wo ein junger Fürst Windisch—
grätz in Quartier liegt, der mit einer Prinzessin von Mecklenburg,
60
Nichte unsres Königs, verheiratet ist. Dieser machte ich meine
Aufwartung, um der Großherzogin, ihrer Mutter, Nachricht von
ihrem Ergehen bringen zu können. Der Ort liegt am Rande der
ungarischen Steppen zwischen Donau und Theiß, welche ich mir
spaßeshalber ansehen wollte. Man ließ mich nicht ohne Eskorte
reisen, da die Gegend durch berittene Räuberbanden, hier Petyaren
genannt, unsicher gemacht wird. Nach einem komfortabeln Früh—
stück unter dem Schatten einer schönhausigen Linde bestieg ich einen
sehr niedrigen Ceiterwagen mit Strohsäcken und drei Steppenpferden
davor, die Ulanen luden ihre Karabiner, saßen auf, und fort ging's
im sausenden Galopp. Hildebrand und ein ungarischer Cohndiener
auf dem Vordersack, und als Uutscher ein dunkelbrauner Bauer mit
Schnurrbart, breitrandigem Hut, langen, speckglänzenden schwarzen
haaren, einem Hhemd, das über dem Magen aufhört und einen
handbreiten dunkelbraunen Gurt eigener Haut sichtbar läßt, bis
die weißen Hosen anfangen, von denen jedes Bein weit genug zu
einem Weiberrock ist, und die bis an die Unie reichen, wo die ge—
spornten Stiefel anfangen. Denke Dir festen Rasengrund, eben wie
der Tisch, auf dem man bis an den Horizont meilenweit nichts
sieht, als die hohen, kahlen Bäume der für die halbwilden Pferde
und Ochsen gegrabenen Fiehbrunnen Püttschwengel). Tausende
von weißbraunen Ochsen mit armlangen Hörnern, flüchtig wie
Wild, von zottigen, unansehnlichen Pferden, gehütet von berittenen,
halbnackten Hirten mit lanzenartigen Stöcken, unendliche Schweine—
herden, unter denen jederzeit ein Esel, der den Pelz (bunda) des
hirten trägt und gelegentlich ihn selbst, dann große Scharen von
Trappen, Hasen, hamsterartige Zeisel, gelegentlich an einem Weiher
mit salzhaltigem Wasser wilde Gänse, Enten, Kiebitze, waren die
Gegenstände, die an uns und wir an ihnen vorüberflogen während
der drei Stunden, die wir auf sieben Meilen bis Kecskemet fuhren,
mit etwas Aufenthalt in einer Csarda (einsames Wirtshaus).
Kecskemet ist ein Dorf, dessen Straßen, wenn man keinen Bewohner
sieht, an das Uleine-Ende von Schönhausen erinnern, nur hat es
45 000 Einwohner, lauter Bauern, ungepflasterte Straßen, niedrige,
orientalisch gegen die Sonne geschlossene Häuser mit großen Vieh—
höfen. Ein fremder Gesandter war da eine so ungewöhnliche Er—
scheinung, und mein magyarischer Diener ließ die Exzellenz so rasseln,
daß man mir sofort eine Ehrenwache gab, die Behörden sich bei
mir meldeten und Vorspann für mich requiriert wurde. Ich brachte
den Abend mit einem liebenswürdigen Offizierkorps zu, die darauf
bestanden, daß ich auch ferner Eskorte mitnehmen müsse, und mir
eine Menge Räubergeschichten erzählten. Grade in der Gegend,
nach der ich reiste, sollten die übelsten Raubnester liegen, an der
Theiß, wo die Sümpfe und Wüsten ihre Ausrottung fast unmöglich
machen. Sie sind vortrefflich beritten und bewaffnet, diese Petyaren,
überfallen in Banden von 15 bis 20 die Reisenden und die Höfe
und sind am andern Cage 20 Meilen davon. Gegen anständige
Ceute sind sie höflich. Ich hatte den größten Teil meiner Barschaft
und die nette Knarr-Uhr bei Fürst Windischgrätz gelassen, nur etwas
Wäsche bei mir, und hatte eigentlich etwas Kitzel, diese Räuber zu
Pferde, in großen Pelzen, mit Doppelflinten in der Hand und
Pistolen im Gurt, deren Anführer schwarze Masken tragen und
dem angesessenen CLandadel angehören sollen, näher kennen zu
lernen. Vor einigen Cagen waren mehrere Gendarmen im Ge—
fecht mit ihnen geblieben, dafür aber zwei Räuber gefangen und in
Kecskemet standrechtlich erschossen worden. Dergleichen erlebt man
in unsern langweiligen Gegenden gar nicht. Um die Zeit, wo Du
heut morgen aufwachtest, hast Du schwerlich gedacht, daß ich in
dem Augenblick in Uumanien in der Gegend von Felegyhäza und
Csongrad mit Hhildebrand im gestreckten Galopp über die Pußta
Steppe) flog, einen liebenswürdigen sonnenverbrannten Ulanen—
offizier neben mir, jeder die geladenen Pistolen vor sich im Heu
liegend, und ein UHommando Ulanen, die gespannten Karabiner in
der Faust, hinterherjagend. Drei schnelle Pferdchen zogen uns, die
unweigerlich Rosa (sprich Ruscha), Csillak (Stern) und der neben—
laufende Petyar Vagabund) heißen, von dem Uutscher ununter—
brochen bei Namen und in bittendem Tone angeredet werden, bis
er den Peitschenstiel quer über den KNopf hält und mega, mega
(halt anl) ruft, dann verwandelt sich der Galopp in sausende
Karriere. Ein sehr wohltuendes Gefühll Die Räuber ließen sich
nicht sehen; wie mir mein netter brauner CLeutnant sagte, würden
sie schon vor Tagesanbruch gewußt haben, daß ich unter Bedeckung
reiste, gewiß aber seien welche von ihnen unter den würdig aus—
sehenden stattlichen Bauern, die uns auf den Stationen aus den
zestickten, bis zur Erde gehenden Schafpelzmänteln ohne Ürmel
ernsthaft betrachteten und mit einem ehrenfesten istem adiamek
Gelobt sei Gott) begrüßten. Die Sonnenhitze war glühend den
ganzen Tag, ich bin im Gesicht wie ein Urebs so rot. Ich habe
18 Meilen in 12 Stunden gemacht, wobei noch 2 bis 8 Stunden,
wenn nicht mehr, auf Umspannen und Warten zu rechnen sind, da
Weimar. Lesebuch Ul, 2.
61
die 12 Pferde, die ich brauchte, für uns und die Bedeckung erst
gefangen werden mußten. Dabei waren vielleicht ein Drittel des
Weges tiefster Mahlsand und Dünen wie bei Stolpmünde.
Um 5 kam ich hier an, wo ein buntes Gewühl von Ungarn,
Slowaken, Walachen die Straßen (S3. ist ein Dorf von etwa
6000 Einwohnern, aber Eisenbahn-⸗ und Dampfschiffstation an der
Theiß) belebt, und mir die wildesten und verrücktesten Zigeuner—
melodien ins Zimmer schallen. Dazwischen singen sie durch die
Nase mit weit aufgerissenem Munde in kranker, klagender Moll—
dissonanz Geschichten von schwarzen Augen und von dem tapferen
Tod eines Räubers, in Tönen, die an den Wind erinnern, wenn
er im Schornstein lettische Lieder heult. Die Weiber sind im ganzen
gut gewachsen, aber von Gesicht, bis auf einige ausgezeichnet schöne,
nicht hübsch, alle haben pechschwarzes Haar, nach hinten in Zöpfe
geflochten, mit roten Bändern darin. Die Frauen entweder lebhaft
grünrote Tücher oder rotsammetne Häubchen mit Gold auf dem
Kopf, ein sehr schönes gelbes seidenes Tuch um Schulter und Brust,
schwarze, auch urblaue kurze Röcke und rote Saffianstiefel, die bis
unter das Kleid gehn, lebhafte Farben, meist ein gelbliches Braun
im Gesicht, und große brennendschwarze Augen. Im ganzen ge—
währt so ein Crupp Weiber ein Farbenspiel, das Dir gefallen
würde, jede Farbe am Anzug so energisch wie sie sein kann. Ich
habe nach meiner Ankunft um 5, in Erwartung des Diners, in
der Theiß geschwommen, Csardas tanzen sehn, bedauert, daß ich
nicht zeichnen konnte, um die fabelhaften Gestalten für Dich zu
Papier zu bringen, dann Paprika-Hähndel, Stürl (Fisch) und Tick
gegessen, viel Ungar getrunken, an Nanne geschrieben und will
nun zu Bett gehn, wenn die Figeunermusik mich schlafen läßt.
Gute Nacht, mein Engel. Isstem adiamek.
Dein treuster
v. B
93. Ein Heidebild.
Ich zog durchs weite Ungarland;
mein Herz fand seine Freude,
als Dorf und Busch und Baum verschwand
auf einer stillen Heide.
Die Heide war so still, so leer,
am Abendhimmel zogen
die Wolken hin, gewitterschwer,
und leise Blitze flogen.
162
Da hört' ich in der Ferne was,
in dunkler, meilenweiter;
ich legte's Ohr ans knappe Gras,
mir war, als kämen Reiter.
Und als sie kamen näherwärts,
begann der Grund zu zittern,
stets bänger, wie ein zages Herz
vor nahenden Gewittern.
Her tobte nun ein Pferdehauf',
von Hirten angetrieben
zu rastlos wildem Sturmeslauf
mit lauten Geißelhieben.
Der Rappe peitscht den Grund geschwind
zurück mit starken Hufen,
wirft aus dem Wege sich den Wind,
hört nicht sein scheltend Rufen.
Gezwungen ist in strenge Haft
des Wildfangs tolles Jagen,
denn klammernd herrscht des Reiters Kraft,
um seinen Bauch geschlagen.
Sie flogen hin, woher mit Macht
das Wetter kam gedrungen;
verschwanden — ob die Wolkennacht
mit einmal sie verschlungen.
Doch meint' ich nun und immer noch
zu hören und zu sehen
der Hufe donnerndes Gepoch,
der Mähnen schwarzes Wehen.
Die Wolken schienen Rosse mir,
die eilend sich vermengten,
des Himmels hallendes Revier
im Donnerlauf durchsprengten;
der Sturm, ein wackrer Rosseknecht,
sein muntres Liedel singend,
daß sich die Herde tummle recht,
des Blitzes Geißel schwingend.
63
11*
Schon rannten sich die Rosse heiß,
matt ward der Hhufe Ulopfen,
und auf die Heide sank ihr Schweiß
in schweren Regentropfen.
Nun brach die Dämmerung herein,
mir winkt von fernen Hügeln
herüber weißer Wände Schein,
die Schritte zu beflügeln.
Es schwieg der Sturm, das Wetter schwand;
froh, daß es fortgezogen,
sprang übers ganze Heideland
der junge Regenbogen. Nikolaus Lenau.
94. Der Winter in St. Petersburg.
In Petersburg ist wegen des mildernden Einflusses der Ostsee
der Winter zwar weniger streng als im mittleren Rußland, dennoch
aber fällt das Thermometer hier häufiger auf niedere Grade herab
als in Moskau. Im Sommer kann die Hitze, im Winter die
Kälte bis auf 359 steigen. Bei keiner andern Stadt in Europa
sind die Unterschiede so groß. Gewöhnlich geht aber das Ceben
im Winter, es mag regnen oder schneien, frieren oder tauen, seinen
alten, gewohnten Gang. Tag für Tag knistern die Birkenbäume
im Ofen, einen Cag wie den andern gleiten die Schlitten in den
Straßen umher, beständig werden die öffentlichen Wärmestuben für
die armen Ceute geheizt und regelmäßig die öffentlichen Feuer auf
der Straße, in der Nähe der Theater, für die Kutscher unterhalten.
Nur wenn Cle Kälte ausnahmsweise zu außerordentlicher Höhe
steigt, treten bedeutende Veränderungen in der Bewegung auf der
Straße und im Anblicke des Ganzen ein. Die Fußgänger laufen
alsdann so eilig, als hätten sie die wichtigsten Geschäfte, und die
Schlitten, die schon vorher ziemlich flink sich bewegten, fliegen nun
im Galopp über den schreienden Schnee. Gesichter bekommt man
dann gar nicht mehr auf den Straßen zu sehen; denn alles hat
sich die Pelze über Kopf und Hut gezogen. Die Furcht, Augen,
Ohren und Vase durch den Frost zu verlieren, beängstigt jeden,
und da sich das Abfrieren durch kein unangenehmes Gefühl vorher
ankündigt, so hat man genug zu denken, daß man nicht eins der
verschiedenen Glieder des Körpers vergesse, sondern zuzeiten etwas
reibe. „Väterchen, deine Nasel“ erinnert der Vorübergehende den
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Entgegenkommenden und reibt ihm ohne Umstände seine kreideweiße
Nase mit Schnee ein. Mit den Augen hat man ebenfalls viel zu
tun, weil sie alle Augenblicke zusammenfrieren. Man tappt dann
in die erste beste Haustür hinein und bittet die Leute um ein paar
Augenblicke um ein Plätzchen am Ofen.
Die höchsten Kältegrade stellen sich gewöhnlich nur bei heiterem,
ruhigem Wetter ein, und das prachtvolle Petersburg hat daher in
der Regel bei 300 Kälte seinen „schönsten, heitersten“ Tag. Der
himmel ist hell, die Sonne leuchtet glänzend, und zwar um so
glänzender, da ihre Strahlen durch Millionen kleiner, blinkender
Eiskristalle hindurchschießen, mit denen die CLuft gleichwie mit
Diamantenstaub erfüllt ist. Aus allen Häusern und selbst aus den
geheizten Uirchen wirbeln dicke Rauchsäulen. Schnee und Eis auf
den Straßen und der Newa sind weiß und reinlich, als wäre alles
aus Zucker gebacken. Alles Wasser gefriert, sowie man es ausgießt,
und die Brunnen, Pferdetränken, die Schöpfanstalten, die Wasser—
fuhrleute und ihre Wagen — alles erscheint weiß mit Eis überzogen.
August Wilhelm Grube.
95. Der LCotse.
„Siehst du die Brigg dort auf den Wellen?
Sie steuert falsch, sie treibt herein
und muß am Vorgebirg' zerschellen,
lenkt sie nicht augenblicklich ein.
Jch muß hinaus, daß ich sie leitel“ —
„Gehst du ins offne Wasser vor,
so legt dein Boot sich auf die Seite
und richtet nimmer sich empor.“
„Allein ich sinke nicht vergebens,
wenn sie mein letzter Ruf belehrt;
ein ganzes Schiff voll jungen Cebens
ist wohl ein altes Ceben wert!
Gib mir das Sprachrohrl Schifflein, eilel
Es ist die letzte, höchste Notl“
Vor fliegendem Sturme gleich dem Pfeile
hin durch die Schären eilt das Boot.
Jetzt schießt es aus dem Klippenrande.
„CLinks müßt Ihr steuern!“ hallt ein Schrei.
kieloben treibt das Boot zu Lande,
und sicher fährt die Brigg vorbei. Anbuig Giesebrec.
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96. Nordlicht.
Mittwoch, 25. Dezember. Wir haben schönes Weihnachtswetter
bekommen; fast Windstille und helles, schönes Mondlicht. Es ver—
setzt einen in eine ganz feierliche Stimmung; es ist der Frieden von
Jahrtausenden.
Nachmittags war das VNordlicht einzig schön. Als ich um sechs
Uhr ins Freie kam, war am südlichen Himmel ein heller, blaßgelber
Bogen. Er blieb lange Zeit fast unverändert und begann dann
an seinem obern Rande hinter dem Bergkamme im Osten viel
heller zu werden. Es glomm eine Zeitlang, dann schoß auf ein⸗
mal das Licht an dem Bogen entlang nach Westen hin; überall
stiegen Strahlen zum Zenit empor, und im nächsten Augenblick
stand der ganze südliche Himmel vom Bogen bis hinauf zum Zenit
in Flammen. Es flackerte und loderte, es drehte sich wie ein
Wirbelwind herum (die Bewegung war die der Sonne), und die
Strahlen schossen hin und her, bald rot und rötlich⸗violett, bald
gelb, grün und blendend weiß; jetzt waren die Strahlen unten rot
und oben gelb und grün, und dann war es wieder umgekehrt.
Hõher und höher stieg das Nordlicht; nun erschien es auch nördlich
vom Zenit, einen Augenblick zeigte sich eine prachtvolle Korona,
und dann wurde es dort oben zu einer einzigen wirbelnden Feuer⸗
masse: ein Wirbelstrom von rotem, gelbem und grünem Feuer, der
das Auge blendete. Es war wie eine gewaltige elektrische Ent—
ladung. Frithjof Nansen.
97. Im Banne des Polareises.
Jetzt sind wir gerade mitten in dem, wovor die Propheten uns
so sehr bange machen wollten. Das Eis preßt und schiebt sich mit
donnerartigem Getöse rund um uns herum. Es türmt sich zu
langen Mauern und zu Haufen auf, die hoch genug sind, um ziem⸗
lich weit an der Cakelung der „Fram“ hinaufzureichen. Es ver—⸗
sucht in der Tat sein Äußerstes, um die „Fram“ zu Staub zu zer—
malmen. Wir sitzen hier aber ganz ruhig und gehen nicht einmal
hinauf an Deck, uns all den Wirrwarr anzusehen, sondern plaudern
und lachen, wie wenn nichts wäre.
Gestern abend fand eine fürchterliche Pressung rund um unsre
alte Hundescholle statt. Das Eis hatte sich höher als die höchste
Spitze der Scholle aufgetürmt und stürzte sich auf dieselbe herab.
Es hat dabei einen Brunnen, in welchem wir bis jetzt gutes Crink—
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wasser gefunden hatten, verdorben, indem es ihn mit salzigem
Wasser gefüllt hat. Ferner war es über unsern Eisanker am Heck
und einen Teil der daran befestigten Stahltrosse gefallen und hatte
beide so gründlich unter sich begraben, daß wir das Kabel später
kappen mußten. Auch bedeckte es unsre Planken und Schlitten, die
auf dem Eise standen. Bald darauf gerieten die Hunde in Gefahr,
und die Wache mußte alle Mann wecken, um sie zu retten. Schließ⸗
lich ging die Scholle entzwei.
Allein die Ceute sind gegen die Eispressungen jetzt so gleich⸗
gültig geworden, daß sie, mag es noch so laut donnern, nicht ein⸗
mal hinaufgehen, um nachzusehen. Sie fühlen, daß das Schiff es
aushalten kann, und solange dies der Fall ist, kann nichts Schaden
leiden als das Eis selbst.
Solch ein Kampf zwischen den Eismassen ist unleugbar ein
großartiges Schauspiel. Man fühlt, daß man sich in Gegenwart
titanischer Gewalten befindet, und es ist leicht zu verstehen, daß
ängstliche Gemüter in Furcht gehalten werden und das Gefühl
haben, als ob vor jenen nichts bestehen könne. Denn wenn das
Zusammenschieben ernstlich beginnt, sieht es aus, als ob kein Fleck
auf der Oberfläche der Erde unerschüttert bleiben würde.
Zuerst vernimmt man in der großen Wüste ein Geräusch wie
das Donnergebrüll eines weit entfernten Erdbebens, dann hört man
es, immer näher und näher kommend, an mehreren Stellen. Die
schweigende Eiswelt hallt wider vom Donner, die Riesen der Natur
erwachen zur Schlacht. Das Eis beginnt ringsumher zu bersten
und türmt sich auf, und ganz plötzlich befindet man sich mitten im
Kampfe.
Auf allen Seiten hört man Heulen und Donnern, man fühlt
das Eis erzittern und hört es unter den Füßen brüllen; nirgends ist
Friede. In dem Halbdunkel sieht man es zu immer näher und näher
kommenden hohen Ketten sich auftürmen und aufwerfen; Schollen
von drei, vier und fünf Meter Dicke bersten und werden über—
einandergeworfen, als ob sie federleicht wären. Sie sind jetzt ganz
nahe, und man eilt fort, das Ceben zu retten; aber plötzlich spaltet
sich das Eis vor uns, ein schwarzer Abgrund öffnet sich, aus dem
das Wasser emporströmt. Man wendet sich nach einer andern
Richtung, allein durch die Dunkelheit kann man eben noch sehen,
daß ein neuer Wall von Eisblöcken sich heranbewegt.
Man versucht eine andere Richtung, aber dort ist es ebenso.
Rundherum Donner und Brüllen wie von einem ungeheuren
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Wasserfall, mit Explosionen wie Geschützsalven. Immer näher
kommt es heran. Die Scholle, auf der man steht, wird kleiner und
kleiner, Wasser strömt darüber hinweg. Es gibt kein Entkommen,
als indem man über die rollenden Eisblöcke klettert, um auf die
andere Seite des Packeises zu gelangen. Aber der Aufruhr legt
sich, das Getöse verhallt und verliert sich allmählich in der Ferne.
Frithjof Nansen.
98. Die Polarnacht.
Zum letzten Male in diesem Jahre sahen wir die Sonne. Ihr
bleiches CLicht lag sterbend über dem Inlandeise, und blaßrot stand
ihre Scheibe verschleiert am Horizont. Es war wie ein Tag im
Cande des Codes. Alles Cicht war so hoffnungslos kalt; alles
Ceben war so weit fort. Wir standen still und schauten zur Sonne,
bis sie versank. Schauerlich still wurde es, und es war, als ob unser
Hherrgott uns verlassen und die Pforte des Cebens verschlossen hätte.
Das Licht erblich auf den Bergen und erstarb langsam; auf uns aber
senkte sich der große Schatten der Polarnacht, der alles CLebende tötet.
Die Brust war uns beklemmt, als wir so dastanden. Nie hatten
wir solches Heimweh gefühlt wie in diesem Augenblicke, und wir
sprachen nicht viel, als wir weiterzogen. Noch ein paar Tage
konnten wir um die Mittagszeit auf den höchsten Bergen einen
schwachen Lichtschein sehen, eine Ahnung der Dämmerung im Süden,
die davon erzählte, daß es in der Welt noch Ceben gäbe. Dann
verschwand auch das.
Wir waren in die vier Monate lange Polarnacht eingetreten.
Otto Sverdrup.
99. Peking.
Ich atmete erleichtert auf, als wir die Stadtmauern von Tung—
schau hinter uns hatten. Zwischen drei bis vier Meter hoher Hirse
und haushohem Mais, zwischen Buchweizen- und Rizinusfeldern,
hald an Grabenrändern entlang, bald auf schmalen, die einzelnen
Acker begrenzenden Dämmen, gelegentlich auch auf breiterem Feld⸗
wege, dem Caufe des Kanals folgend, zogen wir langsam bei
glühender Hitze dahin. Cange Züge von Eseln begegneten uns,
die Mehl und Getreide in kreuzweise übereinandergelegten Säcken
trugen. Schubkarren, vorn an Seilen von Uulis oder Eseln ge⸗
zogen und hinten von einem Manne gesteuert, mit CLasten von ganz
erstaunlichem Umfange, wurden auf Feldwegen zu irgendwelchen
abgelegenen Gehöften gefahren. Reisende zu Pferd und Maultier,
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in Sänften oder zu Fuß, mit und ohne Gefolge, eilten vorüber; und
wo immer wir in die Nähe eines Dorfes kamen, kauerten Scharen
von Bettlern am Wege und heischten mit kreischender Stimme
Almosen.
Ein wahres Cabsal für das von Staub und Sonnenlicht
geblendete Auge bilden in dieser eintönigen Candschaft zahlreiche
verstreut liegende, sauber gehaltene, schattige Zypressenhaine, vor
denen vielfach überlebensgroße, in Stein gehauene Menschen- oder
Tierfiguren Wache halten. Es sind die Gräber von Großen des
Reichs; und wer chinesische Schriftzeichen zu entziffern vermag, dem
werden wohl die mit Inschriften bedeckten, von riesenhaften steinernen
Schildkröten getragenen Steintafeln verraten, wer hier die letzte
Ruhestatt gefunden hat. Weniges wohl dürfte den Reisenden in
China angenehmer berühren als die CLiebe und Sorgfalt, die der
Chinese den Gräbern seiner Vorfahren widmet.
Drei Stunden sind wir bereits unterwegs. Die Cebhaftigkeit des
Verkehrs, die häufiger auftretenden Gräberhaine und andere An—
zeichen deuten darauf hin, daß wir uns unweit Pekings, der Stadt
der Städte, befinden; und dennoch ist von einer Stadt noch keine
Spur zu entdecken. Weiter und weiter geht's. Von Zeit zu Zeit
hebe ich mich im Sattel und recke den Hals, umsonst! kein TCurm,
keine Mauer, ja nicht einmal eine die Nähe der Großstadt ver—
ratende Rauchschicht!
Ein sonderbares Nest dieses Pekingl Eine Kaiserstadt, zu der
keine einzige regelrechte Straße führt und von der man nichts sieht,
trotzdem man sich dicht vor ihren Toren befindetl Nach wenigen
Minuten sperre ich Mund und VNase auf; denn wie durch ein
Zauberwort dem Boden entstiegen, liegt unmittelbar vor mir eine
viele Meilen sich erstreckende, an die zwölf Meter hohe, wohlerhaltene
Mauer, die Mauer von Peking mit ihren mächtigen Ecktürmen
und Bastionen. Wir sind am Fiel. Nur ein kurzer Ritt noch, und
ich soll unter dem gastlichen Dache der deutschen Gesandtschaft
Gelegenheit finden, mich in einem Bade zu erfrischen und meine
staubgefüllte Kehle mit einem kühlen Trunke zu befeuchten. So
wenigstens dachte ich und wurde durch das Freudengeschrei meines
bis dahin lautlosen, in der Gegend zweifellos wohlbewanderten Esels
in dieser Ansicht wesentlich bestärkt. Ich hatte eben vergessen, daß
er ein Esel war. Eine schier endlose Weile mußte ich noch auf
staubiger, heißer Straße entlang ziehen, bis ich das Cung-pien⸗men,
das Tor der östlichen Bequemlichkeit, erreichte, um dann, nachdem
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ich es durchritten hatte, anstatt des erwarteten Treibens der Groß-
stadt nichts anderes vor mir zu haben als eine neue, aus Sand—
dünen aufragende Mauer, eine unabsehbare Staubwüste, und linker
Hand, hinter einem Wassergraben, einige elende, von Schmutz und
Unrat umgebene Häuser; es war die größte Enttäuschung, die ich
je erlebt habe.
Durch das Tor der erhabenen Gelehrsamkeit gelangte ich nach
heißem Bemühen aus diesem ödesten Stadtteile in die sogenannte
Tatarenstadt. Hhier herrschte ein Leben und Treiben, ein Drängen
und Wogen, wie es fesselnder freilich nicht gedacht werden konnte.
In den breiten, an Kaufläden reichen Straßen reihen sich, den Ver—
kehr in bedenklicher Weise beengend, Buden, Tische und Karren,
mit allen möglichen Waren und Lebensmitteln bedeckt, aneinander.
Dazwischen haben Geschichtenerzähler, die stets ein zahlreiches, an—
dächtiges Oublikum finden, Theatertruppen, Zauberkünstler, Wahr—
sager und Bauernfänger ihre meist aus Lumpen zusammengeflickten
Zelte aufgeschlagen. Schlangen- und Kautschukmenschen mühen sich
hier, mit einem schmutzigen, kaum das Notdürftigste bedeckenden
Cappen bekleidet, von früh bis spät in sengender Sonnenhitze ab
und verdienen mit zwölfstündigem Gliederverrenken kaum genug,
um sich einmal gründlich sattessen zu können.
Tle Kaufläden sind innen und außen vielfach mit vergoldetem
Holzschnitzwerk nahezu überladen, und eine solche über und über
neuvergoldete, aus fußtiefem Schlamm aufragende Hausfront ge—
währt gerade als Gegensatz zu dem ringsum uns entgegenstarrenden,
himmelschreienden Elend einen ganz merkwürdigen Anblick. Von
langer Dauer ist dieser Glanz nicht; denn wenige Wochen genügen, die
Vergoldung unter einer dicken Schmutzkruste für immer zu begraben.
Der Händler mit getragenen Herrenkleidern steht seinem jüdischen
Kollegen in keiner Hinsicht nach. Unter einem geräumigen, aus alten
Uleiderfetzen zusammengestückelten Zeltdache, oder auch unter freiem
Himmel hat er seine Vorräte zu einem haushohen Haufen auf—
geschichtet. Auf dessen Gipfel steht ein bezopfter Bursche, faltet ein
Kleidungsstück nach dem andern vor den Augen der gaffenden Menge
auseinander und preist mit singender Stimme dessen Vorzüge, um
es dann in hohem Bogen an das entgegengesetzte Ende des Zeltes
oder Standes zu schleudern. Hat die letzte Hose endlich auf diese
Weise die Cuft durchflogen und bildet sie nunmehr den Gipfel eines
neuen Berges, so wird dieser erstiegen, und die Schleuderarbeit be—
ginnt von neuem.
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An allen Ecken und Enden gibt es bei einer jeden Wanderung
Neues und Interessantes zu schauen: Mandarine zu Roß, in Sänften
oder auch in zweirädrigen Karren, begleitet von berittenen Dienern
oder speertragenden Läufern, Kamele, von Mongolen in fettglänzen⸗
den Kaftans mit langen Stöcken vorwärts getrieben, verschlossene
Sänften vornehmer Damen, die vornehme Jugend in heliotrop—
farbenen oder blauen Gewändern, mit ärmellosen Jacken aus quitten—
gelber oder pflaumenfarbener Seide, die weiten Beinkleider in niedrige
Gamaschen gesteckt, mit hochgezogenen Unien im Sattel hockend,
— Eselreiter und Lastkarren ziehen in buntem Durcheinander an
unseren Blicken vorüber. Hier wieder fesselt ein Glashändler, der
einer Flasche mit dünnem, elastischem Boden durch Aussaugen und
Wiederhineinlassen der Cuft Töne entlockt, unsere Aufmerksamkeit,
bis unsere Gedanken plötzlich nach oben gelenkt werden; denn hoch
über unseren Köpfen durchschwirren Äolsharfentöne die Cuft. Auf-
wärtsblickend sehen wir einen von einem Dache aufsteigenden Flug
zahmer Tauben seine Kreise ziehen. Auf dem Rücken, oberhalb
des Schwanzansatzes befestigt, trägt jedes Tier eine Anzahl ver—
schieden abgestimmter, federleichter Holzpfeifchen, in denen der hin—
durchstreichende Cuftzug weithin hörbare Töne hervorbringt. Ab⸗
gesehen davon, daß diese Musik das Ohr des Chinesen erfreut,
soll sie auch noch dazu dienen, die Raubvögel von den Tauben
fernzuhalten.
Wer Peking von seiner besten oder vielmehr einzig guten Seite
kennen lernen will, der besteige, was allen Verordnungen zum Trotz
durch ein Trinkgeld an einen der Treppenwächter leicht zu erreichen
ist, irgendwo die Stadtmauer. Er wird sich dann in eine andere
Welt versetzt wähnen; denn vor seinen Blicken dehnt sich ein riesen⸗
großer Park, zwischen dessen Baumwipfeln hindurch goldgelbe, blau
und grün im Sonnenlichte flimmernde Tempel- und Palastdächer
hindurchleuchten. Peking, von diesem Standpunkte aus gesehen, ist
eine der lieblichsten, anmutigsten Städte des Ostens. Kein Wunder,
daß die Mauer daher nicht nur den beliebtesten, sondern den ein—
zigen Spaziergang hier ansässiger Europäer bildet. Que Ehlers
100. Elephanta.
Der 9. November war der erste Tag, an dem ich die tropische
Flora ihr Wunderwerk frei und ungekünstelt entfalten sah. Aller—
dings hatte ich schon den vorhergehenden Nachmittag dazu benutzt,
um mit der Straßenbahn nordwärts durch die schwarze Stadt nach
Viktoria Garden zu fahren. Das ist ein hübscher, wenn auch nicht
sehr sorgfältig gepflegter botanischer Garten. Zwar kann er sich nach
Reichtum und Anlage nicht mit andern botanischen Gärten Indiens
messen; indessen sah ich doch zum ersten Male hier eine große An—⸗
zahl der schönsten und großartigsten Tropengewächse von Angesicht:
insbesondere die Hauptformen der indischen Palmen und Bambusse,
Bananen und Pandanus, Brotfrucht und Papaya, Cotos und
Pistia usw. Wie sehr mich aber auch dieser schöne Viktoriapark am
ersten Abend in Bombay entzückte, zumal er durch das prachtvolle
Beleuchtungsspiel eines glühenden Sonnenunterganges verklärt wurde,
so war doch meine Freude noch ungleich größer und lebhafter, als
ich am folgenden Nachmittag auf Elephanta die bedeutendsten
Charakterpflanzen Indiens wild in ihrem freien Naturzustande er⸗
blickte, in jener Überfülle der üppigkeit, die keinen Gartenzwang
duldet.
Da bekleiden rankende Schlingpflanzen und kletternde Farne die
riesigen Tiekstämme; da beugen die edelsten UNokospalmen ihren
schlanken, gebogenen Stamm mit der herrlichen, glitzernden Fieder—
krone über den Strand des Meeres, der mit Pandanusbüschen gesäumt
und mit einer im Wasser wurzelnden Mangrovenmauer befestigt ist.
Da ranken mächtige Schmarotzerfeigen und Winden und andere,
mit großen bunten Blumen ausgestattete Kletterpflanzen an den
kerzengraden schwarzen Stämmen der gewaltigen Palmyrapalmen
empor, und selbst ihre stolze Krone von handförmigen Fächerblättern
ist mit Blumen bekränzt. Und dort erheben sich uralte Pracht—
exemplare vom heiligen indischen Feigenbaum; unten löst sich ihr
Hhauptstamm in ein förmliches Netz gewaltiger Wurzeln auf, während
oben aus dem dichten, dunkelgrünen Caubwerke dicke Riesenäste eine
Schar von Luftwurzeln herabsenken; davon erreichen viele wieder
den Boden und bilden wurzelschlagend neue Stämme zur Stütze der
alten mütterlichen Urone. Und dort, siehe dort, da erstickt ein ge⸗
waltiger Würger (eine parasitische Feigenart) mit dem Netzwerk
seiner verflochtenen Stammäste die edle Palme, die er zäh umklammert
hält. Und wenige Schritte weiter, da steht entblättert ein Bruder
dieses Würgers, einen zylindrischen Hohlraum umschließend, mit
totem Gitterstamme; erst war die erwürgte Palme gestorben und
vermodert, und dann hat den grausamen Mörder dasselbe Schicksal
erreicht. Dazwischen bildet das zierliche Bambusrohr große Riesen⸗
bukette, breiten prächtige Bananen und Strelitzien ihre frischgrünen
zarten Blätter aus, entfalten herrliche bunte und große Blumen
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ihre duftenden Kelche, bilden zartgefiederte Akazien weit ausgedehnte
Schirmdãächer, verflechten sich stachelige, kaktusähnliche Euphorbien
zu dichten Hecken. So sah ich hier zum ersten Male auf Elephanta
in greifbarer Wirklichkeit eine Fülle der merkwürdigsten und schönsten
Gestalten der tropischen Flora, von denen ich seit dreißig Jahren
gelesen und geträumt hatte. Und dazwischen gaukelten in der sonnen—
glühenden Cuft Tausende der schönsten und buntesten Schmetterlinge,
schwirrten durch das Gebüsch große, goldglänzende Prachtkäfer,
huschten durch das CLaub Hhunderte von behenden Eidechsen und
Schlangen, flogen von Stamm zu Stamm lärmende Scharen pracht⸗
gefiederter Vögel — lauter neue, nie lebend gesehene Formen, und
mir doch großenteils seit langem Bekannte. Wie ein Kind haschte
ich nach all den herrlichen Siebensachen und legte meine Hand auf
die Stämme der Palmen und Bambusse, um mich zu überzeugen,
daß nicht alles nur ein schöner Märchentraum seil Und so fuhr
ich traumbefangen bei der wunderherrlichsten Abendbeleuchtung von
Elephanta nach Bombay zurück und sah in der schlaflosen Nacht,
der ersten in Indien, Tausende der prächtigsten Bilder an meinem
Auge aufs neue vorüberziehen. Ernst Häckel.
101. Sinaiĩ.
Kennst du dies Felsgerũste voll finssstrer Majestãt,
in unermeßner Wüste zum Predigtstuhl erhöht?
Zeuch aus, zeuch aus die Schuhe, und sinke still ins Knie!
Hier ist Jehovas Ruhe, das ist der Sinai!
Hier sprach er in der Wolke mit Mose, seinem Knecht,
hier gab er seinem Volke sein heilig Licht und Recht;
hier spürt noch still ergrausend, versteinert und verstarrt,
das spãteste Jahrtausend Jehovas Gegenwart.
Durch diese Felsenöõde klingt keines Vogels Ruf,
schallt keines Vandrers Rede, hallt keines Rosses Huf;
nur Gottes Vinde tönen die alte Melodie;
nur Gottes Donner dröhnen wie einst am Sinai.
Kein buntes Blümlein spriebet an dieser Felsenwand,
kein silbern Bachlein fließet von diesen Hõhn ins Land;
hier welkt das ird'sche Leben, hier stirbt die Kreatur;
nur Gottes Adler schweben im einsamen Azur.
Karl Gerok.
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102. Zum Jordan.
Durch der Erde weit Gefilde rauschet manch erlauchter Strom;
herrlich spiegelt sich im Rheine Rebenhügel, Burg und Dom;
an der Ciber gelben Fluten türmt sich stolz das alte Rom;
hoch von Bergen bringt der Ganges Himmelsluft und Waldarom.
Doch wie heißt das stille Wasser, dem das laut'ste weichen muß?
Das der Pilger kniend grüßet mit entzückter Andacht Gruß?
Drin er leise schauernd netzet Stirn und Wange, Hand und Fuß?
Das bist du, o Sohn des Hermon, benedeiter Jordanfluß!
Wer möchte nicht in diese Worte Geroks einstimmen, wenn ihn
seine Pilgerfahrt an die seit uralter Zeit geweihten Ufer dieses
Stromes führtl Nach einstündigem Ritt hielten wir überrascht an
dem alten Jordan, dessen eilende, gelbliche Fluten durch so manches
Ereignis heiliger Geschichte geadelt sind. Hier zog einst Israel her⸗
über ins Gelobte CLand, wie einst sein Ahn Jakob hinüberzog nach
Mesopotamien. Hier teilte Elia den Strom, bevor er gen Himmel
fuhr. Hier taufte Johannes, der Prophet in der Wüste, die buß—
fertigen Scharen und endlich auch Jesum Christum. Hier schlossen
sich die fünf ersten Jünger dem Herrn in freiwilliger Nachfolge an.
Da wälzten sie sich vor unsern Augen hinunter, die Wogen des
Jordan, trübe, in ungestümer Hast, mit hundert Windungen, mit
tausend Hemmungen, die aber auch von dem fast wilden Fluß
tausendmal überwunden werden. Der Strom weiß, was er will.
Kein Hindernis kann ihn zurückdrängen. Ihn zieht's mit unwider—
stehlicher Gewalt zu seinem Fiel, talab, talab, bis er in jenes leuch⸗
tende, klarblaue Wasser hineinströmt und Ruhe findet. Drum eilt
er so unaufhaltsam, immer stürmischer seine Wirbel kreisend, mit
seinen reißenden Wellen die Erde aufwühlend und sein eignes An—
gesicht trübend, von den Schneehöhen des Hermon in den warmen
Süden hinab, tiefer als irgendein Strom der Erde. Der See Merom
will ihn halten, aber er eilt weiter. Der See Genezareth lockt ihn
hinein in sein verführerisches Blau, aber er muß weiterziehen. Seine
Unruhe wächst, bis er ausruhen kann im Coten Meer. Obgleich der
Jordan kaum fünfzig Meter breit ist, führt er in seinem eiligen
Lauf bei etwa drei Meter Ciefe dem Toten Meere doch täglich eine
gewaltige Massermenge zu, welche dort in der Tiefe täglich ver⸗
dampft werden muß. Ein Bad im Jordan ist sehr angenehm und
erfrischend. Wer aber dort nicht genau Bescheid weiß, wird wohl⸗
tun, das Hinüberschwimmen zu unterlassen. Schon mancher Reisende
und Eingeborne hat es mit dem Tode gebüßt. An den Furten
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freilich, d. h. an Stellen oberhalb einer neuen Biegung des Flusses
trägt der Fluß den Schwimmer ohne Anstrengung durch seine Gewali
ans jenseitige Ufer. An einer Stelle, welche weiter stromaufwärts
liegt und wo wir später unser Zelt vor dem Flußdickicht auf einer
saftigen grünen Wiese aufgeschlagen hatten, sahen wir eine große
Zahl von Beduinen aus dem alten weidereichen Stammgebiet Ruben
mit etwa hundertfünfzig Stück Rindvieh übersetzen. Die (einzige)
Jordanbrücke war dicht neben uns, und der Brückengeldeinnehmer
hatte sich auf die bevorstehende fette Einnahme schon gefreut. Aber
die Beduinen shwammen zu seinem großen ürger dicht neben der
Brücke mit all ihrem Vieh über den Jordan. Die kleinen Kälber
nahmen die Männer in beide Arme, drückten sie an die Brust, um,
nur mit den Beinen arbeitend, hinüberzuschwimmen. Dann ging
auf ein gegebenes Signal die ganze große Herde in den Fluß und
schwamm hinüber. Jenseits, stromabwärts standen einige starke Be—
duinen im Wasser, um solche Rinder aufzufangen, welche der Fluß zu
weit hinabgerissen hatte. Alle kamen munter und unverletzt jenseits an.
Viele Hunderte von Pilgern wallen Jahr für Jahr hierher, um
sich in der heiligen Flut zu baden oder taufen zu lassen. In feier—
lichem Zuge wandern sie schon vor dem Morgengrauen mit Fackeln
von Jericho herüber. Alt und jung badet sich dann im Jordan,
in welchem auch, wenigstens bei den Griechisch-Orthodoxen, eine
Anzahl von Priestern steht, um die Pilger zu taufen. Wer nicht zu
ihrer Kirche gehört, wird guttun, diesen Priestern nicht zu nahe
zu kommen. Einem deutschen Fräulein aus Jerusalem wenigstens
ist dies einmal übel bekommen. Während sich alles zum Priester
herzudrängte, um getauft zu werden, erwischte dieser auch sie, um
die gleiche Prozedur mit ihr vorzunehmen. „Musch lasem!“ ses
ist nicht nötigl) rief die Unglückliche. „Lasem!“ (nötigl) sprach der
Priester und tauchte sie ruhig unter. Musch lasem!“ rief sie, den
Mund voll Wasser, mit halb erstickter Stimme, als sie empor—
getaucht war. „Lasem!“ sprach der Heilige und duckte sie zum
zweiten und ebenso auch zum dritten Male unter. Das lange weiße
Hemd, welches die Pilger bei diesem Bade tragen, wird von allen
sorgfältig aufbewahrt. Soll es doch als Sterbehemd dem Ceibe noch
einmal zur weihevollen, segenspendenden Hülle dienen.
Der Jordan ist auf beiden Seiten bewaldet. Wir wandern hinein
in das Dickicht, welches, einem kleinen Urwalde gleich, die Ufer des
heiligen Flusses umrauscht. Eine fremdartige, fast tropische Schön—
heit trat uns hier entgegen. Die ungewohnte Wälderpracht ent—
zückte unser Auge. Hohe Tamarisken mit ihrem reizenden dunkeln
Grün, Silberpappeln, Weiden, Terebinthen, Dombäume und Föhren
schlangen ihre Zweige tief und eng ineinander. Da drängte sich oft
Stamm an Stamm, und es schien, als wäre noch niemals ein mensch—
licher Fuß trennend dazwischengetreten. Und überall an Stämmen
und Zweigen rankten sich zierliche Schlingpflanzen hoch empor, oft
von Baum zu Baum ihr Netz webend, während drunten im Waldes—
schatten tausend Gräser, Halme und Blumen in üppiger Mannig—
faltigkeit wucherten. Und durch die Zweige des schmalen Urwaldes
welch ein liebliches Konzert der verschiedensten Vögell Hier ist ja
die Winterresidenz so mancher Zugvögel, der Störche zumal (Jer. 8, 7).
Von den Städten, Dörfern und Wäldern des Abendlandes sind sie
für die Wintermonate herübergeflogen an die geweihten Ufer des
Jordans, wie ihre Vorfahren schon zu Zeiten Johannis des Cäufers
getan. Adler und mächtige Greifgeier segelten mit ausgespannten
Flügeln über unseren Häuptern dahin, und ihr Schatten streifte lang⸗
sam unsern Weg. Zahlreiches Wild, namentlich Eber, auch Hyänen
und Leoparden sollen in diesem dichten Gebüsch hausen. Aber uns
kam keiner der borstigen oder gefleckten Gesellen zu Gesicht. Wunder⸗
schön waren die Waldwege, denen wir nachgingen. Wenn sie uns
wieder dicht an das Ufer führten, sahen wir gegenüber turmhohe,
steile Felsuferwände, welche stolz und ernst den jugendlich dahin—
eilenden Strom überragten und dem Anblick etwas Feierliches und
Majestätisches verliehen. Klar gaben dieselben das Echo jedes Rufes
zurück. An einer besonders anmutigen Stelle machten wir halt.
Jenseits türmten sich grau und weiß die Uferwände auf, aber dicht
vor unsern Füßen wand sich eilig der Jordan durch sein Dickicht.
Eine der Damen war einst mit Jordanwasser getauft worden. Heute
durfte sie selbst aus dem Flusse, der sie am Morgen ihres Lebens
schon so freundlich begrüßt hatte, schöpfen und trinken.
Ludwig Schneller.
103. Die Entdeckung der Kautschukliane
in Kamerun.
Herrenlos war noch Uamerun, als im Frühjahr des Jahres
1884 junge Leute aus Schweden in das Cand herüberkamen. Anut
Unutson und Georg Waldau hießen sie, der eine 27, der andere
22 Jahre alt, echte Germanen, hochgewachsen, muskelstark, anspruchs⸗
los und unerschrocken, mit blauen Augen und treuen Herzen. Sie
kamen von ihrem nordischen Gestade, um im Süden ihr Glück zu
176
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versuchen. In ihrer Hheimat hatten sie von dem Riesenflusse und
den Urwäldern an seinen Ufern gehört, von den Riesenbergen, die
mit Wäldern und Steppen bekleidet sind, von den Elefanten, die
sich Pfade in dem Pflanzenmeer der Tropen bahnen, und den Anti—
lopen, die wie Gemsen über die alten, erloschenen Krater huschen.
Da erwachte die Wanderlust in ihrem Herzen, die Gestalten des
alten „Lederstrumpf“ gaukelten vor ihren Augen, und sie träumten
von einem Jägerparadies unter den Palmen und über den Wogen
des Meerbusens von Guinea.
Mit Flinte, Pulver und Blei zogen sie nebst ihren beiden Dienern
das Kamerungebirge hinauf bis zur 2200 Meter hoch gelegenen
Mannsquelle, wo der Urwald aufhört und ein weites busch- und
strauchloses Grasland beginnt. Aber das erträumte Paradies war
hier nicht zu finden. Das Wild war seltener als man dachte, da—
gegen das Ulima rauher und die ganze Gegend unwirtlich. Da
wanderten sie 1600 Meter tiefer nach Mapanja, wo die Bakwiri—
neger wohnen, und gründeten am höchstgelegenen Punkte des Ortes
eine Niederlassung.
Aber auch hier fanden sie die Jagd nicht ergiebig genug. Es
gab hier wohl Elefanten; aber es war nicht leicht, sie zu schießen,
und schwieriger noch, die Zähne zu gewinnen. Denn mehrere selbst
zu Tode getroffene wußten sich in dem Dickicht des Urwaldes durch
rasche Flucht ihren Verfolgern zu entziehen, und nur einer blieb auf
der Strecke und ließ die Zähne. Aber als die Schweden durch den
Wald schweiften, nach Wild forschend, da fanden sie etwas, von
dessen Vorhandensein in Kamerun noch niemand wußte, nämlich
Kautschuklianen in Hülle und Fülle. Sie sammelten selbst deren
milchigen Saft und brachten es den Bakwiri bei, ihn gleichfalls zu
sammeln und zuzubereiten. Dann hängten sie das Gewehr an den
Nagel und wurden friedliche Händler. Sie tauschten den KNautschuk
sowie andere Erzeugnisse des Candes gegen die verschiedensten, aus
den deutschen Faktoreien an der Uüste bezogenen Waren ein und
erzielten bereits im ersten Jahre einen Umsatz von 20000 Mark.
Ihnen gebührt das Verdienst, das nützliche Gewächs, von dem der
Abhang des Kamerungebirges eine wahre Überfülle aufzuweisen hat,
entdeckt und zuerst in den Handel gebracht zu haben. Die Kautschuk⸗-
liane wird ohne Zweifel in der Entwickelung unserer jungen Kolonie
noch eine große Rolle spielen; denn sie birgt Schätze, die wertvoller
sind als die, welche die zahlreichen Elefanten desselben Gebiets in
ihren Zähnen mit sich herumtragen. Falkenhorst.
Weimar. Lesebuch III, 2. 12
2
104. Eine Ansiedelung in Deutsch⸗Ostafrika.
Unser Heim Sakkarani liegt im gebirgigen West-Usambara. Von
ihm will ich erzählen.
Es war Anfang Oktober 1900. Um diese Zeit herrscht überall
in Ostafrika Trockenheit, alles Gras ist gelb und verdorrt. Hier
oben aber, auf etwa 1500 Meter höhe, wo mein Mann seine Wahl
getroffen hatte, mutete das Gelände noch frisch an; der Boden atmete
Fruchtbarkeit und erfüllte uns zukünftige Landwirte mit froher Zu—
versicht. Einige Kopfschmerzen machte uns zunächst das geringe
pflugfähige Cand auf den meist ziemlich steilen Hängen. Es war
auch ein recht ermüdendes Klettern, ehe wir ans Fiel gelangten und
unsere Zelte bei unserm nächsten Nachbar, dem Jumben Mtangi,
aufschlagen konnten.
Eine Robinsonade im Freien begann damit, voller Entbehrungen
und viel harter Arbeit — und doch denke ich gerade an sie so gern
und freudig zurück. Oft genug hatten wir nicht einmal frisches
Fleisch; denn die Eingeborenen waren noch so mißtrauisch, daß sie
uns nur spärlich ihre Ziegen und Hühner verkauften. Es mag auch
wunderlich genug um unsere vorläufige Niederlassung ausgesehen
haben. Staub in den Zelten gab's freilich nicht zu wischen; aber
dafür mußte immer darauf gedacht werden, den bösen Schimmel
von Kleidungsstücken und Geräten fernzuhalten oder zu entfernen.
Sobald die Sonne herauskam, wurden Kisten und Koffer geöffnet,
der Inhalt ausgebreitet, die Kleider und Decken über Sträucher und
auf die Bäume gehängt — manchmal kam mir's vor, als wäre das
alles ein Warenhaus im Freien.
Die Arbeit in der nächsten Umgebung begann. Ringsum er—
schallten die Axrtschläge, die Bäume krachten nieder. Manchmal
fielss uns schwer genug, solch altem, ehrwürdigem Riesen zu Leibe
zu gehen, und einigemal siegte das Mitleid. Aber wir haben das
später bereut; denn solch ein geschonter Urwaldbaum verträgt es
nicht, allein zu stehen; er geht bald ein, wird zur Unzierde, und seine
herabfallenden Äste richten Schaden an.
Dann folgt die Periode des Abbrennens. Die Art allein wäre
ja des Waldes nicht Herr geworden. In dieser Feit dünkte ich mich
oft wie eine tränende Räucherware; denn der beißende Rauch war
entsetzlich. Unsere Gesichter waren gar nicht mehr rein zu erhalten,
unsere Hände glichen denen eines Schornsteinfegers, alle Kleider wurden
ruiniert. Wo man ging und stand, streifte man an verkohlte üste,
178
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Zweige, Unkrautstengel, und die ganze Cuft war mit schwarzen
Staubteilchen erfüllt. Heilfroh war ich, als die Brandfackel aus der
Umgebung des Feltlagers weitergetragen wurde. Aber die helle
Freude dann, als ich die mitgebrachten Apfel- und Zitronenbäumchen
in das erste frischgewonnene Cand einpflanzen konnte, an deren
Früchten wir uns jetzt schon — nach zwei Jahren — erquicken! Das
Roden machte ja noch unsägliche Arbeit; doch bald kamen auch
Kartoffeln in die Erde, und Gemüsebeete wurden angelegt. Auf
diesem zuerst gerodeten CLand von etwa dreißig Hektar liegen heute
unser Haus und Garten, unsere Arbeiterwohnungen und unsere
Wiese, deren frisches Grün wir sehr lieb haben, und die sich so
schön, wie eine rechte Alpenmatte, aus dem sie umgebenden Busch—
und Kaffeeland abhebt.
Unser „Haus“, schrieb ich soeben stolz. So weit waren wir aber
lange noch nicht. An die Stelle der Felte trat zunächst noch die
„Hhütte“. Gewaltige Casten Malamba, verwelkte, getrocknete Ba⸗
nanenblätter, brachten die Negerinnen auf ihren Köpfen heran—
geschleppt. Mit Bindfaden wurden die Umfassungslinien der Hütte
abgesteckt; längs des Fadens wurde Erde ausgehoben. Von zwei
zu zwei Metern kam ein stärkerer Stamm zu stehen; die Zwischen—
räume füllten dünnere, mit Lianen verflochtene Stämme. Ühnlich
entstand das Dach. Unter vielen Schweißtropfen, mit unendlichem
Ach und Weh, Zureden, Stöhnen kam der starke Dachfirststamm
hinauf, und schließlich wurde das Gerippe überall mit den Ba—
nanenblättern durchwoben, wie man in einen Smyrnateppich die
Fäden einzieht, und das Ganze innen und außen mit einem dicken
Brei nasser Erde verklebt.
Tanzen hätte ich vor Freude mögen, als ich zum ersten Male
den festgestampften glatten Boden der Hütte unter mir fühlte. Möbel
hatten wir, durch frühere Erfahrungen gewitzigt, nicht mitgebracht.
Aus LKisten und Kasten wurde aber bald das Votwendigste an
Stühlen, Tischen, Regalen zurechtgezimmert. Es ging ganz gut, ob—
gleich wir zunächst sogar auf Fenster verzichteten und uns mit Vor—
hängen behalfen.
Nicht lange und wir hatten auch eine Sägerei und damit etwas
sehr Wichtiges, nämlich Bretter. Anfangs wollten die Neger an
das Sägen durchaus nicht heran, oder sie sägten so ungleichmäßig
und langsam, daß man die Bretter ebenso billig aus Berlin hätte
beziehen können. Allmählich fanden sie aber Geschmack an der
Arbeit, und mit den ersten brauchbaren Brettern kleideten wir die
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Innenwände unseres Heims aus und legten Dielen. Als dann Gar—
dinen, Decken und allerhand kleiner Urimskrams aus den Kisten
herausgeholt war, hatte ich's bald wohnlich und täglich neue Freude
am Fortschritt.
Wie froh waren wir, als wir den ersten breiten Weg gebahnt
hatten; wie empfanden wir's, als wir — das Angenehme immer
gern dem Nützlichen zugesellend — uns auch einen Spazierpfad in
ein verborgenes Stück Waldesherrlichkeit anlegen konnten! Mitten
durch die Urwaldriesen mit ihren Lianen, durch mächtige Baum—
farne bis zu einer wunderbaren Fernsicht, von der das Auge weit,
weit über den grünen Wald, über romantische Felswände fortschweift.
Heute noch ist uns dieser Weg vor allem wert. Und ich muß immer
wieder daran denken, wie wir ihn zum ersten Male in der Nacht
gingen, durch die tiefe Stille, während der Wald sich mit Myriaden
von Ceuchtkäferchen geschmückt hatte, von denen jedes sein Latern—
chen auf dem Rücken trug, die CLuft magisch durchschimmernd. Es
war so recht eine Stunde, in der sich das Herz mit Dankbarkeit
gegen den Schöpfer füllte!
Inzwischen war wacker an der Plantagenanlage gearbeitet worden.
Des Morgens in aller Frühe schellt die Glocke. Die Leute treten
an; der Assistent — wir würden in Deutschland Verwalter oder In—
spektor sagen — trägt ihre Namen in das Arbeitsbuch ein. Am
Abend werden dann, um das vorwegzunehmen, die Namen ver—
lesen, und jeder erhält sein Geld für den Tagesbedarf und eine
Marke; diese Marken werden später gegen Geld eingelöst. — Nach
dem Aufschreiben geht's an die Arbeit. Die ausgesucht kräftigsten
Ceute ziehen zum Arxtschlag hinaus. Bei ihnen bildet sich bald eine
besondere Art der Arbeit heraus. Die Art wird im Takt geschwungen,
und während sie sich mit tänzelnder Pose in den Hüften wiegen,
dringt der Schlag tief in den Leib des Riesen ein, Hieb auf Hieb,
bis die Schwere der Baumkrone nicht mehr das Gleichgewicht halten
kann, der Baum niedersaust, im Fallen schwächere Stämme mit sich
reißend. Im letzten Augenblick springen die Schläger — sechs Mann
z. B. bei einem Stamm von etwa drei Meter Umfang — geschickt
zur Seite und begleiten das Niederkrachen mit wildestem Freuden—
geheul. Manchmal bleiben die Stämme aber auch, durch Lianen
gehindert, hängen, und dann wird das Niederlegen besonders ge—
fährlich. Verletzungen kommen häufig vor, ernste Unglücksfälle
selten, und die erstaunliche Heilhaut des Negers hilft ihm über leich—
tere Verwundungen schnell hinweg.
181
Sind vom Assistenten die kräftigsten Männer abgeteilt, so kommen
die schwächeren an die Reihe, die Leute für das Reinigen und Gießen
der schon fertigen Saatbeete, die CLeute für meinen Garten, die Stein—
schläger und Fiegelformer — denn wir arbeiten ja nun auf das
wirkliche Haus los —, endlich der große Trupp, der den Spuren
der Axtschläger folgt. Es beginnt der erste Kleinschlag am gemor—
deten Walde. Alle großen Baumkronen werden zerschlagen, damit
das Holz enger zusammenzuliegen kommt und später um so besser
brennt.
Denn wenn das Schlagen ein gut Stück vorwärts gerückt ist,
folgt wieder die Brennperiode, bei gutem Trockenwetter bald, bei
schlechtem Wetter erst nach sechs Monaten. Überall loder's dann;
die Flamme züngelt übers Feld, hier offen, fast einer glitzernden
Schlange gleich, dort unter dem Blattwerk verborgen fortschleichend.
Und überall ballt sich der Rauch in allen Schattierungen. Oft ist
die ganze Anlage in undurchdringlich dichten Rauch gehüllt; darüber
erhebt er sich zu Wolken, die aus weiterer Entfernung wie unge—
heure Gewitterwolken ausschauen.
Ist der Boden ausgekühlt, so schreitet man zum zweiten Klein⸗
schlag. Der Brand hat bereits alles Blattzeug und die kleineren
Aste fortgeräumt. Jetzt wird außer den größten Stämmen der
ganze Rest in kleine, leicht bewegbare Stücke zerschlagen. Schließlich
müssen die Stämme und alles übrige zu Haufen geschafft werden,
meist in den Schluchten, und über diese Haufen geht nun noch ein—
mal die vernichtende Flamme hin. Es ist dies keine leichte Arbeit,
und zumal das Schieben und Rollen der ganz großen Stämme kostet
ungezählte Schweißtropfen. Der beaufsichtigende Assistent hat es
oft verzweifelt schwer dabei; denn unsere guten Neger verstehen die
Drückebergerei aus dem Effeff!l Es gilt aufzupassen und überall einzu⸗
greifen, anzufeuern. Auch die schwarzen Vorarbeiter, die freilich
mit ihren Untergebenen nicht selten gemeinsame Sache machen, müssen
ihr Teil dazu tun, wobei bisweilen ein nicht ganz sanftes deutsches
Schimpfwort, das bei ihnen Anklang fand, höchst drollig dem Ge—
hege ihrer Zähne entflieht. Ein gröberes wird angewandt, um die
Widerspenstigen, bei denen allzu große Faulheit Pate stand, zur Ver—
nunft zu bringen. Und wird geschlagen? Ich kann es mit gutem
Gewissen aussprechen: der weiße Mann mit der Unute besteht nur
in der Phantasie der mit den Verhältnissen absolut nicht vertrauten
Europäer. Geschlagen darf nur bei grober Frechheit gegen den
Weißen werden: dann ist ein schneller Schlag allerdings meiner An—
182
sicht nach unentbehrlich und von der besten Wirkung. Sonst aber
ist man von den Arbeitern viel zu abhängig, um sie durch Schläge
zu reizen, und man kommt auf die Dauer ohne das leidige Prügeln
viel, viel besser aus. Streng muß der Neger, der ein Kind ist und
bleibt, behandelt werden; für Milde und nachsichtige Güte hat er
wenig Verständnis und deutet sie stets als Schwäche. Aber auf
eine gleichmäßig gerechte Behandlung hat er Anspruch, und sie
wirkt stets am besten auf ihn.
Ist endlich das Feld gereinigt, so geht es an die Beetanlage.
Wir bauten zunächst nur Kaffee. Das Land wird in rechteckige
Gärten eingeteilt; mit eingeknoteten Stricken, die von zwei Ceuten
in gleichmäßigem Zwischenraum gespannt werden, während ein
Dritter bei jedem Knoten einen Stock in die Erde stößt, werden die
Pflanzlöcher bezeichnet, die 75 Zentimeter tief und 60 Zentimeter
breit auszuheben und dann mit fruchtbarer, lockerer Erde auszu—
füllen sind. Dabei terrassiert man zugleich die Beete, denn die
Pflanzen müssen stets auf flachem Boden stehen. Hat sich nach
einiger Zeit der Boden gesackt und ist schönes, feuchtes Wetter, so
kommt endlich das Pflanzen an die Reihe. Die Pflänzchen, die in
den Saatbeeten bis 112 Jahr alt geworden sind, werden heraus—
genommen und sorgsam eingepflanzt. Und nun hebt die Sorge für
sie an mit unaufhörlichem Reinigen von Unkraut usw.
Gut ist's nur, daß der Kaffee wenigstens nichts von dem ge—
fährlichsten Feinde aller afrikanischen Kulturen zu fürchten hat —
von den heuschrecken. Uns haben diese bösen Gesellen auch einmal
gründlich heimgesucht, und sie erschienen unter Umständen, die mich
noch weit mehr überraschten als das Auftreten der Heuschrecken selber.
Dem Storch ist die Heuschrecke eine besondere Leckerei, wie übrigens
dem Neger auch, der sie, nachdem er ihr Beine und Flügel abge—
rissen hat, in der Sonne dörrt und dann mit Wonne verspeist.
Eines Tages kamen nun als Vorläufer einige Störche bei uns in
Sicht, und die Neger verkündeten gleich, daß die Heuschrecken folgen
würden. Aber noch vor ihnen zogen gleich schweren, dicken Wolken
Riesenschwärme von Störchen, die einzigen, die ich in zehn Jahren
in Afrika sah, heran. Sie mußten schon eine weite Reise hinter
sich haben, denn sie setzten sich ermüdet auf Dächer und Bäume.
Ich hätte nicht geglaubt, daß es in der ganzen Welt so viele Störche
gäbe. Am nächsten Morgen waren sie verschwunden. Ein paar
Tage darauf aber bedeckten Myriaden von Heuschrecken die ganze
Gegend, und als sie endlich weiterzogen, starrten die Aste im Walde
183
kahl und öde gen Himmel, und in meinem armen Garten sah es
nicht besser aus; unsere liebe, saftige Wiese war eine trockene, gelbe
Grasfläche geworden. —
Als unsere Plantage einigermaßen im Gange war, konnten wir
endlich auch an den Bau eines massiven Hauses denken. Unsere
Anlage wurde fortgesetzt vergrößert und ausgebaut. Massive Ställe
entstanden und massive Arbeiterwohnungen, zu denen sich die Wa—
schambaas drängten — solch schmuckes, sauberes Häuslein zieht sie
doch mächtig an — und wir erkannten in ihrem Bau ein wichtiges
Mittel, uns einen festen Arbeiterstamm zu sichern. Natürlich erhält
jeder Mann zu seinem Hause auch so viel Feld, wie er haben will,
um ihn recht seßhaft zu machen, und er wird bei der Einrichtung
nach allen Richtungen hin unterstützt. Ich muß es immer aufs
neue wiederholen: wir sind ja auf den Neger angewiesen und müssen
ihn durch seinen Vorteil an uns zu ketten suchen.
Die Plantage macht die erfreulichsten Fortschritte; wir können
bis heute mit dem Wachstum des Kaffees durchaus zufrieden sein.
Mit welcher Freude verfolgt man das von Jahreszeit zu Jahres—
zeit! Am schönsten ist es, wenn die Pflanzung abblüht; dann sieht
es aus, als wenn frischgefallener Schnee über den Feldern liegt,
und geht man hindurch, so duftet es fast betäubend. Später be—
obachtet man wieder den Fruchtansatz mit gespanntem Interesse, die
wachsende Rundung und Vergrößerung der Kirsche. Allmählich
färben sich die grünen Beeren dabei gelblich; schließlich nehmen sie
eine prachtvolle Purpurfarbe an, und ihr süßliches Fleisch winkt den
Võgeln als schmackhafte Speise. Nun ist auch die FZeit der Ernte
gekommen. Männer, Frauen und Kinder ziehen mit ihren Körben
in langen Reihen aufs Feld. Am Nachmittag wird das Geerntete
heimgebracht und am Pulper aufgeschüttet. Der Strahl einer Wasser⸗
leitung führt die Kirschen durch den Pulper, wobei sie ihres Frucht—
fleisches beraubt werden, in die Gärbassins. Darauf kommt der
Kaffee — die Bohnen — in Waschbassins, während die Schalen für
spätere Düngung gesammelt bleiben. Die Bohnen wandern dann
zur Sonnentrocknung auf Tennen, wo sie beständig gewendet werden
müssen, und schließlich, oder bei schlechtem Wetter auch sofort, in
die Aufbereitungsanstalt. Bei schlechtem Wetter! Ja, des Wetters
Gunst oder Ungunst spielt bei uns dieselbe Rolle, wie nur bei irgend—
einem ostelbischen Agrarier, und heilfroh sind wir, wenn der letzte
Träger mit dem letzten Sack Kaffee sich auf den Weg zur Bahn—
station macht.
Meine besondere Hausfrauenfreude ist natürlich mein Garten.
Da blühen und duften als deutsche Lieblinge längst Veilchen und
Rosen, zwischen ihnen aber auch eine schöne Afrikanerin, eine lilien—
artige Amaryllis mit einem prächtigen Kranz von fünf großen,
weißleuchtenden, bräunlich gestreiften Blättern. Zu den ersten Apfel⸗
sinenbäumen haben sich Apfelbäume und Pfirsiche hinzugesellt, die
in anderthalb Jahren drei Meter hoch wurden und prächtig tragen;
auch Kirschen, Birnen und Pflaumen ernte ich schon. Ausgezeichnet
gedeihen die angepflanzten Eukalyptusbäume, die in vier Jahren
die beträchtliche Höhe von 15 Metern erreichten und, aus der Ferne
gesehen, mich oft an unsern heimischen Fichtenwald erinnern. Aber
auch allerlei Versuchsbeete sind angelegt worden: Chinin, Uampfer,
Gerberakazie. Man muß erproben, was zu bauen sich lohnt. Neuer—
dings versprechen wir uns auch viel vom Kautschuk und von Zedern—
anpflanzungen. Das Zedernholz ist schon für die Bleistiftfabrikation
ungemein gesucht. Ich darf's als unsere bestimmte Hoffnung ver—
raten: die Usambara⸗Federn werden es dereinst mit den historischen
vom Libanon aufnehmen können. Ulagdalene von Priuce
105. In der Sahara.
Wir feierten das Geburtstagsfest des Propheten durch einen
Rasttag, an dem ein starker Südwind, der alles mit dicker Sandlage
überzog und die Zelte zerriß, uns zu vollständiger Ruhe verurteilte
und keine lebhafte Üußerung einer festlichen Stimmung zuließ.
Obgleich auch der folgende Tag (der 13. Juni 1870) unter der
Herrschaft dieses Windes stand, brachen wir kurz nach Mittag auf
und bestanden noch einen siebenstündigen rastlosen und harten Kampf
mit den in ununterbrochener Folge sich uns entgegenstellenden Dünen⸗
ketten. Das war die Wüste, wie sie in der Vorstellung der meisten
Europäer lebt, aber glücklicherweise nur in einzelnen Gegenden er—
scheint und dann freilich bei Mensch und Tier die Anspannung aller
Kräfte in Anspruch nimmt. Mühsam erklimmt man die Kette, um
von ihrer Höhe aus eine unabsehbare Reihe von Hindernissen gleicher
Art zu überblicken. Prüfend sucht man den leichtesten Übergang in
der Hoffnung, daß der Sand tragfähig sein möge. Doch tief sinkt
das Kamel ein, und wenn es sich mühsam auf die Höhe der Kante
gearbeitet hat, ist vielleicht der jenseitige Abfall so jäh, daß das
ungeschickte Tier der Schwere seines Nörpers und seiner Last keinen
Widerstand zu leisten vermag und entweder selbst stürzt oder doch
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die Ladung in den Sand wirft. Oft genug muß das Tier entlastet
werden, um die Schwierigkeit überwinden zu können, und der Mensch
hat zu aller Mühe und Hitze noch die Gepäckstücke der Cadung
einzeln an den Fuß der Düne zu schleppen.
In beständigem Fickzack und endloser Eintönigkeit geht es Düne
auf und Düne ab. Unwillkürlich erhofft man von der Höhe jeder
einzelnen die Aussicht auf eine günstigere Bodengestaltung; erschöpft
kommt man oben an und richtet das ermüdete Auge prüfend in
die Ferne, um — denselben Anblick zu haben und die Hoffnung auf
den Ausblick von der nächsten Dünenhöhe zu verschieben. Immer
wieder hofft man, und immer wieder folgt die Enttäuschung. Ist
der Tag klar, so wagt man kaum um sich zu blicken, um das ge—
blendete Auge vor der rückstrahlenden glänzenden Fläche zu be—
wahren; weht der Wind, so ist man in eine Sandatmosphäre gehüllt,
dichter als ein englischer oder holländischer Nebel, und vermag das
brennende, verklebte Auge kaum zu öffnen. Das Interesse an der
eigenartigen Umgebung, der überwältigende Eindruck dieses Sand—
meeres, der an Großartigkeit dem des Meeres nicht nachsteht, ihn
an majestätischer Ruhe aber übertrifft, schwächt sich allmählich ab
und geht im Kampfe mit der Vatur unter.
Erst hier lernt man die Bedeutung des KNamels richtig wür—
digen; erst hier wird es uns zum wahren Schiff der Wüste, wie es
bald auf der Höhe der Sandwogen erscheint, bald in der Tiefe ver—
schwindet, und wie es allein den Menschen befähigt, die Sahara
zu durchreisen. Sprachlos, wie bei allen übergroßen körperlichen
Anstrengungen, ringt man mechanisch weiter, vergeblich sinnend
über die geheimnisvolle Gewalt, die den Menschen treibt, um den
spärlichsten Cohn sich im ewigen Uampfe mit den hindernden Ge—
walten der Natur abzumühen, und fast unbewußt der Weiterent—
wickelung des ganzen Menschengeschlechtes zu dienen.
Kein Pfad führt begreiflicherweise durch diesen Dünengürtel, und
selbst dem scharfen Auge der Wüstenbewohner bieten die ihre Um—
risse beständig wechselnden Sandhügel keine Anhaltspunkte, die als
Merkzeichen des Weges dienen könnten. Nur die seltenen Felsen,
die seit Jahrtausenden den Angriffen des Sandes getrotzt haben
und starr und finster ihre schwarzen Häupter über die wogende und
wechselnde Umgebung emporheben, bilden in diesem Sandmeere die
leitenden und rettenden Ceuchttürme.
Der Abend entschädigt reichlich für die Qual des Tages. Der
Sandwind schweigt; der unverhüllte Himmel erscheint klar und
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tiefdunkel und besät sich mit Gestirnen, deren Glanz wir in ähn—
lichem Grade bei uns nur in seltenen Winternächten zu bewundern
Gelegenheit haben. Eine tiefe Ruhe lagert sich über den Schauplatz
der mühseligen Tagesarbeit, des tosenden Windes und des wirbeln—
den Flugsandes. In wunderbarer Schärfe und Klarheit zeichnen sich
die Umrisse der mannigfach gestalteten Sandberge auf dem klaren
Grunde der Atmosphäre. Phantastisch überragt dazwischen ein dunkler
Felsen die hellen Hügel. Eine lichte Färbung am fernen Horizonte
verkündet den Aufgang des Mondes, der bald als silbern glänzende
Uugel durch den ther schwebt, so leicht und heiter, daß man
jeden Augenblick meint, er müsse eine schnellere, hüpfende Bewegung
annehmen. Scharfe Lichter und Schatten bringen dann eine ge—
heimnisvolle Mannigfaltigkeit in die vielgestaltigen Dünen, viel
reicher und schöner, als das Licht des Tages es vermochte.
Das ist auch die beste Zeit zum Reisen, und wenn die Nacht
nicht des nordischen Menschen Freund ist, so ist sie durch Monden,
schein oder klaren Sternenhimmel, durch Kühle und Windstille der
beste des Wüstenreisenden.
Gustav Nachtigol.
106. Löwenritt.
Wüstenkönig ist der Löwe; will er sein Gebiet durchfliegen,
wandelt er nach der CLagune, in dem hohen Schilf zu liegen.
Wo Gazellen und Giraffen trinken, kauert er im Rohre;
zitternd über dem Gewalt'gen rauscht das Caub der Sykomore.
Abends, wenn die hellen Feuer glühn im Hottentottenkrale,
wenn des jähen Tafelberges bunte, wechselnde Signale
nicht mehr glänzen, wenn der Kaffer einsam schweift durch die Karru,
wenn im Busch die Antilope schlummert und am Strom das Gnu:
Sieh, dann schreitet majestätisch durch die Wüste die Giraffe,
daß mit der Cagune trüben Fluten sie die heiße, schlaffe
Zunge kühle; lechzend eilt sie durch der Wüste nackte Strecken,
knieend schlürft sie langen Halses aus dem schlammgefüllten Becken.
Plötzlich regt es sich im Rohre; mit Gebrüll auf ihren Nacken
springt der Löwe; welch ein Reitpferd! Sah man reichere Schabracken
in den Marstallkammern einer königlichen Hofburg liegen,
als das bunte Fell des Renners, den der Tiere Fürst bestiegen ?
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In die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne;
um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe Mähne;
mit dem dumpfen Schrei des Schmerzes springt es auf und flieht
gepeinigt;
sieh, wie Schnelle des Kameles es mit Pardelhaut vereinigtl
Sieh, die mondbestrahlte Fläche schlägt es mit den leichten Füßenl
Starr aus ihrer Höhlung treten seine Augen; rieselnd fließen
an dem braungefleckten Halse nieder schwarzen Blutes Tropfen,
und das Herz des flücht'gen Tieres hört die stille Wüste klopfen.
Gleich der Wolke, deren Leuchten Israel im Cande Jemen
führte, wie ein Geist der Wüste, wie ein fahler, luft'ger Schemen,
eine sandgeformte Crombe in der Wüste sand'gem Meer,
wirbelt eine gelbe Säule Sandes hinter ihnen her.
Ihrem Zuge folgt der Geier; krächzend schwirrt er durch die Lüfte;
ihrer Spur folgt die Hyäne, die Entweiherin der Grüfte;
folgt der Panther, der des Kaplands Hürden räuberisch verheerte;
Blut und Schweiß bezeichnen ihres Nönigs grausenvolle Fährte.
Zagend auf lebend'gem Throne sehn sie den Gebieter sitzen
und mit scharfer Klaue seines Sitzes bunte Polster ritzen.
Rastlos, bis die Uraft ihr schwindet, muß ihn die Giraffe tragen:
Gegen einen solchen Reiter hilft kein Bäumen und kein Schlagen.
Taumelnd an der Wüste Saume stürzt sie hin und röchelt leise.
Tot, bedeckt mit Staub und Schaume, wird das Roß des Reiters Speise.
Über Madagaskar, fern im Osten sieht man Frühlicht glänzen; —
so durchsprengt der Tiere UNönig nächtlich seines Reiches Grenzen.
Ferdinand Freiligrath.
107. Die Auswanderer.
Ich kann den Blick nicht von euch wenden,
ich muß euch anschaun immerdar:
wie reicht ihr mit geschäft'gen Händen
dem Schiffer eure Habe dar!
Ihr Männer, die ihr von dem Nacken
die KNörbe langt, mit Brot beschwert,
das ihr aus deutschem Korn gebacken,
geröstet habt auf deutschem Herd;
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und ihr, im Schmuck der langen Zöpfe,
ihr Schwarzwaldmädchen, braun und schlank,
wie sorgsam stellt ihr a 3 Töopfe
auf der Schaluppe grüne Banff
Das sind dieselben Cöpf und Urüse,
oft an der Heimat Born gefüllt;
wenn am Missouri alles schwiege,
sie malten euch der Heimat Bild:
des Dorfes steingefaßte Quelle,
zu der ihr schöpfend euch gebückt,
des Herdes traute Feuerstelle,
das Wandgesims, das sie geschmückt.
Bald zieren sie im fernen Westen
des leichten Bretterhauses Wand;
bald reicht sie müden braunen Gästen,
voll frischen Trunkes, eure Hand.
Es trinkt daraus der Cscherokese,
ermattet, von der Jagd bestaubt;
nicht mehr von deutscher Rebenlese
tragt ihr sie heim, mit Grün belaubt.
O sprechtl warum zogt ihr von dannen ?
Das Neckartal hat Wein und Korn;
der Schwarzwald steht voll finstrer Tannen,
im Spessart klingt des Ülplers Horn.
Wie wird es in den fremden Wäldern
euch nach der Heimatberge Grün,
nach Deutschlands gelben Weizenfeldern,
nach seinen Vebenhügeln ziehn!
Wie wird das Bild der alten Tage
durch eure Träume glänzend wehn!
Gleich einer stillen, frommen Sage
wird es euch vor der Seele stehn.
Der Bootsmann winkt! — Fieht hin in Frieden:
Gott schütz' euch, Mann und Weib und Greis!
Sei Freude eurer Brust beschieden
und euren Feldern Reis und Mais!
Ferdinand Freiligrath.
108. Am Niagara⸗-Fall.
Frühmorgens kam ich in dem Städtchen Niagara-Falls an.
Alles sah anders aus wie bisher in den amerikanischen Städten.
Die Straßen machten einen sehr freundlichen Eindruck, und mehrere
waren zu e i uns sogar asphaltiert. Ebenso
angenehm berühr mich das kleine, aber reizend gelegene deutsche
Hotel Kaltenbach Man wurde hier freundlich empfangen, nach seinen
Wünschen ee en war wieder, wie in der deutschen Heimat,
ein aufgenommener Gast und nicht, wie in den amerikanischen
Ries enhotels, eine Nummer.
Madem ich mich von der Nachtfahrt erholt, trat ich meine
Wanderung an. Gerade dem Hotel gegenüber jagten die schaum⸗
bedecklen Wellen der oberen Stromschnellen vorbei. Zwei hübsche
Ei bria führten mich über die kleine Robinson-Insel nach
der een Ziegen⸗Insel. Durch schönen, parkartigen Wald wan—
herle ch nordwärts, und nach wenigen Minuten stand ich auf dem
M ch punkt für die kleinere Hälfte des Falles, für den amerikanischen
Fall. Der Blick war großartig. Tosend hrauste die Wassermasse
he ran, und plötzlich stürzte sie senkrecht 50 Meter tief hinab. Gischt
und Schaum wirbelten in die Höhe, und die Sonne zauberte darauf
nen wunderbaren Regenbogen. Nachdem ich diesen herrlichen An—
blick lange genossen, stieg ich etwas hinab auf den kleinen Inselfelsen
Cuna und stand nun dicht neben der stürzenden Wassermasse, so daß
ich mit der Hand hätte hineinlangen können, wenn nicht das starke
Eisengeländer ein zu nahes Herantreten verhindert hätte. Von hier
kam ich zu der „Höhle der Winde“. Ich mußte mich vollständig
auskleiden, erhielt einen Badeanzug, darüber einen Wettermantel,
und nun begann eine der eigenartigsten Wanderungen, die ich je auf
meinen vielen Reisen gemacht habe. Man kletterte einen Turm
hinab, ging einige hundert Meter die Felswand neben dem Fall ent.
lang, betrat einen Holzgang, den rechts und links feste Holzgeländer
einfaßten, und trat nun unmittelbar in den Gischt des Falles. Manch—
mal konnte man nicht sehen, sondern sich nur an dem Geländer vor—
wärts tasten, und von einer Verständigung mit dem Führer war
wegen des Donnerns der Wasser gar keine Rede. Plötzlich bog der
Steg zwischen Felsen gerade nach dem Fall zu ab, der hier vor—
stehender Blöcke wegen eine Lücke erkennen ließ. Immer stumm
folgte ich dem Führer. Ich war froh, wenn ich ihn sehen konnte;
denn hier und da schlug der Schaum mir mit solcher Gewalt ins
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Gesicht, daß ich die Augen schließen mußte. Das war aber alles
noch nichts im Vergleich zu dem, was kam. Wir wendeten uns
rechts und traten unter den Fall selbst. Welch ein Donnern und
Tosen, welch ein Sprühen und Fischen, welch ein Schlagen und Stoßen
der Wasserströmel Selbstverständlich war man im Nu bis auf die
Haut durchnäßt, und oft mußte man den Mund schließen und den
Atem anhalten, um nicht Wasser zu schlucken. Von einem richtigen
Sehen war keine Rede, man konnte nur blinzeln und mußte sich immer
wieder die Augen auswischen. Die Schläge der von unten abprallen—
den, aufwärts gepeitschten Wasser waren so stark, daß man ohne den
Halt am Geländer sicher hinabgeschleudert und dann zerschmettert
worden wäre, kurz, ich befand mich unter den stürzenden Strömen
des Niagara⸗Falles in einer der eigenartigsten Cagen meines Cebens.
Der Lärm, der weißgraue Schein des Gischts, die Undurchsichtigkeit
des Wasservorhangs vor mir und das Bewußtsein, durch ein Cos⸗
lassen der Hand dem Tode verfallen zu sein, das alles übte einen
eignen Zauber auf mich aus. Wie geistesabwesend stand ich da
und lauschte und starrte. Ein Schlag des Führers auf meine Schulter
und ein Zeichen veranlaßte mich, weiterzugehen. Mitten unter
dem Fall hörte der Steg auf; eine Felsplatte bot festen Halt. Hier
konnte man einen Schritt vortreten. Da war ich nun von drei Seiten
von den donnernd hinabstürzenden Wassermassen umgeben. VNoch
einen Schritt weiter, und wenige Minuten später wäre eine formlose,
ʒerschmetterte, blutende Masse unten aus dem Schaum oder noch
weiter abwärts aus der kristallklaren Flut aufgetaucht. Der Führer
winkte; ich folgte ihm. Wiederum ging es hart zwischen Felswand
und Wasserfall hindurch; oft sah ich das Geländer nicht, sondern
fühlte es nur. Dann kam eine Treppe, das Schlagen der Gischt—⸗
massen ließ nach, ich stand mit einem Mal an der Felswand neben
dem Fall. Das war ein interessanter Wes gewesen. So unheimlich
er erschien, so sicher ist er, denn das Geländer ist stark, und wer es
nicht losläßt, kann nicht fallen.
Nachdem ich zur Höhle der Winde zurückgekehrt war, mich an—
gekleidet und meinen Dollar bezahlt hatte, wanderte ich zum Aus—
sichtspunkt für den Hufeisenfall, d. h. zum kanadischen Niagara⸗Fall.
Der ist noch viel großartiger, noch überwältigender als der amerikanische.
Während dieser eine Breite von 332 Meter hat, dehnt sich jener
auf 915 Meter Breite aus. Die Fallhöhe ist hier 48 Meter. Es ist
ein nicht zu beschreibender schöner Anblick, wie die gewaltige Wasser—
masse des großen Niagara⸗Flusses sich heranwälzt, um dann plötzlich
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senkrecht in die Tiefe zu stürzen. An den Seiten, wo das Flußbett
nicht so tief ist, stürzen die Wasser als weißer Schaum, in der Mitte
aber als dichte, grünblaue, geschlossene Masse hinab, und erst in
der unteren Hälfte verwandeln auch sie sich in Gischt und Dunst.
Infolge der hufeisenartigen Form drängt die ganze Wassermenge
nach der Mitte zusammen. Dort entsteht ein Wasserberg; auf diesen
stürzen neue Fluten, und daraus steigt eine Dampfwolke in die Höhe,
deren dichtes, leuchtendes Weiß sich wunderbar vom wolkenlosen, tiefen
Blau des Himmels abhebt.
Nun fuhr ich hinunter zum Flußbett unterhalb der Fälle und
bestieg den dort auf Reisende harrenden Dampfer: die „Wasserstaub⸗
maid“. In wasserdichte Mäntel gehüllt, dampften wir den Fällen
zu, hinein in den weißen Gischt, hinein in den hellen Dunst. Oft
sah man nichts und schluckte mehr Wasserdampf, als man Luft
atmete. Wenn aber Windstöße freie Blicke schafften, dann sah man
den riesigen Sturz dicht vor sich und staunte über dessen Gewalt und
die Großartigkeit dieser einzig schönen Naturerscheinung. Viele, viele
Wasserfälle sah ich bei meinen Reisen, aber keiner macht einen so
überwältigenden Eindruck wie dieser.
Ich landete auf der kanadischen Seite, fuhr mit der Drahtseil⸗
bahn auf das hier etwa 60 Meter hohe Ufer und blickte nun vom
Königin Viktoria⸗-Park aus auf beide Fälle. Das ist das schönste
Bild, das der Niagara bietet. Da erkennt man erst die Macht des
Stromes, weil man die Gesamtbreite der Fälle übersieht. Auch die
Candschaft, die Fiegeninsel, der jenseits gelegene Park, die freundliche
Stadt und die schöne Brücke tragen dazu bei, dieses Candschaftsbild
zu einem der großartigsten zu machen, das man sich denken kann.
Zu Fuß kehrte ich auf das amerikanische Ufer zurück. In einem
einzigen eisernen Bogen wird der hier 380 Meter breite Strom über—
brückt. Dabei sieht diese neue Riesenbrücke, die an Stelle einer 1889
bei einem furchtbaren Sturm ins Wasser gestürzten Hängebrücke
erbaut ist, ungemein zierlich aus. Sie ist ein Meisterwerk des Eisen—
baues. Karl Tanera.
109. Die Ebenen des Orinoko.
Wenn unter dem senkrechten Strahl der nie bewölkten Sonne die
verkohlte Grasdecke in Staub zerfallen ist, klafft der erhärtete Boden
auf, als wäre er von mächtigen Erdstößen erschüttert. Berühren
ihn dann entgegengesetzte Cuftströme, deren Streit sich in kreisender
Bewegung ausgleicht, so gewährt die Ebene einen seltsamen Anblick
2
Als trichterförmige Wolken, die mit ihren Spitzen an der Erde hin—
gleiten, steigt der Sand dampfartig empor: gleich den rauschenden
Wasserhosen, die der erfahrene Schiffer fürchtet. Ein trübes, fast
strohfarbiges Halblicht wirft die nun scheinbar niedrigere Himmels—
decke auf die verödete Flur. Der Horizont tritt plötzlich näher. Er
verengt die Steppe wie das Gemüt des Wandrers. Die heiße,
staubige Erde, die im nebelartig verschleierten Dunstkreise schwebt,
vermehrt die erstickende Luftwärme. Statt Kühlung führt der Ost—
wind neue Glut herbei, wenn er über den langerhitzten Boden
hinweh!.
Auch verschwinden allmählich die Cachen, welche die gelb ge—
bleichte Fächerpalme vor der Verdunstung schützte. Wie im eisigen
Norden die Tiere durch Kälte erstarren, so schlummert hier, un—
beweglich, das Krokodil und die Boaschlange, tief vergraben in
trocknem Letten. Überall verkündigt Dürre den Tod. In finstere
Staubwolken gehüllt, von Hunger und brennendem Durste geängstigt,
schweifen Pferde und Rinder umher; diese dumpf aufbrüllend, jene
mit langgestrecktem Halse gegen den Wind anschnaubend, um durch
die Feuchtigkeit des Cuftstroms die Nähe einer nicht ganz verdampften
Cache zu erraten.
Bedãächtiger und verschlagener sucht das Maultier auf andre
Weise seinen Durst zu lindern. Eine kugelförmige und dabei viel—
rippige Pflanze, der Melonenkaktus, verschließt unter seiner stachligen
hülle ein wasserreiches Mark. Mit dem Vorderfuße schlägt das
Maultier die Stacheln seitwärts, und wagt es dann erst, die Lippen
behutsam zu nähern und den kühlen Distelsaft zu trinken. Aber das
Schõöpfen aus dieser lebendigen Quelle ist nicht immer gefahrlos; oft
sieht man Tiere, die von Kaktusstacheln am Hufe gelähmt sind.
Folgt auf die brennende Hitze des Tages die Uühlung der hier
immer gleichlangen Nacht, so können Rinder und Pferde selbst
dann nicht sich der Ruhe erfreuen. Ungeheure Fledermäuse saugen
ihnen während des Schlafes vampyrartig das Blut aus, oder hängen
sich an dem Rücken fest, wo sie eiternde Wunden erregen, in denen
Moskitos und eine Schar stechender Insekten sich ansiedeln. So
führen die Tiere ein schmerzenvolles Leben, wenn vor der Glut der
Sonne das Wasser auf dem Erdboden verschwindet.
Tritt endlich nach langer Dürre die wohltätige Regenzeit ein, so
verändert sich plötzlich die Szene in der Steppe. Das tiefe Blau
des bis dahin nie bewölkten Himmels wird lichter. Wie ein ent—
legenes Gebirge erscheint einzelnes Gewölk im Süden, senkrecht auf—
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steigend am Horizonte. Nebelartig breiten allmählich die vermehrten
Dünste sich über den Zenit aus. Den belebenden Regen verkün—
digt der ferne Donner.
Kaum ist die Oberfläche der Erde benetzt, so überzieht sich die
duftende Steppe mit mannigfaltigen Gräsern. Vom Cichte gereizt,
entfalten krautartige Mimosen ihre gesenkt schlummernden Blätter
und begrüßen, wie der Frühgesang der Vögel und die sich öffnenden
Blüten der Wasserpflanzen, die aufgehende Sonne. Pferde und Rinder
weiden nun in frohem Genusse des Lebens. Das hochaufschießende
Gras birgt den schöngefleckten Jaguar. Im sicheren Versteck auf—
lauernd, erhascht er katzenartig die vorüberziehenden Tiere wie der
asiatische Tiger.
Bisteilen sieht man (so erzählen die Eingeborenen) an den
Ufern der Sümpfe den befeuchteten CLetten sich langsam und schollen—
weise erheben. Mit heftigem Getöse, wie beim Ausbruche kleiner
Schlammpulkane, wird die aufgewühlte Erde hoch in die Luft ge—
schleudert. Wer des Anblicks kundig ist, flieht die Erscheinung; denn
eine riesenhafte Wasserschlange oder ein gepanzertes Krokodil steigen
aus der Gruft hervor, durch den ersten Regenguß aus dem Schein—
tode erweckt.
Schwellen nun allmählich die Flüsse, so zwingt die Natur die—
selben Tiere, die in der ersten Jahreshälfte auf dem wasserleeren,
staubigen Boden vor Durst verschmachteten, als Amphibien zu leben.
Ein Teil der Steppe erscheint nun wie ein unermeßliches Binnen—
wasser. Die Mutterpferde ziehen sich mit den Füllen auf die höheren
Bänke zurück, die inselförmig über dem Seespiegel hervorragen.
Mit jedem Tage verengt sich der trockne Raum. Aus Mangel an
Weide schwimmen die zusammengedrängten Tiere stundenlang um—
her und nähren sich kärglich von der blühenden Grasrispe, die sich
über dem braungefärbten gärenden Wasser erhebt. Viele Füllen
ertrinken; viele werden von den Urokodilen erhascht, mit dem zackigen
Schwanze zerschmettert, und verschlungen. Nicht selten bemerkt man
POferde und Rinder, die, dem Rachen dieser blutgierigen, riesen—
haften Eidechsen entschlüpft, die Spur des spitzigen Zahnes am
Schenkel tragen.
Aber nicht die Urokodile und der Jaguar allein stellen den süd—
amerikanischen Pferden nach, auch unter den Fischen haben sie einen
gefährlichen Feind. Die Sumpfwasser sind mit zahllosen elektrischen
Aalen gefüllt, deren schleimiger, gelbgefleckter Körper aus jedem
Teile die erschütternde Kraft nach Willkür aussendet. Diese Gym—
Weimar. Lesebuch III, 2. 13
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noten haben 112 Meter Länge. Sie sind mächtig genug, die größten
Tiere zu töten, wenn sie ihre nervenreichen Organe auf einmal in
günstiger Richtung entladen. Auch fliehen alle anderen Fische die
Nähe dieser furchtbaren Aale. Selbst den Angelnden am hohen
Ufer schrecken sie, wenn die feuchte Schnur ihm die Erschütterung
aus der Ferne zuleitet. So bricht hier elektrisches Feuer aus dem
Schoße der Gewässer aus. Alexander v. Humboldt.
110. Samoa, die Perle der Sũdsee.
Die Masten mehrerer vor Anker liegender Schiffe kün-
deten die Nãhe Apias an. Auf den Höhen wurden weiße, aus
dichtem Grũün hervorleuchtende Häuser sichtbar; dann kam
die am Strande sich hinziehende, freundliche Stadt in Sicht,
und eine Viertelstunde spater fuhren wir, zwischen Korallen-
riffen hindurchsteuernd, in den reizenden Hafen der Haupt-
stadt Samoas ein.
Mit dem Glockenschlage acht warfen wir Anker, und
während die „Alameda“ von einer ganzen Flotte von Kanus
und Booten umringt wurde, in denen Eingeborene allerhand
Seltenheiten: Muscheln, Korallen, Körbchen und Fächer aus
Blattstreifen des Pandanus, Bananen, Orangen, Passionsfrũchte
und Kokosnũusse feilboten, drangen durch alles Gelärme und
Getöõse hindurch von dem im Hafen liegenden deutschen
Kreuzer „Falke* die Klänge der ,Wacht am Rhein“ zu uns
herüber. Sobald der an Bord gekommene Sanitätsbeamte
festgestellt * daß ansteckende Krankheiten nicht unter uns
wüteten, wurde der Verkehr freigegeben, und in der nächsten
Minute war das Deck mit Eingeborenen und Europäern ũber-
füllt. Jene, die der polynesischen Rasse angehören, fielen
mir auf durch ihre vollendet schönen Körperformen, ihre
angenehmen Gesichtszuge, ihre malerische Tracht — Hüft—
tuch, Blätter- Uund Blumengewinde — und ihr eher anschmie—
gendes als aufdringliches Wesen.
Die ganze Stadt besteht aus vier Dorfschaften, die in der
Hauptsache eine einzige, zwischen 6 und 12 Meter breite, sich
an der halbkreisförmigen Hafenbucht entlangziehende Straße
bilden. Mit seinen hübschen, bescheidenen Holzhäuschen, —
Huütten der Eingeborenen trifft man erst am westlichen Ende
der Stadt — seinen verschiedenen, gleichfalls recht be—
scheidenen Gasthausern und den überall herumlungernden,
vom Nichtstun lebenden Menschen macht Apia ganz den Ein-
druck eines erst vor kurzem gegründeten Badeortes. Daß von
den daselbst lebenden Weißen die meisten Deutsche sind,
erkennt man auf Schritt und Tritt. Von den Gasthöfen und
Verkaufsladen ist die Mehrzahl in deutschen Händen, aller-
orten hört man deutsche Laute, liest deutsche Namen und
sieht die schwarzweißrote Flagge wehen. Auch eine deutsche
Schule ist in Apia vorhanden, die sich eines regen Besuches
nicht nur von Europäern, sondern auch von Eingeborenen
erfreut.
Mit frõhlichem Jauchzen stürzt sich vom Strande aus eine
Schar ubermũtiger brauner Rangen ins Meer, und unter dem
melodischen Gesange einiger zwanzig Ruderer mit kurzen
Paddeln gleitet eines jener prãchtigen, von den Eingeborenen
selbst gebauten, samoanischen Kriegsboote voruber, von denen
jede größere Ortschaft eines oder mehrere hat. Die Samoaner
sind musikalisch hochbegabt und vielfach ausgezeichnete
Sanger. Ihre Bootsgesänge hörte ich sie ausnahmslos drei-
stimmig singen, und ich war stets von neuem entzückt,
so oft sie mein Ohr trafen. Nun denke man sich als
Ruderer lauter krästige, tadellos gebaute, bronzefarbene Ge-
stalten mit entblõbtem Oberkörper, das glänzende, kurzge-
haltene, braunschwarze Haupthaar mit Blumen geschmückt,
Girlanden um Hals und Brust, dazu ein tiefblaues Meer, einen
schneeweißen Strand mit wogenden Palmenhainen, aus denen
hier und da die Hütten der Eingeborenen hervorlugen, und
im Hintergrunde hoch aufragende, hellgrün bewaldete Berge:
dann wird man begreifen, daß ich das Gefühl hatte, in einem
Mãarchenlande zu weilen.
Den ersten Morgen nach meiner Ankunft in Apia ver—
wendete ich auf einen Spaziergang in die nächste Umgebung
der Hauptstadt. Die Pflanzenwelt ist, wohin man auch seine
Schritte lenken mag, echt tropisch. Neben der Kokos-
palme tritt in erster Linie der Brotfruchtbaum hervor, dann
die Orange, die Banane und der Mangobaum (mit Stein-
früchten von der Größe eines Gänseeis), die Papaya (mit
melonenahnlichen Frũuchten), die Vackfrucht (bis zu 25 Pfund
schwer). In den feuchten Niederungen treffen wir die von
den Eingeborenen angebaute Tarowurzel (rübenartige, hand-
lange Knollen; wichtiges Nahrungsmittel), verschiedene Arten
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196
Vams (die VWurzelknollen sind sehr nahrhaft), Zuckerrohr und
vielfach wildwachsend auch die Ananas. Alles gedeiht in
einer beispiellosen Uppigkeit; das herrliche Land ist geradezu
das verhãtschelte Lieblingskind der Mutter Natur.
Unter dem Schatten rauschender Palmen, umgeben von
Bananen und prächtig gedeihendem Zuckerrohr, auf einem
sauber gehaltenen, kiesbestreuten Platze fand ich die ersten
samoanischen Hütten. Etwas Anheimelnderes, Einladenderes
als diese hübschen, sorgsam gebauten Behausungen eines
Naturvolkes habe ich kaum irgendwo bei uns, geschweige
denn unter VWilden gefunden. Der Leser denke sich ein regel-
mãßig gewõölbtes, aus den Blättern des Zuckerrohrs herge-
stelltes Dach von eirunder Form, getragen von rund behauenen
Pfosten, die in Erde gesenkt, 123 Meter daraus hervorragen
und etwa 12 Meter voneinander entfernt stehen, und er hat
ein Bild von einer samoanischen Hütte oder einem samoani-
schen Hause; denn für eine Hütte ist die ganze Bauart viel
zu haltbar.
Die Hàuser bestehen aus einem einzigen, groben, gleich-
zeitig als Empfangssalon, Speisesaal und Schlafgemach die-
nenden Raum, der nachts durch Jalousien aus Palmenblatt-
streifen geschlossen wird, tagsüber aber nach allen Seiten
offen ist, sodaß die Seebrise ungehindert hindurchstreifen
kann. Die Beobachtung des samoanischen Familienlebens
ist dem Reisenden dadureh wesentlich erleichtert; denn alles
spielt sich vor den Augen der Vorübergehenden ab. Der Sa-
moaner hat weder Haushalts- noch Geschäftsgeheimnisse, und
zieht er sich gelegentlich zum Schlafen unter einen allseitig
geschlossenen Tapavorhang zurũck, so will er sich damit nicht
den Blicken seiner Nebenmenschen, sondern den Stichen der
Moskitos entziehen, die, wie auf den Sandwichinseln so auch
hier, erst mit dem Verkehr ihren Einzug gehalten haben.
Ein gewöhnliches Haus mißt reichlich 80 Meter im Umfang,
wahrend die Hõhe des Daches gegen 6 Meter beträgt. Ge-
tragen wird das Dach außer von den seitlichen Pfosten auch
noch von einem in der Mitte des Hauses stehenden, gegabelten
Baumstamm oder von zwei nebeneinanderstehenden Stàammen.
Als bestes Bauholz gilt das Holz des Brotfruchtbaumes, dessen
Dauerhaftigkeit das aller anderen Hölzer übertreffen soll.
Genau wie wir haben auch die Samoaner ihre gelernten Bau-
handwerker und Schiffbauer. Der Flur des Hauses wird von
einer 165-20 Zentimeter hohen Aufschüttung loser Kieselsteine
gebildet, auf die eine Schicht Korallen oder kleiner, von der
See rund gewaschener Steine zu liegen kommt. Hierüber
werden Matten gebreitet, und damit ist eine Lagerstatte ge-
scha an, wie man sie sich besser kaum wünschen kann. Man
mub en in Samoa gewesen sein, muß in einem samoanischen
Hausee gerastet haben, um zu wissen, wie sanft sich's autf
Steinen ruhen läßt. Nur würde ich raten, sich ein Kopfkissen
mitzubringen; denn die samoanische zwei-, drei-, vier- fünt- und
mehrschlãfrige Schlummerrolle, die aus einem auf 10Zentimeter
hohen Stützen ruhenden Bambusrohr besteht und von der man
sich selten ohne mehr oder minder ausgeprägte Genickstarre
erhebt, dürften wenige nach ihrem Geschmack finden. Einer
der größten Vorzuge der samoanischen Lagerstãàtte liegt darin,
daß sich darin alles Ungeziefer ebenso unbehaglich zu fühlen
scheint, wie der Mensch sich darauf wohl fühlt. So oft ich
in samoanischen Häusern gerastet habe, nie bin ich von
irgendwelchen anderen Plagegeistern als von Moskitos heim-
gesucht worden. Seitlich vom Mittelpfeiler des Hauses be-
findet sich ein kleiner, aus Lehm geformter, 58 Zentimeter
tiefer Herd, der indessen nicht Küchen-, sondern Beleuch-
tungszwecken dient. Das Kochen wird in dem abseits ge-
legenen Kochhause besorgt.
Einer freundlichen Einladung folgend, lassen wir uns auf
dem Boden eines der Hauser nieder und schlürfen mit köst-
lichem Wohlbehagen die Milch einer soeben vom Baume
heruntergeholten, halbreifen Kokosnuß, derweil eine Schar halb-
nackter Kinder sich mit unseren Beinen zu schaffen macht,
neugierg unsere Stiefel betasstet oder sich sonsstwie mit uns
beschãltigt.
Wie mit wenig Arbeit, so kommen die Samoaner auch
mit wenig Hausrat aus. Außer den schon erwähnten Matten,
Schlummerrollen und Tapavorhängen — diese sind, wenn
nicht in Benutzung, unter dem Dache verssstaut — finden wir
als VWasserbehälter etwa ein halbes Dutzend ausgetrockneter
Kokosnũsse, einige quer durchschnittene, als Trinkgefabe be-
nutzte Nußschalen und eine zur Bereitung des samoanischen
Nationalgetränkes, der „Kawa“, dienende, aus dem Stamme
des Brotfruchtbaumes geschnitzte flache Holzbowle. Diese
197
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Bowlen, auf deren Boden sich bei langjahriger Benutzung
zur Kawabereitung allmählich eine opalisierende milchweibe
Kruste ansetzt, bilden neben einigen besonders feinen, zu-
weilen von Geschlecht auf Geschlecht vererbten Matten den
Stolz der gesamten Familie. Rechnen wir zu den aufgeführten
Gegenständen noch einige Fliegenwedel aus Bast und aus den
Blattstreifen der Pandanus geflochtene Facher, vielleicht einen
Speer zum Fischstechen, Ruder, Netze, ein unterm Dache
steckendes Schiebgewehr und ein dem Speckmesser der
Walfischfanger nachgebildetes Schlachtschwert, so ist damit
die Inventaraufnanme eines samoanischen Haushaltes voll-
ständig. Daß es samoanische Hàuser gibt, in denen sich
neben der Kawabowle auch die Nahmaschine, die Schwarz-
walduhr, der Schaukelstuhl und womõglich eine Flasche Mai-
glõckchen -Parfũm findet, darf nicht verschwiegen werden.
Aber solche Haushaltungen sind auch heute noch, Gott sei
Dank, Ausnahmen.
Freigebigkeit und Gastlichkeit sind die hervorstechend-
sten Eigenschaften des samoanischen Volkscharakters. Wenn
trotzdem heutzutage der Samoaner, namentlich in der Um-
gebung von Apia, den Europaer nicht immer in derselben
gastlichen Weise empfängt wie seinen eigenen Landsmann,
so isst das weiter nicht überraschend. Abgesehen davon, daß
die samoanische Gastfreundschaft in vielen Faällen von
Europaern mißbraucht worden ist, mub der Umstand, daß die
in Apia wohnenden Europaer ihre Samoa besuchenden Lands-
leute in Gasthäusern wohnen lassen, anstatt ihnen Gast-
freundschaft zu erweisen, die Samoaner zu der Ansicht
bringen, die Ausũübung der Gastfreundschaft gelte unter den
Europãern nicht für vornehm. Unter sich sind die Samoaner
in einer Weise gastfrei und freigebig, die nahezu an Guter-
gemeinschaft grenzt und sogar jeder weiteren Entwicklung
des Landes hinderlich ist. Kein Samoaner denkt daran, Er⸗
sparnisse zu machen, seinen Besitz zu vergrößern oder die
Zukunft seiner Familie sicherzustellen; und sollte er dennoch
daran denken, so würden seine Freunde schon dafur sorgen,
datß ihm Gedanken dieser Art vergingen. Wer mehr hat,
als er zum Leben gebraucht, bei dem laden sich Verwandte
und Nachbarn so lange zu Gaste, bis das Ubrigbleibende
auch für den Wirt allein nicht mehr ausreicht und der also
1
Geschàdigte nunmehr seinerseits ausziehen muß, um sich bei
einem Freunde einzunisten, der über fruchtbehangene Palmen
und Brotfruchtbaume, über wohlgenährte Schweine, Gänse
und Hühner verfügt.
Alle Versuche, die Samoaner an regelmãßige Arbeit zu ge-
wöhnen, scheiterten an der Trägheit, die diesen liebenswürdi-
gen Menschen angeboren ist. Sie verlangten unverhältnismaßig
hohe Löhne für außerordentlich geringe Leistungen und zeigten
sich außerdem in jeder Hinsicht unzuverlässig. Man sah sich
somit genõtigt, fremde Arbeitskräfte einzuführen, und wandte
sich zu diesem Zwecke mit Erfolg nach den Gilbert- und Salo-
monsinseln, den Neuhebriden und dem Bismarckarchipel. Die
Arbeiter werden in erster Linie mit den auf den Pflanzungen ge-
wonnenen Erzeugnissen: Brotfrũchten, Kokosnũussen, Bananen,
Vackfruchten, Taro usw. ernährt, erhalten jedoch auch häufig
frisches Fleisch, fangen sich nebenbei Fische und verschaffen
sich in den VWaäldern wie am Meeresstrande allerlei Lecker-
bissen, denen unser Gaumen wahrscheinlich keinen Geschmack
abzugewinnen vermöchte. Mich wenigstens würde man durch
einen mit seinen Hlügeln gerösteten fliegenden Fuchs, den
ich einige Leute von der Ellice-Gruppe verzehren sah, nicht
locken können. Auch Wespenlarven, Ameiseneier und Ei-
dechsen haben wenig Verführerisches für mich.
Bei der Anlage der Pflanzungen entschied man sich in
der Hauptsache für die im Lande prächtig gedeihende Kokos-
palme. Die Nũsse werden nicht gepflückt, sondern man wartet,
bis sie reif vom Baume fallen, um sie dann zu sammeln. In
Kõörben werden sie auf Eseln an die fahrbaren Wege und
dann in Ochsenkarren zu den Stationen gebracht. Nachdem
sie hier aufgeschlagen worden sind, wird das Fleisch mit
Messern herausgelöst, auf Darren getrocknet und lose auf—-
geschichtet, in Segelschiffen nach Europa verfrachtet. Mit
Kaffee, Tee und Kakao sind ebenfalls Anbauversuche ge-
macht und Erfolge erzielt worden, die zu den besten Hoff-
nungen berechtigen. Die geerntete Kaffeebohne gehört zu
dem Besten, was jemals auf den Markt gebracht worden ist;
ich erinnere mich nicht, irgendwo wohlschmeckenderen Kaffee
getrunken zu haben als in Samoa. Auch der Teestrauch laßt
in seinem Gedeihen nichts zu wünschen übrig. Ganz vor-
züglich gedeiht der Kakaobaum. Gerade für Kakao dürfte
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sich in Samoa eine große Zukunft bieten, da alle Bedingungen
für sein Gedeihen gegeben sind.
Mit deutschem Kapital und deutscher Tatkraft ist hier in
Samoa etwas geleistet worden, worauf wir als Voll stolz zu
sein ein volles Recht haben. Samoa kann für uns eine wert-
volle Kolonie werden. Das Land ist von paradiesischer
Schõnheit, das Klima das denkbar angenehmste, der Boden
von unerschöõpflicher Fruchtbarkeit und die Bevõlkerung die
liebenswürdigste unseres Planeten. Otto Ehlers
111. Von der Erde zum Monde.
Wer bereit ist, mit uns einen Ausflug in den Weltraum zu
machen, der schnüre sein Bündel. Unsere Reise geht zwar weit in
die Welt hinaus, wird aber sehr schnell vonstatten gehen, so schnell
wie der elektrische Funke, so schnell wie unser Gedanke. Also treten
wir die Reise anl Adieul! Der Zug geht ab. Wohin? Unser
Fiel wird der Mond sein. — Jetzt sind wir schon ein paar
tausend Meilen von der Erde entfernt. Caßt uns haltmachen und
einmal sehen, wie es unserer Erdkugel ohne uns ergeht. Unter
uns liegt sie, von einer Lufthülle umgeben. Diese CLufthülle ist
dunstig, wolkig, und man kann nicht hindurchblicken. Über uns ist
der Himmel merkwürdig klar, eher schwarz als blau, und die Sterne,
die sonst, durch die bewegte Cuft gesehen, so sehr funkeln, leuchten
jetzt in nie gesehenem, ruhigem Glanze. Von der Erde würden wir
weiter nichts sehen als Dunst und Nebel; doch da wir Reisende in
Gedanken sind, so wollen wir diese Dünste und Nebel wegwischen. —
Ahl Da sehen wir richtig die Erde! Sie ist wirklich eine Kugel und
dreht sich so, daß der Punkt, von dem wir abgereist sind, nicht mehr
unter uns liegt. Er hat sich fortbewegt nach der Richtung, die man
dort unten Osten nennt. Eigentlich ist ungeheuer viel Wasser und
nur sehr wenig Cand auf der Erde. Das, was die Menschen Erde
oder gar Welt nennen, sind nur Inseln, die das Wasser nicht bedeckt
hat. Wie nichtig klein ist dort links Europal Wo ist des Deutschen
Vaterland ? Wahrhaftig, wir können es von hier aus kaum finden.
Auf unserer Station haben wir nicht nur Sonnen⸗ und Monoͤlicht,
sondern obendrein auch Erdlicht; denn sowohl Mond wie Erde werden
vom Sonnenlicht erleuchtet, und beide strahlen wieder Licht in den
Weltenraum.
Doch nun geht's nach dem Mondel Auf unserer Reise brauchen
wir nur bald vorwärts, bald rückwärts zu blicken, und wir sehen
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dann mit jedem Zehntausend von Kilometern, das wir zurücklegen,
wie die Erde immer kleiner und der Mond immer größer und größer
erscheint. Bald wird uns die Erde wie ein Himmelskörper, wie
ein Stern vorkommen. Und nun wollen wir uns einen kleinen
Scherz erlauben. Einer von der Reisegesellschaft mag so gut sein
und seinen Hut fallen lassen. Auf der Erde würde der Hut sofort
in der ersten Sekunde fünf Meter fallen. Den Hut loslassen und
ihn wieder erhaschen, ist da unten ein Kunststück. Hier auf unserer
Reise ist es ein Spaß. Wir sind nämlich so weit von der Erde ent⸗
fernt, daß ihre Anziehungskraft bedeutend geschwächt ist. Wir sind
auf halbem Wege zum Monde, nämlich 26000 Meilen vom Mittel—
punkte der Erde entfernt, d. h. ungefähr dreißigmal entfernter von
diesem Mittelpunkte, als wir es auf der Oberfläche der Erde waren.
In der dreißigmaligen Entfernung ist aber die Anziehungskraft der
Erde nicht bloß dreißigmal schwächer geworden, sondern sie hat um
50 mal 30, das ist um 900 mal abgenommen. Fiel unten der Hut.
in der ersten Sekunde fünf Meter, so fällt er hier 900mal weniger
in der Sekunde, und das ist nur wenig mehr als ein halbes Zenti—
meter, also ein so kleines Stückchen, daß wir fast Zeit haben, erst
einmal zu niesen, ehe wir die Hand auszustrecken brauchen, um den
fallenden Hut einzufangen. Reisen wir nun noch einige tausend
Meilen weiter, so kommen wir an einen Ort, von wo die Erde
und der Mond in gleicher Größe erscheinen, und nicht gar weit von
dieser Stelle ist ein Punkt vorhanden, wo der nahe Mond eine ebenso
starke Anziehung ausübt wie die entfernte Erde. Wir können nun
unsere Reisebündel auf diesen neutralen Punkt hinlegen: alles bleibt
ruhig und unbeweglich stehen oder hängen oder schweben oder liegen,
wie man es nennen will. Die Erde zieht es hin, der Mond zieht
es mit gleicher Uraft her, und wir freuen uns, daß wir gar nichts
zu tun brauchen, um unser Gepäck festzuhalten.
Doch weiter geht's, und — mit einem Ruck langen wir auf dem
Monde an. — Aber niemand empfängt uns, niemand heißt uns
willkommen. Wir rufen: Hollal Hedal Aber zu unserm Schrecken
hören wir unser eigenes Wort nicht. Wir sind taub, gänzlich taub,
und wir merken's auch schon, woher dies kommt: es ist keine Cuft
da, die den Schall des Wortes fortpflanzt. Der Mond ist nicht von
einer CLufthülle umgeben wie die Erde, und damit fehlt dem Monde
das, was bei jedem Schall in Schwingungen versetzt wird, die dann
an das Trommelfell schlagen und die Empfindungen des Tones
oder Geräusches verursachen. — Ist aber keine Cuft auf dem Monde,
20
202
so folgt daraus, daß auch kein Wasser hier sein kann; denn im
luftleeren Raume verdunstet Wasser vollständig. Soweit unser Auge
reicht, sehen wir um uns Gebirge und Täler, wie sie auf den Mond—
karten abgebildet sind. Wir bemerken auf der Oberfläche noch gar
viele Dinge; aber wir wissen nicht, was es ist. Vielleicht sind es
Oflanzen? Aber Pflanzen nach unsern Begriffen können es nicht sein.
Die Pflanze lebt von Cuft und Wasser und andern luftartigen und
wasserförmigen Speisen; hier aber ist nichts Derartiges vorhanden:
kein Sauerstoff, kein Wasserstoff, kein Stickstoff und auch keine Kohlen—
säure. Ist aber keine Pflanze hier zu finden, wovon sollen dann Tiere
oder gar Menschen hier leben ?
Wir müssen also auf Verkehr mit Menschen verzichten und, so
gut es geht, uns anderweitig unterhalten. Da wir nun aus Mangel
an Luft völlig taub sind, so wollen wir wenigstens Hände und Beine
nach Herzenslust verwenden. Und dies gelingt gar prächtig. Vor
allem fühlen wir uns so leicht, daß wir uns eher wie Vögel als
wie Menschen vorkommen. Die Anziehungskraft auf der Oberfläche
des Mondes ist sechsmal schwächer als auf der Erde. Unsere Glieder
können wir daher mit außerordentlicher Leichtigkeit heben. Jeder
von uns, der unten auf Erden mit einem Satz erst auf einen Tisch
springen könnte, springt hier mit gleicher Anstrengung auf einen
Hhügel von 512 Meter Höhe. Berge besteigen ist hier ein Spaß. Wir
setzen mit Leichtigkeit über einen Abgrund, der 512 Meter breit ist.
Aber was hilft es uns, daß die geringe Anziehung des Mondes
uns die Arbeit sechsmal so leicht macht, wenn der Tag auf dem Monde
zwei volle Wochen dauert, also die Zeit der Arbeit vierzehnmal so
lang ist als auf Erden ? — Volle zwei Wochen? — Ja, volle
zwei Wochen und sogar noch achtzehn Stunden darüber! Der Mond
dreht sich nämlich nicht in vierundzwanzig Stunden um seine Achse;
man kann fast sagen, er mache gar keine eigentliche Umdrehung.
Er läuft in ungefähr einem Monat um die Erde deren steter, treuer
Begleiter er ist. Bei diesem Umlauf wendet er immer nur die eine
Kugelhälfte der Erde zu; wie die andere Hälfte des Mondes aus—
sieht, das hat noch kein Menschenkind gesehen, und wir werden es
auch nie sehen. Während die Erde sich täglich umdreht und deshalb
vom Monde aus von allen Seiten besehen werden kann, geht der
Mond um die Erde, als ob er auf einer Stange aufgespießt wäre,
und läßt sich von den Erdbewohnern stets nur von der einen Seite
betrachten. Um sich von der Sonne auf allen Seiten beleuchten zu
lassen, muß er daher seinen Umlauf um die Erde ganz vollenden,
203
und da dies 2902 Tage dauert, so sind ein Tag und eine VNacht
auf dem Monde zusammen so lang wie 29 Tage und Vächte auf
der Erde.
Die Erde bietet von hier aus einen prächtigen Anblick. Wenn
wir auf dem Monde Nacht haben, so stehen wir zwischen Sonne
und Erde und sehen diese, die Erde, aufs herrlichste im Sonnenlichte
erglänzen. Die Erdscheibe ist, von hier gesehen, so groß, daß sie fast
vierzehnmal größer erscheint als der Mond auf Erden. Dabei dreht
sich diese Erde in einer Mondnacht vierzehnmal in der Runde. Wir
sehen sie also von hier als ein mächtiges, milde leuchtendes Gestirn,
das viel prächtiger aussieht als die Sonne. Es erhellt die Nächte
des Mondes und bietet bei der Umdrehung alle Abwechselungen,
die die Erdkugel in ihrer Verschiedenheit an Cand und Wasser
zeigt. Richten wir einmal vom Monde aus ein Fernrohr auf die
Erde. Bei einer zwölfhundertmaligen Vergrößerung gelingt es uns
London, Paris, Berlin, Wien und Petersburg zu entdecken; selbst
Städte mittlerer Größe sind zu erkennen. Einen prachtvollen Anblick
gewährt es uns, die Pole der Erde im Winterschnee, die Üquator—⸗
gegenden in Sonnenglut leuchtend zu finden. Die Erde dreht sich
weiter, und wir sehen das Festland von Amerika vor uns; Newyork
ist klar zu erkennen, und der Mississippi sieht ganz prächtig aus.
Dann besehen wir den Stillen Ozean, bis das Festland von Asien
sichtbar wird. Jetzt kommt auch Afrika zum Vorschein, und endlich
nach vierundzwanzig Stunden erblicken wir Europa wieder.
Aron Bernstein.
112. Fixsterne und Planeten.
Wer etwa in der Hauptstadt oder in der Nähe derselben gelebt
hat, der kann wissen, was eine Illumination ist, und wie herrlich
es aussieht, wenn zu Ehren eines großen Herrn in der ganzen Stadt
viele tausend kleine Lampen zu gleicher Zeit angezündet werden und
brennen. Das Auge kann sich nicht satt schauen, und überall er—
blickt es etwas anderes und Schöneres. Aber alle diese irdische Herr—
lichkeit ist in gar keine Vergleichung zu setzen mit der großen himm—
lischen Illumination, die in jeder wolkenlosen Nacht zur Ehre des
großen Weltbeherrschers aus unermeßlicher Höhe herabflimmert.
Fürs erste müssen wir wissen, daß es zweierlei Arten der Sterne
gibt; denn so sehr sie alle, groß und klein, ganz ohne Ordnung
durcheinander zu stehen scheinen, so behalten doch die meisten derselben
jahraus, jahrein ihre nämliche Stellung gegeneinander, gehen jahr—
aus, jahrein in der nämlichen Ordnung mit- und nacheinander auf
und unter; keiner kommt dem andern näher, keiner entfernt sich von
dem andern. Jeder von uns, der auch nur ein Gestirn kennt, den
heerwagen oder den Jakobsstab, der wird's wissen. Wie diese Sterne
in seiner Jugend standen, so stehen sie noch, und wo er sie im
Sommer oder Winter abends um 8 Uhr oder um Mitternacht zu
finden wußte, dort findet er sie in der nämlichen Jahreszeit wieder.
Diese Sterne heißen Firxsterne.
Nur mit sehr wenigen andern, die man Wandelsterne oder
Planeten nennt, hat es eine andere Bewandtnis. Diese behalten
nicht ihre gleichförmige Stellung gegen die andern. Wenn der
Planet, Jupiter genannt, heute nacht zwischen zwei gewissen Sternen
steht, so steht er heute übers Jahr nicht mehr zwischen den nämlichen,
sondern an einem andern Orte. Es ist, als ob diese Sterne für
Kurzweil bei den andern herumspazierten, ihnen gute Nacht oder
guten Morgen brächten und sich um die Zeit und Stunde nicht viel
bekümmerten. Aber sie haben ihre Ordnung so gut wie die üb—
rigen, nur eine andere. Die meisten von ihnen kennt jeder Leser
aus den Kalendern, besonders aus den hundertjährigen. Diese Pla—
neten haben nun folgende Eigenschaften miteinander gemein: 1. Sie
sind unter allen Sternen unserer Erde am nächsten, viel näher als
ein Firstern. 2. Sie bewegen sich in großen Ellipsen und in un—
gleich langen Zeiten um die Sonne, was die andern nicht tun.
Und aus diesem Grunde verändert sich unaufhörlich ihre Stellung
am Hhimmel. 3. Sie sind von Natur dunkle Weltkörper. Sie
empfangen ihr Licht, wie unsere Erde, von der Sonne. Was wir
in der Nacht an ihnen glänzen sehen, ist Sonnenschein, der wie
aus einem Spiegel zu uns zurückstrahlt, so daß wir auch in der
finstersten Sternennacht doch nicht ganz von diesem fröhlichen Lichte
verlassen sind. Jeder Planet ist eine ungeheuer große Kugel, die
sich immer und ohne Ruhe herumdreht. Nur diejenige Hälfte, die
alsdann gegen die Sonne steht, hat Licht, die andere ist finster. Die
Planeten haben daher auch ihresteils Tag und Nacht. 4. Sie stehen
nicht immer in gleicher Entfernung und Richtung gegen die Sonne.
Sie haben daher, wie unsere Erde, verschiedene Jahreszeiten, in ihrer
Art Sommer und Winter. Peter Bebel.
—Ee
204
113. Frühling.
Nun ist er endlich kommen doch
in grünem Unospenschuh.
„Er kam, er kam ja immer noch“,
die Bäume nicken sich's zu.
Sie konnten ihn all erwarten kaum,
nun treiben sie Schuß auf Schuß;
im Garten der alte Apfelbaum,
er sträubt sich, aber er muß.
Wohl zögert auch das alte Herz
und atmet noch nicht frei,
es bangt und sorgt: „Es ist erst März,
und März ist noch nicht Mai.“
O, schüttle ab den schweren Traum
und die lange Winterruh,
es wagt es der alte Apfelbaum,
Uerze wass auch dul Theodor Fontane.
114. Ein flatterhaftes Wesen.
Ich sitze in meinem Zimmer am Schreibtisch; die Fenster habe
ich geöffnet, denn der Abend ist lau und mild, und die Amsel flötet
so zart und sanft ihr erstes Cenzlied. Da flattert es mir um den
Kopf mit leichten Schwingen, ein Rundflug durchs Zimmer und
wieder hinaus in den weichen Abend. Mein Gott, mit was für
kleinen Dingen kannst du doch dem armen Menschenkinde eine Riesen—
freude bereiten!l ein bißchen Vogelgesang, ein Lätzchen an der
Hasel, ein kleines Blumenglöckchen, ein gelber Falter und — eine
Fledermaus.
Wo sie wohl die kalten Monate verträumt hat? Im Sparren—
werk des Dachstuhls, vielleicht nahe dem Schornstein, der ihr vorzeitig
den Frühling vortäuschte, oder im Rauchfang selbst? ZFieh' dich
nur wieder zurück, du armer VNarr, ins warme Versteck zu deinen
Brüdern und Schwestern, die alle noch schlafen; Käfer und VNacht—
schmetterlinge beginnen so früh nicht zu schwärmen, und von den
paar Spinnen hier und dort in den Winkeln wirst du nicht satt.
Eine überwinternde Fledermausgesellschaft — es handelt sich bei
uns meist um die gemeine Fledermaus, die besonders Geselligkeit
liebt — gewährt einen ganz eignen Anblick; auf den Dachböden
des alten Schlosses in meinem Geburtsstädtchen habe ich sie oft zu
Hunderten gesehen. An den Zehen der Hinterpfötchen hängen die
kleinen Tiere, den Kopf abwärts gerichtet und den ganzen Körper
in die faltigen Flughäute lose eingewickelt, daß nicht viel mehr als
das spitze Schnäuzchen durch einen Spalt hervorschaut. So schlummern
sie oft dutzendweise in Reih' und Glied an demselben Balken dem
kommenden Lenze entgegen, kleine, hilflose Geschöpfe; wie Bündel
abgestorbenen Caubes sehen sie aus, mumienartig eingetrocknet und
ohne Leben.
Aber jetzt reckt sich der eine Arm, er streckt sich und dehnt sich,
und auch am andern spreizen sich die Finger; das Köpfchen mit den
blitzenden Augen schaut nach links und nach rechts und nach oben.
Bald hat die Daumenkralle den Ritz im Balken gefunden, wo sie sich
einhakt, und langsam zieht nun die Spannkraft des Arms das ganze
Tierchen empor, bis es oben auf dem Sparren sitzt, die Flughaut
nur halb gelüftet, um noch ein wenig zu verschnaufen, bevor es
den ersten Flug wieder wagt nach der langen Winterruhe.
Heil wie schön und sicher es geht trotz des engmaschigen Balken
werks; ein ganzes Dutzend der Schlafgenossen ist gleichfalls erwacht
und flattert nun auch, leise, hohe Pfeiftöne ausstoßend, unruhig
in dem beschränkten Raume umher. VNoch ein kurzes Rasten auf
einem Sparrenkopf, und dann hinaus durch die Dachluke, heil in
den wonnigen Frühlingsabend. Um den ersten Turm herum und
jetzt um den zweiten — wie der dicke Abendfalter schmeckt nach
dem langen, langen Fasttagl lautlos wirbeln seine Flügel herab
zur Erde — und nun zur Kirche und über die Wiese, hinab ans
Flußufer, wo die hohen Pappeln stehen und Spinner und Spanner,
206
207
Wickler und Eulen und schwärmende Käfer aller Art sich in lau—
warmer Nacht tummeln.
Der Fledermausflug hat etwas Phantastisches an sich, lautlos
wie der Flug aller nächtlichen Tiere, zackig die Bahn, als sei sie
ein Abbild des häutigen Flugorgans selbst, scheinbar unsicher und
ohne Fielpunkt. So fliegt kein Vogel durch die Cuft, kein Abend—
falter, ein Flattern ist es, kein Fliegen. Und doch wie gewandtl
Besonders unsere zweite, etwas größere Fledermausart — die „früh—
fliegende“ hat man sie genannt, weil sie schon am Spätnachmittag
auf Insektenfang auszieht — ist eine große Künstlerin in aller Art
Luftgymnastik. Ihre Finger klaftern besonders weit, dabei sind die
Flughäute schmal, den Flügeln des Mauerseglers zu vergleichen. Auch
das viel kleinere „Großohr“, das bei uns ebenfalls nicht selten ist,
tut's ihr nicht gleich.
Das wunderbarste am Fledermausflug ist aber dies, daß die
Tierchen selbst in dunkelster Nacht, ja auch in einer ganz fremden
Umgebung nirgends anstoßen und auch dem feinsten Astwerk, dünnen
Fäden sogar, geschickt auszuweichen verstehen. Unzählige End—
körperchen der Tastnerven in den Flughäuten vermitteln die Wahr—
nehmung der leisen Cuftwellen, die auch von den zartesten Gegen⸗
ständen zurückgeworfen werden, in deren Nähe die Flatterer sich
bewegen.
Und da können sich unsre Damen noch ängstigen, daß die Fleder⸗
maus ihnen in die wuschligen Haare fliegen werde; das waͤre ja
ganz schrecklich — für das arme Tierchen nämlich, die Fledermausl
Martin Braeß.
115. Rohrdommel.
Ein ganz kleines Männlein,
es war nur ein Spännlein,
kam an einen Sumpf;
auf einmal tat's erschrecken,
lief eine ganze lange Strecken,
verlor einen Schuh und verlor einen Strumpf.
Fragten die Ceute, warum es so lief.
„Ach,“ sprach's, „im Sumpf saß ein Untier, das rief
in großem Grimme
mit schrecklicher Stimme.
Im Rohr hat's gesessen
und wollte mich fressen.“
208
Kamen die Leute mit Knüppel und Flinten,
zehn von vorn und zehn von hinten,
und wollten das greuliche Untier erschlagen.
Auf einmal ruft's aus dem Sumpf hervor:
Uhl uhl und raschelt's im Rohr.
Zehn fielen auf den Rücken und zehn auf den Magen.
Die Knüppel zerbrachen,
die Flinten mit UKrachen
gingen von selbst los, piff, paff, und ein Rauch.
Da flog eine Rohrdommel aus dem Nest:
„Die haben wohl heute Schützenfest ?
Darum auchl“
Gustav Falke.
116. Von dem Neuntöter.
Es war einmal ein Neuntöter, der saß im Dornenge—
büsch und ahmte sehr geschickt die Sangesweisen anderer
Võgel nach. Bald pfiff er wie eine Grasmũcke, bald schwirrte
er wie eine hoch hinauf wirbelnde Lerche; dann dudelte er
wie ein Hänfling, krähte wie ein Zeisig, ja wagte sich end—
lich an die langen, schwierigen Strophen der Nachtigall, in
denen ihn zwar sein Gedächtnis mitunter verließ, das „Tiu,
tiu, tius ihm jedoch recht erträglich gelang.
Heute befanden sich einige Tiere in der Nahe des ver-
hängnisvollen Dornengebüsches, die dem wechselnden Liede
jenes , Würgengels“ lauschten. Zuerst ein Maikaäfer, ein stiller
Dulder — aber dumm! Das Schicksal schien ihn so recht
eigentlich zum Spielball seiner übeln Launen ausersehen zu
haben. Zuerst traf ihn das Unglück, datß er um einen ganzen
Monat zu spãt, weil er zu tief gelegen und von der Fruüh—
lingswärme nicht erreicht worden war, aus dem dumpfen
Traume der gelangweilten Larven in die heitere, summende,
schnurrende und schnurrige Käferwelt eintrat. Er kam zum
Schluß des Juni, wo er abgetrennt von seinesgleichen da-
stand und nur noch grobe, ausgewachsene Blàtterkost vor-
fand, während seine Herren Brüder ihrer Lust in Gemüse von
jungen Knospen und Sprossen gefrönt hatten. Sodann geriet
er, auf den bei gänzlicher Maikäferlosigkeit des Juli-Monats
alle Blicke sich richteten, rettungslos in Gefangenschaft. Man
sandte ihn als seltene Ausnahme an die Redaktion einer
0
Zeitung, damit diese nicht verschmãähe, neben ihren Berichten
von Völkern und Ländern auch einen Bericht abzustatten
uüber den Maikäfer, so sich im Juli gezeigt. Kaum dieser
Gefangenschaft entkommen, spũrte er Sperlinge hinter sich
her, die ihn verfolgend bis ins Freie trieben, wo er zum Tode
matt im Laube einer Eiche hing und von ihr herüber nach
dem Neuntöter horchte.
Ein anderer Käfer von strahlend schwarzer Farbe, auf dem
Kopf eine Art von Horn oder Höcker, schien am Rain der
Wiese, wo Neuntöters Dornburg prangte, angelegentlich be-
schaftigt, ein Loch in die Erde zu bohren — wabrscheinlich
für künftigen Nachwuchs — lauschte jedoch mehr und öller
den melodischen Spielereien des Neuntõöters, als sich mit an-
gestrengter Arbeit vertrug. Es war der Roßkafer, ein in seiner
Art ganz pfiffiger Bursch, der nur bei heiterm Wetter aus-
geht, bei Regen aber fein gemächlich daheim bleibt, der mit
großer Schlauheit sich tot zu sstellen weiß, wenn eine Krähe
Lust bezeigt, ihn zu verspeisen. Dann legt er sich auf den
Rũcken, zeigt der Sonne und der Krähe seinen schön-violetten
Bauch, streckt sämtliche ihm gehörige Beine starr von sich
und spielt die Leiche, so daß die Krähe, die nach verstorbenen
Kafern nicht lüstern ist, iun gewöhnlich liegen läßt. Doch
Neuntöter sind keine Krähen; wir werden's erfahren.
Drittens bewunderte den singenden Kunstler eine dicke,
graugelbliche Bremse, die sich soeben erst auf dem Halse
eines jungen Füllens, dem sie die Wiesenlust quälend ver-
leidet, ganz vollgesogen hatte und nun langsam und gemäch-
lich verdaute.
Unten am Abhange des Grabens saß eine Heuschrecke
und sang auch. Ich wollte eben sagen, sie hätte klüger ge-
tan, ihr Maulchen zu halten, wäre mir nicht zu rechter Zeit
noch eingefallen, daß Heuschrecken und ihresgleichen mit
diesem Werkzeuge gar nicht singen. Es mub also heißen:
sie konnte die Hlügel nicht halten. Und daran tat sie sehr
übel! Denn der Neuntöter hatte längst seinen scharfen, gie-
rigen Blick, dem auch die geringste Bewegung nicht entgeht,
mitten durch all die zwitschernden und flötenden Töne, s0
er von sich gab, auf Maikäfer, Robkäfer und Bremse gleiten
lassen und hörte bald ihr vorlautes Musizieren. War er nun
entweder verdrießlich aus verletzter Eitelkeit, dab eine Heu-
Weimar. Lesebuch IIl, 2.
2
14
schrecke wagen wollte, mit ihm zugleich sich hören zu lassen,
oder schien es ihm überhaupt an der Zeit, seine Kunstübungen
jetzt beiseite zu legen, damit er für des Magens Bedũrfnisse
sorgen möge? Er schnappte mitten im schönsten Triller ab,
wie der Wind so rasch auf die am Grabenrande sitzende
Heuschrecke losfahrend. Dicht vor ihr machte er halt. Sie,
tief in ihre grünsten Träume versenkt, erschrak, schlug ihre
Fũhlhörner zurück und bereitete sich zur Verteidigung vor.
So fassungslos war sie, so wenig vermochte sie des uner-
warteten Feindes Ubermacht zu würdigen. Er machte nicht
viel Federlesens. Schnapp, griff er zu, packte sie just in der
Taille, hielt sie fest im scharfen Schnabel und spottete nur
der vielen Bisse, die sie wirkungslos in leere Luft tat. Dann
dreht' er den armen Teufel von Heuschrecke kräftig und
geschickt auf einen der spitzen Dornen, die sich an dem
dũrren Assste im Wipfel des Gesträuches befanden.
Bevor noch die Bremse Zeit gewann, sich die Gefahr
deutlich zu machen, die in solcher Nachbarschaft auch ihr
drohen könnte, war sie schon auf den nächsten Dorn, un-
mittelbar neben der Heuschrecke, gespießt.
Mit dem Maikafer nahm sich der graue Vürger Zeit. „Der
entkommt mir nicht“, sagt' er; „ich seh' ihn schon lange
hangen in seinem Dusel Recht bequem und lustern
schmatzend holt' er den Dulder vom Eichenbaum.
Und der Maikäfer zappelt am dritten Dorn.
„Nun zu dir, würdiger Träumer, klümpchendrechselnder
Mist- und Roßkafer! Du freilich bist verdammt schlau, und
deiner Klugheit sind wir nicht gewachsen! Nein, o nein, du
lebst nicht mehrl Ich seh' es ja, du bist tot, wirklich und
wahrhaftig tot; der Schlag hat dich gerührt aus Schreck über
des Maikafers Geschick. Edles Kaferherz, ist das eine Freund-
schaft! Und meinst du, ich sollte an dir vorübergehen, wie
jene Krähen des Feldes, denen du ein X für ein U machtest?
Du irrst, Roßkafèr, ich nehme dich dennoch vom Boden auf.
Sieh, Guter, trotz deiner Pfiffigkeit bist du ein Dummkopf,
hast keine Kenntnis von der Natur, hast die Geschichte deiner
Mitgeschöõpfe nicht studiert, sonst wüßtest du: der Dorn-—
dreher frißt nur tote Tiere. Und wie wär' es nun, wenn ich
dich hier auf einen dieser freien Spieße steckte? — Ha, du
strampelst mit den Beinchen? Falle nicht aus der Rollel Ei,
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was zum Henker, du lebst wohl gar? Nun, desto besser.
Weile denn hier, bis dein Stündlein schlägt. Und ihr all
insgesamt, unterhaltet euch gut; ich muß noch einiges be-
stellen.“
Der Neuntöter flog davon.
Erbarmungswurdige Klagetöne stietßen jene vier Schlacht-
opfer aus. Die Bremse litt am meisten; weich wie Butter,
war ihr nachgiebiger Leib ohne Widerstand bis an des Dornes
Wurzel geschoben worden. Purpurrot floß das Blut.
„Ja, wenn es dein Blut wäre, Bremse, dann wollt ich dich
beklagen“, ssstõante der Roßkafer, der jetzt, wo ihm der Tod
im Nacken saß, nicht mehr daran dachte, sich tot zu stellen.
„Doch weiß ich nur zu wohl, es ist das Blut jenes jungen
Pferdes, das du auf der Weide verfolgtest und martertest,
daß es schier außer sich geriet und mich, indem es nach
dir schlug, beinahe zerstampft hätte. Dir geschieht nur dein
Recht, wenn du hier so endest; du hast es nicht besser ver-
dient! Aber ien
„Und ich?“ unterbrach ihn der Maikäler. „Du, Roßkäfer,
hast doch wenigstens dein Leben genossen. Ich jedoch, der
ich nichts als die Qualen und Martern des Daseins kenne,
wen habe ich beleidigt? Was hab' ich verbrochen?“
„Du büßest für dein ganzes Geschlecht“, hub der Roß-
kãfer wieder an. „Seid ihr es nicht, die im grünen Lenz
Knospen und junge Blätter benagen, daß die schöõnsten Bàume
oft dürr und leer dastenen wie im kältesten Winter? Des-
halb hassen die Menschen euch Maikäfer. Deshalb dulden
sie, daß ihre Kinder euch quälen und peinigen! Deshalb
schũttelt man euch, wenn ihr bei Tage schlummert, zu Tausen-
den herab und wirft euch den Enten oder den Schweinen
vor.“
„Wie dumm! Wie hornkäferdumm!“ rief die Heuschrecke.
„Dann sind es wohl auch die Sünden der Meinigen, die ich
an diesem Spieße büßen muß? Nicht wahr, Roßkafer?“
„Allerdings“, erwiderte jener. „Ihr verwüstet, wenn ihr in
Schwãärmen heranzieht, das ganze Land, wie man sagt, ver-
nichtet alle Saaten und schafft Hungersnot!“
„Gewiß, gewiß, das geschieht; obwohl ich niemals teil
daran nehmen möchte, weil ich eine Grasssheuschrecke bin,
was ich mir aber ebensowenig zum Verdienst anrechne als
14*
212
jenen zum Verbrechen. Wir folgen dem angeborenen Triebe:
Du mußt im Kote kneten, der Maikafer Blätter benagen, die
Bremse Blut trinken, und ich junge Halme rupfen. Wir
sind, wie wir sind, jedes nach seinem Wesen und Bedürf—
nis. Daruüber darf niemand mit uns rechten, ebensowenig
als eines von uns mit dem Neuntöter, der uns hier an die
Pfãhle gespießt hat. Wir tun, er gleich uns, was wir tun
mussen, um uns durch die Welt zu schlagen, und wer dabei
zu Schaden kommt, darf sich nicht wundern.“
„Hei, hier geht's ja noch recht lustig zus, schrie der
Neuntõter mit schneidendem Hohne dazwischen und fügte
den Sterbenden ein fünftes Opfer bei, ein junges, ganz junges
Fröschlein, welches kürzlich erst seine feuchte Wiege im
Rohrsumpfe verlassen und die kaulquappige Verlängerung
kaum abgelegt hatte. Es war so klein, daß es neben dem
Roßkafer eine erbarmliche Figur spielte. Da spießte es nun
mit offenem Munde am spitzen Dorn. Es sah herzlich albern
aus, und sagen konnt' es gar nichts. Aber mit den Hinter-
füßen zappelte das junge Blut, stieß den Roßkafer in die
Augen, dat dieser ärgerlich brummte: „Laß mich in Ruhe
sterben!ls worauf wiederum trauriges, düsteres Stillschweigen
eintrat.
Der Heuschrecke war jetzt nicht mehr singerlich. Die
Flũgel versagten den Dienst.
Und abermals erschien der Neuntöter und brachte einen
kleinen, zierlichen Molch getragen, auf dem Unterleib orange-
gelb, dünn und schmächtig, niedlich gewachsen. Den
spießte er über den Frosch, sprechend: „Ihr zwei gehört zu-
sammen!“
Dann putzte er sich sorgfältig sein aschgraublaues Ge-
fieder, das auf der Vasserjagd nach Frosch und Molch ein
wenig naß geworden war. Sonach überzählte er seinen
Vorrat: „Bremse, zwo Kafer, Heuschrecke, Mölchlein, Kaul-
quãpplein — sechs Stũck in Summa! Fehlen noch drei. Neun
mussen es seinl Dann wollen wir uns gütlich tun.“
Als der Neuntöter diesmal zum grunen Raub- und Jagd-
schloß Dornburg wiederkehrte, brachte er einen gelbschnäbe-
ligen, federlosen Spatzen oder Baumsperling mit, der, aus
dem Neste gepurzelt, hilflos am Boden gelegen hatte. Dieser
war ihm beinahe zu feist und schwer, so daß er ihn kaum
213
fortbringen mochte, und wäre der Weg noch weiter gegangen,
er hätte den Dicken wieder fallen lassen, keuchte der starke
Vogel doch und war außer Atem, wie er beim Dornenast
anlangte.
„Dich“, sagte er, „bewahr' ich mir bis ganz zuletzt, ob-
wohl du schon halb tot bist. Nimm gefälligst jenen obersten
und längsten Dorn in dein Inwendiges auf! Ha, ha, ha, ich
geh' immer weiter in meiner Haushaltung, bin schon am
Vogelreiche. Nun noch ein Mauschen, das hab' ich längst
im Auge.“
Der Neuntöter, nachdem er noch einmal seinen Vorrat
wohlgefallig überzahlt, machte sich nun sonder Aufschub an
das schwierigste Unternehmen dieses denkwürdigen Tages:
er begab sich auf die Mausejagd.
Und es gelang!l Der Neuntöter brachte ein wohlge-
nãhrtes Mãuslein wohlbehalten auf Dornburg an und spießte
es meisterlich auf.
„Das war gut geraten“, lachte der Burgherr. „So ver-
gnügt wie heute hab' ich mich lange nicht gefühlt, nur daß
ich entsetzlichen Hunger verspüre. Möcht' es nicht an der
Zeit sein, mein Mahl zu beginnen? Zwar spießen erst acht
Personen. Gesetzlich müßten es ihrer neun werden; denn
wofür trãgt man seinen Namen? Aber auf Arbeit gehört der
Lohn; ich habe mir's tüũchtig sauer werden lassen. Einmal ist
keinmall Heute mag der Neuntöter mit acht Gerichten vorlieb
nehmen; deshalb wird er noch immer Neuntöter bleiben.“
„Würgengel soll er heißen!“ stöhnte der Roßkäfer. Neun-
töter hörte das nicht.
„Nun,“ sagt' er, „wie ordnen wir das Mahl? Zuvörderst
die angenehme Bremse“ — und er griff lüssstern nach ihr.
Aber noch hatte sein Schnabel sie nicht berührt, so fiel
schon ein Schuß aus der benachbarten Dornenhecke. Sau-
send pfiffen viele Schrotkörner durch die Luft; eines drang
in Neuntöters Auge. Er tat einen Ausruf des Entsetzens,
sank zurück, blieb mit den Flügeln an den Dornen — und
hing entseelt zwischen seinen acht Opfern: das neunte.
Karl v. Holtei.
—
117. Ein kleines Nest.
Ein kleines Nest! O sagt mir an,
was uns so herzig rührt daran?
Ein Kranz von Halmen ist's doch bloß,
drin weiche Flöcklein Hanf und Moos,
ein ührenhalm, ein Borkenstück
und — eine ganze Welt von Glück!
Julius Lohmeyer.
118. Ein Tag aus dem Leben einer
Fasanenhenne.
Durch eine bewaldete Schlucht zwischen Hügeln führte Mutter
Fasan ihre Familie hinab zum kristallklaren Bache, den der Volks—
mund, ich weiß nicht warum, Schlammbach getauft hat. Die Kleinen
waren einen Tag alt, aber bereits flink auf den Füßen und wurden
zum ersten Male zum Trinken geführt.
Cangsam zog die Mutter vorwärts, gleichsam am Boden kriechend,
denn der Feinde waren viele in den Wäldern. Ein sanftes Glucksen
lockte die kleinen erdfarbenen Knäuel, die auf winzigen, rosigen
Beinen hinterher gewackelt kamen und ängstlich zu piepsen begannen,
wenn sie nur wenige Foll zurückblieben, und die so zart und klein
aussahen, daß selbst die Graspferde neben ihnen riesengroß er—
schienen. Im ganzen waren es zwölf, und die Mutter hütete sie
alle. Argwöhnisch beobachtete sie jeden Busch, jeden Baum und
jedes Dickicht, den ganzen Wald und selbst den Himmel und schien
nur nach Feinden zu suchen, denn nach den wenigen Freunden lohnt
es sich nicht, Ausschau zu halten. Und richtig entdeckte sie einen
Feind! Drüben über der Wiese erschien ein großer Fuchs; er kam
ihren Pfad entlang, und sicherlich würde er sie in wenigen Augen—
blicken mit seiner feinen Nase wittern. Da gab es keine Zeit zu
verlieren.
„Krrl Krr!“ WVersteckt euchl Versteckt euchl) rief die Mutter leise,
aber in bestimmtem Tone, und die armen Dinger, kaum größer als
Eicheln, und nur einen Tag alt, zerstreuten sich, um sich zu ver—
bergen. Das eine verschwand unter einem Blatt, ein anderes
zwischen zwei Wurzeln, ein drittes kroch unter ein Stück abgefallene
Birkenrinde, ein viertes in ein Erdloch usw., bis alle geborgen waren.
Nur eins konnte keinen Schlupfwinkel finden, es legte sich flach auf
ein breites, gelbes Blatt, machte die Augen fest zu und glaubte nun
33
215
sicher, von niemand gesehen zu werden. Die Kleinen stellten ihr
furchtsames Piepsen ein, und alles war still.
Mutter Fasan flog dem gefürchteten Räuber gerade entgegen,
ließ sich dann ein paar Schritte seitwärts von ihm nieder, begann
mit den Flügeln zu schlagen, als ob sie lahm, ganz flügellahm
wäre, und jammerte wie ein von der Mutter verlassenes Kind.
Bat sie um Gnade — Gnade von einem blutdürstigen, grausamen
Fuchs? O neinl So töricht war sie nicht! Oft hört man von
der Arglist des Fuchses, er ist jedoch ein richtiger Gimpel gegen
eine Fasanenmutler. Hoch erfreut bei der Aussicht auf einen leckeren
Braten gerade vor seiner Nase, drehte sich der Fuchs plötzlich um
und erwischte — doch nein, ganz erwischte er den armen Vogel
nicht, er entschlüpfte seinen gierigen Zähnen um Fußeslänge. Mit
einem Satze war er hinterdrein und würde ihn diesmal sicher ge⸗
fangen haben, wenn nicht gerade eine tückische Schlingpflanze da—
zwischen geraten wäre. Die Fasanenmutter hinkte davon, kroch unter
einen Baumstamm, und Reineke sprang darüber, während seine
sichere Beute, die jetzt etwas weniger lahm zu sein schien, einen un—
geschickten Sprung vorwärts machte und einen Abhang hinunter—
rollte. Der Fuchs, immer hinterdrein, packte sie beinahe beim Schwanze,
aber sonderbar genug, so schnell er auch lief und sprang, sie schien
doch noch schneller zu sein. So etwas war dem alten Straßenräuber
noch nicht begegnet. Eine flügellahme Fasanenhenne und er, Reineke,
der Schnellfüßige, konnte sie in einem Rennen von fünf Minuten
nicht einholen. Es war eine Schandel Der Fuchs verdoppelte seine
Anstrengungen, jedoch der Fasan schien in demselben Maße an
Kraft zuzunehmen, und nach einem Wettlauf von einer Viertelmeile
war der Vozel auf unerklärliche Weise wieder ganz gesund, er er—
hob sich mit einem beinahe verächtlich klingenden Schwirren und
flog durch die Wälder davon, den Verfolger vollkommen sprachlos
hinter sich zurücklassend, mit der niederdrückenden Erkenntnis, daß
man ihn zum Narren gehabt.
Mittlerweile schwebte die Fasanenmutter in einem weiten
Bogen nach der Stelle zurück, wo die Kleinen im Unterholz ver—
steckt waren.
Mit dem feinen Ortssinn des wilden Vogels ließ sie sich auf
demselben Flecke nieder, von dem sie aufgeflogen, und stand einen
Augenblick still, um voll Mutterstolz die vollständige Ruhe ihrer
Kinder zu bewundern. Selbst bei ihrem VNahen rührte sich keins,
auch der kleine Bursche auf dem gelben Blatt, der schließlich gar
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nicht so schlecht verborgen war, regte sich nicht, sondern schloß die
Augen nur ein klein wenig fester, bis die Mutter rief:
„Kr —⸗ ietl“ (Kommt, Kinderl) und wie in einem Märchen schlüpfte
aus jedem Coch ein Fasanenkind heraus. Der winzige Geselle auf
dem Blatte, der dickste von allen, öffnete seine großen Augen und
flüchtete mit einem zarten „Piep, Piep“ unter den Schutz der mütter⸗
lichen Flügel. Ein Feind hätte es drei Schritte weit nicht ver⸗
nehmen können, der Mutter feines Ohr jedoch hätte es in einer
dreimal größeren Entfernung gehört.
Die Mittagssonne brannte heiß. — Durch eine Lichtung führte
der Weg gerade zum Wasser hinab, und nachdem die Mutter ängstlich
nach Feinden ausgespäht, sammelte sie die Kleinen unter den Schatten
ihres ausgebreiteten Fächerschwanzes, um sie vor der Gefahr des
Sonnenstiches zu beschirmen, und wandelte langsam den Pfad hinab,
bis sie den Schutz eines wilden Rosenstrauches am Flusse erreichten.
Ein Hase sprang aus dem Busche hervor und jagte ihnen einen
gewaltigen Schrecken ein. Doch er trug ja die weiße Friedensfahne
und war ein alter Freund, und die Mutter belehrte die Kleinen,
daß der Hase immer unter der Flagge des Friedens segelt und ein
harmloser, friedliebender Nachbar ist.
Dann kam der Trunk vom reinsten fließenden Wasser, obgleich
es einfältige Menschen den Schlammbach nannten.
Zuerst wußten die kleinen Kerle nicht, wie sie es anfangen sollten,
doch sie ahmten einfach ihrer Mutter nach, und bald hatten sie
gelernt zu trinken, wie sie, und dankten ihrem Schöpfer nach jedem
Schluck mit einem Blick gen Himmel. In einer Reihe standen sie am
Ufer entlang, zwölf goldbraune, flaumige Unäulchen auf vierund⸗
zwanzig rosenroten Beinchen und einwärts gestellten Watschelfüßen,
mit zwölf süßen, goldenen Köpfchen, die sie ernsthaft niederbeugten,
um zu trinken, und erhoben, um zu danken, gerade wie die Mutter.
Dann führte sie die Kleinen nach kurzem Aufenthalt auf eine
entfernte Wiese, wo sich ein mit Gras bewachsener Erdhügel erhob,
den sie vor einigen Tagen entdeckt hatte. Eine ganze Anzahl solcher
Erdhügel sind nötig, um eine Fasanenbrut großzuziehen, und die
Erbauer davon sind die Ameisen. Die Alte sprang auf die Spitze
des Haufens, sah sich vorsichtig einen Augenblick um und scharrte
dann einige Male kräftig mit ihren Krallen. Der lockere Ameisen—
hügel war aufgebrochen, und die kunstvoll erbauten Galerien rollten
als Ruinen herab. Sofort begannen die Ameisen zu schwärmen
und planlos durcheinander zu rennen; einige liefen mit großer
217
Kraftanstrengung und wenig Zweck immerfort um den Hügel herum,
während andere, und dies waren die Vernünftigeren, ihre fetten
weißen Eier fortschleppten.
Der alte Fasan pickte eines von diesen saftig aussehenden Beutelchen
auf, gluckste und ließ es fallen, pickte es wieder auf, gluckste und
verschluckte es dann. Die Jungen standen herum und sahen ver—
wundert zu. Ein kleiner gelber Kerl, derselbe, der auf dem Blatte
gesessen, pickte ein Ameisenei auf, ließ es mehrere Male fallen,
dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, schluckte er und konnte
fressen. Nach zwanzig Minuten verstand es selbst das Uleinste,
nach den köstlichen Eiern zu haschen. Die Mutter öffnete noch mehr
Ameisengänge, und die Hühnchen fraßen, bis jedes seinen kleinen
Kropf so vollgestopft hatte, daß es tatsächlich mißgestaltet war.
Dann wanderten sie langsam und bedächtig stromaufwärts nach
einer mit Dornbüschen bewachsenen Sandbank, lagen dort den ganzen
Nachmittag und ließen sich den feinen, kühlen Sand durch die heißen
Zehen rieseln. Mit ihrem ausgesprochenen Nachahmungstrieb lagen
sie auf der Seite wie ihre Mutter, scharrten mit ihren kleinen
Füßen und schlugen mit den Flügeln, obwohl sie eigentlich noch
gar keine besaßen. Versteckt unter dem weichen Flaum saßen kleine
Anhängsel, wo die Flügel einst wachsen sollten. Am Abend führte
die Alte ihre Kinder nach einem nahen trocknen Dickicht. Dort
zwischen raschelnden, abgestorbenen Blättern, die das lautlose Heran—
schleichen eines Feindes zu Fuße verhinderten, und unter den dichten,
stachligen Zweigen eines wilden Rosenbusches, der alle fliegenden
Feinde abhielt, bettete sie die Kleinen unter dem Federdach ihrer
Kinderstube. Das Herz erfüllt mit treuer Mutterliebe, erfreute sie
sich an den kleinen zusammengekauerten Dingerchen, die im Schlaf
piepsten und sich vertrauensvoll an ihren warmen Körper schmiegten.
Ernst Seton Thompson.
119. Das Huhn und der Karpfen.
Auf einer Meierei, Es war ein Teich dabei,
da war einmal ein braves Huhn; darin ein braver Karpfen saß
das legte, wie die Hühner tun, und stillvergnügt sein Futter fraß;
an jedem Tag ein Ei der hörte das Geschrei,
und kakelte, wie's kakelte,
mirakelte, mirakelte,
spektakelte, spektakelte,
als ob's ein Wunder seil als ob's ein Wunder seil
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Da sprach der Karpfen frei:
„Alljährlich leg' ich 'ne Million
und rühm' mich des mit keinem Ton;
wenn ich um jedes Ei
so kakeln wollt',
mirakeln wollt',
spektakeln wollt';
h
was gäb's für ein Geschreil heinrich Seidel
120. Wanderleben.
Noch prangen Flur und Hain im Blumenschmuck, und
eine Fülle der reichsten Gaben bietet gerade jetzt die Natur
in den heranreifenden Früuchten. Als allererstes Zeichen der
nahenden rauhen Jahreszeit folgt dem noch glühendheißen
Tage eine eisigkalte Nacht. Und während die heitre Welt
der Gefiederten uberall sich des vollen Wohlseins zu erfreuen,
im Uberfluß zu schwelgen und des Lebens Annehmlichkeiten
zu genießen scheint — da, nur wahrnehmbar für den Blick
des aufmerksamen Beobachters, verschwinden schon die ersten
Zugvõögel, die eigentlichen Sommergãste, aus unseren Fluren
und treten die Reise nach der fernen Winterherberge an;
zuerst die Blauraxe oder Mandelkrãhe, der Pirol oder Pfingst-
vogel, der Segler oder die Turmschwalbe, die Nachtschwalbe,
der Wiedehopf, die Uferschwalbe, nach wenigen Wochen folgt
der Kuckuck, und bald brechen sie immer zahlreicher an
Arten und in immer vielköpfiger werdenden Scharen auf, die
leichtbeschwingten Wanderer.
Sobald die Sommerfruchte mehr und mehr eingeerntet,
die Obstbaume in den Gärten und dann auch die Felder
leerer werden, rüsten sich die Zugvögel in immer zunehmender
Artenmannigfaltigkeit zur bevorstehenden VWanderung, und
je mehr wir uns dem Beginn des Herbstes nähern, desto reg-
samer werden die reisenden Võgel. Nach beendeter Brut-
zeit schweifen fast alle, selbst die Stand-, mehr natürlich die
Strich- und Zugvögel, familienweise umher, bis sie sich zu
Flũgen, Schwärmen und zuletzt wohl gar zu Scharen von
unermeßlicher Kopfzahl ansammeln. So können wir die
Finkenvögel in den Gemusegarten schauen, wie sie an den
Samereien schmausen, Ammern und Sperlinge, die in das
reisende Getreide einfallen, Krĩhen und Dohlen, die sich zum
gemeinsamen Ubernachten auf Kirchtürmen oder hohen
Baumen einfinden, Stare, velche sich auf den Wiesen umher-
tummeln und abends im Rohrdickicht einkehren, Schwalben,
die von den Dächern hoher Gebäude oder von den Tele—
graphendrãhten aus ihre Flugübungen abhalten.
Unmerklich treten dann die Vanderer die Reise nach dem
Sũuden an, und zwar die wenigsten in einzelnen Köpfen, mehrere
in Familien, und die meisten in mehr oder minder großen
Scharen. Manche Arten wandern in getrennten Geschlechtern,
zuerst die Weibchen mit den Jungen, und um einige Vochen
spãter die Männchen, s0 z. B. die Edelfinßen. Zum nahenden
Herbst hin erblicken wir am fernen Horizont Kraniche oder
andere große Vandervöõgel in seltsamem Dreieck dahinschwe-
bend, während ihre Trompetenrufe zu uns herüber schallen;
Stõrche gleiten in malerischen Schraubenlinien von dannen, die
meisten kleineren Võgel reisen in ungeordneten Flüugen. Mit
dem Oktober wird der Aufbruch allgemein; auch die kräftig-
sten begeben sich nach und nach auf die VWanderung, und je
nach der Witterung gehen sie vorwärts, nicht selten aber
auch wieder auf ziemlich weite Strecken zurück. Die Stare
kommen nach wochenlangem Umherstreichen wie zum Ab-
schied zu den Nissthöhlungen, schlüpfen aus und ein, singend
und jubelnd, als wollten sie zu einer neuen Brut sich rüsten,
bis sie nach wenigen Tagen doch plötzlich über Nacht ver-
schwunden sind.
Auf bestimmten VWegen geht die Vanderung der Vögel
dahin; aus der Heimat zunächst süd- und südwestwärts,
weniger sudostwärts, dann, wenn Hindernisse eintreten, wie
Gebirge, große Valdungen oder Wasserflächen, weiter durch
bestimmte Pãsse, gleichviel, ob diese im Zickzack und manch-
mal geradezu nach rückwärts führen. Gewisse Ruhepunkte
werden von außerordentlich vielköpfigen Scharen aufgesucht,
s0 2. B. die Insel Capri und die sudlichen Bergeshänge in
allen europaischen Ländern am Mittelmeer.
Die Wanderscharen der meisten hochnordischen Vögel
kommen nur bis zu uns nach Deutschland, bis Mittel- oder
höchstens Südeuropa. Auch von den bei uns heimischen
Zugvögeln gehen manche, wie Star, Lerche, Saatkrähe, ge-
wöhnlich nur bis Südeuropa. Die bei weitem größte Anzahl
aller Wandervögel überhaupt überfliegt das Mittelmeer und
210
220
zieht bis mehr oder minder tief nach Afrika hinein, einige,
wie 2z. B. die Schwalben, so weit, dabß die Forschung ihre
eigentlichen Winterherbergen noch gar nicht ermittelt hat.
In derselben Reihenfolge, wie der Abzug, findet die
Rũckreise statt, selbstverständlich jedoch im umgekehrten
Verhältnis, so daß also die bei uns zuletzt aufbrechenden
Võgel aus der Fremde zuerst zurückkehren und unsere zuletzt
ankommenden Sommergãste am frühesten davoneilen und
somit die kũrzeste Frist bei uns verweilen. x
arl Ruß.
121. Vertrauen.
„Sag an, o lieber Vogel mein,
sag an, wohin die Reise dein?“
Weiß nicht, wohin,
mich treibt der Sinn,
drum muß der Pfad wohl richtig sein.
„Sag an, o liebster Vogel, mir,
sag, was verspricht die Hoffnung dir ?“
Ach, linde Cuft
und süßen Duft
und neuen Lenz verspricht sie mir.
„Du hast die schöne Ferne nie
gesehen, und du glaubst an sie?“
Du fragst mich viel,
und das ist Spiel,
die Antwort aber macht mir Mühl
Nun zog in gläubig-frommem Sinn
der Vogel übers Meer dahin,
und linde Cuft
und süßer Duft,
sie wurden wirklich sein Gewinn. Friedrich Hebbel.
122. Meine Kostgänger im Winter.
Auch in diesem Winter sollen meine gefiederten Sänger ihren
Futterbaum haben.
Diese kleine Fichte hier habe ich dazu ausersehen. So — jetzt ist sie
an der Brüstung des Balkons fest. Nun das Futter herbei. Hanf
wird gebrochen, gekochtes Fleisch fein zerteilt, getrocknetes Weißbrot
221
zerrieben, und Hholunderbeeren werden gequetscht. Wenn das alles
mit Mohn und Hirse gemischt ist, wird es in siedenden Talg ein—
gebettet. Löffelweise bringe ich dann die heiße Masse auf die
Nadeln. Nun mag der Sturm schütteln, die Nadeln halten das
Futter fest. Fällt Schnee, so genügt's, an die Zweige zu klopfen,
und das Futter ist wieder frei. Die Brot- und Fleischteilchen sind
überdies so gut eingebettet, daß sie sich nicht durchfeuchten und nicht
mit Eis durchziehen. Gefrorenes Futter würde meinen Tierchen
auch schlecht bekommen.
Und nun solltest du sehen, wie mein Weihnachtsbäumchen fast keine
Minute des Tags der munteren Gäste entbehrt. Zehn Vogelarten
sind seine beständigen Besucher, gewissermaßen seine Stammgäste.
Von den Meisenarten die Kohl-, Blau- Tannen- und Sumpf⸗
meise. In allen nur denkbaren Stellungen turnen die beweglichen
Vögel an den schwanken Zweigen herum, ganz wie sie es draußen
im Wald gewöhnt sind. Eine Cust ist's, ihnen zuzuschauen, wie
sie mit dem kleinen, spitzen Schnäbelchen auch das verborgenste
Krümchen zwischen den Nadeln herausklauben, wie sie, wenig scheu,
mit ihren blitzenden Üuglein den Beobachter anschauen, der ihrem
munteren Treiben lauscht. Und wenn die Sonne die Wolken durch—
bricht, welch herrliches, überraschendes Farbenbild! Die Blaumeisen
sind von fast tropischer Pracht, und dabei welch zarte Übergänge
von blau in grün, von grün in gelbl
Jetzt kommt ein Pärchen des Kleibers herbei. Du erkennst die
Vögel sofort an dem langen, kräftigen Schnabel und dem kurz zu—
gestutzten Schwänzchen. Hastig schlucken sie Bissen auf Bissen, bis
sie einen besonders großen Brocken erschaut haben; hurtig geht's mit
ihm fort bis zum nächsten Baum, wo sie ihn einklemmen in einen
Spalt der Rinde, um ihn gelegentlich in Ruhe zu verzehren. Buch—
finken stellen sich ein, Männchen mit der schön geröteten Brust und
Weibchen im einfachen, aber hübsch gezeichneten Kleide. Ihre Ver⸗
wandten, die Grünlinge mit den lebhaft gelben Citzen am Flügel—
rande, kommen in großen Trupps von der nahen Linde herbei, wo sie
schon lange Ausschau nach einem Bissen hielten. Robuste Gesellen
sind es, kurz von Gestalt, mit dickem, kräftigem Schnabel und
kurzen, strammen Füßen. Wenn sie einfallen, bleibt für die andern
nicht viel übrig.
Amseln suchen am Boden die Krümchen auf, die herabfielen,
und Sperlinge fehlen natürlich auch nicht; sie kommen meist in
ganzen Scharen, denn der einzelne ist mißtrauisch und furchtsam.
—
222
Sollen wir sie wegjagen? Mein Gottl der Hunger tut weh, und
namentlich die Feldsperlinge mit ihrem braunroten Räppchen sind
doch auch ganz niedliche Geschöpfe. Freilich, wenn diese Gäste so
scharenweis kommen, dann geht's unserm Bäumchen nicht anders
als dem Christbaum, den nach dem Feste die Eltern den KUleinen
preisgeben, und die fürsorgliche Hausfrau mag nur wieder die
Pfanne mit dem Futterstoff aufs Feuer stellen, um all die hungrigen
Schnäbel zu sättigen.
Als seltenere Gäste kommen ab und zu auch ein paar Hauben—
meischen mit dem zierlichen Federstutz auf dem Scheitel, ein Rot—
kehlchen, das es gewagt hat, den harten Winter bei uns auszuhalten,
selbst der große Buntspecht hat sich wiederholt schon eingestellt, und
auch der dickköpfige Kirschkernbeißer mit den schwarzblauen Federn
am Flügel, fein gekräuselt, als sei er eben aus einem Friseurladen
gekommen, ist schon bei uns Gast gewesen.
Sieh nur, wie mäuschenstill die Buben und Mädchen hervor—
lugen hinter dem Vorhang, leuchtenden Auges und so froh, daß
den armen Vöglein der Tisch gedeckt ist auch von ihrer kleinen
Handl Spielend lernen die Kinder dabei ihre Lieblinge kennen;
der kleine Heinz von meinem Nachbar, sechs Jahre ist er alt, weiß
schon all ihre Namen. Martin Braeß.
123. Das Zeiselein.
Es war ein niedlich Zeiselein,
das träumte nachts im Mondenschein,
es säh' am Himmel Stern bei Stern,
davon wär' jeder ein Hirsekern.
Und als es geflogen himmelauf,
da pickte das Zeislein die Sterne auf.
Wie war das im Traume so liebl
Und als die Sonne beschien den Baum,
erwachte das Zeislein von seinem Traum.
Es wetzte das Schnäbelchen her und hin
und sprach verwundert in seinem Sinn:
„Nun hab' ich gepickt die ganze Nacht
und bin doch so hungrig aufgewacht.
Pins
3 4 41 nal⸗
Das ist mir ein närrisches Dingl vili Vlilhuen.
223
124. Der Findling.
Am Feldrain liegt ein großer Block, von wilden Rosen
und Brombeeren umrankt, an den die Pflugschar, als er noch
tief im Acker verborgen lag, gestoßen war. Dabei hatte er
sich ein wenig gedreht und bildete im nächsten Jahr schon
ein Hindernis für die Bestellung des Bodens. Der Knecht
behauptete, daß der Stein im Boden wachse; denn immer
höher hob ihn der Ackerpflug, bis er ausgegraben werden
mubte und nun zwischen den anderen Lesesteinen aufgerich-
tet wurde.
Fremdartig, als ob er nicht in die Landschaft gehöre,
liegt er jetzt da, und wenn auch der Novembersturm über
ihn hinwegbraust, venn dichtes Schneegestöber ihn ein—
hüllt, oder wenn im Sommer die Julisonne ihn erwärmt, —
das alles rührt und verändert ihn nicht; denn vor unvordenk-
lichen Zeiten haben ihn so eisige Stürme umtobt, daß ihm
alles, was er jetzt erlebt, wie ein Kinderspiel erscheint.
Zwar erzahlt er seine Lebensgeschichte nicht jedem Wand-
rer, der achtlos an ihm vorübergeht; wer aber die Schrift
zu lesen vermag, die ihm deutlich aufgeprägt ist, der er-
fãhrt von wunderbaren Schicksalen und seltsamen Gescheh-
nissen.
Sehen wir uns das Gefüge des Gneisblockes etwas näher
an, der aus fleischroten Lagen glitzernder Feldspatkristalle
und wellig gebogenen Zwischenschichten von schwarzgrüner
Hornblende besteht, so fällt uns schon auf, daß in der weiten
Umgebung diese Gesteinsart nicht zu finden ist. Mögen wir
durch die malerischen Täler des nahen Gebirges bis zu den
höchsten Granitkuppen emporsteigen und auf alle Steinarten
achten, die an den Felswänden zutage treten, nirgends beob-
achten wir eine ähnliche Felsart in unsrer Heimat.
Aber auf dem Friedhof steht ein Grabdenkmal, dessen
Sockel aus einem verwandten Gestein gefügt ist, und wir
wissen, daß dieser Block aus einem schwedischen Steinbruch
stammt. Aber wie ist es möglich, daß der mächtige Findling
von Schweden hierher zu uns gekommen ist; gibt es eine
Kraft, die imstande wäre, eine so gewaltige Last Hunderte
von Meilen zu tragen? Wahrend wir darüber nachdenken,
betrachten wir die Oberflache des Blockes etwas genauer
224
und sehen, daß er nicht nur wie ein im Wasser gerollter
Block geglãttet, sondern außerdem mit haarscharfen parallelen
Kritzen bedeckt ist. Sie könnten vielleicht von der Pflug-
schar erzeugt sein, die seine Oberfläche furchte, aber wenn
wir diese Kritzen auch auf seiner Unterseite beobachten, dann
muüssen wir diesen Erklärungsversuch fallen lassen.
Eine nahe Sandgrube gibt uns Gelegenheit, die lockeren
Erdmassen zu untersuchen, die den Boden des Ackers bilden
und in die unser Block vorher eingebettet war. Da sehen
wir einen grauen Lehm, und wenn wir ihn zwischen den
Fingern zerreiben, spüren wir große und kleine Sandkörner,
die mit der Tonmasse innig gemischt sind. Kleine und
große Steine, die weite Strecken geschoben sind, und die
man daher als Geschiebe bezeichnet, sind regellos in dem
sandigen Lehm verteilt.
Betrachten wir eine Wand dieses Geschiebelehms, die
lãngere Zeit dem Regen ausgesetzt war, so sehen wir, wie
das fließende Vasser seine Gemengteile rasch nach Größe
und Schwere sortiert: die groben Geschiebe bleiben am Fuß
der Wand liegen, der feinere Grus und Sand wird etwas
weiter getragen, und die feinsten tonigen Bestandteile werden
im trüben Wasser des nahen Baches davongeschwemmt.
Wenn wir sehen, daß im Geschiebelehm Steine, Grus, Sand
und Ton innig gemischt miteinander abgelagert worden
sind, dann dürfen wir nicht annehmen, daß das fließende
WVasser bei seiner Bildung eine Rolle gespielt habe.
Und nun betrachten wir die Geschiebe, die aus der grauen
Lehmwand hervorschauen, und sehen mit Uberraschung, daß
die meisten derselben auf fremden Ursprung hindeuten.
Feuersteine, wie sie in der Kreide von Rügen so häufig sind,
Granitarten von Schweden, Norwegen und Finnland, uralte
Kalksteine mit bezeichnenden Versteinerungen, wie sie auf
der Insel Gotland gefunden werden, und Basaltstücke, die
von Schonen stammen mussen, erkennen wir in solcher Menge,
daß die nordische Herkunft des Geschiebelebhms uns nicht
mehr zweifelhaft sein kann.
Aber während wir so die Geschiebe untersuchen, machen
uns die Arbeiter der Sandgrube darauf aufmerksam, daß in
einer besonders sandreichen Schicht bisweilen seltsame
Knochen gefunden werden. Das Glück ist uns günstig, und
nachdem wir längere Wochen hindurch immer wieder die
knochenreiche Sandschicht durchsucht haben, liegt vor uns
eine ganze Anzahl der stark verwitterten Knochenreste. Sorg-
sam haben wir darauf geachtet, Kieferreste mit Zahnen, Gelenk-
stücke und Geweihe zu bekommen, und jetzt enthüllt sich vor
uns ein wunderbares Bild der Tiere, die in unsrer Heimat
lebten, als der nordische Geschiebelehm abgelagert wurde.
Am auffallendsten sind uns die Geweihsstücke von Renn-
tieren. Daneben bemerken wir das gewaltige Gebiß eines
Eisbãren und die riesigen Stoßzahne des Mammut. Wenn auch
die jetzt lebenden Elefanten ein warmes Klima bevorzugen,
so zeigt doch die Verbreitung der Mammutknochen, daß dieser
ausgestorbene Elefant nur in einem kalten Klima gedieh.
Daß mit ihm zusammen ganze Herden von Nashörnern mitten
zwischen Eis und Schnee lebten, geht aus den gefalteten Back-
zahnen hervor, die zwischen den Elefantenresten auftreten.
Mit doppeltem Eifer untersuchen wir jetzt alle Vinkel der
Sandgrube und entdecken darin eine kohlige Zwischenlage,
deren dünne Schichtflachen das zierliche Geäder kleiner
Laubblàttchen erkennen lassen. Es sind Uberreste der Zwerg-
birken, die jetzt noch wie niedriges Heidekraut die schnee-
igen Hochebenen Norwegens überziehen und zwischen denen
die Flechten gedeihen, die den Renntieren zur Nahrung dienen.
So fũgen wir eine Beobachtung an die andre, und vor
unsren Augen erscheint immer deutlicher ein wunderbares
Gemãlee jener Zeit, in welcher der große Findling seine
seltsame Reise aus Skandinavien in unsre Heimat vollzog.
Es war eine Zeit, da bedeckte sich ganz Nordeuropa mit un-
geheuren Schneedecken, kein Sommer unterbrach die lange
Winterszeit, graue Nebelwolken verhüllten die Warmestrahlen
der Sonne. So konnte der Schnee nicht tauen, und in jedem
Jahr schichteten sich neue Schneelagen über die weiße Decke.
Hõher und höher wuehs die Schneemasse empor, und wie
wir lockeren Schnee zum eisharten Schneeball zusammen-
drũcken, so preßte die gewaltige Masse die tieferen Schnee-
lagen zu blauem Eis, das wie ein zäher Kuchen langsam nach
Suden vordrang. Rasch war das flache Becken des Ostsee-
gebietes überschritten, und durch Schleswig, Mecklenburg,
Pommern und Ostpreußen drangen die Eisstrõme nach Mittel-
deutschland herein.
Weimar. Lesebuch IIL,2.
225
15
226
Die grünen Walder, die vorher unsre Heimat bedeckt
hatten und von einer reichen Tierwelt belebt waren, gingen
zugrunde. Zwergbirken und Renntierflechten breiteten sich
aus, und mit dem Eise kamen die Tiere des Nordlandes,
die mit dieser kümmerlichen Nahrung zufrieden waren.
Aber wãhrend dies an der Oberfläche geschah, arbeiteten
die fliebenden Eisdecken uüberall am Felsengrund, brachen
zackige Spitzen des Untergrundes ab, ergriffen die umher-
liegenden Blõcke, bedeckten sie mit Schliffen und Kritzen
und trugen sie, in der blauen Eismasse eingeschlossen, nach
Sũden.
Viele Jahrtausende herrschte die gewaltige Schnee- und
Eiszeit, und wenn sich auch das winterliche Klima bisweilen
milderte, so vermochte doch die Sonne lange Zeiten hin-
durch nicht, die Schnee- und Eisdecken zu schmelzen. So
kamen die schwedischen Blõcke bis in unsre Heimat, und als
endlich die Sonne machtvoll durch die Nebelwolken brach
und die riesigen Eismassen tauten, da blieb von Schweden
bis nach Sachsen und Thüringen ein seltsamer Bodensatz
zurũuck, ein grauer Tonschlamm, mit Sand durchmischt und
mit großen und kleinen Steinen gespickt. In ihm versanken
die letzten Vertreter einer sterbenden Tierwelt, und in sumpfi-
gen Wasserlachen trieb der Vind die kleinen Blättchen der
Pflanzenwelt zusammen, von denen jene gelebt hatten.
Uber die Flachen des Geschiebelehms zieht jetzt der Pflug
seine Furchen, wogende Kornfelder sprießen aus dem frucht-
baren Boden, und im Sonnenschein jubiliert die Lerche, als
ob alles, was früher geschehen, ein Traum sei.
Aber der trotzige Findling ist aus dem Boden empor-
gestiegen und erzahlt jedem, der seine Sprache versteht, von
einer längst verflossenen Urzeit. ohannes Malther.
125. Der Bauer und sein ind.
Der Bauer steht vor seinem Feld
und zieht die Stirne kraus in Falten:
„Ich hab' den Acker wohlbestellt,
auf reine Aussaat streng gehalten;
nun seh' mir eins das Unkraut anl
Das hat der böse Feind getan.“
Da kommt sein Knabe hochbeglückt,
mit bunten Blüten reich beladen;
im Felde hat er sie gepflückt.
Kornblumen sind es, Mohn und Raden;
er jauchzt: „Sieh, Vater, nur die Prachtl
Die hat der liebe Gott gemacht!“ Inllus Slnem.
126. Die Nützlichen.
„Unkraut seid ihr“, sprachen ühren
zu der Korn- und Feuerblume;
„und ihr dürftet euch vermessen
selbst von unserm Boden nähren?“
„Wir sind freilich nicht zum Essen,
wenn das einzig hilft zum Ruhme“,
sagten diese Wohlgemuten;
„aber wir erblühn hieneben,
euer Einerlei, ihr Guten,
mannigfarbig zu beleben.“
Abraham Emanuel Fröhlich.
127. Die Einführung der Kartoffeln.
Ich mochte wohl ein Bürschchen von fünf oder sechs Jahren sein
und noch in meinen ersten Höschen stecken, also etwa ums Jahr
1743 oder 44, als es hier bei uns und im Lande weit umher eine
so schrecklich knappe und teure Zeit gab, daß viele Menschen vor
Hunger starben; denn der Scheffel Roggen kostete einen Taler acht
Groschen. Es kamen von landeinwärts her viele arme Leute nach
Kolberg, die ihre kleinen hungrigen Würmer auf Schiebkarren mit
sich brachten, um Korn von hier zu holen, weil man Getreideschiffe
in unserm Hafen erwartete, die der grausamen Not steuern sollten.
Alle Straßen bei uns lagen voll von diesen unglücklichen, ausgehunger⸗
ten Menschen. Meine Großmutter, bei der ich erzogen ward, ließ
täglich mehrere Körbe voll Grünkohl in unserm Garten pflücken,
kochte einen Uessel voll nach dem andern für unsre verschmachtenden
Gäste, und mir ward das gern übernommene Ehrenämtchen zuteil,
ihnen diese Speise in kleinen Schüsseln nebst einer Brotschnitte zu—
zutragen. Da rissen mir denn Alte und Junge meinen VNapf be—
gierig aus der Hand oder auch wohl einander vor dem Munde
weg. Ich kann nicht aussprechen, welch einen schauderhaften Ein—
druck diese Auftritte auf meine kindliche Seele machten.
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Im nãchstfolgenden Jahre erhielt Kolberg durch des großen
Friedrichs vorsorgende Güte ein Geschenk, das damals hierzulande
noch völlig unbekannt war. Ein großer Frachtwagen voll Kartoffeln
langte auf dem Markte an, und durch Crommelschlag erging die
Bekanntmachung, daß jeder Gartenbesitzer sich zu einer bestimmten
Stunde vor dem Rathause einzufinden habe, indem des Königs
Majestät ihm eine besondere Wohltat zugedacht habe. Man ermißt
leicht, wie alles in stürmische Bewegung geriet, und das nur um
so mehr, je weniger man wußte, was es mit diesem Geschenke zu
bedeuten habe. Die Herren vom Rate zeigten nunmehr der ver—
sammelten Menge die neue Frucht vor, die hier noch keiner gesehen
hatte. Daneben ward eine umständliche Anweisung verlesen, wie
diese Kartoffeln gepflanzt und bewirtschaftet, desgleichen wie sie ge—
kocht und zubereitet werden sollten. Besser freilich wäre es gewesen,
wenn man eine solche geschriebene oder gedruckte Anweisung gleich
mit verteilt hätte; denn nun achteten in dem Getümmel die wenigsten
auf jene Vorlesung. Dagegen nahmen die guten Leute die hoch—
gepriesenen Unollen verwundert in die Hände, rochen, schmeckten
und leckten dran; kopfschüttelnd bot sie ein Nachbar dem andern;
man hrach sie voneinander und warf sie den gegenwärtigen Hunden
vor, die daran herumschnupperten und sie gleichmäßig verschmähten.
Nun war ihnen das Urteil gesprochenl „Die Dinger“, hieß es,
„riechen nicht und schmecken nicht, und nicht einmal die Hunde mögen
sie fressen. Was wäre uns damit geholfen?“ — Am allgemeinsten
war dabei der Glaube, daß sie zu Bäumen heranwüchsen, von welchen
man zu seiner Feit ähnliche Früchte herabschüttele. Alles dies ward
auf dem Markte, dicht vor meiner Eltern Tür verhandelt, gab auch
mir genug zu denken und zu verwundern und hat sich darum auch,
bis aufs Jota, in meinem Gedächtnis erhalten.
Inzwischen ward des KNönigs Wille vollzogen und seine Segens—
gabe unter die anwesenden Garteneigentümer ausgeteilt, nach Ver—
hältnis ihrer Besitzungen, jedoch so, daß auch die Geringeren nicht
unter einigen Metzen ausgingen. Kaum irgend jemand hatte die
erteilte Anweisung zu ihrem Anbau recht begriffen. Wer sie also
nicht gerade in seiner getäuschten Erwartung auf den Kehrichthaufen
warf, ging doch bei der Auspflanzung so verkehrt als möglich zu
Werke. Einige steckten sie hier und da einzeln in die Erde, ohne
sich weiter um sie zu kümmern; andere (und darunter war auch
meine liebe Großmutter mit ihrem ihr zugefallenen Viert) glaubten
das Ding noch klüger anzugreifen, wenn sie diese Kartoffeln bei—
228
—9
sammen auf einen Haufen schütteten und mit etwas Erde bedeckten.
Da wuchsen sie nun zu einem dichten Filz ineinander, und ich sehe
noch oft in meinem Garten nachdenklich den Fleck drauf an, wo
solchergestalt die gute Frau hierin ihr erstes Cehrgeld gab.
Nun mochten aber wohl die Herren vom Rat gar bald in Er—
fahrung gebracht haben, daß es unter den Empfängern viele lose
Verächter gegeben, die ihren Schatz gar nicht einmal der Erde an—
vertraut hätten. Darum ward in den Sommermonaten durch den
Ratsdiener und Feldwächter eine allgemeine und strenge Kartoffel—
schau veranstaltet und den widerspenstig Befundenen eine kleine
Geldbuße aufgelegt. Das gab wiederum ein großes Geschrei und
diente auch eben nicht dazu, der neuen Frucht an den Bestraften
bessere Gönner und Freunde zu erwecken.
Das Jahr nachher erneuerte der König seine wohltätige Spende
durch eine ähnliche Ladung. Allein diesmal verfuhr man dabei
höheren Orts auch zweckmäßiger, indem zugleich ein Candreiter mit—
geschickt wurde, der als ein geborener Schwabe des Kartoffelbaues
kundig und den Leuten bei der Auspflanzung behilflich war und
die weitere Pflege besorgte. So kam also diese neue Frucht zuerst
ins Cand und hat seitdem durch immer vermehrten Anbau kräftig
gewehrt, daß nie wieder eine Hungersnot so allgemein und drückend
bei uns hat um sich greifen können. Dennoch erinnere ich mich
gar wohl, daß ich erst volle vierzig Jahre später (1785) bei Star⸗
gard, zu meiner angenehmen Verwunderung, die ersten Uartoffeln im
freien Felde ausgesetzt gefunden habe. Joachim Nettelbeck.
128. Der Hamster.
Von Haus aus ist der Hamster ein echtes Steppentier, das sich
einst mit der kärglichen Nahrung begnügen mußte, die ihm die
unermeßlichen Grasebenen Asiens und Europas boten. Heute ist
er für manche Länder der alten Welt das ständige Tier der „Kultur⸗
steppe“, d. h. der sorgfältig bewirtschafteten ausgedehnten Ackerflächen.
Niederungen, die Überschwemmungen ausgesetzt sind, meidet er ebenso
sorgfältig wie Gebirge und Wälder. Wo er gedeihen soll, muß
der Boden leicht und womöglich lehmig sein; steiniger Grund sagt
ihm nicht zu, weil ihm dieser die Anlage seines Baues zu sehr
erschweren würde, sandiger nicht, weil sich in diesem Röhren und
Kessel nicht in der wünschenswerten Festigkeit anlegen lassen. Sonder—
barerweise fehlt der Hamster in manchen Gegenden Deutschlands
ohne erkennbare Ursache vollständig, so im Südwesten und im
220
Nordosten des Reichs. Bevorzugt werden von ihm die weiten
Ebenen Mitteldeutschlands, vor allem des KRönigreichs und der
Provinz Sachsen und Thüringens.
Nachdem ich während meiner ganzen Jugendzeit vergebens mich
bemüht hatte, die persönliche Bekanntschaft des Hamsters zu machen,
ging dieser Wunsch vor einer Reihe von Jahren an einem August—
morgen, als ich der Hühnerjagd oblag, in Erfüllung. Ich hatte
bis jetzt die ungünstigen Urteile über den kleinen Burschen nie so
recht ernst genommen und aus der heitern Färbung der mir zu
Gesicht gekommenen ausgestopften Tiere auch auf ein heiteres
Gemüt und liebenswürdige Umgangsformen geschlossen. Kein
Wunder also, daß mir die erste Begegnung mit dem Gegenstande
meiner Sehnsucht eine gewaltige Überraschung brachte. Ich schritt,
der glühenden Hitze wegen nur mit den unumgänglich notwendigen
Kleidungsstücken angetan, am Rand eines Kartoffelackers dahin und
beobachtete die Wirkung des Schusses, den mein Weidgenosse gerade
auf ein vor dem Hund aufstehendes Volk Rebhühner abgab. Da
fühlte ich plötzlich etwas wie einen Stoß gegen die Brust und sah
zu meinem Erstaunen ein zappelndes und strampelndes Wesen an
mir hängen, das sich in mein Flanellhemd so fest verbissen hatte,
daß meine Bemühungen, es loszureißen, zunächst ohne Erfolg blieben.
Erst als ich den kleinen Unhold mit der Linken am Genick packte
und ihm mit der Rechten den Patronenzieher zwischen die Kiefer
zwängte, gelang es mir, mich von ihm zu befreien und ihm den
heimtückischen Überfall gründlich heimzuzahlen. Seitdem habe ich
noch unzählige Male Gelegenheit gehabt, die maßlose Frechheit des
Hamsters zu bewundern, der gar nicht daran zu denken scheint, vor
einem so großen Gegner wie einem Menschen das Hasenpanier zu
ergreifen, sondern ihn unter drohendem Fauchen einfach „stellt“, als
ob er mit dem Mut eines Löwen auch dessen Körperkraft vereinte.
Mit der gleichen Wut wendet sich das Cierchen auch gegen die
Hunde, und diese müssen gewöhnlich erst ein gehöriges Lehrgeld
zahlen, ehe sie den Angreifer, ohne selbst empfindlich in Nase und
Lefzen gebissen zu werden, am Kragen zu packen und abzuschütteln
gelernt haben. Wie soll man sich diese Collkühnheit eines so kleinen
Geschöpfes erklären ? Ceidet es an dem Wahne, zum Kampfe mit
Riesen berufen zu sein ? Ist sein Haß gegen alle Ureatur so groß, daß
es sich über die Stärke seines Gegners in einer wahrhaft lächerlichen
Weise täuscht? Oder hält es sich für den einzigen Besitzer des Ackers,
der es ernährt, und unter dessen Schollen es seinen Wohnsitz hat?
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21—
Ich würde die sinnlose Leidenschaftlichkeit des Hamsters für einen
Ausfluß seiner Dummheit halten, wenn er nicht anderseits wieder
so erstaunliche Beweise kluger Überlegung und zweckmäßigen Handelns
an den Tag legte. Als Architekt oder richtiger als Meister in der
Tiefbaukunst wird er von wenigen Cieren übertroffen. Dabei paßt
er seine Behausung der Jahreszeit an, so daß man recht eigentlich
von einem Sommer⸗ und einem Winterbau des Hamsters reden
kann. Der Sommerbau ist verhältnismäßig einfach und besteht nur
aus einem dreißig bis vierzig Zentimeter unter der Erdoberfläche
liegenden, mit weichen Stoffen ausgepolsterten Ressel, der durch eine
schräge Ausfahrtröhre und einen senkrechten Einfallschacht mit der
Außenwelt in Verbindung steht. Der Einfallschacht ist jedoch wohl⸗
weislich so angelegt, daß er unten, kurz vor der Einmündung in
den Kessel, eine Krümmung macht, wodurch verhütet wird, daß
ein etwa von einem menschlichen Störenfried in den Schacht ge⸗
stoßener Stock den kleinen Hausbesitzer in seinem Wohn- und Schlaf⸗
gemach unsanft berührt. Eine solche Sommerwohnung wird all—
jährlich im März, spätestens im April, wenn der Hamster seine
Winterresidenz verlassen hat, neu gegraben und zuweilen, d. h. wenn
in der Nachbarschaft reichlich Saatgetreide liegt, auch mit einer
Vorratskammer versehen. Das tun, wie es scheint, jedoch nur die
alten Männchen, denen das Einsammeln gleichsam zur zweiten
Natur geworden ist, während die Weibchen, wohl in der Vorahnung
anderer Sorgen, im Frühjahre gar nicht daran denken. Zweck hat
das Körnereintragen bei Beginn der guten Jahreszeit auch nicht,
denn der Hamster kommt bald dahinter, daß zarte Kräuter und
junges Gemüse weit besser munden, außerdem pflegt er um diese
Zeit seinen Grundsätzen als Vegetarier untreu zu werden und sich,
wo sich die Gelegenheit bietet, ein Mäuslein, einen Nestvogel oder
einen knusperigen Käfer zu Gemüte zu führen.
Mitte oder Ende Mai wirft das Weibchen sechs bis achtzehn
Junge. Die Tierchen kommen als kleine nackte und blinde, aber
mit vollständigem Gebiß ausgerüstete Scheusale auf die Welt und
bekunden ihre angeborene Unzufriedenheit mit den Einrichtungen
der Schöpfung durch ein beinahe ununterbrochenes Gewimmer. Sie
sind unglaublich früh reif, wissen, obwohl noch blind, schon am
fünften Tage die Vorderpfötchen nach Art der Alten als Händchen
zu benutzen und ein damit festgehaltenes Korn kunstgerecht zu be—
knabbern. Mit vierzehn Tagen, wenn sie noch ganz winzig sind,
beginnen sie in der Wohnung der Frau Mama bauliche Verän—
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derungen nach eigenem Geschmack anzubringen und auf eigene Faust
allerlei Löcher und Gänge zu graben. Das ist für die Alte ein
untrügliches Zeichen, daß sie sich jetzt allein durch die Welt zu
schlagen verstehen, und daß sie der mütterlichen Aufsicht entwachsen
sind. Und so macht sie denn kurzen Prozeß und jagt die lästige
Gesellschaft aus dem Hause. Von Mutterliebe kann überhaupt bei
ihr kaum die Rede sein, wie sie denn auch, ganz im Gegensatz zu
andern Tieren, ihre Sprößlinge nie gegen Angreifer verteidigt, sondern,
wenn sie Junge hat — aber auch nur dann — ihr Heil in der Flucht
sucht und sich eingräbt. Ist sie im August den zweiten Wurf ihrer
Kinder glücklich losgeworden, so geht sie mit einer Art von überstür⸗
zendem Eifer an das Einsammeln ihrer Wintervorräte, die dann, was
Güte und Menge anlangt, auch meist viel zu wünschen übriglassen.
Anders der männliche Hamster. Er bringt die Ernte nach ver—
nünftigen Grundsätzen ein und legt zu diesem Zweck eine oder mehrere
geräumige Vorratskammern an, die mit dem kleineren Wohngemach
durch einen Gang in Verbindung stehen. Sind die Speicher fertig,
so werden sie mit Getreide und Erbsen, in Gegenden, wo Flachsbau
getrieben wird, auch mit Leinknotten, gefüllt. Tritt plötzlich Kälte
ein, so beginnt die Grabarbeit von neuem, der Einfallschacht wird
ein bis anderthalb Meter tiefer getrieben und die Wohnung samt
Speisekammern in dieser Tiefe neu angelegt, was bei der Festigkeit
des Bodens keine kleine Mühe verursacht und den Hamster häufig
nötigt, beim Graben die Zähne zu Hilfe zu nehmen. Die Ernte
selbst geht in der Weise vor sich, daß das Tierchen die Halme mit
den Vorderpfoten faßt, sie niederbiegt und die Ähre abbeißt, worauf
es diese vor dem Munde hin und her dreht, zugleich entkörnt und
die von allen Hülsen gereinigten Körner in den sehr ausdehnungs—
fähigen Backentaschen sammelt. Wird ein Hamster überrascht, wenn
er seine Taschen gerade vollgepfropft hat, so ist er zunächst wehrlos,
besinnt sich aber gewöhnlich bald und entledigt sich seiner Cast, wor—
auf er dann mit dem üblichen Zähneknirschen und Fauchen auf den
Feind losgeht. Es ist eine weitverbreitete Ansicht, daß der Hamster
seine Vorräte sorgfältig sortiere, und ich selbst entsinne mich, in
der einen Vorratskammer eines Baues ausschließlich Roggen, in
den beiden andern dagegen Weizen gefunden zu haben. Eine solche
säuberliche Scheidung kann aber wohl nur darauf beruhen, daß
der Hamster erntet, was gerade reif ist, wie es denn auch oft genug
vorkommt, daß man in seinen Speichern die verschiedenen Feldfrüchte
in buntem Gemisch antrifft. Die Vorräte werden auffallend fest
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in die Uammern gepfropft und erscheinen wie aneinandergebacken.
Vielleicht werden sie beim Einsammeln reichlich mit Speichel getränkt,
der bei allen Nagetieren eine bedeutende Ulebkraft hat und sich mit
dem feinen Mehlstaube zu einer Art Stärkegummi verbindet.
Beim ersten starken Frost verschließt der Hamster die Röhren
seines Baues fest mit Erde und fällt in einen tiefen Schlaf, bei dem
sich seine Herztätigkeit auf höchstens fünfzehn Schläge in der Minute
verlangsamt. Erst im Februar erwacht er wieder und zehrt dann ein
paar Wochen lang von seinem Reichtum, von dem er nur einen kleinen
Teil verprassen kann. Seine Schädlichkeit liegt eben darin, daß er
weit mehr Getreide einheimst, als er zu seinem Unterhalt gebraucht.
Da ist es denn ein wahres Glück, daß er im Fuchs, Iltis,
Wiesel und Bussard Feinde hat, die sich durch sein drohendes Ge—
baren nicht einschüchtern lassen und ihm mit leidenschaftlichem Jagd—
eifer nachstellen. Sein schlimmster Widersacher ist jedoch der Mensch,
besonders die Art, die unter dem Namen „Hamstergräber“ im Herbste
mit Hacke, Spaten und Sack auf die Stoppelfelder hinauszieht, die
unterirdische Burg erbricht, den Burgherrn erschlägt, ihm das als
leichtes Rauchwerk beliebte bunte Pelzchen über die Ohren zieht und
seine Vorräte — sie wiegen manchmal mehr als einen Zentnerl —
nachdem sie gewaschen und getrocknet worden sind, zur Mühle trägt.
J. R. Haarhaus.
129. Einträglichstes.
„Was trägt dein Singen ein?“
bemerkt die reiche Maus
vor ihrem vollen Haus
dem muntern Vöõgelein.
„Das“, sagt's, „hab' ich davon,
was Blumen von dem Glanz,
was Welt und Wind vom Canz:
Die Freude ist mein Cohn
und Frohsinn, aller Güter Uron'!“
Abraham Emanuel Fröhlich.
130. Von des Regenwurms ehrbarem
Cebenswandel.
Wenn man des Morgens nach einer feuchtwarmen Nacht in
den Garten tritt und etwa eine lehmige Wegstelle ansieht, so wird
man darauf meist einige kleine Erdhäufchen wahrnehmen, bis
1,5 Zentimeter hoch und wurstartig gewunden. Hebt man eines
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auf, so findet man unter ihm ein in die Erde führendes Coch
von Federkieldicke. Auf bewachsenen Landflächen findet man ähn—
liche Löcher, zum Teil mit ähnlicher Bedeckung; häufiger aber
ragt aus dem Coch eine kleine Sammlung von abgefallenen und
angefaulten Pflanzenteilen hervor, Grashälmchen, Blätter, selbst
kleine Zweige. Die Blätter sind zusammengerollt und stecken fast
regelmäßig mit der Spitze im Boden. In jenen Löchern wohnt
der Regenwurm, ein Biedermann, wenn auch nicht mit glänzenden
Saloneigenschaften ausgerüstet. Die Pflanzenteilchen sind seine Futter⸗
vorräte, die er sich des Nachts betriebsam nach Hause holt. Zu
dem Ende steigt er aus seinem Coche, aber nicht ganz — das tut
er nur, wenn er in schöner Frühlingszeit mit der Regenwurmin
Mondscheinspaziergänge macht — sondern nur mit dem vordern
Körperteil. Das Schwanzende bleibt im LCoche stecken und dient
als feste Axe; um diese sich drehend, sucht er den Boden im UKreise
ab und zieht an sich, was er genießbar findet. Seine Nahrungs—
mittel sind, wie oben gesagt, sehr bescheiden, hauptsächlich abge—
fallene Blatteile; und selbst die sind ihm im frischen Zustande noch
zu hart, aber in der feuchten Atmosphäre der kleinen Höhle werden
sie rasch faulig und weich, und dann nagt er sie behaglich ab. Die
Ernte einer Nacht dient ihm für mehrere Tage, er zieht sie nur
tiefer in seine Wohnung hinab.
Der Regenwurm bohrt sich, wie man täglich sehen kann, mit
merkwürdiger Leichtigkeit in der Erde fort. Streicht man einigemal
mit dem Finger an ihm vorbei, so fühlt man bald, was ihm diese
Fähigkeit gibt. Er ist, besonders auf der Bauchseite, mit sehr kleinen,
uͤber steifen Rauhigkeiten besetzt, die alle nach hinten gerichtet sind:
vom Kopf nach dem Schwanz gestrichen, fühlt er sich ganz glatt
an, vom Schwanz nach dem Kopf rauh, wie eine Feile. Will er
nun vorwärtskriechen, so zieht er sich erst zusammen und streckt sich
dann lang aus. Das könnte auf zweierlei Weise geschehen: 1. das
Kopfende bewegt sich nach vorn, 2. das Schwanzende geht nach hinten.
Das letztere lassen aber die Rauhigkeiten nicht zu; sie geben also dem
Schwanzende einen festen Stützpunkt, und von diesem aus drückt der
Regenwurm seinen zugespitzten Kopf leicht und glatt in die Erde ein.
Wie die von ihm gefertigten Wurmröhren beschaffen sind, das
läßt sich in bröckliger Ackererde schwer erkennen. In Sand gehen sie
2 Meter senkrecht abwärts und endigen dort blind, zum Teil
mit, zum Teil ohne wagerechte Umbiegung. Am Ende sitzt der
Wurm, mit dem Kopf aufwärts; rings um ihn sind die Wände
—o
mit kleinen Steinen tapeziert. An der Röhrenwand entlang findet
man kleine schwärzliche Hervorragungen; das sind die letzten End—⸗
ergebnisse seiner Verdauung. In einem halb landwirtschaftlichen
Artikel, wie dieser ist, darf man wohl von Dünger reden; wir
wollen die schwarzen Massen den Humus des Wurmes nennen,
denn wie Humus, wie fette, schwärzliche Ackererde sehen sie aller—
dings aus und sind fruchtbar wie diese. Alte, verlassene Wurm—
röhren sind damit ziemlich regelmäßig tapeziert oder angefüllt. Bei
Versuchen von Hensen wurden Würmer in ein Glasgefäß gesetzt,
das bis 50 Zentimeter Höhe mit Sand gefüllt und darüber mit
einer Schicht abgefallener Blätter bedeckt war. Die Würmer machten
sich schnell ans Werk; nach anderthalb Monaten waren viele Blätter
bis 8 Zentimeter tief in den Sand hineingezogen; an der Oberfläche
lag eine Humusschicht von 1 Fentimeter Höhe, und im Sande waren
zahlreiche Wurmröhren, teils frisch, teils mit einem innern Humus⸗
überzug von 5 Millimeter Dicke bekleidet, teils ganz mit Humus
gefüllt.
Wenn nun Pflanzen auf einem von Würmern durchzogenen
Boden wachsen, so finden sich in den etwas älteren Röhren Wurzeln
derselben, üppig entwickelt, bis zum Ende der Röhren kriechend,
mit zahlreichen Saughaaren, die den Humus der Wände auf—
saugen. In der Tat müssen solche Röhren dem Wachstum der
Wurzeln äußerst günstig sein; sie finden daselbst Raum in der Rich—
tung abwärts, Feuchtigkeit und Nahrung. Es scheint sogar, daß
die meisten Wurzeln, namentlich die dünnen, biegsamen Saugwurzeln,
nur da in den Untergrund hinabdringen können, wo die Würmer
ihnen den Pfad vorgezeichnet haben.
Um von der Massenhaftigkeit der Wurmtätigkeit eine Vorstellung
zu bekommen, hat Hensen die Wurmlöcher in einem Garten über—
schlagsweise gezählt. Er fand auf das Hektar etwa 135000 Würmer,
die zusammen das ansehnliche Gewicht von 800 Pfund haben und
in 24 Stunden etwa 135 Pfund Humus liefern.
Im ganzen also besteht die Tätigkeit des Regenwurms darin,
daß er die Verwandlung der pflanzlichen Abfallstoffe in Dünger
beschleunigt, daß er den Untergrund auflockert, daß er den Wurzeln
Wege in diesem eröffnet und sie zugleich auf diesen Wegen mit
Nahrung versorgt. Sogar, was er selbst den Pflanzenresten für
sein Dasein entnimmt, das liefert er getreulich wieder ab; während
des CLebens atmet er es als Kohlensäure aus und setzt es als Schleim
ab — beides Dinge, welche die Pflanzen zu ihrem Wachstum ver—
235
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werten — nach seinem Tode dient sein verwesender Körper selbst
als Dünger. Daß er Wurzeln auffresse, ist reine Verleumdung; nie
findet man Reste frischer Wurzeln in seinem Magen. Der Arme
müßte verhungern, wenn er vor so hartes Futter gestellt würde.
Nun die Moral: Bis vor dreißig Jahren schlug man die Maul⸗
würfe und die Regenwürmer tot, weil sie Feinde des Candmannes
seien. Dann lernte man die Maulwürfe schonen, weil sie die Würmer
fressen. Jetzt zeigt sich, daß der Wurm eine brave UKreatur ist,
die in bescheidener Verborgenheit stille Dienste leistet, die kein
andrer ersetzen kann. Der Candmann soll ihn also als einen seiner
besten Freunde betrachten, und wenn wir alte ügypter oder Indier
wären, so müßten einige alte Damen ganz unbedingt eine fromme
Stiftung machen, um in einem Tempel ein Dutzend heiliger Regen—
würmer zu öffentlicher Verehrung ernähren zu lassen. Aber nun ist
wieder die andre Frage: Soll man die Maulwürfe nun wieder tot⸗
schlagen oder nicht? Ich denke, im allgemeinen nein; wenigstens
nicht, wo es viele Engerlinge und ähnliches Ungeziefer gibt; denn
gegen diese ist der Maulwurf unersetzbar, und wenn er auch Regen—
würmer wegfrißt, so werden die sich durch Vermehrung schon selbst
helfen. Emil Budde.
131. Das Johanniswürmchen.
Ein Johanniswürmchen saß, Leise schlich aus faulem Moos
seines Demantscheins sich ein Ungetüm,
unbewußt, im weichen Gras eine Uröte, her und schoß
eines Bardenhains. all ihr Gift nach ihm.
„Ach, was hab ich dir getan?“
rief der Wurm ihm zu.
„Eil!“ fuhr ihn das Untier an,
*
warum glanzelt du d eleb Rontad Pfeffel.
132. Feuerzauber.
Eine warme Sommernacht war's — ich besinne mich, als sei
es gestern gewesen — wir kamen vom Besuch einer befreundeten
Pfarrersfamilie auf dem Lande und fuhren im leichten Wagen
unserm Städtchen zu. Fernes Wetterleuchten am dunkeln Horizont
fesselte meine Aufmerksamkeit; dann aber, hier im niedrigen Unter—
holz am Waldesrand — was war das? hatte ich mich nicht ge—
täuscht? — Leuchtende Punkte tauchten aus dem tiefen Schatten auf;
237
in kurzen feurigen Bahnen zogen sie dahin, verschwanden und er
schienen in einiger Entfernung von neuem. Auch ruhende Cichl—
punkte lagen verstreut im Gebüsch und im Grase. Ein Sprung
vom Wagen, und ich stand mitten in der geheimnisvollen, dem
Kinde völlig fremdartigen Wunderwelt. Vorsichtig berührte ich
einen der leuchtenden Punkte zu meinen Füßen — merkwürdig, er
leuchtet so hell, und doch darf man ihn getrost aufheben, ohne die
Finger zu verbrennen.
Bald hatte ich eine ganze Anzahl gesammelt, auch von den
fliegenden Funken waren mir einige zur Beute gefallen; sie wan—
derten alle in die kleine, eigentlich für Molche bestimmte Abteilung
meiner Botanisiertrommel, die mich auf jedem Ausflug als treue
Gefährtin begleitete. Johanniswürmchen seien es, erklärte mir der
Vater.
Noch am selben Abend wurden sie beim Campenlicht untersucht,
wo ihr freundlicher Glanz erloschen schien, sich aber sofort wieder
einstellte, sobald ich die merkwürdigen Käfer — denn Würmer,
das sah ich, waren es nicht — in ihrem neuen Behältnis, einer
Glasflasche, nach einem dunkeln Winkel des Fimmers brachte.
Bei uns kommen zwei Arten von Leuchtkäfern vor, das eigent—
liche Johanniswürmchen und noch eine andre, etwas größere Art;
doch scheint letztere hier außerordentlich selten zu sein und in manchen
Sommern sogar ganz zu fehlen, während sie in Süddeutschland
häufiger auftreten soll.
Unser Johanniswürmchen zeigt einen sehr auffallenden Unter—
schied der Geschlechter. Die fliegenden Funken sind ausschließlich
die Männchen; denn nur sie besitzen Flügel und Flügeldecken, wäh—
rend die flügellosen Weibchen an den Boden gefesselt sind, wo sie
geduldig auf den Besuch ihres Verehrers harren, dem sie, wenn
man so sagen soll, ihr Lichtchen ans Fenster gestellt haben: ich
bin zu Hause und warte auf dich!
Nur der sanfte Feuerschein ist's, der uns an den nächtlichen
Tierchen gefällt; im übrigen sind es die unscheinbarsten Geschöpfe:
8 bis 9 Millimeter lang, ziemlich flach gebaut, graubraun von
Farbe und an dem kurzen Brustschild zwei gelbliche durchscheinende
Flecken. Die Weibchen mit ihren nackten Leibesringen erinnern
einigermaßen an die bekannten Kellerasseln. Das Merkwürdigste
aber sind die CLeuchtorgane. Sie haben bei den Männchen der
kleineren Art ihren Sitz in dem vor- und drittletzten hellgelben
Ringe des Hinterleibs und sind aus einer Menge dünnwandiger,
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gegeneinander vielflächig abgeplatteter Zellen zusammengesetzt, die
einen durchsichtigen, zum Teil auch trübkörnigen, fett- oder teig⸗
artigen Inhalt besitzen. Hier verzweigt sich nun eine Menge ganz
feiner, mit Cuft gefüllter Röhrchen, die den Sauerstoff zuführen,
der sich dann lebhaft mit dem Zellinhalt verbindet.
Die Weibchen am Boden fackeln noch stärker; sie senden ihr
Cicht aus nicht weniger als vierzehn Lämpchen, die paarweise auf
der Bauchseite der ersten fünf Hinterleibsringe angeordnet sind;
dazu kommt noch ein Extralämpchen auf dem dritten, zwei auf
dem fünften und eine größere, besonders helle Leuchtplatte auf dem
sechsten, dem vorletzten Ringe. In unruhigen Bewegungen drehen
und wenden die kriechenden Weibchen ihren Hinterleib, so daß das
Licht bald aufleuchtet, bald verschwindet, wie ja auch die Männchen
während des Fluges ihren Leib strecken und dann wieder einziehen,
um auf diese Weise eine Art Blinkfeuer zu erzielen.
Was hat man nicht alles schon mit den wunderbaren Geschöpfen
versucht! Man hat den Inhalt ihrer Leuchtorgane zwischen den
Fingern zerrieben: die Finger leuchteten, als habe man Phosphor
berührt; man hat die Tierchen unter Wasser gebracht: sie leuch—
teten weiter; man hat sie der Kälte ausgesetzt: bei —109 C hörte
die Herrlichkeit auf; man hat sie schön langsam wieder erwärmt:
zwischen 21 bis 48 C leuchteten sie in feuchter Cuft am hellsten.
Doch, so recht klar ist man sich auch heute noch nicht über die
Natur jenes fettartigen Stoffs, der bei der Berührung mit der
Cuft sein grünlich⸗goldenes Licht ausstrahlt.
Ja, nicht einmal über den Zweck der auffallenden Erscheinung
sind sich die Gelehrten einig. Soll das im Grase funkelnde Licht
die umherschwärmenden Männchen anlocken, wie wir's oben an—
deutetend Aber warum leuchten dann auch diese, ja noch mehr,
warum leuchten sogar schon die Carven? Wollen sie sich bereits
in der Kunst des Feuerwerks üben? Selbst Eier und Puppen sollen,
wie einige Forscher behaupten, einen matten Lichtschein ausstrahlen.
Oder ist das Licht ein Schreckmittel zum Schutz gegen Eulen, Fiegen⸗
melker, Fledermäuse und andere nächtliche Raubgesellen? Vielleicht;
denn jedermanns Sache, das glaub' ich gern, wird es nicht sein,
nach fliegenden Feuerfunken zu schnappen.
Aber manchen macht's doch nichts aus, wie die Erfahrung lehrt.
Du glänzest und funkelst wohl, du dummes Ding, denkt die Spinne,
der das Johanniswürmchen ins Netz geflogen ist, aber du brennst
nicht, und gefräßig schlürft sie den weichen Leibesinhalt des Ge—
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fangenen, als sei es eine Mücke oder Fliege. An Eidechsen habe
ich selbst meine Versuche gemacht; sie fressen die Ceuchtkäfer wie
jedes andere Insekt, und auch die Frösche sollen sich vor den
funkelnden Bissen nicht fürchten, wie eine Beobachtung Volls be—
weist, der Zeuge war, wie ein solcher Kaltblüter ein Johannis—
würmchen verschluckte. Dabei „ward der Frosch durchsichtig und
helleuchtend wie eine Caterne. Erst leuchtete der Kopf stark, nur
die Kieferknochen und besonders die Augen stachen schwarz ab.
Mit dem Weiterschlucken wurde der Hals und nach und nach der
Leib heller. Nach fünf Minuten war das Schauspiel vorüber“.
Es muß wirklich komisch ausgesehen haben. Nun Stoe
133. Im Moor.
O, schaurig ist's, übers Moor zu gehn,
wenn es wimmelt vom Heidenrauche,
sich wie Phantome die Dünste drehn
und die Ranke häkelt am Strauche,
unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
wenn aus der Spalte es zischt und singt —
O, schaurig ist's, übers Moor zu gehn,
wenn das Röhricht knistert im Hauche!
Annette v. Droste-Hülshoff.
134. Die Geschichte eines Torfmoors.
Im feuchten Grunde einer Mulde, die keinen natürlichen Wasser—
abfluß besitzt, steht ein Eichenwald; Cümpel und Lachen finden
sich zwischen den Stämmen am Boden, in nassen Feiten zusammen—
fließend, im Sommer teilweise austrocknend. Die Bäume sind
der gelegentlichen Überschwemmung gewohnt und stehen fest auf
ihren starken Wurzeln. Ihre Blätter fallen und sprießen, ihre
Stämme ragen und runden sich, und sie wachsen, unbehelligt von
Menschenhand, einer Urwaldzukunft von Jahrhunderten entgegen.
Da kommt eines Abends irgendein Käfer herangeschwirrt und
ruht sich aus, um ein winziges Nörnchen abzuputzen, das ihm
draußen beim Umherkriechen unter die Flügelchen geraten war; er
entledigt sich seiner und fliegt weiter. Und dieser Käfer hat das
Schicksal des Waldes herangetragen. Denn das winzige Körnlein
ist ein Riese an sprossender Kraft, und es wird die stolzen Eichen
begraben. Ihm ist wohl in dem Sumpf, mit Wonne saugt es die
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Feuchtigkeit ein, dehnt sich und sprengt seine Hülle. Grünliche Zell—
fäden wachsen aus ihm hervor, dann feine Würzelchen, die sich im
Boden festsaugen. Sie nähren zunächst nur eine winzige grüne
Masse von unbestimmter Form; allmählich aber entwickelt sich dar—
aus ein Moosstämmchen mit Blättern, und zwar ein merkwürdiger
Stamm mit merkwürdigen Blättchen. Zur guten Hälfte besteht
er aus großen Zellen, die nichts enthalten als Wasser. Die
jungen Blätter bestehen anfangs aus gleichartigen Zellen; mit der
Zeit aber bildet sich bei ihnen eine Formverschiedenheit heraus; je
vier schmale, mit grünem Farbstoff gefüllte Zellen umgeben eine
größere viereckige; diese verliert beim Wachsen ihren Inhalt und
wird ein leerer Wasserbehälter. Zugleich wachsen die inneren
Teile des Blattes schneller als der Rand, und dadurch nimmt das
ganze Blättchen die Form eines Kahns an, dessen Höhlung wieder
Wasser zu fassen imstande ist. Der Stamm treibt kleine Zweige,
die ihm nahe anliegen, und in den Achseln sammelt sich gleich—
falls Wasser an. So ist das ganze Pflänzchen fast nichts anderes,
als ein Schwamm voller Hohlräume; es hat deren so viele, und
es enthält so wenig grünen Farbstoff, daß es nicht einmal eine
gesunde, grüne Farbe, sondern einen grauen Anhauch hat, durch
den das Grün nur leise schimmert; es ist ein Torfmoos. Es
saugt und wächst und wächst mächtig. Immer neue Spitzchen
und Astchen treibt es und dehnt sich kriechend aus; am hintern
Ende stirbt es ab und verfault, aber die Spitzen wachsen weiter
und bilden Rasen, welche, sich mehr und mehr verbreitend, schließ—
lich den ganzen Sumpf überwuchern. Sind erst die Cachen und
Tuümpel mit Torfmoos gefüllt, so tritt eine neue Eigenschaft des
Pflänzchens in Wirkung. Es enthält nämlich so viel Gerbsäure,
daß das Wasser, in dem es lebt, fäulniswidrig wird; die Bazillen,
welche die Fäulnis verursachen, können nicht mehr in ihm leben.
Die absterbenden Partien verfaulen infolgedessen nicht mehr, sondern
vertrocknen wie eine Mumie und sammeln sich an; sie bilden eine
Unterlage, auf der das jüngste Geschlecht der Mooszweige weiter
wächst. So bildet sich das Moos zu einem Polster aus, das
den ganzen Boden überzieht, und wie die einzelne Pflanze ein
Schwämmchen, so ist dieses Polster ein riesiger Schwamm, der das
an ihn gelangende Wasser festhält und damit weiter wuchert.
Mächtig schwillt es heran und legt sich um die Eichenstämme.
Jahrzehntelang hält es ihren Fuß fortwährend in sumpfigem
Naß gebadet, und die Bäume widerstehen schließlich dieser end—
240
241
losen Verschwemmung nicht; sie sterben ab. Cange noch mögen
sie mit entblätterten Kronen dastehen, aber endlich werden sie morsch,
und der Wind bringt sie zu Falle. Stürzend versinken sie in dem
Schwamm, der sie vernichtet hat; er wird ihr Grab und wächst
über sie hinweg, haushoch, bis sie verloren und vergessen sind.
Hunderte von Jahren dauert dieser Vorgang, dann tritt viel⸗
leicht einmal eine Änderung ein. Das Klima wird auf ein oder
einige Jahrhunderte trockener, der große Schwamm hat nicht mehr
Wasser genug, um sich vollgesogen zu erhalten, und er trocknet
mehr oder weniger ein. An seiner Oberfläche sammelt sich Staub,
Torfpflanzen siedeln sich auf ihr an, dann Heidekräuter und ver—
wandte Gewächse. Diese machen mit der Zeit aus dem lockern
Moosboden ein an der Oberfläche festes Gelände, das mit immer
steigendem Gewicht auf seine Unterlage drückt. Das Torfmoos setzt
sich und sinkt zusammen. Dabei verliert es immer mehr von seiner
Schwammigkeit, und so schafft sich allmählich aus ihm ein flacher,
fester Untergrund, auf dem erst Sträucher, dann Bäume gedeihen.
Das Werk des LKörnchens liegt nun seinerseits unter dem Boden
und ist vergessen.
Aber es ist darum noch nicht zu Ende. Unter dem Einfluß
der Feit, der Winterkälte und des auf ihm lastenden Druckes ver—
wandelt sich das begrabene Moos in eine schwarze, mäßig feste
Masse; das ist der Stoff, den wir unter dem Namen Torf kennen.
Er besitzt in hohem Grade die Eigenschaft, undurchlässig für
Wasser zu sein; und nachdem er vollständig ausgebildet ist, steht
der neue Wald wie der frühere auf einer Grundlage, aus der die
Feuchtigkeit nicht abziehen kann. Kommt also eine längere Periode
größerer Nässe, so wird er sumpfig wie sein Vorgänger; der Zufall
bringt eine neue Anpflanzung von Corfmoos hervor, und der zweite
Wald verfällt demselben Schicksal wie der erste, auch er versinkt im
Moossumpf. Ihm kann ein dritter und ein vierter folgen, das
Ende der Reihe ist nicht abzusehen.
Einmal in geschichtlicher Zeit ist das Versinken eines Waldes
im Torf beobachtet worden. Im Jahre 1651 fand Cord Cromarty
bei Cochburn in West Roß eine Ebene, die voll abgestorbener Fichten⸗
bäume stand. Fünfzehn Jahre später traf er an derselben Stelle
nicht mehr die stehenden Bäume, sondern ein Polster von Torf—
moos, das so tief war, daß er bei dem Versuch, es zu betreten,
bis an die Achselhöhlen hineinsank. Die Fichten waren darin ver—
schwunden.
Weimar. Cesebuch III, 2.
16
In der großen Mehrzahl der Fälle hat kein Mensch dem Vor—
gang beigewohnt; aber man findet im Torf die begrabenen Bäume,
und zwar, wie es dem Gesagten gemäß der Fall sein muß, öfter
in verschiedenen, durch Corf voneinander getrennten Schichten. Zu
unterst liegen diejenigen, die zuerst versanken, dann folgt eine Schicht
von Torf, der über ihren Leichen gewachsen ist, dann wieder eine
Schicht Bäume, dann wieder Corf usw. Man kennt Moore, in
denen sechs und mehr derartige Restschichten übereinanderliegen,
Eichen, Tannen, Birken, Weiden, Erlen, Eschen, Wacholder, Lärchen
und Haselnußstämmchen. Sie alle sind deutlich zu unterscheiden;
denn der Gerbsäuregehalt des Torfs macht sie haltbar. Manch—
mal ist nur die Hälfte der Stämme gut erhalten, die nach dem
Fallen die untere war, während die obere fehlt; das sind die Stämme,
die längere Zeit oben auf dem Torfmoos gelegen haben, ehe sie
ganz darin einsanken; bei diesen wurde die untere Hälfte vor der
Verwesung geschützt, während die obere sich an der Cuft zersetzte
und ihre Reste in unkenntlicher Form dem Moor beimischte.
Wir haben hier die Geschichte eines baumhaltigen Moors ge—
schrieben; selbstverständlich sind die Bäume zur Entstehung eines
Torfmoors nicht erforderlich. Siedelt sich das Moos in einem nassen
Grunde an, und wird sein Wachstum nicht durch gelegentliche Zeiten
der Trockenheit gestört, so wächst es für sich; die untersten, seit
vielen Jahrhunderten abgestorbenen Schichten desselben werden
schwarz und bilden toten Torf, während die oberen weiter wachsen.
Oder das Moospolster stirbt ab und bleibt trocken; dann verwan—
delt es sich ganz und gar in schwarzen Torf. So kann man zwei
Arten von Mooren unterscheiden, tote und lebende; die einen sind
in früherer Zeit gebildet, enthalten nur schwarzen Torf und wachsen
nicht wieder an, wenn man sie ausbeutet; die andern sind bloß im
untern Teile schwarz, darüber liegt eine meist von Eisenteilen rot
gefärbte Schicht erst kürzlich abgestorbener Pflanzen, und darüber
die noch lebende Gewächsmasse, die oben fortwuchert, während man
unten ihre Erzeugnisse herauszieht.
Die Torfmoore gehören zu den Gegenständen, an denen man so
recht sehen kann, wie mächtig die Kleinen in der Natur durch ihre
große Zahl werden können. Der Raum, den sie auf der Erde ein—
nehmen, ist von ungeheurer Größe. Bekannt ist die gewaltige Aus—
dehnung der Moore von Westhannover und Friesland; Ansamm—
lungen von ähnlicher Stärke finden sich an vielen andern Stellen
der Erde. Rechnet man dazu, daß die (oder manche) Steinkohlen-
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lager nach der allerdings nicht unbestrittenen Annahme vieler Geo—
logen nichts anderes sind als vorzeitliche Torflager, so muß man
zugeben, daß die Torfmoose in der Geschichte der Welt eine sehr
bedeutende Rolle gespielt haben. Aber auch wenn man von den
Steinkohlen absieht, bleibt dieser Satz bestehen; denn in den nassen
Niederungen schafft der Torf die Grundlage, auf der später Wiesen
und Wälder grünen.
Das Paradies der Torfmoore in der Gegenwart ist in Irland
und Schottland zu suchen, deren feuchtes Klima ihr Wachstum un—
gemein befördert. Die lebenden Moore bilden dort hügelige Polster,
die kirchturmhoch über das Cand emporragen. Viele sind gar nicht
betretbar, der Unkundige, der sich auf sie wagt, versinkt darin;
andere haben trockene Stellen, die beschriftten werden können. Hier
und da kann die Schwammigkeit des Moors zu sonderbaren
Unglücksfällen führen: Vor einigen Jahren platzte in Nordschott—
land ein mächtiges, lebendes Torfmoor unter der Wucht des von
ihm eingesogenen Wassers. Und aus dem Innern des geborstenen
Hügels ergoß sich, wie Cava aus einem Vulkan, ein fürchterlicher
Strom von zähem Torfschlamm, floß meterhoch in die Straßen eines
benachbarten Dorfes, drückte einige Häuser um, quoll drei Vächte
und zwei Tage unaufhörlich weiter und versetzte die Anwohner in
Zustände, wie sie sonst eben nur durch Schlammvulkane zuwege ge—
bracht werden. Emil Budde.
135. Mittag.
Am Waldessaume träumt die Föhre,
am Himmel weiße Wõlkchen nur;
es ist so still, daß ich sie höre,
die tiefe Stille der Natur.
Rings Sonnenschein auf Wies' und Wegen,
die Wipfel stumm, kein Lüftchen wach,
und doch, es klingt, als strömt' ein Regen
leis tönend auf das Blätterdach. heeder Fontane
136. Von der „ozonreichen“ Waldluft.
Die Ansicht, daß in der Cuft der Nadelwälder Ozon enthalten
sei, ist vor nahezu fünfzig Jahren geäußert worden. Wer Ozon
gerochen hat, weiß, daß es kaum einen widerlicheren Gestank gibt
als den dieses Gases, dessen Name auch von einem griechischen Feit⸗
243
1L
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wort abgeleitet ist, welches mehr im Sinne von „Stinken“ als
„Riechen“ gebraucht wurde. Der Geruch des Ozons ist vollkommen
erstickend und dabei so anhaftend, daß man ihn lange Zeit nicht
wieder loswerden kann, wenn man einmal mit Ozon zu tun ge—
habt hat. Wir wissen heute nicht nur, daß kein Ozon in der
Waldluft enthalten ist, sondern auch, daß Ozon in Gegenwart von
Terpentinöldämpfen gar nicht bestehen kann, sondern sich sofort
zersetzen würde. Trotzdem spricht die Welt nach wie vor von der
„ozonreichen“ Cuft der Wälder und wird auch fortfahren, dies zu
tun, solange diejenigen, welche sich für berufen halten, das Publi—
kum zu belehren, derartigen Unsinn verbreiten.
Die Wahrheit ist, daß die Cuft nur in den seltensten Fällen Ozon
enthält, nämlich dann, wenn kurz vorher starke elektrische Ent—
ladungen stattgefunden haben. Der eigenartige Geruch des Blitzes,
den der Volksmund in Ermangelung einer besseren Bezeichnung
schwefelig nennt, rührt von dem gebildeten Ozon her. Glück—
licherweise ist die Menge von Ozon, die bei solcher Gelegenheit
sich bildet, äußerst gering. Dabei verschwindet der Ozongeruch sehr
rasch, weil das Ozon sofort die Verunreinigungen der Cuft angreift
und sie zerstört, wobei es natürlich auch selbst der Vernichtung anheim⸗
fällt. Auf dieser Reinigung der Cuft durch das bei einem Gewitter
gebildete Ozon beruht die erfrischende Wirkung des Gewitters.
Damit wird uns aber auch sofort klar, wie man auf den selt—
samen Gedanken gekommen ist, die Waldluft sei ozonhaltig. Die
Waldluft zeigt nämlich durch ihre Wirkung auf unsere Lungen und
Geruchsnerven deutlich, daß sie freier ist von den unsere Atmung
behindernden Stäubchen und Gasen als die Luft unserer Straßen
und Häuser. Wir fühlen, daß sie ähnlich auf uns wirkt wie die
durch ein Gewitter gesäuberte Luft. Was lag nun näher, als aus
gleicher Wirkung auf gleiche Ursache zu schließen und auch hier der
Gegenwart von Ozon die empfangene Wohltat zuzuschreiben ?
Aber in dieser Schlußfolgerung haben wir uns geirrt. Wohl
beruht auch das Wohltuende der Waldluft auf einem Reinigungs—
vorgang, den sie durchgemacht hat. Aber er ist durch eine andere
Kraft zustande gekommen als durch das Ozon, nämlich durch einen
Körper, der sich, wie genaue Untersuchungen gezeigt haben, jedesmal
dann bildet, wenn Terpentin oder andere ätherische Ole bei Gegen—
wart von Wasser frei an der Luft verdampfen.
Er ist der Todfeind des Ozons; wo beide sich begegnen, zerstören
sie sich gegenseitig mit stürmischer Gewalt.
245
Er hildet sich aber nicht bloß bei der Verdampfung von äthe—
rischen Olen, sondern auch noch bei vielen anderen Gelegenheiten,
und ist eigentlich in der Atmosphäre fast immer spurenweise vor⸗
handen. Ihm kann in weit höherem Grade als dem Ozon die
Selbstreinigung der Cuft zugeschrieben werden. Es wäre auch schlimm
genug, wenn wir immer erst auf ein Gewitter warten müßten, um
reine Luft zu bekommen. Bei der Verdampfung ätherischer Ole bildet
er sich in verhältnismäßig großen Mengen. Da nun dieser Vorgang
keineswegs bloß auf das Terpentinöl beschränkt ist, so ist es unrichtig,
wenn Parfüm Verãchter gelegentlich die Behauptung aufstellen, durch
das Verstäuben von Kölnischem Wasser und dergleichen würde keine
Reinigung der Luft erzielt, sondern nur ein übler Geruch verdeckt.
Es findet beides statt, und für die Cuftreinigung hat unsere Cunge
ebensoviel Verständnis, wie unsere Nase für den angenehmen Litzel
des Wohlgeruches. Daß im Walde, aus dessen zahllosen Nadeln
fortwährend ein inniges Gemisch aus Terpentinöl und Wasser ab—
dampft, die Cuftreinigung durch den Todfeind des Ozons viel gründ—
licher vorgenommen wird, als in unsern Wohnräumen durch das
Verspritzen einiger Tropfen Kölnisch Wasser, bedarf wohl keiner be—
sonderen Ausführung. Wir werden es daher nach wie vor jeder—
mann herzlich gern gönnen, wenn seine zartbesaitete Natur im
Waldaufenthalt die ersehnte Stärkung findet; nur soll man dann
nicht sagen, daß man dem Ozon das verdankt, was sein Todfeind
(das Wasserstoffsuperoryd) ihm zugute getan hat.
Es ist schwer, eine wissenschaftliche Wahrheit bekannt zu machen,
aber viel schwerer, einen wissenschaftlichen Irrtum aus der Welt
zu schaffen. Otto N. Witt.
137. Die Bergföhre.
Ich wär' ein hoher Baum geworden,
jedoch des Schneees Cast,
der Föhn aus Süd, der Sturm aus VNorden
begruben früh mich fast.
So ward ich vom Geschick gezwungen,
zu werden wie ich bin,
wer nie mit harter Not gerungen,
versteht nicht meinen Sinn. Moanin Greif.
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138. Wie die Felswand bekleidet wurde.
Zwischen zwei Felswänden lag eine tiefe Schlucht; durch diese
Schlucht zog ein wasserreicher Bergstrom schwerfällig über Steine
und Geröll dahin. Hoch ging es zu beiden Seiten hinauf und steil,
deswegen stand auch die eine Seite ganz kahl da; aber dicht darunter
und so nahe an dem Strome, daß er im Frühling und im Herbst
sein Wasser dazwischen durchschwemmte, stand ein frischer Wald in
einzelnen Gruppen, schaute in die Höhe und vor sich hin und konnte
weder hinauf· noch vorwärtskommen.
„Wie wär's, wenn wir die Felswand bekleideten?“ sagte der
Wacholder eines Tages zu der ausländischen Eiche, der er näher
stand als allen andern. Die Eiche sah vor sich nieder, um dahinter—
zukommen, wer eigentlich mit ihr spreche; dann sah sie wieder auf
und schwieg. Der Bergstrom arbeitete so schwer, daß er weiß auf—
schäumte; der Nordwind war in die Schlucht hineingedrungen und
heulte in den Felsenklüften; die kahle Felswand hing schwerfällig
vornüber und fror. — „Wie wär's, wenn wir die Felswand be—
kleideten?“ sagte der Wacholder zur Föhre auf der andern Seite.
„Wenn es jemand tun sollte, so müßten wir es sein“, sagte die
Föhre; sie faßte sich in den Bart und sah zu der Birke hinüber:
„Was meinst denn du?“ — Die Birke aber guckte bedächtig zu
der Felswand hinauf; so schwer hing sie über ihr, daß es ihr war,
als könne sie nicht atmen. „Laßt sie uns in Gottes Namen be—
kleiden“, sagte die Birke, und so waren ihrer nicht mehr als drei;
und dann machten sie sich daran, die Felswand zu bekleiden. Der
Wacholder ging voran.
Als sie ein Stück Wegs zurückgelegt hatten, begegneten sie dem
heidekraut. Der Wacholder wollte langsam daran vorübergehen.
„Nein, nimm das Heidekraut mit!“ sagte die Föhre. Und das
heidekraut machte sich mit auf den Weg. Bald begann der Wacholder
auszugleiten. „Beiß dich in mich festl“ sagte das Heidekraut. Der
Wacholder tat es; und wo nur eine kleine Spalte war, da steckte
das Heidekraut einen Finger hinein, und wo es erst mit einem
Finger angefaßt hatte, da packte der Wacholder mit der ganzen
Hand hin. Sie kletterten und krochen, die Fichte schwerfällig hinter⸗
drein, die Birke ebenfalls. „Es liegt ein Segen darin“, sagte die
Birke.
Die Felswand aber fing an, darüber nachzudenken, was für
Gelichter es wohl sein könne, das da an ihr hinauf krabbelte und
2*
kletterte. Und als sie ein paar Jahrhunderte darüber nachgedacht
hatte, sandte sie einen kleinen Bach hinab, daß er nachsehe. Es
war zur Frühlingszeit, als der Schnee in den Bergen schmolz, und
der Bach hüpfte so weit hinunter, bis er das Heidekraut traf. „Liebes
Heidekraut, kannst du mich nicht durchlassen? Ich bin ja nur
so klein“, sagte der BVach. Das Heidekraut hatte es sehr eilig; es
hob sich nur ein wenig und arbeitete dann weiter. Der Bach schlüpfte
durch, und vorwärts ging's. „Lieber Wacholder, kannst du mich
nicht durchlassen? Ich bin ja nur so klein!“ Der Wacholder
sah ihn strenge an; aber wenn das Heidekraut ihn durchgelassen
hatte, konnte er es wohl auch tun. Der Bach floß unter ihm hinweg,
rieselte weiter und kam nun dahin, wo die Föhre stand und den
Berg hinankeuchte. „Liebe Föhre, kannst du mich nicht durch—
lassen ? Ich bin ja nur so klein“, sagte der Bach, küßte der Föhre
den Fuß und schmeichelte sich bei ihr ein. Die Föhre wurde ganz
verschämt und ließ ihn durch. Die Birke aber erhob sich, ehe der
Bach noch fragte.
„Hi hi hil“ sagte der Bach und wuchs. „Hha ha hal“ sagte
der Bach und wuchs. „Ho ho hol“ sagte der Bach und warf das
Heidekraut und den Wacholder und die Föhre und die Birke kopf⸗
über und stieß sie auf seinem Rücken zwischen den hohen Bergen
hin und her. Die Felswand aber saß viele Jahrhunderte da und
dachte darüber nach, ob sie an jenem Tage nicht den Mund zum
Lächeln verzogen habe.
Es war ganz klar: Die Felswand wollte nicht bekleidet werden.
Das Heidekraut ärgerte sich so, daß es wieder grün wurde, und
dann ging es wieder voran. „Nur immer frischen Muts!“ sagte
das Heidekraut.
Der Wacholder hatte sich ein wenig erhoben, um dem Heide—
kraut nachzuschauen; lange saß er kauernd da, dann richtete er sich
auf. Er kraute sich im Haare, nahm einen Anlauf und biß sich
so fest, daß er meinte, der Felsen müsse es fühlen. „Wenn du
mich nicht haben willst, so will ich dich haben!“ — Die Föhre bog
ihre Zehen ein wenig, um zu fühlen, ob sie noch ganz seien, hob
dann den einen Fuß auf: der war unversehrt; dann den andern:
der war auch unversehrt, und darauf alle beide. Zuerst unter—
suchte sie, wo sie gegangen war, darauf, wo sie gelegen hatte,
und endlich, wo sie nun gehen wollte. Dann schritt sie dahin,
als sei sie niemals gefallen. Die Birke hatte sich arg beschmutzt;
jetzt richtete sie sich aber wieder auf und putzte sich. Und dann
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2
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ging's vorwärts, immer schneller und schneller, bergan und nach
den Seiten hin, in Sonnenschein und Regen. „Was ist denn das
nur ?“ sagte die Felswand, wenn die Sommersonne auf sie herab—
schien, die Tautropfen glitzerten, die Vögel sangen, die Waldmaus
pfiff, der Hase hüpfte und das Hermelin sich versteckte und schrie.
Und dann war der TCag gekommen, wo das Heidekraut mit
dem einen Auge über den Rand der Felswand sehen konnte. „Aber
nein, aber nein, aber nein!“ sagte das Heidekraut — und weg war
es. „Ihr Lieben, was mag wohl das Heidekraut sehen ?“ sagte
der Wacholder und kam so weit, daß er auch hinüberzugucken
vermochte. „Aber nein, aber nein!“ schrie er und war weg. „Was
hat nur der Wacholder heute ?“ sagte die Föhre und machte lange
Schritte in der Sonnenglut. Bald konnte sie sich auf den Zehen⸗
spitzen heben und hinüberschauen. „Aber nein!“ Zweige und
Nadeln blieben vor Verwunderung kerzengerade stehen. Sie arbeitete
sich vorwärts, gelangte hinauf, und weg war sie. „Was sehen
denn eigentlich alle die andern, nur ich nicht?“ sagte die Birke,
hob die Röcke vorsichtig auf und trippelte hinterdrein. Es gelang
ihr, den ganzen Kopf auf einmal über den Rand zu erheben. „Ah!
Steht hier nicht ein ganzer Wald von Föhren und Heidekraut und
Wacholder und Birken oben auf dem Felde und wartet auf uns?“
sagte die Birke, und die Blätter bebten im Sonnenschein, sodaß
der Tau herabträufte .. „Ja, so ist es, wenn man sich empor
arbeitet“, sagte der Wacholder. Bijörnstjerne Björnson.
139. Die Ameisen im Kampfe
mit einer Kiefernraupe.
Im stillen Walde kann man allerhand sehen, natürlich, wenn
man die Augen aufmacht. So sah ich's denn, sah's anfangs zu—
fällig und hernach mit Bedacht.
Was nur der Auflauf bedeutetel Der ganze Platz war voll
von Hinzueilenden und Davonspringenden. Sie drängten und wogten
hin und her, sie stießen in der Hast aneinander; die nicht schnell
weiter konnten, wurden niedergedrückt, ja, hie und da lief sogar
eins über den Leib des andern hinweg. Ich ragte wie ein Unge—
heuer über der erregten Menge, und zwar so hoch, daß die kleinen
Augen selbst mittels eines Ferngläschens kaum imstande gewesen
sein würden, mein Haupt zu erblicken.
So bückte ich mich, um zu sehen, was denn dieser Auftritt der
Ameisen auf dem sandigen Waldwege bedeute, und sah es bald.
Es war der Kampf der Ameisen mit einer Kiefernraupe. Diese
mochte träge ihres Weges gekrochen sein, vielleicht durchdämmert
von der Ahnung ihres zukünftigen Schmetterlinglebens, vielleicht
auch nur im Hunger nach Speise, saftige Föhrenzweige heischend.
Da waren die Straßenräuber hervorgekrochen aus dem Caubgehölze
des Heidelbeerkrautes und hatten die Wallerin überfallen. Den ersten
Anfall hatte sie mit geschickten Wendungen und scharfen Bissen
abgewehrt, ihre braune Behaarung steifte sie zu einem Panzerhemde,
und eine und die andere der Angreifenden trat sie sogar mit ihren
Pfoten zugrunde. Aber immer mehr der Ameisen sprangen herbei
und packten die Raupe von hinten und vorn. Sie richtete sich in
der Mitte zu einem Bogen auf. Da liefen einige unter den Bauch;
andere stiegen rasch auf den emporstrebenden Rücken, drückten ihn
nieder und setzten ihre Zähne ins Fleisch des hilflosen Tieres. Der
Hinterleib der Raupe war bereits umklammert, da bäumte sie sich
auf und schlug mit dem Haupte wild um sich. Alsogleich schossen
ein paar Ameisen unter ihre Brust und versetzten ihr mit den
Zangen wütende Bisse, wobei die Raupe noch einmal mit dem
ganzen Körper emporschnellte und ihre Angreifer über den Haufen
warf. Nun griffen diese noch hitziger an. Ihrer zwanzig rangen
mit dem Wurme, stachen, bissen und schlugen ihn und spritzten
unter den verzweifeltsten Zuckungen des Tieres ihr heißes Gift in
die Wunden.
Mein Ergötzen an dem Kampfe ging nun in Mitleid über für
die arme Raupe, die von aller Welt verlassen gegen eine Unzahl
von Feinden sich mit unerhörter Tapferkeit ihres Cebens wehrte.
Rasch riß ich einen steifen Rispenhalm ab und versuchte damit
die kleinen Würger von der in Todesangst sich windenden Raupe
fortzuschieben und fortzustechen. Nun wollten die erbitterten Ameisen
auch mit mir den Uampf beginnen. Hastig kletterten sie den
Halm empor bis zu meinen Fingern, die bald das Prickeln ihres
scharfen Saftes zu spüren bekamen; die andern aber klammerten
sich so fest an das unterliegende Tier, daß ich den schwachen
Halm gegen einen dürren Baumzweig vertauschen mußte, um
die Raupe mit Gewalt von den Räubern zu befreien. Es war
jedoch zu spät. Als die Ameisen fortgescheucht waren, brach die
Raupe zusammen und regte sich nicht mehr. Helle Tröpfchen stan⸗
den auf ihrem braunen, stellenweise stahlblau schillernden Körper.
Nun tat es mir leid um das Tier, das in einem rechtlosen Streite,
nur weil es der Schwächere war, sein CLeben lassen mußte, und mir
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kam zu Sinne, die strafende Vergeltung zu spielen und die hin und
wieder schwärmenden Ameisen, ja ihr ganzes, nur wenige Schritte
entferntes Raubnest mit einigen Fußtritten zu zerstören. — Ich tat
es nicht und ließ die Ameisen gewähren. Sie nahten sich sofort
wieder der hingestreckten Raupe; diese, von neuem angefaßt, hob
noch einmal ihr Haupt, es knickte aber wieder ein, und sie war tot.
Die Menge hatte sich verlaufen. Die wenigen Zurückbleibenden
befaßten sich mit dem Fortschaffen der erlegten Beute; aber sie ver⸗
mochten den Körper, der eine Ameise wohl dreißigmal überwog,
nicht von der Stelle zu bewegen. Da lief eine davon und brachte
bald Gefährten zur Hilfeleistung. Nun faßten sie die tote Raupe
an beiden Seiten an. Einige krochen unter den Körper, als wollten
sie ihn heben und tragen, und bald bewegte sich die Last weiter.
Es ging rasch über den glatten Boden hin. Jetzt erwachte in mir
noch einmal die Bosheit oder, wenn es besser klingt, der Gerechtig⸗
keitssinn. So ohne jegliches Hindernis sollte die Untat doch nicht
abgehen. Ich legte ein flaches Steinchen auf die Raupe. Für den
ersten Augenblick allerdings einige Verwirrung und Verlegenheit
unter den Ameisen. Unter dem Körper, unter den sie zum Teil
selbst gekommen, hatten sie sich bald wieder und unversehrt hervor⸗
gearbeitet. Nun umkreisten sie den Stein, stiegen auch darüber hin,
prüften die Cast und schienen dann Rat zu halten, wie ihre Beute
unter dem Steine hervorzukriegen wäre. Der Versuch, den Stein
wegzuwälzen, erwies sich als vergeblich. Das etwa Pfund schwere
Stuckchen regte sich trotz aller Anstrengungen nicht von der Stelle.
Was taten sie nun? Sie fingen an, den Boden zu unterwühlen,
gruben einen kleinen Kanal unter dem Steine, höhlten um die Raupe
und unter ihr das Erdreich aus, was ich für den Augenblick zwar
nicht beobachten konnte, jedoch später sah, und nach einer Viertel—
stunde zogen sie den Leichnam unter dem Steine hervor.
Die Tat erfüllte mich mit Hochachtung, und ich legte den kleinen
Wesen nichts mehr in den Weg. Ungesäumt schleppten sie die
Raupe dem Ameisenhaufen zu, wo sie in eine der Vorratskammern
gebracht worden sein mag. In wenigen Wochen, so dachte ich,
werden Kiefernspinner aus dem Geschlechte der ermordeten Raupe
den Ameisenhaufen umgaukeln und in ihrem Fluge höhnend nieder—
blicken auf die krabbelnden Wesen. So geht das Spiel im Kreise
der Natur; wir Menschen stehen nicht außerhalb desselben.
Peter Rosegger.
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140. Der Holzwurm.
Der bunte Finke baut sein Nest
dem schönsten Waldbaum ins Geäst.
„Am Ersten soll die Hochzeit sein.
Der Baum ist mein.“
Da kommt ein Mann im Jägerkleid
und mißt den Baum, wie hoch, wie breit,
und gräbt dem Baum ein Zeichen ein.
„Der Baum ist mein.“
Ein kleiner Wurm, man sieht ihn kaum,
guckt mit dem Köpflein aus dem Baum
und lacht und spricht ganz leise: „Nein,
der Baum ist mein.“
Rudolf Baumbach.
141. CLeistung und Gegenleistung
im Reiche der Natur.
Wenn ich durch Wald und Feld wandere und mir überlege, in
welcher Weise all das bunte Volk, dem ich auf solchen einsamen
Spaziergängen begegne, miteinander verkehrt, dann will es mir
scheinen, als wenn es doch viel friedlicher zuginge, als es uns die
Herren Naturforscher glauben machen möchten. Wohl besteht ein
Wetteifer zwischen all den verschiedenen Geschöpfen, und fast jedes
von ihnen strebt, meist im buchstäblichen Sinne des Wortes, nach
dem Platz an der Sonne.
Aber es will mir scheinen, als ließe sich dieser Wetteifer weit
besser, als mit einem erbitterten und auf die Vernichtung des Geg-
ners ausgehenden Kampfe, mit dem Wettbewerb vergleichen, wie
er etwa in einem großen Handelsplatz besteht, wo auch jeder dem
anderen den Rang abzulaufen sucht und doch alle sich miteinander
verbunden fühlen und sich gegenseitig wohlgesinnt sind. Der große
Unterschied dieses Kampfes von dem anderen besteht darin, daß
hier die große Regel von der Ceistung und Gegenleistung die Nampfes⸗
weise bestimmt. Daß auch im Zusammenleben der Geschöpfe in
der freien Natur diese Regel eine ungeheure Rolle spielt, das erkennt
man um so deutlicher, je tiefer man in dasselbe eindringt.
Der naturwissenschaftlich Unerfahrene, der im Walde die Baum—
stämme von Flechten überwuchert findet, sieht in ihnen nichts
anderes als ein Heer von Schmarotzern, die es auf das Leben des
Baumriesen, den sie überfallen, abgesehen haben und durch Zahl
das ersetzen, was ihnen ihrem Gegner gegenüber an Kraft mangelt.
Wer aber etwas tiefer eingedrungen ist in die Flechtenkunde, der
erinnert sich der schönen Untersuchung eines Naturforschers, die
dargetan hat, daß die Flechten von dem Baume, auf dem sie sich
angesiedelt haben, nichts anderes verlangen, als den Platz für ihr
Dasein, und ebenso zufrieden sein würden, wenn der VBaumstamm
ein bloßer Fels wäre. Aber gleichzeitig gedenkt er der Tatsache,
daß diese Flechten eigentlich gar keine Einzelwesen sind, sondern
Cebensgemeinschaften von Algen mit Pilzen, Lebensgemeinschaften,
bei denen die Vertragschließenden ganz in einander aufgegangen
sind und sich gegenseitig helfen, ihr Ceben zu fristen.
Der Gedanke der Cebensgemeinschaft, der damals, als diese
Forschungen über die Flechten erschienen, etwas Außerordentliches
und Überraschendes darstellte, scheint, wie neuere Untersuchungen
gezeigt haben, das ganze Weltall zu durchtränken.
Und was ist es anderes, als Ceistung und Gegenleistung, wenn
gewisse Akazien und andere Pflanzen Südamerikas und Neuhollands
Hohlräume und süße Körnchen hervorbringen, die keinen anderen
Zweck haben, als Ameisen heranzulocken, die sich in den Hhõöhlungen
verkriechen und die Körnchen als herrliche CLeckerbissen verschnabulieren
können? Aber alles das nicht umsonst! Sondern die Ameisen müssen,
als Entgelt für die empfangene Wohnung und Beksstigung, den
Baum vor den Angriffen der Blattschneide-Ameisen und anderer
unbequemer und schädlicher Gäste verteidigen und tun dies auch
gewissenhaft und nachdrücklich.
Und wiederum dem gleichen Gedanken entspringt es, wenn unsere
europäischen Ameisen sich Blattläuse als „Kühe“ halten, sie pflegen
und gut behandeln und ihnen helfen, auf saftigen Pflanzenblättern
gute Weideplätze zu finden — alles das bloß, um ihnen den Honig
ablecken zu können, der ihnen bei guter Ernährung aus der Haut
schwitzt. Nach unserem Geschmack wäre ja so etwas nicht, daher
bestreuen wir die Blattläuse mit Insektenpulver, wenn sie sich in
unseren Gärten zeigen — aber wir sind eben auch keine Ameisen!
Wenn sich im Juli die Spatzen auf unsere Kirschbäume nieder⸗
lassen, dann schreien wir: Räuber! und werfen nach ihnen mit
Steinen. Es ist fraglich, ob der Kirschbaum ein gleiches tun würde,
wenn er schreien und werfen könnte. Er würde vielmehr die Spatzen
ruhig gewähren lassen und sich freuen, daß die Sonne das Fleisch
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seiner Kirschen recht süß und rosig gebraten hat. Denn der LKirsch—
baum will es, daß seine Uirschen von Spatzen und Menschen und
anderen Räubern verspeist werden, die die harten Steine ausspucken
und so in weitere Ferne verbreiten als er selbst, der an seinem
Wohnort festgewachsene, es durch bloßes Fallenlassen der Kirschen
tun könnte. Und manche Palmen gehn noch weiter, indem sie
verlangen, daß die Tiere, die sie mit ihren Früchten speisen, die
Kerne verschlucken und ihnen in ihrem Innern die feuchte Wärme
zuteil werden lassen, die erforderlich ist, damit sich die Keimkraft
der Samen entwickele. Die Verbreitung der Muskatnuß beruht
darauf, daß ihre Kerne von gewissen Taubenarten verschlungen
werden, und die Samen der Mistel werden von den Vögeln, welche
die Mistelbeeren genießen, nicht nur verbreitet, sondern auch in die
Kronen der Bäume getragen, wo allein die junge Mistelpflanze ihren
richtigen Standort findet. Ceistung und Gegenleistung!
Das großartigste Kapitel aber in der Geschichte der Handels—
politik der Pflanzen und Tiere sind die von Darwin selbst be—
gonnenen und in neuerer Feit so glänzend weitergeführten Studien
über die Befruchtung der Pflanzen. Unerschöpflich in ihrer Mannig—
faltigkeit und Eigenart sind die hier aufgedeckten Hilfsmittel der
Reklame, des lauteren und unlauteren Wettbewerbes, der schlauen
Schutzmaßregeln gegen eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, der
Barzahlung nach empfangener Leistung. Die Blume duftet in
die Welt hinaus: „Ich habe Honig zu verkaufen!“ Die Biene
meldet sich als Käufer. „Spazieren Sie nur herein,“ sagt die Blume,
„aber drücken Sie gefälligst auf den Hebel, der aus meinem Schlunde
heraushängt, dann wird sich die Tür meiner Nektarien öffnen!“
Die Biene drückt. „Danke schön,“ sagt die Blume, „Sie haben mir
einen wesentlichen Dienst erwiesen, als Entschädigung dürfen Sie
ein Milligramm Nektar schlürfen!“ Die Biene schlürft. „Guten
Morgen,“ sagt die Blume, „geben Sie mir bald wieder die Ehre!“
Wohl handelt es sich bei solchen Geschäften in Wald und Wiese
um das Dasein beider Teile. Die Biene muß Honig schlürfen,
wenn sie nicht verhungern will, und die Blume will befruchtet
werden, wenn ihre Art nicht aussterben soll. Aber wo ist da, so
frage ich, der Kampf aufs Messer, bei dem einer zugrunde gehen
muß, um dem anderen Platz zu machen ? Raum für alle hat die
Erde, für die Biene und die Blume. So kommen denn Biene und
Blume zueinander als gewiegte Naufleute und machen miteinander
ein Geschäft, bei dem jeder seine Rechnung findet.
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So ausgeprägt ist der Handelsgeist unter den Kindern dieser
Welt, daß mitunter Geschöpfe, die eigentlich gar nichts miteinander
gemein haben, und von denen niemand behaupten kann, daß der
VNaturtrieb sie zueinander führt, Handelsbeziehungen miteinander
anknüpfen, wenn die Verhältnisse gerade dazu angetan sind. Was
hat die KUrähe mit dem Schwein zu tun? Bei uns gar nichts.
In Mitteleuropa sitzt die Nrähe auf den Bäumen und krächzt, und
das Schwein sitzt in seinem Stalle und grunzt, und ein jedes von
den beiden ernährt sich schlecht und recht, wie es ihm die Verhält⸗
nisse gestatten. Aber im Osten ist es anders. Wer in Südrußland
oder in Galizien war, der weiß, daß dort das Schwein frei herum—
läuft und sich seine Nahrung auf den Feldern sucht. Es wühlt
mit dem Rüssel in der Erde und gräbt Wurzeln und vergessene
Rüben aus und verspeist sie grunzend und schmatzend. Dann ist
auch die Krähe bei der Hand, sie sitzt auf dem Rücken des Schweines
und späht nach Würmern und Engerlingen, die bei der wühlerischen
Tätigkeit des Borstentieres zutage kommen. Dann fliegt sie krächzend
herunter, um den gefundenen Leckerbissen zu verzehren. Im nächsten
Augenblicke sitzt sie wieder auf dem Rücken des Schweines, um von
diesem Cuginsland weitere Ausschau zu halten. Das Schwein aber
läßt sie ruhig gewähren. Denn es weiß, daß die Krähe, während
sie von Ort zu Ort getragen wird, auch mit bescheideneren Cecker—
bissen vorlieb nimmt, als Engerlinge es sind, mit den Zecken und
sonstigem Ungeziefer, das auf dem Rücken des Schweines selbst sich
eingenistet hat und ihm viel Unbehagen bereiten würde, wenn die
Krãähe ihm nicht zu Hilfe käme. Leistung und Gegenleistungl Ganz
ähnliche Wahlverwandtschaften sollen in anderen Gegenden zwischen
anderen Vögeln und anderen Vierfüßern bestehen. Drolliger, als
die in ganz Südrußland wohlbekannte Wahlverwandtschaft zwischen
KKrähen und Schweinen ist sicher keinel Mito N. witt.
142. Gleich und Gleich.
Ein Blumenglöckchen da kam ein Bienchen
vom Boden hervor und naschte fein: —
war früh gesprosset die müssen wohl beide
in lieblichem Flor; für einander sein.
Goethe.
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143. Ausfahrt.
Berggipfel erglühen, Mir ist zum Geleite
Waldwipfel erblühen in lichtgoldnem Kleide
vom Cenzbach geschwellt; Frau Sonne bestellt;
Zugvogel mit Singen sie wirft meinen Schatten
erhebt seine Schwingen, auf blumige Matten,
ich fahr' in die Welt. ich fahr' in die Welt.
Mein hHutschmuck die Rose,
mein Lager im Moose,
der Himmel mein Zelt:
mag lauern und trauern
wer will, hinter Mauern,
ich sahr in die Welt. viktor v. Scheffel.
144. Der Elch.
Cangsam fahren wir an einem schönen Septemberabend bei der
Suche nach Elchwild auf der Uurischen Nehrung zwischen Vordüne
und Waldstreifen dahin. Eine eigenartige Candschaft ist es, durch
die wir fahren: zerrissene Sandhügel; hier ein großes Weidengebüsch,
dort ein Erlenhorst, da eine einzelnstehende Birke. Stille ringsum,
drüben hinter der Vordüne das schwache Rauschen der See. Pferdel
flüstern plötzlich unsere fremden Begleiter. Nein, das sind Elchel
lautet die leise Antwort. Vorsichtig fahren wir vorwärts, dann
machen wir halt. Hinter einem Erlengebüsche auf etwa 30 Meter
Entfernung bewegen sich drei massige Gestalten. Jetzt verlassen
sie die Deckung und ziehen der Vordüne zu. Auf halbem Wege
sehen sie sich nochmals vertraut nach uns um, und nun stehen sie
plõtzlich auf dem Rücken der Düne, als dunkle Schattenbilder sich gegen
den roten Abendhimmel scharf abhebend; ein erhabener Anblick,
den man nie wieder vergißt. Dieser langgestreckte Kopf mit der
mächtigen Ramsnase, der hohe Widerrist, die langen Läufe, die
verhältnismäßig schwach entwickelte Hinterpartie, das auf querge—
stellten Rosenstöcken aufsitzende und dadurch immer eine weite Aus—
lage zeigende Schaufelgeweih, und schließlich noch der am Halse
herabhängende eigenartige Bart — alles nicht ebenmäßig schön,
aber wie ein Gruß aus grauer Vorzeit auf ein empfängliches
Herz wirkend. Ein Gegenstück zu den Elchen auf der Düne
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bildet, was Erhabenheit des Anblicks anlangt, das Elchwild,
wenn es bei Hasentreibjagden zufällig eingekesselt worden ist und
von der vorrückenden Treiberwehr und der Schützenkette immer
mehr eingeengt wird. Es ist ganz unglaublich, wie leise sich
dieses starke Wild im Walde bei solcher Gelegenheit vorwärts
bewegen kann. Wie aus der Erde gezaubert sieht man plötzlich
ein ganzes Rudel vor sich und hat doch vorher fast nichts brechen
hören. Die Treiber rücken weiter auf; noch stehen die gewalti—
gen Körper unbeweglich still, nur die Nase, der Windfang, wie
der Jäger sagt, und die Gehöre spielen hin und her. Jetzt
fährt das ganze Rudel wie auf Kommando auf den hinterläufen
herum, eine ganz eigenartige Bewegung für das Elchwild, und
un wird die Schutzenkette durchbrochen. Über das breite Gelände
gehts in weiten Fluchten hinweg, daß die abgebrochenen Spitzen
der jungen Randkiefern durch die Cuft fliegen. Ja, da macht der
Elch etwas aus sich; im übrigen ist er ein ziemlich langweiliges
Wild und kann die Aufmerksamkeit des Jägers bei weitem nicht
so in Anspruch nehmen wie etwa der Rolhirsch; er stellt sich hin
wie ein fetter Ochs und läßt sich totschießen.
Seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist der
Elch auf der Kurischen Nehrung zum Standwilde geworden und
treibt dort in den Dünen oft sein Wesen. Im übrigen ist diese
Wildart für Deutschland nur auf den nördlichen und nordöstlichen
Teil Ostpreußens beschränkt. Meist leben die Nehrungselche in
den Waldbeständen und Dickungen, wobei sie die feuchten, mit
Rohr bewachsenen Stellen besonders bevorzugen. Von da aus
unternehmen sie öfter der Nahrungsaufnahme wegen Streifzüge in
das freie Dünengelände, wo sich ausgedehnte Weidengebüsche be—
finden. Durch die Asungsweise nimmt der Elch eine Sonderstellung
Uunter den übrigen Wildarten ein. Auf der Nehrung sucht er fast
nie das, was er zum Cebensunterhalt braucht, auf dem Erdboden,
bie etwa Rehe und Hasen, sondern seine Hauptnahrung besteht
aus Blättern, Zweigen und der Rinde von Weiden, Espen, Birken.
Ceider hat er auch die jungen Kiefern in seinen Speisezettel mit
hineingezogen, was ihm von seiten der Forstverwaltung scheele Blicke
eingetragen hat. Es ist nichts leichter, als den Spuren eines Dünen—
streifzuges, den ein Rudel Elche unternommen hat, zu folgen.
Erstens dienen die großen Fährten im Sande als Wegweiser, ferner
die überall in kleinen Haufen herumliegende Cosung, die je nach
der Stärke des Stückes zwischen der Größe von Haselnüssen und
langgestreckten Walnüssen schwankt. Und schließlich leiten uns die
durch das sen hervorgerufenen weithin sichtbaren Zeichen. Die
Weiden- und Espenstämme, die gestern noch unverletzt dastanden,
leuchten heute, gänzlich der Rinde entblößt und damit dem sichern
Untergange geweiht, dem Beschauer nackt und weiß entgegen. Von
kleineren Bäumchen ist die Krone heruntergebrochen, damit die
Zweige bis zur Stärke eines Bleistifts bequem abgebissen werden
konnten. Die Randbüsche an kleinen Beständen sind wie mit der
Gartenschere verschnitten, teilweise auch geknickt. So geht's kilo⸗
meterweit fort. Ein Bild der Verwüstung ist's, was einem da
entgegentritt, man kann's nicht leugnen. Aber der Schaden, der
an diesen minderwertigen Pflanzen angerichtet worden ist, darf
nicht hoch angeschlagen werden. Wenn nur die kostbaren Kiefer—
schonungen unangetastet blieben!
Furcht braucht der Dünenbesucher vor den Elchen nicht zu haben.
Wenn sie auch auf der Kurischen Nehrung bei ihrer Vertrautheit
den Menschen zuweilen ziemlich nahe heranlassen, namentlich wenn
man zu Wagen oder zu Pferde ist, so weichen sie doch im ent—
scheidenden Augenblicke immer aus. Sollte man aber im Monat
Mai einmal an ein Alttier herankommen, das ein frisch gesetztes
Kalb bei sich hat, so vermeide man lieber die Annäherung. Übrigens
würde man erstaunt sein über die Färbung des Elchkalbes. Während
die erwachsenen Tiere ein dunkelgraues Kleid tragen, sind die Kälber
rotbraun gefärbt, ganz ähnlich wie ein rotes Uuhkalb. Auch die
Ramsnase ist noch sehr wenig ausgebildet. Jedenfalls sieht man
dem jungen Geschoͤpfe noch nicht an, welcher auffälligen Körper—
gestaltung es entgegengeht.
Seitdem Wõlfe, Bären, CLuchse aus unsern Wäldern verschwun—
den sind, haben die Elche bei uns keine starken, wehrhaften Feinde
mehr unter der höheren Tierwelt. Dafür ist ihnen in der Insekten—
welt ein kleiner, aber um so furchtbarerer Feind geblieben: die
Elchbremse, die ihre Eier in die Nasenlöcher der Elche legt, wo
sich 5ñ4 Zentimeter lange, sehr dicke Carven entwickeln, die, in die
Cuftgänge vorgedrungen, den Trägern furchtbare Qualen bereiten
und die gewaltigen Elchkörper zu Fall bringen.
J. Thienemann.
Weimar. Cesebuch M, 2.
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145. Abschied.
O Cãler weit, o Höhen, Da steht im Wald geschrieben
schöner, grüner Wald, ein stilles, ernstes Wort
du meiner Cust und Wehen von rechtem Tun und CLieben,
andächt'ger Aufenthalt! und was des Menschen Hort!
Da draußen, stets betrogen, Ich habe treu gelesen
saust die geschäft'ge Welt, — die Worte, schlicht und wahr,
schlag noch einmal die Bogen und durch mein ganzes Wesen
um mich, du grünes Zelt! ward's unaussprechlich klar.
Wenn es beginnt zu tagen, Bald werd' ich dich verlassen,
die Erde dampft und blinkt, fremd in der Fremde gehn,
die Vögel lustig schlagen, auf buntbewegten Gassen
daß dir dein Herz erklingt: des CLebens Schauspiel sehn;
da mag vergehn, verwehen und mitten in dem Leben
das trübe Erdenleid, wird deines Ernst's Gewalt
da sollst du auferstehen mich Einsamen erheben,
in junger Herrlichkeit! so wird mein Herz nicht alt!
Josef v. Eichendorff.
146. Im brasilianischen Urwald.
Wenn man sich einem Urwald nähert, so sieht man zu—
nãchst nichts von den mächtigen Stàämmen, die er birgt. Da
wo der Wald an Feld, an einen Fluß oder einen Weg grenzt,
erhebt sich eine dichte, grüne VWand, die aus einer Fulle der
mannigfaltigsten Pflanzenformen zusammengesetzt ist. Sie
wird von den mit Uberpflanzen geschmückten Kronen der
hinter ihr aufstrebenden Waldbäume, von denen die Enden
langer Lianen herabhängen, überragt. Bis in die Kronen der
Baume steigen Kletterpflanzen empor. Gleich anmutig ge-
schwungenen Girlanden verbinden sie einen Stamm mit
dem andern, oder sie durchziehen das Gebüsch. Das ist an
vielen Stellen nur schwer zugänglich; aber auch da, wo der
Pflanzenwuchs etwas lichter wird, setzt man sich beim Vor—
dringen der Gefahr aus, daß Dornen und Stacheln die Kleider
zerreißen oder den Körper verwunden.
Haben wir uns unter Zuhilfenahme eines krummen Wald-—
messers und der Axt einen Weg durch das Dickicht gebahnt,
so treten wir ein in den eigentlichen tropischen Urwald.
Unter den Bäumen herrscht tiefes Dämmerlicht, und während
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uns am Waldrande die üppigste Blattfuülle entgegentrat, er-
blicken wir hier, wenn wir das Auge nicht zu den Kronen
erheben, nur überaus wenig grünes Laub. Eine schwüle,
moderdunstgesattigte Luft umgibt uns. In den Saulenhallen
des Valdes herrscht am Tage gewöhnlich ein tiefes Schwei-
gen. Nur ab und zu vernehmen wir fremdartig klingende
Vogelstimmen; welke Blaàtter rauschen zu Boden, und aus
bedeutender Hõhe fallen reife Frũchte hernieder.
Wãhrend unsere Wälder gewöhnlich nur aus einer oder
aus wenigen Baumformen bestehen, ist es für die meisten
tropischen Urwälder durchaus eigentũmlich, daß sie aus einer
großen Anzahl verschiedenartiger Baumarten zusammengesetzt
sind. Fast sämtliche Stĩamme erheben sich gleich Säulen
schnurgerade und verzweigen sich erst in bedeutender Höhe.
Viele steigen 30-50 Meter hoch empor, und man begegnet
nicht selten uralten Riesenbaumen von 8- 10 Meter Umfang.
Kleinere Gewãchse fehlen dem Urwalde keineswegs. Sie
haben sich aber, um ihr Lichtbedürfnis befriedigen zu können,
einen gar eigenartigen Standort ausgesucht. Vo von den
Stammen Aste und von diesen Zweige abgehen, dort im
Winkel, wo sich Humus und Feuchtigkeit ansammeln, siedeln
sich hoch oben in den Baumkronen die kleineren Gewächse
als „Uberpflanzen“ an.
Infolge des Mangels reichlicheren Unterholzes vermögen
wir uns ziemlich frei zwischen den zum Teil gewaltigen
Stämmen zu bewegen. Aber oft genug wird dennoch unser
Schritt durch Anhäufungen abgefallener dürrer äste, um—
gesunkener modernder Baumriesen, durch Bretterwurzeln,
Lianen, die sich, kühn geschwungen, vom Boden bis in die
Kronen erheben, oder durch herabhängende Buftwurzeln von
Uberpflanzen behindert.
Der Gesamteindruck eines tropischen Urwaldes ist meist
sehr ernst; denn in ergreifender Weise offenbart sich uns
hier unmittelbar neben der unerschöpflichen Lebensfülle die
Macht des Todes, sowie die Rũücksichtslosigkeit, mit der
die Pflanzen den Kampf ums Dasein führen. Riesen-
stämme, die stolz aufgerichtet ihre Aste vielleicht jahrhun-
dertelang im Sonnenglanz ausbreiteten, ruhen jetzt modernd
am Boden, und bald ist jede Spur früherer Herrlichkeit ver-
schwunden; denn höhere Luftwärme und größerer Feuchtig-
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keitsgehalt der Luft, sowie die häufig auftretenden Termiten
beschleunigen die Zerstörung der Holzmassen im Walde.
Und nun der Kampf um das Licht! Alles strebt im Urwald
der lebenspendenden Sonne entgegen. Die Stämme der
Baume steigen, ohne ässste abzugeben, gleich Säulen kerzen-
gerade mehr als 30 Meter empor. Ein Baum sucht dabei
einem andern den Rang streitig zu machen, um seine
blãttertragenden Zweige besser dem Lichte darbieten zu
können. Die Lianen kriechen nicht auf dem Boden hin,
sondern sie suchen Stützen zu gewinnen, an denen sie dem
Lichte entgegensstreben. Die kleineren Pflanzen haften zu-
meist nicht am Erdreich; sie besiedeln vielmehr, wo irgend
sich Raum bietet, die Kronen der Baume, um sich in den
Genuß des Lichtes zu setzen. In der Höhe breitet sich ein
grũünes, unentwirrbares Dach aus, gewoben aus den Zweigen
und Blättern der Baume, den Enden der Lianen und den
Uberpflanzen. Die Blätter der Pflanzen geraten dort oben
miteinander in einen stillen, aber furchtbar erbittert geführten
Kampf um das Licht. Nur diejenigen Pflanzen, die ge-
nũgend Licht gewinnen können, gedeihen kräftig; fast alle
uübrigen werden unterdrückt und müssen zugrunde gehen.
Wilhelm Detmer.
147. Aus dem Leben des Elefanten.
Am häufigsten trifft man Elefanten noch im Innern Afrikas
an. Schwierig ist es jedoch zuweilen, ihren augenblicklichen Aufent-
halt ausfindig zu machen, da sie ein sehr unstetes CLeben führen.
Oft vernimmt man einen Trupp scheinbar in nächster Nähe,
muß aber schon vor Tagesgrauen zur Stelle sein, wenn man
ihn noch antreffen will, weil die Tiere, nachdem sie sich gesättigt
haben, in der Regel einen andern Teil ihres Gebietes aufsuchen
und so rasch sich bewegen, daß sie heute hier, morgen 200 Kilo—
meter weiter sein können. Bodenhindernisse scheint es für sie über—
haupt nicht zu geben. Sie durchschwimmen Ströme und Seen,
arbeiten sich ohne Mühe durch den dicksten Urwald, an steilen,
steinigen und felsigen Höhen hinan, auf festem Boden oft förmliche
Straßen herstellend. Solche Straßen bemerkte ich in allen dichteren
Waldungen Innerafrikas, die noch von ihnen bewohnt werden.
Die Wege laufen gewöhnlich von der Höhe zum Wasser herab;
doch findet man auch Pfade, welche die übrigen durchkreuzen. In
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allen größeren Urwäldern sind die Elefanten geradezu als Straßen—
bauer anzusehen. Das leitende Mitglied einer Herde geht ruhig
durch den Wald, unbekümmert um das Unterholz, das es unter
seinen breiten Füßen zusammentritt, unbekümmert auch um die Aste,
die von stärkeren Bäumen herabhängen; denn diese werden ein—
fach mit dem Rüssel abgebrochen und bis auf die stärkeren Teile
verspeist. Der Elefant des Sudan soll in Mimosenwäldern großen
Schaden anrichten. Die Bäume darin haben zwar gewöhnlich eine
höhe von 5—6 Meter, besitzen aber keine Pfahlwurzeln und lassen
sich deshalb leicht umwerfen. Unter jeden Baum, der zur Nahrungs—
aufnahme reizt, schiebt ein Elefant einen seiner Stoßzähne, den er
nach Art eines Brecheisens zur Entwurzelung des Baumes gebraucht,
der dabei freilich nicht selten abbricht. Ist dem Elefanten die Ent—
wurzelung des Baumes geglückt, so frißt er Wurzeln und Blätter, und
streift dann die Rinde, um sie gleichfalls zu fressen, mit seinem rauhen
Rüssel von den Zweigen. Auf freien, sandigen oder auch staubigen
Flächen des Waldes scheint die Elefantenherde gewöhnlich Rast zu
halten und ein Staubbad zu nehmen, wie die Hühner es tun. Ich
beobachtete an solchen Orten tiefe, der Größe des Elefanten ent—
sprechende KNessel, die wahrscheinlich mit Hilfe der Stoßzähne aus—
gewühlt worden waren und deutlich zeigten, daß die gewaltigen
Tiere hier sich gepaddelt hatten.
Der Elefant ist nur scheinbar plump, in Wirklichkeit sehr ge—
schickt. Für gewöhnlich geht er ruhig und gleichmäßig wie das
Kamel und die Giraffe; dieser ruhige Gang kann aber so be—
schleunigt werden, daß ein Reiter Mühe hat, dem trabenden Elefanten
nachzukommen. Er versteht es, so leise durch den Wald zu schleichen,
daß man ihn kaum noch gehen hört. Beim Überschreiten sehr be—
deutender Steigungen wird der Elefant geradezu zum kletternden
Tiere. An einem Gefangenen, den ich pflegte, habe ich mit
wahrem Vergnügen gesehen, wie geschickt er es anfängt, schroffe
Gehänge zu überwinden. Er biegt zunächst sehr klug seine Vorder⸗
läufe in den Handgelenken ein, erniedrigt also den Vorderleib und
bringt den Schwerpunkt nach vorn, dann rutscht er auf den ein—
geknickten Beinen vorwärts, während er hinten mit gerade aus—
gestreckten Beinen geht.
Die wunderbarsten Bewegungen, deren der Elefant überhaupt
fähig ist, führt er mit seinem Rüssel aus. Dieses vorzügliche
Werkzeug ist ebenso ausgezeichnet wegen seiner gewaltigen Kraft
als wegen der Mannigfalligkeit der Biegungen und Drehungen,
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deren es fähig ist, und der Geschicklichkeit, mit der es etwas an—
greifen kann. Mit dem fingerartigen Fortsatze am Ende erfaßt
der Elefant die kleinsten Dinge, leichte Silbermünzen oder Papier—
schnitzel zum Beispiel, mit ihm bricht er aber auch starke Bäume
um. Im Rüssel hat auch der Tastsinn seinen bevorzugten Sitz,
und zumal die Spitze des kleinen Fortsatzes wetteifert an Feinheit
der Empfindung mit dem geübten Finger eines Blinden. Vächst
dem Rüssel benutzt der Elefant auch die Zähne zu mancherlei Arbeiten.
Er hebt mit ihnen Lasten auf, wälzt Steine um, wühlt Löcher und
gebraucht sie wohl endlich auch als Waffen zur Abwehr oder zum
Angriffe, schont sie übrigens so viel als möglich.
Wie rücksichtsvoll und klug sich der arbeitende Elefant gegen
den Menschen benimmt, ist bezeugt. „Eines Abends“, so erzählt
ein Beobachter, „ritt ich durch den Wald. Plötzlich stutzte mein
Pferd über ein Geräusch, das aus dem ziemlich dichten Walde
herübertönte, und in einer Wiederholung von dumpfen, wie
„Urmf, Urmf“ klingenden Lauten bestand. Dieses Geräusch er—
klärte sich beim Näherkommen. Es rührte von einem zahmen
Elefanten her, der eben mit harter Arbeit beschäftigt und ganz
auf sich selbst angewiesen, d. h. ohne Führer war. Er bemühte
sich nach KUräften, einen schweren Balken, den er über seine
Zähne gelegt hatte und wegen des engen Weges nicht gut fort—
bringen konnte, wegzutragen. Die Enge des Pfades zwang ihn,
sein Haupt beständig bald nach dieser, bald nach jener Seite zu
kehren. Diese Anstrengung erpreßte ihm die beschriebenen miß—
willigen Töne. Als das kluge Tier uns erblickte, erhob es sein
Haupt, besah uns einen Augenblick, warf plötzlich den Balken weg
und schob sich rückwärts gegen das Unterholz, um uns den Weg
freizumachen. Mein Pferd zögerte. Der Elefant bemerkte dies,
drückte sich tiefer in das Dickicht und wiederholte sein „Urmf“, aber
entschieden in viel milderem Tone, offenbar in der Absicht, uns zu
ermutigen. Noch zitterte mein Pferd. Ich war viel zu neugierig
auf das Beginnen der beiden klugen Geschöpfe, als daß ich mich
eingemengt hätte. Der Elefant wich weiter und weiter zurück und
wartete ungeduldig auf unsern Vorüberzug. Endlich betrat mein
Pferd den Weg, zitternd vor Furcht. Wir kamen vorüber, und
augenblicklich trat der Elefant aus dem Dickicht hervor, erhob seine
Cast von neuem und setzte seinen mühseligen Weg fort wie vorher.“
Nach Alfred Brehm und Hhaake-Kuhnert.
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148. Ehre der Arbeit!
Wer den wucht'gen Hammer schwingt;
wer im Felde mäht die Ahren;
wer ins Mark der Erde dringt,
Weib und Uinder zu ernähren;
wer stroman den Nachen zieht;
wer bei Woll' und Werg und Flachse
hinterm Webestuhl sich müht,
daß sein blonder Junge wachse: —
Jedem Ehre, jedem Preis!
Ehre jeder Hand voll Schwielen!
Ehre jedem Tropfen Schweiß,
der in Hütten fällt und Mühlen!
Ehre jeder nassen Stirn
hinterm Pflugel — Doch auch dessen,
der mit Schädel und mit Hirn
hungernd pflügt, sei nicht vergessen!
Ferdinand Freiligrath.
149. Auf den Reisfeldern von Java.
Den auffallendsten Charakterzug der javanischen Candschaft bilden
die Reisfelder oder Sawahs, die in gewaltiger Ausdehnung den
weitaus größten Teil des Kulturlandes bedecken und den Einge—
borenen ihr wichtigstes Nahrungsmittel liefern. Seit Jahrtausenden
sind die Javanen gewohnt, den Reisbau mittelst eines eigentümlichen,
höchst zweckmäßigen Terrassensystems zu betreiben. Da das Reis—
gras eine tropische Sumpfpflanze ist, findet es in den besonderen
klimatischen Verhältnissen von Java die denkbar günstigsten Be—
dingungen für ertragreiche Entwicklung. Täglich sammeln die
unzähligen Gipfel der gewaltigen Vulkankette die Wasserdünste,
die der Indische Ozean unter dem Einflusse der glühenden
Tropensonne verdampft; täglich entladen die ausgedehnten so ent⸗
stehenden Wolkenlager das befruchtende Naß in starken Gewitter—
regen. Auf dem hügeligen, mehr oder weniger geneigten Gelände
nimmt das abfließende Regenwasser stets große Massen von
Humus aus den Bergwäldern und von mineralischen Vährsalzen
aus dem vulkanischen Boden mit sich fort. Dieser Wasserschatz
wird nun von den Javanen über die weiten Flächen der Reis—
felder dadurch möglichst gleichmäßig verteilt, daß sie in viele wage⸗
rechte, übereinander gelegene Terrassen geteilt sind. In den Däm—
men, welche diese trennen, sind kleine Offnungen oder Schleusen
angebracht, durch die das Wasser jeder Terrasse in die darunter
gelegene abfließt. Zahlreiche, meist parallele Querdämme, senkrecht
auf den Längsdämmen stehend, teilen die weiten, wasserbedeckten
Flächen in kleinere Felder. Das Gitterwerk, das so entsteht, gibt
der Reislandschaft ihren eigentümlichen Charakter. Die braunen
Dämme — die Stäbe des Gitters — heben sich scharf ab von den
spiegelnden Wasserflächen oder von dem lichtgrünen Grasteppich,
der daraus hervorwächst. Die Farbe dieses Sammetteppichs, in
weiter Ferne mehr smaragdgrün, in der Nähe freudig gelbgrün,
steht in reizendem Gegensatz zu dem mannigfach gestalteten dunkel—
grünen Pflanzenschmuck des Vordergrundes, zu dem violettblauen
Gebirgshintergrunde und zu den dunkelgrauen Wolken, die in
mächtigen Haufen über den lichtstrahlenden Himmel ziehen. Be—
sonders hübsch erscheinen die Reisfelder des niederen Gebirges, die
bis zu tausend Meter aufsteigen und oft in halbrunden Talmulden
die Bildung eines riesigen Amphitheaters nachahmen; die braunen
Dämme, in gleichen Abständen sich übereinander erhebend, ent—
sprechen den Sitzreihen, wie man sie z. B. im Amphitheater von
Syrakus so schön erhalten sieht.
Da in dem „ewigen Sommer“ von Java der Unterschied der
Jahreszeiten größtenteils fortfällt, dauert auch die Reiskultur das
ganze Jahr hindurch; oft folgen sich auf denselben Feldern zwei
Ernten in verschiedenen Jahreszeiten. Daher hat man auf der
Eisenbahn, niedere und höhere Gegenden nacheinander durcheilend,
Gelegenheit, die altgewohnte Reiskultur der Javaner in allen Stufen
der Entwickelung zu beobachten. Zuerst werden kleine Saatfelder
angelegt; ganze, reife Reisähren werden in diese Wasserbecken
gelegt, in denen die jungen Pflänzchen vierzig bis achtzig Tage
Zeit zur Ueimung haben. Da sie viel zu dicht stehen, werden sie
dann herausgenommen und auf die gut vorbereiteten Felder über—
tragen. Die Arbeiten der Männer an dieser Vorbereitung sieht
man überall im Gange; der javanische Bauer erscheint bei dieser
Tätigkeit von ferne wie ein wandelnder Hutpilz, indem seine dünne,
halbnackte Figur von einem mächtigen, verschieden gefärbten, flach
tellerförmigen Strohhute bedeckt wird, dessen Durchmesser ein Meter
und darüber erreicht; gleichzeitig Schutzdach gegen Sonnenbrand
und Regenguß. Mit leichter Jacke und kurzer Kniehose bekleidet,
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wandelt er so hinter dem schweren Pfluge her, den zwei mächtige
Büffel durch den Schlamm ziehen, ebenfalls bis an das Unie im
Wasser watend. Nachher wird der Boden, aus dem Frauen und
Linder sorgfältig das Unkraut ausjäten, noch geeggt, dann das
Wasser abgelassen.
Nun beginnt die mühsame Arbeit der Frauen und LKinder; sie
nehmen die jungen Keimpflanzen aus den Saatbeeten und übertragen
sie auf das so vorbereitete Reisfeld; dabei werden immer mehrere
Pflänzchen in je ein Pflanzloch gesetzt und in gleichen Abständen
in Reihen geordnet. Nachdem jetzt die Felder wieder unter Wasser
gesetzt sind, gleichen sie eine Zeitlang flachen Teichen. Bald aber
wachsen aus der Wasserfläche die zarten, gelblichen Reishalme empor
und erheben sich zur Bildung der wogenden Felder, deren lichtes
Sammetgrün das Auge erfreut. Geht dann die Frucht der Reife
entgegen, so werden überall Vogelscheuchen aufgestellt: Blätter von
okos⸗ und Arengpalmen, deren Fiedern rauschend im Winde flattern.
In besonderen kleinen Wächterhäuschen, auf hohen Bambuspfählen
sich erhebend, sitzen Feldhüter, die lange, nach allen Seiten aus—
gespannte Schnüre in Bewegung setzen. Die bunten Kleiderfetzen
und Puppen, die an diesen Schnüren befestigt sind, dienen zum Ver—
scheuchen der Reisfinken und sonstiger Diebe aus der Tierwelt.
Ganzʒ anders sehen die Reisfelder wieder einige Wochen später
aus, wenn die Erntezeit naht; die Felder werden wieder trocken
gelegt, und nun beginnt das Fest des Erntens. Alt und jung
wandert zu den reifen goldenen Schätzen hinaus, schneidet mit kleinen
Messern die einzelnen Ahren ab und bindet sie zu kleinen Büscheln
und diese zu Garben zusammen. An den beiden Enden eines langen
elastischen Bambusrohres aufgehängt, werden die Casten von den
Männern über die Schultern genommen und auf den Markt oder
in die kleinen, niedlichen Reisscheuern gebracht, die man zwischen
den Hütten sieht: zierliche Häuschen mit steilem, überhängendem
Dach, auf vier hohen Pfählen ruhend, die nach unten zusammen—
laufen. Die bunten Kleider, welche die Javanen bei der Reisernte
anziehen: die roten, violetten und grünen Jacken und Röcke der
Frauen, die weißen, gelben und blauen Jacken und breiten Schüssel⸗
hüte der Männer erhöhen den malerischen Reiz des bunten Bildes,
das ein solches Erntefeld gewährt.
Ernst Haeckel.
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150. Eine Eisbärenjagd.
Mitte März 1896 ging es uns in unserer Winterhütte recht
schlecht. Um Tran zu sparen, mußten wir im Dunkeln schlafen
und konnten nur einmal am Tage kochen. Wir sehnten uns nach
einem Bären und meinten, es müsse jetzt etwa die Zeit sein, wo sie
wiederkommen könnten. Ich hatte gerade den Sonntagmorgen damit
verbracht, meine Windhosen zu nähen und meine Komager Cappen⸗
schuhe) zu flicken, um vollständig bereit zu sein, wenn ein Bär erscheinen
sollte. Johansen, dessen Kochwoche es war, hatte ebenfalls ein wenig
genäht; er reinigte gerade die Hütte zum Sonntage und trug Unochen
und Fleischabfälle hinaus, womit er bis an den Eingang gelangt
war. Kaum hatte er aber das draußen über der Offnung liegende
Fell aufgehoben, als ich ihn Hals über Kopf wieder hereineilen und
über einen Haufen Unochen stolpern und rufen hörte: „Da steht
ein Bär gerade vor der Cür!“ Er riß seine Büchse von der Stelle
herab, wo sie unter dem Dache hing, und steckte den Kopf in den
Durchgang, zog ihn aber rasch zurück und sagte: „Er steht dicht
davor und will offenbar hereinkommen.“
Es gelang Johansen, eine Ecke des Felles vor der Tür zur
Seite zu ziehen, um Raum für seinen Ellenbogen zum Schießen zu
bekommen, was aber nicht ganz leicht war. Der Durchgang war
ohnehin schmal genug, und jetzt war er auch noch voll Knochen
und Fleischabfälle. Während Johansen geduckt lag, sah ich, daß
er einmal das Gewehr an die Schulter hob, dann es aber wieder
sinken ließ; er hatte vergessen, es zu spannen, der Bär hatte sich
ein wenig bewegt, so daß nur Maul und Tatzen von ihm zu sehen
waren. Nun aber begann er mit einer Tatze in dem Durchgange
herumzukratzen, als ob er hereinkommen wollte, worauf Johansen
meinte, er müsse Feuer geben, wenn er ihn auch nicht sehe. Er
schob die Büchse hinaus, richtete den Lauf auf den obern Rand der
Offnung, weil er glaubte, daß der Schuß dem Bären gerade durch
die Brust gehen müsse, und gab Feuer. Ich hörte ein dumpfes
Brummen und das Unirschen schwerer Tritte, die sich aufwärts
dem Gerölle zuwandten. Johansen hatte wieder geladen und den
Kopf zur ffnung hinausgesteckt; er sagte, er sehe ihn dort hinauf—
gehen, es schiene nicht viel geworden zu sein, und stürzte hinter ihm
her. Mittlerweile hatte ich, mit dem Kopfe voran, in dem Schlaf—
sacke gelegen und auf eine Socke Jagd gemacht, die ich nicht finden
konnte. Nach langem Suchen fand ich sie endlich — auf dem Erd—
267
boden natürlich. Dann war auch ich fertis, und wohlausgerüstet
mit Büchse, Patronen, Messer und Feile, die zum Schärfen des See⸗
hundsmessers diente, folgte ich. Ich hatte auch meine Windhosen
an, die während des ganzen Winters wegen Mangels an Zwirn
zum Nähen unbenutzt gehangen hatten, jetzt aber, als die CTemperatur
nur — 20C. war, natürlich angezogen werden mußten. Ich folgte
den Spuren, die westwärts und nordwärts längs der Lüste führten.
Nach einer Weile begegnete mir endlich Johansen; er sagte, der
Bär läge weiterhin, er habe ihn schließlich eingeholt und mit einem
Schusse in den Rucken abgetan. Während er umkehrte, um die
Schlitlen zu holen, ging ich hin, um mit dem Abhäuten anzufangen,
was jedoch nicht so ganz rasch geschehen sollte. Als ich mich der
Stelle näherte, wo der Bär nach meiner Meinung liegen mußte,
erblickte ich den totgeglaubten Bären, der weit voraus in ziemlich
lebhaftem Tempo die Küste entlang trabte. Hin und wieder blieb
er stehen, um sich nach mir umzusehen. Ich rannte auf das Eis
hinauf, um, wenn möglich, auf seine andere Seite zu kommen und
ihn zurückzutreiben, damit wir ihn nicht zu weit zu schleppen hätten.
Nachdem ich dies einige Feit fortgesetzt hatte und ungefähr auf
gleiche Höhe mit ihm gekommen war, begann er an dem Gletscher
hinauf und unter einige zerrissene Felsstücke zu klettern. Ich hatte
nicht darauf gerechnet, daß ein „toter“ Bär dazu imstande sein
würde. Das einzige war, ihn sobald wie möglich daran zu hindern;
allein gerade, als ich in Schußweite war, verschwand er hinter einem
Vorsprunge. Bald darauf sah ich ihn wieder, ein gutes Stück höher
hinauf und ganz außer Schußweite. Er reckte den Hals, um zu
sehen, ob ich ihm nachkäme. Ich stieg ihm eine Strecke nach, aber
da er längs des Berges rascher lief, als ich ihm in dem tiefen
Schnee folgen konnte, unter dem überdies Spalten verborgen waren,
in die ich wiederholt bis zur Brust hineinfiel, so zog ich es vor,
wieder nach dem Fjordeis hinabzuklettern. Nach einer kleinen Weile
kam er unter einer senkrechten Klippe mit etwas steilem Gerölle
hervor, wo er vorsichtig weiterzukriechen begann. Ich befürchtete,
daß er sich an einer Stelle wie dieser, wo wir ihn nicht erreichen
konnten, hinlegen werde, und meinte, ich müsse trotz der großen
Entfernung doch schießen, um zu versuchen, ihn dadurch zum Herab—
steigen zu bringen. Es sah nicht danach aus, als ob er dort oben
festen Halt für die Füße hätte. Unter der Klippe wehte es ordent—
lich, und ich sah, daß der Bär, wenn die schlimmsten Windstöße
kamen, sich glatt niederlegen und mit den Klauen festhalten mußte;
268
doch hatte er dazu nur drei Füße, da das rechte Vorderbein zer—
schossen war. Ich stellte mich nun an einen großen Stein am
untern Rande des Gerölls, zielte gut und gab Feuer. Ich sah die
Kugel gerade unter ihm in den Schnee einschlagen; getroffen oder
nicht. sprang er auf und versuchte über eine Schneewehe zu setzen,
glitt aber aus und überschlug sich. Ein paarmal versuchte er, sich
festzuhalten, fiel aber weiter, bis er schließlich auf den Füßen stand
und nun langsam wieder hinaufzukriechen begann. Mittlerweile
hatte ich wieder geladen; die Schußweite war jetzt geringer, und ich
schoß nochmals. Er stand einen Augenblick still und glitt dann
immer weiter am Abhange hinab, erst langsam, dann schneller
und immer schneller, wobei er sich mehrfach überschlug. Ich
glaubte, er käme gerade auf mich zu, tröstete mich jedoch mit
dem Gedanken, daß der Stein, hinter dem ich stand, recht fest war.
Mich niederkauernd, schob ich rasch eine Patrone in den Lauf. Der
Bär war jetzt bei dem Gerölle unten am Abhange angekommen;
er war mit Steinen und Schneeklumpen zusammen in einer Reihe
von Sätzen, von denen einer immer größer als der andere war,
heruntergestürzt. Es war ein seltsamer Anblick, diesen großen weißen
Körper durch die Luft fliegen und einen Cuftsprung nach dem andern
tun zu sehen, als ob er ein Stück Holz gewesen wäre. Endlich
machte er noch einen gewaltigen Satz und stieß darauf an einen
großen Stein. Ein starker Urach, und er lag dicht neben mir;
dann gingen noch einige Zuckungen durch den Körper, und alles
war vorüber.
Es war ein ungewöhnlich großes Männchen mit wunderschönem
dickem Pelze, den man gern zu Hause haben möchte; das beste aber
war, daß er auch fett war.
Es war so windig, daß die Windstöße einen wohl umwerfen
konnten, wenn man nicht darauf vorbereitet war. Bei so milder
Luft aber hatte der Wind nicht viel auf sich, und es würde keine
so schwere Arbeit gewesen sein, den Bären abzuhäuten, hätte er
nicht in einer Vertiefung gelegen und wäre er nicht so schwer ge—
wesen, daß ein Mann ihn nicht bewegen konnte. Nach einer Weile
kam Johansen herbei, und schließlich hatten wir ihn zerlegt und
nach dem Eise hinabgeschleppt, wo wir ihn auf den Schlitten packten.
Wir waren noch nicht weit gekommen, als wir fanden, es würde
für uns zu viel sein, ihn auf einmal gegen den Wind weit zu
ziehen. Wir legten daher die Hälfte in einem Haufen auf dem Eise
nieder und breiteten das Fell darüber aus, mit der Absicht, sie nach
einem oder zwei Tagen zu holen; aber selbst auf diese Weise hatten
wir Mühe genug, in der Dunkelheit gegen den Wind anzukämpfen,
so daß es schon spät am Abend war, ehe wir heimkamen. Es war
lange her, seitdem wir uns so über unser Nachhausekommen, sowie
darüber gefreut hatten, daß wir uns in den Sack legen und frisches
Fleisch und heiße Suppe zum Abenodbrote verzehren konnten.
Wir lebten sechs Wochen von diesem Bären.
Frithjof Nansen.
151. über die Vererbung erworbener
Eigenschaften bei Pflanzen und Tieren.
Sehen wir uns an, was Pflanzen- und Tierzucht hervorgebracht
haben, indem sie sich die Vererbung erworbener Eigenschaften zu—
nutze machten. Nehmen wir zunächst einen Fall, bei dem klimatische
Einflüsse eine Rolle spielen. Da ist der Lein, eine Pflanze, die
sowohl zur Gewinnung ihrer schönen Faser, des Flachses, als auch
um ihrer ölreichen Samen willen allüberall angebaut wird und den
großen Vorzug einer großen Anpassungsfähigkeit an wechselnde
klimatische Verhältnisse hat. Vom hohen VNorden bis in das
tropische Indien finden wir die Leinpflanze als Gegenstand des
Ackerbaues. Aber das wechselnde Klima ihrer verschiedenen Stand—
orte geht nicht spurlos an ihr vorüber. Im Vorden wächst der
CLein gerade empor, ohne sich zu verzweigen, was natürlich für
die Erzeugung einer geraden und glatten Faser von Vorteil ist.
Im Süden dagegen wird der Lein üppig, verzweigt sich und
bringt sehr viele Blüten und Früchte hervor, was für den von
Vorteil ist, der den Lein um seiner ölhaltigen Samen willen an—
baut. Trotzdem pflanzt man den Lein auch in Süddeutschland, in
der Schweiz und Italien, ja sogar in Ägypten zum Zwecke der
Fasergewinnung. Wie erreicht man in diesen wärmeren Ländern
das gerade, schlanke Emporwachsen der CLeinpflanzen? Einfach da—
durch, daß man sie aus dem im Vorden gewonnenen Samen — man
verwendet meist denjenigen aus den Ostseeprovinzen Rußlands —
erzieht. Der im VNorden wachsende Lein verdankt seinen schlanken
Wuchs ausschließlich dem Einfluß des Klimas; es handelt sich
keineswegs etwa um eine besondere, im VNorden heimische Abart
der Pflanze. Diese durch äußere Einwirkung des Klimas erwor—
bene Eigenart bleibt auch im südlichen Klima noch einige Ge—
schlechter hindurch erhalten, ehe sie sich endgültig verliert. Hier
haben wir einen auffälligen Fall der Vererblichkeit erworbener Ver—
260
änderungen. Manche andern Fälle ließen sich dem noch an die
Seite stellen. Welcher Gärtner weiß nicht, daß man auch in der
Ebene schön sammetiges Edelweiß ziehen kann, wenn man immer
nur Samen aus dem Hochgebirge zur Anzucht verwendet?
Vielleicht noch belehrender ist die Geschichte der Rübenverbesse—
rung in Deutschland, bei der das Ulima keine Rolle spielt, wohl
aber die Art der Ernährung. Die Zuckerrübe ist ein gegen klima—
tische Einflüsse sehr empfindliches Gewächs, dessen Anbau auf ganz
bestimmte Länderstriche beschränkt ist, zu denen Vorddeutschland in
erster Linie gehört. Dagegen hat die Rübe die Eigentümlichkeit,
daß sie außerordentlich dankbar dafür ist, wenn man sie gut füttert.
Sie wird daher nur auf den fettesten Bodenarten angebaut, die noch
dazu ganz gehörig gedüngt werden. Je besser der Boden, je reicher
die Düngung, desto mehr Zucker erzeugt die Rübe. Ihr Zucker—
gehalt, der von Haus aus kaum 6 Prozent beträgt, kann hierdurch
um mehrere Prozente steigen, was sich die Industrie natürlich zunutze
gemacht hat. Aber dabei blieb die Vervollkommnung nicht stehen.
Sehr bald sagten sich die Rübenbauer, daß ebenso wie bei zwei ver—
schiedenen Schweinen die Mästung verschieden ausschlägt, es wohl
auch bei der Mästung der Rübe sein würde. Der Zuckergehalt
verschiedener Rüben würde unter dem Einfluß der üppigen Kultur
verschieden zunehmen. Und wieder sagte man sich ganz richtig, daß
diese erworbene Veränderung des Zuckergehaltes vererblich sein würde.
Man begnügte sich nun nicht mehr damit, besonders zuckerreiche
Rübenrassen (wie die Quedlinburger und andere) zu züchten, sondern
man fing an, die einzelnen Rüben auf ihren Zuckergehalt zu prüfen
und nur diejenigen in Samen schießen zu lassen, in denen sehr
viel Zucker gefunden wurde. Das ließ sich bei den dicken Rüben
in der Weise ausführen, daß man sie aus der Erde nahm, mit
einem scharfen Rohr Zylinderchen aus der Rübe herausstach und
die Rüben dann wieder einpflanzte. Die Rüben ließen sich das
ruhig gefallen und wuchsen lustig weiter, die ausgestochenen Zylinder
aber wurden auf ihren Zuckergehalt untersucht. Nur diejenigen
Rüben ließ man in Samen schießen, die den höchsten Zuckergehalt
ergeben hatten, die anderen wurden vor der Blüte beseitigt. Die
Samen der stehengebliebenen Rüben lieferten nun nicht etwa Rüben
mit Löchern, sondern Rüben von höherem Zuckergehalt, mit denen
wieder in gleicher Weise verfahren wurde. So ist man dazu gelangt,
den Zuckergehalt der deutschen Zuckerrübe auf etwa 17 bis 18 Prozent
zu steigern, also auf das Dreifache des natürlichen Gehaltes. Und
270
dieses wunderbare Ergebnis ist erreicht worden durch üppige UNultur
(also Beeinflussung des CLebewesens von außen) und Auswahl der
günstigsten Kulturergebnisse für die Fortzucht (also Vererbung der
entstandenen Veränderung).
Auch dafür gibt es Beispiele genug, daß solche Vorgänge, wie
die eben geschilderten, keineswegs auf das Pflanzenreich beschränkt
sind. Vor etwa dreißig Jahren war es in Paris Mode, lang—
haarige, schneeweiße Katzen, die sogenannten Angorakatzen, zu halten.
Sie trugen ihren Namen mit Recht, da sie tatsächlich ursprünglich
aus Angora in Kleinasien eingeführt waren. Da sie sich, ebenso
wie andere Katzen, reichlich vermehrten, so war bald ganz Paris
von ihnen bevölkert. In jedem Caden konnte man die großen
prächtigen Geschöpfe bewundern, und junge Tiere waren für billigen
Preis ũberall käuflich. Aber wie jede Mode, so verschwand auch
diese nach einiger Zeit. Was aber ist aus den Tausenden von
Angorakatzen geworden? Nach wie vor findet man in Paris in
jedem Laden die bekannten wohlgepflegten Katzen, die bei Tage
schnurren und halbschlafend auf dem Cadentische liegen, während
sie sich nachts dem Mäusefang hingeben; aber heute sind es wieder
die gewöhnlichen, schwarz und braun getigerten, die sich am meisten
der allgemeinen Gunst erfreuen. Wo sind die weißen Angorakatzen
mit ihrer zahlreichen Nachkommenschaft hingekommen?
Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus Beobachtungen an
einem anderen Tier, Beobachtungen, die auf das Sorgfältigste an—
gestellt worden sind, weil sie ein großes wirtschaftliches Interesse
darboten.
Man weiß nämlich heute, daß in der Provinz Angora nicht
nur die Katzen weiß und langhaarig sind, sondern auch fast alle
andern Haustiere, die Hunde, Kaninchen, Rinder und Ziegen. Das
Haar der Fiegen ist ein sehr geschätzter Stoff, der mit Sorg—
falt alljährlich abgeschoren und in großen Mengen ausgeführt
wird. Er bildet die weiche, langstapelige, seidenglänzende Gewebe—
faser, die unter dem Namen Mohär wohlbekannt und sehr be—
liebt ist. Aus ihr werden allerlei seidenglänzende Gewebe, die als
Fellnachahmungen bekannten Mohärplüsche und besonders gute
Teppiche, hergestellt; ferner dienen nicht geringe Mengen zur Ver⸗
fertigung der Haarperücken, ohne die heutzutage keine Puppe mehr,
und sei sie noch so billig, verkäuflich ist. Die große Nachfrage
nach diesem schönen Stoff in der europäischen Industrie bewirkte,
daß bald Kleinasien die erforderlichen Mengen von Mohär nicht.
27
mehr liefern konnte, was dazu führte, daß man Mohärziegen auch
nach andern Orten einführte, um dort ihre Zucht zu betreiben,
geradeso, wie man Angorakatzen als Cuxusartikel nach Paris ge—
bracht hatte. Aber während man die Katzen nach ihrer Einführung
sich selbst überlassen hatte, sah man sich genötigt, die Fortpflanzung
der kostbaren Ziegen sorgfältig zu überwachen. Dabei zeigte es sich,
daß das zweite und dritte Geschlecht kaum bemerkbare nderungen
aufwies, daß aber in den folgenden die bezeichnenden Merkmale
der Mohärziegen verschwanden, bis schließlich trotz aller Sorgfalt
in der Reinerhaltung der Rasse wieder ganz gewöhnliche Fiegen
zum Vorschein kamen. Offenbar verhält es sich ganz ebenso mit
den Pariser Katzen: die heutigen graubraunen Cigerkatzen sind die
Nachkommen der langhaarigen weißen Angoras der napoleonischen
Zeit.
Was ergibt sich nun aus diesen Beobachtungen? Offenbar das,
daß die langhaarigen Tiere der Provinz Angora gar keine besonderen
Rassen darstellen, sondern nur Spielarten unserer gewöhnlichen Haus⸗
tiere, die ihre Entstehung dem Einflusse besonderer klimatischer Ver⸗
hältnisse verdanken, und die so tiefgreifend sind, daß sie sich auch
in einem veränderten Klima durch eine Reihe von Geschlechtern
forterben. Schließlich aber geht diese Wirkung verloren, und es
kommt wieder das gewöhnliche Haustier zustande, wie es sich unter
dem Einfluß des Klimas des in Betracht kommenden Candes
herausgebildet hat. Bei der Mohärziege ist sogar der Beweis
erbracht worden, daß das Klima allein für die Entstehung und
Forterhaltung der Eigenheit verantwortlich zu machen ist. Man
hat nämlich gefunden, daß es einige wenige Länder gibt, wo die
Mohãrziege bei andauernder Fortzucht nicht in die Hausziege sich
zurück verwandelt. Es sind gewisse Gegenden in Sudafrika und
Nalifornien. So kommt es, daß namentlich die Kapkolonie im—
stande war, den großen Mehrverbrauch an Mohär zu decken, der
sich gegen früher herausgebildet hat.
Ein Seitenstück zu diesen Beobachtungen an Angoratieren bildet
die Geschichte der wollvliesigen Schafe. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß die Wollpliesigkeit keine natürliche, sondern eine erworbene
Eigenschaft der Schafe ist, denn es gibt kein einziges wildes Schaf,
das wollvliesig ist. Die Fähigkeit, Wolle, d. h. ein markloses, durch
besondere Zugfestigkeit ausgezeichnetes Flaumhaar zu erzeugen und
dabei die sonst in jedem Tierfell vorkommenden Grannenhaare
fast ganz zu verlieren, hat das Schaf erst durch die menschliche
272
Pflege erlangt, die aber verbunden sein muß mit gewissen klimatischen
Verhältnissen. So ist es gekommen, daß sich in Europa bloß an
einem Orte ein wirklich edles Wollschaf entwickelt hat, nämlich in
Spanien. Aber die erworbene Eigentümlichkeit des spanischen Merino⸗
schafes ist vererblich, infolgedessen konnten diese Schafe in anderen
Ländern, wo sie eingeführt wurden, bei passender Pflege weiter
gezüchtet werden. Andererseits geht sie verloren, wo die Cebens⸗
bedingungen ihrer Erhaltung nicht günstig sind. In jedem Tropen⸗
lande verwandelt sich das edelste Wollschaf schon nach wenigen
Geschlechtern in ein ganz gewöhnliches granniges Tier. Und wie—
derum gibt es außereuropäische Länder, die der Wollbildung noch
günstiger sind als das Heimatland der Merinos, wo sich daher
diese noch zu größerer Vollkommenheit entwickeln als in der Heimat.
Der erste Fall trat in Argentinien ein, wo sich das kleine spanische
Merino zum Negrete-Riesenschaf ausgewachfen hat. Das zweite
geschah in Australien, dessen herrliche Wollschafe von ziemlich un—
edlen Vorfahren abstammen, die aber schon in wenigen Geschlech⸗
tern nach ihrer Einführung (aus Indien, wo sie keine Wolle hervor⸗
bringen und nur als Fleischtiere gehalten wurden) eine solche Nei—
gung zur Wollvliesigkeit zeigten, daß die Ansiedler ihre Ausnutzung
nach dieser Richtung und ihre Kreuzung mit wirklichen Wollschafen
für angezeigt hielten.
Wer sich entschließen kann, die Frage nach der Vererbung er—
worbener Eigentümlichkeiten unbeirrt nachdenklich zu betrachten;
wer sich dabei erinnern will, daß der schönste Erfolg einer wissen—
schaftlichen Errungenschaft in ihrer Verwertbarkeit besteht, der wird
alsbald erkennen, daß gerade auf diesem Gebiete die Grundlagen
zu ungeheuren Fortschritten in der Zukunft gegeben sind. Die
Weiterentwicklung der gesamten Candwirtschaft, die richtige Aus—
nutzung der Tropenländer, ja, der andauernde Fortschritt der Mensch—
heit selbst, sie sind alle abhängig von der Erhaltung und Weiter—
vererbung erworbener guter und von der Ausmerzung erworbener
schlechter Eigenschaften. Otto V. Witt.
152. Die Brück' am Tay.
(28. Dezember 1879.)
„Wann treffen wir drei wieder zusamm'?“
„Um die siebente Stund', am Brückendamm.“
„Am Mittelpfeiler.“
„Ich lösche die Flamm'.“
Weimar. Cesebuch II, 2. 18
273
Ich mit⸗
„Ich komme von Vorden her.“
„Und ich von Süden.“
„Und ich vom Meer.“
„Hei, das gibt einen Ringelreihn,
und die Brücke muß in den Grund hinein.“
„Und der Zug, der in die Brücke tritt
um die siebente Stund'?“
„Ei, der muß mit.“
„Muß mit.“
„Tand, Cand
ist das Gebilde von Menschenhandl“
me——
Auf der VNorderseite das Brückenhaus —
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut', ohn' Rast und Ruh'
und in Bangen sehen nach Süden zu,
sehen und warten, ob nicht ein Licht
übers Wasser hin „ich komme“ spricht,
„ich komme trotz Nacht und Sturmesflug,
ich, der Edinburger Zug.“
Und der Brückner jetzt: „Ich seh' einen Schein
am andern Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
unser Johnie kommt und will seinen Baum,
und was noch am Baum von Cichtern ist,
zünd' alles an wie zum heiligen Christ,
der will heuer zweimal mit uns sein, —
und in elf Minuten ist er herein.“
Und es war der Jug. Am Süderturm
keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
und Johnie spricht: „Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
die bleiben Sieger in solchem Kampf,
und wie's auch rast und ringt und rennt,
wir kriegen es unter: das Element.
274
Und unser Stolz ist unsre Brück';
ich lache, denk' ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die VNot
mit dem elend alten Schifferboot;
wie manche liebe Christfestnacht
hab' ich im Fährhaus zugebracht,
und sah unsrer Fenster lichten Schein,
und zählte, und konnte nicht drüben sein.“
Auf der VNorderseite das Brückenhaus —
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut' ohn' Rast und Ruh'
und in Bangen sehen nach Süden zu;
denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel',
erglüht es in niederschießender Pracht
überm Wasser unten. .. Und wieder ist Nacht.
„Wann treffen wir drei wieder zusamm'?“
„Um Mitternacht am Bergeskamm.“
„Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.“
„Ich komme.“
Euch di —
ne u
„Und ich die Namen.“ a Ihn nenn ch dersabl.
u „Und ich die Qual.“
ei
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.“
„Cand, Cand
ist das Gebilde von Menschenhand.“
Theodor Fontane.
153. Die erste Eisenbahn.
Am 25. August des Jahres 1830 unternahm George Stephen⸗
son eine Probefahrt auf der von ihm erbauten ersten Eisenbahn,
die Liverpool mit Manchester verbinden sollte. Es hatte schwere
Kämpfe gekostet, um alle Vorurteile zu überwinden, die seine Er—
findung als töricht und gefährlich hinstellten; um so größer ward
aber sein Ruhm, als sich erwies, daß er seine Versprechungen zu
halten verstand. Welchen Eindruck dieses neue Beförderungsmittel
*
275
18*
276
und sein Erfinder machten, das erkennt man am besten aus dem
Briefe, den eine Teilnehmerin, die Tochter eines berühmten eng—
lischen Schauspielers, an eine Freundin richtete. Sie schrieb am
Tage nach der Fahrt:
Es war einmal ein Mann zu Newcastle, der war ein gewöhn—
licher Kohlenhauer. Aber er hatte eine außerordentliche Anlage
für sinnvolle Zusammensetzung von Elementen, die sich darin kund—
gab, daß er einmal seine Uhr auseinandernahm und wieder zu—
sammensetzte, einmal ein Paar Schuhe in den Feierabendstunden
machte; endlich — hier ist eine große Lücke in meiner Geschichte —
brachte es ihn mit seinem Kopfe voll von Plänen für den Bau
einer Eisenbahn von Liverpool nach Manchester vor einen Aus-
schuß des Parlaments. Aber es traf sich, daß dieser Mann neben
der schnellsten und kräftigsten Auffassungs- und Erfindungsgabe,
neben unermüdlichem Fleiße und xastloser Ausdauer, neben den
genauesten Kenntnissen der Naturkräfte, die er für seine Zwecke
brauchte, — so gut wie gar keine Gabe zum Sprechen hatte.
Er konnte so wenig sagen, was und wie er es tun wolle, als
er fliegen konnte. Als daher die Parlamentsmitglieder auf ihn
einredeten und fragten: „Da ist ein Felsen, sechzig Fuß hoch, zu
durchbrechen; dort sind Dämme von ungefähr gleicher Höhe auf—
zuschütten; da ist ein Sumpf von fünf Meilen Länge zu überschreiten,
in dem ein hineingesteckter Stab von selbst versinkt: — wie wollen
Sie das alles ins Werk setzen?“ so erhielten sie nichts zur Antwort,
als im breiten northumberländischen Dialekt: „Ich kann's euch nicht
sagen, wie ichs tun werde; aber ich sage euch, daß ich es tun werde.“
Und sie entließen Stephenson als einen Schwärmer. Da er aber in
eine Gesellschaft von Liverpooler gebildeten Leuten kam, die weniger
ungläubig waren und die nötigen Gelder aufbrachten, so wurde im
Dezember 1826 der erste Spatenstich getan. — Und nun will ich
dir von meinem gestrigen Ausflug erzählen.
Eine Gesellschaft von sechzehn Personen wurde in einen großen
Hof gelassen, wo unter Dach einige Wagen von eigentümlicher
Einrichtung standen, von denen einer für uns bestimmt war. Es
war ein langleibiges Fuhrwerk mit quergestellten Sitzen, auf denen
man Rücken gegen Rücken saß. Die Räder standen auf zwei
eisernen Schienen, die die Bahn bilden. Sie sind so zusammengesetzt,
daß sie vorwärts zu gleiten imstande sind, ohne irgendwelche Gefahr,
daß sie aus der Richtung kommen könnten, wie jedes Ding, das
in einer Rinne hingleitet.
Wir wurden der kleinen muntern Maschine vorgestellt, die uns
die Schienen entlang ziehen sollte. Sie besteht aus einem Lessel,
einem Ofen, einer Bank und einem Fasse mit genug Wasser, um
ihren Durst während eines Rennens von 15 Meilen zu stillen. —
Das Ganze ist nicht größer als eine gewöhnliche Feuerspritze.
Sie wandert auf vier Rädern, die ihre Füße sind, und diese
werden durch glänzende Stahlbeine bewegt, die sie Kolben nennen.
Diese werden vom Dampfe getrieben, und je mehr Dampf auf die
obere Fläche dieser Kolben gegeben wird, um so schneller treiben
sie die Räder um. Wenn es aber nötig wird, die Geschwindigkeit
zu mindern, so entweicht der Dampf, der, wenn man ihm dies
nicht gestattete, den Kessel sprengen würde, durch ein Sicherheits⸗
ventil in die Luft.
Zügel, Gebiß und Trense, mit denen dieses wundervolle kleine
Tier geritten wird, bestehen zusammen aus einem kleinen Stahl—
hebel, der den Dampf auf den Kolben wirken läßt oder ihn davon
ablenkt. Ein Kind könnte ihn handhaben.
Die Kohlen, die der Hafer des Tieres sind, liegen unter der
Bank, und am Kessel ist ein kleines Glasrohr, mit Wasser gefüllt,
angebracht, das durch die Fülle oder Ceerheit anzeigt, ob die Ureatur
Wasser braucht, das ihm dann gleich aus dem Fasse gegeben wird.
Es ist auch ein Rauchfang am Ofen; da man aber Koks brennt,
so ist nichts von dem abscheulichen Rauch zu spüren, der beim
Reisen auf dem Dampfschiffe so belästigt. Dieses schnarchende
kleine Tier, das ich gern getätschelt hätte, wurde nun vor unsern
Wagen gespannt, und nachdem mich Mister Stephenson zu sich auf
die Bank genommen hatte, fuhren wir ungefähr mit 10 englischen
Meilen in der Stunde ab.
Da das Dampfroß wenig geeignet ist, hügelauf und hügelab
zu gehen, so ist die Bahn fast wagerecht gehalten und scheint des—
halb bald unter die Erdoberfläche zu fallen, bald über sie empor—
zusteigen. Gleich bei der Abfahrt ist sie durch den gesunden Felsen
geschnitten, der rechts und links von ihr senkrechte Mauern bildet,
über 20 Meter hoch. Du kannst dir gar nicht denken, wie sonderbat
es war, so zu reisen ohne irgendeine sichtbare Ursache der Fort⸗
bewegung, als die Zaubermaschine vor uns mit ihrem weithin
wehenden, weißen Atem und ihrem unwandelbar gleichmäßigen
Schritte zwischen diesen Felsenmauern, die bereits wieder mit Moos
und Farnkräutern und Gras bekleidet sind. Und wenn ich erwog,
daß diese großen Steinmassen auseinandergeschnitten worden seien,
277
278
um uns so tief unter der Erde einen Weg zu lassen, so schien es
mir, als reichte kein Wunder eines Feenmärchens an diese Wirk—
lichkeit. Brücken waren von Scheitel zu Scheitel dieser Klippen
hinübergeschlagen, und die Menschen, die von ihnen auf uns herab⸗
schauten, sahen aus wie im Himmelsblau stehende Zwerge. Aber
ich muß kürzer sein, wenn ich überhaupt fertig werden will.
Wir sollten nur 15 Meilen weit fahren, da diese Strecke groß
genug war, um die Geschwindigkeit der Maschine zu zeigen und
uns zu dem wunderbarsten und schönsten Gegenstande auf der Bahn
zu führen. Nachdem wir diesen felsigen Durchschnitt durchfahren
hatten, fanden wir uns auf Dämme von 3 bis 4 Meter Höhe ge—
hoben und kamen dann zu einem moorigen Sumpf von bedeutender
Ausdehnung, den kein menschlicher Fuß betreten konnte, ohne ein—
zusinken, und doch trug er den Weg, der uns trug. Dieses Moor
war in dem Gemüt des Ausschusses der große Stein des Anstoßes
gewesen; doch war es Stephenson gelungen, ihn fortzuräumen. Eine
Grundlage von Faschinen oder Korbwerk, erzählte er, sei auf den
Morast geworfen worden, und dessen Zwischenräume hätte er mit
Moos und dergleichen ausfüllen lassen. Darauf war Cehm ge—
schüttet worden, und so schwimmt die Bahn in der Cat auf dem
Moor. Wir überfuhren es in einer Geschwindigkeit von 25 eng⸗
lischen Meilen, und wir sahen das Wasser auf der Oberfläche bei
unserm Vorüberfahren zittern.
Die Aufdämmung war nach und nach höher gestiegen, und an
einer Stelle, wo der Grund noch nicht genügend fest war, um
Dämme zu bilden, hatte Stephenson künstliche aus Holz gebildet, um
die nun Erdmassen hergehäuft wurden. Er sagte, er wisse wohl,
daß das Holz verfaulen würde; bis dahin aber werde der darüber—
geschüttete Erdkörper genügend gefestigt sein, um die Bahn zu tragen.
Wir waren nun 15 Meilen weit gefahren und hielten da, wo
die Bahn ein weites und tiefes Tal überschritt. Stephenson ließ
mich absteigen und führte mich hinab bis auf den Grund des
Hügeltales, über das er, um seine Bahn wagerecht zu halten, einen
prachtvollen Viadukt von neun Bogen geschlagen hat, von denen
der mittelste, durch den wir das ganze reizende kleine Tal über—
blickten, 21 Meter hoch ist. Es war lieblich und wundervoll und
großartig und zugleich über alle Beschreibung!
Hhier an Ort und Stelle erzählte er mir manches Sonderbare
von diesem Tale: wie der Boden sich so ungünstig gezeigt habe,
daß es notwendig geworden sei, das Fundament auf sehr tief in
279
den Boden getriebene Pfähle zu stellen usw. Er erklärte mir die ganze
Einrichtung der Dampfmaschine und sagte, daß er aus mir einen
vorzüglichen Ingenieur machen wolle, was ich ihm angesichts der
viel größern Wunder, die er getan hatte, glauben mußte. Seine
Art sich auszudrücken ist eigentümlich, aber überraschend, und ich
verstand ohne Schwierigkeit, was er mir sagte. Wir kehrten dann
zu der übrigen Gesellschaft zurück; und nachdem die Maschine
Wasservorrat erhalten hatte und unser Wagen hinter sie gestellt
worden war, — denn sie kann sich nicht drehen, — fuhren wir da⸗
von mit der größten Geschwindigkeit der Maschine, 35 Meilen in
der Stunde — schneller als ein Vogel fliegt: — wir machten den
Versuch an einer Schnepfe.
Du hast keinen Begriff davon, was das Durchschneiden der Cuft
für ein Gefühl war. Und dabei ist die Bewegung so sanft als
mõöglich. Ich hätte lesen oder schreiben können. Ich stand auf,
nahm den Hhut ab und trank die Cuft vor mir. Der Wind war
stark, — oder war es unser Anfliegen gegen ihn: er drückte mir
unwillkürlich die Augen zu.
Als ich sie geschlossen hatte, war das Gefühl des Fliegens ganz
zauberisch und sonderbar über jede Beschreibung; aber trotzdem hatte
ich das Gefühl vollkommener Sicherheit und nicht die geringste
Furcht. An einer Stelle ließ Mister Stephenson, um die Kraft seiner
Maschine zu zeigen, einen andern Dampfwagen, der ohne Feuer
und Wasser vor uns stand, am Vorderteil unserer Maschine be—
festigen und einen mit Bauholz beladenen Castwagen hinter unsern
mit Personen schwer besetzten Wagen bringen — und mit alledem flog
unser braver kleiner Drache davon!l Noch weiterhin fanden wir drei Erd⸗
wagen, die ebenfalls vor unsere Maschine gebracht wurden, und auch
sie schob die Lokomotive ohne Zögern und Schwierigkeit vor sich her.
Wenn ich hinzufüge, daß die kleine Ureatur ebenso behende
rückwärts als vorwärts läuft, glaube ich, dir einen vollständigen
Bericht über ihre Fähigkeiten gegeben zu haben.
Die Eisenbahn soll am 15. nächsten Monats eröffnet werden.
Der Herzog von Wellington wird herkommen, um dabei gegen—
wärtig zu sein; und ich denke, daß die Menge der Zuschauer und
die Neuheit des Schauspiels ein Bild von nie dagewesenem Inter—
esse geben wird. Die Direktoren haben uns freundlichst drei Plätze
für die Eröffnung angeboten, eine große Gunst; denn ich höre, daß
man Unglaubliches für einen Platz bietet. Ul Me Weber.
280
154. Als ich das erstemal auf dem
Dampfwagen saßz.
Als ich schon hübsch zu Fuße war (ich und das Zicklein waren
die einzigen Wesen, die mein Vater nicht einzuholen vermochte,
wenn er uns mit der Peitsche nachlief), wollte der Pate Jochem
mich einmal mitnehmen nach Mariaschutz am Semmering.
„Meinetweg',“ sagte mein Vater, „da kann der Bub' gleich
die neue Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering gebaut
haben. Das Coch durch den Berg soll schon fertig sein.“
ehüt' uns der Herr,“ rief der Pate, „daß wir das Teufels⸗
zeug anschaunl 's ist alles Blendwerk, 's ist alles nicht wahr.“
„Kann auch sein“, sagte mein Vater und ging davon.
Ich und der Pate machten uns auf den Weg; wir gingen über
das Stuhleckgebirge, um ja dem Tale nicht in die Nähe zu kom—
men, in dem nach der Leut' Reden der Teufelswagen auf und ab
ging. Als wir aber auf dem hohen Berge standen und hinab—
schauten in den Spitalerboden, sahen wir einer scharfen Linie ent—
lang einen braunen Wurm kriechen und darüber ein Rauchwölklein
schweben.
„Jessas Maron!“ schrie mein Pate, „das ist schon so was!
spring Bub'!“ — Und wir liefen die entgegengesetzte Seite des
Berges hinunter.
Gegen Abend kamen wir in die Niederung, doch — entweder
der Pate war hier nicht wegkundig, oder es hatte ihn die Neugierde,
die ihm zuweilen arg zusetzte, überlistet, oder wir waren auf eine
„Irrwurzen“ gestiegen; — anstatt in Mariaschutz zu sein, standen
wir vor einem ungeheuren Schutthaufen, und hinter demselben war
ein kohlfinsteres Coch in den Berg hinein. Das Coch war schier
so groß, daß darin ein Haus hätte stehen können, und gar mit Fleiß
und Schick ausgemauert; und da ging eine Straße mit zwei eisernen
Leisten daher und schnurgerade in den Berg hinein.
Mein Pate stand lange schweigend da und schüttelte den Kopf;
endlich murmelte er: „Jetzt stehen wir da. Das wird die neu⸗
modische Candstraßen sein. Aber derlogen ist's, daß sie da hinein—
fahren!“
Kalt wie Grabesluft wehte es aus dem Coche. Weiterhin
gegen Spital in der Abendsonne stand an der eisernen Straße ein
gemauertes Häuschen; davor ragte eine hohe Stange, auf dieser
baumelten zwei blutrote Kugeln. Plõtzlich rauschte es an der Stange,
und eine der Uugeln ging, wie von Geisterhand gezogen, in die
Höhe. Wir erschraken baß. Daß es hier mit rechten Dingen nicht
zuginge, war leicht zu merken. Doch standen wir wie festgewurzelt.
„Pate Jochem,“ sagte ich leise, „hört Ihr nicht so ein Brummen
in der Erden?“
„Ja freilich, Bub',“ entgegnete er, „es donnert was! es ist ein
Erdbidn“ (Erdbeben). Da tat er schon ein kläglich Stöhnen. Auf
der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien
anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit
mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen ge⸗
waltigen Dampf aus. Und hintenher —
„Kreuz Gottes!“ rief mein Pate, „da hängen ja ganze Häuser
dran!“ Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten, an das
Cokomotiv wären ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die
Reisenden sitzen konnten, so sahen wir nun einen ganzen Markt⸗
flecken mit vielen Fenstern heranrollen; und zu den Fenstern schauten
lebendige Menschenköpfe heraus, und schrecklich schnell ging's, und
ein solches Brausen war, daß einem der Verstand still stand. Das
bringt kein Herrgott mehr zum Stehenl fiel mir's noch ein. Da
hub der Pate die beiden Hände empor und rief mit verzweifelter
Stimme: „Jessas, Jessas, jetzt fahren sie richtig ins Cochl“
Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in
der Tiefe; die Rückseite des letzten Wagens schrumpfte zusammen,
nur ein Lichtlein davon sah man noch eine Weile, dann war alles
verschwunden, bloß der Boden dröhnte, und aus dem Coche stieg
still und träge der Rauch.
Mein Pate wischte sich mit dem ürmel den Schweiß vom An—
gesicht und starrte in den Cunnel.
Dann sah er mich an und fragte: „Hast du's auch gesehen,
Bub?⸗
„Ich hab's auch gesehen.“
„Nachher kann's keine Blenderei gewesen sein“, murmelte der
Jochem.
Wir gingen auf der Fahrstraße den Berg hinan; wir sahen
aus mehreren Schachten Rauch emporsteigen. Tief uͤnter unsern
Füßen im Berge ging der Dampfwagen.
„Die sind hin!“ sagte mein Pate und meinte die Eisenbahn⸗
Reisenden. „Die übermütigen Ceut sind selber ins Grab gesprungen!“
Beim Gasthause auf dem Semmering war es völlig still; die
großen Stallungen waren leer, die Tische in den Gastzimmern,
28
282
die Pferdetröge an der Straße waren unbesetzt. Der Wirt, sonst
der stolze Beherrscher dieser Straße, lud uns höflich zu einem
Imbiß ein.
„Mir ist aller Appetit vergangen,“ antwortete mein Pate, „ge—
scheite Leut' essen nicht viel, und ich bin heut' um ein Stückel ge—
scheiter worden.“ Bei dem Monumente Karls VI. standen wir still
und sahen ins sterreicherland hinaus, das mit seinen Felsen und
Schluchten und seiner unabsehbaren Ebene vor uns ausgebreitet
lag. Und als wir dann abwärts stiegen, da sahen wir drüben in
den wilden Schroffwänden unsern Eisenbahnzug gehen — klein wie
eine Raupe — und über hohe Brücken, fürchterliche Abgründe setzen,
an schwindelnden Hängen gleiten, bei einem Loch hinein, beim andern
hinaus — ganz verwunderlich.
„'s ist auf der Welt ungleich, was heutzutag' die Leut' treiben“,
murmelte mein Pate.
„Sie tun mit der Weltkugel kegelscheiben!“ sagte ein eben vor—
übergehender Handwerksbursche.
Als wir nach Mariaschutz kamen, war es schon dunkel.
Wir gingen in die Kirche, wo das rote Lämpchen brannte, und
beteten.
Dann genossen wir beim Wirt ein kleines Nachtmahl und gingen
an den Kammern der Stallmägde vorüber auf den Heuboden, um
zu schlafen.
Wir lagen schon eine Weile. Ich konnte unter der CLast der
Eindrücke und unter der Stimmung des Fremdseins kein Auge
schließen, vermutete jedoch, daß der Pate bereits süß schlummere,
da tat dieser plötzlich den Mund auf und sagte:
„Schlafst schon, Bub'?“
Mein“, antwortete ich.
„Cut Euch was weh, Pate?“
„'s ist eine Dummheit. Was meinst, Bübel, weil wir schon
so nah' dabei sind, probieren wir's ?“
Da ich ihn nicht verstand, so gab ich ihm keine Antwort.
„Was kann uns geschehen ?“ fuhr der Pate fort, „wenn's die
andern tun, warum nicht wir auch? Ich laß mir's kosten.“
Er schwätzt im Traum, dachte ich bei mir selber und horchte
mit Fleiß.
„Da werden sie einmal schauen,“ fuhr er fort, „wenn wir heim—
kommen und sagen, daß wir auf dem Dampfwagen gefahren sind!“
Ich war gleich dabei.
„Aber eine Sündhaftigkeit ist's!“ murmelte er, „na leicht wird's
morgen besser, und jetzt tun wir in Gottes Namen schlafen.“
Am andern Tage gingen wir beichten und kommunizieren. Aber
als wir heimwärts lenkten, da meinte der Pate nur, er wolle sich
dieweilen gar nichts vornehmen, er wolle nur den Semmering—
Bahnhof sehen, und wir lenkten unsern Weg dahin.
Beim Semmering⸗Bahnhof sahen wir das Coch auf der andern
Seite. War auch kohlfinster. — Ein Zug von Wien war angezeigt.
Mein Pate unterhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei
Sechser geben, und gleich hinter dem Berg, wo das LCoch aufhört,
wollten wir wieder absteigen.
„Gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, hält der Zug
nicht“, sagte der Beamte lachend.
„Aber wenn wir absteigen wollen!“ meinte der Jochem.
„Ihr müßt bis Spital fahren. Ist für zwei Personen zwei—
unddreißig Ureuzer Münz.“
Mein Pate meinte, er lasse sich's was kosten, aber so viel wie
die hohen Herren könne er armer Schlucker nicht geben; zudem sei
an uns beiden ja kein Gewicht da. — Es half nichts; der Beamte
ließ nicht handeln. Der Pate zahlte; ich mußte zwei „gute“ Kreuzer
beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel
der Zug hervor, schnaufte heran, und ich glaubte schon, das gewal⸗
tige Ding wolle nicht anhalten. Es zischte und spie und ächzte —
da stand es still.
Wie ein Huhn, dem man das hirn aus dem Kopfe geschnitten,
so stand der Pate da. Wir wären nicht zum Einsteigen gekommen;
da schupfte der Schaffner den Paten in einen Wagen und mich
nach. In demselben Augenblicke wurde der Zug abgeläutet, und
ich hörte noch, wie der ins Abteil stolpernde Jochem murmelte:
„Das ist meine Totenglocke.“ Jetzt sahen wir's aber: im Wagen
waren Bänke, schier wie in einer Kirche; und als wir zum Fenster
hinausschauten — „Jessas und Maron!“ schrie mein Pate, „da
draußen fliegt ja eine Mauer vorbeil“ — Jetzt wurde es finster,
und wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden Stübchens
eine Ollampe brannte. Draußen in der Nacht rauschte und toste es,
als wären wir von gewaltigen Wasserfällen umgeben, und ein- ums
anderemal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde.
Der Pate hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte:
„In Gottes Namen. Jetzt geb' ich mich in alles drein. Warum
bin ich der dreidoppelte Narr gewesen.“
283
Zehn Vaterunser lang mochten wir so begraben gewesen sein,
da lichtete es sich wieder, draußen flog die Mauer, flogen die
Telegraphenstangen und die Bäume, und wir fuhren im grünen
Tale.
Mein Pate stieß mich an der Seite: „Du, Bub'! Das ist gar
aus der Weis' gewesen, aber jetzt — jetzt hebl's mir an zu gefallen.
Richtig wahr, der Dampfwagen ist was Schönes! Jegerl und je⸗
rum, da ist schon das Spitalerdorf! Und wir sind erst eine Viertel—
stunde gefahren! Du, da haben wir unser Geld noch nicht ab—
gesessen. Ich denk', Bub', wir bleiben noch sitzen.“
Mir war's recht. Ich betrachtete das Zeug von innen, und ich
blickte in die fliegende Gegend hinaus, konnte aber nicht klug werden.
Und mein Pate rief: „Na, Bub', die Ceut' sind gescheit! Und da⸗
heim werden sie Augen machen! Hätt' ich das Geld dazu, ich ließe
mich, wie ich jetzt sitz, auf unsern Berg hinauffahren!“
„Mürzzuschlagl“ rief der Schaffner. Der Wagen stand; wir
schwindelten zur Tür hinaus.
Der Türsteher nahm uns die Papierschnitzel ab, die wir beim
Einsteigen bekommen hatten, und vertrat uns den Ausgang. Be
Vetter!“ rief er, „diese Karten galten nur bis Spital. Da heißt's
nachzahlen und zwar das Doppelte für zwei Personen; macht einen
Gulden sechs Kreuzerl“
Ich starrte meinen Paten an, mein Pate mich. „Bub',“ sagte
dieser endlich mit sehr umflorter Stimme, „hast du ein Geld bei
dir?⸗
„Ich hab' kein Geld bei mir“, schluchzte ich.
„Ich hab' auch keins mehr“, murmelte der Jochem.
Wir wurden in eine Uanzlei geschoben, dort mußten wir unsere
Taschen umkehren. Ein blaues Sacktuch, das für uns beide war,
und das die Herren nicht anrührten, ein hart Rindlein Brot, eine
rußige Tabakspfeife, ein Taschenfeitel, etwas Schwamm und Feuer⸗
stein, der Beichtzettel von Mariaschutz und der lederne Geldbeutel
endlich, in dem sich nichts befand als ein geweihtes Messing-Amu—
lettchen, das der Pate stets mit sich trug im festen Glauben, daß
sein Geld nicht ganz ausgehe, solange er das geweihte Ding im
Sacke habe. Es hatte sich auch bewährt bis auf diesen Cag —
und jetzt wars auf einmal aus mit seiner Kraft. — Wir durften
unsere Habseligkeiten zwar wieder einstecken, wurden aber stunden—
lang auf dem Bahnhofe zurückbehalten und mußten mehrere Ver—
höre bestehen.
284
Endlich, als schon der Tag zur Neige ging, zur Zeit, da nach
so rascher Fahrt wir leicht schon hätten zu Hause sein können, wurden
wir entlassen, um nun den Weg über Berg und Tal in stockfinsterer
Nacht zurückzulegen.
Als wir durch den Ausgang des Bahnhofes schlichen, murmelte
mein Pate: „Beim Dampfwagen da — 's ist doch der Teufel dabeil“
Peter Rosegger.
155. Spruch.
Großer Menschen Werke zu sehn,
schlägt einen nieder;
doch erhebt es auch wieder,
daß so etwas durch Menschen geschehn.
Friedrich Rückert.
156. Tunnelbau.
In unseren Tagen hat die Technik des Tunnelbaues ausge—
zeichnetes Neuland erobert. Wenn wir heute von einem Tunnel im
allgemeinen reden, so denkt man zu allererst wohl an jene viele
hundert Kilometer langen Bauten, die im Laufe der letzten zwanzig
Jahre für den Untergrundverkehr der Großstädte entstanden sind.
Man denkt an die kühnen Flußunterführungen in Newpork und
Paris oder an die Maulwurfsarbeiten in Condon und Hamburg
und erinnert sich der riesenhaften Fortschritte, welche die Tunnel
bautechnik hier gemacht hat.
Wenn dann aber die Rede auf den eigentlichen Gebirgstunnel
kommt, so ist man wohl geneigt, den für etwas Altvertrautes und
Harmloses zu halten. Man erinnert sich an den Bau des Gotthard—
Tunnels, der vor vierzig Jahren in Angriff genommen wurde, zu
einer Zeit also, da die elektrische Uraftübertragung noch in den
LKinderschuhen steckte, und glaubt, hier alten Besitzstand der Technik
vor sich zu haben.
Doch diese Anschauung ist nicht zutreffend. Auch auf dem Ge⸗
biete des Gebirgstunnels hat es große Fortschritte gegeben. Auf
den Bau des Gotthard⸗Tunnels folgte der Tunnel durch den Mont
Cenis, der durch den Simplon und nun endlich der durch den
Lötschberg. Und bei jedem Bau wurden die Arbeitsweisen ver—
bessert, wurden neue technische Hilfsmittel herangezogen.
Beim Gotthard-Tunnel war man recht zufrieden, wenn man
im Caufe eines vierundzwanzigstündigen Arbeitstages in einem
285
Stollen 2,5 Meter vordrang. Im Lötschbergtunnel wurde in der
gleichen Zeit eine Strecke von zehn Metern bewältigt. Die Ceistung
hat also eine Vervierfachung erfahren, und diese verdanken wir in
erster CLinie den neuen, stark verbesserten Bohrmaschinen.
Es ist vielleicht nicht uninteressant, einen Blick auf frühere Arbeits⸗
weisen zu werfen. In dem sächsischen Schloß Stolpen befindet
sich auf dem Schloßhof ein Brunnen, der achtzig Meter tief in
den festen Basaltfels hinunterreicht. Dieser Brunnen wurde im
Anfang des siebzehnten Jahrhunderts begonnen, und man hat rund
dreißig Jahre daran gearbeitet. Ohne Sprengmittel und ohne
Maschinen, nur mit Hämmern, Meißeln und Brechstangen. Aber
der Widerstand des harten Basaltsteines war so stark, daß man
in mancher Woche nur um wenige Zentimeter in die TCiefe vor—
wärts drang. Die Neuzeit bescherte uns die stark wirkenden Spreng⸗
stoffe, da Dynamit und seine zahlreichen Abarten, wie Roburit
und andere Sprengmittel. Damit war die Möglichkeit gegeben,
dem harten Gestein ganz anders zu Leibe zu gehen. Diese Spreng⸗
ladungen entwickelten im Augenblick der Zündung Uräfte, die
millionenmal so stark sind als die Schläge der schwersten Hämmer
oder die Drucke der kräftigsten Brechstangen.
Aber es ist unbedingt notwendig, die Sprengstoffe richtig in den
Felsen hineinzubringen. Das Dynamit hat gewiß eine gewaltige
Kraft. Cegen wir beispielsweise eine Dynamitpatrone auf eine ge⸗
woöhnliche gepflasterte Straße und bringen sie zur Entladung, so
schlägt sie ein gehöriges Coch in die Straßenfläche. Aber diese
Kraft versagt gegenüber dem natürlichen Felsen. Um einen Weg
durch Porphyr, Granit und Basalt zu bahnen, muß der Spreng—
stoff tief in den Felsen eingeführt werden. Nur dann entfaltet er
die allerstärkste Uraftentwicklung.
Und somit wurde es notwendig, gute Bohrapparate zu finden.
Im mürben Gestein des Kohlenbergwerks genügen heute noch ge⸗
wõhnliche Handbohrer und Hämmer. Da steht der Häuer, hält
in der einen Hand die Bohrstange, führt mit der andern den kräftigen
Bergmannshammer, schlägt auf die Stange, dreht sie dann ein
wenig, schlägt dann wieder und dringt so drehend und schlagend
im Gestein vorwärts, nimmt allmählich immer längere Bohrer,
bis endlich ein Bohrloch von etwa anderthalb Meter in der Tiefe
und zwei Zoll in der Weite entstanden ist. Aber diese Hand—
arbeit versagt, sobald wir in das harte Urgestein des Tunnelbaues
gelangen. hier sind Maschinen von sehr viel größerer Leistungsfähig⸗
86
287
keit notwendig, und die Technik hat sie von Jahr zu Jahr in immer
neuer und immer besserer Gestalt geschaffen.
Grundsätzlich können wir zweierlei Maschinen unterscheiden, näm⸗
lich die Drehbohrmaschinen und die Stoßbohrmaschinen. Drehbohr⸗
maschinen kamen zuletzt beim Bau des Simplontunnels zur Anwen—
dung. Man war dort im Caufe der Arbeiten selber zu einer ver—
besserten Art von Wasserdruckmaschinen gekommen, die recht gute
Arbeit taten.
Betrachten wir diese Maschinen in ihrer Wirkung. Der Bohrer
selbst hatte die Form eines Hohlrohres aus sehr zähem und festem
Stahl. An der Vorderseite war dies Rohr mit einem Ring oder
einer Krone kleiner schwarzer Diamanten besetzt. Der Bohrer griff
den harten Felsen also nicht mit irgendeiner stählernen Schneide⸗
fläche, sondern mit einem noch härteren Gestein, mit dem Diamanten
an. Und nun arbeitete die mit Druckwasser betriebene Bohrmaschine
folgendermaßen: Ein Preßkolben stemmte das Stahlrohr mit der
diamantenen Bohrkrone unter einem gleichmäßigen Druck von meh—
reren hundert Kilogramm gegen die Felswand. Ein kleiner Preß-
wassermotor setzte ferner das Bohrrohr in eine gleichmäßige Um—
drehung. Schließlich trat überschüssiges Druckwasser in das Innere
des Bohrrohres und berieselte beständig die Stelle, wo die Dia—
manten auf dem Felsen entlangschliffen.
Die Wirkung dieser Diamant-Drehbohrmaschine läßt sich da—
nach ziemlich klar ersehen. Die Krone schliff unter langsamem,
stetigem Vordringen des Rohres eine ringförmige Vertiefung in
den Felsen. Während also das Rohr immer weiter in die Fels—
wand eindrang, blieb im Rohrinnern ein Steinzylinder stehen, der
die lichte Weite des Rohres ziemlich genau ausfüllte, und den
man beim Auswechseln der verschieden langen Bohrer leicht fort⸗
brechen konnte. So drangen diese Diamantbohrer in der Stunde
rund einen halben Meter in das Gestein vor. Man konnte damit
rechnen, daß in etwa vier Stunden eine Maschine ein zwei Meter
tiefes Bohrloch geschafft hatte. Und es arbeiteten an der Endwand
des Stollens gleichzeitig acht bis zwölf Maschinen. Waren die
Löcher vollendet, so wurden die Maschinen zurückgezogen, die Dynamit-
patronen in die Löcher gebracht, und die Sprengung konnte erfolgen.
Dann mußte das abgesprengte Gestein fortgeschafft werden, die
Maschinen wurden wieder aufgestellt, und die Bohrarbeit be—
gann von neuem. Die Arbeit ging natürlich Tag und Nacht
mit wechselnden Mannschaften, und man kam in vierundzwanzig
288
Stunden etwa acht Meter vorwärts. Einen Brunnen also von
achtzig Meter in der Tiefe, an dem unsere Vorfahren ein halbes
Menschenalter bauten, hätte man mit der Technik des Simplon—
tunnels schon in zehn Tagen herstellen können.
Aber schon der nächste Tunnelbau, eben jener Lötschbergtunnel,
brachte weitere sehr bedeutende Fortschritte.
Die Simplonbohrmaschinen waren schon bis zur Grenze belastet
worden. Man durfte ihnen nicht mehr Druck geben, wenn man
die arbeitenden Diamanten nicht zu Pulver zerdrücken wollte. Und so
entschloß man sich, beim Lötschbergtunnel eine andere Maschinenart,
die Stoßbohrmaschine, heranzuziehen und weiter auszubilden. Ihr
Bahrer war eine schwere, massive Stahlstange, die am Bohrende
in eine breite, meißelartige Schneide auslief. Und doch war der
zähe Stahl derartig gehärtet, daß er den Uampf gegen den harten
Felsen eine ganze Zeit hindurch aushalten konnte, ohne selber stumpf
zu werden.
Und dann trat als Betriebskraft an die Stelle des Druckwassers
die Druckluft. Ein kräftiger Druckluftmotor schleuderte diese schwere
Bohrstange wohl dreihundertmal in der Minute gegen den Fels,
zog sie zurück, schleuderte sie von neuem und drehte den Bohrer bei
jedem Stoß ein wenig um seine Längsachse, so daß immer neue
Felsteile von der Schneide getroffen wurden.
Die älteren Druckwassermaschinen arbeiteten stillschweigend. Nur
das leise Knirschen der Diamantkrone auf dem Fels war hörbar.
Sie arbeiteten mit einer gewissen stillen Verbissenheit.
Die neueren Stoßbohrmaschinen dagegen verrichteten ihr Werk
unter einem höllischen Getöse. Gewissermaßen heulend vor Wut und
Entrüstung, schleuderten sie die schwere Vohrstange im unermüdlichen
Höllentanz krachend und donnernd gegen den Felsen und zerschlugen
ihn zu Staub, wo die stählerne Schneide hintraf. Irgendeine Verstän—
digung durch das gesprochene Wort war in der Nähe dieser Maschinen
unmöglich. Aber dafür taten sie auch gute Arbeit. Etwa einen
Meter tief drangen sie in der Stunde in das harte Urgestein ein.
Und immer gewaltiger wurden die bewegten Massen und die
lebendigen Kräfte dieser Maschinen im Laufe des Tunnelbaues.
Man kam schießlich dahin, in jedem Stollen im CLaufe von vier—
undzwanzig Stunden rund fünfzehn Meter vorzudringen. Die im
Simplontunnel erzielte Leistung wurde damit verdoppelt, der Lötsch—
bergtunnel wurde schneller und sicherer zu Ende geführt als irgend—
ein Bauwerk vor ihm.“
Die Verbesserungen an den Maschinen dieses gewaltigen Bau—
unternehmens werden sicherlich späteren Bauten zugute kommen.
Denn die Wirtschaftlichkeit, der unvermeidliche Kostenaufwand, alle
diese so wichtigen Dinge hängen von der Leistung der Bohrmaschine
ab. Eine leistungsfähige Maschine bedeutet große Ersparnisse, nicht
nur an Zeit, sondern auch an Geld. Bans Dominik.
157. Beherzigung.
Ach, was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser, ruhig bleiben ?
lammernd fest sich anzuhangen ?
Ist es besser, sich zu treiben?
Soll er sich ein Häuschen bauen ?
Soll er unter Zelten leben ?
Soll er auf die Felsen trauen ?
Selbst die festen Felsen beben.
Eines schickt sich nicht für alle!
Sehe jeder, wie er's treibe,
sehe jeder, wo er bleibe,
und wer steht, daß er nicht falle! Goethe.
158. Eine Fahrt mit Zeppelin.
Wir waren der Einladung des Grafen Zeppelin nach Friedrichs⸗
hafen gefolgt und stiegen mit dem ‚Z III? auf.
Wir sitzen, als ob wir an hoher Küste über das Meer blicken,
nur noch freier und heller. Ich habe auf manchem hohen Berge
gestanden, auf manchem Turm im Inland und Ausland, und bin
dreimal mit dem Fesselballon aufgefahren, einmal über Berlin, ein⸗
mal über Düsseldorf und einmal über Paris. Alles dieses wacht
jetzt wieder auf. So lag auch damals Land, Fluß und Stadt da
drunten, so winzig waren die Gebäude, so wunderbar die Wälder,
so duftig blau und silbern die Weite; aber es ist heute doch eine
andere Sache, denn wir steigen nicht einfach in die Höhe, sondern
ändern beständig den Platz. Es scheint zwar, als ob wir in er—
habener Ruhe beharren und nur der Erdkreis unter uns sich das
Vergnügen macht, sich in wechselnden Cagen vor uns zu entfalten.
Vom ersten Augenblick an war das vollkommenste Gefühl der Sicher⸗
heit vorhanden. Weil wir in der Mitte saßen, fehlte gerade uns
Weimar. Lesebuch I,2. 19
289
290
die Beobachtung der mechanischen Vorgänge; aber das hatte auch
seine sehr großen Vorteile, denn so verlor sich der Gedanke an alles
Gemachte, und man lebte einen Craum. Alles sieht dabei so un—
gewohnt aus, anders geformt und anders beleuchtet. Wahrschein—
lich würde der Eindruck viel blasser sein, wenn der Himmel grau
und trübe wäre, heute aber hat jedes Ding da unten seinen Schatten,
und meist erscheinen die Schatten dem Auge deutlicher als die Dinge
selber. Ganz merkwürdig sind oft die Bäume, deren rundes Grün
von blaugrauem Schattenuntergrund sich abhebt. Das Wunder—
vollste aber ist der Wald. Der Wald von oben ist ein fast völlig
neuer Eindruck, den auch die Gebirgswanderung selten bietet, eben
weil sie im Gebirge stattfindet. Hier liegt der Wald vor uns wie
eine Wiese von Gipfeln, durchzogen von dunklen Schattengängen,
belebt durch den Wechsel des Laubes und der Nadeln. Und um
den Wald herum streckt sich das Feld wie eine lebendige Landkarte.
Man sieht alle Striche, alle Grenzen, alle Arten der Bestellung,
ganz als ob man da oben im Fluge eine Arbeit über Bodenver—
teilung und Fruchtfolge schreiben sollte. Das ist Geographie im
höheren Stil. Alles sieht man, die kleinen Brücken, die Geländer
am Kanal, die Heuhaufen und das weiße Kopftuch der Bäuerin.
Sie besteht aus Uopftuch mit Umgebung. Ihre Uinder sind kleine
kuglige Wesen, gleichsam hüpfende Tropfen im grünen Hag. Und
auf den Dächern stehen die CLeute und winken mit ihren Tüchern
nach oben, und sie alle haben etwas so merkwürdig Kurzes, als
seien sie Kopf und Füße. Die Stadt liegt unter uns, als sei sie
von einem Architekten gemalt; jede Linie klar, jedes Dach genau
erkennbar, alle Türme steil und steif, alle Gassen wie Hohlwege,
in denen der Schatten lagert. Dort ist ein Kohlgarten, den unten
niemand sehen kann, weil er von hohen Mauern umgeben ist; wir
sehen ihn, denn für den Luftschiffer enthüllen sich alle Geheimnisse
der Gärten und Höfe. Von hier sieht man, wer etwas tut, und
was er tut. Und wie vieles erscheint dabei so frisch, als hätte man
es noch nie vorher gekannt! Da gibt es Türmchen und Erkerchen, die
von oben wie Gesichter aussehen und Blumenbeete, die gehäkelten
Tischdecken gleichen. Alles Menschenleben sieht so nett aus, so bunt,
zierlich und fast zerbrechlich. Man vergißt ganz, daß wir auf dem
leichtesten Bau sitzen, und hält die Welt am Hafen und jenseits
des Bahnhofs für eine Spielschachtel. So möchte man fliegen
und fliegen. Was ist alle Eisenbahnfahrerei gegen diesen Lebens—
genuß d? Sicherlich werden sich auch daran die Menschen gewöhnen,
0
wie wir uns an das Uommen und Verschwinden der Dinge vor
dem Fenster des Bahnwagens gewöhnt haben, aber noch lange Zeit
wird es eine Sehnsucht für viele sein, einmal wenigstens zwischen
Sonne und Erde zu gleiten. Ob die Luftschiffe starke volkswirt—
schaftliche Aufgaben in der Zukunft finden werden, weiß ich nicht;
es ist mir das aber auch heute ganz gleich, denn jetzt bin ich völlig
hingenommen von dem ZFauber des Schwebens selber. Und wie
gehorcht dieses Instrument! So gehorcht nur ein Pferd bester Rasse
und Erziehung. Alles ist möglich. Wir grüßen Kirchtürme, indem
wir über ihre Spitzen fahren. Wie hoch wir waren, ist nicht ganz
sicher; aber die Höhe ist auch nicht das Erstaunliche, sondern die
Sicherheit, mit der ein Menschenwille sich durch die Atmosphäre
drängt. Bei gutem Wetter kann der neue Vogel es an Eleganz
mit allen alten Vögeln aufnehmen, und auch den Kampf mit dem
Unwetter kann er wagen, wie die glückliche Rückfahrt von Berlin
beweist. Dieses Cebewesen geschaffen zu haben, ist Ehre und Freude
des Mannes, der jetzt beim Canden uns fröhlich zuruft: Nun, wie
war es? Es war prächtig, Herr Graf, es war prächtig und un—
vergeßlich! Friedrich Naumann.
159. „Vom Fels zum Meer.“
Z III in Hamburg, 1. Juni 1912.
Mein Junge, merke den Tag dir gut,
bewahre sein schimmerndes Glück,
und ist dir einmal gar trübe zu Mut,
so denk' an heute zurück.
Gedenke, wie über Brunsbüttelkoog
ohne Fittich und ohne Flaum
der gleißende Riesenvogel flog,
ein Frühlingsmärchentraum,
wie Schlot an Schlot, und Mast an Mast,
im Hafen dicht gereiht,
aufschauten starr zu dem Wundergast,
dem Boten kommender Zeit.
Jahrhundertelang furcht unser Kiel
das wilde, wogende Meer,
kühn trugen wir zum fernsten Fiel
des deutschen Namens Ehr.
20
19*
Doch neuen Zeiten neue Bahn
weist alter deutscher Mut,
der schwäbische Wikinger schwimmt heran
auf blauer, luftiger Flut.
Im Silberhaare steuert er,
dem Föhn an Schnelle gleich,
in einer Nacht vom Fels zum Meer
das war ein Schwabenstreich!
Ich muß heut' denken immerzu,
indes das Herz mir bebt:
Hhätt' doch der Alte von Friedrichsruh
noch diesen Tag erlebt!
Junge, du hast ihn nicht gekannt,
ich aber, ich kannte ihn.
Das wär' eine Gruppe: Hand in Hand
Bismarck und Zeppelin! Emil Wendling.
160. Belehrung über das Wetterglas.
Mancher geneigte Leser hat auch sein Wetterglas im kleinen Stüb—
lein hängen, nicht erst seit gestern; denn die Fliegen haben auch schon
daran geschaut, was der Himmel für Wetter im Sinne hat, also
daß der Mensch nicht mehr viel daran erkennen kann. Mit einem
nassen Tüchlein von Zeit zu Zeit wäre zu helfen! Aber das scharfe
Auge des Lesers hat's noch nicht vonnöten. Jetzt schaut er's deutlich
an und sagt: „Morgen können wir noch nicht mähen auf den
unteren Matten.“ Jetzt klopft er ein wenig an dem Brettlein, ob
sich denn das Quecksilber gar nicht lupfen will, als wenn er es
wecken müßte wie aus einem Schlafe oder aus tiefen Gedanken, und
wenn es ein wenig ob sich geht, so heitert sich in seinem Herzen
die Hoffnung auf. Aber doch weiß er nicht recht, wie es zugeht,
und fragt den Hausfreund. Der Hausfreund braucht kein Wetterglas.
Wozu braucht ein Nalendermacher ein Wetterglas, der den Sonnen—
schein und Regen des ganzen Jahres im Kopfe trägt und selber
eins ist? Die Leute, die mit ihm umgehen, haben es gut. Einmal
sagen sie: „Das Wetter hält nimmer lang' an. Der LKalender—
macher wird unleidlich.“ Ein andermal, wenn er ruhig sein
Schõpplein trinkt, oder er raucht Cabak, und es werden Ringlein
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im Rauche, wenn's noch so arg regnet, so sagen sie: „Das Wetter
bessert sich. Der Kalendermacher sieht heiter aus und raucht
Ringlein.“
Gleichwohl, weil der wißbegierige CLeser den Hausfreund fragt,
wie es mit den Wettergläsern zugeht, will er's sagen. Merke:
Erstlich: Ein braves Wetterglas hat an der Spitze des Kölb—
leins oder Köpfleins, worin sich das Quecksilber sammelt, eine kleine
Offnung.
Zweitens: Sonst meint man, wo nichts anderes ist, dort sei doch
wenigstens CLuft. Aber oben in der langen Röhre, wo das Queck-
silber aufhört, bis ganz oben, wo die Röhre auch aufhört, ist
keine Cuft, sondern nichts, reines, klares, offenbares, nie gewesenes
Nichts.
Dies wird erkannt, wenn man das Wetterglas langsam in eine
schiefe Richtung bringt, als wollte man es umlegen; dann fährt
das Quecksilber durch den leeren Raum hinauf bis an das Ende
der Röhre, und man hört einen Knall. Dies könnte nicht geschehen,
wenn noch Cuft darin wäre. Sie würde sagen: „Ich bin auch da.
Ich muß auch Platz haben.“
Drittens: Die Cuft, welche die Erde und alles umgibt, drückt
unaufhörlich von oben gegen die Erde hinab, ja, sie will vermöge
einer inwendigen Kraft unaufhörlich nach allen Seiten ausgedehnt
und sozusagen ausgespannt sein bis auf ein Gewisses.
Denn sie ist Gottes lebendiger Atem, der die Erde einhüllt und
alles durchdringt und segnet, und hat gar viel verborgene Wunder.
Also geht die Luft durch jede offene Tür, ja durch jedwedes Spält—
lein in die Häuser und aus einem Gehalt in das andere und durch
die kleine Offnung an der Spitze des Kölbleins hinein und drückt
auf das Quecksilber, und die Cuft, die noch außen ist, drückt
immer nach und will auch noch hinein. Ei, sie drückt und treibt
das Quecksilber in der langen Röhre gewöhnlich zwischen 27 und 28 Foll
(etwa 750 755 Millimeter) weit in die Höhe, bis sie nimmer weiter
kann. Denn das Quecksilber in der Röhre drückt vermöge seiner
eigentümlichen Schwere der Cuft wiederum dergestalt entgegen, daß
beide in das Gleichgewicht treten. Da strebt gleiche Uraft gegen
gleiche Uraft, und keins kann dem andern mehr etwas anhaben.
Die Luft spricht: „Gelt, du mußt droben bleiben ?“ Das Quecksilber
spricht: „Gelt, du bringst mich nimmer höher?“
Merke viertens die Hauptsache: Der Druck und die Spannung
in der Cuft bleibt nicht immer gleich, ist einmal stärker, ein ander
295
mal schwächer. Die Gelehrten wissen selbst noch nicht recht, wo
dieses herrühren will, nicht einmal der Hausfreund. Wird nun die
Ausspannung der Luft auf einmal stärker, so daß man sagen kann,
sie gewinne neue Kraft, so drückt sie auch um so viel stärker auf
das Quecksilber im Kölblein, also daß es in der Röhre höher hinauf
muß, manchmal bis über 28 Foll hinaus. Sobald aber die Aus—
dehnung der Cuft im geringsten nachläßt, drückt im Augenblicke die
Schwere des Quecksilbers in der Röhre nach gegen das Lölblein,
bis sie mit dem Drucke der Luft wieder im gleichen ist, welcher—
gestalt also das Quecksilber in der Röhre sinkt, manchmal bis unter
27 Zoll hinab. Also steigt und fällt das Quecksilber oder, wie man
sagt, das Wetterglas, und sein Steigen und Fallen ist übereinstimmend
mit dem unaufhörlichen Wechsel in der Luft.
Solche Gnade hat Gott dem Menschen verliehen, daß ihm in
gläsernen Röhren sichtbar werden kann, was in der unsichtbaren
Luft für eine Veränderung vorgeht. Allein der geneigte Leser ist
vorsichtig und glaubt nicht alles auf das Wort.
Merke also fünftens den Beweis: Wenn die Mutter gebacken
hat und das Büblein ißt ein Stücklein lindes Brot, — es beißt
nicht schlecht hinein, und es schmeckt ihm wohl, — klaubt es nun
ein Urümlein von dem Brote ab und zerdrückt es mit den Fingern,
daß gleichsam wieder ein Teig daraus wird, und stopft damit die
ffnung an dem Lölblein zu: von dem Augenblicke an geht das
Quecksilber nimmer über sich und nimmer unter sich, sondern bleibt
unaufhörlich stehen, wie es stand. Warum? Weil die Cuft nimmer
auf das Quecksilber wirken kann, bis es endlich der Vater entdeckt
und hätte die beste Lust, er gebe dem Büblein eine Ohrfeige. Wer
weiß, was er tut, wenn's zum zweiten Male geschieht? Wenn es
ihm aber mit seiner Vorsicht gelungen ist, die Offnung wieder frei⸗
zumachen, die Luft kann wieder auf das Quecksilber drücken wie
vorher, stärker oder schwächer, alsdann fängt es auch wieder an,
lustig zu steigen und zu fallen. Also rührt die Veränderung in dem
Stande des Quecksilbers von der Cuft her, welche durch die Offnung
des Kölbleins hineingeht und auf das Quecksilber drückt. Daß aber
die Cuft allein es sei, die imstande ist, mit wunderbarer Kraft
das Quecksilber 28 Zoll hoch in die Röhre hinauf zu treiben und
in dieser Höhe schwebend zu erhalten, ist der Beweis: Wenn die
Röhre oben an der Spitze abbricht und die Luft jetzt dort auch
hineinkommt, wo vorher keine war, fällt das Quecksilber in der
Röhre auf einmal so tief herab, bis es demjenigen, das in dem Kölblein
299
steht, gleich ist, und hat alsdann alles ein Ende; denn die Luft in
der Röhre und die Luft in dem Kölblein drücken jetzt mit gleicher
Gewalt gegeneinander und vernichten ihre Kraft an sich selber, so
daß das Quecksilber freies Spiel bekommt und seiner eigenen Natur
folgen kann, die da ist, daß es vermöge seiner Schwere hinuntersinkt
bis auf den Boden oder auf das Unterste des Raumes, worin es
eingeschlossen ist.
Merke sechstens und endlich: Es hat eine lange Erfahrung gelehrt,
wenn die Cuft anfängt, sich stärker auszudehnen und zu drücken,
daß alsdann gemeiniglich auch das Wetter heiter und schön wird.
Wenn sie aber nachläßt und gleichsam matt wird, man weiß nicht
warum, so macht sich gewöhnlich ein Regen zurecht oder ein Sturm⸗
wind oder ein Gewitter. Welchermaßen nun das Steigen oder
Fallen des Quecksilbers einen stärkeren oder schwächeren Druck der
Cuft anzeigt, solchermaßen kündigt es auch zum voraus Sonnenschein
und Regen an, wenn nichts anderes dazwischenkommt. Bisweilen
trügen alle Zeichen und Hoffnungen, wie vielen Beobachtern be—⸗
kannt ist.
Denn der liebe Gott hat auch noch allerlei andere kleine Haus—
mittel, um den Wechsel der Witterung zu hindern oder zu fördern,
die er bis jetzt noch niemand verraten hat. Die Weltgelehrten
ärgern sich schon lange darüber. Peter Hebel.
161. Demut.
Seh' ich die Werke der Meister an,
so seh' ich das, was sie getan;
betracht' ich meine sieben Sachen,
seh' ich, was ich hätt' sollen machen. Werihe
162. Denkende Maschinen.
Wir müssen ein auffallendes Beispiel wählen, um zu zeigen, was
wir meinen. Es gibt heute wunderbare Mähmaschinen, die vom
Benzinmotor durch das reife Getreidefeld gezogen werden, die die
halme mit scharfen Messern dicht über dem Boden abschneiden und
diese Halme, ehe sie noch Zeit finden, zur Erde zu fallen, zusammen⸗
raffen, mit starkem Bindfaden fein säuberlich zu Garben binden
und unter Umständen gleich auf den mitgeführten Erntewagen werfen.
Und wir haben Rasenmähmaschinen, die den Gartenrasen so fein
und glatt wie einen Perserteppich schneiden.
295
296
Aber es gibt noch keine Rasiermaschine, die dem Kunden etwa
einfach über den Kopf gestülpt wird und nun die Bartstoppeln fein
säuberlich wegrasiert. Denn dazu müßte man bereits eine denkende
Maschine haben, das heißt eine Maschine, die sich den Umständen
sachgemäß anpaßt. Eine Maschine, die es berücksichtigt, daß Herr
X. eine etwas größere Nase hat als Herr N. und nicht mutwillig
und leichtsinnig ein Stück von dieser Nase mit wegschneidet. Die—
etwas übertreibende Beispiel zeigt wohl sofort den Kernpunkt, auf
den es bei der „denkenden Maschine“ ankommt. Nicht ein für
allemal mechanisch genau das Gleiche zu tun, sondern sich in jedem
Fall durch die besonderen Umstände leiten zu lassen, das ist das
Wesen der denkenden Maschine.
Selbstverständlich hat auch die denkende Maschine kein Gehirn,
wie es der Mensch besitzt. Selbstverständlich geht auch bei ihr alles
mit natürlichen Dingen zu, und es ist eben die Aufgabe des Er—
finders, sich an die Umstände mit den bekannten mechanischen
Mitteln anzupassen. Und das ist eine sehr schwere Aufgabe.
Vieles ist auf dem Gebiet zwar schon geschehen, aber unendlich
viel bleibt noch zu tun.
Zu den denkenden Maschinen gehören beispielsweise die be—⸗
kannten Verkaufsautomaten; nicht etwa weil sie gegen Hergabe
eines Groschens ein Stück Schokolade oder eine Eisenbahnfahrkarte
verkaufen, das ließe sich mit sehr einfachen technischen Mitteln
erreichen; sondern weil sie jedes Geldstück, das ihnen vom lieben
Publikum angeboten wird, zuerst einmal ganz genau auf seine Echt⸗
heit prüfen, viel genauer und sorgfältiger, als irgendein lebendiger
Verkäufer es könnte. Das sind Einrichtungen, die das eingeworfene
Geldstück genau auf seine Größe, auf sein Gewicht, auf die Ela—
stizität und auf den etwa vorhandenen Eisengehalt prüfen. Und nur
wenn das Geldstück alle diese vier Prüfungen ladello⸗ besteht, bequemt
sich der Automat, es anzunehmen und seine Waren herzugeben.
Im andern Fall aber gibt er das Geldstück wieder heraus und
behält seine Ware. In der Tat liegen die schönen Zeiten, da man
mit einem Groschen an einem Pferdehaar einen ganzen Automaten
ausräubern konnte, weit hinter uns, und gegen jede Mogelei ver—
verteidigt sich der moderne Automal mit großer Geschicklichkeit.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Durch ein amerikanisches
Baumwollfeld hin fährt eine eigenartige Maschine. Von allen
Seiten umgeben sie die Baumwollstauden und zeigen nebeneinanden
geschlossene Blütenknospen, halboffene Knospen und endlich völlig
reife Samenkapseln, aus denen die weiße Baumwolle in Form
breiter Büschel und Quasten hervorleuchtet. Die Aufgabe geht
dahin, die reifen Samenkapfeln, aber auch nur diese, von den Stauden
zu pflücken, auf denen sie unregelmäßig verteilt sitzen, und im übrigen
die andern Blüten und die Stauden mõöglichst zu schonen.
Die moderne Baumwollpflückmaschine wird dieser Aufgabe in
vollem Maß gerecht. Da fahren zahlreiche, nach allen Seiten be—
wegliche Arme wie Taster über die Baumwollstauden hin. Eben
kommt solch ein Arm in die Vähe einer reifen Samenkapsel, und schon
neigt sie sich ihm freiwillig entgegen, berührt ihn und verschwindet
im Augenblick in dem hohlen Maschinenarm. Denn dieser Arm
steht mit einer kräftigen Luftpumpe in Verbindung, die fortwährend
Cuft durch ihn einsaugt. Auf die unreifen und halbreifen Samen⸗
kapseln wirkt dieser Cuftzug kaum ein. Wo aber eine Kapsel reif
ist und flockige Baumwolle zeigt, da wird sie vom Cuftstrom sofort
angesogen. Und erst einmal im Hohlarm drin, fassen zackige, schnell⸗
laufende UNetten die Wolle und reißen sie ab, während der Zweig
zurückschnellt. Alles weitere ist dann technisch sehr einfach. Aber
es hat lange Jahre gedauert, bis man dazu kam, eine Maschine
zu bauen, die wirklich nur die reifen Kapseln pflückt und keine reifen
Kapseln ungepflückt läßt.
Gerade die Candwirtschaft stellt zahlreiche Aufgaben an „denkende
Maschinen“, und gerade in der Candwirtschaft muß heute noch
unendlich viel mangels solcher Maschinen durch menschliche Kraft
besorgt werden. Vergleichen wir die Arbeit eines gelernten Schlossers,
der an der Drehbank steht und Metallschrauben anfertigt, und die
Arbeit eines Hofjungen, der im Zuckerrübenfeld steht, mit der Hacke
das Erdreich um die einzelnen Rübenköpfe lockert und häufelt und
etwaiges Unkraut ausjätet. Der Schlosser mußte eine lange Cehr—
zeit durchmachen, bevor er gute Schrauben drehen konnte. Der
Hofjunge ist eben erst der Schule und dem Abc entronnen und
macht seine Häufel- und Jätarbeit ganz tadellos. Und nun die
Aufgabe, die Arbeit dieser beiden Menschen durch die Maschine
zu ersetzen. Beim Schlosser ist es durch die Revolverdrehbänke
längst in vollkommenem Maß gelungen. Aber die scheinbar
so einfache Arbeit des Hofjungen durch die Maschine zu ersetzen,
das wollte bis zum heutigen Tag nicht recht glücken. Es wäre
einfach, wenn die Rübenköpfe nicht wären. Aber die sind so sehr
verschieden in Größe, Form und Standort. Und die dürfen um
keinen Preis angehackt und verletzt werden, während doch dicht
95
2
dabei das Erdreich gelockert, das Unkraut entfernt werden soll.
Die Technik wird noch manche recht harte Nuß zu knacken haben,
bevor die Lösung dieser Aufgabe wirklich völlig zufriedenstellend
gelingt.
Und dann die liebe, gute Kartoffel. Was stellt die für Ansprüche
an denkende Maschinen, obwohl doch große Kartoffeln und tiefe
Gedanken für gewöhnlich nicht zusammengebracht werden. Mit
Maschinen wird der Uartoffelacker bestelltt, und mit Maschinen
werden die Saatkartoffeln in den Boden gebracht. Wenn die Kar—
toffeln der Stauden im Herbst reif sind, wenn das Kartoffelbuddeln
beginnt, so tritt neuerdings auch eine sinnreiche Maschine in Tätig—
keit, die dem Menschen die Arbeit abnimmt, und an deren Ver—
vollkommnung noch weiter gearbeitet wird.
Und wenn die Kartoffel dann ihren Weg über die Märkte ge—
macht hat und in die einzelne Haushaltung gelangt ist, so beginnt
die Schwierigkeit von neuem. Die Kartoffel muß geschält werden,
und es müssen ihr, so grausam es auch klingt, die Augen aus—
gestochen werden. Das ist, wie jede Köchin bezeugen kann, eine
höchst langweilige und zeitraubende Arbeit. Wir haben zwar
Maschinen, die die schönsten Schrauben und sonstigen Teile aus
dem festen Metall herausschneiden. Aber wir haben trotz vor—
handener Schälmaschinen noch keine Maschine, die die Schale der
einzelnen in Form und Größe grundverschiedenen Kartoffeln gleich—
mäßig entfernt und dann die Augen aussticht.
Der Volkswirtschaftler, der nachrechnet, wieviel Millionen Arbeit—
stunden in Deutschland jährlich auf das Kartoffelschälen verwendet
werden, wird aber die Notwendigkeit und Nützlichkeit einer solchen
Maschine sofort einsehen. Und weiter zeigt die Betrachtung, daß
doch wohl auch zum UKartoffelschälen Gedanken gehören müssen,
und schließlich ergibt sich, daß auf diesem Gebiet die Technik noch
sehr viel zu arbeiten hat, um Vollendetes zu leisten.
Bans Dominik.
163. Eine Schiffswerft.
Hast du schon einmal darüber nachgedacht, liebes Kind,
wo die stolzen Kriegsschiffe, welche die Ozeane durch-
furchen und in allen Weltteilen die deutsche Flagge zeigen,
gebaut werden? Ihre Geburtsstätte ist die Schiffswertft.
Unter den vielen Werften unseres deutschen Vaterlandes
ist eine der größten und schönsten die Kaiserliche Wertft
98
1
bei Kiel, am östlichen Ufer der ruhigen, waldumsäumten
Kieler Bucht gelegen. Ihr wollen wir heute einen Besuch
abstatten.
In einer Lange von mehr als einem Kilometer zieht sie
sich unmittelbar am Hafen hin. Schon aus der Ferne tönt
uns das Geräusch der Maschinen und der vielen tätigen
Hãmmer entgegen. Auf der Landseite ist die Werst mit einer
hohen Mauer umgeben. Trittst du durch eines der vier großen
Tore ein, so glaubst du, dich in einer großen Stadt zu be-
finden; denn vor dir reiht sich Werkstatt an Werkstatt, Lager-
raum an Lagerraum, und nicht weniger als fünf- bis sechs-
tausend Arbeiter finden hier Beschaftigung. Ihre fleißigen
Hãande sind daran tätig, neue Schiffe zu bauen und fũür die
Fahrt ubers Meer auszurũsten, oder alte Schiffe auszubessern
oder umzubauen. Nach der Art der Arbeit teilt man die
Werft in verschiedene Arbeitsfelder oder Ressorts, von denen
das Schiffbau-, das Maschinenbau- und das Ausrũustungsressort
die wichtigsten und sehenswertesten sind.
Betreten wir zunächst das Schiffbauressort. Hier finden
wir die Bauplätze für die Schiffe, Hellinge genannt, dicht
am WVasser liegende, gegen dasselbe geneigte, ebene Plàtze.
Auf diesen werden zwischen einem mächtigen hölzernen Ge—
rũst die schweren Kolosse aus Tausenden von Eisenteilen
zusammengestellt. Zunächst wird der Kiel gestreckt, d. h.
der aus festen Eisenschienen bestehende untere Teil des
Schiffes gelegt. Er ruht seiner ganzen Länge nach auf mäch-
tigen Holzklõtzen, dem sogenannten Stapel, und bildet gleich-
sam das Ruckgrat des ganzen Baues. An den Kiel setzt man
die Rippen oder Spanten, den Vorder- und Hintersteven —
das sind die starken, aus Gußstahl hergestellten Teile, die
dem Schiffe vorn und hinten die nötige Festigkeit geben —
und die Schotten, die wasserdichten zwischenwände. Hat man
nun die Außenhaut aus dunnen Eisenplatten fertiggestellt und
die verschiedenen Decke eingebaut, so kann das Schiff vom
Stapel, d. h. zu Wasser gelassen werden. Der Stapellauf,
mit dem die Taufe des Schiffes verbunden wird, bedeutet
einen wichtigen Abschnitt in der Bauzeit eines Schiffes und
bringt, ähnlich wie das Richten eines Hauses, für die Arbeiter
eine Festlichkeit mit sich. Freilich mußt du nicht glauben, daß
nun schon die ganze Arbeit getan ist. Ebensowenig, wie das
299
300
Haus gleich nach dem Richtfest bewohnt werden kann, ist das
Schiff jetzt imstande, eine Mannschaft auf die See hinauszu⸗
tragen. Ihm fehlen noch die wichtigsten Teile, die Maschinen
und Schornsteine oder Schlote, die Masten, Panzerplatten und
Kanonen, mit einem Wort: die Einbauten und Aufbauten, und
es vergehen noch immer anderthalb bis zwei arbeitsreiche
Jahre, ehe das Fahrzeug die Werft verlassen kann.
Nach dem Stapellauf wird das Schiff in eine andre Ab-
teilung der Werft geschleppt, nämlich in das Baubassin. Das
ist ein großes, quadratfõrmiges Vasserbecken, das Raum zur
Aufnahme vieler Schiffe bietet. Vie die Baustelle, auf der
der Neubau bis jetzt lag, von den Werkstätten des Schisf
baues umgeben ist, so linden wir um den jetzigen Lager-
platz des Schiffes hauptsãchlich die Maschinenbauwerkstãtten.
Wahrend dort die Spanten, Platten und Balken dureh große
Maschinen nach Zeichnungen und Holzmodellen gebogen,
behobelt und durchbohrt wurden, sieht man hier, wie die ver-
schiedenartigsten Teile der Schiffsmaschine in der Gieberei
aus flüssigem Eisen, Stahl oder Messing gegossen, dann
in der Werkstatt bearbeitet und zu fertigen Maschinen zu-
sammengestellt werden. Hier reihen sich in langen Hallen
die neuesten und besten Maschinen, welche die Tagesarbeit
Hunderter von Menschen in Minuten verrichten, aneinander.
Hier liegt die Panzerplattenbiegewerkstatt, in der duren
Wasserdruck-Pressen die dicken Panzerplatten in jede ge-
wünschte Form gebogen werden. Mit verdichteter Luft wer-
den fingerdicke Nieten im Zeitraum einiger Sekunden so
gut umgenietet, wie es Menschenhände nicht in Minuten ver-
mögen.
Sind nach vieler Monate Arbeit die Maschinen und Ge-
schũütze durch einen Riesenkran an Bord gebracht, die Deck-
aufbauten und Panzerung vollendet, so fehlt noch einer der
wesentlichsten Bestandteile des Schiffes, namlich die Schrauben,
deren ein gröteres Schiff drei besitzt. Um diese einsetzen
zu können, muß das Schiff trocken gelegt werden. Es kommt
zu dem Zwecke ins Trockendock. Es ist dies eine große
Grube in Form eines Rechtecks, deren Vande aus großen
Quadersteinen aufgebaut sind. Sie steht mit dem Vasser in
Verbindung, kann jedoch durch wasserdichte Tore, die Ver-
schlußpontons, von demselben abgeschlossen werden. Vill
man das Schiff in eines der fünf vorhandenen Trockendocks
hineinbringen, so läßt man dieses voll Vasser laufen, indem
man den Verschlußponton entfernt. Alsdann schleppt man
das Schiff hinein. Wird jetzt das Dock geschlossen und ver-
mittelst großer Dampfpumpen entleert, so ssteht das Schiff auf
dem Trocknen. Sind die Schrauben eingesetzt und die etwa
noch am Schiffsboden nötigen Arbeiten beendet, so läßt man
das Dock abermals voll Wasser laufen, und das Schiff kann
es schwimmend verlassen.
Auch jetzt ist das Schiff noch nicht imstande, seinen Dienst
anzutreten. Vie die zukünstigen Bewohner eines neugebauten
Hauses erst ihre Hausgerãtschaften herbeischasfen, um die Be-
hausung wohnlichzu gestalten, so muß auch das Schiff noch eine
weiĩtere Ausrũstung empfangen, um der aus mehreren hundert
Mann bestehenden Besatzung eine bequeme Wohnung sein
zu können. Es kommt darum wieder in eine andere Ab-
teilung der Werft, in das Ausrustungsbassin, das nicht, wie
das Baubassin, von Werkstãtten, sondern von Schiffsßkammern
und Kohlenmagazinen umgeben ist. Hier sieht man denn, wie
tagelang Hausgerate aller Art, Hangematten, Decken, Vasche,
Kũchengeschirr, Metallteile und Verkzeuge für die Schiffs
werkstatt, Ole, Farben und tausend andere Dinge von Matrosen
an Bord gebracht werden. Isst das Schiff nun auch noch mit
Seekarten und Meßinstrumenten versehen, sind Schiebbedamt
und Kohlen eingenommen, so beginnen die Probefahrten. Denn
ein Fahrzeug, das vielleicht über zwanzig Millionen Mark
gekostet hat, vird nicht ohne weiteres der See anvertraut.
Auf kleinen Fahrten probiert man erst, ob Maschinen, Ge-
schutze usw. tadellos ihre Arbeit verrichten. Fallt alles zur
Zufriedenheit aus, so wird das Schiff in Dienst gestellt, d. h.
es fahrt jetzt als vollstandig kampffahiges Kriegsschiff aus dem
Hafen hinaus. Die deutsche Flotte ist dann um einen stolzen
Bau reicher gewordenl
Die Arbeiter der Werst aber bauen emsig weiter, denn
nur durch rasstlose Vergrõöberung der Kriegsmarine kann unser
Vaterland eine Machtstellung, wie sie ihm im Rate der Vöõllrer
gebührt, erlangen und behaupten. Seinen braven Werftarbei-
tern wendet unser Kaiser seine besondere Fũrsorge zu. Um
ihnen gesunde und bequeme Wohnungen zu verschaffen,
hat man den Arbeiterbauverein gegründet. Damit sie in
30
ihren Mußestunden körper- und geisterfrischende Erholung
finden können, ist der Werftpark mit Spielplätzen und schat—
tien Lauben angelegt und darin das Erholungshaus mit
oolbahn, Bibliothek, Lesezimmer und einem großen Saal
füt Ronzerte, Unterhaltungs- und Vortragsabende erbaut. In
Cer Nahe des Werfttores ladet eine Badeanstalt die Ange-
hörigen der Werft zu einem erfrischenden Bade ein. In einer
Speiseanstalt kõnnen sie für geringen Preis gutes und nahr-
haftes Mittagessen erhalten. Die Eltern aber, die beide der
Arbeit nachgehen mussen, können ihre Kleinsten in einer
nahen Kinderbewahranstalt sicherem Schutze und guter Pflege
anvertrauen. Hermann Rohwedder.
164. „Een Boot is noch buten!“
„Ahoil Klas Nielsen und Peter Jehann!
Kiekt nach, ob wi noch nich to Mus sindl
Ji hewt doch gesehn den Klabautermann ?
Gottlob, dat wie wedder to Hus sindl“
Die Fischer riefen's und stießen ans Cand
und zogen die Kiele bis hoch auf den Strand,
dumpf an rollten die Fluten.
han Jochen aber rechnete nach
und schüttelte finster sein Haupt und sprach:
„Een Boot is noch buten!“
Und ernster keuchte die braune Schar
dem Dorf zu über die Dünen;
schon grüßten von fern mit zerzaustem Haar
die Frau'n an den Gräbern der Hünen.
Und „Korl“ hieß es und „Leiw Mariel“ —
„t is doch man schön, dat ji wedder hiel“
Dumpf an rollten die Fluten.
„Un Hinrich, min Hinrich? Wo is denn dee ?l⸗
Und Jochen wies in die brüllende See:
„Een Boot is noch buten!“
Am Ufer dräute der Möwenstein,
drauf stand ein verrufnes Gemäuer,
dort schleppten sie Werg und Strandholz hinein
und gossen Ol in das Feuer.
302
303
Das leuchtete weit in die Nacht hinaus
und sollte rufen: „O, komm nach Haus!“ —
Dumpf an rollten die Fluten. —
„Hier steht dein Weib in Nacht und Wind
und jammert laut auf und küßt dein Kind.“ —
„Een Boot is noch buten!“
Doch die Nacht verrann, und die See ward still,
und die Sonne schien in die Flammen.
Da schluchzte die Ärmste: „As Gott willl“
und bewußtlos brach sie zusammen!
Sie trugen sie heim auf schmalem Brett,
dort liegt sie nun fiebernd im Krankenbett,
draußen plätschern die Fluten.
Dort spielt ihr Uind, ihr „lütting Jehann“,
und lallt wie träumend dann und wann:
„Een Boot is noch buten.“ Arno Holz.
165. Unterseeische Glockensignale.
Dichter Nebel lagert über der Ostsee. Man kann vom Heck
des großen Fahrschiffes, das uns mitsamt unseren D-Fugwagen
von Warnemünde nach Gjedser fährt, kaum den Bug erkennen.
Als seeerfahrene Candratten verzapfen wir unseren minder unter—
richteten Reisegefährten bereits die Weisheit, daß bei derartigem
VNebel sich die Einfahrt in den Hafen ganz wesentlich verzögern
und wir voraussichtlich mit großer Verspätung nach KNopenhagen
kommen würden. Plötzlich sehen wir dicht vor uns das Feuerschiff
auftauchen. Mit einer Sicherheit wie beim schönsten, klarsten Wetter
hat also bei kaum verringerter Fahrt unser Schiff dem Ziele zu—
gesteuert. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Bloß nach dem
Kompaß kann auch der erfahrenste Steuermann ein Schiff bei solch
unsichtigem Wetter nicht so haarscharf genau auf der richtigen Cinie
halten. Doch wozu hat der Mensch die Sprache, als um durch
Fragen seinen Wissensdurst zu stillen ?
„Wir richten uns nach unterseeischen Glockensignalen,“ klärte
mich der befragte Offizier des Schiffes auf, „an Backbord und an
Steuerbord (an der linken und der rechten Seite des Schiffes)
haben wir je einen Kasten unter der Wasserlinie mit einer Hörmem—
bran wie beim Telephon; trifft ein Ton diese Membran, so meldet
sie ihn getreulich weiter bis nach dem Steuermannshaus. Bei
unsichtigem Wetter werden vom Gjedser Feuerschiff und an der
Warnemünder Hafenmole Glocken unter dem Wasser angeschlagen.
hören wir ihren Ton nur durch das Backbordtelephon, so liegt das
Schiff zu weit rechts, und wir müssen mehr links steuern. Hören
wir ihn nur am Steuerbord, so müssen wir mehr rechts steuern.
Fahren wir aber in der richtigen Richtung gerade auf die Glocken—
station zu, so hört man durch beide Telephone Backbord und Steuer—
bord die Glockenschläge gleichlaut.“
„Und geht die Sache sicher ?“
„Bis jetzt ganz ausgezeichnet. Wir sind auch nicht die ersten,
die eine solche Anlage an Bord haben. Schon vor einigen Jahren
hat man in Amerika Versuche mit derartigen unterseeischen Signalen
gemacht. Dann sind einige unserer transatlantischen Dampfer da—
mit ausgerüstet worden, und wenn ich nicht irre, können an der
Einfahrt zur Weser unterseeische Glockensignale für die großen Cloyd⸗
dampfer gegeben werden.“
„Mir scheint nur eins wunderlich, daß man die Signale unter
dem Wasser gibt.“
„Das ist ja aber gerade die Hauptsachel Erstens hört man
die Glockenschläge unter dem Wasser viel weiter. .“
„Weiter?“
„Ja natürlich. Haben Sie das noch nicht beobachtet? Wasser
leitet die Schallwellen ganz vorzüglich. Das haben eben die prak—
tischen Versuche erwiesen.“
„Hat man das gute Hören unter Wasser nicht auch noch aus—
genutzt, um das Nahen von Schiffen aus dem Geräusch der arbei—
tenden Maschinen zu erkennen?“
„Ganz recht. Auf französischen Unterseebooten sind ausgedehnte
Versuche in dieser Richtung gemacht worden. hier ist die Sache
ja auch von ganz besonderem Wert, da man unter dem Wasser
nichts sieht, wenigstens nicht ohne Hilfe zusammengesetzter Apparate.
Doch wir brauchen gar nicht immer an das Wasser zu denken.
Auch zu Lande versteht man es gar wohl, sich die bessere Schallei—
tung des Erdbodens praktisch zunutze zu machen. Wenn unsere
Soldaten bei Übungen auf Erkundungen ausgeschickt werden, kann
man wohl beobachten, daß einer das Ohr auf die Erde legt. Auf
diese Weise wird Pferdegetrappel von Reitertrupps sehr weit gehört,
selbst dann noch, wenn das Geräusch der Hufe durch Umwickeln
mit Tüchern absichtlich gedämpft ist. Im siebziger Uriege hat man
oft von diesem Hilfsmittel der Erkundung Gebrauch gemacht.
304
Die Tatsache, daß der feste Boden Geräusche besser fortleitet als
die Cuft, erklärt auch manche Erscheinung, die uns sonst befremdet.
Wenn in größerer Entfernung ein Böllerschuß abgefeuert wird,
hören wir ihn zuweilen zweimal unmittelbar hintereinander. Das
erstemal war die Erde die Vermittlerin des Schalles, das zweite—
mal die Luft. Wer das Vergnügen hat, in der Nähe von Vulkanen
und Erdbebenherden zu wohnen, kann dieselbe Beobachtung häufig
anstellen. Man hat dann oftmals das Gefühl, als ob die Erde
unter einem grollte, dabei liegt der Herd des Geräusches vielleicht
meilenweit entfernt, die gute Ceitung des Schalles durch den Erd—
boden ist die Ursache der Sinnestäuschung. Etwas Ähnliches wie
der Soldat macht zuweilen der Eisenbahner. Wenn er sich ver—
gewissern will, ob ein Zug naht, legt er das Ohr an die Schiene.
Hier nutzt der Mann zwar nicht ganz vorschriftsmäßig, aber doch
einfach und praktisch die Tatsache der guten Schalleitung des Stahles
aus. Es gibt da noch eine ganze Menge Beispiele. Eins fällt
mir noch ein: eine Erscheinung, die heute fast jeder Städter be—
obachten kann. Woran hört man das VNahen einer Elektrischen?
In den meisten Fällen an dem Klingen und Surren des Fahr⸗
drahtes. Das Geräusch der rollenden oder schleifenden Stromab—
nehmer pflanzt sich rasch und sicher um alle Ecken herum durch den
Kupferdraht fort und dringt auf diese Weise schneller und deutlicher
an unser Ohr wie das eigentliche Fahrgeräusch der Räder. Ich
erinnere mich noch deutlich, wie in der ersten Zeit, als die Elekt
rischen aufkamen, bei uns fast alle Aufhängedrähte an den Häusern
befestigt wurden. Aber kaum begannen die Wagen zu fahren, da
regnete es Beschwerden der Hausbewohner. Die metallenen Drähte
übertrugen die Schleifgeräusche unmittelbar auf die Hausmauern,
und diese pflanzten sie getreulich durch alle Stockwerke fort, viel
stärker, als man es beim Gehen auf der Straße durch die Cuft hörte.
Inzwischen ist man wie stets im Leben durch die Erfahrung klüger
geworden und sorgt durch die Art der Anbringung der Mauerhaken
dafür, daß den ungebetenen Schallwellen der Weg verlegt wird.
Fast alle unsere wichtigen Baustoffe sind leider gute Schalleiter,
zum großen Kummer der geplagten Bewohner. Wie manchem
Baumeister, wie manchem Ingenieur hat das schon manches Kopf⸗
zerbrechen verursacht!“
Siegfried Hartmann.
Weimar. CLesebuch M, 2.
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20
306
166. Meeresabend.
Sie hat den ganzen Tag getobt And drüber zittert der Abendwind,
als wie in Zorn und Pein, ein mildes, heiliges Wehn,
nun bettet sich, nun glättet sich das ist der Atem Gottes,
die See und schlummert ein. der schwebet ob den Seen.
Es küßt der Herr aufs Cockenhaupt
die schlummernde See gelind
und spricht mit säuselndem Segen:
„Schlaf ruhig, wildes Nind!“
Moritz Graf v. Strachwitz.
167. Der drahtlose Verkehr zur See.
Jede vollständige drahtlose Station besteht aus einem Empfangs⸗
teil und aus einem Geberteil, sowie aus einem Luftleitergestänge,
das abwechselnd an den Geber oder an den Empfänger geschaltet
werden kann. Ciegt das Gestänge am Geber, so kann die Station
sprechen; sie kann dann elektrische Wellen durch das Luftleiterge⸗
stänge in den Raum schicken, die sich nach allen Seiten hin aus—
breiten und von jeder anderen Empfangsstation abgehört werden
können. Ciegt umgekehrt das Gestänge an der Empfangsseite, so
kann die Station selber alle elektrischen Wellen wahrnehmen, die
von irgendwoher ankommen, kann selber fremde Botschaften hören.
Die Station kann aber nicht zur gleichen Zeit empfangen und
geben, wie etwa ein Mensch zur gleichen Zeit hört und spricht.
Sie kann entweder sprechen und ist inzwischen taub, oder sie kann
hören und ist währenddessen stumm.
Besuchen wir nach diesen Vorbemerkungen „Herrn Drahtlos“
während seiner Dienststunden im Telegraphenbureau eines großen
Dampfers. Wir treffen einen Mann, der, die Hände in den Hosen⸗
taschen, gemächlich in einer großen, geräumigen Kabine in nächster
Nähe der Uommandobrücke auf und ab läuft. An der einen Wand
dieser Kabine und auf einem dort befindlichen Cisch sind allerlei
glänzende elektrische Apparate angebracht. Herr Drahtlos sieht sie
nicht an, sondern macht, wie gesagt, einen Spaziergang im Raum.
Aber trotzdem ist er in engster Verbindung mit ihnen. Denn von
diesen Apparaten aus geht eine lange Ceitungsschnur, wenigstens
zehn Meter lang, von der Art, wie wir sie auch von unseren
Tischtelephonen her kennen, zu ihm hin und endigt hier in
einem Kopftelephonapparat, in zwei kleinen Hörmuscheln, die er
7
fest an seinen Ohren trägt. Und während der Mann dort schein—
bar auf gar nichts achtet, vernimmt er doch durch den Luftleiter
des Schiffes, durch die Telefunkeneinrichtung, die CLeitungsschnur
und die Hörer alle Telegramme, die da irgendwie durch die Luft
über den Ozean schwirren. Freilich nicht in Worten. Jene Cele⸗
phonhörer lassen nur reine musikalische Töne, etwa vergleichbar
den Tönen einer Geige, erklingen. Die Buchstaben für die kürzeren
oder längeren Töne bestehen aus Punkten und Strichen. Wie jeder
andere gute Telegraphist von der drahthaltigen Telegraphie ist auch
Herr Drahtlos auf diese Morsezeichen vollkommen eingeübt. Er
hört den Sinn aller der Botschaften, die da von Cand zu Schiff
oder von Schiff zu CLand flattern. Aber er kümmert sich nicht
darum, und er darf sich nicht einmal darum kümmern; denn für
ihn besteht das Telegraphengeheimnis ebenso wie für die Beamten
der Drahttelegraphie.
Nur zwei Dinge gibt es, die unseren Freund aus der Geruh—⸗
samkeit seines Spazierganges bringen können. Das erste ist der
Name seines Schiffes. Nehmen wir an, wir befinden uns auf dem
Dampfer „Kap Ortegal“. Herr Drahtlos hat den ganzen Vormittag
schon allerlei Dinge aus der Cuft gehört. Jetzt plötzlich klingen
die Buchstaben D C O dreimal an sein Ohr. Er bleibi stehen und
lauscht. Noch sechsmal wiederholt sich der Rhythmus D CO.
Dann klingt es anders: S Van DC O, das heißt Nachricht von
Station Scheveningen an Dampfer „Kap Ortegal“.
Schon ist unser Freund an seinem Apparatentisch und hat den
Hebel umgeschlagen. Jetzt ist die Geberseite an den CLuftleiter an—
geschlossen. Eilig bewegt sich eine schimmernde Taste unter den
Fingern des Telegraphisten, und im Rhythmus der Morsezeichen
fluten die Worte durch den Raum: „D CO hat gehõrt, ist bereit,
die Nachricht zu empfangen.“ Dreimal funkt der Telegraphist diese
Nachricht in den Raum hinaus. Solange er sprach, war er taub.
Jetzt legt er den Hebel wieder um. Die Empfangsseite ist wieder
angeschaltet, und schon klingen im Kopftelephon die Zeichen, die
Scheveningen sendet. Eine Depesche von Berlin über Scheveningen
an den Kajütpassagier Herrn Schmidt an Bord von 2 070.
Mit flinker Hand schreibt der Telegraphist die Depesche während
des Hörens auf einem Telegrammformular nieder. Endlich kommt
das Schlußzeichen. Er hat alles klar verstanden und legt nun
nach Schluß der Nachricht den Hebel wieder um und funkt nach
Scheveningen das Empfangszeichen zurück. Dann stellt er seinen
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2
308
Apparat vom Sprechen wieder zum Hören ein, und während ein
Diener das Telegramm an Herrn Schmidt überbringt, setzt er seinen
unterbrochenen Spaziergang fort.
Das zweite Ereignis, das ihn sehr erheblich aus seiner Ruhe
bringen könnte, heißt SO S. Die Buchstaben haben keinen sprach—⸗
lichen Sinn. Desto eindringlicher ist ihr Khythmus im Morsealphabet.
Kurz, kurz, kurz, lang, lang, kurz, kurz, kurz schrillen die Töne im
Telephon. Das ist nicht mehr der wechselnde Cakt des gewöhn⸗
lichen telegraphischen Verkehrs. Es ist der Hilferuf eines in See—
not befindlichen Schiffes. Schon hat der Telegraphist den Block
zur Hand und notiert mit gespanntester Aufmerksamkeit, was das
rufende Schiff meldet: Seinen Namen, den geographischen Ort, an
dem es sich befindet, bis auf wenige hundert Meter genau, und
die Art der Verletzung oder Gefährdung. Kaum hat er die Mel—
dung niedergeschrieben, so legt er auch bereits die Telephonhörer
ab und eilt selber mit der Depesche zum Kapitän. Nach den zwischen
den Völkern getroffenen Vereinbarungen ist jedes Schiff verpflichtet,
nach solchem Hilferuf die Richtung zu ändern und dem sinkenden
Schiffe zu Hilfe zu eilen. Während der Kapitän seine Maßregeln
trifft, hat der Telegraphist bereits wieder den Hörer um und lauscht.
Ein Passagier kommt und will ihm eine Depesche für Berlin
übergeben. Er nimmt die Depesche, verabschiedet den Überbringer
höflich und lauscht weiter. Denn nach den Abmachungen zwischen
den Völkern muß jeder Verkehr zwischen den Schiffen schweigen,
wenn der verhängnisvolle Ruf SOS erklungen ist. Dann tritt
allein die nächste Candstation mit dem bedrohten Schiff in Ver—
kehr, nimmt die Botschaft auf und sendet sie dann mit gewaltiger
Energie wieder und immer wieder über die See zurück, sodaß jedes
für die Rettung in Betracht kommende Schiff sie sicher verstehen
muß. Dann eilen die nächsten Schiffe zur Unfallstelle und belau—
schen fortwährend den telegraphischen Verkehr zwischen dem be—
drohten Schiff und der Candstation weiter, um fortwährend über
die Ortlichkeit unterrichtet zu bleiben. Nur das nächste Schiff
an der Unfallstelle versucht, sich in einer Gesprächspause zu mel⸗
den, nimmt gleichzeitig Verbindung mit dem Lande und dem be—
drohten Schiff und teilt mit, wo es ist, und wann es an der Un—
fallstelle sein kann. Wenn aber übereifrige Telegraphisten von
ferneren Schiffen sich in diese Unterhaltung mengen, dann gibt es
Verwirrung, dann stören sich die Wellenzüge, und die Nachrichten
werden verstümmelt und schließlich ganz unleserlich. Dann kann
es wohl vorkommen, daß der Telegraphist des sinkenden Schiffes
verärgert die Taste schwingen läßt und die Worte „Sie sind ein
Narr“ durch den Raum sendet.
Denn das ist ja der schwache Punkt bei der drahtlosen Über—
mittlung. Mehrere Telegramme koͤnnen sich, gleichzeitig abgegeben,
unter Umständen gegenseitig stören, etwa ebenso wie wenn zwei
Leute mit gleichstarker Stimme üben verschiedene Dinge zur gleichen
Zeit sprechen. Deswegen gilt in der guten Gesellschaft der Grund⸗
satz, nur gerade so laut zu sprechen, daß derjenige es versteht, für
den es bestimmt ist, aber nicht unnötig über den ganzen Cisch zu
schreien. Und aus demselben Grunde verlangen die Abmachungen
zwischen den Völkern, daß immer nur mit so viel Energie telegra⸗
phiert wird, als zum Verständnis auf der anderen Station gerade
notwendig ist. Fernere Gebiete dürfen nicht unnötig gestört, sozu⸗
sagen elektrisch überschrien werden.
Kehren wir wieder auf unsern Dampfer „Kap Ortegal“ zurück,
der sich auf seiner Fahrt etwa vor der Scheldemündung in der
Nordsee befinden möge. Es wäre ihm ein leichtes, mit seinem
Apparat die große deutsche Candstation von Norddeich bei Emden
direkt anzurufen. Aber er müßte dann so starke Energie senden,
daß jeder andere funkentelegraphische Verkehr an der Lüste der
holländischen und friesischen Inseln gestört würde. Die Vorschrift
verlangt daher, daß er nur mit schwacher Energie nach Scheveningen
ruft, während der östliche Teil der Nordsee für die Verbindung
anderer Schiffe mit Norddeich frei bleibt. Und sobald der Dampfer
„Kap Ortegal“ der englischen Station etwas näher ist als der
holländischen, darf er wiederum nur diese anrufen.
Durch solches Übereinkommen hat man einigermaßen Ordnung
in den drahtlosen Verkehr gebracht. Hans Dominik.
168. Die Fabrik.
Ein Riesenbau in Hofes Mitte,
gespenstisch hockt er in der Nacht.
Kein Caut ringsum, als nur die Tritte
des Wächters, der die Runde macht.
Verstummt der Lärm, versprengt das Treiben,
das hier am Werktag gellt und kreischt,
still rastet hinter dunklen Scheiben,
was täglich tausend Hände heischt.
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Am harten Tagwerk müd gerungen,
ein schlaferstarrter Tazzelwurm,
so stockt, vom Bann der Nacht bezwungen,
der Hämmer Wucht, der Räder Sturm.
Da graut der Tag. Mit Gliederdehnen
regt sich der Drache in der Gruft —
und jauchzend schleudern die Sirenen
den Kampfruf in die Morgenluft. Anna Klie,
169. Wenn die Kohlen auf der Erde
alle werden.
Was wird aus der Erde, wenn die Kohlen alle werden? Du
meinst, dann würde es schrecklich kalt im Winter, und die nördlich—
sten und südlichsten Kulturstaaten der Erde müßten alle ihre Unter—
tanen umsonst und mit freier Verpflegung die Wintermonate nach
dem sonnigen Süden oder Norden schickend O, ans Heizen unserer
Wohnungen zur kalten Winterszeit, daran habe ich gar nicht gedacht,
das ist verhältnismäßig recht nebensächlich. Eine Frage von un—
gleich größerer Wichtigkeit ist die: Wo beziehen wir dann unsere
Kraft her, die Unsumme von mechanischer Kraft, die unser ganzes
Verkehrsleben geschaffen hat und erhält ? Gesetzt den Fall, es gäbe
einen Herrscher, der die Macht hätte zu verhindern, daß der schwarze
Brennstoff im Inland gefördert und aus dem Auslande eingeführt
würde, was dann? Ich will die wirtschaftlichen Folgen nicht aus⸗
malen, sondern nur das, was sich auf Verkehr und Verschönerung
des Lebens bezieht: alle Eisenbahnen, alle Straßenbahnen ständen
still, kein Gas- kein elektrisches Licht leuchtete mehr, binnen kurzem
gäbe es auch kein Eisen, denn die Hochöfen müßten feiern, kein
Dampfschiff ginge, alle die tausend Bedürfnisse des täglichen CLebens
wären im Handumdrehen vergriffen, alle Webereien, Spinnereien
und sonstigen Fabriken müßten ruhen, weil keine Maschine mehr
in Gang gehalten werden könnte, und keine Zeitung könnte mehr
erscheinen!
Nun ist ja zunächst nicht zu befürchten, daß jemand mit Gewalt
versuchen wird, die Kohlenzufuhr abzuschneiden. Aber eines Tages
wird trotz Suchens und Suchens auf dem ganzen Erdball keine Ader
Kohle mehr gefunden werden und kein Torflager einen Ersatz da—
für liefern können. Das wird nicht ploͤtzlich, sondern allmählich
eintreten, die Menschheit wird sich langsam daran gewöhnen können,
318
311
aber erfreulich ist der Gedanke keineswegs. Mit hoher Wahr—
scheinlichkeit können wir annehmen, daß keiner von den bis heute
geborenen Erdenbürgern und -bürgerinnen den Tag erleben wird.
Trotzdem reizt die Frage: Was dann?
Man würde versuchen, die bisher aus den Kohlen gewonnene
Kraft anderweitig zu ersetzen. Doch wie? Holz käme als Brenn—
stoff nicht in Frage, seinen Verbrauch wird man im Gegenteil
schon weit eher einschränken müssen, als den der Kohle, weil
die Holzlieferanten, die Wälder, zugunsten einer gedeihlichen Wasser⸗
wirtschaft um jeden Preis erhalten werden müssen. Aber die
Wasserströme selbst, deren geregelten Cauf wir durch kluge Auf⸗
forstungen in den Quellgebieten erzielen, können uns Kraft liefern.
Schon heute, wo noch kein Mangel an Kohlen ist, hat man sich
ihrer bemächtigt und zapft ihnen Hunderttausende von Pferdekräften
ab; und ich glaube fest, an dem Tage, wo die Kohlen anfangen,
zur Neige zu gehen, wird kein Meter Wassergefäll mehr auf der
Erde zu finden sein, das nicht durch mächtige Turbinenanlagen zur
Krafterzeugung ausgenutzt ist.
Außer der Kraft, die uns das zu Tale fließende Wasser schenkt,
kann auch das in den Meeren stehende zur Krafterzeugung heran⸗
gezogen werden. Da ist z. B. an die Umwandlung der Wellen—
bewegung in mechanische Arbeit zu denken. Hier handelt es sich
zwar eigentlich um Windkraft, aber gleichviel, es ist ein ganz Teil
Kraft, das dort herausgeholt werden kann.
Doch im Meere liegt noch eine andere Kraftquelle verborgen:
die Gezeiten, die merkwürdige Erscheinung von Ebbe und Flut.
Auch hier sind schon Versuche gemacht worden, sie für den Dienst
der Menschen auszunützen, bisher in sehr bescheidenem Umfange,
weil die erforderlichen Einrichtungen zu umständlich und noch zu
wenig wirtschaftlich erscheinen.
Kommende Geschlechter werden ihren ganzen Scharfsinn der zu
loösenden Aufgabe zuwenden, und mit eben dem Ehrgeiz und der
Hartnäckigkeit möglichst vollkommene Maschinen für diesen Zweck
erbauen, wie heute unsere Ingenieure durch Verbesserungen im
Bau von Dampfkesseln, Dampfmaschinen, Gaserzeugern und Gas—
motoren die Kohlen auf das äußerste auszunutzen suchen.
Doch nicht genug damit. Noch eine andere Kraftquelle steht
uns zur Verfügung, die allerdings in unsern Breiten den Nach—
teil der Unbeständigkeit hat. Sie ist seit altersher bekannt, der
Wind.
232—
In allerneuester Zeit hat man in einigen windreichen Cand—
strichen in umfangreicherem Maße den Wind wieder zur Kraft—
erzeugung herangezogen. In Vereinigung mit Hochwasserbehältern
oder elektrischen Sammelbalterien kann auch schon die heutige Technik
die Kraftlieferung des Windes zu einer dauernd wirkenden Kraft
umgestalten. Die hohen Anlagekosten sind aber vorläufig das Hinder⸗
nis für eine ausgedehntere Ausnutzung dieser natürlichen Arbeits-
quelle.
Und die Arbeit, die uns die Sonne zustrahlt? Augenblicklich
begnügen wir uns in der Hauptsache damit, den Teil Sonnenarbeil
zu verwerten, den sie in früheren Jahrtausenden der Erde lieferte,
aber in Gestalt von Kohle und Torf. Wenn dieser aufgespeicherte
Vorrat aufgebraucht sein wird, dann wird man wahrscheinlich ver⸗
suchen, den Speicher zu umgehen und das wertvolle Gut, so wie
es aus der Fabrik der Sonne kommt, unabgelagert zu benutzen.
Nun wäre es allerdings nicht angebracht, die ganze Menge in
mechanische Arbeit zu verwandeln, vorausgesetzt, es wäre ausführ⸗
bar; denn dann bliebe nichts übrig für den Unterhalt der Cebe—
wesen in der Natur, für Wolkenbildung, d. h. Regen fiele weg,
Winde würden nicht mehr wehen, kurz, ein Teil der schon erwähnten
Arbeitsquellen würde versiegen, soweit diese im Grunde nichts
anderes sind als Übermittler von Sonnenarbeit.
Wir wollen also ganz bescheiden sein, wollen auf etwas tropi⸗
schen Pflanzenwuchs unter dem Äquator verzichten und auf einem
1000 Meter breiten Gurte am Aquator alle dort ausgestrahlte
Sonnenarbeit auffangen. Es ergäben sich dann bei Annahme reich⸗
licher Verluste viele, viele Millionen Pferdestärken, mehr als heute
sämtliche Dampfmaschinen und Wasserturbinen der Welt zusammen⸗
genommen leisten. Siegfried Hartmann.
170. Die Campe einst und jetzt.
Freudig hell leuchtet das liebe Weihnachtsfest in den dunklen
Winter hinein. Der duftige Tannenbaum strahlt im Glanze der
Kerzen; hier und dort schimmern sogar die elektrischen Glühlämpchen
aus dem Gezweig, und selbst das sparsamste Hausmütterchen zündet
zum frohen Überfluß im Bescherzimmer sonst noch an, was da
leuchten kann: die Kerzen am Kaminsims, die Krone an der Decke,
Campen auf Tischen und Schränken. Hell muß es sein am Weih—
nachtsabend, hell in den Herzen, hell rings um uns herl
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In all dem leuchtenden Schimmer aber, mit dem selbst die
Hütte heute sich zu füllen strebt, erinnern wir uns kaum, daß die
Moglichkeit, solch frohe Helle um uns zu verbreiten, eigentlich erst
eine der Gaben des vergangenen Jahrhunderts ist. Nicht das
elektrische Licht allein, nicht nur das Gas — die Campe selbst, in
der Gestalt, die wir jetzt als allein brauchbar bezeichnen müssen,
ist ein Geschenk erst des 19. Jahrhunderts.
Zwar die Campe an sich ist uralt, sie taucht schon in den frühesten
Zeiten menschlicher Kultur auf. Die ältesten Campen, die uns er—
halten geblieben sind, stammen aus ägyptischen Gräbern, und man
schätzt sie auf 4000 Jahre; einfache Contöpfchen sind's, die mit Fett
oder Ol gefüllt wurden, aus dem der Docht über den RVand hing.
Von Agypten kam die Campe wahrscheinlich nach Hellas. Die
Griechen gaben ihr den Namen, der noch heute durch alle Kultur—
sprachen wiederklingt, nach ihrem Feitwort lampein, d. h. leuchten.
In Griechenland, besonders aber im späteren Rom, wurde bereits
ein großer CLuxus mit Lampen getrieben, aber technisch entwickelte
das Altertum sie nicht weiter; die Lampe blieb das einfache Gefäß,
dem nur auf der einen Seite ein Handgriff, auf der anderen eine
oder mehrere Tüllen für den Docht zuwuchsen.
Das ganze lange Mittelalter brachte keine Anderung, keinen
Fortschritt. Mängel der Campe verhalfen der Wachskerze und dem
Talglicht zur weitesten Verbreitung; die liebe Lichtputzschere, wie
wir Ülteren sie noch in unserer Jugend kannten, begann, ihre
Triumphe zu feiern, und wurde zum unentbehrlichen Hausgerät.
Da kamen im Jahre 1858 die ersten Petroleumproben aus
Amerika nach Europa. Dem Petroleum kam man zuerst mit großem
Mißtrauen entgegen, zumal man es anfangs noch nicht sonderlich
gut zu reinigen verstand. Die älteren Ceute wollten sich an den
neuen Leuchtstoff schwer gewöhnen. So duldete Kaiser Wilhelm J.
nie eine Petroleumlampe in seinem Arbeitszimmer. Man hatte
ihm einmal eine solche auf seinen Arbeitstisch gestellt. Der spar—
same Greis aber hatte von seinen Jugendjahren her die Angewohn—
heit, um nicht unnütz Ol zu verbrennen, den Docht herunterzudrehen,
wenn er auch nur auf kurze Zeit das Zimmer verließ. Das ging
bei der Rüböllampe sehr gut, bei Petroleum ist es aber bekannt
lich eine mißliche Sache. Als der Uönig auch diesmal nach seiner
Gewohnheit verfuhr, fand er bei der Rückkehr das Zimmer mit
Rauch überfüllt — und damit waren die Petroleumlampen bei ihm
endgiltig in Ungnade gefallen.
313
4
Trotz aller anfänglichen Bedenken brach sich das Petroleum doch
schnell breite Bahn; die Petroleumlampe eroberte sich die Welt in
einem raschen Siegeszuge. Die Einrichtung der Brenner machte
unausgesetzt Fortschritte, ja wir sind schließlich mit so viel verschie—
denen Brennern, Dochtarten, Zylinderformen beglückt worden, daß
die arme Hausfrau sich in dem Reichtum gar nicht mehr auskennt.
Die Petroleumglühlichtlampe, der sich neuerdings auch die Spiritus—
glühlichtlampe anreiht, sind die jüngsten Erscheinungen der vielver—
zweigten Industrie.
Ganz neue Aufgaben aber erwuchsen dieser, als das elektrische
Licht aus der Zeit der Versuche heraustrat, als neben dem nur
für die Beleuchtung der Straßen und großer Räume geeigneten
elektrischen Bogenlicht die kleine, zierliche Glasbirne, das elektrische
Glühlicht, zur Geltung gelangte. Die erste praktische brauchbare
Glühlichtlampe wurde Ende der siebziger Jahre erfunden. Heute
leuchtet sie nicht nur in Magazinen, in Hotels, in zahlreichen Privat—
häusern der Großstädte, sie hat auch in kleineren Orten und in
neuester Zeit selbst auf Gütern, wo immer nur billige Wasserkraft
zum Betriebe der elektrischen Uraftmaschine vorhanden ist, weiteste
Verwendung gefunden. Ja gerade kleinere Städte haben vielfach den
Sprung von der Petroleumbeleuchtung unmittelbar zur elektrischen
Zentrale und zum elektrischen CLicht gemacht, ohne das Gaslicht
überhaupt kennen gelernt zu haben.
Wãährend das Gas für Zimmerlampen, die tragbar sein sollen,
gar nicht in Betracht kommt, weil es an feste Röhrenleitung ge—
bunden ist, kann die elektrische Glühbirne sehr wohl auch für trag—
bare Campen verwendet werden. Da der elektrische Strom nicht
in festen Röhren fortgeführt wird, wie das Ceuchtgas, sondern in
schmiegsamen, innerhalb der Wohnungen oft fadendünnen Drähten,
so kann man eine elektrische Lampe im FZimmer herumtragen, sie
bleibt freilich immer an jenen Draht gefesselt und von dessen Länge
abhängig. Aber bei der unvergleichlichen Bequemlichkeit aller
sonstigen Bedienung — ein Ruck rechts am Schalter, und sie leuchtet
auf, ein zweiter Ruck, und sie erlischt — nimmt man diesen Miß—
stand gern mit in den Kauf.
Ein Weihnachtsbhaum mit elektrischen Glühlämpchen! Ich kann
mir denken, das klingt vielen übertrieben, und, ehrlich gesagt, ich
werde wohl Zeit meines Lebens nicht auf die duftige Wachskerze
im Tannengrün verzichten. Aber NAchön und von ganz eigenem,
wahrhaft poetischem Reiz ist solch ein dunkler Baum, aus dem
—
hundert ganz kleine Glühlämpchen mit wundersamem Cicht heraus⸗
leuchten — das kann niemand leugnen, der ihn gesehen hat. Und
wer weiß, ob er sich nicht bei der fortschreitenden Verbreitung des
elektrischen Lichtes allgemeiner einbürgert, als wir heute glauben.
Mõchten dann nur unsere Enkel ihn mit gleich frommen Gedanken
und mit der gleichen Freude im Herzen umstehen, wie wir unseren
lieben, alten Lichterbauml Nach Hans v. Spielberg.
171. Die Geschichte der Wunderlampe.
Bei den Bauern oben in den steirischen Bergen wurden wir für
die langen Winterabende zumeist mit Spanlicht bedient. Das war
ein ehrliches, gesundes CLicht, welches sich gegen ein Kerzenlichtlein
ausnahm wie eine rotwangige Bauerndirne gegen ein blasses Stadt⸗
fräulein. Wenn wir aber bei solchen Unschlittschwänzlein, wovon
zwölf auf ein Pfund gingen, den ganzen, langen Abend nadeln
sollten, da klagte mein guter Meister manchmal; aber die Hausfrau
antwortete: „Mein Modell (Gießform) ist nicht größer“, denn sie
goß die Kerzen selber. „Den Docht nimm größer“, riet der Meister;
aber da ging ihr zuviel Unschlitt drauf, weil es sich schneller ver—
zehrte. Beim Kaufmann jedoch brannten wir Achter oder Sechser,
das heißt solche Rerzen, wovon acht oder sechs ein Pfund ausmach.
ten. Die gaben freilich einen fürnehmen Schein, wenn sie ordent—
lich geschneuzt wurden; trotzdem besorgten wir alle feineren Arbeiten
beim lieben Tagesschein.
Einmal nun im Advent, als wir beim Kaufmann arbeiteten
und dieser spät abends aus der Stadt heimkehrte und uns um das
matte Kerzenlicht kauern und lugen sah, klopfte er den Schnee von
den Schuhen, blinzelte uns an und sagte: „Na, Schneider, heut hab
ich was heimgebracht für euchl“ Und als die neuen Waren aus⸗
gepackt wurden, da kam eine stattliche Ollampe zum Vorschein und
ein langes Rohr aus Glas dazu und ein grüner Papierschirm und
ein Zwilchstreifen und ein feuchtes Fäßlein. „Was du alles für
Sachen hast!“ sagte der Meister. „Das alles miteinander“, be—
richtete der Kaufmann, „gehört zum neuen Licht, das aus Amerika
gekommen ist; es brennt so hell wie der Tag, wirst es schon sehen.“
Er begann die CLampe aus dem Fäßlein zu füllen und den Zwilch—
streifen durch das wie eitel Gold glänzende Ding mit der eichel⸗
förmigen, geschlitzten Kapsel zu ziehen. Dann setzte er die Bestand—
teile zusammen, zündete das hervorstehende Ende des Dochtstreifens
an, stülpte das bauchige Glas auf, daß wir meinten, so eng ums
eοννν
VDr intoerotsonale
νν nes
315
316
Feuer müsse es zerspringen, — und nun sollten wir einmal sehen.
Aber es war ein trübes Licht, das mit seinem schwarzen, stinkenden
Rauch alsogleich das Glasrohr schwärzte. Der Mann drehte an
dem feinen Schräublein den Docht weiter auf, da rauchte es noch
mehr; er drehte ihn tiefer nieder, da wurde es finster, und als wir
toll zu lachen begannen, knurrte er während seiner fieberhaft hastigen
Versuche: „Na, dieser Lampenhändler hat mich sauber angeschmiert!
Aber ich hab's ja gesehen in der Stadt, wie das Zeug wunderschön
brennt!“ — „Versuchen wir's einmal“, meinte mein Meister, „und
tun das Glasröhrlein weg“, riß seine Finger aber sogleich mit einem
hellen Aufschrei davon. Als nun das Glas mit einem CLappen
entfernt war, brannte die Flamme noch trüber, und das Kerzenlicht
daneben zuckte nicht ohne Schadenfreude hin und her. Nachdem
wir mit der neuen Campe noch allerlei versucht hatten und die Stube
endlich voll Rauch und Gestank geworden war, schalt der Hausherr
dieser höllischen Flamme ein Schimpfwort zu und blies sie aus.
Die Kerze brannte mit stiller Würde fort, und der Meister sagte:
„Ja, ja, die Ganzgescheiten heutzutag, bisweilen schmiert man sie
halt doch an; die alten Ceut' sind auch keine Esel gewesen.“
„Was ist denn das für ein Ol, das Petroleum?“ fragte jetzt
der Geselle. „Das soll aus der Erde herausrinnen“, erklärte der
Kaufmann. „Ja so,“ rief der Geselle, „nachher wird's freilich das
helle Wasser sein.“ — „Sei mir still“, sagte jener und stellte die
so vornehme und doch so untaugliche Lampe in den Winkel.
Nun vergingen zwei Tage. Da kam ein Feiertag, und der
Meister und der Hausherr gingen frühmorgens in die Kirche. Ich
saß allein bei der Uerze und schneiderte; nur eine war im Hause,
die vorhin die Kühe gemolken hatte und sich dann an meinen
Tisch setzte, um an ihr Christtagskleid ein seidenes Schleiflein zu
nähen. Da wollten wir's noch einmal versuchen mit der neuen
Campe. Wir zündeten sie an und stülpten das Glas darüber; aber
es war dasselbe trübe, rußige Licht wie das erstemal. Ich drehte
sie höher und tiefer und zuletzt so tief, daß der Docht ganz in die
eichelförmige Hülle zurückging. Und jetzt ward's hell; aus dem
Spalte strahlte eine breite, blendend weiße und rauchlose Flamme
hervor; wir erschraken vor dem hellen Schein, der auf Tisch und
Wand und unsern Gesichtern lag. So sind wir dem Geheimnis
der Wunderlampe auf die Spur gekommen, und als die beiden
Alten aus der LKirche zurückkehrten und in der Stube die lichte
Herrlichkeit sahen, rief der Hausherr freudig aus: „Da haben wir's
317
jal Wer hat's denn zuweg gebracht?“ Noch einmal ist die Kerze
neben der neuen CLampe angezündet worden, ach, wie armselig, wie
totenblaßl „Schäm dichl“ rief der Meister und blies sie undankbar
aus. Ich aber wüßte keine Neuerung, welche beim Candvolke so
rasch Eingang gefunden hat als die Petroleumlampe.
Peter Rosegger.
172. Frühlinasahnung.
Es klingt ein heimliches Lachen
aus toten Blättern empor:
Was will dir bange machen?
Was ficht dich an, du Cor?
Noch rinnt in geheimen Adern
des Cebens rotheißes Blut;
noch loht unter Erdenquadern
die uralte Schöpfungsglut;
noch brennt hinter Nebelschleiern
das Feuer des Sonnenballs;
noch reigen in nächtlichen Feiern
die Sterne des Weltenalls.
Und bald, bald kommt die Stunde,
Cawinen donnern ihr nach,
da rufen mit tönendem Munde
die Osterglocken der Runde
die Blüten und Herzen wach.
Karl Bienenstein.
173. Spruch.
Ein Segen ruht im schweren Werke;
dir wächst, wie du's vollbringst, die Stärke;
bescheiden zweifelnd fängst du's an,
und stehst am Fiel, ein ganzer Mann.
Emanuel Geibel.
Inhaltsverzeichnis.
Die mit * bezeichneten Stücke sind Gedichte.
— Seite Vr. Seite
1 Mein Vatnlnd —7— en Das Mantellied. Karl v. Holtei] 55
Fallersleben è i
2 Das Vaterland Ernsi Nong nnn 3 n
3 Die Schlacht im Teutoburger *29 Lůgous wilde J e 3
Walde Nach Ernst Moritz Arndt 4 Koörner d
4Attilas Totenfeier Fellr dahn 61 *30 Blücher am Rhein August Kopisch 60
5 Das Grab im Bulent. ·. 51 31 Dem Fürsten Blücher Goethe 60
s Alldentsches Festn un Platen 32 Die Großmutter Karsten erzähll
l herue von Anno sos nnd e 60
7 Di * ilhelm Raabe
i n ung a Klosters u *88 Reiters Noruengeh s
8 Heerbann RKarls des Großen 121 34 V öhmi n
t9 Heinrich de —468 e ulesnch 66
hann Nepomut Vogi in
10 Otto der ee e V ee n en Daueim
Billung. . . Cudwig harm⸗ 14 *86 Die Wacht am Rhein 170
11 Die Herzogin von Schwaben zů ng Schneckenburger
Besuch im ue St. Gallen 151 37 Nach der Schlacht bei Wörth
iktor v. Scheffel 9 Karl Klei
Die Kaiserwahl Cudwig min 241 »38 Tod in Ähren dDetlev v. 72
3 Zchwähische Kunde eudwis Uhlanß 261 39 In die Kõnigin Augusta. 73
14 Meier ehnbte n Sohn 281 40 Napoleons Begegnung mit Bis—
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——— ———
Frũhistück auf d. Schlosse *42 Des deuts e in
Rudoletai i jame „ ren Auabnn
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16 Der Pilgrim vor St. Justenn z34 48 Die deutsche Feldpost im
7 iaus d. Platen französischen Kriégee 77
17 Ein Überfall im dreißigjahrigen Kriekebers
rieg Christoph v Grimmeleharsen 34144 Ein Codesritt max . ta Rohe 80
18 Der Friede un Die Trompete von Dionvillenn 81
*19 Der Thoral von Leuthen 686 e ee
e Sesse 46 Moltke. General v. Ziuma 85
20 Wie schön leuchtet der Morgen 47 Die Verkündigung des deutschen
sternn nn e 37 Kaiserreiche 16827
21 Am 14. Oktober 1806 in Weimar 101 48 Nach der Feier 358
22 Die Belagerung von Kolberge 40 Bismarcks Erhebung in den
ALon Joachim Netielbeck Furstenstand
23 LKönigin Luise an ihren Vater 50 Zum siebzigsten Geburtstage
im Frühliug 18009.. 4 Bizniarch.. 0
er Iullus Nosen 501 51 Förderung des Wohles der
er Franzosen aus Ruß Arbeiter durch Kaiser und
and. Gustav Freytagi 61 Reiennnn.. 91
S19
Nnr. Ssseite ¶ Vr. Seite
52 Ernst Abben. Nach Marx Vollert 65 Dem Fürsten Bismarck.
58 Fünfzig Jahre nach Gruͤndung Ernst v. Wildenbruch
der Derfaffung des Großhen 56 Der Alte im Sachsenwalden 100
zogtums Sachsen 8* *57 Wo Bismarck li a 103
54 Uaser Wilheims letzter Befuch e
beim Grafen von Roonn 98538 Deutschland über alenet dontane 94
Frau v. Roon Hoffmann v. Fallersleben
*b9Weimars Volkslied... 105 *85 Deutsches Matrosenlied .. 150
Peter Cornelius Reinhold Fuchs
60 In Dornburg an der Saalen 1061 86 Der Untergang des Kanonen.
Goethe boots „IItisꝰ Reinhold Verner 151
*61 Der Rennstieg vittor v. Sheffet 1071 87 Die Köhler des Brockens 158
32 Almenan Wwee 108 Nach Gulde
*63 Heidelberg . . vittor v. Scheffel 1001 88 Das Ilsetal hHelnnch hene 164
64 Rast vor einem Schwarz- 89 Die Heide geinrich Sharrelmann 155
wãlder Bauernhausee — 1091 *90 n CTheodor Storm 157
Georg Lang 91 Eine t im 8 1
*65 Gruß an das Elsaß Kar Sober 111 ne lahrt in eee
66 Flsßerei auf der sar 11292 Ve hugta e r nn 39
Mar Haushofer *93 Ein Beidebild Nixolaus Cenau 162
67 Einzug des Winters ins bay— 94 Der Winter in St Petersburg 161
rische Hochland . Karl Stieler 114 August Wlhelm Grube
*68 In Hochgebirge. . Schiller 116 95 Der Lotse . cudwig Siesebren 165
69 Ein Gletscher⸗Abenteuer . 1171 96 Vordlicht. . Frithjof Nansen 166
Paul Güßfeld 97 Im Banne des Polareifeßsnn 166
*70 Mignon Geethe 128 Frithjof Nansen
71 Qenddisg bhaber 33o8 Die Polarnacht. Otuo Sverdrup 168
72 In Itãlien. beethe 1241 99 Hetinug cu i los
73 Strabe und Werkstatt in 100 Elephanta . . . Enst haget 171
Italien.. Hermann Allmers 125 101 inai Karl Gerok 173
74 Eine Besteigung des Vesuvs . 1261 102 Zum Jordan Cudwig schneller) 174
Goethe 103 Die Entdeckung der Kautschuk—
75 Der Sisennerbuce in Aen 128 nn J nun n 176
*76 Rheinsage. . Emanuel Geibel 129 aen un n 178
77 Die Wẽinlese am Rhein 130 sdalene ree
ien en 105 In der Sahara Gustav Rachtigai 1
relte e e seten eenrit d eze Seeldr
79 Von Antwerpen nach CLoudonn 121 107 Die Auswan n n
Max Exyth
s0 das fleet Paui ders 18 Un re ee
81 Die Watten der e Alcander b. humbold
ermann Allmers 1 i ü
a82 Der Qullimatrotee Vann Allurer 0 Samoa, die erie a ee 194
Hermann Allmers
83 Nis Randers Hto Ernsi n de e umn e en
84 Der deutsche Kriegshafen Kiel 2 Firsterne und Planeten. 203
Hermann Rohwedder Peter Hebel
*113 grühling xheodor Fontane 2061*: 17 Ein kleines Nest Julius Cohmeyer
114 Ein flafterhaftes Wesen 2051 118 Ein Tag aus dem Leben einer
Martin Braeß 8) gasanenhenee
115 Bohrdommel. . Gustao Falte 207 Ernst Seton Thompson
116 Von dem Neuntöter 3081 *119 Das Huhn und der Karpfene.
Karl v. Holtei Beinrich Seidel
„Kennst du das Land?“
) Eine deutsche Frau im Innern Ostafrikas.“ Berlin, Mittler u. Sohn.
3) Zu 114, 122, 132: „Tiere unserer Zeimat.“
Nr. Seite J Nr. Seite
439 Vanderleben .. Xarl Rus 218*148 Ehre der Arbeiitl268
121 Vertrauen. Sriedrich Hebbel 220 Ferdinand Freiligrath
122 Meine Kostgänger nbe 2201 149 Auf den elbebern dan r leoss
Martin Braeß 3 rnst Haecke
n Das Zeiselein vinn nen 2221 150 Eine iesbareniagden en .1266
De n 2 8 rithjo ansen
413 54 n n 8 161 Uber die Vererbung erworbener
uilunuun Eigenschaften bei Pflanzen
*126 Die Nützlichen. en 227 und Tieren .. Ouonn. Win 269
Abraham Emanuel Fröhlich *152 Die Brück' am Caxy 218
127 Die Einführung der Nartoffeln 227 Cheodor Fontane
Joachim Nenelbeg 153 Die erste Eisenbahn2175
128 Der Hamster. J. R. Haarhaus 229 Nach Max v. Weber
129 Einträglichsteßn33531 164 Als ich das erstemal auf dem
Ablaham Emanuel Frohlich Dampfwagen saß 280
130 Von des Regenwurms ehrbarem Peter Rosegger
Lebenswändel Emi Budde y 283 155 Spruch. . . ncdich aunn 285
*181 Das Johanniswürmchen. 2861.156 Tunnelbau han donnun 285
Gottlieb Ronrad ofeffel *157 Beherzigung wvoelhe 289
32 Fenerzauber marnn vraeß 2361 168 Eme Fahrt mit Zeppelin . 289
ss Im Moor 333 Frledrich Naumann
Annelte d. Drosie⸗Hülshoff *159 „Vom Fels zum Meer2091
134 Die Geschichte eines Corfmoors 289 Emil Wendling
i Emil Budde 160 Belehrung über das Welterglas 292
i Theodor Fontane 248 161 Demut Peter 295
on der „ozonreichen“ Waldluft 248 emut- Goethe
n enrsich Vio n 162 Denkende Maschinen. . 295
137 Die Bergföhre . . Man Greif 245 Hans Dominil 297
138 Wie die Felswand betleidel 163 Eine Schiffswerft IRohnodder 2098
wurde . Bisrnstjerne Biörnson 246 *164 „Een Boot is noch bu 302
139 Die Ameisen im Kampfe mit e ean
einer Kiefernraupye·248 105 Unterseeische s0s
Heter Kosegger 166l Meeresabend ried Hartmann 806
140 Der Bolzwurm Rudolf Banmeag 261 Moritz Graf v. Strachwih
141 Leistung und Gegenleistung im 167 Der drahtlose Verkehr zur See 306
Reiche der Natur Otlo Nwin 251 i Hans Dominil
12 Gleich und Gleich. orthe 251*168 Die Fabrif.n n s09
143 Ausfahrt . . vVittor v. esfen 2561 169 Wenn die Kohlen auf der Erbe
144 Der Elch J. Chienemann 255 alle werden Ziegfrled Hartmann 8310
145 Abschied Josef v Eichendorff 2581 170 Die Campe insen n e
21 9 a ans vp· pielberg
146 Im brasiliunis ee 2681 171 Die Geschichte der und ene lars
eter Rosegger
147 Aus dem len e en aad *172 rinasalnuns Karl n
Baate Kuhnert *1738 pruch — Emanuel Geibel 317
NZu 180, 134: „Naturwissenschaftliche Plaudereien.⸗
2) Tierleben der Erde.“ Berlin, Oldenbourg.
*
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