54 A. Deutscher Lebensspiegel. Die Leute eines einsamen Bauernhofes waren in großen Ängsten. Sie waren vor dem Feinde keinen Augenblick sicher. Wenn sie jetzt ausgeplündert, wenn sie in dieser rauhen Jahreszeit von Haus und Hof verjagt worden wären! Großeltern, Eltern und Kinder blieben die ganze Nacht hindurch in der Stube bei einander auf und beteten beständig. Die Großmutter las aus einem alten Gebetbuche vor. In einem Gebet „zur Zeit des Krieges“ kamen die Worte vor: „Lieber Gott, baue eine feste Mauer um dieses Haus, daß kein Feind uns nahen kann!“ Da meinte der junge Bauer, der andächtig zugehört hatte: „Es ist aber doch gar zu viel vom lieben Gott verlangt, daß er so schnell eine feste Mauer um uns bauen soll!“ Die Großmutter aber glaubte fest: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Ja, ja!“ Die Feinde kamen immer näher. Man hörte wildes Geschrei; Trommeln und Trompeten erklangen. Aber kein feindlicher Soldat kam in das Haus, so daß sich alle darüber wunderten. Die Nacht ging vor— über. Als sie sich nun des Morgens vor die Thür wagten, da hatte der Wind den Schnee hoch aufgetürmt vor dem Hause wie eine Mauer. Kein Feind hatte von der Straße aus das Hüttchen sehen können. Alle lobten und priesen Gott. Die Großmutter aber sagte: „Seht, so hat Gott doch eine Mauer aufgeführt, die Feinde von unsrer Wohnung ab— zuhalten. Ich bleibe dabei: Wer auf den lieben Gott vertraut, der hat auf keinen Sand gebaut!“ Chr. v. Schmid. 65. Das Hirkenbüblein. Es war einmal ein Hirtenbüblein, das war wegen seiner weisen Aut— worten, die es auf alle Fragen gab, weit und breit berühmt. Der König des Landes hörte auch davon, glaubte es aber nicht und ließ das Büblein kommen. Da sprach er zu ihm: „Kannst du mir auf drei Fragen, die ich dir vorlege, Antwort geben, so will ich dich halten wie mein eigen Kind.“ Sprach das Büblein: „Wie lauten die drei Fragen?“ Der König sagte: „Wieviel Tropfen Wasser sind in dem Welt— meere?“ Das Hirtenbüblein antwortete: „Herr König, laßt alle Flüsse auf Erden verstopfen, damit kein Tröpflein mehr daraus ins Meer laufe, das ich nicht erst gezählt habe, so will ich Euch dann genau sagen, wie— viel Tropfen im Meere sind.“ Sprach der König: „Die andre Frage lautet: Wieviel Sterne stehen am Himmel?“ Das Hirtenbüblein sagte: „Gebt mir einen großen Bogen weißes Papier!“ Und dann machte es mit der Feder so viele kleine Pünktlein darauf, daß sie kaum zu sehen und gar nicht zu zählen