1 Der Damm verschwindet; die Welle braust; Eine Meereswoge, sie schwankt und saust. Schön Suschen schreitet gewohnten Steg; Umströmt auch, gleitet sie nicht vom Weg, Erreicht den Bühl und die Nachbarin; Doch der und den Kindern kein Gewinn! Der Damm verschwand; ein Meer erbraust's; Den kleinen Hügel im Kreis umsaust's. Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund; Das Horn der Ziege faßt das ein': So sollten sie alle verloren sein! Schön Suschen steht noch stark und gut — Wer rettet das junge, das edelste Blut? Schön Suschen steht noch wie ein Stern; Doch alle Werber sind alle fern. Rings um sie her ist Wasserbahn, Kein Schifflein schwimmt zu ihr heran. Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf, Da nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf. Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort Bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort; Bedeckt ist alles mit Wasserschwall; Doch Suschens Bild schwebt überall. — Das Wasser sinkt; das Land erscheint, Und überall wird schön Suschen beweint. — Und dem sei, wer's nicht singt und sagt, Im Leben und Tod nicht nachgefragt. (Joh. Wolsg. v. Goethe.) 82. Rheinsage. Am Rhein, am grünen Rheine, Da ist so mild die Nacht; Die Rebenhügel liegen In goldner Mondespracht. Bei Rüdesheim, da funkelt Der Mond ins Wasser hinein Und baut eine goldene Brücke Wohl über den grünen Rhein. Der Kaiser geht hinüber Und schreitet langsam fort Und segnet längs dem Strome Die Reben an jedem Ort. Und an den Hügeln wandelt Ein hoher Schatten her Mit Schwert und Puͤrpurmantel, Die Krone von Golde schwer. Das ist der Karl, der Kaiser, Der mit gewalt'ger Hand Vor vielen hundert Jahren Geherrscht im deutschen Land. Dann kehrt er heim nach Aachen Und schläft in seiner Gruft, Bis ihn im neuen Jahre Erweckt der Trauben Duft. Er ist heraufgestiegen Zu Aachen aus der Gruft Und segnet seine Reben Und atmet Traubenduft. Wir aber füllen die Römer Und trinken im goldenen Saft Uns deutsches Heldenfeuer Und deutsche Heldenkraft. (Em. Geibel.)