96 — 74. Die Wunderblume. Eine Sage. Am St. Johannismorgen stieg einst ein Knabe frisch und fröhlich zum Ochsenkopf empor. Vom Dorfe herauf brachte der lrische Morgenwind Glockenklänge, das Zeichen zum Beginn des Gottesdienstes. Plötzlich winst dem Knaben von einer Fels- klippe herab eine wundersame Blume entgegen und bald hält er sie in seiner Hand. Vor ihm zeigt sich in der Felsenwand ein mächtiges Tor; aber kaum hat er es mit der Blume berührt, so springt es mit Donnerkrachen auf. Mutig tritt der Knabe ein und steht plötzlich in der lichtdurchströmten Geisterkirche. Von Säule zu Sãule schwingen sich Gehänge von den edelsten Perlen, aus den Altarnischen strahlt Sonnenglanz und zu dem wie lauter Edelgestein glänzenden Gewölbe streben silberne Saulen empor. Vor dem Altar steht ein Priester und au den Knieen liegt betend die ganze Gemeinde. Was aber den Knaben am mãchtigsten anzieht, das ist ein lerner Sang, seierlich und hehr, wie von Geisterstimmen. Diesem lauscht er atemlos. Wohl ruft ihm eine leise Stimme zu, von den Kostbarkeiten zu nehmen soviel er tragen könne, und dann die Kirche zu— verlassen; aber der Knabe steht wie gebannt, er begehrt nichts als dem fernen Sang lauschen zu dürfen. Zum zweitenmal schon mahnt ihn die Stimme eilig zu fliehen; denn hat der Pfarrer in Bischossgrün das Evangelium beendet, so verschließt sich die geheimnisvolle Plorte der Geisterkirche. Doch des Knabe bleibt. Da fällt mit Donnerkrachen das gewaltige Tor ins Schlob und die Kirche mit ihren Heiligtũmern und mit dem armen Knaben sinkt in die dunkle Tiese. Am sohannistag des andern Jahres, da die Glocken vom Tal herauf zum Gottesdienste riefen, ölinete sich der Berg wieder und die Vunderblume in der Hand, kam der Knabe gesund und wohl heim zu den Seinen, die ihn überall vergeblich ge- sucht hatten. 75. Nürnberg. An einem köstlichen Juliabend stand ich hoch oben auf dem treien Platz der Nürnberger Burg. Stol- ragten ihre alten Türme gen Himmel empor. Zu meinen Füben lag die ehrwürdige Stadt