86 — 65. Die Macht des Gebets. 1. Das Schiff ,Kornelia“ befand sich auf einer Reise im Weltmeer und war bereits weit von der amerikanischen Küste entfernt. Da brach ein heftiger Sturm los, der fünf Tage lang anhielt und das Schiff in solche Gefahr brachte, daß die Mannschaft sich fast für verloren ansah. Gerade als das Unwetter am wütendsten tobte und das Schiff wie einen Spielball haushoch hinauf und hinab schleuderte, kam oben am Haupt— maste das Takelwerk in Unordnung, und der Schaden mußte zurechtgebracht werden. Doch in dem Tumult des Sturmwindes auf den Mast zu klettern, schien fast unmöglich; es war ein Wagstück auf Leben und Tod. Der Steuermann befahl kurzweg einem Schiffsjungen, er solle hinauf. Der war ein junger, zarter Bursche, kaum dreizehn Jahr alt, das einzige Kind einer armen Witwe, die ihr Liebstes hatte in die Welt gehen lassen, weil sie selber kaum satt zu essen hatte. 2. Als der Junge den Befehl vom Steuermann empfangen hatte, blickte er hinauf nach der Spitze des Mastes und wieder hinab in die schäumenden Wellen, die wie mit Ruten gepeitscht übers Verdeck schlugen und nach ihm die Wasserarme ausstreckten. Er schwieg einen Augeublick; darauf sagte er: „Ich komme gleich!“ und sprang übers Verdeck fort in die Kajüte. Eine Minute verging, dann kehrte er zurück, und nun ging's die Strickleitern hinauf, flink und entschlossen. Der Mann, der diese Geschichte erzählt hat, stand unten am Maste, und seine Blicke folgten dem Kinde, bis ihm schwindelte. Er fragte den Steuermann: „Warum schickst du den hinauf? Er kommt nicht lebendig herunter!“ — Der Steuermann antwortete: „Männer fallen, Jungen stehen. Der klettert wie 'ne Eichkatze!“ Der andre sah wieder hinauf; noch stand der Junge. Jetzt hing er am Mastkorb, jetzt stieg er weiter. Der Sturm raste und tauchte den Mast fast in die Flut ein; der Junge hielt sich. — Iun einer Viertelstunde war er unten, wohlbehalten und frisch, und lachte fröhlich. „Gott sei gedankt!“ rief jener; vor Angst hatte das Herz ihm stille gestanden. 3. Denselben Tag noch suchte er den Jungen zu sprechen. Er fragte ihn, ob ihm nicht bange gewesen sei. „Ja“, sagte der Junge. — „Ich merkte es wohl,“ sagte der andre, „du hast es dir auch erst in der Kajüte bedacht.“ „Bedacht nicht,“ sprach jener, „ich wollte erst beten. Ich dachte: Herunter komme ich nicht wieder lebendig; da habe ich beten müssen. Hernach war ich nicht bange.“ — Der Mann fragte ihn, wo er das Beten gelernt habe. — „Abs ich noch zu Hause war,“ sagte der Junge, „die Mutter hat es mich gelehrt. Als ich fortging, sagte sie, ich solle es immer tun, damu Gon mich vor Gefahren bewahre, und ich kann es auch nicht lassen.“ Johann MNnrich Wichern. (Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause.)