*
4
2
m
ehocdder Verlagsbuchhandn
w
jerdinand hirl
in Breslau.
Allerlei Regeln.
Machdrud verboten)
Frische, reine Cuft und Sonnenlicht sind dem Menschen so
notwendig wie Speise und Trank.
2. Halte Rleider und Schuhe, Gesicht und Hände stets sauber und
rein!
5. Reinige jeden Morgen Mund und Zähne; gurgle früh und
nach jeder Mahlzeit mit frischem Wasser!
Dulde in deiner Umgebung keine Unreinlichkeit? der Fuß⸗
boden die Wände Fenster und Fensterbrett der Tisch die
Bucher und Hhefte alles muß rein und sauber sein!
5. Bewege dich bei der Arbeil und beim Spiel, soviel du kannst
im Freien! Curnen, Laufen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen
und Arbeiten im Gartlen sind dem Rörper sehr zuträglich
Rleide dich nicht zu warm! Den Ropf halte kühl, den Hals
frei; die Füße warm! Enge Rleidung ist nachteilig
Feucht gewordene Rleider Strümpfe und Schuhe) ersetze mög⸗
lichst bald durch trockene)
8. Schone die Rleider, die Bücher und alles was dir gehört!
9 Beschädige nicht fremdes Eigentum!
0 Sei maßig im Essen und Trinken! Gut gekaut ist halb verdaut
Crinke nicht waährend des Essens! Iß kein rohes Fleisch!
Vermeide scharfe Gewürze! Verabscheue alkoholhaltige Ge—
tränke!
3.Iß nicht heiße Speisen! Trinke nicht heiße oder eiskälte
Gtrãnkel
14. Geh zeilig ins Bett und steh früh auf! Das macht den
Menschen gesund, weise und reich
5. Alme nur durch die Nase bei geschlossenem Munde! Ge⸗
schlossener Mund erhaͤlt gesund.
Fortsehung auf der andern Innenseite des Einbands.)
5
—2
12
ñ — —
— — —
——— — — —
—
— —
S95
2
9
**
2
ã
2
F. Hirts Deutsches Lesebuch
Ausgabe B für die Provinz Schlesien II. Teil.
Lesebuch für Schlesien
Ausgabe in drei Teilen
für mehrklassige evangelische Schulen
Zweiter Teil (4. und 5. Schuljahr)
mit 42 Abbildungen
Ferdinand Hirt
Königliche Universitäts- und Verlagsbuchhandlung
Breslau 1908.
— ú “n —————
ibliolsiel Sgemnuloe
—Ô Á e e e0 —
— — —
Das vorliegende Lesebuch ist bei den Buchhändlern zu verlangen als
Hirts Lesebuch für Schlesien. Ausgabe B Teil II.
— Preis ungebunden 1,50 Mark; in dauerhaftem Originaleinband 2 Mark. —
Vorbemerkung der Verlagsbuchhandlung.
Die Anordnung dieses Lesebuches ist von dem inzwischen zum Seminar⸗
Direktor in Barby beförderten Seminar-Oberlehrer Karl Ernst in
Bunzlau besorgt worden, der auch die zahlreichen heimatkundlichen
Stoffe ausgewählt und bearbeitet hat, während für die allgemein
literarischen, bezw. ethischen Abschnitte das Lesebuch für Brandenburg
von Nohl und Ullmann benutzt wurde.
n inter notionale
Behibucorec du
brrunre
99065
Alle Rechte vorbehalten.
990
95
ccec2
Inhaltsübersicht.
Die mit * versehenen Nummern sind Gedichte; Stücke mit Abbildungen sind mit bezeichnet.
— — ——
A. Bilder aus dem Menschenleben.
r
1. Vaterhaus und Heimat.
L.*Mein Vaterhaus. Schanz.)....
2. *Die Wohnung im Reimspruche.
Vollßsmundd
3.* gimmerspruch. (Uhland.).......
4. Die Geschichte von einer Mutter.
Andersen
Mutter rojanjj
6. *Mas Erkennen. VoglJJ.
7. Der preußische Knabe im Feldlager.
Dittmgri
8. Der alte Großvater und der Enkel.
Gebruͤder Grimmjj.
9. Das Licht der treuen Schwester.
ullenhot
10. Die kleine Schwester und der
große Bruder. Baadsgaard).. 12
11. Der Allerärmste. Polko) .. ... 15
12. Die kleine Helene und der böse
lund. GeidelJ..
Abendfeier giel
14erien Seidel
*
15.*Drei Paare und einer. Ruckert.) 20
16. Auch beim Lernen denke an
deine Gesundheit! Giegert.).. 20
17.* Turnerlied. GHoffmann von
Fallersleben142
In der Badeanstalt. Deutsche
Juͤgendh
Nr.
19. Der Eislauf. Hoffmann von
Fallorsleben................ 24
Seite
*
*
20.*Der frohe Wandersmann.
(v. Eilchendorgffß
21. Peter in der Fremde. Eberhardt.)
22. *Abschied. GDisselhoff)
23.* Des Knaben Berglied. Uhland.)
24.* Heimkehr. (v. Bodenstedt.)... . . 31
25
25
29
30
2. Unsre Pflichten.
25. Der kluge Richter. Hebel.). . . . . 32
26. Eine Ohrfeige zur rechten Zeit.
Oldenburger Volksbote.) .....
27. Der Glasvogel. Baadsgaard.).
28 Ertappt. unJ
29. Sprichwörter zum 7. Gebote...
30. Der Wunschring. Leander-Volk—
mannt39
81. Kannitverstan. Hebel)43
*
*
32.* Der Postillion. Lenau)...... 46
33. Der arme Musikant und sein
Kollegs. (W. O. v. Horn.) ... 46
34. Fürs Herzbluten. Sohnrey.). . 49
85. Gott segne dich, mein lieber Junge!
Deutscher Jugendfreund.) .......
vl
133 Seite
36. Das brave Mütterchen. Müllen⸗—
ndd 22
* *
37. Der kleine Friedensbote. Stöber.) 53
38. Vom Wolf und Lämmlein.
r. Luther 3
*
*
39. *Der Kaiser am ein. Muellen-
baen 656
40. *xDes deutschen Knaben Lisch-
gobot Gorok
41. Aufopfernder Heldenmut eines
brandenburgischen BSoldaten.
Grak v. Ranitßßß
42. *x Gelübde. Maßmann .).........
43.*Deutscher Rat. Reinick.).......
58
60
60
Nr.
Seite
3. Aus dem Berufsleben.
44. Arbeit und Beruf im Sprich-
worr
45. Der beste Empfehlungsbrief.
Magdeburgische Zeitung) .. .. . . 61
46. Meister Hämmerlein. Schlez).. 62
47. Die Geschichte von der Wunder-
lampe. (Rosegger.) ...... ..64
48. Die Erfindung der Uhren. Deutscher
Kinderfreund
49. Wie eine Nihnadel entsteht.
eneee
50.Die beiden Pflüge. Gastelli.).
51. *Abendlied eines Bauersmanns.
laudins
B. Der Mensch und Gott.
72
72
73
74
74
57. Gebet eines Lleinen Knaben an
den heiligen OQhrist. Arndt.). 75
58* Die heilige Nacht. Mohr.) .... 76
59. Die Weihnachtsboscherung.
rajan
60. Der Tannenbaum. (Andersen.)..
61. Meujahrsgruß. Lohmeyer.) ....
76
78
83
52. *Sonntag. Hoffmann von Fallers⸗
lehenß
53.* Nindergottesdienst. (Gerok) ....
54.* Das Gewitter. (Schwab.).....
55. Sprichwörter vom Sonntage...
56. Du sollst den Feiertag heiligen!
Fliegende Blätter aus dem Rauhen
Hause
* * *
62. *Ein neues Fest. Gerok.).....
63 *Pfingsten Sturmtj
* * *
64.*Das Tischgebet. Güll.).. .. . . . 85
65. Die Macht des Gebets. (Wichern.) 86
66. Wunderbrot. Frieshß). 687
67. Vom Grüben. Rosegger und
Strn88
68. *Legende vom Hufeisen. (v. Goethe.) 89
* *
*
69.* Die Sonne bringt es an den Tag.
. Chamtsso .
70. Seliger Tod. Frommel)
71.*Der Wanderer in der Sägemühle.
Kernerkf
93
94
0. Im Wechsel der Jahreszeiten.
72 *Neuer Frühling. (Roquette) ..
73. * Morgenwind. Heyse.).........
74. Der Maikäfer. Quietmeyer.)...
5. Bruder Lustig. Reinhold.). ..
76. Mahnruf der Vögel im Frühling.
Peterj108
96
6
77. Vom Moose (Wagner) 104
78. Bei dem Bienenvater. (Weber.) 105
79. Die Wohbltaten. Lessing.)..107
80.*Die Frösche. (v. Goethe.)...... 107
81. Etwas vom Storche. Seidel.).. 107
* *
— vuo —
Nr.
82. Die ersten Kartoffeln in Kol-
perge MNettelbeek). 110
83 *Gefunden. (v. Goethe) 11
84.*Das Blumenpflücken. Rückert. 111
85. *Heidenröslein. v. Goethe) ... 112
86. Das Kornseld. Seidel). 112
87.*Durchs Kornfeld. Dieffenbach.) 115
88. Der Iltis GDr. Lußj 115
89. Aus der Kiefernheide. Schier.) 117
90.* Die Gäste der Buche. Baumbach.) 121
91.4Die Kreuzotter. Dr. Zacharias.) 121
92. Ein struppiger Kostgünger.
r Budde 1238
93 *Rutsel. ull 1685
94.DasFamilienleben des Stichlings.
candsberg186
95 *RMatsel. w. SchillerJ 127
96.*Regenbogen. Gerok) ...... 128
97.*Erntelied. Hoffmann von Fallers⸗
leben12
*
Seite
*
*
98. Es wird Herbst. Groth.) ... 129
99. *Abschiedslied der Zugvögel. Hoff⸗
mann von Fallersleben.) . . . . . 131
Nr.
100. Der Hecht im Fischteiche. (Wag⸗
e 131
101. Eichhörnebens Leben und Lrei-
ben. andsherg 133
102. Der FVuehs. Masius.). . .. ..135
103. Die Hasenjagd. (Aurbacher.). .&139
104. Waldvögel im Herbst und Winter.
andsbergß
105. *November. (SeidelJ.
106. Winterliches Gastmahl im Gebirge.
rinisggee
107.*Die Tannenmeise. Rittershaus.) 145
108. Die Raubvögel als Feldpolizei.
Wagned —
109. *Gedenket der Vögelim Winter!
ittershaus1468
110. Der Vöglein Weihnachten. (Tho⸗
rind
111. Der treue Leo. ESchlatter.)... 150
1 æRalsel. iud653
113.*Hoffnung. Geibel.).... ..... 153
146
D. Erdkundliche Bilder.
1. Aus der Heimat.
114.* Gruß an die Schläsing. Heinzel.) 154
115. Der Zobtenberg. w. Gottschall) 154
116. Breslau.
1.4Die Großstadt. Ernst) ..... . 156
2. Der Besuch des jungen Preußen—
königs. 1741. Dr. Grünhagen. 159
117. Die Kaiserjagd im Oderwalde.
rtorn160
118. 4Der Redenberg bei Königshütte.
(Ernst und Fuhland.) .. ... 162
119. Oberschlesische Dörfer und ihre
Hauser uppaj 164
120. Grünberger Wein. Schorsch. 166
121. In der Niederschlesischen Heide.
(Schorsch und Dr. Schroller.).. 168
122. Liegnitz. Wende und Dr. Grün⸗
hageneen170
123 Gorliß. Ernsh 178
124. Die Bewohner des Rieseu-
gebirges. Muller 1077
125. Aus dem Riesengebirge.
1. Sage vom Kynast. Ernst.). 179
2. Eine Rörnerschlittenfahrt.
Gertheltkß 41680
126. Pfingstgebräuche in Schlesien.
Tijcherd 180
127. Das Heuscheuergebirge. Dr. Kutzen
und Dr. SchrollerJJj. 1688
128. Schlesiens Kornkammer.
Dr. Schrollera
129. Hochwasser. Krause.). ... . .. 185
2. Aus dem Vaterlande.
130. *Spruch. Dr. Petersen.).....
131.4In der deutschen Kaiserstadt.
Rihmantte
186
186
— viuui —
Nr. Seite
132 4Das Mausoleum in Charlotten⸗
birg mohl 193
133. Im Spreewalddorfe.
Dr. SemerauJd. 1686
134. Der Baltische Landrücken. Just.) 199
135. In Trakehnen. (v. Zobeltitz)... 201
136. In der Ferienkolonie am Ostsee—
srande. (Tolksdorf 2205
137. *Der Jung' auf der See. Trojan.) 209
138.Die Halligen. Biernatzki.). ... 210
139.*xDer Halligmatrose. Allmers.). 214
140. Rine Reise von England nach
Famburg Ganera 265
141. Ein Vag auf dem NMarschhofe.
mnerst——
142 Im niederdeutschen NMoore.
Getwaldeoe 226
143.* Abseits. (Storm) 229
144 Die Halloren. (Hoffmann.).. 231
145. Aus der Heimat der Spielwaren.
Trius... 232
146. Der Ursprung der Brockenflüsse.
Weyere 26
147.* Aus dem Brockenbuch. . .. . .. 237
148. Erwerbsquellen der Harzbe-
wobner. Kutzen-Steinecke.). 238
Nr. Seite
149. Stubbenkammer. Hoffmann.).. 241
150. Der Hopfenbau in der Provinz
Posen Ginspornn24
151 *Corelei GeineJj2246
152. Eine Weinlese am Rhein.
Waltherr 2146
153 Eine Talsperre Nohl)252
154. Kaiser Wilhelm 1. in Essen.
Deutscher Kinderfreund.) .. . . . 265
155. Deutsches Land und Volk im
Volksmunde. Plaut.)... ... 266
3. Aus der Ferne.
156. *Der Schweizer. Volkslied.). .. 257
157 Auf der Alm. Rosegger). .. 257
158. Ein Stiergefecht. Graf v.
Moltke 2261
159. Eine Wanderung durch die Pußta.
Woenig 861
160. Ein türkisches Bad. (Graf
v Moltlke260
161. In Moskau. (Graf v. Moltke.). 270
162. *Der Normann. (Giesebrecht.) 271
163. Aus dem Norden. Gude.). . . . 273
V. Volkstümliche Erzählungen und Sagen.
164.* Wie Reineke Fuchs Braun den
Bären anführt. Lohmeyer und
Bormannnj.. 22179
165. Von den Schildbürgern. (Schwab.)
a) Wie die Schildbürger ihre Glocke
versenken. 2279
byDie Schildbürger und die Kuh. 280
166. Till Eulenspiegel. (Schulz.) ... 281
167. Eine grausame Todesart. (Ro⸗
seggerrd883
168. DieKinder von Hameln. Grimm.) 284
169. Das Rad im Mainzer Wappen.
Gebrudor Grimm.)38385
170. Sagen aus dem Harze.
a) Die Roßtrappe. Gebrüder
Grimm))286ñ
b) Prinzessin Ilse. (Hoffmann.).. 287
c)*Der getreue Eckart. (v. Goethe.). 288
171. Der Schatz auf der Landeskrone.
Gernerf 280
172. Der hartgeschmiedete Land-
graf. Gebrüder Grimm.). ... 200
173. Kyffhäusersagen.
a*Barbarossa. Mückert)·2091
b) Die Wunderblume. (Lehnert.) 292
174. Heinrich der Löwe. (Grimm.). 293
176. Vineta TemmeJj 297
176.*Siegfrieds Schwert. (Uhland.). 298
177.*Rolands Horn. (Avenarius.).. 299
178. Wilhelm Tell. Buͤßler) 300
179 *Der reichste Fürst. Kerner.).. 302
180. Der treue Stallmeister. Bubler.) 303
181. Xönig PFriedrich und sein
Nachbar. Hebel 3604
— xx
P. Aus der Geschichte unsers Volkes.
Nr. Seite
182. Wie es vormals in Deutschland
ausgesehen hat. Schurig.) .. .. 306
183. *Das Grab im Busento. v. Platen.) 309
184. VWinfried im Lande der Thu-
ings reytagJj 210
185. Die Bekehrung des Sachsen—
herzogs Widukind. Deutscher
Kinderfreimdee 46
186. Karl der Große auf der Jagd.
Frentannn210
187.* Wie Kaiser Karl Schulvisitation
hiell Gerot 416
188.*Heinrich der Vogelsteller. Vogl.) 318
189. Hermann Billungs Berufung.
Bableßfßfßß30
190 *Kaiser Otto J. (v. Muühler). 321
191. * Schwäbische Kunde. Uhland.). 322
192. 1Ein Turnier im Beginn des
13. Jahrhunderts. Freytag.).. 3283
193. Gutenberg und die Buchdrucker⸗
künst r. HoferJd8
194. Luthers Jugend. Frommel.).. 331
195. Luther im häuslichen Rreise.
reytag 333
196. Drangsale der Stadt Goldberg
im Dreißigjährigen Kriege. Dr.
Schrolerßree 3356
Nr. Seite
204. Schlesiens erster Zollernkönig ein
Held, ein Vater.
1. Der Held von Leuthen. (Schurig)) 349
2. Der Landesvater. (Freytag und
Koöhler 33
205. Wie der Alte Fritz lebte.
Mr. SpiesmannJj3356
206. *Der alte Zieten. Wontane.). 3658
207. Am Nittwoeh nachmittag.
Brolien)ee6658
208. Leutseligkeit Priedrich Wil-
helms III. und seiner Gemablin.
a) Der König und der Markaner.
ylert 3609
b) Der alte Limm. Neue deutsche
Rundsehaunnjj 360
209.*Huldigung der Königin Luise
durch die Breslauer Kräuter im
Jahre 1798. Bunte Bilder a.
d. Schlesierlande. II. Band.). . .. 361
210. Tod der Rönigin Luise.
. Köppen 362
211. Aus der Zeit der Erhebung
Preußens GSrahrj 368
212.*xDas Lied vom Feldmarschall.
Arndtte366
213. Der Ausgang der Schlacht bei
Leipzig. Kohlrausch 667
214. *Der gute Kamerad. (Uhland.). 370
215. Aus dem Leben König Friedrich
Wilhelms IV.
a) Die Geburtstagsfeier. Schurig.) 371
b) Das alte Nütterehen. (Verfasser
unbekanntjj 2371
e) Kindermund. Eylert) 3172
216. Die Erstürmung der Düppeler
Schanzen. Dr. Hahn) ..... 372
217. Ein Heldenkampf an Schlesiens
Grenze (1866). Ernst) 374
218. Drei Tage nach dem Gefecht bei
Langensalza. (Daheim.)... . . . . 375
219.* Am 19. Juli 1870. Gesekiel.). 377
220 DUnsre Mainbrücke. Lohmeyer.) 378
**
197. Aus Schlesiens Urzeit. Dr.
Kstel
198. Deutscher Anbau in Schlesien.
Mraytag 330
199. Karl VV. als Oberherr Schlesiens.
Grüstsf40
200. Zwei deutsche Frauen.
1. Das liebe Dorel. Hesekiel) .. 340
2. Luise Henriette, Kurfürstin von
Brandenburg. Kaulmann.). . . . 342
201. Die Krönung des ersten Königs
von Preußen. (ESchmidt)3643
202. *Preubenlied. (Thiersch.). . . .. 347
203. Eine Rekrutenwerbung unter dem
Soldatenkönig. Hoffmann.) . . . . 847
r.
221. Der Sergeant in der Bauern-
stube. Klein).. 379
222. Die Rose von Gorze. Dr. Spiel⸗
mann3681
223.*Das 11. Regiment vor Vionville
(16. August 1870). (v. Gerhardt.) 382
224. Wie König Wilhelm Deutscher
Kaiser wurde. Hübner.) . . . . .. 383
225. Kaiser Wilhelms J. Heimgang.
D. RoggeJd 383
r. Seite
226. Fürst Bismareks erstor Ordens-
schmuck. (v. Köppen.) . . . . 388
227. Aus dem Leben Kaiser Fried—
richs UI.
a) Kronprinz Friedrich Wilhelm und
der Bayer. Wolter.) .. 388
b) Der Kronprinz und der Pühn-
rieh. Muller-Boln.) ........ 389
oKaiser Friedrichs letzte Fahrt.
Fontaned 224090
228.* An Kaiser Wilhelm II. (v. Gott—
schatt3391
229. *Kaiserlied. (Harries.) ... 392
Alphabetisches Verzeichnis nach den Namen der Verfasser.
Die Gedichte sind mit * bezeichnet.
Allmers, Hermann.
Der Halligmatroe
Ein Tag auf dem Marschhofe
Andersen, Hans Christian.
Die Geschichte von einer Mutter
Der Tannenbaum
Arndt, Ernst Moritz.
*Gebet eines kleinen Knaben
an den heiligen Christ.
*Das Lied vom Feldmarschall.
Artope, Th.
Die Kaiserjagd im Oderwalde.
Äsop.
Vom Wolf und Lämmlein
Aurbacher, Ludwig.
Die Hasenjagooö
Avenarius, Ferdinand.
Nolands dorn
Baadsgaard, Alfrida.
Die Rleine Sehwester und der
grobe Bruder
Der Glasvogel.
Bäßler, Hermann Ferdinand.
Willselm Tenn
Der treue Stallmeister
Hermann Billungs Berufung
Baumbach, Rudolf.
»Die Gäste der Buche...
Berthelt, A.
Aus dem Riesengebirge.
2. Eine Hörnerschlittenfahrt
Biernatzki, Johann Christoph.
Die Halligen
Bilder, Bunte, aus dem Schlesier—
lande.
*Huldigung der Königin Luise
durch die Breslauer Kräuter
im Jahre 1798
Nr. S.
8
141221
44
60 78
75
212 366
117 160
38 55
10z 13
nghn
10 12
27 35
i7s 300
180 303
189319
bo iei
lub 180
138 210
4
209 361
Blätter, Fliegende, aus dem
Rauhen Hause.
Du sollst den Feiertag heiligen!
Bodenstedt, Friedrich von.
Heimtehr
Bormann, Edwin, siehe Lohmeyer.
Budde, Dr. Emil.
Ein struppiger Kostginger
Castelli, Ignaz Friedrich.
*Die beiden Pflüge.
Chamisso, Adelbert von.
*Die Sonne bringt es an den Tag
Claudius, Matthias.
*Abendlied eines Bauersmanns
Daheim. Deutsches Familien—
blatt.
Drei Tage nach dem Gefecht bei
Langensalza.
Dieffenbach, Georg Christian.
*Durchs Kornfeld
Disselhoff, August.
loschieddd
Dittmar, Heiurich.
Der preußische Knabe im Feld—
lagerre
Eberhardt, August Gottlob.
*Peter in der Fremde
Eichendorff, Joseph Freiherr von.
*Der frohe Wandersmann ..
Einsporn, Theodor.
Der Hopfenbau in der Provinz
Polenn
Ernst, Karl.
Breslau.
L Die Grohstadtt
Der Redenberg bei Königshütte.
Gorliß
Nr. S.
56 74
24 31
92 123
50 70
69 91
51 71
218375
87 115
22 29
7
9
21 25
20 25
150 243
llbi lss
8 162
313 —
— XII —
Ernst, Karl fferner):
Aus dem Riesengebirge.
Sage vom Rynast
Karl IV. als Oberherr Schlesiens
Ein Heldenkampf an Schlesiens
Greuze (18663 —
Exner, Heide.
Der Schatz auf der Landeskrone
Eylert, Rulemann Friedrich.
Leutseligkeit Priedrieh Wil-
helms III. und seiner Ge—
mablin.
a) Der König und der Mar-
Laner
Aus dem Leben König Friedrich
Wilhelms IV.
eKindermund
Fontane, Theodor.
*Der alte Ziton —
Aus dem Leben Kaiser Fried—
richs III.
c) aiser Friedrichs letzte Fahrt
Freytag, Gustav.
Winfried im Laude der Lhü-
vinge
Karl der Große auf der Jagd
Ein Turnier im Beginn des 13.
Jahrhunderts
Luther im häuslichen Kreise
Deutscher Anbau in Schlesien
Schlesiens erster Zollernkönig
ein Held, ein Vater.
2. Der Landesvater . —
Fries, Nikolai.
Wunderbrer
Fröhlich, Karl.
Am Nittwoceh nachmittag
Frommel, Emil.
Stger doödd c
Luthers Fuged
Fuhland, Gottfried.
Der Redenberg bei Königshütte
Geibel, Emanuel.
*Hoffnun ———
Nr
S.
lbn179
199 340
217 374
u
0bn 359
6o372
206 36
1 390
184310
186 315
192 323
195 333
198338
048353
87
n
93
1
7
113 1631
Gerhardt, Dagobert von.
*Das 11. Regiment vor Vion—
ville (16. August 1870)3.
Gerok, Karl.
*Des deutschen Knaben Tisch⸗
gebö
Nindergottesdienff
*Ein uenes Feff
egenhogein 1
*Wie Kaiser Karl Schulvisitation
hielte
Giesebrecht, Ludwig.
*Der Normann 7
Göcking, Dr.
*Aus dem Brockenbuch Nr.2
Goethe, Johann Wolfgang von.
*egende vom Hufegen
*Die rsche ——
*Gefunderfrfrn
*Heidenrösleiaiaii
Sagen aus dem Harze.
c) *Der getreue Eckart
Gottschall, Rudolf von.
Der gJohtendergg
*An Kaiser Wilhelm II
Grimm, Gebrüder.
Der alte Großvater und der
Eukel S
Die Rinder von Hameln.
Das Rad im Mainzer Wappen
Sagen aus dem Harze.
) Die Roßtrappe
Der hbartgeschmiedete Land-
denr
Heinrich der Lbwuee
Grote 1813.
*Aus dem Brockenbuch Nr. 1.
Groth, Haus Hinrich.
Es wird Hervaa
Grünhagen, Dr. Colmar. (GS.
auch Wende.)
Breslau.
2. Der Besuch des jungen Preußen⸗
königs. 174113
Gude, Karl.
Aus dem Norden ...
223382
40 57
53 72
62 83
96 128
187 316
162271
147 237
68 89
80 107
83 111
85 112
170 288
115 154
aln
8 11
168 284
169 285
ꝛ 2bs
174 293
147 237
98 129
L 159
163273
— xui —
Güll, Friedrich.
*Das Tischgebet.
üte
Hahn, Dr. Ludwig.
Die Erstürmung der Düppeler
Schanzen
Harries, Heinrich.
*Kauerliedee
Hebel, Johann Peter.
Der tluge Richter
Kannitverssteaean
König Priedrieh und sein
NMachkhör
Heine, Heinrich.
*oreeit
Heinzel, Max.
*Gruß an die Schläsing
Hesekiel, George.
Zwei deutsche Frauen.
Das liebe Dorel
Am 19. Juli 18279
Heyse, Paul.
Morgenwindd
Höfer, Dr. August.
Gutenberg und die Buchdrucker—
kunttft
Hoffmann, Franz.
Die Halloren
Siubbenkammer
Sagen aus dem Harze.
h Prinzessin Ie
Eine Rekrutenwerbung unter dem
Soldatenköniaa
Hoffmann von Fallersleben,
Heinrich.
urnersted
Der FVislaufßffß
Sonntäaäaa
WGrntelidd
*Abschiedslied der Zugvögel..
Horn, W. O. von (Wilh. Ortel).
Der arme Musikant und sein
Kollegee
Hübner, Max.
Wie König Wilhelm Deutscher
Kaiser wurde
Nr S.
b4 85
93125
6
229 392
25 82
31 43
181304
151 246
14 154
e
219377
7z 96
19z s2s
n
149 241
un 2s
203347
3
19 24
52 72
9 128
99 131
33 46
224383
Jugend, Deutsche. CLesebuch.)
Bu der Badeanstat
Jugendfreund, Deutscher.
Gott segne dich, mein lieber Junge!
Just, Johann.
Griaägfrrr
Der Baltische Landrücken.
Kanitz, Graf Rudolf von.
Aufopfernder Heldenmut eines
brandenburg. Soldaten.
Kaulmann.
Zwei deutsche Frauen.
2. Luise Henriette, Kurfürstin
von Brandenburg
Kerner, Justinus.
*Der Wanderer in der Sägemühle
*Der veichste Fürt
Kind, Friedrich.
*Rätiell
Kinderfreund, Deutscher.
Die Erfindung der Uhren. ..
Kaiser Wilhelm J. in Essen..
Die Bekehrung des Sachsen—
herzogs Widukind .
Klein, Karl.
Der Sergeant in der Bauern-
ziuhe
Knötel, Dr. Paul.
Aus Schlesiens Urzet
Köhler, Wilhelm.
Schlesiens erster Zollernkönig
ein Held, ein Vater.
2. Der Landesbatrer
Kohlrausch, Friedrich.
Der Ausgang der Schlacht bei
Sepzin—
Köppen, Fedor von.
Tod der Königin Luiss
Furst Bismareks erster Ordens-
sehneff —
Krause, Georg.
Hochwasser.
Kutzen, Dr. Joseph, und Dr. Franz
Schroller.
Das Heuscheuergebirge..
Nr
is 22
35 50
38
134 199
41 68
udn za⸗
94
179302
12 16s
48 66
154 255
185313
221879
197 836
042 353
213367
210 362
226388
29 185
127182
— xXV —
Kutzen-Steinecke: Das deutsche
Land.
Erwerbsquellen der Harzbe—
wohner.
Landsberg, Bernhard.
Das Familienleben des Stich—
üge c c
Eichhörnchens Leben und
Tretbon S
Waldvögel im Herbst und Winter
Leander, Richard (Volkmann).
Der Wunschring.
Lehnert, Johann Heinrich.
Kyffhäusersagen.
b) Die Wunderblume. ..
Lenaun, Nikolaus.
*Der Poslilion
Lessing, Gotthold Ephraim.
Die Wobhltaten.
Lohmeyer, Julins.
*Mensahrsgrüuß
*Unsre NMainbricke.
Lohmeyer, Julius, und Edwin
Bormann.
*Wie Reineke Fuchs Braun den
Buren anführrr
Luppa, C.
Oberschlesische Dörfer und ihre
Häuser
Luther, Dr. Martin.
Vom Wolf und Lämmlein. Aus
Asoen
Lutz, Dr. K. G.
Der Ilts
Masius, Hermann.
Dor Duel
Maßmann, Ferdinand.
Gelibdde
Meyer, Johannes.
Der Ursprung der Brockenflüsse
Mohr, Joseph.
»Die heilige Nacht.. ..
Nr. S.
Moltke, Graf von.
Ein Stiergefechte.
Ein türkisches Bad.
In Moskaunun
148 238
Mühler, Heinrich von.
Katser Oid
Muellenbach, Ute.
*Der Kaiser am Rhein.
Müllenhoff, Karl.
Das Licht der treuen Sehwester
Das brave Mütterchen. ...
Müller-Bohn, Hermann.
Aus dem Leben Kaiser Fried—
richs III.
b) Der Kronprinz und der
Tuhnrien
94 126
101 133
104 139
* 39
3 2092
32 45
Nettelbeck, Joachim.
Die ersten Kartosffeln in Kol-
ber
Nohl, Walter.
Wie eine Nihnadel entsteht.
Das Mausoleum in Charlotten⸗
birz
Eine Talsperrere
Ostwald, Hans.
Im niederdeutschen Moores.
R
8
3 88
220378
164276
Peter, Karl Wilhelm.
Mahnruf der Vögel im Frühling
119164
Petersen, Dr. Wilhelm.
*Spruch
38 55
Platen, August Graf von.
*Das Grab im Busenton.
Plaut, M.
Deutsches Land und Volk im
Volksmunde....
Polko, Elise.
Der Allerärmste..
Quietmeyer, Ernst.
Der Maikäfer ..
88 115
102 185
60
58176
Reinhold, Karl.
Bruder Lustig
Reinick, Robert.
*Deutscher Rat
15s 261
160 269
161210
190 321
391 56
9 11
36 52
7h 389
82110
49 69
153252
142 226
130 186
188 309
155 266
u 15
⁊4 97
7 99
3 60
— X v—
Rißmann, Robert.
In der deutschen Kaiserstadt..
Nr. S.
5
107145
109 s
225 385
Rittershaus, Emil.
Die Tannenmeisfe
*Gedenket der Vögelim Winter!
Rogge, D. Bernhard.
Kaiser Wilhelms J. Heimgang
Roquette, Otto.
*Neuer Frühling
Rosegger, Peter.
Die Geschichte von der
Munderlampo
Vom Grüßon
Ac er finnnn
Eine grausame Todesart .
Rückert, Friedrich.
*Drei Paare und einer...
*Das Blumenpflücken ..
Kyffhäusersagen.
a * varbarosjkja
Rundschau, Neue deutsche.
Leutseligkeit Friedrich Wil-
helms II. und seiner Ge—
mahlin.
b) Der alte Timm
Schanz, Frida.
*Mein Vaterhaus
Schier, Richard.
Aus der Kiefernheide
Schiller, Friedrich von.
Raͤtsef
Schlatter, Dora.
Der wene Leßss
Schlez, Johann Ferdinand.
Meister Hämmerlein...
Schmidt, Ferdinand.
Die Krönung des ersten Königs
von Preußen
Schorsch, E.
Gruͤnberger wWei
In der Niederschlesischen Heide
Schroller, Dr. Franz. GS. auch
Kutzen.)
In der Niederschlesischen Heide 112169
20
84 111
41
vun
bo ien
1 o
sa
e
120 166
l 168
Schlesiens Kornkammer..
Drangsale der Stadt Goldberg im
Dreißigjährigen Kriege .
Schulz, Otto.
Till Gulenspiegee
Schurig, Gottlob.
Wie es vormals in Deutschland
ausgesehen haa
Schlesiens erster Zollernkönig
ein Held, ein Vater.
Der Held von Leuthen
Aus dem Leben König Friedrich
Wilhelms IV.
a) Die Geburtstagsfeier ...
Schwab, Gustav.
*Das Gewilttrerer
Von den Schildbürgern.
a) Wie die Schildbürger ihre
Glocke versenken
b) Die Schildbürger und die
pp — „œxaea b‘09p—
Seidel, Heinrich.
Die kleine Helone und der
bhss sund
*Ferien
Etwas vom Storche. ..
Das sRorneloooo
*November.
Semerau, Dr. Alfred.
Im Spreewalddorfe·.....
Siegert, W.
Aueh beim Lernen denke an
deine Gesundheit!. ..
Sohnrey, Heinrich.
Fürs Herzbluten
Spielmann, Dr. C.
Wie der Alte Fritz lebte
Die Rose von Gorze
Stahr, Adolf.
Aus der Zeit der Erhebung
Preushens
Stöber, Karl.
Der kleine Friedensbote
Storm, Theodor.
*Abseits . ..
Nr. S.
128 183
196335
166281
182 306
2
2
Va9
Alba 871
54 73
65h 280
12 17
14 19
81107
86 112
105 141
133 196
1620
34 49
205 366
222381
211363
37 653
143229
— xXVI —
Sturm, Julius.
Pfingsten — v
*Von Grüßsßa c
Tanera, Karl.
Eine Reise von England nach
Hamburge..
Temme, J. D. H.
Bineta
Thiersch, Bernhard.
Preußenlefn —
Thoring, Karl.
Der Vöglein Weihnachten.
Tischer, G.
Pfingstgebräuche in Schlesien
Tolksdorf, Benina.
In der Ferienkolonie am Ostsee—
strandee
Trinius, August.
Winterliches Gastmahl im Ge—
birge
Aus der Heimat der Spiel—
waren
TDrojan, Johannes.
*Mutter 0
Die Weihnachtsbescherung.
*Der Jung' auf der See
Uhland, Ludwig.
*immersprucnddd
*Des Knaben Berglied..
*Siegfrieds Schwer
*»Schwäbische Kunde
Der gute Kamerad
Unbekannte Verfasser.
*Aus dem Brockenbuch Nr. 4
Aus dem Leben König Friedrich
Wilhelms IV.
b) Das alte Müttereben. ..
Viktor Friedrich, Fürst von
Anhalt-⸗Bernburg.
Aus dem Brockenbuch Nr. 3..
Vogl, Jvhann Nepomuk.
*Das Erkennenn
*Heinrich der Vogelsteller.
Nr. S
6384
6789
140 215
175 297
202347
uo 149
126 180
136 205
106 141
145 232
88
59 76
137209
33
23 30
176 298
o zae
116370
i
16 372
147 237
668
180319
Volksbote, Oldenburger.
Eine Ohrfeige zur rechten Zeit
Volkslied.
Der Schweizer
Volksmund.
*Die Wohnung im Reimspruche
Sprichwörter zum 7. Gebote.
Arbeit und Beruf im Sprich-
worr
Sprichwörter vom Sonntage.
26 33
156257
22
29 39
4 61
55 74
Wagner, Hermann.
Vonm Moöe
Der Hecht im Fischteiche·
Die Raubvögel als Feldpolizei
Walther, Emil.
Eine Weinlese am Rhein
Weber, Hugo.
Bei dem Bienenvater.
77 104
100 181
108 146
12 246
8 105
Wende, G., und Dr. Colmar
Grünhagen.
Liegnitz.
Wichern, Johann Hinrich.
Die Macht des Gebets..
Wolter, A.
122 170
mn 86
Aus dem Leben Kaiser Fried—
richs III.
a) Kronprinz Friedrich Wil—
helm und der Bager
Woenig, Franz.
Eine Wanderung durch die Pußla
Wulle, Fr.
Die Bewohner des Riesen-
gobirges
Zacharias, Dr. Otto.
Die Kreuzotter ..
Zeitung, Magdeburgische.
Der beste Empfehlungsbrief
Ziel, Ernst.
*Abendfeier
Zobeltitz, Hanus von.
In Trakehnen.
Na 388
159264
124177
91 121
45 61
13109
185201
A. Bilder aus dem Menschen—
leben.
1. Vaterhaus und Heimat.
L. Mein Vaterhaus.
J. Nun ruht die Welt im Abendstrahle.
Vom hohen Steig schau' ich hinaus
und seh' im ganzen weiten Tale
nur dich, nur dich, mein Vaterhaus.
Du lockst so traut zum Ruhn und Bleiben;
das Spätlicht flammt um Dach und Schlot
und zittert goldig in den Scheiben
und färbt die Buchenwipfel rot.
2. Du lieber Baum, du altersgrauer,
du dunkles Moos am Dachgestein,
du Weingerank um Wand und Mauer,
du Bronnenstrahl im Silberschein!
Du Tor mit deinen spitzen Bogen,
auf dem die Sperlingshorde lärmt,
von blauen Schwalben überflogen,
vom weißen Taubenvolk umschwärmt!
3. Und sie, im Glanz der Abendhelle,
sie, die uns jeden Tag versüßt,
dort auf der Steinbank vor der Schwelle,
o Mutter, Mutter, sei gegrüßt!
Mit weicher Stimme singt sie leise
dem Schwesterlein auf ihren Rnien
in ihrer alten, lieben Weise
die alten, lieben Melodien.
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubtg.
— 2 —
4. Dort ruht im Stüblein unterm Giebel
Großmütterlein vom Tagwerk aus
und senkt die Augen auf die Bibel
und segnet unser ganzes Haus.
Der wilde Strauß auf ihrem TCische,
aus Farnenkraut und Glockenblau,
durchhaucht mit junger Waldesfrische
das Rämmerlein der alten Frau.
5. Das Rätzchen macht im Hof die Runde,
und laut zerstiebt der Spatzenchor.
Da tritt mit seinem treuen Hunde
der Vater durch das offne Tor.
Die Mutter eilt von ihrem Sitze,
die Rleine hebt sich auf die Zeh'n,
ich kann durchs Buchenzweiggeblitze
die hellen Löckchen flattern sehn.
6. Nun stirbt das Licht. — Die Schatten blauen.
Wie war der Sommertag so schön,
dies Schwärmen durch die bunten Auen,
dies Blütensuchen auf den Höhn!
Das aber war die liebste Stunde,
als ich im Hauch des Abendtaus
dich wiedersah im Talesgrunde,
mein Vaterhaus, mein Vaterhaus!
Frida Schanz.
2. Die Wohnung im Reimspruche.
1. Sausflur.
1. Grüß Gott! Tritt ein,
bring Glück herein!
2. Komm als Gast,
gönn dir Rast
sonder Hast!
Mußt du scheiden,
ses uns beiden
schwexes Leiden!
3. Wer aus und ein geht durch die Tür,
der soll bedenken für und für,
daß unser Heiland Jesus Christ
die rechte Qür zum Himmel ist.
4. Wer nicht die Bunge zügeln kann
und übel spricht von sedermann,
dem sag' ich hier zu jeder Frist,
daß ihm mein Haus verboten ist.
— 3 —
2. Stube.
1. Dein Hanus sei deine Welt, 3. Der Spiegel ist ein alker Freund,
in der es dir gefällt! der's immer ehrlich mik uns meint.
4. Des Morgens denkan deinen Gott,
des Mittags iß vergnügt dein Grot,
des Abends denk an deinen Tod,
des Nachts verschlafe deine Not!
3. Schlafkammer.
1. Wenn du dich legst mm süßer Ruh',
und eh' dir falln die Augen zu,
so denk zuvor in stiller Nacht,
wie du den Tag hast hingebracht!
2. Hab acht, wie groß wohl sei dein' Deck',
danach dich kehr, leg, wend und streck!
3. Frisch aus dem Bett beim Morgenrot,
ermuntre dich und denk an Gott!
48
4. üche und Keller.
1. Jß, was gar ist, trink, was klar ist, sprich, was wahr ist!
2. Schüsseln, Töpfe, Teller, Tiegel
sind der saubern Hausfrau Spiegel.
3. Verzehr nicht mehr, denn du erwirbst,
sonst du gar leicht im Grund verdirbst!
4. Du sammelst Vorrat für des Winters harke Zeit,
vergiß nur nicht, den Schatz zu sammeln für die Ewigkeit!
Volksmund.
3. Zimmerspruch.
Das neue Haus ist aufgericht't;
gedeckt, gemauert ist es nicht;
noch können Regen und Sonnenschein
von oben und überall herein.
z Drum rufen wir zum Meister der Welt,
er wolle von dem Himmelszelt
nur Heil und Segen gießen aus
hier über dieses offne Haus.
Zu oberst woll' er gut Gedeihn
ld in die Rornböden uns verleihn,
1*
— 41 —
in die Stube Fleiß und Frömmigkeit,
in die Küche Maß und Reinlichkeit,
in den Stall Gesundheit allermeist,
in den Reller dem Wein einen guten Geist;
15 die Fenster und Pforten woll' er weihn,
daß nichts Unselig's komm' herein,
und daß aus dieser neuen Tür
bald fromme Rindlein springen für. —
Nun, Maurer, decket und mauert aus!
20 Der Segen Gottes ist im Haus.
Oudwig Uhland.
4. Die Geschichte von einer Mutter.
1. Eine Mutter saß bei ihrem kleinen Kinde ; sie war so betrübt
und besorgt, daß es sterben möchte. Es war so bleich; die kleinen Augen
hatten sich geschlossen. Das Kind holte so schwer und zuweilen so tief
Atem, als wenn es seufzte, und die Mutter sah noch trauriger auf das
kleine Wesen.
Da klopfte es an die Tür, und ein armer, alter Mann trat ein,
der in eine große Decke eingehüllt war; denn die hült warm, und das
hatte er nötig, es war ja kalter Winter. Draußen war alles mit Eis
und Schnee bedeckt, und der Wind blies so scharf, daß es ins Gesicht
schnitt. Und da der alte Mann vor Kälte zitterte und das kleine Kind
einen Augenblick schlief, ging die Mutter und setzte Bier in einem kleinen
Topf in den Ofen, um es für ihn zu wärmen. Und der alte Mann
saß und wiegte, und die Mutter saß auf einem Stuhle neben ihm, sah
auf ihr krankes Kind, das so tief Atem holte, und erfaßte die kleine Hand.
„Nicht wahr, du glaubst doch auch, daß ich es behalten werde?“
fragte sie; „der liebe Gott wird es nicht von mir nehmen!“
Und der alte Mann — es war der Tod selbst — nickte so sonder—
bar; das konnte ebensogut ja wie nein bedeuten. Und die Mutter schlug
die Augen nieder, und Tränen rollten ihr die Wangen herunter. Der
Kopf ward ihr so schwer; in drei Tagen und drei Nächten hatte sie
kein Auge zugemacht, und nun schlief sie, aber nur eine Minute, dann
fuhr sie auf und bebte vor Kälte. „Was ist das?“ fragte sie und sah
sich nach allen Seiten um. Aber der alte Mann war fort, und ihr
kleines Kind war fort: er hatte es mit sich genommen. Und dort in
der Ecke schnurrte und surrte die alte Uhr; das schwere Bleigewicht lief
bis auf den Fußboden herab, — bums! — da stand auch die Uhr still.
— 5 —
2. Aber die arme Mutter stürzte zum Hause hinaus und rief nach
ihrem Kinde. Draußen, mitten im Schnee, saß eine Frau in langen,
schwarzen Kleidern, die sprach: „Der Tod ist bei dir in deiner Stube
gewesen, ich sah ihn mit deinem kleinen Kinde davoneilen. Er schreitet
schneller als der Wind und bringt niemals zurück, was er genommen hat!“
„Sage mir bloß, welchen Weg er gegangen ist!“ sagte die Mutter;
„sage mir den Weg, und ich werde ihn finden.“
„Ich kenne ihn,“ sagte die Frau in den schwarzen Kleidern, „aber
bevor ich ihn dir sage, mußt du mir alle die Lieder vorsingen, die du
deinem Kinde vorgesungen hast. Ich liebe diese Lieder, ich habe sie
früher gehört, ich bin die Nacht und sah deine Tränen, als du sie sangst.“
„Ich will sie alle, alle singen!“ sagte die Mutter. „Aber halte mich
nicht auf, damit ich ihn einholen, damit ich mein Kind finden kann!“
Aber die Nacht saß stumm und still. Da rang die Mutter die Hände,
sang und weinte. Und es gab viele Lieder, aber noch mehr Tränen!
Und dann sagte die Nacht: „Geh rechts in den düstern Fichtenwald hinein;
dahin sah ich den Tod mit dem kleinen Kinde seinen Weg nehmen.“
3. Tief drinnen im Walde kreuzte sich der Weg, und sie wußte
nicht mehr, welche Richtung sie einschlagen sollte. Da stand ein Dorn—
busch, der hatte weder Blätter noch Blumen; aber es war ja auch um
die kalte Winterzeit, und Eiszapfen hingen an den Zweigen. „Hast du
nicht den Tod mit meinem kleinen Kinde vorübergehen sehen?“ „Ja,“
sagte der Dornbusch, „aber ich sage dir nicht, welchen Weg er genommen
hat, wenn du mich nicht zuvor an deinem Busen erwärmen willst! Ich
friere hier tot, ich werde zu lauter Eis!“
Und sie drückte den Dornbusch an ihre Brust, so fest, daß er recht
auftauen könne. Und die Dornen drangen in ihr Fleisch ein, und ihr
Blut floß in großen Tropfen. Aber der Dornbusch trieb frische, grüne
Blätter und bekam Blumen in der kalten Winternacht; so warm ist
es an dem Herzen einer betrübten Mutter! Und der Dornbusch sagte
ihr den Weg, den sie gehen sollte, um zu dem großen Treibhause zu
kommen, wo der Tod wohnt und Blumen und Bäume pflegt, von denen
jeder ein Menschenleben ist.
4. „Wo werde ich den Tod finden, der mit meinem kleinen Kinde
davonging?“ fragte die Mutter, als sie dort angekommen war. „Er ist
noch nicht hier“, sagte ein altes, graues Weib, das dort umherging und
auf das Treibhaus des Todes Achtung geben mußte. „Aber wie hast
du dich denn hierher gefunden, und wer hat dir geholfen?“
„Der liebe Gott hat mir geholfen!“ antwortete sie. „Er ist barmherzig,
und das wirst du auch sein. Wo werde ich mein kleines Kind finden?“
— 6—
„Ich kenne es nicht,“ sagte das alte Weib, „und du kannst ja nicht
sehen! — Viele Blumen und Bäume sind diese Nacht verwelkt, der
Tod wird bald kommen und sie umpflanzen. Du weißt es wohl, daß
jeder Mensch seinen Lebensbaum oder seine Lebensblume hat, wie gerade
ein jeder eingerichtet ist. Sie sehen aus wie andre Gewächse, aber ihre
Herzen schlagen; Kinderherzen können auch schlagen! Danach richte dich,
vielleicht erkennst du den Herzschlag deines Kindes. Aber was gibst du
mir, wenn ich dir sage, was du noch mehr tun mußt?“
„Ich habe nichts zu geben,“ sagte die betrübte Mutter, „aber ich
will für dich bis ans Ende der Welt gehen.“ „Da habe ich nichts zu
besorgen,“ sagte das alte Weib, „aber du kannst mir dein langes,
schwarzes Haar geben. Du weißt wohl selbst, daß es schön ist; das
gefällt mir! Du kannst mein weißes dafür bekommen, das ist doch
immer etwas!“ Verlangst du weiter nichts?“ sagte sie, „das gebe ich
dir mit Freuden!“ Und sie gab ihr ihr schönes Haar und erhielt das
schneeweiße des alten Weibes.
5. Dann gingen sie in das große Treibhaus des Todes hinein,
wo Blumen und Bäume wunderbar durcheinander wuchsen. Da standen
feine Hyazinthen unter Glasglocken und große, baumstarke Pfingstrosen.
Da wuchsen Wasserpflanzen, einige ganz frisch, andre halb krank;
Wasserschlangen legten sich auf sie, und schwarze Krebse klemmten sich
am Stengel fest. Da standen prächtige Palmbäume, Eichen und Pla—
tanen; da stand Petersilie und blühender Thymian. Alle Bäume und
Blumen hatten ihren Namen; sie waren jedes ein Menschenleben, und die
Menschen lebten noch, der eine in China, der andre in Grönland, rund—
herum in der Welt. Da waren große Bäume in kleinen Töpfen, so
daß sie ganz beengt dastanden und nahe daran waren, den Topf zu
sprengen. Es war auch manche kleine, schwächliche Blume da in fetter
Erde, mit Moos rundherum und gewartet und gepflegt. Aber die
betrübte Mutter beugte sich über alle die kleinsten Pflanzen hin; sie hörte
in jeder das Menschenherz schlagen, und aus Millionen erkannte sie das
Herz ihres Kindes heraus.
„Da ist es!“ rief sie und streckte die Hand über eine kleine Krokus—
blume aus, die ganz krank nach einer Seite hinüberhing.
„Rühre die Blume nicht an!“ sagte das alte Weib, „aber stelle
dich hierher, und wenn dann der Tod kommt — ich erwarte ihn jeden
Augenblick! —, da laß ihn die Pflanze nicht herausreißen, sondern drohe
ihm, daß du dasselbe mit den andern Blumen tun würdest, dann wird
er bange! Er muß dem lieben Gott dafür einstehen; keine darf heraus—
gerissen werden, bevor der die Erlaubnis dazu gibt!“
— 7 —
6. Da sauste es mit einem Male eiskalt durch den Saal, und die
blinde Mutter fühlte, daß es der Tod war, der nun ankam.
„Wie hast du den Weg hierher finden können?“ fragte er. „Wie
hast du schneller ankommen können als ich?“ — „Ich bin eine Mutter!“
antwortete sie.
Der Tod streckte seine lange Hand nach der kleinen, feinen Blume
aus; aber sie hielt ihre Hände fest darum, so dicht, und dennoch voll
ängstlicher Sorgfalt, daß sie keins der Blätter berühre. Da hauchte
der Tod auf ihre Hände, und sie fühlte, daß dies kälter war als der
kalte Wind, und ihre Hände sanken matt herab.
„Gegen mich kannst du doch nichts ausrichten!“ sagte der Tod.
„Aber der liebe Gott kann es!“ sagte sie. „Ich tue nur, was er will!“
fagte der Tod. „Ich bin sein Gärtner. Ich nehme alle seine Blumen
und Bäume und verpflanze sie in den großen Paradiesgarten, in das
unbekannte Land. Wie sie aber dort gedeihen, und wie es dort ist, das
darf ich dir nicht sagen!“
„Gib mir mein Kind zurück!“ sagte die Mutter und weinte und
flehte. Mit einem Male faßte sie mit den Hünden zwei hübsche Blumen
fest an und rief dem Tode zu: „Ich reiße alle deine Blumen ab, denn
ich bin in Verzweiflung!“
„Rühre sie nicht an!“ sagte der Tod. „Du sagst, daß du so un—
glücklich bist, und nun wolltest du eine andre Mutter ebenso unglücklich
machen?“
„Eine andre Mutter!“ sagte die arme Frau und ließ sogleich beide
Blumen los.
7. Da sagte der Tod: „Sieh jetzt hinab in den tiefen Brunnen
hier nebenan. Ich will die Namen der zwei Blumen nennen, die du
ausreißen wolltest, und du wirst ihre ganze Zukunft sehen, ihr ganzes
Menschenleben. Du wirst sehen, was du zerstören und zugrunde richten
wolltest!“ Und sie sah hinab in den Brunnen, und es war eine Glück—
seligkeit zu sehen, wie die eine ein Segen für die Welt ward, zu sehen,
wieviel Glück und Freude sich um die Blume verbreitete. Und sie sah
das Leben der andern, und das waren Sorgen und Not, Jammer und
Elend.
„Welche von ihnen ist die Blume des Unglücks, und welche die
gesegnete?“ fragte sie.
„Das sage ich dir nicht,“ antwortete der Tod; „aber das sollst du
von mir erfahren, daß die eine Blume die deines eigenen Kindes war.
Es war das Schicksal deines Kindes, was du sahst, die Zukunft deines
eigenen Kindes!“
— 8 —
Da schrie die Mutter vor Schrecken laut auf. „Welche von ihnen
ist die meines Kindes? sage mir das! Befreie das unschuldige Kind!
Erlöse es von all dem Elend! Trage es lieber fort! Trage es in Gottes
Reich! Vergiß meine Tränen, vergiß mein Flehen und alles, was ich
getan habe.“
„Ich verstehe dich nicht!“ sagte der Tod. „Willst du dein Kind
zurück haben, oder soll ich mit ihm nach jenem Orte gehen, den du nicht
kennst?“
Da rang die Mutter die Hände, fiel auf die Knie und bat den
lieben Gott: „Erhöre mich nicht, wenu ich gegen deinen Willen bitte,
der allezeit der beste ist! Erhbre mich nicht!“
Und sie ließ ihr Haupt auf die Brust hinabsinken.
Und der Tod ging mit ihrem Kinde nach dem unbekannten Lande.
Mans Christian Andersen. (Samtliche Märchen.)
5. Mulfter.
1. Mutter· schallt es immerfort
und fast obne Vause.
„Mutter“ hier und „Multer“ dort
in dem ganzen vWautse.
2. Aberall zugleich zu sein,
ist ißr nicht gegeben,
sonst wobl hätte lie, ich mein,
ein bequemer Leben.
3. Jedes vuft, urnd auf der Stellꝰ
will sein Recht es kriegen,
und sie kann doch nicht so schnell
wie die Schwalben fliegen.
4. Ich, fürwahr, bewundre lie,
daß sie noch kann lachen;
was allein bat sie für Mulz⸗,
alle satt zu machen!
5. Kannm micht einen Augenblick
lich zu vuhn ersauben,
urd das hält sie gar für Glück!
Sollte man es glauben?
Tohannes Trofan.
6. Das Erkennen.
1. Ein Wanderbursch' mit dem Stab in der Hand
kommt wieder heim aus dem fremden Land.
— —
2. Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt;
von wem wird der Bursch' wohl zuerst erkannt?
3. So tritt er ins Städtchen durchs alte Cor;
am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
4. Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund;
oft hatte der Becher die beiden vereint.
5. Doch sieh, — Freund Zollmann erkennt ihn nicht;
zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht.
6. Und weiter wandert nach kurzem Gruß
der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.
7. Da schaut aus dem Fenster sein Schätzel fromm.
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!“
8. Doch sieh, — auch das Mäsddlein erkennt ihn nicht;
die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.
9
9. Und weiter geht er die Straß' entlang;
ein Tränlein ihm hängt an der braunen Wang'.
10. Da wankt von dem Rirchsteig sein Mütterchen her;
„Gott grüß Euch!“ so spricht er und sonst nichts mehr.
U. Doch sieh, — das Mütterlein schluchzet voll Lust:
„Mein Sohn!“ — und sinkt an des Burschen Brust.
12. Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.
Johann Uepomuk Vogl.
7. Der preußische Unabe im Feldlager.
.Ein preußischer Soldat schrieb im Frühling des Jahres 1795
aus dem Lager am Rhein an seine Frau im Magdeburgischen und
äußerte in diesem Briefe unter anderm seine Sehnsucht nach einem
Gericht Rartoffeln. Der Brief kam gegen Abend an. Der zwölf⸗
jährige Sohn vernahm diesen Wunsch seines Vaters und steckte den
Brief zu sich. Er stand des Morgens früh auf, ging in den Reller,
füllte einen Quersack mit Rartoffeln, nahm seinen Wanderstab und
marschierte, ohne Zehrpfennig und ohne irgend jemand ein Wort zu
sagen, gerade nach dem preußischen Heere.
Er kam glücklich bis an die Vorposten und wurde hier ausgefragt.
Er erzählte von dem Zwecke seiner Reise und zeigte zu seiner Recht⸗
fertigung statt eines Passes den Brief seines Valers an seine Mutter.
Man lachte ihn aus, gab ihm zu essen und zu trinken und ließ ihn
passieren. So kam er bei dem Heere an, fragte nach dem Regiment
und der Rompagnie, bei der sein Vater stand, und ward zu dessen
Hauptmann geführt. Der Rnabe erzählte abermals offenherzig den
Zweck und die Schicksale seiner Reise zum preußischen Heere und brachte
wieder den Brief seines Vaters hervor. Der Hauptmann erstaunte
über die Erzählung des Rindes und ließ den Vater sogleich zu sich
holen, ohne daß er von der Anwesenheit feines Sohnes etwas erfahren
konnte. Er führte ihn in ein besonderes Zimmer und fragte ihn nach
dem Inhalt des letzten Briefes, den er an seine Frau geschrieben
hätte. Der Soldat bekannte den Inhalt und besonders das Verlangen
nach einem Gericht Rartoffeln. „Dein Wunsch ist erfüllt“, sagte der
Hhauptmann und führte den Vater in das Simmer, wo der Sohn in
banger Erwartung des Ausgangs mit seinen Rartoffeln noch wartete.
Vater und Sohn erkannten sich, fielen einander in die Arme, und Tränen
der innigsten Freude flossen über die braunen Wangen des Rriegers.
Der durch diesen Auftritt gerührte Hhauptmann ließ den Rnaben
einige Tage bei dem Vater ausruhen und gab ihnen etwas, daß sie
sich gütlich tun und pflegen konnten. Sodaun ermahnten der Haupt⸗
mann und der Vater den RKnaben, nunmehr zu seiner über seine Ab⸗
wesenheit sehr bekümmerten Mutter wieder zurückzukehren; auch reichte
ihm der Hauptmann als Zehrpfennig zur Reise ein Goldstück. „Zur
Reise“, sagte der kleine Wanderer, „brauche ich kein Geld; denn gegen
Vorzeigung meines Briefes haben mir gute Ceute unterwegs doch zu
essen gegeben. Aber meiner Mutter will ich das Geschenk bringen.“
2. So trat er denn seine Rückreise wieder an, verirrte sich aber
und kam an die französischen Vorposten. Hier wurde er angehalten
und ins Hauptlager zum General Custine geführt, der ihn durch einen
Dolmetscher scharf ausforschen ließ. Ohne Scheu erschien der deutsche
Rnabe vor dem französischen Feldherrn, beantwortete alle seine Fragen
offenherzig nach der Wahrheit, zeigte abermals den Brief seines Vaters
und erzählte, was ihm im preußischen Cager begegnet war. Gerührt
und lächelnd über das große und gute Herz des preußischen Soldaten⸗
kindes, schenkte ihm der feindliche Heerführer zwei Goldstücke und gab
ihm einen Wegweiser mit, der ihn durchs französische Heer begleiten
sollte, bis er in völliger Sicherheit sei.
— 14 —
Glücklich und wohlbehalten kam der Rnabe endlich in seiner Heimat
wieder an und verwandelte die Tränen der Betrübnis, die seine Mutter
inzwischen über ihren Sohn geweint hatte, in Tränen der Freude. Er
bat sie wegen seiner heimlichen Entweichung um Verzeihung, erzählte
ihr als Entschuldigung derselben das, was die Leser schon wissen, und
überlieferte die Geschenke, die er vom Hauptmann seines Vaters und
vom Heerführer der Feinde empfangen hatte, getreulich in ihre Hände.
QUeinxrich Dittmar. (Ein Lebensfrühling.)
8. Der alte Großvater und der Enkel.
Es war einmal ein alter Mann, der konnte kaum gehen. Seine
Rnie zitterten. Er hörte und sah nicht viel und hatte keine Zähne mehr.
Wenn er nun bei Tisch saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete
er die Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder
aus dem Munde. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und
deswegen mußte sich der alte Großvater hinter dem Ofen in die Ecke
setzen. Sie gaben ihm sein Essen in einem irdenen Schüsselchen, und
noch dazu nicht einmal satt. Da sah er betrübt nach dem Tische, und
die Augen wurden ihm naß. Einmal konnten seine zitternden Hände
das Schüsselchen nicht festhalten; es fiel zur Erde und zerbrach. Die
junge Frau schalt; er aber sagte nichts und seufzte nur. Da kaufte
sie ihm ein hölzernes Schüsselchen, aus dem er essen mußte. Wie
sie nun mit ihrem Mann am CTische sitzt, trägt der kleine Enkel
von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was
machst du da?“ fragte der Vater. „Ei,“ antwortete das Rind, „ich
mache ein Tröglein; daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich
groß bin.“ Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen
endlich an zu weinen, holten sofort den Großvater an den Tisch und
ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er
etwas verschüttete.
Gebrüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen.)
9. Das Licht der treuen Schwester.
t. An dem Uker einer Hallig wohnte einsam in einer Hütte
eine Jungfrau. Vater und Mutter waren gestorben, und der Bruder
war fern auf der See. Mit Sehnsucht im Herzen gedachte sie der
Toten und des Abwesenden und harrte seiner Viederkehr. Als der
Bruder Abschied nahm, hatte sie ihm versprochen, allnächtlich ihre
Lampe ans Fenster zu setzen, damit das Licht. weithin über die
See schimmernd, bei der Heimkehr ihm sage, daß seine Schwester
Elke noch lebe und seiner warte. Vas sie versprochen, das hielt sie.
An jedem Abend stellte sie die Lampe ans Fenster und schaute Tag
und Nacht über die See hinaus, ob nicht der Bruder kãme.
2. Es vergingen Monde, es vergingen Jahre, und noch immer
kam der Bruder nicht. Elke ward zur Greisin. Immer sab sie noch
am henster und schaute hinaus, und an jedem Abend stellte sie
die Lampe aus und wartete. Endlich war es bei ihr dunkel und
das gewohnteé Licht erloschen. Da riefen die Nachbarn einander
zu: „Der Bruder ist gekommen“ und eilten ins Haus der Schwester.
Da saß sie da, tot und starr ans Fenster gelehnt, als wenn sie noch
hinausblickte, und neben ihr stand die erloschene Lampe.
Kaxl Müllenhoff. (Sagen, Märchen und Lieder usw.)
10. Die kleine Schwester und der große
Bruder.
1. Eine meiner liebsten Kindheitserinnerungen ist die an
meine kleine Schwester. Licht und lieblich, freundlich und
schelmisch, so steht sie vor mir in meinen Gedanken.
Ich war sechs und Bruder Anton sSieben lJalir alt, als wir
eines Tages mit der Nachricht überrascht wurden: Ihs nabt ein
Schwesterchen bekommen.
Sogleich stürmten wir in die Scehlafstube hinein, und da
lag ein winægiges, winægiges Schwesterchen in der Viege.
Mit großer Neugier untersuchten wir ihre 2arten Hãändchen
und das kleine Gesichtehen; aber erst nach einigen Monaten
bekamen wir Augen dafuür, wie süß sie war.
Bruder Anton liebte sie 2ürtlich. Er war es, der sie die
ersten Schritte gehen lehrte, der ihr beibrachte, Mutter“ au
sagen, der erssste, nach dem sie die Häãndchen ausstreckte, wenn
er zur Tür hereintrat.
Als sie ↄ2iwei Janhr alt war, da war Sie buchstäblieh Anton
stets auf den Fersen, so schnell sie das auf irgend eine Weise
nur ausführen konnte. Ihr kleines Näüschen drũcukte Sie flach
an die Scheiben, um ihrem großen Bruder nachsehen eu können,
wenn er aur Sehule ging.
2. Ihres fünften Geburtstages hann ich mich deutlich er
innern. Wir Jungen wateten durenh knietiefen Schnee nach
Hause aus der Schule, heim aum Schokoladenschmause eu
Ehren der kleinen Schwester. Die sah heute aus wie ein Lleiner
— 3—
Engel, mit den langen, hellgelben Locken, ein hellblaues Band
um das faltige, weiße Kleid, und ihre strahlenden blauen
Augen! Kinder, ihir könnt es glauben, sie war reigend!
Anton hatte ihr für sein Wochengeld eine große Puppe
mit hölzernem Kkopfe gekauft; Maren, die kinderfrau, hatte
sie angerogen. Ein seidenes Kleid mit Perlen und Samt!
Damals kannte man die Wachspuppen und auch die Poræellan-
köpfe noch nicht, und alle fanden sie reigend trote des be-
malten Holakopfes. Schwesterchen fand das auch; denn sie
küßte und küßte den Puppenkopf so lange, bis isir sleiner
Mund schware von dem gemalten Haar wurde.
Vater, der sonst ein strenger Mann war, wurde gane
freundlich, wenn er au ihr kam. Er ließ sie auf seinem Knie
„Hopp, hopp heiter machen und „fällt er in den Sumpf, macht
der Reiter plumps“. Aber Anton hatte für sie sein Wochen-
geld geopfert, so liebte er die kleine Schivester.
3. Eines Tages bekam Schwesterchen vom Vater Schläge,
weil sie so lange an der Lampe herumgedreht hatte, bis sie
umgefallen und das Ol ũüber das Tischtuch geflossen war. Es
sclinitt ins Hera, sie schreien eu hören. later, Vater, nicht
hauen, nicht hauen!“ Aber Vater, der alte Soldat, hielt streng
auf Gehorsam, und Schwesterehen bekam ihre Strafe. Nie
vergesse ich's, wie Anton dabei war. Kreideweiß war er im
Gesicht und saß, das Haupt in den Händen und die Finger
fest in den Ohren, in der Alltagsstube. Und als das Schwester-
chen angeheult kam und wir den Vater die Tür aum Kontor
zumachen hörten, da weinte Anton, als ob er selber die Senhlãge
bekommen hätte.
4. Noch eins muß ich erzaählen. Vater hatte in dem Kontor
auf einem Schrank eine weiße Marmorfigur, die ihim einst
Graf Holten aus Italien mitgebracht hatte.
„Das ist ein Meisterwerks, pflegte Vater 2u sagen, und
niemand durfte sie anrühren. Um sie æu reinigen, sstieg Vater
selbst auf einer Leiter hinauf und nanm sie herunter. Dann
trug er die Figur in die Alltagsstube und stellte sie auf das
Fensterbrett mit dem Gesicht nach der Straße, als ob die
Figur aꝛu ihrem Vergnũügen ꝛ2um Fenster hinaussehen sollte.
Eines Tages sollten wir eine Spazierfahrt machen. WVir
kamen aus der Schule nach Hause gesprungen, so vergnügt,
wie ein paar Jungen nur sein können im Gedanken an eine
Sadzierfahrt. Als wir ins Voreimmer samen, schien es uns,
als ob wir Schwesterchens Stimme in haters Kontor hörten.
Anton õffnete die Tur. In demselben Augenblick gab es drinnen
einen dumpfen Fall, und wir sahen Schwesterenen von Vaters
Schrank fallen, wo sie hinaufgeklettert war. Anton half iltr
wieder auf. Blut lief ihr übers Gesicht. Aber was war das!
Lag da nicsit Vaters Marmorsigur, der sschõne, weiße Jason,
in viele Stücke æerschlagen, auf der Diele?
Unsre Angst hann ich haum beschreiben. Ieh weiß wirk-
lich nicht, ob wir uns melsir wegen des Schwesterchens oder
wegen der Figur ängstigten. Plöõtelich hörten wir Paten festen
Schritt draußen auf der Treppe; wir hörten das Schlüsselbund
rasseln, und Anton mit dem Schwesterchen auf dem Arme fusir
aus dem Kontor hinaus dureh die Esßstube in die Schlafstube,
wvo Maren saß. „WVasche Sie rein“, rief er und lief selbst ins
Kontor æurũck.
Da stand der Vater, rot vor Zorn, und Anton vor ilim,
gane weiß im Gesicht. WVer hat das getan? rief Vater.
Ich fing an au weinen. leh, sagte Anton und preßte die
Hãände auf seine Brust, wie wenn er sein Stürmisen pochendes
Heræ beschwichtigen wollte. Es war das erssstemal, daß er
seinen Vater belog.
Junge, dafür kriegst du Schläügel rief der Vater. Da
schlüpfte ieh aur Tür hinaus dureh die Eßstube in die Schlaf-
stube ꝛur kleinen Schwester. Sie hatte nur Nasenbluten gehabt
und war schon wieder gane munter. Aber Sie flog fast vor
Angst, jetat wũürde Vater Sie Strafen, und eꝛitterte am ganzgen
Körper.
„Anton hat au Vater gesagt, er hätte die Figur entawei-
geschlagen, Schwesterchen. Diesmal kriegst du heine Prũgel,
du kannst dich beruhigen, sagte ich.
„Kriegt Anton Prügel fragte sie, und die hellen, blauen
Augen wurden groß und starr Sie liebie ja Anton so Sehr.
Ja, sagte ich. Mit einem Male lief sie hinaus aus der Tiir
und ich hinterher. Sie lief SPornstreichs ins Kontor, wo Vater
stand und Anton abstrafte. „Vater, Ida ists gewesen!“ rief
sie, Ida hat Jason entaweigeschlagen; nicht Anton sclsilagenl
Vater hielt inne und bliekte bestüret von einem zum andern.
Aber Anton sagte: „Nein, ihr wißt es nicht; Vater, ich bin's
gewesen, du mußt Schwesterchen nicht schlagen.“ „Sage die
Valirheit, Antonl sagte Vater mit wunderbar weicher Stimme,
„uer war's, der die Figur entaweischluges , Schwesterchen!“
sagte ich, am ganægen Leibe eaitternd.
Vater warf den Rohrstoch weg, nahm Ida auf seine Arme
und küßte sie. Dann sclilang er seine Arme um Antons Hals
und sagtes ,Du bisst ein braver Junge, Anton; Gott erhalte
dich so bravl Wahrhaftig, du wirst mal ein tapfrer Soldat
werden, mein geliebter sungel Und damit ging Vater rasch
hinaus.
5. So vergnũgt wie auf dieser Spaæierfasirt sind wir haum
je gewesen. Vater war so freundlich und gut ↄ2u uns kindern
wie nie 2uvor, und auch Mama, die sonst meist sstill und ernst
war, wurde davon angestecst.
Acht Tage später stand Jason wieder gane und mit ge-
sunden Gliedern oben auf des Paters Pult. Er war ausammen-
geleimt, aber das sah man aus der Entfernung gar nicsit.
Von nun an waren der große Bruder und die hleine
Schwester ungertrennlich.
Afrida Baadsgaard. (Aus der Jugendzeit. Deutsch bearbeitet von Reinhold Gareis.)
LI. Der Allerärmste.
1. Im Jahre des großen Krieges 1870 war es, als zwei Kinder,
ein Knabe und ein Mädchen, ein Körbchen voll Kuchen in das Kloster der
barmherzigen Schwestern brachten für die armen, verwundeten Soldaten,
die dort in einem Seitengebäude untergebracht waren. Auch einen großen,
rotwangigen Apfel brachten sie mit, den sie freilich sehr gern selber gegessen
hätten. Dennoch trugen sie ihn zu den Kranken, um ihn dem allerärmsten
zu schenken. „Aber kein Franzose soll ihn haben“, sagte der Knabe heftig,
und das Mädchen wiederholte: „Nein, kein Franzose, nur ein Deutscher,
der allerärmste, dem Arme und Beine abgeschossen sind.“
„Ihr mögt ihn selber austeilen“, sagte die barmherzige Schwester.
„Ihr dürft mich begleiten, denn ich will eben meine armen Freunde besuchen.“
Das Mädchen nahm dann sein Körbchen und der Junge seinen Apfel, und
sie folgten mit behutsamen Schritten der freundlichen Führerin. Noch vor
der Tür des Hauses sah der Knabe seinen Apfel so zärtlich an, daß die
Schwester lächelnd erwartete, die lockende Frucht würde sofort verspeist
— 16 —
werden. Aber nach kurzem Kampfe legte ihn der Bruder in das Körbchen
der Schwester und sagte aufatmend: „Verwahre du ihn lieber!“
2. Die Tür öffnete sich, und sie traten ein wenig furchtsam in den
langen Saal. Da standen die reinen, schlichten Betien, das eine dicht
neben dem andern, und auf jedem Bette lag eine Männergestalt, ein
tapfrer Kämpfer, still ausgestreckt, Freund und Feind friedlich durch⸗
einander. Es war zwar das Zimmer der Genesenden; aber die meisten
von ihnen konnten doch noch nicht aufrecht sitzen und sahen sehr blaß und
matt aus. Wie viele Schmerzen hatten sie wohl aushalten müssen, ehe
sie diese Ruhestatt erreichten! Wie hatte das Fieber heiß gebrannt, als sie
auf dem Wagen lagen, der sie langsam in der Sonnenglut hierher fuhr! —
Hier und da lag eine verbundene Hand auf der Decke, eine feindliche
Kugel hatte die Finger zerschmettert; hier wurde ein Armstummel sichtbar;
dort ragte der dicke Verband eines Beines hervor, dem man den Fuß
hatte abnehmen müssen; der trug ein großes Tuch um seine zerbrochene
Kinnlade; hier war eine Stirn mit Pflastern zugedeckt; da lag noch eine
Binde über den armen, halbblinden Augen: überall Leid und Weh und
doch auch Geduld und Hoffnung. An den Wänden hingen allerlei Bilder:
der Kaiser Wilhelm und verschiedene Könige und Prinzen, Bismarck, Moltke,
Roon und viele andre Generale, und mitten darunter die Bilder irgend
eines alten Vaters, einer treuen Mutter, einer guten Schwester, einer
Braut, einer Frau. Auch Kinderköpfchen hingen da; denn die armen Kranken
hatten ja alle ihre Lieben daheim, an denen ihre Herzen hingen, und die
für sie gebetet hatten und noch beteten. Und sie erzählten änander von
ihren Lieben und fragten einander nach ihnen und lasen sich die Briefe
vor, die sie von daheim bekommen hatten, und des Plauderus war kein
Ende, und die Zeit wurde ihnen nicht lang. — Freund und Feind schwatzten
zusammen und hatten gelernt, sich zu verständigen, und lehrten einander
die eigene Sprache in einzelnen Wörtern. — Und die barmherzige Schwester
hatte für jeden ein Lächeln und eine freundliche Frage; die Kinder folgten
ihr und gingen mit heißen Wangen und großen, scheuen Augen von Bett
zu Bett und teilten ihre kleinen Kuchen aus. Sie legten sie in die Hände
des Feindes wie des Freundes. „Sie haben ja alle ihre Pflicht getan,“
sagte die barmherzige Schwester sanft, „haben gekämpft und gelitten und
liegen nun gelähmt und voll Schmerzen, einer wie der andre.“
3. Endlich war alles verteilt, nur der schöne, rote Apfel noch nicht.
Wo war der Allerärmste unter ihnen? Da fielen die suchenden Blicke
der Kinder auf einen jungen Franzosen, der einsam im entferntesten Winkel
saß. Er war wohl der gesundeste von ihnen allen, denn er konnte sich
frei bewegen und trug keinerlei Verband mehr; aber sein Gesicht war doch
so traurig und blaß wie kein andres.
„Was fehlt ihm?“ fragten leise die Kinder.
„Er ist geheilt und wird morgen entlassen und darf in seine Heimat
zurückkehren.“
„Wie kann er da so traurig aussehen?“
„Weil er daheim niemand findet, der sich auf ihn freut und sich nach
ihm sehnt“, antwortete die barmherzige Schwester. „Vater und Mutter
starben, während er im Kriege war, und er hat weder Bruder noch
Schwester, keinen, der für ihn betet und ihn erwartet.“
Ohne ein Wörtchen zu sagen, schauten sich die Geschwister an,
gingen hin zu dem Einsamen und legten den roten Apfel in seine Hände.
„Wir wollen für dich beten“, sagten sie.
Der Allerärmste war gefunden.
Da hat denn die barmherzige Schwester jenen fremden, traurigen
Mann zum ersten und einzigen Male lächeln sehen.
Nach Elise Polko. (Jütting und Weber; Die Heimat.)
12. Die kleine Helene und der böse Hund.
L. Im Sommer wurden wir von Onkel Nebeldahl auf sein Gut
eingeladen, das er gepachtet hatte. Er hatte einen ungemein bösen
Kettenhund, namens „Wasser“, der einzig und allein vor dem Onkel
und dem Mann, der die Kühe fütterte und auch ihn mit Nahrung
versorgte, Achtung hatte. Die übrige Menschheit ohne alle Aus-
nahme bib er in die Waden, wenn er ihrer habhaft werden konnte.
Diese bösartigen Naturanlagen hatten ihm, nachdem er eine genũü-
gende Anzahl von Kindern und groben Leuten in unverantwortlicher
Weise geschadigt hatte, eine dauernde Anstellung als Kettenhund
eingetragen, und die ewige Gesangenschast, die solcher Beruf mit
sich brachte, hatte sein Gemũt natürlich nur noch mehr verdüstert.
So lebte er denn in seiner geräumigen Hütte einsam als ein Sonder-
ling und Menschenfeind. Er kannte keine andre Freude, als, sobald
ein fremder Mensch den Hof betrat, an der rasselnden Kette einem
Teusfel gleich herumzutoben und zu rasen und seinem sinnlosen
Zorn und Ingrimm durch ein wütendes Gebell und durch Beiben
in die Steine Lust zu machen. Deshalb war rings um seine Hütte
ein tief ausgetretener Kreis beschrieben, und in diesen wagte sich
weder Mensch noch Tier mit Ausnahme der frechen Sperlinge, die
vor nichts in der Welt Achtung haben.
2. Nun ward am zweiten Tage unsrer Anwesenheit auf dem Gute
bald nach Tisch bemerkt, dab unsre Helene verschwunden Wwar.
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubtg.
Man suchte und rief sie im Hause und im Garten, allein es kam
keine Antwort. Endlich sah jemand zwei zierliche Kinderstiefel neben
dem Kopse des bösen Kettenhundes, der scheinbar tückisch brütend
in seiner Hütte lag. Ein tödlicher Schreck befiel un alle, als dies
bekannt wurde; meine Frau ward leichenblab, und selbot der Onbal
verfarbte sich. Er ging allein auf die Hütte zu, indem er uns anwies,
im Hintergrunde zurückzubleiben. Der Hund richtete sich auf, als
er seinen Herrn sah, fletschte die Zahne und knurrte bedenblict
In diesem Augenblick vermochte sich meine Frau nicht mehr zu
halten und rief mit lauter Stimme: „Helene! Helene!“
Da rappelte sich in der Hutte etwas empor, und neben dem
zottigen Kopfe des Hundes erschien das rosige Antlitz des Heinen
Madchens. Es rieb sich anfangs ein wenig verschlafen die Augen
und sah dann, von Glück strahlend, auf uns hin.
Die Mutter wagte nicht mehr zu rufen, sondern winbte nur ein-
dringlich mit der Hand. Da sagte die kleine Helene zu ihrem Nacn-
bar: „Adjs Hund, nun muß ich wieder zu meine Mama“, und
dabei tãtschelte sie ihm den zottigen Kopf, vährend der Hund ge-
rührt winselte, ihr die Hand zu lecken versuchte und mi dem
Schwanze wedelte, wie man aus dem Klopfen gegen die Wand der
Hütte vernehmen konnte. Dann, als sie ruhig und seelenvergnũgt
zu uns ging, folgte ihr der Hund bis an den Kreis, der die Grenzen
seines Reiches bezeichnete, und winselte ihr nach.
3. Nachher erzahlte Helene: „Ich war s0 traurig von den Hund,
daß er immer so allein is und an der Rette und bann gar nich rum⸗-
springen wie Karo und Fips und Bergmann. Und da bin ich hu—
gegangen und hab' ihm viele schöne Slumen gepflückt. Die mocht'
er aber gar nich leiden und hat sich gar nich gefreut. Und da war
seine Wasserschale ganz leer, und er hatte immer die Zunge raus
und den Mund auf und machte immer so.“ Sie ahmte das Jichern
eines Hundes nach. „Und dann bin ich an den Trog gegangen
und hab' ihm Wasser in seine Schale gefüllt. Und das hat er all
ausgetrunken und seine Zunge wie einen Löffel dabei gemacht, und
es hat immer schlapp, schlapp, schlapp gesagt. Und da sind wir
beide in sein Haus gegangen, und da hab' ich ibmn die Gecchichta
von dem Wauwau und dem Mahlamm erzahlt. Die mocht vol
gern leiden und hat immer mit'n Schwanz an seine Hütte geklopft.
Und dann haben wir beide 'n bibchen geschlafen. Und dann hat
mich Mama gerufen. Und nun ist die Geschicehte aus.
Heinrich Seidel. (Leberecht Huühnchen.)
*
19 —
13. Abendfeier.
1. Die Campe wirft in ruhevollem Schimmer
ihr Dämmerlicht
um Tisch und Bett durchs kleine, enge Zimmer
und flackert nicht.
2. Das Beisig knistert heimlich im Ramine
und flammt und knackt;
die Uhr, die alte, an der Bettgardine,
tickt leisen Takt.
3. Die Eltern lesen in vergilbter Bibel
einträchtiglich;
die Rinder in die bunte Bilderfibel
vertiefen sich.
4. Großmutter spinnt am Vade freundlich leise,
gedankenvoll;
sie murmelt eine alte, liebe Weise,
die längst verscholl.
5. Doch draußen wirft ans Fenster dürre Beiser
der Zerbstessturm;
die Wetterfahne knarrt unheimlich heiser
vom nahen Turm.
6. „was kümmert uns des Wetters wildes Schauern,
was Sturm und Wind,
Lieb' in unsern sichern Mauern
beisammen sind?“
wenn wir in
14. Lexien.
1. Hurxxa! Hurra!
Nun sind die Ferien da!
Ade, du Schulhausbank;
nun geht es frei und frank
die schöne Welt entlang
um fernen Meeresstrande,
zu des Gebirges Rande,
mm Onkel auf dem Lande.
Hurra! Hurra!
Nun sind die Fexien da!
2. Hinaus! Hinaus
fetzt aus dem engen Haus!
Uun in den grünen Wald,
wo unser Lied erschallt
und von den Wipfeln hallt.
Da soll das Echo klingen,
da schweifen wir und springen,
da fauchzen wir und singen.
Hinaus! Hinaus
jsetzt aus dem engen Haus!
2*
— 20 —
3. Juchhe! Juchhei!
Wir leben froh und frei!
Die ganze Sommerpracht,
die uns entgegenlacht,
sie ist für uns gemacht.
Frisch ziehn wir einst von hinnen,
um neu mit frohen Sinnen
die Arbeit in beginnen. —
Juchhe! Auchhei!
Das Herz ward frisch und frei!
Heinrich Seidel.
5
15. Drei Paare und einep.
l. Du hast zwel Ohren und einen Munc; willst du's beklagen?
Gar vieles sollst du hören und wenig drauf sagen.
2. Du hast zwei Augen und einen Muncd; mach dir's zu eigenl
Gar manches sollst du sehen und manches verschweigen.
3. Du hast zwei Hände und einen Mund; lern es ermessen!
Zweie sind da zur Arbeit und einer zum Essen.
Erxtedrich Rückert.
16. Auch beim Lernen denke an deine
Gesundheit!
Lies und schreibe nie in der Dãmmerung; sertige auch feine
Handarbeiten nie im Zwielicht an!
Bei Tage wähle deinen Platz möglichst so, daß du von ihm
aus den Himmel sehen kannst und das Fenster sich zur linken
Hand befindetl Die Sonnenstrahlen dürfen nie auf deine Arbeit
fallen. Bedecke die Lampe nicht mit einem dunkeln Schirme; stelle
sie höchstens einen halben Meter weit vor dich und schiebe sie
dabei etwas zur Linken! Das Arbeiten bei flackerndem Lichte s0wie
das Lesen während des Fahrens und beim Liegen ist den Augen
schädlich. Die Arbeitslampe mub Zylinder und Milchglasglocke haben.
5—
— —
Beim Lesen lehne den Rücken an und halte das Buch mit
beiden Händen schräg auf dem Tische fest, so daß die Entfernung
wischen Auge und Schrift mindestens 35 cm betrãgt!
Beim Schreiben halte den Oberkörper aufrecht, lege die
Brust nicht an die Tischlante und neige den Kopf nur wenig nach
vorn! Das Auge mub, wie beim Lesen, mindestens 35 cm von der
Schrist entfernt sein. Schreibe nur mit tiefschwarzer Tinte und ge-
wöhne dich frühzeitig daran, ohne Linien zu schreiben! Wenn du
Ermudung der Augen spürst, so ruhe ein wenig aus und sieh während
der Zeit ins Freie!
Scqliebe beim Schreiben den Stuhl so weit unter den Tisch,
dabß die vordere Stuhllante mindestens 5 cm unter die Tischplatte
reicht Bei gerader Haltung des Oberkörpers darf die Brust die
Tischkante nicht berũühren. Der Stuhl sei so hoch, daßß bei herab-
hängenden Armen die Tischplatte sich in Höhe der Ellenbogen be—
findet. Wenn der Stubl zu niedrig ist, so lege ein festes Kissen daraus.
Die Fũbe setze mit der ganzen Sohle auf den Boden; erreichst du ihn
nicht, so stelle eine Fuhbank unter! Setze dich so auf den Stuhl,
daß die Brust die Richtung der Tischkante hat, und lehne den
unteren Teil des Rückens s(das „Kreuz“) während des Schreibens
fest an ein der Stuhllehne vorgelegtes Kissen oder an den Ranzen.
Schlage die Beine nicht ũübereinander, weder am Knie noch an den
Knõcheln, und ziehe die Fübe nicht unter den Stuhbl zurũckl
Lege die Unterarme in der Nähe der Ellenbogen aus den Tisch,
halte mit der linken Hand das Heft fest und schiebe es während des
Schreibens weniger oder mehr auf den Tisch, je nachdem du den
oberen oder unteren Teil beschreibstl Lege das Heft so vor die Mitte
des Körpers, daß die Grundstriche der Schrift senkrecht zur Tisch-
Lante stehen!
Beim Lernen schiebe den Stuhl etwas zurück, lehne dich hinten
an und halte das Buch wie beim Lesen schräg mit beiden Händen
auf dem Tische fest!
17. Turnerlied.
1. Der Schnee ist zerronnen,
der Frühling ist nah.
Das Turnen hat begonnen,
und wir sind wieder da.
2. Wir haben uns wieder
zum Turnen gewandt;
es fordert rüst'ge Glieder
von uns das Vaterland.
3. Zu tüchtigem Werke
taugt Geist nicht allein;
es muß des Leibes Stärke
damit verbunden sein.
22
2
4. Die Feigheit verlasse,
du Menschengeschlecht,
und Mut und Hoffnung fasse
für Freiheit, Ehr' und Recht.
5. Und kommen die Feinde
ins Land dann herein,
du deutsche Turngemeinde,
so schlägst du tapfer drein.
Heinrich Hoffmann von Fallersleben.
18. In der Badeanstalt.
1. Drei Künste muß jeder deutsche Knabe erlernen, wenn er seinen
Körper gesund erhalten will; er muß turnen, Schlittschuh laufen und
schwimmen können.
Nun will ich euch einmal in eine Badeanstalt führen, um euch zu
zeigen, wie man das Baden recht macht. Ich war als Waisenknabe in
den Frauckeschen Stiftungen zu Halle aa S. Im Sommer wurden wir
regelmäßig nach den in der Saale gelegenen Badeanstalten geführt, wo für
kleine, mittelgroße und erwachsene Leute besondere Bassins zu finden sind.
Mit dem nötigen Badezeug unter dem Arme, so wurden wir kleinen Leute
mit dem langen, schwarzen, zweireihigen Rock und der hohen, schwarzen
Mütze langsamen Schrittes nach der Saale geführt, damit die Lungen
nicht zu sehr aufgeregt wurden. Waren wir glücklich angelangt, so mußlen
wir uns sofort entkleiden. Jetzt hieß es „Abkühlen und ruhig werden!“
Um nun zu prüfen, ob die Lunge sich wirklich beruhigt hatte, legten wir
gegenseitig die flache Hand auf den Rücken, und fühlten wir kein Klopfen
mehr, so gab der die Aufsicht führende Lehrer das Zeichen zum Baden. Brust,
Rücken und Armwinkel sunter dem Arme) wurden etwas naß gemacht,
und dann ging es flugs mit kühnem Sprung ins Wasser. Wer lange
zögerte, mußte sich Memme schelten lassen. Pflicht eines jeden Zöglings
war, sofort unterzutauchen, weil man bei trockenem Kopfe leicht Kopfweh
bekommt.
2. Hei, wie das plätschert und paddelt im kühlen Naß! Ja, wenn
immer 20 bis 2200 wären, dann möchte's schon gehen; zeigt aber das
Thermometer nur 15 bis 160, dann ist es schon empfindlicher. Doch
das tut nichts! Frisch hinein, rühr dich fein, dann wird's für dich bald
wärmer sein! So war es auch bei uns. Wer nicht schwimmen konnte,
der tummelte sich haschend im Stehbassin umher oder machte wohl auch
— 23 —
Schwimmversuche. Ich gehörte zu den letzteren. Ich sah nämlich, wenn
der Schwimmeister die Schwimmschüler an seiner Angel baumeln ließ,
genau zu und paßte auf, welche Bewegungen sie ausführen mußten.
Gar zu gern hätte auch ich bei ihm das Schwimmen gelernt, doch fehlte
mir dazu das Lehrgeld.
Was tat ich? Nun, ich hielt mich, da ich an keiner Angel hängen
konnte, an zwei von den Stäben, welche die Kinderbassins vom Schwimm—
raume trennen, fest und legte mich wagerecht auf das Wasser. In dieser
Stellung ahmte ich die Bewegungen der Schwimmschüler nach. Dann
ging es an die Armbewegungen, wobei ich mich einfach auf den Boden
ftellte und den Rumpf vorwärts beugte. Schließlich versuchte ich es mit
Armen und Beinen, und siehe da — es ging, zuerst zwei, drei, dann
mehr Stöße. Bald hatte ich den Mut, am Rande des Schwimmbassins
meine Kunst zu erproben. Es gelang, — ich konnte wirklich schwimmen.
3. Aber noch wagte ich mich mit meiner selbsterlernten Schwimm—
kunst nicht in die Mitte; denn da war es so tief, daß sich wohl vier
Männer hätten übereinander stellen können, ehe die Oberfläche erreicht
worden wäre. Wie kam es nun, daß ich ins Tiefe ging?
Eines schönen Tages schleuderte mich ein unvermuteter Stoß eines
Mitzöglings von der sogenannten Froschbrücke, die dicht über dem Wasser—
spiegel auf Ketten schwebt, gerade in die tiefste Stelle des Schwimmbassins
hinein. Was sollte ich nun machen? Balken hat das Wasser nicht, sonst
hätte ich mich gewiß daran gehalten. Erst strampelte ich wie ein Hund,
der ins Wasser geworfen worden ist, dann aber fiel mir ein, daß ich ja
schwimmen könnte; ich machte davon Gebrauch und gewann glücklich das
Ufer. Von nun an war ich fast täglich Gast im Schwimmbassin, mußte
jedoch zuvor bei dem Bademeister Probe schwimmen.
Mit andern Anfängern schwamm ich nun um die Wette stromauf—
und stromabwärts. Dann wurden Kunststückchen gelernt, wie Wasser—
treten, der tote Mann, Rückenschwimmen usw. Besonders übten wir
die Sprünge ins Wasser vom Sprungbrett, von der Umzäunung, vom
halben und endlich vom ganzen Turme. Ach, das war eine Lust, so
lange erst durch die Luft und dann ins Wasser zu sausen, um an einer
andern Stelle wohl gar mit einer Handvoll Kies aufzutauchen. Da
heißt es: „Mund zu, Atem anhalten!“
4. Ein Ereignis, das aber leicht übel ablaufen konnte, will ich noch
erzählen. Es möge euch vor törichten, übermütigen Streichen warnen.
Es war an einem heißen Nachmittag, an dem die Badeanstalt sehr
besucht war. Auch ich war unter den Badelustigen und übte mich in dem
kürzlich erlernten Kopfsprung von der Froschbrücke aus. Das ging so gut,
— 24 —
daß mich der Übermut verleitete, meine Kunst auf eine gar gefährliche
Weise zu versuchen. Ohne lange zu überlegen, war ich auf die Um—
zäunung gestiegen, die etwa 4 mn vom Wasserspiegel entfernt ist, um
von dort aus den Kopfsprung zu versuchen. Ich sprang ab, aber so
unglücklich, daß ich unter lautem Klatschen auf Brust und Bauch siel.
Sofort verlor ich die Besinnung, ging unter und wäre sicher verloren
gewesen, wenn nicht Hilfe nahe gewesen wäre. Wie man mir nachher
erzählte, war der Schwimmeifter mir sofort nachgesprungen und hatte
mich unter Beihilfe eines andern Schwimmers ans Land gebracht. Die
Besinnung kehrte bald wieder, und nun bemerkte ich, umstanden von einer
großen Zahl Neugieriger, wie ich aussah. Die ganze Vorderseite war
blau und rot gefärbt. In meinem ganzen Leben habe ich aus solcher
Höhe den bewußten Kopfsprung, der mich dem Tode so nahe gebracht,
nicht wieder gewagt.
5. Darum hütet euch vor übermütigen, unbesonnenen Kunststücken!
Wagt immerhin den Kopfsprung, doch nie ohne Unterweisung und Auf—
sicht! Überhaupt darf man niemals allein baden, denn gar leicht kann
uns ein Krampf oder ein andrer unvorhergesehener Zufall überraschen.
Fehlt dann eine helfende Hand, dann ist das Schlimmste zu be⸗
fürchten.
Nun merkt euch, was ich gesagt habe, und beachtet bei jedem Gange
zum Baden folgende wichtige Regeln:
1. Geh langsam zur Badestellel 2. Kühle dich genügend ab! 3. Wage
nicht allzuviel! 4. Bade nie allein! 5. Bade nicht zu lange! 6. Iß nach
dem Baden, nicht kurz vorher! Und nun „Gut Heill
Dentsche Jugend. (Lesebuch für Bürgerschulen.)
19. Der RBislauf.
L. Der See ist zugefroren und hält schon seinen Mann;
die Bahn ist wie ein Spiegel und glänzt uns freundlich an.
Das Wetter ist so heiter, die Sonne scheint so hoell.
Woer will mit mir ins Freie, wer ist mein Mitgesell?
Wir gehn hinaus ins Freie, hinaus zum Schlittschuhlauf.
Was kümmert uns die Kälte? Was kümmert uns der Schnee?
Wir wollen Schliftschuh laufon wohl auf dem blanken See.
2. Da ist nicht viel zu fragen; wer mit will, macht sich aul.
3. Da sind wir ausgezogen zur Eisbahn alsobald
und haben uns am Ufer die Schliüttschuh' angeschnallt.
Das war ein lustig Leben im hellen Sonnenglanz!
Wir drehten uns und schwebten, als wär's ein Reigentanz.
4. Nun ist vorbei der Winter, vorbei ist Schnee und Eis;
es sind die Bäum' im Garten jetzt nur von Blüten weib.
Doch aueh in meinen Träumen ruf' ich noch oft: „Juchhe!
Kommt, labt uns Schliftschuh laufen wohl auf dem blanken See!“
Qeinrich Noffmann von Fallexsleben.
2W. Der frohe Wandersmann.
1. Wem Sott will rechte Gunst erweisen,
den schickt er in die weite Welt;
dem will er seine Wunder weisen
in Berg und Wald und Strom und Seld.
2. Die Bächlein von den Bergen springen,
die Lerchen schwirren hoch vor Lust;
was sollt' ich nicht mit ihnen singen
aus voller Rehl' und frischer Brust?
3. Den lieben Gott lass' ich nur walten;
der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
und Erd' und Zimmel will erhalten,
hat auch mein' Sach' aufs best' bestellt.
Joseph Freiherr von Eichendorff. (GGelürzt.)
21. Peter in der Fremde.
1. Der Peter will nicht länger bleiben,
er will durchaus fort in die Welt.
Dies Wagestück zu hintertreiben,
der Mutter immer schwerer fällt.
„Was willst du“, spricht sie, „draußen machen?
Du kennst ja fremde Menschen nicht.
Dir nimmt vielleicht all deine Sachen
der erste beste Bösewicht.“
26 —
2. Der Peter lacht nur ihrer Sorgen,
wenn er die Mutter weinen sieht,
und wiederholt an jedem Morgen
sein längst gesungnes Reiselied.
Er meint: Die Fremde nur macht Leute,
nicht in der Nähe wohnt das Glück.
Drum sucht er's gleich recht in der Weite,
doch kehrt er mit der Zeit zurück.
3. Zu Hilfe ruft man alle Basen,
jedwede gibt dazu ihr Wort.
Doch Peter läßt nicht mit sich spaßen,
der Tollkopf will nun einmal fort.
Da spricht die Mutter voller Kummer:
„So sieh doch nur den Vater an!
Der reiste nie und ist nicht dummer
als mancher weitgereiste Mann.“
4. Doch Peter läßt sich nicht bewegen,
so daß zuletzt der Vater spricht:
„Nun gut! ich wünsch' dir Glück und Segen;
fort sollst du, doch nun säum auch nicht.“
Nun geht es an ein Emballieren
vom Fuß hinauf bis an den Kopf;
man wickelt, daß auch nichts kann frieren,
das dickste Band um seinen Zopf.
5. Und endlich ist der Tag gekommen!
Gleich nach dem Essen geht er heut'.
Voraus ist Abschied schon genommen,
und alles schwimmt in Traurigkeit.
Die Eltern das Geleit ihm geben
bis auf das nächste Dorf hinaus,
und weil da ist ein Wirtshaus eben,
hält man noch einen Abschiedsschmaus.
6. Ein Fläschchen Wein wird vorgenommen;
doch still wird Peter, mäuschenstill.
Man trinkt auf glücklich Wiederkommen,
und Peter seufzt: „Nun, wie Gott will!“
Er muß die Augen manchmal reiben,
nimmt Abschied noch einmal recht schön
und sagt, man soll' nur sitzen bleiben,
denn weiter lass' er keinen gehn.
27
7. Und endlich wankt er fort, der Peter,
obgleich es ihn beinahe reut.
Nach jeden hundert Schritten steht er
und denkt: Wie ist die Welt so weit!
Das Wetter will ihn auch nicht freuen;
es weht der Wind so rauh und kalt.
Er glaubt, es kann noch heute schneien;
und schneit's nicht heut', so schneit's doch bald.
8. Jetzt schaut er bang zurück; jetzt geht er
und sinnt, wie weit er heut' noch reist.
Jetzt kommt ein Kreuzweg; ach! da steht er,
und niemand, der zurecht ihn weist.
„Ach,“ seufzt er, „so was zu erleben
gedacht' ich nicht! Daß Gott erbarm'!
Hätt' ich der Mutter nachgegeben,
so säß' ich jeßt noch weich und warm!
28 —
9. Wie konnt' ich so mein Glück verscherzen!
Ich war doch wirklich toll und dumm.
Wie würde mich die Mutter herzen,
kehrt' ich an diesem Kreuzweg um!“
Und rasch beschließt er, sich zu drehen,
wie wenn man was vergessen hat,
und rennt — ich hätt' ihn mögen sehen —
zurück zur lieben Vaterstadt.
10. Die Eltern saßen unterdessen
im Wirtshaus noch in guter Ruh',
bekämpften ihren Gram durch Essen
und tranken tiefgerührt dazu.
Der Peter ließ sie gern beim Schmause;
ihn reizte nur der Heimat Glück.
Drum läuft er sporenstreichs nach Hause
auf einem Seitenweg zurück.
11. Und froh, daß in der Näh' und Ferne
sein Fuß sich nicht verirret hat,
gelangt er vor dem Abendsterne
noch ungesehen in die Stadt.
Doch ist er kaum erst heimgekommen,
so schallt Gelächter durch das Haus.
Das hätt' er übel fast genommen;
allein — er macht sich nichts daraus.
12. Man spaßt: „Du mußt in Meilenschuhen
gewandert sein; drum setz dich auch
nun hintern Ofen, um zu ruhen,
und pfleg am Brotschrank deinen Bauch!“
Er tut's. Jetzt treten seine Alten
zur Stubentür betrübt herein;
die Mutter seufzt mit Händefalten:
„Ach Gott, wo mag der Peter sein?“
13. Da kriecht der Peter vor und schmunzelt:
„Was klagt ihr denn? Hier bin ich ja!“
Die Mutter jauchzt; der Vater runzelt
die Stirn und spricht: „Schon wieder da?
Nun, wie ich's dachte, ist's geschehen,
die Mutter war nur ganz verwirrt;
ich hab's dem Burschen angesehen,
wie weit die Reise gehen wird.“
14. Die Mutter jubelte, durchdrungen
bon frommem Dank: „'s ist besser so!
Nun hab' ich wieder meinen Jungen
gesund daheim, des bin ich froh!“
Doch Peter sagte ganz beklommen:
„Hätt' ich nur nicht geglaubt, es schneit',
und wär' der Kreuzweg nicht gekommen,
ich wäre jetzt, wer weiß wie weit!“
Angust Gottlob Eberhardt. (Nach Grübel.)
22. Abschied.
1. Nun ade, du mein lieb Heimatland,
lieb Heimatland, ade!
Es geht jetzt fort zum fremden Strand,
lieb Heimatland, ade!
Und so sing' ich denn mit frohem Mut,
wie man singet, wenn man wandern tut:
Lieb Heimatland, ade!
2. Wie du lachst mit deines Himmels Blau,
lieb Heimatland, ade!
Wie du grüßest mich mit Feld und Au,
lieb Heimatland, ade!
Gott weiß, zu dir steht stets mein Sinn;
doch jetzt zur Ferne zieht's mich hin —
lieb Heimatland, ade!
Z. Begleitest mich, du lieber Fluß,
lieb Heimatland, ade!
Bist traurig, daß ich wandern muß,
lieb Heimatland, ade!
Vom moos'gen Stein am wald'gen Tal
da grüß' ich dich zum letztenmal —
lieb Heimatland, ade!
August VDisselhoff.
30 —
23. Des Knaben Berglieoö.
1. Ich bin vonr Berg der virkenkneab',
seh auf die Schlõösser all herab;
die Sonne strablt am ersten hier,
am längsten weilet sie bei mir.
Ich bin der Knab' vom Bergel!
2. Sier ist des Stromes Mutterhauts,
ich krinkl ihn frisch vom Stein heraus;
er braust vom Fels in wildem Lauf,
ich fang ihn mit den Armen auf.
Ich bin der Knab vom Bergel!
3. Der Berg, der ist mein Eigentum,
da ziebn die Stürme vingsherum,
urd heulen sie von Nord und Sud,
so überschallt sie doch mein Lied:
Ich bin der Knab' vomr Bergel!
4. Sino Blitz und Ddonner unter mirx,
so stebhl ich hoch imt Blauen bhier;
ich kenne lie und rufe zu:
„Taßt meines Vaters vaus in Ruhl
Ich bin der Knab' vomn Berge!
5. And wann die Sturmglock einst erschallt,
manrch Feuer auf den Bergen wallt,
dann steig ich nieder, lrel ins Glied
und schwirrg mein Schwert und ling' mein Lied:
Ich bin der Knab' vom Bergel!
Ludwig Uhland.
—
24. Heimkehr.
1. Seh' ich dich wieder, mein Vaterhaus!
Die ganze Natur bricht in Jubel aus,
alle Büsche und Bäume klingen und blühn,
die schwellenden Wiesen blitzen und glühn,
die Blumen duften, die Drossel schlägt,
als fühlten sie mit, was mein Herz bewegt!
2. Ich blicke dankend zum Himmel empor:
Hell jubelnd schmettert der Lerchen Chor,
und wie Wanderburschen, lustig und frei,
ziehn oben die lichthellen Wölkchen vorbei,
und Käfer und Bienen umschwirren mich,
als wären sie alle so glücklich wie ich.
3. Die Mütze, mit Eichengrün umlaubt,
ich schwinge sie jubelnd empor vom Haupt,
und, hoch den Stab in der andern Hand,
grüß' Vaterhaus ich und Heimatland.
Schon seh' ich die Mutter — wie wallt mir die Brust!
O Stunde der Heimkehr, o seligste Lust!
Friedrich von Vodenstedt.
32
2. Unsre Pflichten.
25. Der kluge Richter.
1. Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme, die in ein
Tuch eingenäht war, aus Unvorsichtigkeit verloren. Er machte seinen Ver⸗
lust bekannt und bot, wie man zu tun pflegt, dem ehrlichen Finder eine
Belohnung, und zwar von hundert Talern, an. Da kam bald ein guter
und ehrlicher Mann dahergegangen. „Dein Geld habe ich gefunden. Dies
wird es wohl sein; so nimm dein Eigentum zurück!“ So sprach er mit
dem heitern Blick eines ehrlichen Mannes und eines guten Gewissens,
und das war schön! Der andre machte auch ein fröhliches Gesicht, aber
nur, weil er sein verloren geglaubtes Geld wieder hatte. Denn wie es
um seine Ehrlichkeit aussah, das wird sich bald zeigen. Er zählte das
Geld und dachte unterdessen geschwind nach, wie er den treuen Finder
um die versprochene Belohnung bringen könnte. „Guter Freund,“ sprach
er hierauf, „es waren eigentlich achthundert Taler in das Tuch ein—
genäht, ich finde aber nur siebenhundert darin. Ihr werdet also wohl
eine Naht aufgetrennt und Eure hundert Taler Belohnung schon heraus⸗
genommen haben. Da habt Ihr wohl daran getan. Ich danke Euch.“
— Das war nicht schön! Aber wir sind auch noch nicht am Ende.
Ehrlich währt am längsten, und Untreue schlägt ihren eigenen
Herrn.
2. Der ehrliche Finder, dem es weniger um die hundert Taler
als um seine unbescholtene Rechtschaffenheit zu tun war, versicherte, daß
er das Päcklein so gefunden habe, wie er es bringe, und es so bringe,
wie er es gefunden habe. Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide
bestanden auch hier noch auf ihrer Behauptung: der eine, daß achthundert
Taler eingenäht gewesen seien, der andre, daß er von dem Gefundenen
nichts genommen und das Päcklein nicht versehrt habe. Da war guter
Rat teuer. Aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die
schlechte Gesinnung des andern schon zu kennen schien, griff die Sache so
an: Er ließ sich von beiden über das, was sie aussagten, eine feste
und feierliche Versicherung geben und tat hierauf folgenden Ausspruch:
33 —
„Wenn der eine von euch achthundert Taler verloren, der andre aber
uur ein Päcklein mit siebenhundert Talern gefunden hat, so kann auch
das Geld des letzteren nicht das nämliche sein, auf das der erstere
ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund, nimmst also das Geld, das du
gefunden hast, wieder zurück und behältst es in guter Verwahrung, bis
der kommt, der nur siebenhundert Taler verloren hat. Und für dich
da weiß ich keinen Rat, als du geduldest dich, bis sich der meldet, der
deine achthundert Taler findet.“ So sprach der Richter, und dabei blieb es.
Johann Peter Hebel. ESchatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes.)
26. Eine Ohrfeige zur rechten Zeit.
1. In einer der bedeutendsten Handelsstädte Norddeutschlands lebte ein
Kaufmann, namens Müller. Ihm begegnete in letzter Zeit oft ein junger,
wohlgekleideter Mensch, der ihn sehr freundlich, ja fast zutraulich grüßte.
Herr Müller erwiderte den Gruß zwar gern; da er sich aber nicht
erinnerte, den jungen Menschen je zuvor gesehen zu haben, so glaubte
er, dieser verwechsle ihn mit jemandem, dem er vielleicht ähnlich sei. —
2. Eines Tages nun war Herr Müller zu einem Freunde geladen,
und als er zur bestimmten Zeit auf dessen Landsitz eintraf, fand er den—
selben jungen Mann schon mit dem Hausherrn in eifrigem Gespräche die
schattigen Alleen auf und ab gehend. Er näherte sich den beiden, die ihn
auch schon aus der Ferne bemerkt hatten. Der Wirt wollte nun seine
Freunde einander vorstellen; aber der jüngere machte eine abwehrende
Bewegung mit der Hand, indem er sagte: „Das ist nicht nötig, wir
kennen uns schon viele Jahre.“ — „Ich glaube, Sie sind im Irrtum,
was mich betrifft“, nahm jetzt Herr Müller das Wort. „Ich habe aller—
dings seit einiger Zeit manchen freundlichen Gruß von Ihnen bekommen,
aber sonst sind Sie mir völlig fremd.“ — „Und doch bleibt es dabei,
ich kenne Sie lange und habe mich sehr gefreut, Sie heute hier zu sehen
und eine Gelegenheit zu haben, Ihnen meinen herzlichen Dank auszu—
drücken.“ — „Sie sprechen in Rätseln. Wie kann ich Sie zum Dank
verpflichtet haben, wenn ich Sie gar nicht kenne?“ — „Das ist allerdings
eine alte Geschichte; aber wenn wir uns hier niedersetzen und Sie mir
dann einige Augenblicke zuhören wollen, so glaube ich, werden Sie sich
meiner doch vielleicht noch erinnern.
3. Es sind jetzt 17 Jahr her — ich war damals ein Knabe von
9 Jahren —, als ich eines Morgens auf meinem Schulwege darüber
nachdachte, wie angenehm es sein würde, wenn ich zu dem Brote,
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. U. Neubtg.
2
— 34 —
das mir die Mutter zum Frühstück mitgegeben, auch einen Apfel hätte;
meine Kameraden aßen oft schöne, große Äpfel, und ich bekam nur
selten Obst. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kam ich auf den Markt—
platz, über den mein Weg führte. Da waren viele Körbe voll der aus—
erlesensten Früchte, die mich so recht anlachten. Ich blieb unwillkürlich
stehen, um sie zu betrachten. Die Eigentümerin hatte ihrer Ware den
Rücken zugekehrt und sprach angelegentlich mit einer Nachbarin. Da
kam mir so der Gedanke: ‚„Sie wird es kaum bemerken, wenn du einen
Apfel nimmst; sie behält ja noch eine große Menge.“ Leise streckte ich
meine Hand aus und wollte eben ganz vorsichtig meine Beute in die
Tasche stecken, als ich plötzlich eine derbe Ohrfeige bekam, so daß ich vor
Schrecken den Apfel fallen ließ. Junge! sagte zugleich eine Stimme,
‚wie heißt das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß s das erstemal
ist, wo du deine Hand nach fremdem Gut ausstreckst; laß es zugleich
das letztemal sein!“ — Ich fühlte, daß ich ganz rot vor Scham ge—
worden war, und wagte kaum die Augen aufzuschlagen; doch sind mir
die Züge dieses Mannes ebenso unvergeßlich geblieben wie die Begebenheit
selbst. — Anfangs war ich in der Schule sehr zerstreut; immer tönten in
meinen Ohren die Worte wieder, die ich gehört hatte. Mein Herz war
so voll, ich hätte weinen mögen; am meisten aber blieben meine Gedanken
bei dem Schlusse stehen: Laß es zugleich das letztemal sein! Und ich
nahm mir fest vor: Ja, es soll gewiß das erste- und letztemal sein.
Aber auch lange nachher, wenn wir unsern Katechismus aufsagten und
der Lehrer fragte: Wie heißt das siebente Gebot?, erinnerte mich das
heftige Klopfen meines Herzens an jenen Morgen.
Als ich nach einigen Jahren die Schule verließ, kam ich zu einem
Handelsfreunde meines Vaters in Bremen aufs Kontor; von dort ging ich
später nach Südamerika. Es wird Sie nicht befremden, wenn ich sage, daß
die Versuchungen, andre zu übervorteilen und so seine Hand nach fremdem
Gute auszustrecken, für einen jungen Kaufmann nicht selten sind. Auch hier
blieben solche Versuchungen für mich nicht aus; aber sobald mir dergleichen
nahetrat, war es mir immer, als fühlte ich von neuem die Ohrfeige,
und die Worte ‚Laß es zugleich das letztemal sein!‘ halfen mir, alle der—
artigen Anträge zurückweisen. Seit 15 Monaten bin ich jetzt wieder in
meiner Vaterstadt, und mit innigem Danke gegen den Herrn darf ich sagen,
daß bei dem nicht unbedeutenden Vermögen, das ich mit herübergebracht
habe, gewiß kein Pfennig fremden oder unrechten Gutes ist.“
4. Der junge Mann hielt hier einen Augenblick inne, denn er war
durch seine Erzählung ersichtlich selbst sehr bewegt worden. Daun aber
ergriff er die Hand des Herrn Müller und sagte: „Erlauben Sie jetzt,
8
10 —
*
daß ich diese Hand, die mir eine solche Wohltat erwiesen hat, recht
dankbar drücken darf!“ — „Und erlauben Sie mir,“ entgegnete Herr
Müller, indem er mit Tränen im Auge ihn an sich zog, „daß ich den
Mann recht von Herzen liebhaben darf, der einer solchen Dankbarkeit
fähig ist, und der im späteren Leben so treu gehalten, was er als Knabe
gelobte.“ Oldenburger Volksbote.
27. Der Glasvogol.
1. „Nein, komm doch mal und siebl Die Nadel ist doch zu
schön! dieh doch, das ist ja ein Kleiner Vogel von Glas mit zwei
ldeinen, veißen Mügeln und zwei ganz vinzigen Punkten als Augen.
Was mag der kosten? Geb mal hin und erkundige dich!“ sagte
eins von den beiden zehn Jahr alten Schulmädehen, die vor dem
Schaufenster eines Nadelmachers sstanden, wo alle möglichen nied-
lichen Nppsachen ausgestellt varen. Das andré Krausköpfechen
hüpfte hinunter in den Keller und kam bald darauf mit dem Be—
scheide wieder: „Das Stück füntf Pfennig. Weibt du, das ist nicht
teuer; am Sonnabend werde ieh mir eine kaufen.“ „Ja, ieh auch!
Wer wohl zuerst die Nadel hat?“
Endlich rissen sich die beiden Ereundinnen von dem Schaufenster
los; Arm in Arm schlenderten sie nach Hause. An Esthers Haus-
tür wurde Abschied genommen. In drei Sprüngen war Esther die
Kuchentreppe hinauf und in den Korridor hinein, vo Mantel und
Schulsack angebhängt vurden. Nun begrübte sie den Kleinen, nied-
lichen Bruder; dann eilte sie zu ihrem Kanarienvogel, um ihm frischen
Jand und Putter zu geben, mit ihm zu spielen und sich die Krüm-—
chen von den Lippen picken zu lassen.
2 „Eöre, Estherchen,“ sagte die Mutter, „lauf mal zum
Nadelmacher und kaufeée mir ein Stück Band, zwei Briefe Steck-
nadeln zu Gardinen, einen Brief feine Stecknadeln und einen Brief
gemischte Nähnadeln! Hier ist Geld. Ich glaube, es wird gerado
stimmen.“
Im Nu war der Mantel wieder angezogen, das Geld in Esthers
Bõörse, und nun ging es im Drabe hin zum Laden. Ja, da stand
der Vogel noch und glänzte in der Sonne. „Ach, wie vinzig
llein ist er doch,“ dachte sie, „der könnte ja in einer Haselnub
liegen, wenn die lange Nadel nicht dran väre. Wenn ieh ihn
bekomme und die Nadel bricht ab, dann lege ich den Vogel in eine
leere Nub.“
3*
36—
Nun stand Esther vor dem Ladentisch, und da waren 12 bis 14
ähnliche kleine Vogelnadeln, alle in ein rotes Samtlissen gesteckt,
so recht, um zum Kaufen zu reizen. Hier war nun ein zu niedlicher,
hellroter Vogel mit weiben Flügeln, ein schwarzer mit hellblauen,
ein gelber mit braunen Hlügeln; alle hatten kleine, schwarze Punkte
als Augen.
„Mas ist gefällig?“ rief die unfreundliche Stimme der Verkäu—
ferin und weckte Esther auf aus ihrer Bewunderung. Nun verlangte
Esther ihre Nadeln und Bänder und gab alles Geld hin. Aber
wie merkwürdigl Genau fünf Pfennig bekam sie heraus, und Mutter
hatte doeh gesagt: „Es wird gerade stimmen.“ Das reichte für eine
Nadel. Das kleine Mädehen näherte sich der Dür, die Augen be—
stündig auf den hbellroten Vogel gehbeftet, und es war ihr, als ob eine
Stimme in ihr sagte: „Du gebst jetzt nach Hause! Du gebst jetzt
nach Hausel“ Aber eine andre Stimme sagte wieder: „Kauf die
Nadel! Kauf die Nadel!“
Der Vogel gleißte und glänzte. Esther wandte sieb um und
sagte leiss: „Darf ich um den bellroten Vogel bitten?“ Die mür—
rische Verkäuferin, die sieh schon wieder in die Geschichte vertieft
hatte, die sie las, als Esther kam, sah auf: „Welchen Vogel?“ —
„Den roten dal!“ — „Jawobl, bitte fünf Pfennigl“ — „Danke. Adieu!“ —
3. Kaum war das Kind auf der Strabe, so riß es das Papier
auf, in das die Nadel eingewickelt war. Nein, wie war die Nadel
reizgend! Psther hielt sies gegen die Sonne, um sie sich recht genau
besehen zu können. Aber war sie denn nun virklich glücklich, die
kleine Esther? die ging so langsam und bedächtig vorwärts, als ob
sie dureh etwas zurückgehalten würde. Warum hüpfte und tanzte
sie denn nieht wie kurz zuvor? Es war, als hätte sie Blei an den
Füßen. Langsamer und langsamer wurde ihr Gang, je näher sie
ihrem Hause Lam. Plötzlich, als ob sie etwas dazu zwänge, wandte
sie sich um, lief hurtig zum Laden zurück, öffnete entschlossen die
Pür und sagte ganz atemlos: „Ieh möchte gern die Nadel zurück—
bringen. Ieh möchte sie umtauschen.“
„Omtauschen? Wir tauschen solebe Kleinigkeiten nicht uml“
und damit las die Verkäuferin weiter.
„Ach, bitte! Ieh möchte doch so gern diese hbier umtauschen;
ich vill das Geld gern wiederhaben.“ Esthers Stimme z2itterte vor
Angst und Scham.
„Ach was, Unsinn! Wir haben mehr zu tun, als deine Nadel
umzutauschen oder zurüekzunehmen.“ Und die Verkäuferin las wieden.
—3 —2
Da stand nun die arme Sünderin mit verzweifelter Miene. Die
Verküuferin bekümmerte sich nicht mehr um sie. Zu sprechen wvagte
sgio nicht mehr, und doch vwollte sie nieht gehen; sie mubhte die fünf
Pfonnig zurück haben; sie vollte ihre Mutter, ihre einzige, liebe
Mutter nicht betrügen.
Die Verkuferin war ganz bei ihrer Geschichte. Da hörte sie
bin Weinen und sah auf. Da stand das kleine Mädehen noch mit
dem Taschentuch vor den Augen und vweinte, als sollte ihr das
Herz brechen.
„Aber ich denke, das dumme Gör ist fortl Was willst du hier
noen?
„Bitte, bitte, geben Sie mir die fünf Pfennig zuruek“, bat Esther
so flehentlich.
Hier sind sie; gib einmal die Nadel her, ich will sehen, ob sie
noch ganz ist.“
Der Vogel zeigte sich unversehrt, und sie varf der Kleinen die
fünk Pfennig auf den Tisch. In wenigen Minuten lief dann aber
auch PEsther — nein, sie flog, als väre sie selber ein kleiner Vogel,
nach Hause, die Preppen hinauf, hinein zu ihrer lieben, lieben Mutter.
Und sie mubßte ihre Mutter so heftig küssen, daß diese verwundert
fragte: „Was ist dir, bist du krank? Du bist doceh noch ein rechter
RKindskoptl Rlein-Esther sah so strahlend und glücklich aus, als
ob sie eine grobe Summe gefunden hätte. In Wirklichkeit var ihr
ja auch ein grober Schatz zuteil geworden. Hatte sie doch oft in
der Schule gelesen: „Wer sieh selbst überwindet, ist stärker als der,
der Städte gewinnt.“ Heute hatte sie ja einen groben Sieg über
gieh selbst gewonnen. Bald saß sie an der Wiege, nahm Brũder⸗
chens Hand in die ihre und sang ihm leise das Miegenlied, das er
am liebsten hatte. Da er schnell einschlief, zog Esther ihre Bücher
hervor und wartete ihres Brüderchens, vährend sie ihre Aufgaben
lernte.
4. Zu Tischl Auf den Zehen schlich Essther von der Wiege
durch die halb geöffnete Dür in die Ebstube. Der Vater saß schon
am Tische und atreckte ibr lächelnd die Hand entgegen: „Guten Tag,
mein bleines Mädehen; vwie fröhlich und vergnügt siehst du aus und
hast doeh den ganzen Vormittag in der Schule gesessen! „Ja, sie
ist auch ein gutes Mädchen?““, sagte die Mutter. „Nachher hat sie
für mieh Besorgungen gemacht, und dann hat sie fast drei viertel
Stunden drin an der Wiege gesessen bei ihrem bkleinen Bruder,“
— 38 —
Esther fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Hatte sie all dies
Lob verdient, sie, die ihre Mutter hatte hintergehen und um Geld
betrügen wollen? Wie sie innerlich beim Gedanken daran schauderte!
Als sie an demselben Nachmittag alle zusammen wie gewöhnlich
spazieren gingen, reichte ihr die Mutter fünf Pfennig hin und sagte:
„Diese fünk Pfennig sollsß du haben. Es sind dieselben, die du
heute zurückgebracht hast. Ieh sage blob: Kauf dir keine dübig⸗
keiten dafür; lieber kauf dir Bilder oder tu sie in die Sparkasse.“
„EHöre, Mütterchen, darf ich mir eine Nadel kaufen? Die kostet
fünf Pfennig und ist zu niedlich; du kannst es glauben.“ Das Blut
war ihr wieder in die Wangen gestiegen; aber die Mutter sah das nieht,
sondern sagte blob: „Meinetwegen! Das ist wenigstens besser als all
die Leckereien, die den Appetit nehmen und die Zähne verderben.“
Nun gab das wieder einen Sturmlauf zum Laden, und Esther
hüpfte hinein und dachte nicht mehr an das Vergangene. „Dartf ich
um den roten Glasvogel für fünf Pfennig bittend“
„MWas fällt dir ein!“ sagte die Verläuferin. „Heute vormittag
bringst du den Vogel zurück, und nun villst du ihn vieder Laufen d
Nein, daraus wird nichts; bei uns kriegst du äLeine Nadel mehr.“
Esther schlich betrübt und beschämt aus der Tür. —
5. Als ihre Mutter des Abends mit ihr betete und ihr den Gute-
nachtkub gab, schlang Esther ihre Arme um der Mutter Hals und er-
⸗ũhlte ihr weinend die ganze Geschichte von ihrer grobhen Sünde bis
zu ihrem groben Schmerz über die Unfreundlichkeit der Verkäuferin.
„Mein geliebtes Estherchen,“ sagte die Mutter und kübte ihre
Stirn, „danke Gott, dab du die eigene Lust überwunden hast. Drockne
deins Drünen. Morgen, wenn ieh ausgehe, Besorgungen zu machen,
lkaufe ieh dir den Glasvogel. Sehlaf nun in Gottes Namen, und
seine Engel mögen dich vor allem Bösen bewahren!“
Wie war doch heute abend das Rissen so weich, die Ruhbe so
süß, und wie sanft sehlief Klein-Osther! Aber sie schliet ja aueh
in Gottes Prieden.
Alfrida Baadsgaard. (Aus der Jugendzeit. Deutsch bearbeitet von Reinhold Gareis.)
28. Ertappt.
1. Ich war noch jung an Jahren — so erzählte einst ein ehrenwerter
Mann — und hatte noch ein gar geringes Einkommen. Einmal hatte ich
all mein Geld ausgegeben. Da mußte ich unvermutet eine Reise machen,
die ich wohl oder übel mit leerem Beutel antrat. Zum Glück traf ich
39 —
unterwegs mit einem alten Bekannten zusammen, der ein guter Freund
meines lieben, seligen Vaters gewesen war. Den bat ich um ein kleines
Darlehen und gab vor, ich hätte in der Eile meinen Beutel daheim ge—
lassen und keinen Pfennig Zehrgeld bei mir.
Freundlich lächelnd reichte mir der gute Alte ein großes Geld—
stück. Das ergriff ich hastig, zog — mein leeres Beutelchen aus der Tasche
und verbarg darin den wertvollen Schatz. Erstaunt beobachtete der alte
Mann mein Tun; dann aber sah er mich mit einem ernsten Blick an.
Ich fühlte, wie mir die Schamröte ins Antlitz stieg, und vermochte kein
Wort der Entschuldigung hervorzubringen.
2. „Daß du all dein Geld ausgegeben hast,“ sagte er endlich langsam
und nachdrücklich, „ist nichts Schändliches, obwohl ein junger Mensch
lernen muß, sich mit seinem Verdienste einzurichten, und ohne eigene oder
fremde Not nicht das letzte Geld ausgeben soll. Aber daß du eine Unwahr—
heit gesagt hast, das tut mir weh um deines guten Vaters willen. Der
würde so etwas nie getan haben.“
Niemals in meinem Leben habe ich mich so sehr geschämt wie in
jenem Augenblick. Seitdem habe ich wissentlich nie mehr ein unwahres
Wort gesprochen; aber es hat lange gedauert, bis der gute Alte wieder
volles Zutrauen zu mir gewann.
29. Sprichwörter zum 7. Gebote.
. Einmal gestohlen, allzgeit ein Dieb. — 2. Der Hehler
ist so schlimm wie der Stehler. — 3. Gefundenes verhohlen,
ist so gut wie gestohlen. — a. Böser Handel, wo der eine lacht
und der andre weint. — 5. Maß und Gewicht kommt vor Gottes
Gericht. 6. Unrecht Gut gedeihet nicht. 7. Treue Hand
geht durchs ganze Land. — 8. Besser arm in Ehren als reich
mit Schanden.
30. Der Wunschring.
1. Ein junger Bauer, mit dem es in der Wirtschaft nicht recht vor⸗
wärts gehen wollte, saß auf seinem Pfluge und ruhte einen Augenblick
aus, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Da kam eine alte
Hexe vorbeigeschlichen und rief ihm zu: „Was plagst du dich und bringst's
doch zu nichts? Geh zwei Tage lang geradeaus, bis du an eine große
— 40 —
Tanne kommst, die frei im Walde steht und alle andern Bäume über—
ragt. Wenn du sie umschlägst, ist dein Glück gemacht.“
Der Bauer ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm sein Beil und
machte sich auf den Weg. Nach zwei Tagen fand er die Tanne. Er ging
sofort daran, sie zu fällen, und in dem Augenblick, wo sie umstürzte und
mit Gewalt auf den Boden schlug, fiel aus ihrem höchsten Wipfel ein
Nest mit zwei Eiern heraus. Die Eier rollten auf den Boden, und wie
sie zerbrachen, kam aus dem einen ein junger Adler heraus, aus dem
andern fiel ein kleiner, goldener Ring. Der Adler wuchs zusehends, bis
er wohl halbe Manneshöhe hatte, schüttelte seine Flügel, als wollle er
sie probieren, erhob sich etwas über die Erde und rief dann: „Du hast
mich erlöst! Nimm zum Dank den Ring, der in dem andern Ei gewesen
ist! Es ist ein Wunschring. Wenn du ihn am Finger umdrehst und
dabei einen Wunsch aussprichst, wird er alsbald in Erfüllung gehen.
Aber es ist nur ein einziger Wunsch im Ringe. Ist der getan, so hat
der Ring alle weitere Kraft verloren und ist nur wie ein gewöhnlicher
Ring. Darum überlege dir wohl, was du dir wünschst, auf daß es
dich nicht nachher gereue!“ Darauf hob sich der Adler hoch in die Luft,
schwebte lange noch in großen Kreisen über dem Haupte des Bauern
und schoß dann wie ein Pfeil nach Morgen.
2. Der Bauer nahm den Ring, steckte ihn an den Finger und begab
sich auf den Heimweg. Als es Abend war, langte er in einer Stadt an.
Da stand ein Goldschmied im Laden und hatte viele köstliche Ringe feil.
Der Bauer zeigte ihm seinen Ring und fragte ihn, was er wohl wert
sei. „Einen Pappenstiel!“ versetzte der Goldschmied. Da lachte der
Bauer laut auf und erzählte ihm, daß es ein Wunschring sei und mehr
wert als alle Ringe zusammen, die jener feilhielte. Doch der Goldschmied
war ein falscher, ränkevoller Mann. Er lud den Bauern ein, über Nacht
bei ihm zu bleiben, und sagte: „Einen Mann wie dich mit solchem
Kleinod zu beherbergen, bringt Glück; bleibe bei mirl“ Er bewirtete ihn
aufs schönste mit Wein und glatten Worten, und als er nachts schlief,
zog er ihm unbemerkt den Ring vom Finger und steckte ihm statt dessen
einen ganz gleichen, gewöhnlichen Ring an.
8. Am nächsten Morgen konnte es der Goldschmied kaum erwarten,
daß der Bauer aufbräche. Er weckte ihn schon in der frühsten Morgen⸗
stunde und sprach: „Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Es ist
besser, wenn du dich früh aufmachst.“
Sobald der Bauer fort war, ging er eiligst in seine Stube, schloß
die Läden, damit niemand etwas sähe, riegelte dann auch noch die Tür
hinter sich zu, stellte sich mitten in die Stube, drehte den Ring um und rief:
„Ich will gleich hunderttausend Taler haben!“
Kaum hatte er dies ausgesprochen, so fing es an, Taler zu regnen,
harte, blanke Taler, als wenn es mit Mulden gösse, und die Taler
schlugen ihm auf Kopf, Schultern und Arme. Er fing an, kläglich zu
schreien, und wollte zur Tür springen; doch ehe er sie erreichen und auf—
riegeln konnte, stürzte er, am ganzen Leibe blutend, zu Boden. Aber das
Talerregnen nahm kein Ende, und bald brach von der Last die Diele
zusammen, und der Goldschmied mitsamt dem Gelde stürzte in den tiefen
Keller. Darauf regnete es immer weiter, bis die hunderttausend voll
waren, und zuletzt lag der Goldschmied tot im Keller und auf ihm das
viele Geld. Von dem Lärme kamen die Nachbarn herbeigeeilt, und als
sie den Goldschmied tot unter dem Gelde liegen fanden, sprachen sie: „Es
ist doch ein großes Unglück, wenn der Segen so knüppeldick kommt.“
Darauf kamen auch die Erben und teilten.
4. Unterdes ging der Bauer vergnügt nach Hause und zeigte seiner
Frau den Ring. „Nun kann es uns gar nicht fehlen, liebe Frau,“ sagte
er, „unser Glück ist gemacht. Wir wollen uns nur recht überlegen, was
wir uns wünschen wollen.“
Doch die Frau wußte gleich guten Rat. „Was meinst du,“ sagte
sie, „wenn wir uns noch etwas Acker wünschten? Wir haben gar so
wenig. Da reicht so ein Zwickel gerade zwischen unsre Äcker hinein; den
wollen wir uns wünschen.“
„Das wäre der Mühe wert!“ erwiderte der Mann. ‚Wenn wir ein
Jahr lang tüchtig arbeiten und etwas Glück haben, können wir ihn uns
vielleicht kaufen.“ Darauf arbeiteten Mann und Frau ein Jahr lang
mit aller Anstrengung, und bei der Ernte hatte es noch nie so geschüttet
wie diesmal, so daß sie sich den Zwickel kaufen konnten und noch ein
Stück Geld übrigblieb. „Siehst du!“ sagte der Mann, „wir haben den
Zwickel, und der Wunsch ist immer noch frei.“
Da meinte die Frau, es wäre wohl gut, wenn sie sich noch eine
Kuh wünschten und ein Pferd dazu. „Frau,“ entgegnete abermals der
Maͤnn, indem er mit dem übriggebliebenen Gelde in der Hosentasche
klapperte, ‚„was wollen wir wegen solch einer Lumperei unsern Wunsch
vergeben? Die Kuh und das Pferd kriegen wir auch so.“
Und richtig, nach abermals einem Jahre waren die Kuh und das
Pferd reichlich verdient. Da rieb sich der Mann vergnügt die Hände und
sagte: „Wieder ein Jahr den Wunsch gespart und doch alles bekommen,
was man sich wünscht. Was wir für ein Glück haben!“ Doch die Frau
redete ihrem Manne ernsthaft zu, endlich einmal an den Wunsch zu gehen.
— 42—
„Ich kenne dich gar nicht wieder“, versetzte sie ärgerlich. „Früher
hast du immer geklagt und dir alles mögliche gewünscht, und jetzt, wo
du's haben kannst, wie du's willst, plagst und schindest du dich, bist mit
allem zufrieden und läßt die schönsten Jahre vergehen. Kaiser, König,
Graf, ein großer, dicker Bauer könntest du sein, alle Truhen voll Geld
haben — und du kannst dich nicht entschließen, was du wählen
willst.“
„Laß doch dein ewiges Drängen und Treiben“, erwiderte der Bauer.
„Wir sind beide noch jung, und das Leben ist lang. Ein Wunsch ist nur
in dem Ringe, und der ist bald getan. Wer weiß, was uns noch einmal
zustößt, wo wir den Ring brauchen. Fehlt es uns denn an etwas? Sind
wir nicht, seit wir den Ring haben, schon so heraufgekommen, daß sich
alle Welt wundert? Also sei verständig! Du kannst dir ja mittlerweile
immer überlegen, was wir uns wünschen könnten.“
5. Damit hatte die Sache vorläufig ein Ende. Es war wirklich, als
wenn mit dem Ringe der Segen Gottes ins Haus gekommen wäre; denn
Scheuern und Kammern wurden von Jahr zu Jahr voller, und nach
mehreren Jahren war aus dem kleinen, armen Bauern ein großer, dicker
Bauer geworden, der den Tag über mit den Knechten arbeitele, als wollte
er die ganze Welt verdienen. Nach der Vesper aber saß er behäbig und
zufrieden vor der Haustür und ließ sich von den Leuten guten Abend
wünschen.
So verging Jahr um Jahr. Dann und wann, wenn sie ganz allein
waren und niemand es hörte, erinnerte zwar die Frau ihren Mann immer
noch an den Ring und machte ihm allerhand Vorschläge. Da er aber
jedesmal erwiderte, es habe noch vollauf Zeit, und das Beste falle einem
stets zuletzt ein, so tat sie es immer seltener, und zuletzt kam es kaum
noch vor, daß auch nur von dem Ringe gesprochen wurde. Der Bauer
selbst drehte zwar den Ring täglich wohl zwanzigmal am Finger und besah
ihn. Aber er hütete sich, einen Wunsch auszusprechen.
Dreißig und vierzig Jahre vergingen, und der Bauer und seine
Frau waren alt und schneeweiß geworden. Der Wunsch aber war noch
immer nicht getan. Da erwies ihnen Gott eine Gnade und ließ sie
beide in einer Nacht selig sterben.
Kinder und Kindeskinder standen um ihre beiden Särge und weinten.
Als eins von ihnen den Ring abziehen wollte, sagte der älteste Sohn:
„Laßt den Vater seinen Ring mit ins Grab nehmen. Er hat sein Lebtag
seine Heimlichkeit mit ihm gehabt. Es ist wohl ein liebes Andenken. Die
Mutter besah sich den Ring auch so oft; am Ende hat sie ihn dem Vater
in ihren jungen Tagen geschenkt.“
43 —
So wurde denn der alte Bauer mit dem Ringe begraben, der ein
Wunschring sein sollte und keiner war, der aber doch so viel Glück ins
Haus gebracht hatte, als ein Mensch sich nur wünschen kann.
Richard Leander (Wolkmann). (Träumereien an französischen Kaminen.)
31. Kannitverstan.
1. Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, Betrachtungen über den
Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu
werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn
in der Luft herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein
deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit
und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handels⸗
stadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen ge—
kommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen,
wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis nach Amsterdam
noch keins erblickt hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung dieses kost⸗
bare Gebäude, die Schornsteine auf dem Dache, die schönen Gesimse und die
hohen Fenster, größer als an des Vaters Hause daheim die Tür. Endlich
konnte er sich nicht enthalten, einen Vorübergehenden anzureden. „Guter
Freund,“ redete er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem
dies wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulpen, Sternenblumen
und Levkojen?“ — Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun
hatte und zum Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache verstand
wie der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und barsch:
„Kannitverstan!“ und schnurrte vorüber. Dies war ein holländisches
Wort oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch so viel
als: „Ich kann Euch nicht verstehen.“ Aber der gute Fremdling glaubte, es
sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das muß ein grund—
reicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte er und ging weiter.
2. Gass' aus Gass' ein, kam er endlich an den Meerbusen, der da heißt
Het Ei, oder auf deutsch das Msilon. Da stand nun Schiff an Schiff und
Mastbaum an Mastbaum, und er wußte anfänglich nicht, wie er es mit
seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten
genug zu sehen und zu betrachten. Endlich zog ein großes Schiff seine
Aufmerksamkeit auf sich, das vor kurzem aus Ostindien angelangt war und
jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze Reihen von Kisten und
Ballen auf- und nebeneinander am Lande. Noch immer wurden mehr
herausgewälzt, dazu Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer.
Als er aber lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine
Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das
Meer alle diese Waren ans Land bringe. „Kannitverstan!“ war die
Antwort. Da dachte er: Haha, schaut's da heraus? Kein Wunder! Wem das
Meer solche Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut solche Häuser in
die Welt stellen und solche Tulpen vor die Fenster in vergoldeten Scherben.
3. Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige Betrachtung
bei sich selbst an, was er für ein armer Mensch sei unter so viel reichen
Leuten in der Welt. Aber als er eben dachte: ‚Wenn ich's doch nur auch
einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat!‘ kam er um
eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte
Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und
traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein
langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar
um Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete
ein einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein wehmütiges Ge—
fühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht,
und er blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber
war. Doch machte er sich an den letzten vom Zuge, der eben in der Stille
ausrechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Zentner
um zehn Gulden aufschlüge, ergriff ihn sacht am Mantel und bat ihn treu—
herzig um Entschuldigung. „Das muß wohl auch ein guter Freund von
Euch gewesen sein,“ sagte er, „dem das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt
und nachdenklich mitgeht?“ „Kannitverstan!“ war die Antwort.
4. Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen aus den
Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz.
„Armer Kannitverstan!“ rief er aus, „was hast du nun von all deinem
Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid
und ein Leintuch und von all deinen schönen Blumen vielleicht einen Ros—
marin auf die kalte Brust oder eine Raute.“ Mit diesen Gedanken begleitete
er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten
Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der
holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt
als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er leichten
Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man
Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es
ihm einmal wieder schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt so
reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan
in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein
enges Grab. Zohann Peter Nebel. (Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes.)
32. Der Postillion.
1. Lieblich war die Maiennacht;
Silberwölklein flogen,
ob der holden Frühlingspracht
freudig hingezogen.
2. Schlummernd lagen Wies und Hain
jeder Pfad verlassen;
niemand als der Mondenschein
wachte auf der Straßen.
3. Leise nur das Lüftchen sprach,
und es zog gelinder
durch das stille Schlafgemach
all der Frühlingskinder.
4. Heimlich nur das Bächlein schlich,
denn der Blüten Träume
dufteten gar wonniglich
durch die stillen Räume.
5. Rauher war mein Postillion,
ließ die Geißel knallen,
über Berg und Tal davon
frisch sein Horn erschallen.
6. Und von flinken Rossen vier
scholl der Hufe Schlagen,
die durchs blühende Revier
trabten mit Behagen.
7. Wald und Flur im schnellen Zug
kaum gegrüßt — gemieden,
und vorbei wie Traumesflug
schwand der Dörfer Frieden.
8. Mitten in dem Maienglück
lag ein Kirchhof innen,
der den raschen Wanderblick
hielt zu ernstem Sinnen.
9. Hingelehnt an Bergesrand
war die bleiche Mauer,
und das Kreuzbild Gottes stand
hoch in stummer Trauer.
10. Schwager ritt auf seiner Bahn
stiller jeßt und trüber, —
und die Rosse hielt er an,
sah zum Kreuz hinüber:
46
11. „Halten muß hier Roß und Rad!
Mag's Euch nicht gefährden!
Drüben liegt mein Kamerad
in der kühlen Erden.
12 Ein gar herzlieber Gesell!
Herr, 's ist ewig schade!
Keiner blies das Horn so hell,
wie mein Kamerade.
13. Hier ich immer halten muß,
dem dort unterm Rasen
zum getreuen Brudergruß
sein Leiblied zu blasen.“
14. Und dem Kirchhof sandt' er zu
frohe Wandersänge,
daß es in die Grabesruh'
seinem Bruder dränge.
15. Und des Hornes heller Ton
klang vom Berge wider,
ob der tote Postillion
stimmt' in seine Lieder.
16. Weiter ging's durch Feld und Hag
mit verhängtem Zügel. —
Lang' mir noch im Ohre lag
jener Klang vom Hügel.
Nikolaus Lenau.
33. Der arme Musikant undl sein Kollege.
1. An einem schönen Sommertage war im Prater zu Wien ein
grobes PVest. Viel Volks strömte hinaus in die schönen Anlagen, und
vornehim und gering, jung und alt freute sich des schönen Dages.
Wo fröhliche Menschen sind, da hat auch der etwas zu hoffen,
der auf die Barmherzigkeit seiner glücklicheren Mitmenschen an—
gewiesen ist. So waren denn hier eine Menge Bettler, Orgelmänner
und Harfenmädchen, die ein paar Kreuzer zu verdienen suchten.
2. In Wien lebte damals ein Invalide, dem seine kleine Pension
zum Unterhalt nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht. Pr griff
daher zur Violine, die er von seinem Vater erlernt hatte, der ein
Böhme gewesen war. Er spielte unter einem alten Baum im Prater,
und seinen treuen Pudel hatte er so abgerichtet, dab er vor ihm sab
und den alten Hut im Maule hielt, in den die Leute die paar
Kreuzer warfen, die sie ihm geben vwollten.
Heute stand er auch da und fiedelte, und der Pudel sab vor
ihim mit dem Hute; aber die Leute gingen vorüber, und der Hut
blieb leer. Hätten ihn die Leute nur einmal angesehen, sie hätten
Barmherzigkeit mit ihmm haben müssen. Dünnes, weibes Haar deckte
kaum seinen Schudel, ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel war
sein Kleid. Gar manche Schlacht hatte er mitgekämpft, und fast jede
hatte ihm in einer Narbe einen Denkzettel angebhängt, bei dem für
das Verlieren keine Sorge nötig var. Nur drei Finger an der rechten
Hand hielten den Bogen. Eine RKartätschenkugel hatte die zwei
andern bei Aspern mitgenommen, und fast zu gleicher Zeit nahm
—e2
—
47 —
ihim eine gröbere Kugel das Bein weg. Und doch sahen heute die
fröhlichen Leute nicht auf ihn, und er hatte doch für den letzten
Kreuzer Saiten auf seine Violine gekauft und spielte mit aller Kraft
geine alten Märsche und Tänze. Trübe und traurig sah der alte
Mann auf die wogende Menschenmasse, auf die fröhlichen Gesichter,
auf die stolze Pracht ihres Putzes. Bei ibrem Lachen drang ein
Stachel in seine Seele; — heute abend mubte er hungern auf seinem
Strollager im Dachstübchen! Sein Pudel war besser daran; er fand
doch vielleicht auf dem Heimwege einen Knochen, an dem er seinen
Hunger stillen konnte.
3. Schon war's ziemlich spät am Nachmittag, und seine Hoffnung
war so nahe am Untergang wie die Sonne; denn schon kebrten die
Lustwandler zurüeck. Da legte sich ein recht tiefes Leid auf das
wetterharte, vernarbte Gesicht. Er ahnte nicht, dab nicht weit von
ihm ein stattlich gekleideter Herr stand, der ihm lange zuhörte und
ihn mit dem Ausdruck tiefken Mitleids betrachtete. — Als endlich
alles fruchtlos blieb und die müde Hand den Bogen nieht mehbr
führen konnte, auch sein Bein ihn Kaum mebhr trug, setzte er sich auf
einen Stein und stützte die Stirn in dié hoble Hand. Er weinte
heimlich, und die Erde saugte einige heimliche Pränen ein, undl die
sagt's nicht wieder.
Der Herr aber, der dort am Stamme der alten Linde lehnte,
hatte gesehen, wie die versftümmelté Hand die Drünen abwischte,
damit das Auge der Welt die Spuren nicht sähe. Es war, als
wenn die Dränen ihm wie siedend heibe DPropfen auf das Herz gefallen
wvüren, so rasch trat er herzu, reichte dem Alten ein Goldstück
und sagte: „Leiht mir Eure Geige ein Stündchen!“ Der Alte sah
voll Dankes den Herrn an, der mit der deutschen Sprache so holprig
umging wie er mit der Geige. Was er aber vwollte, verstand der
Invalide doch und reichte ihm seine Geige. Sie war nun so schlecht
nicht, nur der gewöhnliche Geiger kratzte so übel. Der Herr
stimmte sie glockenrein, stellte sich ganz nahe zu dem Invaliden und
sagteê: „Rollege, jetzt nehmt Ihr das Geld, und ieh spiele.“ — Und
nun fing er an zu spielen, dah der Alte seine Geige neugierig be—
trachtete und meinte, sie sei es gar nicht mehr; denn ihr Klang ging
wunderbar in die Seele, und die Töne rollten vie Perlen dabin.
Manchmal war's, als jubilierten Engelstimmen in der Geige, und
dann vwieder, als klagten Töne schweren Leides aus ihr heraus, die
das Herz so bewegten, daß die Augen feucht wurden.
48
Jetazt blieben die Leute stehen, sahen den stattlichen Herrn an
und horehten auf die wundervollen Löne. Jedermann sah's, der Herr
geigte für den Armen, aber niemand kannte ihn. Immer gröber
warcd cder Kreis der Zuhörer; selbst die Kutschen der Vornebhmen
hielten an, und was die Hauptsache war, jedermann sah ein, was
der kunstreiche Eremde beabsichtigte, und gab reichlich. Da fiel
Golcd und dilber in den Hut und auch Kupfer, je nachdem's die Leute
hatten und das Herz war. Der Pudel knurrte. War's Vergnügen oder
Arger? Er konnte den Hut nicht mehr halten, so schwer war er
geworden. „Macht ihn leer, Alter,“ riefen die Leute dem Invaliden
zu, „er wird noch einmal volll“ Der Alte tat's, und richtig! er mubte
ihn noch einmal leeren in seinen Sack, in den er die Violine zu stecken
pflegte. Der EFremde stand da mit leuchtenden Augen und spielte,
dab ein Bravo über das andre erscholl. Alle Welt war entzückt.
Endlliebh ging der Geiger in die prächtige Melodie des Liedes „Gott
erhalte Eranz den Kaiser!“ über. Alle Hüte und Mützen flogen von
den Köpfen; denn die österreicher liebten ihren edlen Kaiser Eranz
von ganzem Herzen, und er verdiente es auch. Allgemach wurde
der Volksjubel so grob, dabß plötzlich alle Leute das Lied sangen.
Der Geiger spielte in der gröbten Begeisterung, bis das Lied zu
Ende war; dann legte er rasch die Geige in des glücklichen Invaliden
Schob, und ehe der alte Mann ein Wort des Dankes sagen konnte,
war oer sort.
4. „Wer vwar das?“ rief das Volk.
Da trat ein Herr vor und sagte: „Ich kenne ihn sehr wohl; es
war der ausgezeichneteé Geiger Alexander Boucher, der hier seine
Kunst im Dienste der Barmberzigkeit übte. Labt uns aber auch sein
edles Beispiel nicht vergessen
Der Herr hielt seinen Hut hin, und aufs neue flogen Geldstücke
in den Hut des Herrn, der diesmal für den Invaliden einsammelte.
Alles gab, und als der Herr abermals das Geld in des Invaliden
Sack geschüttet hatte, rief er: „Boucher lebe hochl““
„Hoch! hoch! hoch!“ rief das Volk.
Und der Invalide faltete seine Hände und beteteé: „Herr, belohne
ihim du's reichlich!“
Und ich glaube, es gab an diesem Abend zwei Glückliche mehr
in Wien. Der eine var der Inyalide, der nun weithin seiner Not
enthoben war, und der andre var Boucher, dem sein Herz ein
Zeugnis gab, um das man ihn beneiden möchte.
W. O. von Horn Wilh. öxtell. (Die Spinnstube.)
— 9 —
34. Fürs Herzbluten.
1. Ich saß in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse. Ratteratt, ratte—
ratt, ratteratt! Mir gegenüber saß ein stiller, oft tieftraurig vor sich
hinblickender Mann, innig an ihn geschmiegt ein etwa vier Jahr altes,
liebliches Mägdlein mit großen, dunkeln Augen, aber blassem, schmerz⸗
haftem Antlitz Der Mann war, wie der Augenschein lehrte, des kranken
Kindes Vater. Er hielt seinen rechten Arm um die Kleine geschlungen
und drückte das von braunem Haar umflossene Köpfchen von Zeit zu Zeit
fest an sich, und wenn er ihr etwas sagte, so nannte er sie Marie.
In Northeim wurde unsre stille Gesellschaft noch durch drei Personen
vermehrt, zwei junge Wildlinge und deren Vater.
Frisch und fröhlich sprang der blondhaarige Knabe mit seinem
Schwesterchen herein, und ebenso munter kam der Vater ihnen nach. Das
war ein Lachen, Fragen und Schwatzen ohne Anfang und ohne Ende.
Doch vergaßen sie nicht, uns freundlich zu grüßen.
Wie aus dem Geplauder unsrer neuen Reisegenossen hervorging,
fuhren sie zum fernen Mütterchen zurück, das mit großer Sehnsucht ihrer
harrte. Die beiden Kinder freuten sich so sehr auf das bevorstehende
Wiedersehen, daß sie fast aus dem Häuschen gerieten. Wohl zwanzigmal
fragten sie wie aus einem Munde: ‚Vater, wieviel Stationen sind's noch
bis zum Mütterchen?“ Und der Vater wurde nicht müde, die Fragen
seiner Lieblinge immer wieder und wieder zu beantworten.
2. Plötzlich verstummte die kindliche Redseligkeit, und das ferne
Mütterchen schien für einen Augenblick vergessen. Der Vater hatte näm—
lich drei Apfelsinen hervorgeholt und begann nun lächelnd, mit einem
Taschenmesser die duftende Schale von dem saftstrotzenden Balle zu lösen.
Begierig nahmen die Kleinen ein Stück nach dem andern aus der Hand
des Valers und genossen die köstliche Frucht mit wonnevollem Behagen.
An sich selbst dachte der Vater nicht, auch nicht an das fremde, kranke
Mädchen, das gegenüber auf der Bank saß und in kindlicher Selbstver⸗
gessenheit mit dürstenden Blicken an den Apfelsinen hing.
Ich beobachtete die Kleine, wie sie ihre blassen, trockenen Lippen un—
bewußt aufeinander preßte, und fühlte es warm in meinem Herzen auf—
quellen. O, daß ich nicht auch eine Apfelsine in der Tasche hatte! Die
hätte ich der kleinen Kranken geschenkt fürs „Herzbluten“, wie meine
Mutter sagt, wenn sie einem Kinde, das in der Vesperstunde bei uns ein—
tritt, etwas darreicht.
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. U. Neubtg
— 80 —
Als der fremde Vater das Herzbluten seines Lieblings bemerkte, flog
ein schmerzliches Zucken über sein bekümmertes Gesicht. Er zog den Arm
inniger um die Kleine, flüsterte mit ihr, zeigte nach der grünen, wallenden
Flur draußen, nach den daraus hervorragenden Dächern der kleinen Dörfer,
nach den majestätisch emporsteigenden, waldumkränzten Bergen und nach
allem, was für das Auge eine Ablenkung bieten konnte.
3. Da erlebte ich eine herzliche Freude. Wie von einer himmlischen
Regung getrieben, stand der Junge plötzlich auf und reichte der kleinen
Marie ein Apfelsinenstück, indem er ihr bittend zunickte.
Marie zuckte zusammen, und eine rote Flamme huschte über ihre blasse
Wange. Sie fühlte sich überrascht, fühlte ihr Verlangen erraten und
verschloß eiligst ihre Seele.
Immer dringender wurde der Knabe; doch Marie ließ das Köpfchen
verschämt herabhängen und nahm die Apfelsine nicht.
Jetzt erst schien des Knaben Vater des fremden Mädchens gewahr
zu werden. Er klopfte dem Sohn auf die Schulter und sagte: „Brav,
Otto!“ und zu Marie gewandt, nötigte er in dem gleichen warmen Tone:
„Liebe Kleine, du darfst es schon nehmen. Ich habe noch viel mehr!“
Dabei schälte er auch schon wieder eine neue Apfelsine.
Doch erst, als Mariens Vater lächelnd sagte: „Na, nimm's nur,
Kind!“ nahm Marie die Apfelsine aus des freundlichen Knaben Hand,
indem sie ihm zugleich ihr rechtes Händchen gab und verschämt dankte.
In Ottos Augen aber stand mit leuchtenden Buchstaben geschrieben:
„Geben ist seliger als Nehmen!“
Von diesem allen war ich stummer Augenzeuge. Das kleine Vor—
kommnis rührte mich tief; ich sagte nichts, aber der kleine Blondkopf
hatte mir einen Stein vom Herzen genommen. Ich werde den kleinen
Burschen wohl kaum wiedersehen; ich habe ihn aber in mein Herz ge—
schlossen, und da wird er nicht vergessen werden.
Me inrich Sohnrey. (Die Landjugend.)
35. Gott segne dich, mein lieber Junge!
1. Der Vater sitzt am Studiertische, da darf ihn niemand stören.
Das wissen die Kinder, deshalb trippeln sie leise an der Stubentür vor⸗
über, flüstern auf dem Gange, und die Mutter hat heute nicht allzuoft
Ruhe zu gebieten.
Aber was ist denn nur in Hänschen gefahren? Er ist doch sonst
nicht ungehorsam. Da steht er vor des Vaters Tür; er hat die Klinke
in der Hand und sieht scheu um sich, ob keins der Geschwister in der
51 —
Nähe ist, ihn zu verraten. Aber der Vorplatz ist leer, also frisch gewagt!
Als die Tür sich öffnet, sieht der Vater seinen Ältesten fragend an.
„Was gibt es, Hans?“
„Vater, darf ich, darf ich kommen?“ Er fleht so dringlich; wer
kann da „nein“ sagen? — „Nun?“
„Vater,“ sagt er und dreht an den Knöpfen seines Jäckchens, zupft an
den Ärmeln und ist sehr verlegen, — „Vater, bitte, schenke mir eine Mark!“
„Eine Mark, mein Sohn, — wozu?“
Ja, sieh, das ist es gerade, was ich dir nicht sagen darf; freilich,“ —
stottert er verlegen — „ich dürfte ja wohl, aber ich möchte lieber nicht.“
Der Vater sieht Hans ernst an. Wohl ihm, er braucht die Augen
nicht niederzuschlagen. „Es ist zu nichts Bösem“, sagt er aufrichtig.
„Kann ich dir glauben, mein Kind?“ — „Ja, Vater, verlaß dich
drauf!“
Das Ende ist, daß Hans aus der Tür schlüpft, mit strahlenden
Augen nach seiner Mütze greift und eilig aus dem Hause läuft.
2. Gleich rechts um die Ecke wohnt ein Tischler; Hans und er sind
gute Freunde.
Sind sie fertig?“ ruft der Knabe atemlos, als er kaum in die Stube
tritt. Der Mann weiß schon, was er meint; denn er holt zwei kleine
Krücken hervor. Hans besieht sie und ist ganz fröhlich darüber. Wie
lange hat er diesen Augenblick ersehnt, wie lange daran gedacht — nun
ist er am Ziel! Freilich, er mußte doch zuletzt noch den Vater um Hilfe
bitten, denn das Ersparte langte nicht.
„Nun bringen wir sie aber gleich hin, Adam, willst du?“ — Ja,
Adam will und langt schon seinen Hut vom Nagel.
3. Diesmal ist's ein weiter Weg, ganz bis in die Vorstadt. Es geht
durch allerlei Straßen und Gassen, bis sie endlich auf einem halbdunkeln
Hofe stehen und Adam die Tür zu einer niedrigen Wohnung aufstößt.
Bunt geuug sieht es darin aus. In der einen Ecke eine Schuhmacher—
werkstatt, in der andern die Kocheinrichtung, ein Bett und allerlei Haus—
gerät. Die Kinder sind ausgegangen; nur eins sitzt dicht neben dem
Vater und sieht mit glänzenden Augen zu ihm auf. Das ist der acht⸗
jährige Friedrich. Wie blaß sein Gesicht, wie mager die Händchen sind,
und der kleine Rücken ist ganz krumm! Er kann auch nicht gehen und
sieht die grünen Bäume wie den Sonnenschein nur, wenn der Vater ihn
auf seinen Armen vor die Tür trägt. Aber ihm wird niemals die Zeit
lang; nur wenn sich die Geschwister zur Schule rüsten, wird ihm oft das
Herz so schwer. Ach, wenn ich doch mitdürfte! denkt er dann; er lernt
so leicht und gern.
3
Freilich kann der Vater auch so schön erzählen: von Daniel in der
Löwengrube, von dem jungen Joseph und noch vieles mehr; er liest auch
immer abends noch lange, um dem kranken Kinde die Schule zu ersetzen,
so gut er kann. Aber was ist das gegen alle Stunden dort! Ja, ihm
fehlt so viel, aber der Weg ist gar zu weit. „Wenn ich nur Geld hätte
zu einem Paar Krücken“, denkt oft der arme Schuster mit einem Seufzer.
Er hat's wohl auch diesem und jenem Nachbarn geklagt, aber die waren
ja selber arm und hatten auch ein Häuflein Kinder.
4. Da hat es sich eines Tages gefügt, daß Hans ein Paar hilfs—
bedürftige Stiefel brachte, den Kranken sah und des Vaters Klage zu
Herzen nahm. Darauf hat er sich mit Adam beraten; der will die Ärbel
umsonst liefern, aber das Holz muß Hans bestreiten, und nun steht er
heute mit hochklopfendem Herzen in der niederen Tür, hält seine Gabe
verlegen in der Hand und stottert errötend: „Da nimm sie!“ Denn er ist
noch ein Neuling im Geben, und das will auch gelernt sein. Deshalb
ist's gut, daß Adam dabei ist; der sagt dem Kleinen, wie er bald lernen
wird, mit den Krücken zu gehen, und daß er dann mit den Geschwistern
zur Schule wandern soll. Träumt er denn? Da sind ja die Krücken,
so leicht und zierlich! Der Kranke sieht sie an mit verwunderten Augen.
Dann aber leuchtet es wie ein rosiger Schimmer über das bleiche An⸗
gesicht, — der lange gehegte Wunsch geht in Erfüllung: er soll hinaus—
gehen zur Schule, alle liebgewonnenen Geschichten und viele neue dazu
dort hören und viel Gutes lernen! Sein Mund ist stumm; aber Hans
fühlt es lebendig, daß dieser Augenblick noch viel mehr kleiner Entbehrungen
wert ist, als er sie sich auferlegt hat.
5. Als nun nach Monaten Hans mit seinem Vater einmal Friedrich
begegnet, dieser glücklich auf seine Krücken weist und dem Hans dankbar
zunickt, da weiß der Vater, wo die dringlich erbetene Mark geblieben ist.
Er schaut seinen Sohn freundlich an und spricht: „Gott segne dich, mein
lieber Junge!“ Deutstcher Tugendfreund.
36. Das brave Mütterchen.
1. Es war im Winter, und das Eis stand. Da beschlossen die Be—
wohner der Stadt Husum in Schleswig, auf dem Eise ein großes Fest zu feiern.
Sie schlugen Zelte auf, und die ganze Stadt, alt und jung, versammelte
sich draußen. Die einen liefen Schlittschuh, die andern fuhren im Schlitten.
In den Zelten erscholl Musik; Tänzer und Tänzerinnen schwenkten sich
herum, und die Alten saßen an den Tischen und tranken eins. So verging
der ganze Tag, und der helle Mond stieg auf; aber der Jubel schien nun
erst recht anzufangen.
5
—
2
—
2. Nur ein altes Mütterchen war in der Stadt zurückgeblieben. Sie
war krank und gebrechlich und konnte ihre Füße nicht mehr gebrauchen.
Aber da ihr Häuschen auf dem Deiche stand, konnte sie von ihrem Bett
aus aufs Eis hinaussehen und sich die Freude betrachten. Wie es nun
gegen den Abend kam, da gewahrte sie, indem sie so auf die See hinaus—
sah, im Westen ein kleines, weißes Wölkchen, das eben an dem fernen
Horizont aufstieg. Gleich befiel sie eine unendliche Angst. Sie war in
früheren Tagen mit ihrem Manne zur See gewesen und verstand sich wohl
auf Wind und Wetter. Sie rechnete nach: In einer kleinen Stunde wird
die Flut da sein, dann ein Sturm losbrechen, und alle sind verloren!
Da rief und jammerte sie so laut, als sie konnte; aber niemand war in
ihrem Hause, und die Nachbarn waren alle auf dem Eise. Niemand hörte
sie. Immer größer ward unterdes die Wolke und allmählich immer
schwärzer; noch einige Minuten, und die Flut mußte da sein, der Sturm
losbrechen.
3. Da rafft sie all ihr bißchen Kraft zusammen und kriecht auf Händen
und Füßen aus dem Bette zum Ofen. Glücklich findet sie noch einen
Brand, schleudert ihn ins Stroh ihres Bettes und eilt, so schnell sie
kann, hinaus, sich in Sicherheit zu bringen. Das Häuschen stand nun
bald in hellen Flammen, und wie der Feuerschein vom Eise aus gesehen
ward, stürzte alles in wilder Hast dem Strande zu. Schon sprang der
Wind auf und fegte den Staub auf dem Eise vor ihnen her. Der
Himmel ward dunkel. Das Eis fing an zu knarren und zu schwanken.
Der Wind wuchs zum Sturme, und als die letzten den Fuß aufs Land
setzten, brach die Decke, und die Flut wogte an den Strand. So rettete
die arme Frau die ganze Stadt und gab ihr Hab und Gut dahin zu
deren Heil und Rettung.
37. Der kleine Friedensbote.
1. Ein Gerber und ein Bäcker waren einmal Nachbarn, und die gelbe
und die weiße Schürze vertrugen sich aufs beste. Wenn dem Gerber ein
Kind geboren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe. Wenn der Bäcker
in seinem Obstgarten an Stelle eines ausgedienten Invaliden eines Rekruten
bedurfte, ging der Gerber in seine Baumschule und hob das schönste
Bäumchen aus, das er darin hatte, eine Pflaume oder einen Apfel oder
eine Birne oder eine Kirsche, je nachdem es auf einen fetten oder magern
Platz gestellt werden sollte. Zu Ostern, zu Martini und am Heiligen Abend
*
kam die Bäckerin, die keine Kinder hatte, immer mit einem großen
Korbe zu den Nachbarsleuten herüber und teilte unter die kleinen Paten
aus, was ihr der Hase oder der gute Märtel oder gar das Christ—
kindlein selbst unter das schneeweiße Tüchlein gelegt hatte. Je mehr sich
die Kindlein über die reichen Spenden freuten, desto näher rückten sich
die Herzen der beiden Frauen.
2. Aber ihre Männer hatten jeder einen Hund, der Gerber als
Jagdliebhaber einen großen, braunen „Feldmann“ und der Bäcker einen
kleinen, schneeweißen „Mordax“. Beide meinten, die besten und schönsten
Tiere in ihrem Geschlechte zu haben. Da geschah es eines Tages, daß
der Mordax ein Kalbsknöchlein gegen den Feldmann verteidigte. Vom
Knurren kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker von seiner grünen
Bank vor dem Hause erheben konnte, lag sein Hündlein mit zermalmtem
Genick vor ihm, und der Feldmann lief mit dem eroberten Knochen und
mit eingezogenem Schweife davon.
Sehr ergrimmt und entrüstet warf der Herr des Ermordeten dem
Raubmörder einen gewaltigen Stein nach. Aber was half's? Die Hand—
granate flog nicht dem Hund an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch
das Fenster in die Stube. Ohne zu fragen, woher der Schuß gekommen
sei, riß der Gerber den zertrümmerten Fensterflügel auf und fing an zu
schimpfen. Der Nachbar mit der weißen Schürze blieb nichts schuldig;
ein Wort gab das andre, und aus Freunden wurden Feinde.
Der Bäcker verließ den Kampfplatz zuerst, aber nur, um seinen
Nachbarn bei Gericht zu belangen. Die Sonne ging über dem Zorne
der beiden Männer unter, und den Tag darauf wurden sie vor Gericht
geladen. Der Gerber wurde verurteilt, den totgebissenen Mordax mit
einem Reichstaler zu büßen. Der Bäcker mußte für den zertrümmerten
Fensterflügel nicht viel weniger bezahlen und sich mit seinem Widerpart
in die aufgelaufenen Gerichtskosten teilen.
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft
befestigt. Hinüber und herüber flog kein freundliches Wort mehr. Ging
die Gerberin ihren Weg links zur Kirche, so nahm die Nachbarin ihren
Weg rechts. Saß der Bäcker im Posthaus in der Stube beim Bier, so
nahm der Gerber seinen Platz im Nebenzimmer. Für die Kinder des
Gerbers gab weder der Osterhase noch der gute Märtel noch das Christ—
kind durch die Frau Patin mehr etwas ab.
3. So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten,
setzten sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch, um
ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade herauszog,
— 5 —
war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der neben
ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief sogleich: „Mutter,
einen Groschen, ich hole das Brot!“ Daun sagte er zum Vater: ‚„Heute
aber laufe ich nicht lange herum. Wenn es beim Torbäcker kein Brot
gibt, gehe ich wieder einmal zu dem Herrn Paten hinüber.“ Der Gerber
sagte nicht ja und nicht nein darauf und ließ den Knaben ziehen. Im
ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon alle ihre Käufer gefunden,
und Helm kam wieder zum Tore herein, laut singend, daß es die ganze
Gasse hören konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn Paten! Heut' geh' ich
zum Herrn Paten!“ Ungehalten über den argen Schreihals wollte der
Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster auf⸗
bringen konnte, war der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und
kehrte nach einigen Augenblicken — als Friedensbote wieder zurück.
Slatt des Olzweiges hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand
und rief, über die Schwelle in die Stube hereinstolpernd: „Der Herr
Pate läßt Vater und Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald
wiederkommen.“
Noch an dem nämlichen Abend wechselten die Nachbarsleute einige
freundliche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die weiße und die
gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen; am dritten zeigten
die Frauen einander die Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jahren
oft mit ihren Tränen über den unseligen Zwist der Männer den Faden
genetzt hatten.
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt
hatte; denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet schnell
in ein Nervenfieber und aus diesem nach wenigen lichten Augenblicken in
den Todesschlummer. Karl Stöber. Erzühlungen.)
38. Vom Wolf und Lämmlein.
Ein Wolf und ein Lämmlein kamen beide von ungefähr an einen
Bach, um zu trinken; der Wolf trank oben am Bache, das Lämmlein aber
fern unten. Da der Wolf des Lämmleins gewahr ward, lief er zu ihm
und sprach: „Warum trübst du mir das Wasser, daß ich nicht trinken
kann?“ VTas Lämmlein antwortete: „Wie kann ich dir 's Wasser trüben?
Trinkest du doch über mir und möchtest es mir wohl trüben.“ Der Wolf
sprach: „Wie? Fluchst du mir noch dazu?“ Das Lämmlein antwortete:
Ich sluche dir nicht. „Ja,“ sprach der Wolf, „dein Vater tat mir vor
sechs Monden auch ein solches.“ Das Lämmlein antwortete: „Bin ich doch
56 —
dazumal nicht geboren gewesen; wie soll ich meines Vaters entgelten?“
Der Wolf sprach: „Du hast mir aber meine Wiesen und Äcker abge—
naget und verderbet.“ Das Lämmlein antwortete: „Wie ist das möglich?
Hab' ich doch noch keine Zähne!“ — „Ei,“ sprach der Wolf, „und wenn
du gleich viel ausreden und schwatzen kannst, so muß ich dennoch heut'
zu fressen haben“, und er würgte das unschuldige Lümmlein und fraß es.
Lehre: Wer fromm sein will, der muß leiden; denn Gewalt geht
vor Recht.
Aus Asop. Verdentscht von D. Markin QUnther.
39. Der Kaiser am Rhein.
Heut' war der Kaiser bei uns am Rhein,
wir sahen ihn reiten im Sonnenschein,
meine kleinen drei Buben und ich.
Uns grüßte sein Auge mit leuchtendem Straul,
5 wir sehwenkten mit Tüchern und Blumen zumal,
meiĩne kleinen drei Buben und iceh.
Uns wurden vor Freuden die Hergen weĩt
bei des Kaiseors leuehtender Herrlichkeoit. —
Nun sehwand der Tag. — Im Dämmerschein
10 trot' ĩich lois noch einmal bei den Kindern ein.
Sie sehlummern, dioe Bäckoehben rosig und warm.
Der eine hält das Geweohr im Arm;
auf dem Kissen, das frisoh bezogen ist,
stoht mit Blaustift: „Reitender Polizist?.
15 Der 2weite hat den sSäbel zur Hand —
kannst ruhig sein, lieb Vaterland! —
„Ioh werde Generalfeldmarschall!“
rief der jüũngste laut in dem Jubel all;
nun liegt er so selig mũüde da —
20 dooh im Traum noch flüstern die Lippen: „Hurral
Im schweigendeon Garten sab ieh noch lang',
mir war um Deutschlands Zukunft nieht bang.
Viel tausond sSöhne, den meinen gleiceh,
träumen noceh stola von Kaiser und Reich
25 wio meine droi Buben und ichl
Ute Muellenbach.
40. Des deutschen Knaben Tischgebet.
Das war einmal ein dubeltagl
Bei Sedan fiel der grobe Schlag
Mac Mahon war ins Garn gegangen,
der Kaiser und sein Heer gesfangen.
5 Und bltzsehnell flog die Siegespost
am Draht nach sSüd und Nord und Ost.
Da gab's ein aqubeln obne Maben,
von Flaggen wogten alle Straßen.
Vieltausendstimmig scholl Hurral
10 Und waren noch Kanonen da,
so sehoß man aueh Viktoria.
Doch jedenfalls die Wacht am Rhein
ward angestimmt von groß und Llein,
denn aueh dureh der Unmünd'gen Mund
15 wird Gottes Lob von alters kund.
Und einer von den Kleinsten qungen,
der hat am laut'sten mitgesungen,
Die bunte Mũtze auf dem Ohr,
die Höslein flott im Ssstiefelrobr,
20 marschiert er wacker mit im Chor,
53
pbeteiligt sich den Morgen lang
an jedem Schrei und jedem Sansg,.
so wiehbtig nahm's der kleine Wicht,
als ging's ohn' iIhn entschieden nieht,
25 War so mit Leib und Sseel' dabei,
als ob er selbst die Rheinwacht sei,
hat drum den Glockenschlag vergessen
und kommt zu spät zum Mittagessen,
Mit heiben Wangen, rotem Kopk,
zo mit offner Brust, verwehtem Schopt
erscheint er endlich siegesmatt —
die andern waren halb schon satt —
grüßt obenbin, setzt sieh zu Tisch
und greift naeh seinem Lõffel friseh.
z35 dedoceh der biedre Vater spricht;
„Fritz, ungebetet ißt man nichtlt
58 —
Worauf mein Fritz vom Stuhbl ersteht,
die Hände faltet zum Gebet,
und weil sein Kopf noch stark zerstreut,
10 gibt's, wie der Geist ihm just gebeut,
spricht; „Lieber Gott, magst rubig sein,
fest stebt und treu die Wacht am Rheinl!
Amenm.“
Raxrl Gerok.
41. Aufopfernder Heldenmut eines branden—
burgischen doldaten.
1. Als der Grobe Kurfürst am 18. Juni 1675 bei Fehrbellin die
Schweden aufs Haupt geschlagen hatte, suchte er ihre durch diesen
glänzenden Sieg hervorgerufene Bestürzung zunächst zur Eroberung
des Herzogtums Pommern zu benutzen, dessen feste Städte gröbten-
teils noch in schwedischen Händen waren. Verschiedene Heeres-
abteilungen wurden gleichzeitig zur Eroberung dieser Plätze be—
stimmt. Der Generalleutnant v. Görtzke rückte in Ausführung
eines solchen Auftrages vor die Stadt Demmin, die eine starke
schwedische Besatzung hatte und durch einen festen Wall und einen
tiefen, moorigen Wassergraben geschützt war. Görtzke beschlob,
diese Feste womõglich dureh Überrumpelung zu nehmen, und hatte
eine stürmische, dunkle Nacht zur Ausführung dieses kühnen Vor-
habens auserseben. Fünfundzwanzig Dragoner, geführt von dem
Wachtmeister Jobst Bertram, waren freiwillig vorgetreten, um das
Unternebhmen zu wagen. Es kam darauf an, eine über den Graben
geschobene Planke zu überschreiten, den Wall zu erklettern, die
Torwache niederzumachen und den inzwischen drauben versammel-
ten Truppen die Tore zu öffnen.
2. Um elf Uhr abends führte Jobst Bertram in aller Stille seine
tapfern Fünfundzwanzig zu der Stelle, wo die Planke über den
Graben geschoben werden sollte. Die Schweden mubten, sollte
es gelingen, im Schlaf überfallen werden. TViefes, lautloses Schweigen
war daher die einzige Weisung, die jeder sich einzuprägen hatte.
Der alte Görtzke war selbst zugegen und gab das Zeichen zum
Hinüberschieben der Planke, was unentdeckt gelang. Der Wacht-
meister betrat sie zuerst und kam woblbehalten drüben an. Ihm
folgte in atemloser Stille einer naeh dem andern, bis auch der ein-
undzwanzigste die schmale Bahn betrat. Er mochte ungefähr bis
In die Mitle des Grabens gekommen sein — da hört man plötzlich
oin dumpfes Geräusch wie von einem scehweren Fall. Die Wasser
rauschen auf, die Planke klatscht zwei- bis dreimal auf den Wasser-
spiegel, dann ist alles still wie zuvor. Stumm und lautlos war
der Tapfere in den Tod gegangen; der Befehl, dessen er sich
angesichts eines schrecklichen Unterganges klar bewubt blieb, schlob
hi den Mund. Schweigend war er in die Tiefe des morastigen
Wassers gesunken, weil er wubte, dab ein Hilferuf, der lhm das
Leben gerettet, die Schweden alarmiert und das Gelingen des Wag-
nisses vereitelt hatte.
Nun konnte dieser traurige Unfall das Unternehmen nicht auf-
palten. Die letzten folgen und gelangen glücklich über die Planke;
Gõrtake eilt in das Lager zurũck, um an der Spitze der Seinigen sich
zum Eindringen bereit zu halten. Kaum sitzt er im Sattel, da knallen
Schüsse aus der Stadt. Der bekannte siegesruf „Hoch Branden-
burgl“ tönt durch die Nacht, die Tore fliegen auf, und jubelnd
dringen die Truppen in die durch jene tapfern Freiwilligen ihnen
geölfneten Straben. Nach kurzem, blutigem Gefechte sind die
Gchlaftrunkenen Schweden besiegt, niedergemacht, gefangen, und der
„Rote Adler“ flatteêrt von den Wãllen des eroberten Demmin.
3. Als am andern Morgen der General die fünfundzwanzig Frei-
willigen vortreten lassen wollte. konnten nur noch acht erscheinen.
Von den übrigen waren vier schwer verwundet, die andern, auch
der Wachtmeister, waren tot. Die Leiche des Ertrunkenen war im
unergründlichen Moore versunken; sein Vordermann wie sein Hinter-
mann waren geblieben, und so ist sein Name nie ermittelt worden.
Im Heere aber lebte die Tat des treuen Einundæwanzigsten noch lange
sort und wird auch in unserm Gedächtnis fortleben, wenn aueh
kein Kreuæ und kein Grabstein seinen Namen nennen. Ein schõnes
Soldatenlied aber singt von ihm:
„So starb ein brandenburg'scher Mann.
Wer nennt den, der ein Gleiches kann?
Den Tod ohn' Ruhm und ohn' Gewinn
nimmt sehlchter, brandenburg'scher Sinn
Als Pfeht für seinen Fürsten hin.“
Graf Rudolf von Kanithz. (Aus dem deutschen Soldatenleben.)
69 —
42. Gelübde.
1. Ich hab' mich ergeben
mit Herz und mit Hand
dir, Land voll Lieb' und Leben,
mein deutsches Vaterland.
2. Mein Herz ist entglommen,
dir treu zugewandt,
du Land der Frei'n und Frommen,
du herrlich Hermannsland!
3. Will halten und gläuben
an Gott fromm und frei!
Will, Vaterland, dir bleiben
auf ewig fest und treu!
4. Ach Gott, tu erheben
mein jung Herzensblut
zu frischem, freud'gem Leben
zu freiem, frommem Mut!
5. Laß Kraft mich erwerben
in Herz und in Hand,
zu leben und zu sterben
fürs heil'ge Vaterland!
Ferdinand Maßmann.
43. Deutscher Rat.
1. Vor allem eins, mein Kind: Sei treu und wahr!
Laß nie die Lüge deinen Mund entweihn!
Von alters her im deutschen Volke war
der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein.
2. Du bist ein deutsches Kind, so denke dran!
Noch bist du jung, noch ist es nicht so schwer.
Aus einem Knaben aber wird ein Mann; —
das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr.
3. Sprich „ja“ und „nein“, und dreh und deutle nicht!
Was du berichtest, sage kurz und schlicht!
Was du gelobest, sei dir höchste Pflicht!
Dein Wort sei heilig, drum verschwend es nicht!
4. Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran,
zuerst ein Zwerg, ein Riese hintennach;
doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an,
und eine Stimme ruft in dir: „Sei wach!“
5. Dann wach und kämpf! Es ist ein Feind bereit:
die Lüg' in dir, sie drohet dir Gefahr.
Kind! Deutsche kämpften tapfer allezeit;
du deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr!
Robert Reinick.
—EN )7qZz—
3. Aus dem Berufsleben.
44. Arbeit und Beruf im Sprichwort.
L. Es ist umsonst das Feld bestellt, wenn keins Fonne dazu
goheinet. — 2. Ein jeder tue, was er soll, so wird das Haus
des degens volll — 8. Wer Arbeit liebt und sparsam zehrt, der
gich in allor Welt ernährt. — 4. Fang deins Arbeit munter an,
go ist sie auoh sohon halb getan!
Volksmund.
45. Der beste Empfehlungsbrief.
Ein Kaufmann suchte durch eine Anzeige in einer Zeitung einen
Laufburschen. Es meldeten sich fünfzig Knaben. Der Kaufmann wählte
sehr rasch einen unter ihnen aus und verabschiedete die andern.
„Ich möchte wohl wissen,“ sagte ein Freund, ,warum du gerade diesen
Knaben bevorzugtest, der doch keinen einzigen Empfehlungsbrief hatte?“ —
„Du irrst,“ lautete die Antwort, „dieser Knabe hat viele Empfehlungen.
Er putzte seine Füße ab, ehe er ins Zimmer trat, und machte die Tür
zu; er ist daher sorgfältig. Er gab ohne Besinnen seinen Stuhl jenem
alten, lahmen Manne, was seine Herzensgüte und Aufmerksamkeit
zeigt. Er nahm seine Mütze ab, ehe er hereinkam, und antwortete auf
meine Fragen schnell und sicher; er ist also höflich und hat gute Sitten.
Er hob das Buch auf, das ich absichtlich auf den Boden gelegt hatte,
während alle übrigen es zur Seite stießen oder darüber stolperten. Er
wartete ruhig und drängte sich nicht heran, — ein gutes Zeugnis für
sein anständiges Benehmen. Ich bemerkte ferner, daß sein Rock gut
ausgebürstet und seine Hände und sein Gesicht rein waren.
Nennst du dies alles keinen Empfehlungsbrief? — Ich gebe mehr
darauf, was ich von einem Menschen weiß, nachdem ich ihn zehn Minuten
lang gesehen habe, als auf das, was in schön klingenden Empfehlungs—
briefen geschrieben steht.“ Magdeburgische beitung.
62
46. Meister Hämmerlein.
1. Wie Meister Hämmerlein Gemeindeschmied wurde.
1. Vor Jahren starb in einem preußischen Dorfe der Gemeindeschmied,
Jakob Horn. Im gewöhnlichen Leben hieß er nicht anders als Meister
Hämmerlein.
Meister Hämmerlein? Ei, warum denn Meister Hämmerlein?
Weil er die sonderbare Gewohnheit hatte, wo er ging und stand,
sein Hämmerlein und ein paar Nägel in der Tasche zu führen und an
allen Toren, Türen und Zäunen zu hämmern, wo er etwas los und
ledig fand; vielleicht auch, weil er über seinem Hämmerlein Gemeinde—
schmied des Dorfes geworden war.
Wie wäre denn das zugegangen?
Ganz natürlich, wie ihr sogleich hören sollt. Sein Vorgänger war
gestorben. Vier wackre Burschen hatten sich für den Dienst gemeldet
und dem und jenem allerlei versprochen. Meister Hämmerlein hatte sich
nicht gemeldet und nichts versprochen; er hämmerte bloß ein wenig an
einer Gartentür und erhielt dafür den Dienst.
Und bloß für ein bißchen Hämmern?
Bloß für ein bißchen Hämmern. An einer Gartentür nahe beim
Dorfe hing schon wochenlang ein Brett herab. Meister Hämmerlein kam
mit seinem Felleisen des Weges daher. Flugs langte er einen Nagel
und sein Hämmerlein aus der Tasche und nagelte das Brett fest. Das
sah der Dorfschulze. Ihm schien es sonderbar, daß der landfremde
Mensch das Brett nicht los sehen konnte, das doch selbst der Eigentümer
des Gartens wohl zwanzigmal so gesehen hatte, ohne es zu befestigen.
Er wollte ihn anreden; aber der Bursche war fort, ehe er ihm nahe
genug kam.
2. Ein paar Stunden darauf ging der Schulze in die Dorsschenke.
Sogleich fiel ihm der junge Mensch ins Gesicht. Der saß ganz allein
an einem Tischchen und verzehrte sein Abendbrot. „Ei, willkommen!“
rief der Schulze, „treffen wir uns hier, guter Freund?“ Der junge
Mensch stutzte, sah ihm steif ins Gesicht und wußte nicht, woher die Be—
kanntschaft kam. „Ist Er nicht der junge Wanderer,“ fragte der Schulze,
„der diesen Abend da draußen am Wege das Brett einer Gartentür fest—
gemacht hat?“ — „Ja, der bin ich!“ — „Nun gut, so kommt, Nachbar
Hans,“ sagte der Schulze zu dem Eigentümer des Gartens, der zufällig
auch zugegen war, „kommt und bedankt Euch bei dem wackern Fremd—
ling! Er hat im Vorbeigehen Eure zerbrochene Gartentür in Ordnung
gebracht.“ — Nachbar Hans schmunzelte, sagte seinen Dank und setzte sich
33 —
mit dem Schulzen zutraulich zu dem Fremdling, und alle Gäste lauschten
auf ihr Gespräch. Es betraf das Handwerk, die Wanderungen und Kund⸗
schaft desselben, und in allen erwachte der einmütige Wunsch, ihn zum
Gemeindeschmied zu bekommen.
Hämmerlein mußte bleiben, und da er schon am folgenden Morgen
einen Beweis von seiner Geschicklichkeit in der Vieharzneikunst und im
Beschlage gab, so war nur eine Stimme: „Dieser und kein andrer soll
Gemeindeschmied werden!“ Man schloß den Vertrag mit ihm ab, und
Meister Hämmerlein war unvermutet Schmiedemeister eines großen Dorfes,
das er wenige Stunden vorher auch nicht einmal dem Namen nach gekannt
hatte. Sage mir nun noch einer: „Wer ungebeten zur Arbeit geht, geht
ungedankt davon!“
2. Wie er die Fahrwege ausbesserte.
Zu seiner Besoldung gehörte unter anderm ein Grundstück, das er
alljährlich mit Kartoffeln oder Gemüsepflanzen bestellte. Als er den Acker
zum erstenmal in Augenschein nahm, bemerkte er auf dem Fahrwege ver—
schiedene Löcher, in welche die Wagen bald rechts, bald links schlugen.
„Warum füllt ihr doch die Löcher nicht mit Steinen aus?“ fragte
Meister Hämmerlein die Nachbarn, die ihm den Acker zeigten. — „Ja,“
sagten diese, „man kann immer vor andern Arbeiten nicht dazu kommen.“
Was lat aber Meister Hämmerlein? — So oft er auf seinen Acker
ging, las er von ferne schon Steine zusammen und schleppte deren oft
heide Arme voll bis zu den Löchern. Die Bauern lachten, daß er, der
selbst kein Gespann hielt, für andre den Weg besserte. Aber ohne sich
stören zu lassen, fuhr Meister Hämmerlein fort, jedesmal wenigstens ein
paar Steine auf dem Hin- und Herwege in die Löcher zu werfen, und in
etlichen Jahren waren sie ausgefüllt. — „Seht ihr's,“ sagte er nun,
„hätte jeder von euch, der leer die Straße fuhr, auf dem Wege die Steine
zusammengelesen, auf den Wagen geladen und in die Löcher geworfen,
so wäre der Weg mit leichter Mühe in einem Vierteljährchen eben geworden.“
3. Wie er für Obstbäume sorgte.
Des Sonntags machte er gewöhnlich ganz absichtlich gemeinnützige
Spaziergänge. Er suchte nämlich junge Bäumchen, die auf Gemeinde—
plätzen von selbst wuchsen oder dahin gepflanzt waren, und beschnitt sie.
Kai die Zeit, so okulierte oder pfropfte er die Wildlinge, und oft lief
eine ganze Gesellschaft junger Leute mit ihm, die unter seiner Anleitung
das Pfropfen und Okulieren erlernten. Bald war auf keinem Gemeinde⸗
rasen ein junges Bäumchen mehr zu finden, das nicht beschnitten, gerade—
gezogen und veredelt gewesen wäre. Fand er im Walde einen hübschen
64 —
Wildling, so verpflanzte er ihn ungebeten auf einen passenden Gemeinde—
platz, und nach Verlauf von fünfzehn bis achtzehn Jahren zog die Gemeinde⸗
kasse einen beträchtlichen Vorteil davon.
Johann Ferdinand Schlez. (Der Denkfreund.)
47. Die Geschichte von der Wunderlampo.
1. Beim Kaufmann in St. Kathrein ging's uns gut. Pr war kein
grober Kaufmann, aber Kerzen hatte er doch zur Auswahl. Bei
den Bauern oben in den steirischen Bergen aber wurden wir für die
langen Winterabende zumeist mit Spanlicht bedient. Das war ein
ehrliches, gesundes Licht, das sich gegen ein Kerzenlichtlein aus—
nahim wie eine rotwangige Bauerndirne gegen einen blassen, schwind-
süchtigen Studenten. Wenn vir aber bei solehen Unschlittschwänz-
lein, wovon zwölk auf ein Pfund gingen, den ganzen, langen Abend
nadeln sollten, da klagte mein guter Meister manchmal; aber die
Hausfrau antwortete: „Mein Model Giebform) ist nieht gröber“,
denn sie gob die Kerzen selber. „Den Docht nimm gröber“, riet
der Meister; aber da ging ihr zuviel Unschlitt drauf, weil es sich
schneller verzehrte. Beim Kaufmann jedoch brannten wir Achter
oder Sechser, das heißt solche Kerzen, wovon acht oder sechs ein
Pfund ausmachten. Die gaben freilich einen fürnebmen Schein,
wenn sie ordentlich „geschneuzt“ wurden; trotzdem besorgten vir alle
feineren Arbeiten beim lieben Tagesscheine.
2. Einmal nun im Advent, als vir beim Kaufmann arbeiteten,
Lehrte dieser spät abends aus der Stadt heim und sah uns um das
matte Kerzenlicht kauern und lugen. Er Llopfte den Schnee von
den Schuhen, blinzelte uns an und sagte: „Na, Schneider, heut' hab'
ich was heimgebracht für Duch!“ Und als die neuen Waren ausge-
packt wurden, da kam eine stattliche Ollampe zum Vorschein und
ein langes Robr aus Glas dazu und ein grüner Papierschirm und
ein Zwilchstreifen und ein feuchtes Päblein. „Was du alles für
Sachen hastl“ sagte der Meister. Das alles miteinander“, berichteto
der Kaufmann, „gehört zum neuen Lichte, das aus Amerika ge-
kommen ist; es brennt so hell wie der Tag, wirst es schon sehen.“
Er begann, die Lampe aus dem Pablein zu füllen und den Zwileh-—
streifen durch das wie eitel Gold glänzende Ding mit der eichel-
förmigen, geschlitzten Kapsel zu ziehen. Dann setzte er die Bestand-
teile zusammen, zündete das hervorstehende Ende des Dochtstreifens
an, stülpte das bauchige Glasrohr auf, daß wir meinten, so eng ums
65
Peuer müsse es zerspringen, — und nun sollten wir einmal sehen.
nd vwir sahen es. Es war ein trübes Licht, das mit seinem schwarzen,
gtinkenden Rauch alsogleich das Glasrolx schwärzte. Der Mann
uehte an dem feinen Schräublein den Docht weiter auf, da rauchte
noch mehr; er drehte ihn tiefer nieder, da wurde es finster, und
als wir toll zu lachen begannen, knurrte er wahrend seiner fieberhaft
hastigen Versuche: „Na, ir scheint, dieser Lampenhändler hat mich
sauber angeschmiertl Aber ich hab's ja gesehen in der Stadt, wie
das Zeug wunderschön brennt!“ „Versuchen wir's einmal“, meinte
mein Meister, „und tun das Glasröhrlein weg“, rib seine Finger aber
sogleich mit einem hellen Aufschrei davon. Als nun das Glas mit
einem Lappen entfernt war, brannte die Plamme noch trüber, und
das Rerzenlicht daneben zuekte nieht ohne Schadenfreude bin und
her. Nachdem vir mit der neuen Lampe noch allerlei versucht
hatten und die Stube endlich voll Rauch und Gestank geworden war,
schalt der Hausherr diese höllische Flamme und blies sie aus. Die
Korze brannte mit stiller Würde fort, und der Meister sagte: „Ja,
ja, dio Ganzgescheiten heutzutag', die alten Leut' sind auch Leine
Esel gewesen.“
„Was ist denn das für ein õl, das Petroleum?“ fragte jetat der
Geselle. „Das soll aus der Erde herausrinnen“, erklärte der Kauf-
mann. „Ja so,“ rief der Geselle, „nachher vird's freilich das helle
Wasser vein.“ „Jei mir still, ich will nichts mehr hören davon“,
sagte jener und stellte die so vornehme und doch so untaugliche
Lampe in den Ninkel.
3. Nun vergingen zwei DTage. Da kam ein Peiertag, und der
Meister und der Hausherr gingen frühmorgens in die Kirche. Ieh
saß allein bei der Kerze und schneiderte; nur eine war im Hause,
die vorhin die Kühe gemolken hatte und sich dann an meinen Lisch
getzte, um an ihr Christtagskleid ein gehleiflein zu nãhen. Da wollten
ie noch einmal versuchen mit der neuen Lampe. Wir stellten
das Ding mitten auf den Lisch, zündeten es an und stülpten das
Glas darüber; aber es war dasselbe trübe, rubige Licht wie das erste-
mal. Ieh drehte sie höher und tiefer und zuletzt so tief, daß der
Docht ganz in die eichelförmige Hulse zurückging, und jetzt ward's
licht. Aus der Spalte strahlte eine breite, blendend weibe, rauch-
lose Flamme hervor; wir erschraken vor dem hellen Scheine, der auf
PTisch und Wand und unsern Gesichtern lag. So sind wir dem Ge-
heimnis der Wunderlampe auf die Spur gekommen. Als die beiden
Alten aus der Kirche zurückkehrten und in der Stube die lichte
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubtg.
5
66 —
Herrlichkeit sahen, rief der Hausherr freudig aus: „Da haben wir's
jal Wer hat's denn zuweg' gebracht?“ Noch einmal ist die Kerze
neben der neuen Lampe angezündet worden; ach, wie armselig, wie
totenblab! „Sehäm dich!“ rief der Meister und blies sie undankshbar
aus. Ich wübte keine Neuerung, die beim Landvolke so rasch Ein-
gang gefunden hätte als vor fünfzig Jahren die Petroleumlampe.
Veter Rosegger. (Von Daheim.)
48. Die Erfindung der Uhren.
1. Es war zu Anfang des neunten Jahrhunderts, als der Franken—
könig und römische Kaiser Karl der Große ausländischen Besuch erhielt.
Eine Gesandtschaft von braunen, kostbar gekleideten Arabern war es, die
im Auftrag ihres mächtigen Kalifen Harun al Raschid dem berühmten
christlichen Herrscher wertvolle Geschenke überreichte. Da gab es allerhand
Schönes zu bewundern: edle Pferde und kostbare Hunde, künstliche Gewebe
und goldenen, fein gearbeiteten Schmuck; was aber die fränkischen Großen
am meisten anstaunten, das war eine Wasseruhr. Sie bestand aus feiner,
mit Gold eingelegter Bronze, zeigte die Stunden auf einem Zifferblatt
und schlug dieselben an, indem sie jedesmal so viel Kugeln, wie die Zeit war,
in ein Metallbecken fallen ließ. Nach jedem Stundenschlag öffneten sich
zwölf Türen; aus jeder kam ein geharnischtes Reiterlein heraus, machte
einige Schwenkungen und verschwand wieder. Starr und stumm standen die
Frankengrafen und die Herzöge vor diesem Wunderwerk und schüttelten dann
den Kopf. So etwas hatten sie noch niemals gesehen, und weil die Leute da—
mals an Zauberei glaubten, wenn ihnen etwas unbegreiflich vorkam, so
betrachteten auch sie die Araber mit argwöhnischen Blicken. Diese aber lächelten
ein wenig spöttisch über die dummen Franken, und nur einer von ihnen,
ein alter Weißbart, der als Arzt die Gesandtschaft begleitete, suchte den
Kriegern die Kunst der Wasseruhr zu erklären. Er erzählte, daß schon in
alten Zeiten, als es noch ein assyrisches Königreich gab, dort eine Wasseruhr
erfunden wurde, und daß diese Erfindung immer weiter verbessert worden sei.
2. „Was habt ihr denn für Uhren?“ so fragte er einen ihm miß—
trauisch zuhörenden Frankenherzog, und dieser deutete mit der Hand auf die
Sonne.
„Ganz recht“, sagte der alte Arzt. „Wir kennen auch die Sonnenuhren;
schon die alten Ägypter hatten sie, und sie geben den Stand der Sonne am
Tage sehr gut an. Wenn es nun aber einmal regnet — und in euerm
kalten Norden tut es das viel —, oder wenn die Nacht kommt und die
Sonne verschwindet, was macht ihr dann?“
—
„Dann schlafe ich,“ erwiderte der Herzog, „und einer meiner Leute
wacht. Er muß jede Stunde die Sanduhr umkehren, oder wo es keine Sand⸗
uhr gibt, da wird ein Junge hingesetzt, der ganz langsam eine bestimmte
Anzahl Steine aus einem Topf in den andern werfen muß. Das dauert
ungefähr eine Stunde, und er muß zehnmal von neuem anfangen. Dann
ist meistens die Nacht vorbei; im Sommer eher, im Winter später.“
„Und wenn der Bursche beim Steinwerfen und beim Sanduhrumdrehen
einschläft — was dann?“ „Dann erhält er Prügel!“ versicherte der Edle,
und der Araber strich seinen weißen Bart.
„Wo aber bleibt die Zeit, die er und du verloren?“
„Die Zeit?“ Der Franke machte ein erstauntes Gesicht. Was lag
ihm an der Zeit? Er war ein tapfrer Mann und schlug mutig sein Leben
für den Kaiser in die Schanze; was aber fragte er danach, ob er eine Stunde
früher oder später aufstand, ob er einen Regentag verschlief? Für ihn hatte
die Zeit noch gar keinen Wert.
3. Es sind die Völker des Morgenlandes gewesen, denen das Aus—
nutzen der Zeit am Herzen lag, die zuerst daran dachten, den Tag ein—
zuteilen. Ägyptische Priester erfanden die Sonnenuhr. Bald aber wollten
sie auch des Nachts erfahren, wieviel es an der Zeit sei, und die Sanduhr
wurde erfunden. In Assyrien wurde die erste Wasseruhr zusammengestellt.
Statt des Sandes schüttete man Wasser in ein großes Gefäß mit winzig
kleiner Offnung, und langsam tropfte es in ein mit Zeichen versehenes Becken.
Wenn das Wasser bei dem ersten Zeichen anlangte, war eine Stunde ver—
gangen, bei dem zweiten die zweite usw. Sechs Stunden tropfte die
assyrische Wasseruhr; neben ihr stand ein Ausrufer, der anzeigte, wenn sechs
Stunden vergangen waren. Bald wurde diese Uhr von den Völkern des
Orients sehr verbessert. Aus Gold und Silber waren die Wasseruhren jener
Tage, und als der arabische Kalif an Karl den Großen jene berühmte Uhr
schickte, gab es nicht allein in Bagdad, sondern auch in Alexandrien, Kon—
stantinopel und Damaskus Künstler, die ähnliche Werke anfertigten.
w
¶ In Deutschland begnügte man sich aber noch lange Zeit mit der
gewöhnlichen Sanduhr und dem Sonnenzeiger. Wohl lebten in den stillen
Klöstern fleißige Mönche, die hin und wieder eine Uhr bauten; aber sie be⸗
hielten sie dann auch für sich.
Erst im elften Jahrhundert gab es in einigen Türmen Gewichts—
uhren, bei denen das Wasser abgeschafft und durch ein Gewicht mit einfachem
Räderwerk ersetzt wurde. Es wird berichtet, daß der Papst Sylvester II. im
Jahre 990 in Magdeburg eine Uhr mit Gewichten benutzt habe. Sicheres
weiß man hierüber nicht, nur dieses, daß um jene Zeit die Kunst, eine Uhr
mit Räderwerk und Gewichten herzustellen, in Deutschland nach und nach
Eingang fand. Im vierzehnten Jahrhundert hat ein Deutscher, Heinrich
von Wyk, für den französischen König Karl V. eine Uhr angefertigt, die nach
200 Jahren in der Bartholomäusnacht durch ihren dumpfen Schlag das Zeichen
zum Beginn der sogenannten Pariser Bluthochzeit gab. Vielleicht ist diese
Uhr die erste in Deutschland verfertigte Schlaguhr gewesen, die übrigens
bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegangen ist. Man sieht, es
ist bei uns nur langsam mit der Uhrenkunst vorwärts gegangen. Als die
deutschen Mechaniker aber erst selbst den Wert der Zeit einsahen und das
Volk mit ihnen, da brütete mancher kluge Kopf über dem Räderwerke der
Uhren, um diese immer vollkommener herzustellen. — Es gibt noch eine
alte Räderuhr im Germanischen Museum in Nürnberg, um 1400 gearbeitet,
die sehr gut erhalten ist. Sie befand sich früher im Turmgemache von
St. Sebaldus und diente dazu, den Türmer zu wecken. Turmuhren waren
etwas sehr Teures. Nur sehr reiche Städte entschlossen sich, Tausende von
Talern dafür auszugeben, und viele Menschen wünschten sich ihr ganzes Leben
lang eine Uhr, ohne sie zu erhalten.
Im fünfzehnten Jahrhundert waren die öffentlichen Turmuhren schon
sehr verbreitet, besonders in Italien und England. Deutsche Künstler ver—
vollkommneten diese nützliche Erfindung durch merkwürdige Zutaten, wie
z. B. die Bezeichnung des Laufes der Gestirne, der Festtage des Kalenders,
Glockenspiele usv. Ein großes derartiges Uhrwerk befindet sich im Straß—
burger Münster. Die erste Turmuhr dort stammte aus dem Jahre 1362.
Als sie den Dienst versagte, kam die astronomische Uhr von Isaak und Josias
Habrecht 1574 zur Aufstellung, und als auch dieses Werk seine Tätigkeit
dauernd eingestellt hatte, kam die von Schwilgué 1838—42 gebaute Uhr
in Gang. Außer mancherlei astronomischen Angaben beleben viele bewegliche
Figuren das Werk; so erscheinen z. B. die zwölf Apostel bei jedem vollen Stun—
denschlage; ein Hahn kräht mittags und schlägt mit den Flügeln, u. m. oögl.
5. Geschickte Mechaniker dachten darüber nach, ob sie nicht kleinere,
weniger kostspielige Uhren anfertigen könnten, und Peter Heinlein, ein
Nürnberger Schlosser, ist der erste gewesen, der um das Jahr 1500 ein
so kleines Uhrwerk erfand, daß man es bequem mit sich führen konnte.
Teuer waren die Nürnberger Eierlein, wie die Uhren genannt wurden, aller—
dings noch; aber man konnte sie doch kaufen und bei sich tragen. Fleißig
machten sich die Nürnberger „Orlemacher“ (von hora — Stunde) an die
Arbeit, und bald zogen die kostbaren Uhren in die ganze Welt hinaus, nicht
allein in Eierform, sondern auch als Kreuze, Armbänder, Spazierstockknöpfe,
als Ring- und Degenschmuck, und jeder, der nur etwas auf sich gab, wollte
ein Nürnberger Eilein besitzen.
69 —
Jetzt ist der Besitz einer Taschenuhr nichts Seltenes mehr. Außer
der Schweiz erzeugt vor allem Deutschland Taschen- und Wanduhren zu
den verschiedensten Preisen; im Schwarzwalde werden besonders Pendeluhren
und Regulatoren in großer Menge und sehr billig hergestellt, so daß die
Schwarzwälder Uhren in der ganzen Welt verbreitet und geschätzt sind.
Nach dem Deutschen Kinderfreund.
49. Wie eine Nũhmadel entstellt.
. Waos rostet eimne Nihnadel? Noch nicht einen Pfonnmig; denn
fur aehn Pfennig hauft mom ein Briefohen, dus ein Dudrend dieser
qãnaenden, aierlichen, s0 unentbehrlichen Werkaeuglen entlilt. Ind
vie leioht geht eine Nũmodel verloren Wor uolit nach ihre Sie
Lostet ja fust michts. Flugs eine andre vur Hamd Ber beroulirt eime
erbruuαν Nudel auf? Sie fliegt in den Lehriolit un vor;αννν.
Ligentlioh sollten wir vor dem Hleinen Rumstugerh aber moelr
Achlungq habon. Eine ganae Menge Geschichlichlet, Mun Gνν
haben Sioh vereinigt, um die Nũhmodel heræustellen. Durch eine große
Reihe von Hũnden umd Maschinen ist sie geluufen, bis sie fertig uv.
mendlich oft hat sie sioh durchquelschen umnd umrollen misson, his
gie re Spitue umd Gltte belommen hat. Es lohmt so, die En-
steluung emer Nadel in einer Fabri, wie wir Solohe in Derutsollund
besonders in Auchen umd Iserlohm finden, einmol vu beobαοναν.
2 Die Nadel wird aus Salldraht gemauolit, der s0 feim geaogen
ist, uie es die Stũrhe der Nadeln, die er liefoern soll, verlungt. Da
der Draht geroohnlich aum Verhanuf in leine Ringe gerollt or, wird
ar umü e Rad von fast 2 Meter Durohmesser geschlumgen.
Daduxch uird lhim die Slurse Bieguung genommen. PEinmne Drolitschmeide-
masclune sehneidet dann von dem abgehuspelton Drouht hurae Stiiche
von der doppellen Lunge der uανα Nadel ab. Diese Midlo
nheißen Sehaehte. Die immer noch etivus gehrimumton Schdohte miissen
volliq geradegeriohtet werden. Zu dem LZuveοαα οÚο οονο οòο
dicht um in eiserne Ringe gestecht, in Holpohlenfeuer sohnodol.
geluht und muiν ν Vutten, von denen enmoe bereglich ist, hin
unmd her gerollt.
Dann rutschen sie uuf einer schiefen Ebene in die Milamusoline,
deren Sonleifsteinm in der Mimute 1500 Omdrohumgen mucoht. Queiml
Mmũssen die Schachte am Schleifsteim vorbeirollen, denn sie vwerden
an beiden Enden mit Spituen versehen. Der abspruhende Scolileifstarudb
ist Selr gesundheitsschadlich, durum ist der Sehleifstein gona von
79 ——
enem Mamtel umhilltl Durch ein Saugqrohr wird daraus die Luft
entfernt und der Auub vwανναανr. Diese die Gesunmdhαt der
Arbeitoer sohituende Einrichlumg muß jede Nadelspilamuscline haben.
Doer mihsamste Teil der Arbeit Lommt aber erst. Die angespibeen
Sohachte werden nuũmlich in die Sampfmauschine gebraeht. Hier uird
der mitfloxe Loil αναν α αναννονα, s du die
Schachte dort breiter und diimmr uαrο. Eine neune uαν Sti
dann die Ohre aus. Nin lann mom Schon deutlion sehen, duß jeder
Schacht αν ννα lifανν αÊÚ. Die Nadeln hungen allerdings
noch mit den Köpfen uα m. Der dur dus Sumpfen entstundene
uberragende Ramd vwird uwααααννα n di Nadeln uαÊον ν-—
einonder gebrochen umd an den Ohren u eν 100 a h
nadelurtiq gebogenen Drault gereiht.
3. Die Nideln sind jetat fortiq, aber sie selion noch recht roh
unm hilich aus. Aumiohst wαÊαν dννν die Ropfο dανο A
sclhleifen poliert. Damnn musi die weiohe und biegsame Nadel hart und
elustisoh werden,; sio wν qαννν. m Hufohen von etu 1000öον—
vwerden nämlich die Nadeln au Eisenblechlufeln in Olihòfen rot-
lhα gαν aαοααν ν du in νο O geαοαν in dem
sie ihre Harbe erhalten. Je nachdem sie hraere oder lungere Leit
darim bleiben, laufen sie hellgelb, dumseælqelb oder bluus am.
Endlich werden die Nadeln im eimer Scheuerbans: umnter Anavendumq
von Schmirgel und Ruböl melirmols gescheuert und poliert.
Die fertigen Nihnadeln miissen gexhlt und verpact uwαÊον.
Das Zihlen geschieht auf Limedlen, die so viel Heime Querfurohen habenm,
als Nadeln jedesmol geachlt uwerden sollen. Mamn nimmt eine Hamdvoll
Nadeln und streicht sie s0 ber das Linedl, daß in jeder Purohe eine
Nadel liegen bleibt. Die sohadhafton und aerbrochenen wαο ν—
geschieden unmnd die brigbleibenden qulen im Nadelbriefohen verpacltt.
S hot die fertige Nadel 60070 Hände in fleisige Beegungq
gesetat, bis sie in inhrer volloendeten Gestalt herausgeht umd in alle
Velt eilt.
Walter UNohl. (Originalartikel.)
50. Die beiden Lluge.
1I. In einer Scheune laq versteclit
ein Pflug, sochon gana mit NRost bedecht;
orlagq vergessen un ννν
unm sα m Neid und stillem Orum,
uwν ν qν jαν Nah
sen Bruder heim vom helde ham.
71 —
2. Da frag er einst mit trubem Sinn
Me Lommts, daß ich so vostiꝗ bin,
mdes du glũnaest voller Praclhitꝰ
MVr sind von gleichem Sosf gemuohit. —
Mes Lommt, fragst duk! verselæte der,
mein Glana hommt von der Arbeit her.“
Janaz Friedrich Castelli.
51. Abendlied eines Bauersmanns.
1. Das schöne, große Taggestirne
vollendet seinen Lauf;
komm, wisch den Schweiß mir von der Stirne,
lieb Weib, und dann tisch auf!
2. Kannst hier nur auf der Erde decken,
hier unterm Apfelbaum;
da pflegt es abends gut zu schmecken
und ist am besten Raum.
3. Und rufe flugs die kleinen Gäste;
denn, hör, mich hungert's sehr!
Bring auch den Kleinsten aus dem Neste,
wenn er nicht schläft, mit her!
4. Es präsidiert bei unserm Mahle
der Mond, so silberrein,
und guckt von oben in die Schale
und tut den Segen drein.
5. Nun, Kinder, esset!
und Gott gesegn es euch!
Sieh, Mond! ich bin wohl zu beneiden,
bin glücklich und bin reich.
Eßt mit Freuden,
Matthias Claudius. (Gelürzt.)
72
B. Der Mensch und Gbtt.
52. Sonntag.
1. Der Sonntag ist gekommen, ein Sträußchen auf dem Hut.
Sein Aug' ist mild und heiter, er meint's mit allen gut.
2. Er steiget auf die Verge, er wandelt durch das Tal,
er ladet zum Gehete die Menschen allzumal.
3. Und wie in schönen Kleidern nun pranget jung und alt,
hat er für sie geschmücket die Flur und auch den Wald.
4. Und wie er allen Freude und Frieden bringt und Ruh',
so ruf auch du nun jedem: „Gott grüß dich!“ freundlich zu.
Heinrich Noffmann von Fallersleben.
53. Kindergottesdienst.
1. Es läuten zur Kirche die Glocken.
Die Eltern, sie gingen schon aus;
drei Kindlein in goldenen Locken,
die sitzen noch unter dem Haus.
2. Die muntern, unmüßigen Gäste
sind noch für die Kirche zu klein;
doch wollen am heiligen Feste
sie fromm wie die Alen schon sein.
73 —
3. Hat jedes ein Buch sich genommen
und hält es verkehrt auf dem Schoß;
draus singen die Schelme, die frommen,
mit schallender Stimme drauflos.
4. Weiß selber noch keins, was es singet,
singt jedes in anderem Ton.
Singt immer, ihr Kindlein, es dringet
auch so zu dem himmlischen Thron!
7. Singt immer, ihr singet im Glauben,
das ist ja dem Heiland genug.
Ein Herz ohne Falsch wie die Tauben
nimmt frühe gen Himmel den Flug.
5. Dort stehn eure Engel, die reinen,
und singen dem Vater der Welt,
der stets aus dem Munde der Kleinen
am liebsten sein Lob sich bestellt.
6. Singt immer! Dadrüben imGarten,
da singt's in die Wette mit euch.
Die Vögelein sind es, die zarten,
die zwitschern im jungen Gesträuch.
Karxl Gerok. (Geklürzt.)
54. Das Gewitter.
1. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
in dumpfer Stube beisammen sind.
Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
sitzt hinter dem Ofen im Pfühl. —
Wie wehen die Lüfte so schwül!
2. Das Kind spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Wie will ich spielen im grünen Hag,
wie will ich springen durch Tal und Höhn,
wie will ich pflücken viel Blumen schön;
dem Anger, dem bin ich hold!“ —
Hört ihrs, wie der Donner grollt?
3. Die Mutter spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Da halten wir alle fröhlich Gelag,
ich selber, ich rüste mein Feierkleid,
das Leben, es hat auch Lust nach Leid;
dann scheint die Sonne wie Gold!“ —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
4. Großmutter spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Großmutter hat keinen Feiertag.
Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,
das Leben ist Sorg' und viel Arbeit;
wohl dem, der tat, was er sollt'!“ —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
— 7
5. Urahne spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Am liebsten morgen ich sterben mag;
ich kann nicht singen und scherzen mehr,
ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
was tu' ich noch auf der Welt?“ —
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
6. Sie hören's nicht, sie sehen's nicht,
es flammet die Stube wie lauter Licht.
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
vom Strahl miteinander getroffen sind.
Vier Leben endet ein Schlagl —
Und morgen ist's Feiertag.
Gustav Schwab.
55. Sprichwörter vom Sonntage.
1. Ohne Sonntag kein Werktag 2. am Werktag
schaffe alle Dinge, am Sonntag nöre, bete und singel
3. Kirchengehen sãumet nicht. — 4. Was der Sonntag erwivrbt,
der Montag verdirbt.
Volksmund.
56. Du sollst den Feiertag heiligen!
1. Ein ehrlicher Grobschmiedegesell kam auf seiner Wanderschaft in eine
Werkstatt, wo es recht tapfer herging mit Hämmern und Feilen vom
frühen Morgen bis zum späten Abend. — Das war ihm eben recht,
denn er arbeitete gern. Als aber der Sonntag kam und das Hämmern
nicht aufhörte und keine andre Orgel zu hören war als der Blasebalg,
war es ihm nicht ganz recht; denn er wäre gern in die Kirche gegangen.
Aber der Meister wollte aus seinem Eisen alle Taschen voll Gold
schmieden und dachte: Warum soll mein Handwerk am Sonntag keinen
goldenen Boden haben?
2. Eine Weile hat sich's der Gesell gefallen lassen, weil er dem Meister
nicht wollte zuwider sein. Allein ohne den Sonntag schmeckte ihm das
Leben wie eine Wassersuppe, in der kein Salz ist. Also faßt er sich ein
Herz, geht zum Meister ins Haus und sagt: „Meister, ich kann ohne
Gottes Wort nicht länger bestehen, und wenn ich mich den Sonntag in
der Werkstatt abarbeite, bin ich die Woche nur ein halber Mensch; darum seid
so gut und gebt mir am Sonntag meine Freiheit!“ Der Meister sagt: „Nein,
das geht nicht an; denn du hast die Aufsicht in der Werkstatt, und außerdem,
wenn einer fortginge, könnten sie alle fortgehen, und dann stände das
Geschäft still. — „Aber ohne Gottes Wort verkomm' ich,“ sagte der
Gesell, „und es geht einmal nicht mehr. Ihr wißt, faul bin ich nicht,
und Euern Schaden will ich auch nicht; aber was nicht geht, das geht
nicht. Und wofür bin ich ein Christ, wenn ich keinen Sonntag habe?“
Dem Meister kam das wunderlich vor, und er hatte schon ein
Wort von Narrenpossen und dergleichen auf der Zunge. Wie er aber
dem ehrlichen Gesellen ins Gesicht sah, besann er sich und sagte: „Nun,
meinethalben, geh in die Kirche, soviel du willst. Aber eins beding' ich
mir aus: wenn viel zu tun ist, mußt du auch am Sonntag auf dem
Platze sein.“
3. Wer war froher als unser Gesell! Am nächsten Sonntag zieht
er seinen blauen Rock an, nimmt das Gesangbuch unter den Arm und
geht in die Kirche. Solch einen schönen Tag hat er lange nicht gehabt;
ihn hat die Predigt und der Gesang ganz aufgeweckt, und unser Grob—
schmied war so munter wie ein Vogel. Nun vergeht die Woche, und
als der Sonntag kommt, sagt der Meister: „Gesell, es ist viel zu tun;
heute mußt du in der Werkstatt sein“ — „Gut,“ sagt der Gesell, „wenn's
nicht anders sein kann.“ — Den nächsten Sonntag sagt der Meister wiederum:
„Es ist viel zu tun“, und so auch den dritten.
Als aber nach dem dritten Sonntag der Gesell den Wochenlohn
bekommt, siebzehn Mark und fünfzig Pfennig, wie es ihm zukam, da spricht
er: „Das ist zuviel!“ und schiebt zwei Mark und fünfzig Pfennig
zurück. „Warum?“ fragt der Meister, „es ist für die sieben Tage
Aber der Gesell spricht: „Nein, ich hab's mir bedacht, und für den Sonntag
nehme ich kein Geld mehr; denn der Sonntag ist nicht zum Geldverdienen
da, und wenn ich am Sonntag arbeite, so geschieht's Euch zuliebe, und
Geld will ich dafür nicht.“ Da sah der Meister den Gesellen groß an,
und seit dem Tage war die Schmiede jeden Sonntag verschlossen und
weder Hammer noch Blasebalg mehr zu hören.
Fliegende Blütter aus dem Rauhen Nanse.
*
—
—2
57. Gebet eines Kleinen Knaben an den heiligen
Mrist.
I. Du lieber, heil'ger, frommer Christ,
weil heute dein Geburtstag ist,
drum ist auf Erden weit und breit
bei allen Rindern frohe Zeit.
—76
2. O segne mich, ich bin noch klein,
o, mache mir das Herze rein,
o bade mir die Seele hell
in deinem reichen Himmelsquell!
3. Daß ich wie Engel Gottes sei,
in Demut und in Liebe treu,
daß ich dein bleibe für und für,
du heil'ger Christ, das schenke mir!
Ernst Moritz Arndt. (Gekürzt.)
58. Die heilige Nacht.
1. Stille Nacht! Seilige Nacht! 2. Stille Nacht! Zeilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht Zirten erst kundgemacht
nur das traute, hochheilige Paar. durch der Engel Zalleluja,
zZolder Knabe im lockigen Zaar, tönt es laut von fern und nah:
schlaf in himmlischer Kuh'! Christ, der Retter, ist da!
3. Stille Nacht! Zeilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
Cieb' aus deinem göttlichen Mund,
da uns schlägt die rettende Stund',
Christ, in deiner Geburt!
Joseph Mohr.
59. Die Weihnachtsbescherung.
1. VMenn das Jahr zu Ende geht, erscheint das fröhlichste
aller Feste. Das ist das Weihnachtsfest. Mit hellen Lichtern kommt
es um die Zeit, da der Tag sehr kurz und die Nacht sehr lang
ist. Der Winter regiert draußen, und auf den Feldern liegt Schnee.
Alle Bäume, die Blätter gehabt haben, stehen kahl da, wie abge-—
storben. Die Tanne aber hat ihre Nadeln behalten; sie allein ist
friseh und grün geblieben. Darum wird sie zum Weihnachtsbaume
gemacht.
2. Lange vorher freuen sich die Kinder schon auf Weihnachten,
lange vorher schon sorgen die Eltern dafür. Oft geht in den
Wochen vor dem Feste die Mutter aus und kehrt ins Haus zurück
mit Paketen und Schachteln. Aber sie zeigt nichts von dem, was
sie gekauft hat, sondern legt alles still in einen Schrank. Den
Schrank schliebt sie sorgfältig ab, damit niemand hineinsehe.
Jeden Tag zählen die Kinder, wie viele Tage es noch bis
zur Bescherung sind. Abends, ehe sie einschlafen, erzählen sie
einander, was sie sich wünschen, und wenn sie eingeschlafen
sind, trãaumen sie von Weihnachten. So kommt endlieh der Tag
der Bescherung heran und der Heilige Abend. Am Tage vorher
schon wurde ein kleiner Tannenbaum in das Haus hineingetragen.
Keiner hat das gesehen; aber auf dem Fubboden sind grüne
Nadeln gefunden worden, und ein abgebrochenes Zweiglein wurde
auch aufgehoben. Vom frühen Morgen an schon wird keins der
Kinder in das Zimmer hineingelassen, wo der Baum steht, und wo
zur Bescherung aufgebaut wird. Wie lang erscheint der Tag, der
doch wirklich so kurz ist; es will gar nicht dunkel werden! Nach-
dem es Abend geworden ist, wird die Ungeduld der Kinder sehr grob.
3. Endlich ertönt eine Glocke; die Tür der Weihnachtsstube
öffnet sich, und der Vater oder die Mutter ruft: „Jetzt könnt ihr
kommen!“ Nun kommen sie alle zusammen in das Zimmer. Da
bleiben sie zuerst ganz still steben, so blendet der Glanz sie. Auf
dem Tische steht der Tannenbaum, mit vielen Kerzen besteckt
und behängt mit Äpfeln und Nüssen, mit Ketten aus buntem Papier
und bunten Fähnchen und Silberfäden. Am hübschesten aber sind
doch die rotbäckigen Ipfel in dem Tannengrün anzusehen.
Nun getraut sich eins nach dem andern näher an den Tisch
heran. Da ist für jedes Kind ein Platz bestimmt, auf dem seine
Geschenke liegen. Schnell hat jedes seinen Platz gefunden. Jedes
freut sich über das, was ihm beschert ist. Wêr kann das alles
aufzahlen, was unter dem Weihnachtsbaume liegt? Da sind
hölzerne Tierchen für die Kleinsten und saubere Puppen. Da ist
auch der Baukasten, den Franz sich wünschte, und der Malkasten,
den Fritz so gern haben wollte. Herrliche Bilderbücher sind auch
da. Die gröberen aber finden auf ihren Plätzen belehrende Bũcher
und allerhand nützliche Sachen. Aueh die Dienstboten haben
ihren Tisch, auf dem sie ihren Kuchen finden und ein hübsches
Geschenk dazu. Und auch die Armen werden nicht vergessen.
Pin und das andre arme Rind aus der Nachbarschaft, das zur Be-
scherung bestellt ist, meldet sich. Wenn es sein Naschwerk be—
kommen hat und seine kleinen Geschenke, dann geht es mit glück-
lichem Gesichte fort. Zuerst geht es langsam, bald aber fängt es
an zu laufen. Es möchte gern recht bald zu Hause sein, um zu
zeigen, was es bekommen hat.
—E—
78
Von den Kindern im Hause ist jedes mit seinen Weihnachts-
geschenken beschäftigt. Die Tierchen werden aufgestellt, dié Puppen
werden in ihre Bettchen gelegt, dié Trommeln werden geschlagen
und die Trompeten geblasen. Auch die guten Dinge, die zu essen
sind, werden eifrig geprüft.
4. Da ruft die Mutter, die sich ans Klavier gesetzt hat, die
Kinder zu sich. In einer Reihe stellen sie sich auf und singen
mit ihr das Weihnachtslied:
Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all
zur Krippe her, kommet in Bethlehems Stall!
Das klingt durch das Haus so lieblich, und alle, die es hören,
werden froh. Sie denken der Engelsbotschaft, die den Hirten auf
dem Felde erklang, und der trostvollen Worte: „Ehre sei Gott in
der Höhe, Frieéde auf Erden und den Menschen ein Woblgefallen!“
Johannes Trofan. (Kinderlust.)
60. Der Tannenbaum.
1. Draußen im Walde.
n Draußen im Walde stand ein so niedlicher Tannenbaum; er hatte
einen guten, luftigen Platz, war freundlich von der Sonne beschienen, und
ringsumher wuchsen viele größere Kameraden, Tannen und Fichten. Der
kleine Tannenbaum wünschte aber so sehnlich größer zu werden!
Er dachte nicht an die warme Sonne und die frische Luft, er kümmerte
sich nicht um die Bauernkinder, die umhergingen und schwatzten, wenn sie
draußen waxen, um Erdbeeren oder Himbeeren zu suchen. Oft kamen sie mit
einem ganzen Näpfchen voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm
gezogen, dann setzten sie sich bei dem kleinen Baume nieder und sagten: „Nein,
wie niedlich klein er ist!“ Aber dies mochte der Baum gar nicht hören.
Nach einem Jahre war er einen langen Trieb größer, und wieder nach
einem Jahre war er um noch einen länger; denn bei einem Tannenbaume
kann man immer nach den Trieben, die er hat, sehen, wie viele Jahre er
gewachsen ist.
„O, wär' ich doch solch ein großer Baum wie die andern!“ seufzte
das Bäumchen, „dann könnte ich meine Zweige weit umherbreiten und mit
dem Wipfel in die weite Welt sehen! Dann würden die Vöglein Nester
zwischen meinen Zweigen bauen, und wenn es wehte, dann könnte ich mich
ebenso vornehm wie die andern verbeugen!“
Das Bäumchen hatte gar keine Freude am Sonnenschein, an den Vöglein
und den roten Wolken, die morgens und abends über ihm dahinsegelten.
79 —
War es nun Winter, und lag der Schnee funkelnd weiß umher, so kam oft
ein Hase gesprungen und setzte gerade über den kleinen Baum hinweg. O, das
war ärgerlich! — Aber zwei Winter vergingen, und im dritten war der Baum
so groß, daß der Hase um ihn herumgehen mußte. O wachsen, wachsen, groß und
alt werden! das, dachte der Baum, wäre doch das einzig Schöne in dieser Welt.
2. Im Spätherbst kamen Holzhauer und fällten einige der größten Bäume.
Das geschah alle Jahre, und den jungen Tannenbaum schauerte dabei; denn
die großen Bäume fielen mit Prasseln und Krachen zur Erde. Die Zweige
wurden ihnen abgehauen, so daß die Bäume ganz kahl aussahen; sie waren
fast nicht mehr zu erkennen. Aber dann wurden sie auf Wagen gelegt, und
Pferde zogen sie davon. Wo kamen sie hin?
Im Frühjahr, als die Schwalbe und der Storch geflogen kamen, fragte
sie der Baum: „Wißt ihr nicht, wohin sie geführt wurden? Seid ihr ihnen
nicht begegnet?“
Die Schwalbe wußte nichts; aber der Storch sah sehr nachdenklich aus,
nickte mit dem Kopf und sagte: „Ja, ich glaube fast! Mir begegneten viele
neue Schiffe, als ich aus Agypten flog. Auf den Schiffen waren prächtige
Mastbäume; ich glaube, daß sie es waren. Sie hatten Tannengeruch. Ich kann
vielmals grüßen; sie sahen stolz und prächtig aus und überragten alles.“
„O, wär' ich doch auch groß genug, um so über das Meer hinfahren
zu können! Wie sieht denn eigentlich das Meer aus?“
„Ach,“ sagte der Storch, „es ist zu umständlich, das zu erklären“, und ging fort.
„Freue dich deiner Jugend!“ sagten die Sonnenstrahlen, „freue dich
uüber deinen frischen Wuchs und über dein junges Leben!“
Und der Wind küßte den Baum, und der Tau weinte Tränen über
ihn; aber das alles verstand der Tannenbaum nicht.
3. Gegen Weihnachten wurden ganz junge Bäume gefällt. Sie waren
oft nicht einmal so groß wie dieser Tannenbaum, der weder Ruhe noch Rast
hatte, sondern immer davon wollte. Diese jungen Bäume — es waren gerade
die allerschönsten — behielten immer ihre Zweige; sie wurden auf Wagen
gelegt, und Pferde zogen sie fort.
„Wohin sollen die?“ fragte der Tannenbaum. „Sie sind nicht größer
als ich, ja einer war sogar noch kleiner! Weshalb behielten sie alle ihre
Zweige? Wohin fahren sie?“
„Wir wissen's, wir wissen's!“ zwitscherten die Sperlinge. „In der Stadt
haben wir in die Fenster gesehen! Wir wissen, wohin sie fahren. O, sie ge—
iangen zur größten Pracht und Herrlichkeit! Wir haben gesehen, daß sie
mitlen in die warme Stube gepflanzt und mit den herrlichsten Sachen, mit
vergoldeten Äpfeln, mit Honigkuchen, Spielzeug und vielen hundert Lichtern
geschmückt wurden!“
80 —
„Und dann?“ fragte der Tannenbaum und bebte an allen Zweigen,
„und dann? Was geschieht dann?“
„Ja, mehr haben wir nicht gesehen, es war unvergleichlich schön.“
„Ob auch mir das Los zufallen wird, diesen strahlenden Weg zu
gehen?“ jubelte das Bäumchen. „Das ist noch besser als über das Meer zu
gehen. Wie mich die Sehnsucht verzehrt! Wäre es doch erst Weihnachten!
Jetzt bin ich hoch und erwachsen wie die andern, die das letztemal fort—
geführt wurden. O, wäre ich erst auf dem Wagen! Wäre ich erst in der
warmen Stube mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit! Und dann ? Ja, dann
kommt etwas noch Besseres, noch Schöneres; weshalb würde man mich sonst
so ausschmücken! Da muß noch etwas Größeres, Herrlicheres kommen —! —
Aber was? O, mich verzehrt die Sehnsucht; ich weiß selbst nicht, wie mir
zumute ist!“
„Freue dich unser!“ sagten die Luft und das Sonnenlicht, „freue dich
deiner frischen Jugend draußen im Freien!“
Aber das Bäumchen freute sich gar nicht. Es wuchs und wuchs, Winter
und Sommer war es grün; dunkelgrün stand es da. Die Leute, die es
sahen, sagten: „Das ist ein hübscher Baum!“ und zur Weihnachtszeit wurde
er zuerst von allen gefällt! Die Art ging tief durch das Mark; der Baum
fiel mit einem Seufzer zu Boden. Er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht
und vermochte gar kein Glück zu empfinden. Er war betrübt, von der Heimat
zu scheiden, von dem Fleck, auf dem er emporgeschossen war. Er wußte ja,
daß er nie mehr die lieben, alten Kameraden, die kleinen Büsche und Blumen
ringsumher, ja vielleicht nicht einmal die Vögel sehen würde. Die Abreise
war durchaus nicht behaglich.
2. Unter dem Weihnachtsbaume.
1. Der Baum kam erst zu sich selbst, als er im Hofe mit den andern
Bäumen abgepackt wurde und einen Mann sagen hörte: „Der da ist prächtig,
wir brauchen nur den!“
Nun kamen zwei Diener in vollem Staat und trugen den Tannenbaum
in einen großen, herrlichen Saal. Rundherum an den Wänden hingen schöne
Bilder, und bei dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit
Löwen auf den Deckeln; dort waren Schaukelstühle, seidene Sofas, große
Tische voll Bilderbücher und Spielzeug für hundertmal hundert Reichsmark —
wenigstens sagten die Kinder es. Und der Tannenbaum wurde in einer
großen Tonne, die mit Sand angefüllt war, aufgerichtet. Aber niemand konnte
sehen, daß es eine Tonne war; denn grünes Tuch wurde rundherum gehängt,
und sie stand auf einem großen, bunten Teppich. O, wie der Baum zitterte!
EJ'O7*—
Was sollte geschehen? Sowohl die Diener wie die Fräulein putzten ihn.
An einen Zweig hängten sie kleine Netze aus farbigem Papier, jedes mit
Zuckerwerk gefüllt. Vergoldete Äpfel und Walnüsse hingen, als ob sie fest⸗
gewachsen wären, und über hundert rote, blaue und weiße Lichter wurden
zwischen die Zweige gesteckt. Puppen, die leibhaftig wie Menschen aus—
sahen, — der Baum hatte nie solche gesehen — schwebten in dem Grün,
und ganz oben im Gipfel wurde ein großer Stern von Flittergold befestigt;
es war prächtig, ganz unvergleichlich prächtig.
„Heute abend,“ sagten sie alle, „heute abend soll er strahlen!“
„O!“ dachte der Baum, „wäre es doch Wend! Würden nur die Lichter
bald angezündet, und was mag dann geschehen? Ob wohl die Bäume aus
dem Walde kommen und mich sehen? Ob wohl die Sperlinge gegen die
Scheiben fliegen? Ob ich hier wohl festwachse und Winter und Sommer
über geputzt stehen soll?“
2. Ja, er wußte gut Bescheid; aber er hatte vor lauter Sehnsucht ordent—
lich Schmerz in der Rinde, und dieser Schmerz ist für einen Baum ebenso
schlimm wie Kopfweh für uns Menschen. Nun wurden die Lichter angezündet.
Welcher Glanz! Welche Pracht! Der Baum zitterte dabei in allen Zweigen,
so daß eins der Lichter in dem Grün zündete; es brannte ordentlich. „Hilf,
Gott!“ riefen die Fräulein und löschten in Eile. Nun durfte der Baum
nicht einmal zittern. O, das war ein Grauen! Ihm war so bang, etwas
von all seinem Staate zu verlieren; er war ganz verwirrt von all dem
Glanze. — Und nun gingen beide Flügeltüren auf, und eine Menge Kinder
stürzten herein, als ob sie den Baum umwerfen wollten; die älteren Leute
folgten besonnen. Die Kleinen standen ganz still, — aber nur einen Augen⸗
blick, dann jubelten sie wieder, daß es hallte. Sie tanzten rund um den
Baum herum, und ein Geschenk nach dem andern wurde abgepflückt.
„Was machen sie?“ dachte der Baum. „Was soll geschehen?“ Und
die Lichter brannten bis an die Zweige nieder, und je nachdem sie nieder—
brannten, löschte man sie aus, und darauf erhielten die Kinder die Erlaubnis,
den Baum zu plündern. O, sie stürzten auf ihn ein, daß es in allen
Zweigen krachte! Wäre er nicht mit der Spitze an der Decke befestigt ge—
wesen, so hätten sie ihn sicher umgeworfen.
Die Kinder tanzten dann mit ihrem prächtigen Spielzeug herum.
Niemand sah nach dem Baume als die alte Kinderfrau, die zwischen die
Zweige blickte, aber nur, um zu sehen, ob nicht noch eine Feige oder ein
Apfel vergessen worden sei.
Hürts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. II. Neubtg
IL
—82 —
3. Christbäumchens Ende.
1. Am andern Morgen kamen die Diener und das Mädchen herein.
„Nun beginnt das Schmücken aufs neue!l“ dachte der Baum. Aber
sie schleppten ihn die Treppe hinauf auf den Boden und stellten ihn in
einen dunkeln Winkel. „Was soll das bedeuten?“ dachte der Baum; „was
soll ich hier wohl verrichten? Was werde ich hier wohl hören?“ Und
er lehnte sich an die Mauer, stand und dachte — — Und er hatte gute
Zeit, denn es vergingen Tage und Nächte; keiner kam hinauf, und als endlich
jemand kam, war's nur, um einige große Kasten in den Winkel zu stellen.
Der Baum stand ganz verborgen; man konnte glauben, daß er vergessen wäre.
Endlich eines Morgens kamen Leute und wirtschafteten auf dem Boden;
die Kasten wurden weggesetzt und der Baum hervorgezogen. Sie warfen ihn
freilich ziemlich hart hin, aber ein Diener schleppte ihn sogleich nach der
Treppe, wo es hell war.
„Nun beginnt das Leben wieder!“ dachte der Baum; er fühlte die frische
Luft, den ersten Sonnenstrahl, — und nun war er draußen auf dem Hofe.
Alles ging so geschwind. Der Baum vergaß ganz, auf sich selbst zu sehen;
es war so viel um ihn herum. Der Hof stieß an einen Garten, alles blühte
darin; die Rosen hingen so frisch und duftend über das kleine Geländer, die
Lindenbäume blühten, die Schwalben flogen und sagten: „Quirre⸗wirrewit,
mein Mann ist gekommen“, aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meinten.
2. „Nun soll ich leben!“ jubelte er und breitete seine Zweige weit aus;
ach, sie waren alle verwelkt und vergilbt. Im Winkel war's, zwischen Unkraut
und Nesseln, wo er lag. Der Goldpapierstern saß noch oben im Gipfel und
schimmerte im klaren Sonnenschein. Im Hofe selbst spielten ein paar der
lustigen Kinder, die zu Weihnachten um den Baum getanzt hatten und über
ihn so froh gewesen waren. Eins der kleinsten eilte hin und riß den Goldstern ab
„Sieh, was dort noch auf dem häßlichen alten Weihnachtsbaume sitzt!“
sagte der Knabe und trat auf die Zweige, so daß sie unter seinen Stiefeln krachten
Und der Baum sah auf all die Blumenpracht im Garten. Er sah auf
sich selbst und wünschte, daß er in seinem finstern Winkel auf dem Boden
geblieben wäre. Er dachte an seine frische Jugend im Wald und an den
lustigen Weihnachtsabend.
„Vorbei! vorbei!“ sagte der arme Baum. „Hätte ich mich doch gefreut,
als ich es konnte! Vorbei! vorbei!“
3. Der Knecht zerhieb den Baum in kleine Stücke, ein ganzer Haufen
lag dort; herrlich flammte das Holz unter dem großen Braukessel, und
es seufzte so tief, jeder Seufzer war ein kleiner Schuß. Deshalb liefen
die spielenden Kinder hinein, setzten sich vors Feuer, sahen hinein und
riefen: „Piff! paff!“ Aber bei jedem Knall, der ein Seufzer war, dachte
83 —
der Baum an einen Sommertag im Walde, an eine Winternacht draußen,
wenn die Sterne funkelten; er dachte an den Weihnachtsabend — und nun
war der Baum verbrannt.
Die Knaben spielten im Hofe, und der kleinste trug den Goldstern auf
der Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen hatte. Der
war vorbei, und mit dem Baume war es vorbei und mit der Geschichte auch;
vorbei, vorbei, und so geht es mit allen Geschichten!
Hans Christian Andersen. (Sämtliche Märchen.)
61. Uenjahrsgruß.
1. Sei uns willkommen, neues Jahr,
schau uns ins Auge licht und klar!
Sei uns gegrüßt im Friedensschein!
Blank ist die Schwelle — tritt herein!
2. Was du auch bringst, was du gewährst,
ob Leid du oder Glück bescherst.
ob Weh, ob Frende unser Los,
das ruht noch in der Tage Schoß.
3. Wir aber bringen frischen Mut,
gekrenes Wollen, reine Glut,
ein Herz voll Demut und Geduld,
voll Dank für Gottes Vaterhuld.
4. Drum, was du bringst, tritt
Willkommen sollst du uns sa sein.
Ein gütl'ger Gott hat dich gesandt:
Wir stehn in seiner Vaterhand.
fröhlich ein!
Julins Lohmeyer.
62. Ein neues Fest.
1. Der Winter ist vergangen,
es dünkt uns wie ein Traum
Die Schlüsselblumen prangen,
schon knospen Busch und Baum.
Verklungen sind die Lieder
der heil'gen Weihnachtszeit;
doch seht, schon ist uns wieder
ein neues Fest bereit!
2. Man feiert's nicht im Zimmer,
nein, auf der grünen Au,
nicht bei der Kerzen Schimmer,
nein, unterm Himmelsblau.
Des Christbaums dunkle Äste
sind hin mitsamt der Frucht;
nun wird im moos'gen Neste
das Osterei gesucht.
63*
84 —
3. Süß klang's in unsern Ohren
zur Winternacht so kalt:
„Der Heiland ist geboren,
des jauchze jung und alt!“
Nun tönt's in allen Landen
im Frühlingssonnenschein:
„Der Herr ist auferstanden,
des freut euch groß und klein!“
Karl Gerotß.
63. Pfingsten.
1. Des Frühlings Geist hat sich ergossen
und schmückt den Hain mit jungem Grün
und läßt die Saaten fröhlich sprossen
und bunte Blumen duftend blühn.
2. Das ist ein Jubeln und ein Singen,
als wär' der Himmel aufgetan
und könnte nichts den Lenz bezwingen
und nie ein Winter wieder nahn.
3. Wir aber falten still die Hände
und flehn, wie uns dein Wort verheißt:
Erbarme dich, o Herr, und sende
aus heilgen Höhn uns deinen Geist!
4. Laß spüren uns sein mächtges Wehen,
von seinen Flammen uns durchglühn,
daß unsre Herzen auferstehen
und dir zum Wohlgefallen blühn,
5. daß wir in deines Geistes Klarheit,
der deine Tiefen uns enthüllt,
anbeten dich in Geist und Wahrheit,
von deiner Gnade ganz erfüllt!
Julius Sturm.
64. Das VTischgebet.
An der Tafel im Gasthaus „Zum goldnen Stern“
waren beisammen viel reiche Herrn.
Vor ihnen standen aus Küch' und Keller
gar lieblich lockend die Flaschen und Teller.
Schon saßen sie da in plaudernden Gruppen,
die Kellner reichten die dampfenden Suppen.
Und mehr noch begannen Gemüs' und Braten
mit süßem Wohlgeruch zu laden.
Da kam zur Türe still herein
l0 ein Fremder mit seinem Töchterlein
und setzte sich unten am langen Tisch,
um auch zu kosten von Wein und Fisch.
Oben klrrten die Löffel und Messer,
klangen die Gläser, und scherzten die Esser. —
Da lönt auf einmal hell und fein
eine Stimme in den Lärm hinein,
wie wenn von fern ein Glöcklein klingt,
wie wenn im Wald ein Vogel singt.
Und wie auch der Strom der Rede rauscht,
still wird es rings, und jeder lauscht:
Der Krieger, der von den Schlachten erzählt,
der Kaufmann, der über die Zölle geschmält,
die Reisenden, die von Abenteuern
gesprochen und von Ungeheuern,
die Stuͤtzer, die von Pferd und Wagen
und Hunden und Moden so vieles sagen.
Und wie sie schauen nach dem Orte,
von woher dringen die lieblichen Worte:
mit gefalteten Händen das Mädchen steht
und spricht sein gewohntes Tischgebet.
Und, wie beseelt von höherem Geist,
falten auch sie die Hände zumeist
und horchen alle recht mit Fleiße
auf des betenden Kindes Weise.
Drauf setzt es sich nieder mit stiller Freude
und achtet nicht auf all die Leute.
Die aber, ergriffen im tiefsten Innern,
mußten sich oft noch daran erinnern,
und mancher hat wieder gebetet fortan,
d was er schon lange nicht mehr getan.
15
Friedrich Güll.
86 —
65. Die Macht des Gebets.
1. Das Schiff ,Kornelia“ befand sich auf einer Reise im Weltmeer
und war bereits weit von der amerikanischen Küste entfernt. Da brach
ein heftiger Sturm los, der fünf Tage lang anhielt und das Schiff in
solche Gefahr brachte, daß die Mannschaft sich fast für verloren ansah.
Gerade als das Unwetter am wütendsten tobte und das Schiff wie einen
Spielball haushoch hinauf und hinab schleuderte, kam oben am Haupt—
maste das Takelwerk in Unordnung, und der Schaden mußte zurechtgebracht
werden. Doch in dem Tumult des Sturmwindes auf den Mast zu
klettern, schien fast unmöglich; es war ein Wagstück auf Leben und Tod.
Der Steuermann befahl kurzweg einem Schiffsjungen, er solle hinauf.
Der war ein junger, zarter Bursche, kaum dreizehn Jahr alt, das einzige
Kind einer armen Witwe, die ihr Liebstes hatte in die Welt gehen lassen,
weil sie selber kaum satt zu essen hatte.
2. Als der Junge den Befehl vom Steuermann empfangen hatte,
blickte er hinauf nach der Spitze des Mastes und wieder hinab in die
schäumenden Wellen, die wie mit Ruten gepeitscht übers Verdeck schlugen
und nach ihm die Wasserarme ausstreckten. Er schwieg einen Augeublick;
darauf sagte er: „Ich komme gleich!“ und sprang übers Verdeck fort in
die Kajüte. Eine Minute verging, dann kehrte er zurück, und nun ging's
die Strickleitern hinauf, flink und entschlossen.
Der Mann, der diese Geschichte erzählt hat, stand unten am Maste,
und seine Blicke folgten dem Kinde, bis ihm schwindelte. Er fragte den
Steuermann: „Warum schickst du den hinauf? Er kommt nicht lebendig
herunter!“ — Der Steuermann antwortete: „Männer fallen, Jungen
stehen. Der klettert wie 'ne Eichkatze!“
Der andre sah wieder hinauf; noch stand der Junge. Jetzt hing er
am Mastkorb, jetzt stieg er weiter. Der Sturm raste und tauchte den
Mast fast in die Flut ein; der Junge hielt sich. — Iun einer Viertelstunde
war er unten, wohlbehalten und frisch, und lachte fröhlich. „Gott sei
gedankt!“ rief jener; vor Angst hatte das Herz ihm stille gestanden.
3. Denselben Tag noch suchte er den Jungen zu sprechen. Er fragte
ihn, ob ihm nicht bange gewesen sei. „Ja“, sagte der Junge. — „Ich merkte
es wohl,“ sagte der andre, „du hast es dir auch erst in der Kajüte bedacht.“
„Bedacht nicht,“ sprach jener, „ich wollte erst beten. Ich dachte: Herunter
komme ich nicht wieder lebendig; da habe ich beten müssen. Hernach war
ich nicht bange.“ — Der Mann fragte ihn, wo er das Beten gelernt habe.
— „Abs ich noch zu Hause war,“ sagte der Junge, „die Mutter hat es mich
gelehrt. Als ich fortging, sagte sie, ich solle es immer tun, damu Gon
mich vor Gefahren bewahre, und ich kann es auch nicht lassen.“
Johann MNnrich Wichern. (Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause.)
— 87 —
66. Wunderbrot.
1. An unsrer Gartenmauer, halb versteckt hinter hoher Dornenhecke,
liegt ein Häuschen, da wohnte einmal ein armer Schuhflicker. Wir nannten
ihn nur Peter-⸗Schuster. Seine Frau war gestorben und hatte ihn mit sechs
kleinen Kindern zurückgelassen. Durch solche tiefe Trübsal hatte ihn sein Weg
zu Gott geführt. Er war von Natur ein fröhlicher, zu allem guten Werk
im Haus und Handwerk und an den Kindern anstelliger und geschickter Mann;
er besorgte die Küche und die Wäsche, hielt das Haus rein und sauber und
pflanzte und besäte das Gürtchen. Vor allem aber zog er seine Kindlein auf in
der Zucht und Vermahnung zum Herrn, lehrte sie aufs Wort merken und beten.
2. Das Häuslein war nicht sein, er mußte dafür einen für seine Ver—
hältnisse recht hohen Mietzins zahlen. Nun geschah's einmal, daß der
Zinstag nahe herangekommen war, und dem armen Peter⸗Schuster fehlten
noch zwei ganze Taler an der halbjährlichen Miete, und zwar war's, streng
genommen, eine rückständige Zahlung, die ihm von seinem Vermieter ge—
stundet war, weil er im letzten Winter Krankheit unter seinen Kindern
und schlechten Verdienst gehabt hatte. Wenn er nun wieder nicht zahlen
konnte, das wußte er, dann ward ihm die Wohnung gekündigt.
Der Himmel draußen ist blau, die Vögel singen in den Zweigen,
die Reseden und Levkojen vorm Fenster duften und blühen, das Fenster
steht offen, und drinnen am Tisch auf dem Schusterbock sitzt Peter und
hat einen aufgeplatzten Stiefel unter den Händen. Aber der Hammer ruht,
uͤnd seine träumerischen Augen blicken ins Blaue. Doch sieht er eigentlich
nichts von dem, was draußen ist, er sieht nach innen; auch hört er nicht
die lustigen Stimmen draußen, er horcht auf eine andre Stimme. Sein
siebenjähriges Söhnlein, das Peterle, hat ihm die Geschichte vom Elias
erzählt und von den brottragenden Raben, und der Mann denkt nun nach,
ob denn der alte Gott nicht auch ihm helfen sollte.
3. Da schmettert im Strauche draußen eine sehr helle Stimme, ganz
verschieden von den andern, und alsbald kommt ins offene Fenster ein
gelbes Vöglein geflogen. Das setzt sich dem Peter auf den kahlen Schädel
und zwitschert munter, und als der die Hand nach ihm ausstreckt, da läßt
es sich greifen und ist ganz zahm und zutraulich. — Selbiges Tages steht
im Blatte zu lesen von einem entflogenen Kanarienvogel, der der Frau
Bürgermeister in der nahen Stadt gehört, und es werden zwei Taler
ausgeboten dem, der ihn wiederbringt. Da sind dem Peter⸗Schuster ganz
neue Gedanken aufgegangen, und er hats mit Händefalten bekannt: Ob
die Vögel rabenschwarz oder kanariengelb, ob sie Brot oder den Mietzins
bringen, Wundervögel sind's doch und — Wunderbrot Gottes!
Nikolai Fetes. (Gesammelte Ähren.)
67. Vom Crüben.
Unsre gebräuchlichen Grübe sind Wünsche und — nehmen wir
an — stets wohlgemeint; aber im Grunde sind sie sehr hölzern, manch-
mal geradezu lächerlich. „Guten Morgen!“ hört man ost, da es schon
gegen Abend geht. „Guten Appetit!“ wird manchem 2zugerufen,
der nichts zu essen hat. In Norddeutschland hört man von 11 bis
4 Uhr fortwährend auf den Gassen schreien ——
der eigene Magen daran erinnerte, welche Zeit es sei. „Gesegnete
Mahlzeitl“ heibt so viel als: „Ich segne dir die Mahlzeit.“ Aber die
wenigsten sagen: „Ich lade dich ein zur Mahlzeit“, was wohl den
Armen gegenũber der passendste Gruß wäre. „Ergebener Diener!“
sagt mancher zu manchem, den er nur so über die Achsel an-
zuschauen pflegt, oder dessen oft recht selbstsüchtiger Herr er ist.
Ein sehr eigennũtziger Grub ist das: „Ich empfehle mich aber auch
ein herzlich unbescheidener; denn er will so viel sagen: „Ich rühme
mich Ihnen an; ich bin wert, daß Sie mich bevorzugen“, und auch
ein gar dummer, weil man manchem nicht empfohlen sein möchte,
dem man sich empfiehlt. Das „Lebewohl!“ ist ein Befehl, dem lange
nicht jeder nachzukommen vermag. Einer unserer fadesten Grübe
ist das welsche „Mein Kompliment“, weil er zu jenen gehört, die
gar nichts sagen, also freilich auch keinen Unsinn. In österreichischen
Städten klingt es beständig, wenn einer an dem andern vorbeigeht:
„Ieh habe die Ehre.“ Welche Ehre? Warum die Ehreé? „Ich habe
die Ehre, Ihnen zu begegnen“, will man sagen, „ich habe die Ehre,
Sie zu grühen oder von Ihnen gegrüßt zu werden“. Manchmal ist
es auch in der Tat eine Ehre, sie zu grüben oder von ihnen gegrübt
zu werden. Aber ebenso oft oder noch öfter denkt man bei der
Begegnung: „Ach, da kommt dieser lästige Mensch. O, mub ich
gerade diesem Lumpen begegnen! Becht ärgerlich, dab ich ihn
grüßen mub.“ Und in leutseligster Weise ruft man ihm zu: „Ich
habe die Ehre.“ „Guten Tagl“ — ist das denn kein Gedanke? Ich
glaube doch, aber Gedanke und Wunsch ist ein sehr kümmerlicher.
Warum gönnt man mir nicht ein gutes Jahr oder wenigstens eine
gute Woche? „Guten Morgen!“ wünscht er mir, der Knicker, mit
dem Abend mub ich mich selber behelfen. Und übrigens, nützt
mir sein Wunsch etwas? Hat dieser Wunsch eine Kraft? Tut der
Mann auch nur das mindeste, seinen Wunsch zur Tat werden zu
lassen?
89 —
Die Alten — es ist beschämend für uns, nichts von ihnen ge
lernt und so viel vergessen zu haben — grüßten: „Sei gesund, Freund!
Sei frohl“ Der Orientale sagt: Salem! Friede sei dir!“ Wie windig
nimmt sich dagegen nicht unser „Ergebenster“ oder „Untertänigster
Diener“ aus.
Hingegen, und jetzt beginnt sich's zu lichten, der Mann, der mir
ein freundliches Grüß Gottl zuruft, kann ein Dummkopf sein, ein
Gauch; aber er gibt mir ein gutes Wort. Und ein gutes Wort ist
mir eine Gabe, eine freiwillige Spende, die nicht blob für den Augen-
blick währt, wie ein Stück Brot, die in uns lebendig bleiben kann,
innerlich wirken und äuberlich Erucht bringen mag, wenn der Acker
nicht gar zu schlecht ist. „Grüß Gottl“ das ist ein Fingerzeig nach
den Hohen. Und ist nieht auch das Behuüt cdieh Gottl leieht im
gleichen Sinne aufzufassen?ꝰ Ond wem schon das gute deutsche
Wort zu hausbacken ist — diesmal hat auch der Eranzose ein an-
nehmbares Adieult Die Morte sind verschieden, die Sache ist
hüben und drüben dieselbe.
Peter Rosegger.
Gott grüße dichl Kein andrer Grul
gleicht dem an Innigkeit.
Gott grüße dichl Kein andrer Grub
palt so zu aller Zeit.
Gott grüsße dich! Wenn dieser Gruls
so recht von Herzen geht,
gilt bei dem lieben Gott der Grubß
soviel wie ein Gebet.
Tulius Sturm.
68. Legende vom Hufeisen.
Als noch, verkannt und sehr gering,
unser Herr auf der Erde ging,
und viele Jünger sich zu ihm fanden,
die sehr selten sein Wort verstanden,
zliebt' er sich gar über die Maßen,
seinen Hof zu halten auf der Straßen,
weil unter des Himmels Angesicht
man immer besser und freier spricht.
90 —
Er ließ sie da die höchsten CLehren
10 aus seinem heiligen Munde hören;
besonders durch Gleichnis und Exempel
macht' er einen jeden Markt zum Tempel.
So schlendert' er in Geistes Ruh'
mit ihnen einst einem Städtchen zu,
15 sah etwas blinken auf der Straß',
das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
„Heb doch einmal das Eisen auf!“
Sankt Peter war nicht aufgeräumt,
20er hatte soeben im Gehen geträumt
so was vom Regiment der Welt,
was einem jeden wohlgefällt.
Denn im Ropf hat das keine Schranken,
das waren so seine liebsten Gedanken.
25 Nun war der Fund ihm viel zu klein,
hätte müssen Kron' und Zepter sein;
aber wie sollt' er seinen Rücken
nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
zo und tut, als hätt' er's nicht gehört.
Der Herr nach seiner Langmut drauf
hebt selber das Hufeisen auf
und tut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
z5 geht er vor eines Schmiedes Cür,
nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
sieht er daselbst schöne Rirschen stehen,
kauft ihrer so wenig oder so viel,
10 als man für einen Dreier geben will,
die er sodann nach seiner Art
ruhig im ürmel aufbewahrt.
Nun ging's zum andern Tor hinaus
durch Wies' und Felder ohne haus,
5 auch war der Weg von Bäumen bloß;
die Sonne schien, die Hitz' war groß,
so daß man viel an solcher Stätt'
für einen Crunk Wasser gegeben hätt'.
—2
— —
Der Herr geht immer voraus vor allen,
zo läßt unversehens eine Rirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
als wenn es ein goldner Apfel wär';
das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr nach einem kleinen Raum
zhein ander Rirschlein zur Erde schickt,
wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
gar vielmal nach den Rirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.
60 Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
„Tät'st du zur rechten Feit dich regen,
hätt'st du's bequemer haben mögen.
Wer geringe Ding' wenig acht't,
sich um geringere Mühe macht.“
Tohann Wolfgang von Goethe.
69. Die Sonne bringt es an den Tag.
1. Gemächlich in der Werkstatt saß
zum Frühtrunk Meister Nikolas.
Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein;
es war im heitern Sonnenschein.
Die Sonne bringt es an den Tag.
2. Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
malt zitternde Kringeln an die Wand,
und wie den Schein er ins Auge faßt,
so spricht er für sich, indem er erblaßt:
„Du bringst es doch nicht an den Tag!“
3. „Wer nicht? was nicht?“ die Frau fragt gleich,
„was stierst du so an? was wirst du so bleich?“
Und er darauf: „Sei still! nur still!
ich's doch nicht sagen kann noch will;
die Sonne bringt's nicht an den Tag.“
*
— 92 —
4. Die Frau nur dringender forscht und fragt,
mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt,
mit süßem und mit bitterm Wort;
sie fragt und plagt ihn fort und fort:
„Was bringt die Sonne nicht an den Cag?“
5. „Nein, nimmermehr!“ — „Du sagst es mir noch!“ —
„Ich sag' es nicht! Du sagst es mir doch!“
Da ward zuletzt er müd' und schwach
und gab der Ungestümen nach. —
Die Sonne bringt es an den Tag.
6. „Auf der Wanderschaft, s sind zwanzig Jahr,
da traf es mich einst gar sonderbar;
ich hatt' nicht Geld, nicht Ranzen noch Schuh',
war hungrig und durstig und zornig dazu. —
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
Z. Da kam mir just ein Jud' in die Quer';
ringsher war's still und menschenleer.
Du hilfst mir, Hund, aus meiner Not;
den Beutel her! sonst schlag' ich dich tot!“
Die Sonne bringt's nicht an den Cag.
8. Und er: Vergieße nicht mein Blut,
acht Pfennige sind mein ganzes Gut!“
Ich glaubt' ihm nicht und fiel ihn an;
er war ein alter, schwacher Mann. —
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
9. So rücklings lag er blutend da;
sein brechendes Aug' in die Sonne sah;
noch hob er zuckend die Hand empor,
noch schrie er röchelnd mir ins Ohr:
Die Sonne bringt es an den Cag!“
10. Ich macht' ihn schnell noch vollends stumm
und kehrt' ihm die Taschen um und um.
Acht Pfenn'ge, das war das ganze Geld.
Ich scharrt' ihn ein auf selbigem Feld. —
Die Sonne bringt's nicht an den Cag.
— 93 —
. Dann zog ich weit und weiter hinaus,
kam hier ins Land, bin jetzt zu Haus'. —
Du weißt nun meine Heimlichkeit,
so halte den Mund und sei gescheit!
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
12. Wann aber sie so flimmernd scheint,
ich merk' es wohl, was sie da meint,
wie sie sich müht und sich erbost;
du, schau nicht hin, und sei getrost!
Sie bringt es doch nicht an den Tag.“ —
13. So hat die Sonn' eine Zunge nun;
der Frauen Zungen ja nimmer ruhn.
„Gevatterin, um Jesus Christ!
laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt!“
Nun bringt's die Sonne an den Tag.
14. Die Raben ziehen krächzend zumal
nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl.
Wen flechten sie aufs Rad zur Stund'?
Was hat er getan? Wie ward es kund? —
Die Sonne bracht' es an den Cag
Adelbert von Chamisso.
70. Seliger Tod.
1. In Berlin war's, an einem Weihnachtsheiligabend, daß ein großes,
blondes Weib nach dem „Prediger bei den Soldaten“ fragte. Sie schaute
mich an, und als sie die weißen Haare sah, sagte sie: „Ja, Sie sind der
alte Herr, den er meint.“ Ich wußte noch immer nicht, was sie wollte.
Endlich sagte sie: „Wir sind Schiffersleute aus Litauen und fahren hierher
nach Berlin. Da ist mein Vater immer in Ihre Kirche gegangen; jetzt
ist er todkrank und möchte gern das heilige Abendmahl von dem alten
Herrn haben. Kommen Sie doch schnell mit!“
Ich zog den Pelz an, nahm die heiligen Gefäße und folgte dem
Weibe. Wir kamen an die Spree. „Da wohnen wir, im siebenten Kahne.
Geben Sie acht, daß Sie nicht fallen!“ Es war dunkel und glatt; ein
schmales Brett war von einem Schiff auf das andre gelegt; zwischen
den Kielen das Wasser in der Tiefe! Ich wußte kaum, wie ich da hinüber⸗
kommen sollte. Sie zog mich aber langsam nach sich, und endlich waren
wir am siebenten Kahne.
2. Wir stiegen hinab; da lag in der Schiffskoje, sauber weiß an—
gekleidet, das schwarze Samtmützchen auf dem Kopfe, ein Greis mit unend—
lich freundlichem Ausdruck. Er zog das Mützchen ab und küßte mir die
Hand. Es lag ein langes Leben hinter ihm. In den Befreiungskriegen
hatte er mitgekämpft und später viele Meer- und Kanalfahrten gemacht.
Von seiner ganzen Familie war ihm niemand geblieben als die verwitwete
Tochter und ein Enkelkind, die beide am weißgedeckten Tischchen saßen.
Als ich die Beichte begann, faltete er die Hände und sprach sie selbst mir
vor, noch manches dazusetzend aus seinem Leben, was ihn drückte. Nach
dem heiligen Abendmahle lag er still da, die Hände über der Brust ge—
faltet, ein Bild tiefsten Friedens. Noch einmal küßte er mir dankbar die
Hand, und ich stieg hinauf.
3. Draußen war lautes Leben. Die Leute eilten vom Weihnachts—
markt heim zur Bescherung; in vielen Häusern sah man den Christbaum
schon angesteckt. — Ich aber dachte an den alten Simeon da unten im
Spreekahn und an das schöne Weihnachtsgeschenk, das ihm bereitet sei,
und an den Christbaum droben, dessen Lichter ihm schon entgegenblickten. —
Noch am Abend starb er. Seine Leiche legte man in einen Zinksarg, der
verlötet wurde, und im Frühjahr nahm die Tochter den toten Vater mit,
daß er ruhe in heimischer Erde. s war auch ein „Heiliger Abend“ da
unten auf der Spree!
Emil Frommel. (GBeim Ampelschein.)
71. Der Wanderer in der Sägemühle.
1. Dort unten in der Mühle
saß ich in süßer Ruh'
und sah dem Räderspiele
und sah den Wassern zu.
2. Sah zu der blanken Säge
— es war mir wie ein Traum —
die bahnte lange Wege
in einen Tannenbaum.
95 —
3. Die Tanne war wie lebend;
in Trauermelodie,
durch alle Fasern bebend,
sang diese Worte sie:
4. „Du kehrst zur rechten Stunde,
o Wanderer, hier ein!
Du bist's, für den die Wunde
mir dringt ins Herz hinein!
5. Du bist's, für den wird werden,
wenn kurz gewandert du,
dies Holz im Schoß der Erden
ein Schrein zur langen Ruh'!“ —
6. Vier Bretter sah ich fallen;
mir ward's ums Herze schwer.
Ein Wörtlein wollt' ich lallen, —
da ging das Rad nicht mehr.
Justinus Kerner.
— 96 —
C. Im Wechsel der Jahres—
zeiten.
72. Neuer Frühling.
1. Neuer Frühling ist gekommen,
neues Laub und Sonnenschein.
Jedes Ohr hat ihn vernommen,
jedes Auge saugt ihn ein.
2. Und das ist ein Blühn und Sprießen,
Waldesduften, Quellenfließen,
und die Brust wird wieder weit;
Frühling, Frühling, goldne Zeit!
Otto Roquette.
73. Morgenwind.
1. Wenn noch kaum die Hähne krähen,
macht sich auf der Morgenwind,
feget aus mit starkem Wehen
Stadt und Flur und Wald geschwind.
2. Allen Bäumen in der Runde
schüttelt er die Locken aus,
weckt die Blümlein in dem Grunde,
lockt die Lerch' ins Tal hinaus.
3. Nebel, die an Bergen hangen,
jagt er ohne Gnade fort.
Kommt Frau Sonne dann gegangen,
find't sie sauber jeden Ort.
4. Will sie bei dem treuen Winde
sich bedanken in Person,
ist er, daß ihn keiner finde,
über alle Berge schon.
Vanul Qeyse.
74. Der Maikäfer.
1. Das ist ein unbeholfener Bursch, macht keinen Diener und keinen
Knicks vor den schönen, blühenden Bäumen und den lachenden Blumen,
wenn er aus der Erde hervorkriecht. Er geht dir auch nicht aus dem
Wege, wenn er dir entgegenfliegt. „Summ“, kommt er daher, und du
vermutest nichts Arges, „tsch“, prallt er an deine Stirn, auf dein Auge,
an deine Nafenspitze, alles einerlei! Da liegt er hernach auf dem Rücken
an der Erde. Sieh nur, wie er zappelt! Sechs Beine hat er, streckt
sie hin und her und kann doch nicht wieder auf die Füße kommen; endlich
stemmt er seine Flügeldecken auf die Erde, da glückt es ihm. Nun will
er wieder fortfliegen; das wird ihm sauer, er möchte wohl weinen. Aber
was für possierliche Flügel hat das Tier auch! Da sehe ich keine leichten
Federn wie beim Vogel, auch keine feine Haut wie beim Bienlein und
der Mücke; da sind ja nur zwei harte, braune Schalen, so steif, als hätte
sie ihm der Tischler aus Holz gemacht oder der Drechsler aus Horn.
Damit soll er das Fliegen schon lassen; aber es sind auch nur die Flügel⸗
decken. Jetzt hebt er sie in die Höhe, es geht noch nicht; nun noch ein—
mal und noch einmal, und jedesmal nickt er dabei mit dem Kopfe und
zählt, wie oft er es schon versucht hat. — Endlich! Sieh, da kommen
seine eigentlichen Flügel hervor; das sind feine Häutchen wie bei einer
Fliege, aber größer. Er kann sie nicht gleich in Ordnung bringen; doch
jetzt ists gut, hin fliegt er; hör nur, wie es summt! — Nun, du magst
dich freuen, du steifer Gesell, daß du es endlich so weit gebracht hast!
Glückliche Reise!
2. Aber wo bleibt er denn? — Ah, dort fliegt er ins frische Eichen⸗
laub. Da setzt er sich auf ein Blatt, das ist sein Eßtisch, und das Blatt
über ihm ist sein Sonnenschirm. Was wird ihm denn aufgetragen? —
Nichts, gar nichts; er verzehrt den Eßtisch selber. — Ein Blättlein
und noch eins könnte man ihm schon gönnen; aber wo so viele tausend
Maikäfer zehren, da werden die armen Bäume doch schier ausgeplündert,
daß es ein Jammer ist, sie anzusehen. Zum Glück kommen die Sperlinge
den Bäumen zu Hilfe und stechen und spießen unter den Räubern herum,
daß ihnen Hören und Sehen vergeht; die Hühner aber können's noch
besser. Dann schickt der liebe Gott auch wohl ein paar frostige Nächte
oder einen kalten Regen, und die Maikäfer werden steif und starr vor
Kälte. Der Landmann aber freut sich gar herzlich darüber, schüttelt die
schädlichen Gesellen des Morgens zu Tausenden von den Bäumen im
Garten und an den Wegen und läßt sie aufsammeln und töten. Wird
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubtg.
— 9 —
dies verabsäumt, so fressen die Maikäfer in manchen Jahren die Bäume
ganz kahl, so daß auf eine Obsternte nicht zu rechnen ist.
3. Wenn du den Käfer nur im Mai siehst, so mußt du nicht meinen,
sein ganzes Leben währe nur einen Monat. O bewahre! Vor drei Jahren
schon lebte das Tier. — Eine Maikäferin kriecht auf den Feldern, in
den Gärten oder Gebüschen fingerlang in trockenes Erdreich und legt
ungefähr zwanzig Eier. Nachdem sie wieder herausgekrochen ist, lebt sie
nur noch ein paar Tage, dann stirbt sie. Aus den Eiern kommen weiß—
liche Larven, die es sich in ihrem dunkeln Gefängnis unter der Erde ganz
wohl sein lassen. Sie zerfressen alle Wurzeln, die sie finden, vom Getreide,
Kohl, Salat, von den Bäumen und denken: „Soll ich tapfer verwüsten
können, wenn ich einst ein Maikäfer sein werde, so muß ich mich fleißig
darin üben, während ich noch ein Engerling bin. Ich will die Bäume
unter der Erde verderben, der Käfer mag es oben in der Luft tun.“ —
So denkt der Bursch und frißt und mästet sich drei Jahre lang und
macht dem Landmann viel Kummer. Es ist noch ein Glück, daß die
Maulwürfe, die Mäuse und die Krähen so viele Engerlinge heraus—
graben und verzehren. Wenn der Landmann pflügt, so kommen mit der
emporgehobenen Erde oft ihrer gar viele ans Tageslicht, und die Saat—
krähen folgen dann dem Pfluge und nehmen sich ihr gutes Teil von der
leckern Speise.
4. Wenn nun die drei Jahre um sind, hört der Engerling mit einem—
mal mitten im Sommer auf zu fressen. Er kleistert um sich herum
einen kleinen Ball von Erde zusammen, darin schläft und schläft er bis
zum Herbste; dann kommt er wieder aus seinem Bette hervor. O, wenn
er einen Spiegel hätte, er würde sich die Augen reiben und gucken und
gaffen und würde denken: „Bin ich's, oder bin ich's nicht?“ — Denn
ein kriechender Wurm ist er nicht mehr; er hat jetzt sechs Füße, rote oder
schwarze, und kann marschieren. Auch trägt er keinen weißen Rock mehr,
sondern hat einen schwarzen Panzer um den ganzen Leib; der ist
aus vielen Ringen zusammengeschmiedet, und als Zierat sitzen einige weiße
Flecke daran, die noch an das alte Kleid erinnern. Denkt nun noch an
den harten Kopf, die Brust, und wie jedes abgesondert steht und nur
durch einen dünnen Stiel verbunden ist; denkt endlich an die braunen
Flügeldecken, da merkt ihr wohl: der Käfer ist fertig, und der Engerling
kann sich selbst nicht wiederfinden. — Aber der Käfer ist gescheit und
bleibt tief unter der Erde; denn wenn er herauskäme, möchte er oben
keine warme Stube haben und auch keinen Flauschrock und müßte schier
erfrieren. Darum bleibt er unten, und wenn der Schnee über seinem
— — ⏑ —
Kopfe knirscht, dann freut er sich, daß er so warm sitzt. — Wenn aber
im Frühling die Sonne anklopft und spricht: „Erde, tu dich auf!“
und: „Legt euer grünes Festkleid an, ihr Bäume!“, dann denkt er: „Nun
ist's Zeit“, und bohrt sich ein rundes Loch, immer höher hinauf, bis
er oben ist. Er wartet dann fein, wenn's noch Tag ist; denn es ist
ihm zu hell, und seine Augen sind es noch nicht gewohnt. Aber am
Wend schlüpft er hervor und probiert geschwind, ob man in den schattigen
Bäumen nicht noch besser sitzen kann als in der dunkeln Erde.
Exnst Ouietmeyer. (Schul- und Hausfreund.)
75. Bruder Lustig.
1. „Bruder Lustig“ hat ein bekannter Naturforscher den Star
genannt und damit die beste Bezeichnung für diesen heitern Aller-
weltsliebling gefunden. Unser Star ist ein schmuckes Bürschehen.
Er trügt ein schwarzes Kleid, das im Lichte der Sonne wie Atlas
glänzt und dabei einen blaugrünlichen Schimmer zeigt, im Herbst
aber nach der Mauser wie mit weihen Perlen übersät ist. Das ist
sein Reiselleid, in dem er uns aber erst dann verläßt, wenn der
Winter ihm das Leben in unsrer Nähe unmöglich macht. Nur
zögernd trennt er sich von seinem „Daheim“ und verirrt sieh in der
Regel nicht weiter von demselben als in die näehste värmere Gegend
unsers Vaterlandes, die ihm genügende Nahrung bietet. Nur einige
reiselustige Stare sehen sich in Spanien, Italien und Griechenland
um, während einzelne noch kühnere ihre Reiss bis Afrika aus—
dehnen.
Sowie aber nur der Frühling bei uns seine Ankunft ansagt, ist
sicher „Bruder Lustig“ einer der ersten Erühlingsgäüste. Am Hofe
des Königs Lenz dark auch Herr Star nicht fehlen. Ja, er muß Seiner
Majestät noch vorauseilen, um aller Welt durch fröhliche Lieder,
lustiges Gezwitscher und allerlei tolle Possen kundzutun, daß nun
alle Not ein Ende gewinnt und keine Zeit mehr ist, sieh von Sorgen
plagen zu lassen oder Grillen zu fangen.
2. Bei seiner Ankunft in der geliebten Heimat fliegt er auf die
ãußherste Spitze eines in der Nähe seiner alten Wohnung stehenden
Baumes und verkündet mit lustigem Liede, dab er glücklich wieder
angelangt ist. Dann aber ist es sein erstes Geschüft, nachzusehen, wie
es denn eigentlich mit der Sommerwohnung steht. Hat er sich dazu
— —
einen hohlen Baum im Walde ausersehen, so gilt es gewöhnlich nur,
ein wenig aufzuräumen. Besteht die Wohnung aber aus einem Hause,
das ihm seine Ereunde in ihrem Hof oder Garten gebaut haben,
einem sogenannten Starkasten, dann geht sein Einzug oft nicht
ohne Kampf, Arger und Geschrei ab. Die frechen Spatzen, die Lein
Eigentumsrecht achten, haben die Wohnung in Beschlag genommen.
Sie gehen von dem Grundsatz aus: „Der Besitzende ist im Rechte,
und nehmen auf keine Kündigung Rücksicht.
Was bleibt dem Star andres übrig, als das freche Volk an die
Luft zu setzgen! Der Spatz schreit zornig aus dem Kasten heraus
und denkt: „Ieh will doch sehen, ob iech dem schwarzen Rerl Plat-
machen muh!“ Aber einige tüchtige Schnabelhiebe treffen ihn. Er
schimpft aus vollem Halse und ruft die ganze Spatzengesellschaft zum
Beistand gegen solehe Ungerechtigkeit herbei. Das Geschrei wird
toller und toller. Ein Spatzenaufruhr vor dem Kasten! Doch jetzt
kommt aueh die Frau Starin geflogen, und der Kampf ist sehnell
entschieden.
Die Sperlingsfamilio muh die Wohnung räumen, und Frau Starin
ergreift Besitæ davon. Sie streckt ibr mit spitzigem Schnabel be—
wehrtes Köpflein heraus und sieht sich mit Klugen Augen trium-
phierend um, während der Star auf dem Baume ein Siegeslied singt.
Aber noch bleibt das Pärchen nicht in der Wohnung. Es kehrt in
den nahen Wald zurüek und besueht nur am Morgen und am Abend
sein trautes Heim zum erneuten Verdrub der immer wie toll schreien-
den Spatzen.
3. „Bruder Lustig“ traut dem Winter nicht recht, er kennt
die Dücke desselben. Er hat auch klug daran getan, denn der
Winter ist noch in der Nähe. Plötzlich pfeift der Wind vieder
kälter, Wolken haben sich aufgetürmt, und dicht fallen die veiben
EFlocken nieder. Unser Star sitzt auf seinem Kasten und ver-
spottet den Winter mit einem lustigen Frühlingsliede. Die kalten
MHocken fallen auf das varme Kleid; was kümmert das den fröhlichen
Sunger!
Aber — aber! der Winter ist noch nieht so hinfällig, wie „Bruder
Lustig“ denkt. Die Flocken fallen immoer dichter, und der Wind
pfeift scharf aus dem Norden. Das wird bedenklich. Die Prau
Starin ist gekommen und hat sich auf die Stange vor dem Mugloch
gesetæt, auf die nun aueh der Star fliegt. Mit dem Singen ist's vorbei.
Sie hocken nebeneinander und hoffen auf bessere Dage, die aueh
— 101 —
nicht ausbleiben. Die Sonne duldet kein Weißes mehr. Oft schon
am nächsten Morgen bricht sie sich dureb die Wolken Bahn, undl
ehe der Abend kommt, ist keine Spur von Schnee mehr zu sehen.
Unser Star aber sitzt vieder auf seinem Kasten, singt lustiger denn
je und schnarrt und Hatscht mit den Mügeln.
4. Nun vird es endlich auch Zeit, an die Einrichtung der Woh—
nung zu denken. Den Plunder der Erau Spatzin, Stroh und Heu,
schmutzige Federn und alte Lumpen, bat die Starin bereits trot—
alles Schimpfens des Spatzen-
paares ausgerãumt und, ärger-
lich über die Lederliche Wirt-
schaft, in den Hof hinabge-
worfen.
Star und Starin sind von
jetzt an von früh bis abends
tütig und tragen Strohbalme,
PFedern und Heu herbei, um das
Nest zurechtzumachen. Einen
Lünstlichen Bau gibt es nicht,
aber er ist anständig genug dem
Nestbau der Spatzin gegenüber.
Die Einrichtung ist eine einfach
bürgerliche.
——
5. Wenn der April, der
wetterwendische Monat, sich
seinem Ende zuneigt, liegen
fünk bis sechs hellblaue Eier
im Neste, und nun beginnt eine
nicht gerade angenehme Zeit
für die Erau Starin. Gegen
sechzehn Tage mub sie brü—
tend auf den Liern sitzen; sie tut es aber gern in der BDosf-
nung auf junge Stärchen. „Bruder Lustig“ dagegen hat gute Zeit.
Aber das mub man ihm nachsagen, daß er ein Herz für sein
Weibehen hat. Er versorgt es nicht nur unermüdlich mit Nab-
rung, sondern singt ihm auch zur Unterhaltung seine schönsten
Lieder vor. Nur gegen Abend gönnt er sich eine kleine Er—
holung und sucht seine Freunde auf, um sich mit ihnen zu unter—
halten.
— 102 —
6. Wenn aber die Jungen aus den Liern geschlüpft sind, dann
beginnt auch für ihn eine ernste, arbeitsvolle Zeit, und die lustigen
Lieder verstummen. Die kleinen Stare sehen wunderlich aus, und
es wird wohl niemand diese nackten Geschöpfe mit groben RKöpfen
und grohen Schnäbeln schön finden. Aber danach fragt die Eltern-
liebe nieht. Das Starenpärchen ist unermüdlich, dis äleinen, un-
förmlichen Schreihälse zu füttern. Bald sieht man Star und Starin
Blatt um Blatt an den Bäumen im Garten durchsuchen, bald flink
im Grase umhertrippeln und die zierlichen Köpfeben mit den äugen
Augen bald dabin, bald dorthin wenden.
Es gilt, Schnecken, Raupen, Käfer und Würmer für die hung—
rigen Kinder zu suchen und nebenbei sich selbst zu bedenken. Kebren
Vater und Mutter zum Kasten zurück, so gibt es ein gewaltiges
Geschrei. Fünf oder sechs Schnäbel sperren sich weit auf, und
jedes der Kinder möchte gern zuerst bedacht sein. Aber „eins nach
dem andernt“ heißt die Hausregel, und es ist vunderbar, dab die
Eltern nach und nach das ganze Häuflein Kinder zu befriedigen
wissen.
7. Sechzehn Tage lang dauert die angestrengte Futterzeit; dann
streckt ein Stärlein nach dem andern sein graues Köpfehen aus dem
Mugloch und blickt neugierig in dié Welt hinein. Das Nest wird
ihnen zu eng, die Flügel sind ihnen gewachsen, und die Lust, das
Häuslein zu verlassen, vird immer gröber. Kaum sind noch zwei
Wochen vergangen, da geht es huschl husch!, und ein Stärchen nach
dem andern fliegt auf den nächsten Baum. Lange bleiben sie hier
nicht sitzgen. Die Welt ist so schön und so weit. Sie sind mündig
geworden und können sich nun ohne Hilfe der Eltern durch das
Leben schlagen. Mutig fliegen sie in das Weite und treffen bald
mit andern jungen Staren zusammen.
8. Ein lustiges Leben beginnt. In groben Schwüärmen fliegen
sie umher, suchen sich am Tage Nahrung und finden ibren LTisch
überall gedeckt. Am Abend aber fallen sie in das Röhbricht der
Deiche oder in dichte Weidengebüsche ein und machen, bevor sie
sich zur Ruhe begeben, einen gewaltigen Lärm. Die Alten dagegen
bleiben am Kasten. PVür sie gibt es noch keine Ruhe. Sie reinigen
die Wohnung und richten sie aufs neue behaglich ein für die zweite
Brut. Ist endlich auch diese flügge, dann machen sieh die Alten
mit den Jungen auf, die übrigen Kinder aufzusuchen, und von nun
an findet man unsern Star in Gesellschaft von Krähen und Doblen.
— 103 —
Sieh zu diesen Vögeln zu gesellen, verlockt ihn wohl ihr ehrbares,
schwarzes RKleid.
Sein Nachtlager wahlt er mit Tausenden seinesgleichen jetzt am
liebsten im Robr eines Leiches und liebt es, im vollstimmigen Ohor
vor der Nachtruhe noch ein Ständehen zu bringen, das Steine er—
weichen kann.
9. Erst wenn der Winter seinen Einzug hält, denkt „Bruder
Laustig an seinen Abzug, doch nicht, ohne ein letztes Lied an seinem
Kaston zu singen und seinen Freunden ein fröhliches „Auf Wieder-
sehenl zuzurufen. Kaum ist er fort, so sind die Spatzen wieder
am RKasten und schlüpfen munter aus und ein, froh darüber, dab
gio wieder eine varme Wohnung für den Winter gefunden haben.
Karl Reinhold. Cohmeyers Deutsche Jugend.)
S
76. Mahnruf der Vögel im Frühling.
Die gesamte Vogelschar im Deutschen Reiche hat in ihrer ersten dies—
jährigen Versammlung nachstehenden Mahnruf erlassen:
Nachdem wir aus fernen, fremden Landen in unsre alte, liebe Heimat
zurückgekehrt sind und in Wald und Feld, in Stadt und Land unsre
früheren Wohnungen bezogen haben, gedenken wir hier einen glücklichen
Hausstand zu gründen und ein friedliches, fröhliches Leben zu führen.
Wir stellen uns und unsre Nachkommenschaft unter den kräftigen Schutz
der Menschen und hegen die Hoffnung, daß sie insgesamt, alt und jung,
groß und klein, uns an Leib und Leben weder Schaden noch Leid tun,
noch das kostbare Gut edler Freiheit uns rauben werden. Insbesondere
bitten wir freundlichst und dringend, die mühsam erbauten Nester nicht
zu zerstören, unsre Eier nicht wegzunehmen, die junge Brut in unsrer
Pflege zu lassen und uns allzeit als gute Freunde zu behandeln.
Dagegen wollen wir durch munteres Hüpfen, Flattern und Fliegen,
durch Pfeifen, Schnattern und Singen euch Unterhaltung und Vergnügen
bereiten, auf Baum und Busch, Strauch und Kraut, Feld und Vieh die
lästigen Schmarotzer wegfangen, so daß Wald und Feld, Gärten und Auen
lieblich gedeihen und die Menschen an Gottes neubelebter Schöpfungs⸗
pracht Freude und Wonne finden.
So geschehen zu Waldheim, zwischen Ostern und Pfingsten dieses
Jahres. Im Namen der Versammlung:
Lerche, Star, Nachtigall.
arl Wilhelm Veter. (Fluablatt des Tierschutzvereins
— 104 —
77. Vom Moose.
1. Unten am Waldesboden lebt ein winziges Geschlecht bescheiden
und harmlos, das Moos. Seine Pflänzchen sind die Zwerge der
Pflanzenwelt. Die größten davon sind nicht länger als ein Finger.
Viele sind nicht größer als ein Nadelkopf. Wie zierlich überziehen sie
den Grund des Waldes! Bisweilen wölben sie dichte Polster von
dunkelgrüner Farbe. Eine Art trägt lange, goldene Fäden mit Köpfchen
und goldenen Kronen darauf. Das ist das goldene Frauenhaar. Mehr
als hundert verschiedene Arten von Moosen leben still in Wald und
Sumpf, an Stämmen und Felsenwänden, an Mauern und auf Dächern.
2. Wie schwach ist doch solch ein Pflänzchen! Sein Stengel ist kaum
so stark wie ein Fädchen Zwirn. Der Fußtritt eines Vögleins wirft
es um; ja ein Küfer, der vorbeiläuft, stößt das einzeln stehende zu Boden.
Darum hat es der liebe Gott auch immer in Gesellschaft wachsen lassen.
Tausend und aber tausend solcher Pflänzchen stehen nahe beisammen.
Diese Zwerglein richten in Gesellschaft gar manches aus. Wenn im rauhen
Herbste die stolzen Bäume ihre gelben Blätter verlieren, dann ist das
Moos am schönsten grün und wächst am besten. Es fängt die Eicheln
und die Nüsse der Buchen und Haseln auf und umhüllt sie weich und
warm. Die tausend Käfer des Sommers suchen sich Verstecke, wenn der
rauhe Herbstwind kommt. Sie kriechen hinein ins weiche, warme Lager
von Moos und schlafen da den ganzen langen Winter hindurch. Hier
liegen runde Häuschen Spinneneier, dort ähnliche von Schmetterlingen.
Hier hat sich eine Raupe ihr Winterlager ausgesucht, dort ruht zusammen⸗
gerollt eine Blindschleiche.
3. Jetzt taut der Schnee. Die Tropfen eilen hurtig nach dem
Bache. „Halt!“ ruft das Moos den Flüchtigen zu und hält mit seinen
hundert Ärmchen ihrer viele fest. „Ich habe viele Kinder,“ sagt es,
„die brauchen Morgentrank!“ Das Moos reicht jedem von ihnen sein
Tröpfchen: der Eichel, der Haselnuß, den Samenkörnchen von der Glocken—
blume und vom Vergißmeinnicht. Sie wachen auf und trinken und keimen,
und das Moos schützt die zarten Sprossen vor dem kalten Märzhauch.
4. Sobald es aber wärmer wird, kommen die Pflänzchen überall
hervor. Die Käfer kriechen heraus, die Schnecken schlüpfen ans Tageslicht,
und aus den Puppen kommen schöne Schmetterlinge. Aus fernen Ländern
kehren Rotkehlchen und Nachtigallen wieder und beginnen, ihre Nester zu
bauen. Sie tragen Reischen in den neubelaubten Busch und flechten sie
ineinander. Nun fehlt es noch an einem weichen Bettchen für die Eier
und für die künftigen jungen Vögel. Da fliegen die Alten zum weichen
105 —
Moose und bitten um seine Hilfe. Gutwillig gibt es seine Pflänzchen her,
damit die Vögel ihre Nester ausfüttern können. Bald kommen auch das
Häslein und das Reh. Sie suchen ein sicheres und trauliches Versteck,
wo sie die jungen Hasen und Rehe pflegen können. Für sie breitet sich
das Moos als weicher Teppich aus, auf dem sie alle ein schönes Lager
haben.
5. Neben dem Walde ist ein Sumpf. Darüber bildet das Torfmoos
eine dichte, weiße und rote Decke. Nach oben wächst dieses Torfmoos
unaufhörlich weiter, nach unten stirbt es ab und bildet Torf. Den stechen
die Torfgräber aus, trocknen ihn und verkaufen ihn als Feuerungsmittel.
Dann heizt das Torfmoos den Menschen die Stube und hilft die Speisen
kochen. Als schöner, grüner Überzug bekleidet andres Moos die Abhänge
der Waldberge. Es bildet Ruhekissen und Sofas und ladet die Kinder
zur angenehmen Ruhe ein, wenn sie vom Beerensuchen ermüdet sind.
Hermann Wagner. (Die Pflanzenwelt.)
78. Bei dem Bienenvater.
I. Ein sonnenheller Feiertag hatte uns zu dem Grobvater auf das
Land gelockt. Wir fanden ibn im Garten bei seinen lieben Bienen.
Sonst sprangen wir ihm freudig entgegen, heute hielten wir uns ängst-
lich von ihm zurück. „Nur näher! Heute sticht sicher keine, heute
ist ja kein schwüler Gewittertag!“ sagte der Grobyater. Wir traten
nun den Stöcken behutsam näher. „Haltet euch nur fein rubig und
schlagt nicht nach den Bienen, wenn sie euch auch um die Köpfe
herumsummen! Vor allem betrachtet einmal die Wohnungen meiner
fleißigen Untertanen. Sie haben zwar eine Königin, aber ihr recht-
mäbhiger Herr bin ich; mir müssen sie alljäührlich den süben, gold—
farbigen Honig bringen. Hier ist der älteste Stock. Was mag er
früher gewesen sein?“ —
„⸗Ein Baumstamm!“ antworteten wir Kinder. —
„Ihr habt recht; wilde Bienen wohnen ja heute noch in hohlen
Bãäumen. Hier sind noch andre Bienenwohnungen. Da ist eine
aus Stroh geflochtene, liegende Walze, da ein kurzer und dicker Kegel,
und da ist ein Stock von Glas, an dem wir das emsige Volk am
besten beobachten können.“ Nicht ohne Scheu traten wir näher.
Der Stock bestand aus z2wei Teilen. Der untere war von dem oberen
dureh ein Brett abgeschlossen. Der Grobvater fuhr fort: „Der untere
Teil bildet den Brut- und Lagerraum; hier werden die Bienen grob—
gezogen und der Honig und Blumenstaub gesammelt, der den Bienen
106
zur Nahrung dient. Der obere Leil ist nur für den Honig bestimmt,
der in groben Scheiben von Wachs steckt, die man Waben nennt.“
Wabe bhing an Wabe, und zwischen den Waben trieben sich die
fleißigen Bienen zu Tausenden herum.
Wir traten nun auf die andre Seite des Stockes. „Sebt ihr,
wie schwer beladen sie hereinßkommen?“ fragte der Grobvater. Eine
nach der andern kam angeflogen. Viele hatten rote und gelbe Höschen
von Blumenstaub an, viele brachten den süben Honig, alle schlüpften
behende durehs FHlugloch hinein in den Stock.
2. Jetzt zog uns der Bienenvater grobe Bienenhauben über den
Kopf, öffnete einen der Stöcke und nahm eine Wabe heraus. „Seht
eueh die Zellen genau an, alle sind sechseckig! Es sind Zellen der
Arbeitsbienen. Leils sind sie schon mit Honig gefüllt, teils sind
sie noch leer. In einige stampfen sie auch Blumenstaub hinein; die
mit Honig gefüllten verschlieben sie mit einem dünnen Deckel von
Wachs.“
Der erston Wabe folgte eine zweite. „Diese Zellen sind gröber,
sie sind für die Männchen oder Drohnen erbaut worden.“ Der
Grobvater zeigte uns einige Drohnen; sie varen dickköpfiger und
wohlbeleibter als die übrigen Bienen.
Bei der dritten Wabe rief der Grobvater plötzlich: „Hier ist sie!
Seht ihr sie? Es ist ein schmuckes, schlankes Ding. Das ist die
Mutter des ganzen Stockes, die Königin.“ Der Bienenvater setzte
die Waben wieder ein und schlob den Stock. Ein wirres Gesumm
und Gebrumm erfüllte das Ohr.
3. Nun ging es zur Grobmutter ins freundliche Stübchen. Sie gab
uns ein sübes Honigbrot und schenkte uns ein Gläschen Honigwein
ein, während der Grobvyater uns noch folgendes von seinen Bienen
erzühlte: „In einem Bienenstocke sind dreierlei Bienen. Die wichtigste
Biene ist dié Königin; sie ist länger als die übrigen und hat einen
gekrümmten Stachel. Ibr ähnlich, aber Heiner an Gestalt sind die
Arbeitsbienen, deren Stachel aber gerade ist. Die Drohnen sind
dicker als die andern und stachellos. In jedem Stocke gibt es nur
eine Königin; sie hat die Bier zu legen und legt oft 1000 an einem
Tage. Die gröbßte Zahl machen die Arbeitsbienen aus. Von diesen
bauen die einen Zellen aus dem Wachse, das sie zwischen ihren
Ringen herausschwitzen, andre tragen Honig und Blütenstaub ein,
noch andre müssen die Larven füttern, und eine Kleine Zahl bildet
die Dienerschaft der Königin. Die Drohnen sind, wenn die Königin
aus lbnen ihren Gemahl gewäblt hat, nur faulenzende Kostgüänger.
107
BFehlt es an Nahrung, so treiben die Arbeitsbienen die faulen Drohnen
aus dem Stocke hinaus, so daß sie jümmerlich umsommen. Diesen
Vorgang nennt man die Drohnenschlacht. Mit Recht heibt es hier:
Wer nicht arbeiten will, der soll auch nieht essen.“
Hugo Weber. (Lesebuch von Jütting und Weber.)
79. Die MWohltaten.
„Hast du wohl einen gröberen Wohltäter unter den Tieren als
mich?“ fragte die Biene den Menschen. — „sJawohl!“ erwiderte
dieser. —„Und wen?“ — „Das Schaf; denn seine Wolle ist mir not-
wendig, und dein Honig ist mir nur angenehm. Und willst du noch
einen Grund wissen, warum ich das Schaf für meinen gröberen Wobl-
tãter halte als dich, Biene? Das Schaf schenkt mir seine Wolle,
ohne mir ein Leid zuzufügen; aber wenn du mir deinen Honig
schenkst, muß ich mich noch immer vor deinem Stachel fürchten.“
Gotthold Ephraim Lesstng. (Fabeln.)
80. Die Frösche.
Ein großer Teich war zugefroren;
die Fröschlein, in der Tiefe verloren,
durften nicht ferner quaken noch springen,
versprachen sich aber im halben Traum,
fänden sie nur da oben Raum,
wie Nachtigallen wollten sie singen.
Der Tauwind kam, das Eis zerschmolz;
nun ruderten sie und landeten stolz
und saßen am Ufer weit und breit
und — quakten wie vor alter Zeit.
Johann Wolfgang von Goethe.
81. Etwas vom Storche.
1. Schon in uralten Zeiten haben einige Vogelarten ihre Rechnung
dabei gefunden, sich freiwillig dem Menschen anzuschließen und sich in
seinen Schutz zu begeben. Dazu gehören die ursprünglichen Felsen—
bewohner: der Haussperling, die Rauchschwalbe, die Hausschwalbe, der
Mauersegler, der Hausrotschwanz und ein stattlicher Sumpfvogel, der
altbekannte, weiße Storch. Sein naher Verwandter, der schwarze Storch,
der sich zu diesem Schritte nicht entschließen konnte, nistet noch heute als
einsamer und scheuer Vogel in großen Waldungen und ist den meisten
Menschen so unbekannt, als sein weißer Vetter ihnen wohl vertraut ist.
2. Der Storch wird von Jahr zu Jahr seltener. Zwar gibt es in
Mecklenburg, das ein Storchland ersten Ranges ist, noch immer Dörfer,
in denen fast jedes Strohdach seine zwei Storchnester trägt. Darunter
sind uralte, die über einen Meter hoch sind und auf demselben Flecke dieses
— 0 8 —
Daches fast so lange standen, als es besteht. Aber dennoch vermindert sich
auch dort im allgemeinen die Anzahl der Störche, und in manchen Dörfern,
die er früher bewohnte, findet man ihn nicht mehr. In meiner Vaterstadt
Schwerin waren zu meiner Kinderzeit noch drei Storchnester. Soviel ich
weiß, sind sie jetzt alle drei verschwunden. An der Abnahme des Storches
ist nicht seine Verfolgung durch den Menschen schuld, obwohl seine Aus—
rottung von manchen Eiferern gepredigt wird, weil er der Jagd schädlich
ist und manches junge Häschen verschluckt. Auch junge Rebhühner und
Wachteln verzehrt er und nimmt alle Vogelnester aus, die ihm auf seinen
Studienreisen in Feld und Sumpf und Wiese begegnen. Da nun auch
Ringelnattern, Eidechsen und Frösche, die er in Menge verschluckt, oder
Kröten, die er nur tötet und liegen läßt, nicht schädliche, sondern meist
sehr nützliche Tiere sind, so meinen die Gegner des Storches, man dürfe
ihm keinerlei Schonung angedeihen lassen, sondern müsse ihn ohne Gnade
ausrotten. Dabei lassen sie aber außer acht, daß dieser Schaden durch
die unzähligen Mäuse, die der Storch verzehrt, reichlich wieder ausgeglichen
wird. Vor allen Dingen aber ist der Storch ein von Sagen und Märchen
umwobener Vogel, dem Landmanne lieb und vertraut von uralten Zeiten
her, so daß er ihm noch heute durch ein auf dem Giebel wagerecht an—
gebrachtes altes Wagenrad Gelegenheit zum Nisten bietet. Jeder hat seine
Freude an den schönen, stattlichen Vögeln, die eine Zierde der Landschaft
und seines Scheunendaches sind, wo sie, furchtlos nistend, sich seinem Schutze
anvertrauen.
3. Die Abnahme des Storches hat andre Gründe, und zwar die, daß
die ihm im Anfang freundliche Kultur im weiteren Verlauf angefangen
hat, ihm wieder ungünstig zu werden durch das Trockenlegen der Sümpfe
und die Verwandlung der Wiesen in Ackerland. Der Storch ist nun
einmal, wie schon seine langen, roten Stelzen anzeigen, ein Sumpfvogel.
Die Minderung der Sümpfe mindert auch seinen Bestand, und so sehen
wir ihn denn mit der fortschreitenden Bodenverbesserung aus manchen
Gegenden ganz verschwinden. Nur dort, wo ausgedehnte und feuchte
Wiesenniederungen sich meilenweit erstrecken, wie z. B. in der Recknitz—
ebene in Mecklenburg, findet man noch die richtigen Storchdörfer,
in denen die Niederlassungen dieser Vögel die der Menschen um das
zwei- und mehrfache übertreffen. Man glaubt gar nicht, welches Leben
in solchem Dorfe herrscht, zumal wenn die Störche Junge haben und die
Alten zur Versorgung der hungrigen Schnäbel ab und zu fliegen. Dann
sind immer einige der mächtigen, über zwei Meter klafternden Vögel in
der Luft, und das Klapperkonzert hört den ganzen Tag nicht auf.
109 —
4. Bekannt ist das Märchen, daß der Storch dem Bauern, bei dem
er wohnt, eine Abgabe zahlt, im ersten Jahr eine Feder, im zweiten ein
Ei und im dritten ein Junges. Aber weniger verbreitet ist eine hübsche
kleine Geschichte, die ich einst in einem Sagenbuche fand: Der Diener
eines vornehmen Herrn aus Pommern, den dieser mit auf eine Reise ins
Morgenland genommen hatte, spazierte eines Tages in einem afrikanischen
Hafen herum, um sich die ausländischen Schiffe anzusehen und all das
fremdländische Volk, das sich dort umhertrieb. Da rief ihn eine fremde
Stimme au: „Guten Tag, Johann, wie kommst du hierher?“ Er sah
verwundert auf und erblickte einen langbeinigen Schwarzen, der auf einem
der Schiffe stand und ihm zurief: „Du kennst mich wohl nicht? Ich bin
doch der Storch bei dir zu Hause auf dem Dache. Im Winter leb' ich
hier als Mensch.“ Da hat Johann sich gegrault und ist schnell fort—
gegangen. Der schwarze Kerl aber hat hinter ihm her gelacht und mit
den Zähnen dazu geklappert wie ein Storch.
5. Es geht auch eine Sage von einem fernen Storchlande, wohin
die Störche im Winter ziehen, wo es überaus herrlich sein soll und jeder
findet, was er sich am meisten wünscht. Ein Graf mit seinen drei Dienern
war ausgezogen, es zu suchen. Sie waren über das große Meer ge—
fahren und hatten viele Wälder, Wüsten und Einöden durchwandert. Da
gelangten sie an die hohe, glatte Mauer, die das Storchland einschließt.
Der erste der drei Diener kletterte mit Hilfe der andern hinauf. Allein
kaum hatte er einen Blick auf die andre Seite getan, so nickte er höchst
zufrieden und sprang sofort hinüber. Nun halfen sie dem zweiten hinauf.
Der schnippte vor lauter Vergnügen mit den Fingern und war im Nu
verschwunden. Mit großer Mühe half nun der Graf dem letzten Diener,
die Mauer zu ersteigen. Kaum hatte dieser sich hinaufgeschwungen, so
strahlte er über das ganze Gesicht, rief: „Hurra!“, und weg war er.
Vergebens wartete der Graf auf die Rückkehr seiner Diener, und da er
allein nicht imstande war, die glatte Mauer zu erklettern, so mußte er
unverrichteter Dinge wieder umkehren und konnte niemandem erzählen, wie
es in dem wunderbaren Storchland aussieht.
6. Auch ein prophetischer Vogel ist der Storch. Wer den ersten
Storch im Jahre erblickt, muß darauf achten, ob er fliegt oder sitzt.
Sieht man ihn fliegen, so bedeutet es, daß man in dem folgenden Jahre
sehr fleißig sein wird; sieht man ihn aber sitzen, so wird das Gegenteil
der Fall sein.
UNach Heinrich Seidel. (Universum.)
— 1—
82. Die ersten Kartoffeln in Lolberg.
1. Im Jahre 1745 erhielt Kolberg aus Priedrichs des Groben
vorsorgender Güte ein Geschenk, das damals in Pommern noch völlig
unbekannt war. BVin grober Frachtwagen voll Kartoffeln langte
nämlich auf dem Markt an. Durch Prommelschlag erging in der
Stadt und in den Vorstädten die Bekanntmachung, daß jeder Garten-
besitzer sich zu einer bestimmten Stunde vor dem Rathaus einfinden
solle, da der König ihnen eine besondere Wobltat zugedacht habe.
Alles geriet in stürmische Bewegung, und das um so mebr, je weniger
man wubte, was dieses Geschenk zu bedeuten habe.
2. Die Herren vom Rate zeigten nunmehr der versammelten Menge
die neue Erucht vor, die hier noch nie ein menschliches Auge erblickt
hatte. Dabei ward eine umständliche Anweisung verlesen, wie diese
Kartoffeln gepflanzt und bewirtschaftet, gekocht und zubereitet wer—
den sollten. Besser wäre es freilich gewesen, venn man eine solche
geschriebene oder gedruckte Belehrung gleich mit verteilt hätte, denn
in dem Getümmel achteten die wenigsten auf jene Vorlesung. Da—
gegen nahmen die guten Leute die hochgepriesenen Knollen verwun-
dert in die Hände und rochen, schmeckten und leckten daran. Kopf-
schüttelnd bot sie ein Nachbar dem andern. Man brach sie aus-
einander und wart sie den Hunden vor, die daran herumschnupperten
und sie auch verschmähten. Nun war ihnen das Urteil gesprochen!
„Die Dinger“, hieb es, „riechen nicht und schmecken nicht, und nicht
einmal die Hunde mögen sie fresson. Was väre uns damit geholfen?“
Allgemein glaubte man dabei, dab sie zu Bäumen heranwüchsen, von
denen man zu seiner Zeit ähnliche Früchte herabschüttle.
52
3. Inzwischen ward des Königs Wille vollzogen und seine Segens-
gabe unter die anwegenden Garteneigentümer nach Verhältnis ihrer
Besitzungen ausgeteilt, jedoch so, dab auch die Geringeren ziemlich
reichlich bedacht wurden. Kaum irgend jemand hatte die erteilte
Apnweisung zu ihrem Anbau recht begriffen. Wer sie also in seiner
getũuuschten Erwartung nicht geradezu auf den Kehrichthaufen wartf,
ging doch bei der Auspflanzung so verkehrt wie mögliebh zu Werke.
Einige steckten sie hier und da einzeln in die Ercdle, ohne sich weiter
um sie zu kümmern. Andre glaubten das Ding noch klüger anzu—
greifen, wenn sie die Kartoffeln zusammen auf einen Haufen schütteten
und mit etwas Erde bedeckten. Da wuchsen sie dann zu emnem
dichten Ellz ineinander.
— —
Nun mochten aber wohl die Herren vom Rate gar bald in Er-
fahrung gebracht haben, daß es unter den Empfängern viele lose
Verũchter gegeben, die ihren Schatz gar nicht einmal der Erde an-
vertraut hätten. Darum ward in den Sommermonaten durch den
Ratsdiener und Feldwächter eine allgemeine und strenge RKartoffel-
schau veranstaltet. Dabei wurde den Widerspenstigen eine Lleine
Geldbuße auferlegt. Das gab viederum ein grohes Geschrei und
diente nicht dazu, der neuen Frucht an den Bestraften bessere Gönner
und EFreunde zu erwecken.
4. Das Jalir darauf erneuerte der König seine wohltätige Spende
durch eine ähnliche Ladung. Allein diesmal verkuhr man dabei
höheren Orts auch zweckmähiger. Es wurde zugleich ein Landreiter
mitgeschickt, der als ein geborner Schwabe des Kaxrtoffelbaus kundig
war Er halk den Leuten bei der Muspflanzung und besorgte die
weitere Pflege der Kartoffelpflanzen. So kam also diese neue Frucht
zuerst ins Land und hat seitdem durch immer vermehrten Anbau
krüftig gewehrt, daß nie wieder eine Hungersnot so allgemein und
drückend bei uns hat um sich greifen können wie vor der Einführung
der Kartoffel.
Joachim UNettelbeck. (Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet.)
83. Gefunden.
1. Ich ging im Walde so für mich hin,
und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
2. Im Schatken sah ich ein Blümchen stehn,
wie Sterne leuchtend, wie Auglein schön.
3. Ich wollt' es brechen; da sagk es sein:
„Soll ich zum Welken gebrochen sein?““
4. Ich grub's mit allen den Würzlein aus,
zum Garken trug ich's am hübschen Haus —
5. und pflanzt es wieder am stillen Ort;
nun zweigt es immer und blüht so fort.
Johann Wolfgang von Goethe.
84. Das Blumenpflücken.
1. Du magst, soviel dir nur beliebt, von Vlumen pflücken,
um dich, und wen du willst, damit zu schmücken.
Dazu sind Vlumen da, von dir gepflückt zu sein;
sie laden selber dich dazu mit Nicken ein.
— 2—
2. Nur eines unterlass' ich nicht, dir einzuschürfen:
daß du nichts pflücken sollst, nur um es wegzuwerfen.
Vedenk', der schönste Strauß des Frühlings blüht für dich;
doch wenn du ihn nicht brauchst, so laß ihn blühn für sich.
Friedrich Rückert. Gelürzt.)
85. Heidenröslein.
1. Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden;
war so jung und morgenschön,
lief er schnell, es nah zu sehn,
sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden!
2. Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!“
Röslein sprach: „Ich steche dich,
daß du ewig denkst an mich,
und ich will's nicht leiden.“
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden!
3. Und der wilde Knabe brach
8 Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
half ihm doch kein Weh und Ach,
mußt' es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden!
Johann Wolfgang von Goethe.
86. Das Kornfeld.
1. Wer zwischen Kornfeldern aufgewachsen ist, der vergißt ihr Rauschen
und Wiegen und Wogen sein lebelang nicht. Sie sind gleichsam trockene
Meere, in deren Fluten der Hase und das Rebhuhn untertaucht, und über
dem statt schreiender Möwen singende Lerchen schweben. Hat das Kornfeld
nun die Einförmigkeit und den gleichmäßigen Wogenschlag des Meeres, so
birgt es gleich diesem auch Reichtum und Schönheit in sich. Lauter Brot
ist es, das in ihm Wellen schlägt, und bei näherer Betrachtung wird das
fortwährende Einerlei schlanker Ähren durch manche anmutige Abwechslung
unterbrochen. Die Kornblume, der Rittersporn, die rote Rade und der
Feldmohn schimmern leuchtend aus dem einförmigen Ährenwerk hervor. Und
welch niedliche Wendeltreppen baut nicht die Ackerwinde mit den weißen, rosa
angehauchten Blüten, wenn sie sich zierlich an einem Halme bis zur Ähre
emporringelt! Unten auf dem Boden treibt sich ein zahlreiches Geschlecht
winziger Pflänzchen umher, die man erst recht zu Gesicht bekommt, wenn
— 13—
das Korn abgemäht ist. Da sind winzige Stiefmütterchen mit feinen, blaß—
gelben Gesichtern, Ackervergißmeinnicht, so klein und zierlich, daß sie als
Erinnerungszeichen gar nicht mehr zu brauchen sind, außerdem allerlei Kriech—
werk mit weißen, blauen und leuchtend roten Sternchen. Diese bunte Herrlich—
keit, die den Städter entzückt, ist dem Landbebauer lästiges Unkraut, das er
gern mit Stumpf und Stiel vertilgen möchte. Sein größter Stolz ist ein
ganz reines Feld, auf dem nichts weiter wächst als die körnerreichen Ähren,
und zwar möglichst dicht.
2. Welch ein geschäftiges kleines Volk treibt sich zwischen den Halmen
herum! Ist nicht das Schwirren der Grillen und das Wetzen der Heuspringer
untrennbar von einem Kornfelde? Obgleich die Natur dem Heuspringer eine
große Beweglichkeit verliehen hat, ist sein Benehmen, wenn er an einem
Halme kriecht, doch äußerst würdevoll und bedächtig. Plötzlich jedoch macht
er einen ungeheuern Satz und sitzt dann an einem andern schwankenden
Stengel mit einer so ernsthaften Miene da, als ob er es gar nicht gewesen
wäre. Mit diesem spaßhaften Beinkünstler ist die verdrießliche Grille verwandt,
die ein kleines Erdloch bewohnt und im Sonnenschein gern aus ihrer Haus—
tür guckt und Musik macht.
3. Besonders lebhaft geht es auf dem schmalen Feldraine zu, wo allerlei
vergnügliche Blumen, die niemals im Kornfelde selbst sich vorfinden, fröhlich
gedeihen. Da gibt es solche, auf denen in großen Dolden lauter goldene
Westenknöpfe wachsen. Dort rankt am Boden die dornige Hauhechel, von
rosigen Blüten wie mit kleinen Schmetterlingen besetzt. Nebenan halten die
Schafgarbe und die wilde Möhre ihre weißen Blumenteller und der Mause—
klee seine grauen Pelzmützchen empor. Blaue Glockenblumen stehen hin und
wieder beieinander, und dicht daneben reißt das goldene Löwenmaul seinen
kleinen, unschädlichen Rachen auf.
4. Hier summt und schwärmt es nun von allerlei Besuchern und Gästen
die ganze Tonleiter hindurch, vom tiefen, brummenden Tone der großen
Hummel, die der Bär unter den Insekten ist, bis zum feinen Singen der
zierlichen Mücke. So eine große Blütendolde ist wie ein Wirtshaus, wo
alles einkehrt und sein Schöppchen trinkt. Die fleißige Biene hat es eilig;
mit ruheloser Hast fliegt sie von einer Blüte zur andern, und ohne Be—
sinnen fliegt sie wieder weiter. — Man merkt ihr an, daß sie nach dem
Grundsatze lebt: „Zeit ist Honig.“ Behaglicher macht es sich schon der leicht⸗
sinnige Lüftebummler, der Schmetterling. Während er seinen Rüssel behutsam
in ein Blütenschöppchen versenkt, vergißt er nicht, das schimmernde Flügel—
paar von Zeit zu Zeit auszubreiten und es dem Sonnenschein darzubieten.
Die seßhafteren Käfer dagegen sind als Stammgäste zu betrachten, die mit vor—
nehmer Verachtung auf den emsigen Fleiß der Biene wie auf den flattrigen
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B D. U. Neubtg.
8 84
— 14 —
Leichtsinn des Schmetterlings blicken, ihr Schöpplein schlückchenweise leeren
und tiefsinnigen Gedanken über das Wohl und Wehe der Käferwelt nach—
hängen, bis ein hungriger Vogel vorkommt und sie samt ihrer Weisheit
auffrißt.
5. über das Kornfeld hin schießen gern die Schwalben, um Jagd zu
machen auf das winzige Geflügel, das die Ähren umschwärmt. Der eigen—
tümlichste Vogel bleibt jedoch außer den Ammern immer die Lerche, die
bescheiden auf dem Erdboden zwischen den Halmen nistet und von da sich
singend emporschwingt in die blauen, himmlischen Höhen.
Andre, versteckt lebende Bewohner des Kornfeldes bekommt man, so—
lange das Getreide steht, selten zu Gesicht, wie das Rebhuhn und die flinke
Wachtel. Dafür macht sich der klingende Ruf dieser letzteren desto mehr be—
merklich. An stillen, warmen Frühlingsabenden, wenn ein feuchter Dunst
über den Feldern schwebt und die nebelbedeckten Wiesengründe wie weiße
Seen dazwischen liegen, hört man ihr durchdringendes „Pickperwick“ un—
aufhörlich, während die Wiesenralle von der feuchten Wiese her ihren merk—
würdigen, schnarrenden Ruf ertönen läßt und aus der Ferne der einförmige
Gesang der Frösche schallt.
6. Von den vierfüßigen Tieren, die das Kornfeld bewohnen, ist wohl
das reizendste die zierliche Zwergmaus. Man könnte sie das Eichhörnchen
des Kornfeldes nennen, da sie mit der größten Gewandtheit zwischen den
Ähren klettert und auch über dem Boden zwischen den Halmen sich ein
kugliges Nest mit seitlichem Eingange baut, in dem sie ihre zuerst über—
aus kleinen Jungen großzieht. Beim Klettern benutzt sie in zierlicher Weise
ihren Schwanz nach Art mancher Affen als Wickelschwanz, um sich damit
festzuhalten.
7. Hier und da sind im Kornfeld einsame Teiche eingeschlossen, die
wie helle Augen emporblicken, in denen sich monatelang nichts spiegelt als die
Wolken des Himmels oder ein vorüberfliegender Vogel. Zwischen Rohr und
Wasserpflanzen, die den Uferrand umkränzen, zieht hier das grünfüßige Wasser—
huhn seine niedlichen Jungen auf. An den schrägen Abhängen wächst üppig
Gras und Blumenwerk, und oben steht das reifende Korn wie eine goldene
Mauer ringsumher. Man hört nichts als das flüsternde Wispern und Rauschen
des Ährenmeeres in der Runde; es ist, als ob man aus der Welt wäre.
Das scheue Reh weiß dies sehr wohl und verläßt darum im Sommer oft
den Wald, um sich im Kornfelde zu lagern, wo es am ungestörtesten ist.
8. Zuweilen vagt auch mitten aus dem Ährenmeer wie eine Insel ein
buschbewachsener kleiner Hügel hervor oder ein Feldgehblz, an dessen Rande der
Schlehdorn und die wilden Rosen blühen. Hecken durchziehen es, in denen
Grasmücken und Hänflinge nisten, und wo der rotrückige Würger auf einem
—115 —
schwankenden Zweige auf Raub lauert. Auf vielen Gütern findet man aus
älterer Zeit noch breite und tiefe Abzugsgräben, die im Sommer ein Füll—
horn voll Blumen sind.
9. Mancherlei Sagen und Gebräuche knüpfen sich in allen Gegenden an
das Kornfeld. Besonders lieblich ist die Geschichte vom Kornkinde, die man
sich in der Schweiz erzählt. — Ein Bauer kam an ein prächtiges Saatfeld
und sah dort auf weißen Windeln ein kleines, hilfloses Kind liegen mit
hellen, weizengelben Löckchen. Das Kind lächelte ihn an und streckte ihm
bittend die Händchen entgegen. Der Bauer erbarmte sich seiner und wollte
es aufheben, um es mit heimzunehmen. Da ward aber das Kind unter
seinen Händen schwerer und schwerer; — er vermochte es nicht einmal von
der Erde aufzuheben. Zuletzt erglänzte es wie Gold und sang: „Hast wohl
vertrauet, hast wohl gebauet, gebaut auf Gott!“ und verschwand ihm unter
den Händen.
Kann man wohl anmutiger den schwerer und schwerer werdenden Segen
des Kornfeldes darstellen?
Heinrich Seidel. (Franz Hoffmanns Neuer Deutscher Jugendfreund.)
87. Durchs Kornfeld.
1. Das ist ein köstlich Wallen, durchs hohe Korn zu gehn,
wenn weit und breit die Felder in goldnen Ähren stehn.
Auf allen Wegen blühen die Blumen, rot und blau,
nach mildem Regen pranget in frischem Grün die Au.
2. Die Lerche steigt zum Himmel — horch, wie sie fröhlich singt!
Sie lobet Gott mit Jubeln, daß weithin es erklingt.
Hoch spannt der Regenbogen sich übers grüne Tal,
die goldnen Ähren wogen im hellen Sonnenstrahl.
Georxg Christian Dieffenbach.
88. Der Iltis.
1. Neulich statteten wir einer halbverfallenen Scheune in unsrer
Nachbarschaft einen Besuch ab. Dort hält sich nämlich im Winter allerlei
Getier auf, und erst kürzlich hat ein Iltis in dem Hühnerstall des Bauern
vorgesprochen und sich eine Henne, noch dazu die fleißigste Legerin, geholt.
Der Bauer zeterte nicht wenig über den frechen Dieb und schwur ihm
Tod und Verderben. Gestern abend stellte er neben dem verfallenen
Scheunentor ein Tellereisen auf, wobei er einen kleinen Fleischbrocken als
Köder verwendete.
8*
— 16 —
Was ist das für ein Fauchen? Sollte der Stänker — so nennt man
den Iltis wegen der höchst widerlich duftenden Flüssigkeit, die ihm als
Waffe gegen die ihn verfolgenden Feinde dient, — wirklich in die Falle
geraten sein? Richtig, er hat sich gefangen; an beiden Vorderläufen hält
ihn das Tellereisen fest. Wie er die Zähne fletscht! Schon nagte er an
seinem eigenen Fleisch; er wollte sich die Beine durchbeißen, um zu ent—
kommen. Sieh, da ist auch schon der Bauer mit einem Prügel, und
unter seinen wuchtigen Streichen verendet das zählebige Tier.
2. Da liegt er nun, der Arme! In der Sonne glänzt sein schönes
schwarzbraunes, an den Seiten heller gefärbtes Fell. Vorigen Sommer
lebte unser Iltis, auch Ratz genannt, im nahen Walde in einer hohlen
Eiche. Er hatte sich dort in einer geräumigen Höhlung, deren Eingang
unter einer knorrigen Wurzel hinwegführt, ein weiches Lager zurecht—
gemacht und hier mit seiner Frau, der Rätzin, ein lustig Kindervolk heran—
gezogen; es waren sieben Stück, und alle wohlgeraten.
Den Tag über lag der Iltis in seinem Bau auf der faulen Haut.
Erst mit einbrechender Dunkelheit machte er sich auf die Socken, aber
recht langsam und mit großer Vorsicht. Konnte er nichts Verdächtiges
bemerken, o wie wohl war ihm dann; er warf sich ins Gras und wälzte
sich vor Behagen. Tönte nun vom nahen Teiche her der Feuerkröte leises
„unk, unk!“ und des Wasserfrosches lautes „geck, geck!“, so schlich er lang—
sam dem Wasser zu, und nicht lange dauerte es, so hatte er etliche der
nächtlichen Musikanten für immer zum Schweigen gebracht. Bald lauerte
er vor einem Mauseloch und erhaschte die arme Bewohnerin mit raschem
Sprunge; dann zog er einen Maulwurf, der gerade einen neuen Erdhügel
aufwarf, mit sicherm Griff aus seiner Röhre. Auf dem nahen Felde
hausten mehrere Hamster. Auf sie hatte er's schon lange abgesehen, und
eines Abends schleppte er zwei von ihnen seiner Höhle zu. So hatte der
Iltis den ganzen Sommer sein Handwerk getrieben. Manchen Frosch
und manche Kröte hatte er erbeutet, mancher Schlange hatte er den Garaus
gemacht und sich nicht einmal vor dem Bisse der giftigen Kreuzotter gefürchtet.
Die Menge der erlegten Feld- und Waldmäuse war kaum zu zählen. Selbst
ein Igelpaar, das sich in der Nähe seiner Eiche im dichtesten Gestrüpp
angesiedelt hatte, mußte sein Leben lassen. In der Not hatte er sich aber
auch manchmal mit Schnecken oder Heuschrecken begnügen müssen.
3. Mit dem Eintritt des Winters bezog unser Iltis die alte Scheune
und machte zunächst den Mäusen, die sich ebenfalls dorthin zurückgezogen
hatten, das Leben sauer. Dann jagte er im Umkreise und kam so in einer
der letzten Nächte auch an dem Hühnerstall des Bauern vorüber; da die
Tür offen stand, konnte er der Versuchung nicht widerstehen.
— 117 —
In den nächsten Tagen wollte der Iltis seine Sommerwohnung wieder
beziehen und aufs neue einen Hausstand gründen. Nun ist alles aus. Der
hartherzige Hofbauer zieht ihm schadenfroh das Fell ab und denkt gar nicht
daran, wie viele schädliche Mäuse, Ratten, Schlangen und dergleichen Tiere
ein Iltis im Laufe eines Jahres aus der Welt schafft, und daß der Räuber
ihm gar keinen Schaden hätte zufügen können, wenn er nur dafür gesorgt
hätte, daß sein Hühnerstall rechtzeitig geschlossen worden wäre. Auf Dank⸗
barkeit darf aber ein Iltis bei den Menschen nicht rechnen; es könnte
sonst nicht jährlich über eine halbe Million von ihnen erlegt werden. Aber
ihre Felle haben einen Wert von etwa 2 Millionen Mark, und das erklärt
das unbarmherzige Vorgehen gegen den Iltis zur Genüge.
Dr. R. G. Lutz. Wanderungen in Begleitung eines Naturkundigen.)
89. Aus der Kiefernheide.
1. Große, reine Kiefernwaldungen finden sich nur in der Ebene—
Darum liegt das Hauptgebiet der Kiefer im sandigen norddeutschen Tief⸗
lande, wo sie im nordöstlichen Sachsen, in der Mark Brandenburg, in
Schlesien, Posen, Pommern und Westpreußen riesige Flächen bedeckt und
als Waldbaum fast ausschließlich herrscht. In Ostpreußen macht ihr die
Fichte oder Rottanne die Herrschaft streitig, die dort ebenso häufig vorkommt.
Was den Eingebornen Nordafrikas die Dattelpalme, das ist dem
Bauern des sandigen norddeutschen Flachlandes die Kiefer; er kann ohne
sie nicht leben, weil er ohne sie seine Scholle nicht bewirtschaften kann.
Die Kiefer ist der einzige Baum, der auf dem armen Sande noch einen
Ertrag gibt. Sie liefert dem Bauern das Holz zum Bau und zur In—
standhaltung seiner Wohn- und Wirtschaftsgebäude, zum Zaun um seinen
Garten wie zu manchem Haus- und Wirtschaftsgerät. Beim Mangel an
Stroh gibt sie durch reichlichen Nadelabfall im Herbste die Streu für
seine Viehställe und damit den Dünger zur Fruchtbarmachung seines
magern Landes. Und was tut der Heidebauer, wenn in trockenen Jahren
Heu und Stroh auch als Futtermittel nicht ausreichen wollen? Er geht
im Spätherbst, solange es der Schnee nicht verhindert, in den Kiefernwald
und sichelt die grünen Spitzen des Heidekrautes ab, um sie als Beigabe
zum Futter für seine Kühe zu verwenden. Also immer ist's der Kiefernwald,
der Standort des Heidekrautes, der ihm zum Helfer in der Not wird.
2. Die Kiefer blüht im Mai und Anfang Juni während des Wachsens
der neuen Triebe, an deren Spitze die hellroten weiblichen Blüten stehen.
— 3
Die schwefelgelben männlichen Blüten befinden sich am unteren Teile der
jungen Triebe. Die jungen Zapfen sind im ersten Jahre kuglig und grün
und erlangen erst im zweiten Jahre ihre kegelförmige, zugespitzte Gestalt
und im Herbst ihre scherbengelbe bis braungraue Färbung.
Der schwärzliche, geflügelte Samen reift im Oktober des zweiten
Jahres und fällt im nächsten Frühjahr aus den sich jetzt öffnenden Zapfen—
schuppen heraus, wobei er sich bis hundert Schritt weit vom Mutterbaume
verbreitet. Die leeren Zapfen bleiben bis zum Herbste hängen, wo sie,
von den Stürmen herabgeworfen, als ausgezeichnetes Brennmaterial von
den armen Anwohnern des Waldes gesammelt werden.
Die Kiefer liebt den tieflockern Boden der Ebene. Ihre Wurzelbil—
dung — dazu geschaffen, die Feuchtigkeit aus der Tiefe heraufzuholen —,
ihre unübertroffene Genügsamkeit, ihre Unempfindlichkeit gegen Frost und
Hitze machen sie zum geeignetsten Waldbaume des sandigen Flachlandes.
Auf armem, trockenem Sande zeigt sie allerdings ein sehr langsames Wachs—
tum und vielfach ein struppiges, krüppelhaftes Äußere. Dagegen wächst
sie auf tiefgründigem, sandig-lehmigem Boden rasch in die Höhe zu einem
stattlichen, schnurgeraden Baume, der bis 40 Meter Höhe und ein zwei—
bis dreihundertjähriges Alter erreichen kann. In der Regel werden die
Kiefernwaldungen jedoch in sechzig- bis hundertzwanzigjährigem Umtriebe
bewirtschaftet, weil die Kiefer in diesem Zeitraume ihren Längenwuchs
beendet.
3. Das Holz älterer Kiefern ist von ausgezeichneter Güte und Dauer—
haftigkeit, um so mehr, je harzreicher es ist. Langsam gewachsene Stämme mit
gleichmäßig engen Jahrringen, braunem Kernholz und geringem Splintring
liefern das dauerhafteste Nutzholz. In freiem Stande erwachsen, bildet
die Kiefer niemals einen hohen, geraden Stamm, sondern neigt zur
Astbildung. Weil solche freistehenden Stämme als Nutzholz untauglich
sind, läßt man die Kiefer in der Jugend in engem Stande aufwachsen
und gibt ihr erst später bei der Durchforstung einen größeren Wachsraum.
Das Holz der Kiefer wird beim Häuser- und Brückenbau, als Gruben—
holz beim Bergbau, zu Pumpenröhren, Eisenbahnschwellen und Telegraphen—
stangen verwendet. Es dient beim Schiffbau zu Masten und Rahen, als
Bretter und Bohlen dem Tischler, Zimmermann und Böttcher, zu Baum—
pfählen und Zaunstangen, als Brennholz und zur Bereitung von Zellu—
lose, Holzwolle, Teer und Kienruß. Die zähen Kiefernwurzeln endlich
geben gutes Material zu Flechtwaren, wie Körben und Fischreusen.
119 —
4. Dank ihrer tiefgehenden, starken Pfahlwurzel ist die Kiefer den
Verheerungen der Stürme weniger unterworfen als andre Waldbäume.
Um so mehr wird sie von einem andern Elemente bedroht, dem Feuer,
und es vergeht kein Jahr, in dem nicht Waldbrände von größerer oder
geringerer Ausdehnung im Kiefernwalde vorkämen. Besonders groß waren
die Verheerungen der Waldbrände in den heißen, trockenen Sommern der
Jahre 1900 und 1904, wo durch sie viele tausend Hektar der schönsten
Kiefernbestände vernichtet worden sind. Die Entstehung von Waldbränden
ist fast immer auf das unvorsichtige Umgehen mit Zündhölzchen und
brennenden Zigarren durch sorglose Spaziergänger, auf Unvorsichtigkeit
beim Anzünden wärmender Feuer durch Arbeiter oder auf Funkenflug aus
Lokomotiven zurückzuführen, seltener auf absichtliche Brandstiftung oder
Blitzschlag. Gewöhnlich ist das entstehende Feuer Boden- oder Lauffeuer,
d. h. es ergreift und verzehrt den trockenen Bodenüberzug. Erst durch
Hinaufzüngeln der Flammen oder durch Funkenflug wird es zum Wipfel⸗
feuer. Am meisten sind die mit trockenem Grase oder Heidekraut über—
zogenen Kulturflächen und die geschlossenen Dickungen bedroht; in älteren
Beständen, die sich von der dürren unteren Beastung gereinigt haben,
vermindert sich die Feuersgefahr.
Die Bekämpfung des Bodenfeuers erfolgt am besten durch Ausschlagen
mit grünen Zweigen, Bewerfen des Feuers mit frischer Erde und rasches
Abräumen der noch nicht brennenden Bodendecke Bei Wipfelfeuer ist
nur Fällen des an den brennenden Bestand angrenzenden Holzes anzu—
wenden, wobei die gefällten Bäume in den vom Feuer ergriffenen Bestand
hineinzuwerfen sind. Als vorbeugende Maßregel dient ein planmäßig
angelegtes und sorgfältig reingehaltenes Schneisennetz, während holzfreie
„Schutzstreifen“ die den Wald durchschneidenden Eisenbahnstrecken zu beiden
Seiten in einer Breite von 10 bis 15 Meter begleiten
5. Keine Holzart des deutschen Waldes wird während ihrer ganzen
Lebensdauer von so vielen verschiedenen Waldverderbern aus dem Reiche
der Kerfe geplagt wie die Kiefer. Einer ihrer furchtbarsten Feinde ist die
Raupe des Kiefernspinners, eines ziemlich großen, braungrauen Nacht—
schmetterlings. Die in den sandigen Kiefernheiden heimischen Falter fliegen
im Juli und setzen ihre Eier in Häufchen an der Rinde der unteren Stamm—
teile älterer Kiefern ab. Die grauen, behaarten Räupchen entschlüpfen
den Eiern im August; sie leben im ersten Sommer und Herbst fast un—
bemerkt in den Baumkronen und verbringen den Winter zusammengerollt
— 120 —
unter der moosigen Bodendecke am Fuße der Stämme. Im nächsten Früh⸗
jahr kommen sie hervor, kriechen auf die Bäume und beginnen dort, nun—
mehr rasch wachsend, ihren verderblichen Fraß, dem bald die ganze Be—
nadelung des Baumes zum Opfer fällt; die kahlgefressenen Kiefern verfallen
dann, ihrer Atmungsorgane beraubt, rasch dem Tode. Die Verheerungen,
die dieses Insekt in den norddeutschen Kiefernwaldungen schon angerichtet
hat, sind ungeheuer. Das erfolgreichste Mittel in dem Kampfe, den der
Forstmann gegen diesen Schädling führt, ist das Anbringen von Teer—
oder Leimringen um die Stämme der von einem Raupenfraße bedrohten
Kiefernbestände, bevor die Raupen das Winterlager verlassen. Die bäumen—
den Raupen, die den Ring nicht zu überschreiten vermögen, gehen dann
durch Verhungern zugrunde.
Andre bedeutende Schädlinge aus der Ordnung der Schmetterlinge
sind die gelblichgrünen, nackten Raupen der Kieferneule und des Kiefern—
spanners. Beträchtlichen Schaden richten in den Kulturen zuweilen auch
der große braune Rüsselkäfer, der zweizähnige Borkenkäfer und der Enger—
ling des Maikäfers an, die durch ihren Fraß manche Pflanze töten, ja
ganze Kulturen verheeren.
6. Schließlich müssen wir noch einer großen Wohltat gedenken, die
der Kiefernwald im Sommer der Landbevölkerung erweist. In seinem
Halbschatten gedeiht die Heidel- oder Blaubeere vortrefflich, die in neuerer
Zeit einen bedeutenden Handelsartikel bildet, so daß der jährliche Beeren—
ertrag der hannöverschen Forsten allein auf 455000 Mark geschätzt wird.
Wenn die blauschwarzen Beeren „geraten“ sind, ziehen die mit Krügen
und Kannen ausgerüsteten Scharen der Beerensammler fröhlich in die Heide,
wo ihnen nun mehrere Wochen lang lohnender Verdienst winkt. Manche
arme, mit Kindern gesegnete Witwe rechnet auf diese Einnahme, die es
ihr ermöglicht, den Mietzins und noch manches andre davon zu bestreiten.
Aus den Beeren, die nicht als Nahrungsmittel verwendet werden, wird
ein guter Rotwein gewonnen, der als Heilmittel gegen Darmkatarrhe mit
bestem Erfolge angewendet wird. Auch werden getrocknete Heidel- oder
Blaubeeren zum Färben ausländischer Weine gebraucht, und es gehen zu
diesem Zwecke alljährlich große Mengen davon nach Frankreich.
Später, im Herbste, sprossen die Pilze, vor allem der beliebte Steinpilz
und der Pfifferling oder das Gelböhrchen, aus dem Heideboden hervor,
den armen Anwohnern des Waldes abermals einen Verdienst verheißend.
*8
— 12 —
7. Oft wird die Kiefer geringschätzig beurteilt von denen, die sie nur
als kümmerlichen, struppigen Baum der ausgemagerten, unfruchtbaren
Bauernheide kennen. Wer aber unter den majestätischen Säulenhallen
hundertjähriger Kiefernbestände in den großen Forsten des norddeutschen
Tieflandes gewandelt ist, der weiß diesen schönen, kernfesten, nützlichen
Baum wohl zu schätzen. Möge der viel verkannte Kiefernwald, der besser
ist als sein Ruf, in seiner jetzigen Ausdehnung auch in Zukunft unserm
Vaterlande erhalten bleiben als ein Bollwerk gegen Stürme und Flug—
sand, als eine Dase in der eintönigen Tiefebene, als ein Freund und Not—
helfer des armen Heidebewohners!
Richard Schier. (Aus Wald und Heide.)
90. Die Gäste der Buche.
L. Mietegäste vier im Haus
hat die alte Buche:
Tief im Reller wohnt die Maus,
nagt am Hhungertuche.
2. Stolz auf seinen roten RVock
und gesparten Samen,
sitzt ein Protz im ersten Stock;
Eichhorn ist sein Namen.
Z. Weiter oben hat der Specht
seine Werkstatt liegen,
hackt und zimmert kunstgerecht,
daß die Späne fliegen.
4. Auf dem Wipfel im Geäst
pfeift ein winzig kleiner
Musikante froh im Nest. —
Miete zahlt nicht einer.
Rudolf Baumbach.
91. Die Kreuzotter.
1. Der Wald mit seinem Schattendunkel, seinen plätschernden Quellen
und undurchdringlichen Gebüschen ist der Lieblingsaufenthalt jedes Natur—
freundes. Hier beobachten wir das Leben und Treiben zahlreicher Tiere,
ergötzen uns an dem üppigen Wachstum der Pflanzenwelt und träumen,
indem wir hinauf in die rauschenden Wipfel uralter Bäume schauen, von
längst dahingeschwundener Zeit. Aber aus unserm Traume werden wir durch
ein plötzliches Rascheln im Grase dicht neben uns aufgeschreckt; — was ist
das? Der nächste Augenblick schon bringt uns Aufklärung und läßt uns aus
Vorsicht einen Schritt zurückweichen. Eine Kreuzotter ist es, die mit uns
das Lager auf dem weichen Moosteppich des Waldbodens geteilt hat, und
die nun, vom Hunger getrieben, davoneilt, um den ersten besten Frosch zu
packen und zu verschlingen. So birgt unser herrlicher einheimischer Wald
auch gewisse Gefahren, die wir bei aller Begeisterung für die Schönheit der
Natur nicht unterschätzen dürfen.
2
2. Die gemeine Viper oder Kreuzotter ist allerdings die einzige bei
uns einheimische Giftschlange; aber sie hat in Mitteleuropa ein großes Ver—
breitungsgebiet, und ihr Vorkommen beschränkt sich keineswegs bloß auf ebene
Gegenden. Findet man sie doch in den Apen noch in einer Höhe von
über 2000 Meter. Alhährlich zur Sommerzeit fallen zahlreiche Menschen,
hauptsächlich Kinder, dem Bisse dieser tückischen Geschöpfe zum Opfer, weil sie die
Unvorsichtigkeit begehen, mit entblößten Füßen im Walde umherzustreifen, oder
weil sie die Kreuzotter mit der ungefährlichen Glatten Natter verwechseln,
die sich allerdings leicht ergreifen und einsperren läßt. Am häufigsten kommen
Todesfälle durch Otternbiß bei solchen Leuten vor, die sich erwerbsmäßig mit
Beerensammeln und Holzlesen beschäftigen.
3. Die Körperlänge einer ausgewachsenen Kreuzotter beträgt etwa 70 em.
Der Leib ist etwas plump und hat an seinem größten Umfange die Dicke eines
starken Spazierstocks.
Das VDier besitzt einen
platten Kopf, der sich
nach hinten verbreitert
und vom Halse deutlich
absetzt. Der Schwanz
ist kurz und endigt mit
einer steifen Spitze. Die
Augen sind sehr glän—
zend und haben eine
spaltförmige Pupille.
Die Fäürbung der Kreuz⸗
otter, die in manchen
Gegenden „Kupfer—
schlange“genannt wird,
ist sehr verschieden. Sie
hängt hauptsächlich davon ab, wie lange Zeit seit der Häutung verflossen ist.
Das Männchen ist meistens aschgrau, lichtgelb, meergrün und hellbraun, das
Weibchen hingegen ist braungrau, grünlichbraun oder kupferfarben. Als Kreuz—
otter aber erkennt man die Schlange erst an der längs des Rückens sich hin—
ziehenden schwarzen Zickzacklinie.
4. Die Kreuzottern bewohnen in feuchten Wäldern und moorigen Gegenden
Felsenritzen, verlassene Mäuselöcher und ähnliche Schlupfwinkel. Im ganzen
haben sie eine träge Gemütsart und liegen oft den lieben langen Tag regungs—
los an einer und der nämlichen Stelle im Sonnenschein. Ein kleiner Frosch
oder eine Eidechse, die sich in ihre Nähe verirrt, erweckt sie freilich sofort
aus ihrer Schläfrigkeit. Die Otter zieht dann den Hals langsam zurück,
123 —
sperrt ihren Rachen weit auf und schnellt den Kopf plötzlich vor, um das
kleine Geschöpf mit tödlichem Bisse zu verwunden. Gewöhnlich stirbt das
Opfer nach einigen Minuten. Dann wird es sofort in den gewaltig dehnbaren
Schlund hineingezwängt und allmählich durch Zusammenziehen des letzteren
in den Magen hinabbefördert. Eine ausgewachsene Kreuzotter kann ein halbes
Dutzend kleiner Frösche und ebensoviel Mäuse verzehren. Dafür ist sie aber
auch imstande, während der Gefangenschaft bis sechs Monate lang zu hungern.
5. ffnen wir einer Otter den Rachen, so entdecken wir sofort die beiden
Gistzähne, die hakenförmig gekrümmt und der ganzen Länge nach hohl sind.
Schließt die Otter den Rachen, so legen sich die Giftzähne an den Oberkiefer
zurück und verharren in dieser Lage, bis der Augenblick kommt, wo sich die
Schlange zum Beißen anschickt. Dann richten sie sich blitzschnell empor, füllen
sich mit Gift und stellen so zwei furchtbare Waffen dar. Die durch den Biß
verursachte Wunde ist freilich nur unscheinbar; sie gleicht zwei feinen Nadel⸗
stichen und blutet kaum.
Hat jemand das Unglück, von einer Kreuzotter gebissen zu werden, so
ist es gut, wenn die Bißstelle unterbunden und sofort mit starkem Alkohol
ausgewaschen wird. Außerdem muß der Leidende sogleich möglichst viel Rum
oder gewöhnlichen Schnaps trinken. Ohne Hilfe und Gegenmittel tritt der
Tod oft schon nach 40 bis 50 Minuten ein.
Dr. Otto Zacharias. (Bilder und Skizzen aus dem Naturleben.)
92. Ein struppiger Kostgãnger.
. Meinen Igel Kasimir fand ich eines Abends am Meere, wo
er, ein undeutlicher grauer Klumpen, sich langsam zum Wasser hin-
schob. WVas er da wollte, — ob er ein Bad zu nehmen beabsich-
tigte, oder ob er sich vorgenommen hatte, seinen Durst mit bitterm
WVasser zu löschen, blieb unklar; es var abends 11 Uhr und so
dunkel, daß ich beim besten Villen sein Treiben nicht naher be
obachten konnte. Also nahm ich ihn mit und habe ihn drei Monate
lang in einem kleinen Gelasse neben meinem Schlafzimmer beher-
bergt.
2. Er erwies sich als eine gemũtliche Seele, rumorte anfangs
ziemlich viel bei Nacht, gewöhnte sich das aber mehr und mehr
ab, als ihm sein Futter: Mileh, Mäuse, Käfer, Fleisch und kleine Reste
jeder Art, bei Tage beigebracht wurde.
In den ersten drei Vochen rollte er sich sofort ein, venn ich
oder ein andrer Mensch in seine Nãähe kam. Nachher war er weniger
— 124—
scheu und ließ sieh schließlich sogar ausgestreckt auf der Hand
tragen, ohne die Stacheln nach außen zu kehren. Dabei war er
aber immer auf dem Sprunge sich einzurollen, und oft genug lief
über seine spitze Schnauze ein höchst komisches Mienenspiel, das
dadureh zustande kam, daß seine Hautmuskeln sich abwechselnd in
Bewegung und in Ruhe setzten. Sein Lieblingsfutter vwaren dicke,
schwarze Käfer, unsern Rhinozeroskäfern verwandt, die sich in Süd-
europa häufig finden. Mit denen gewann ich seine Hochachtung und
trat allmählich in ein vertrauteres Verhältnis zu ihm.
Bei Tage wurde sein Gelaß geöffnet, und er machte mir Be—
suche, verschwand aber meistens bald wieder, wenn keine materiellen
Genũsse zu holen waren. Ein paarmal entwischte er auch und trieb
sich im Hause herum; das endigte dann gewöhnlieh damit, dab
jemand ihn fand, wo er ihn nicht zu finden wünschte. Kasimir
besaß nämlich eine in Anbetracht seiner plumpen Gestalt ganz merk-
würcdig entwickelte Fähigkeit zu klettern, und er benutzte sie mit
Vorliebe, um sich an den Plätzen einzustellen, vwo man ihn am
wenigsten brauchen konnte, z2. B. im Inneren eines Kanonenstiefels,
im Zylinderhut eines Zimmernachbarn und schlieblien auch auf dem
Sessel, in den meine wohlgenährte Hauswirtin sich gerade nieder-
lieb; bei der letzten Gelegenheit väre er beinahe nachträglich ge-
tötet worden.
3. Ich hatte andres mit ihm vor; ich wollte wissen, wie sich
ein ordentlicher Igel anstellt, venn er mit einer giktigen Schlange
zu kämpfen hat. Bekanntlich gilt das Tier für giftfkest, und nach
angestellten Versuchen ist in der Tat nicht zu bezweifeln, daß es
eine ungewöhnliche Viderstandskraft gegen mineralische Gifte besitzt.
über sein Verhalten gegen Schlangenbisse liegen weniger zuver-
lässige Mitteilungen vor.
Eines Abends gelang es mir, eine Kreuzotter von gut 30 em
Lange zu erwischen. Es war heiher Sommer und das Reptil ver-
mutlich stark genug, einen Menschen zu töten. Die Schlange wurde
mit Büffelhandschuhen beim Halse gefaßt und in einer Schachtel
nach Hause gebracht. Kasimir machte als Vorbereitung eine hungrige
Nacht dureh. und am andern Morgen wurde die Schlange in seiner
Gegenwart losgelassen. Er schnüffelte lüstern hinter ihr drein, und
wie sie sich mit heftigen Vindungen, aber doch langsam, weil es
ihr an Anhaltspunkten fehlte, auf dem glatten Fußboden des Zimmers
fortbewegte, schoß er plötzlich mit ein paar schnellon Schritten auf
125 —
sie zu. Sein Laufen erinnerte mich an das Huschen einer Kröte.
Bei ihr angelangt, biß er sie ganz behaglich in den Schwanz. Mit
wütendem Fauchen fuhr die Otter herum, richtete sich auf, soweit
sie konnte, und schlug mit ihren Giftzähnen nach ihm. Er aber
hatte sich, den Schwanz seiner Feindin zwischen den Zähnen behal-
tend, schnell zusammengerollt, und die Schlange traf beim Zuschlagen
mitten in das Stachelgewirr des Igels. Natürlich fuhr sie mit bluten·
dem Maule zurück; Freund Kasimir aber ließ nicht los, sondern biß
ruhig weiter. Die Otter wurde wvild und immer wilder, wußte aber
in ihrer steigenden Vut nichts andres zu tun, als immer wieder
auf den Stachelknãuel loszuschlagen, selbstverständlich nur zu ihrem
eigenen Schaden. Etwa zehn Minuten dauerte der Kampf, der von
seiten der Schlange mit Zischen und Vüten, von seiten des Igels
mit gemütsruhigem Stillhalten geführt wurde. Dann war die Otter
so ũbel zugerichtet, daß sie nicht mehr schlagen konnte und ihre
Anstrengungen aufgab; ihr ganzer Kopk var von Blut und Vunden
unkenntlich geworden. Hierauf wickelte der Igel sich langsam aus-
einander, ging an das Vorderende seiner Feindin heran, beschnüffelte
es, fand es richtig vorbereitet und biß mit einem Griffe den Hals
der Schlange durch. Dann verspeiste er die hintere, gröhere Hälfte,
ließ aber die vordere liegen.
Es scheint sonach, daß der Igel beim Kampfe mit giftigen Rep-
tilien die Giftłestigkeit seines inneéren Organismus überhaupt nieht
in Anspruch nimmt, sondern sich einfach auf sein angebornes Ver—
teidigungsmittel, den Stachelpanzer, verläßt. Das muß ihm auch
offenbar am nächsten liegen, gerade so nahe wie unsereinem Büffel-
handschuhe und derbe Stiefel, wenn er auf den Schlangenfang geht.
Dr. Emil Budde. Maturwissenschaftliche Plaudereien.)
93. Rãtsel.
Ich wandle mit dir Tag und Nacht
im Sonnen- und im Nondenschein.
Auf leichten Sohlen schleich' ich sacht
bald vor dir her, bald hinterdrein,
hinab das Tal, hinan den Berg,
bald wie ein Ries', bald wie ein Zwerg
Friedrich Güll.
426ß —
94. Das Familienleben des Stichlings.
1. Fast in jeder größeren Pfüte tummeln sich kleine, muntere Fische,
grau gefärbt und an den Seiten silbern glänzend. Sie werden Stichlinge
genannt, denn drei starke, spitze Stacheln gewähren ihnen Schutz gegen die
größten Feinde. Selbst der gefräßige Hecht scheut sich, sie zu verschlingen.
Wie gierig die kleinen Räuber am Froschlaich fressen! Zwar entgleitet die
Der Stichling am Ueste.
schlüpfrige Masse dem Maule oft; doch immer aufs neue versuchen sie den
Angriff und haben schließlich Erfolg. Daß die Stichlinge aber auch ebenso
gefräßig dem Laich der Fische nachstellen, das macht sie in unsern Augen zu
sehr schädlichen Tieren, denn die Fische wollen wir ja selber essen. Deshalb
macht man in größeren Gewässern, wo die Stichlinge überhandgenommen
haben, eifrig Jagd auf sie. Ganze Kähne voll werden gefangen und als
Dung für die Felder benutzt, oder es wird Tran daraus gepreßt.
127
2. Der Stichling ist der einzige einheimische Fisch, bei dem man von
einem Familienleben sprechen kann. — An einem Junitage gehen wir an dem
Ufer eines flachen Baches entlang, der langsamen Laufes die Wiese durch—
strömt, und achten sorgsam auf unsre kleinen, stachligen Freunde. Hier und
da tummeln sich einige, doch immer allein, während wir früher meistens ganze
Scharen beisammen sahen. Kommt jetzt einer dem andern nahe, so fahren
sie wütend aufeinander los, bis einer in die Flucht getrieben ist. Wie hat
sich der kleine Kerl geschmückt! Kaum ist er wieder zu erkennen! In allen
Farben des Regenbogens glänzt und schillert sein Körper. Das ist sein Hoch—
Jeitskleid. Ich stoße nach dem schon Geschmückten mit einem Stock. Auf⸗
geregt wie ein Truthahn fährt er darauf los, als wolle er mich verschlingen.
Das war dumm von ihm; denn nun weiß ich genau, daß in nächster Nähe
der Stockspitze sein Nest sein muß.
3. Da sehen wir einen walnußgroßen, schmutzig braungrauen Klumpen.
Ich nehme ihn heraus, spüle sorgsam den anhaftenden Schlamm ab und lege
ihn in ein wassergefülltes Sammelglas. Jett kann man einen Eingang er—
kennen und beobachten, daß der Klumpen ein aus Wurzelfasern geflochtenes
Nest ist. Ich öffne es. Etwa 2 linsengroße, gelbe Eier liegen darin. Diese
bewacht der männliche Stichling und verteidigt sie todesmutig gegen jeden
Feind, oder wen er dafür hält. Oft sieht man ihn vor dem Neste stehen
und heftig mit den Brustflossen schlagen. Dadurch führt er den Eiern frisches
Wasser zu und verhindert das Auftreten von Pilzwucherungen, die in stehen—
dem Wasser leicht auf ihnen entstehen und sie verderben.
Die ausschlüpfenden Jungen führt der Stichlingsvater noch einige Zeit
umher wie eine sorgsame Henne ihre Küchlein. So kommt es, daß der Stich⸗
ling trotz der geringen Zahl seiner Eier eine so viel größere Verbreitung hat
als viele Fische, die Millionen von Eiern ablegen, aber sich nicht weiter um
sie kümmern.
95. Raͤtsel.
Von Perlen baut sich eine Brücke
hoch über einen grauen See;
fie baut sich auf im Augenblicke,
und schwindelnd steigt sie in die Höh
zDer hoͤchsten Schiffe höchste Masten
ziehn unter ihrem Bogen hin;
fie selber trug noch keine Lasten
und scheint, wie du ihr nahst, zu fliehn.
Sie wird erst mit dem Strom und schwindet,
d so wie des Wassers Flut versiegt. —
So sprich, wo sich die Brücke findet,
und wer sie künstlich hat gefügt. Friedrich von Schiller.
128
96. Regenbogen.
1. Das Wetter zieht hernieder
an ferner Bergeswand,
die Vögel singen wieder,
frisch duftet Flur und Land.
Am Himmel, noch umzogen
von grauem Wolkenflor,
tut schon der Regenbogen
mildleuchtend sich hervor.
2. Er steht mit einem Fuße
im nassen Wiesengras,
das brennt im goldnen Gusse
wie feuriger Topas;
er schwingt gleich einer Brücken
von lauter Edelstein
am dunkeln Waldesrücken
sich in die Luft hinein.
3. Und in den Wolken schimmert's
wie mit Juwelenschrift,
und in den Gräsern flimmert's
mich an von Flur und Trift:
„Herz, traue deinem Retter,
der seines Bunds gedenkt
und Sonnenschein auf Wetter
und Trost in Tränen schenkt!“
Rarl Gerok.
97. Erntelied.
1. Der Sommer bleibt nicht lange mehr;
der Tag wird kürzer, die Nacht wird länger,
das Rorn ist gemäht, das Feld wird leer,
es schweigen schon des Waldes Sänger.
Doch eh' uns der Sommer ganz verläßt,
so gibt er uns noch ein fröhliches Fest.
2. Seht da! Sie bringen den Erntekranz
mit bunten Bändern und Flittern;
sie eilen alle zum fröhlichen Canz,
die Mädchen mit den Schnittern.
Und alles tanzt und springt,
und alles jubelt und singt:
Juchheißa, juchhei!
Die Ernt' ist vorbei!“
Qeinrich Noffmann von Fallersleben.
)
129 —
98. Es wird Herbst.
1. Noch immer lockt die Sonne zum Spazierengehen; aber draußen
merkt man bald, daß sie mit dem leidigen Gesellen Wind sich messen
mußß, und dah er die Herrschast hat; denn der eine Spaziergãnger
knöpsft den Rock fester, der andre reibt die Hände und wünscht
den Oberricher herbei. In den Gartenwirtschasten sitzen noch einige
Gaste in einer geschutæten, sonnigen Ecke; aber ostmals halten sie
es auch dort kaum „ein Glas oder eine Tasse lang“ aus, dann drũcken
sie sich lieber in die Veranda oder gehen weiter. Es wird Herbst!
Dort auf den Telegraphendrãhten sammeln sich schon die Schwal-
ben; einige hundert haben sich dort niedergelassen. Dann und wann
erheben ie sich und machen einen Ausflug, um Insekten zu erjagen.
Das Stohnen und Pfeifen des Eisenbahnzuges stört das kleine Volk;
sie fliegen auseinander, um sich nach Kurzer Zeit an demselben Orte
wieder eu versammeln. Auch die Stare scharen sich schon auf den
Feldern; das ist ein Pfeisen, Schwatzen und Lärmen in den nahen
Buschenl Jeder hat eben Zeit, denn es warten zu Hause ja keine
Kinder; die sind schon alle grobh und mit hinausgeflogen. Es gilt
jetzt, sich im Fliegen zu üben und zu sammeln sfür die grohe Reise
nach dem Suden, denn hier wird es Herbst.
2. Unter den Linden rauscht das abgesallene trockene Laub. Die
Eichen haben schon in Menge Eicheln abgeworfen, welche die Mädchen
sammeln, um damit zu spielen. Die Knaben werfen mit Steinen und
Knilteln nach den Kastanienbäumen, damit sie die Kapseln, die sich
noch nicht öffneten, hergeben; darin sind die braunen, schöõn geader-
ten Kastanien, aus denen die kleine Schwester sich eine Halskette
machen soll. Im Walde werden Bucheckern gesammelt und Hasel-
nüsse gepflückt. Wer jetzt einen Spaziergang durch die Allee macht,
der geht nicht mehr wie im Sommer unter einem grünen Laubdache
dahin. Die Linden und Eschen strecken schon ihre kahlen Aste in
die graue Lust hinein, und auch die alten Ulmen schmũuckt nur noch
an den unteren kleinen Zweigen gelb gewordenes Laub.
Schon seit einigen Wochen wurden fast täglich die abgefallenen
Blatter aus den Steigen gekehrt und beseitigt. Wie hoch hier sonst
die Laubdecke gewesen waäre. davon kann man sich überzeugen, wenn
man querwaldein geht. Im Walde verschwinden unsre Fuühe in dem
durren Laube; am Waldesrande finden wir den breiten Waldgraben
damit ganz gesullt. Hier gibt es ein buntes Durcheinander; das hell-
gelbe, bläulich gesprenkelte Ahornblatt ruht neben dem gelbbraunen
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. U. Neubtg
53
1309 —
Eichenblatt, das rötlichbraune Blatt der hohen Buche liegt an der
Seite des zusammengekrümmten, schmutzigen Blattes vom Dorn-
strauch, und doch sind alle wicderum einande gleich. Sie sind Leichen
und werden hier wieder zur Erde, aus der sie geworden sind; der
Graben ist ihr Grab.
Wir wenden unsern Blick hinauf zu den Kronen der Buchen.
Sie sind schon stark gelichtet. Jetzt können wir das flinke Eich-
hörnchen, wenn es von Baum zu Baum springt, weithin verfolgen.
Auch gewahren wir nun die Nester der Võgel und Vöglein, die sonst
durch das Laub vor unsern Blicken geschützt waren. Doch die kleinen
Sanger, die dort unter dem grünen Dache saßen und voll Lust
und Liebe ihr Liedchen hinausschmetterten, sehen wir nicht; sie
haben den Wald mit seinem dürren Laube verlassen, denn es wird
Herbst.
3. Wir kommen auf ein Stoppelfeld. Schon von weitem hörten
wir das Brummen der Dreschmaschine. Die Garben eines Acker
waren bei der Ernte hier in Mieten gebracht worcden, um spãter an
Ort und Stelle ausgedroschen zu werden. Dabei haben ebensoviel
Hande zu tun wie beim Ernten des Getreides. Die Seile der Garben.
werden gelöst; mit vollen Ahren gehen die Halme hinein in die
Maschine, leergedroschen kommt das Stroh heraus, um wieder zu
Bunden vereinigt zu werden. Wie auf der einen Seite die vollen
Garben von einem zum andern wandern, s0 gehen auf der andern
Seite die leeren Bunde von Hand zu Hand; wie die Kornmiete ab-
nimmt, so nimmt die Strohmiete zu.
Auf einem andern Acker stehen Dungerhaufen in Reih' und Gliec;
die eben angefahrenen dampfen noch. Bald wird der Dunger aus
gebreitet und untergepflũgt werden, damit das Eeld für die nächste
Aussaat fertig wird.
Auf dem Haferstoppelfelde daneben weiden die Kihe den RKlee
ab. Dieser war im Frühjahr zugleich mit dem Haser gesãt worden.
Er ist, durch das Halmgetreide vor dem Sonnenbrande geschützt,
unter dem Hafer langsam gediehen und breitet sich erst jetet nach
der Ernte aus. Er bedeckt nun die Stoppeln wie eine saftige, grüne
Decke. Der noch nicht abgerupste Klee ist etwa 20 cin hoch und
hat zum Teil blühende Köpfe. Auch Wucherblumen, Ackersenf,
Stiefmũtterchen und andre Unkräuter blühen hier. Alle diese Pflanzen
sind froh, daß ihnen die Halme mit ihren Rispen das Licht nicht
mehr nehmen, so daß sie sich noch einmal in ihrem schöneten
Schmucke zeigen können, bevor der Winter kommt:
13 F
Alle Felder sind nach der Ernte viel freier geworden, so dab
man auch grobe Schlage gut übersehen kann. Das macht sich der
Jiger zunutze. Sein Hund durchquert die Acker, und wenn ein
Hase, dessen Fell zu der Farbe des Feldes ziemlich pabt, aufgejagt
wird. — das Auge und die Schrotkörner des Jägers wissen ihn wohl
zu treffen. Der Jäger erntet jetzt auf den leeren Feldern, denn —
es ist Herbst geworden.
99. Abschiedslied der Zugvögel.
1. Wie war so schön doch Wald und Feld!
Wie fraurig ist anjetzk die Welt!
Hin ist die schöne Sommerzeit,
und nach der Freude kam das Leid.
2. Wir wußken nichks von Angemach;
wir saßen unterm Jaubesdach
vergnügt und froh im Zonnenschein
und sangen in die Weltl hinein.
3. Wir armen Vögel krauern sehr,
wir haben keine Heimatk mehr.
Wir müssen jetzk von hinnen sliehn
und in die weike Fremde ziehn!
Heinrich Noffmann von Fallersleben.
100. Der Hecht im Fischteiche.
1. Es ist schon lange her, als der alte Hecht zum erstenmal im Teiche
frühstückte, wohl an hundert Jahr, und er hat seitdem sein Lebtag mit dem
Hunger zu kämpfen gehabt, der ja auch manchem andern viel zu schaffen
macht, der kein Hecht ist. Es ist ein sehr schlimmes Ding, wenn einer nur
dadurch satt werden kann, daß er die andern auffrißt. Die Karpfen,
Karauschen und Schleien haben es darin doch besser. Sie suchen sich im
Schlamm auf dem Teichgrund eine Mittagsmahlzeit und verzehren höchstens
an Festtagen ein Würmchen und etwas Gras als Gemüse dazu; aber dem
Hechte schmeckt nur seinesgleichen.
Zunächst machte der junge Hecht sich an die kleinsten Fische im Teiche.
Die muntern Gründlinge hatten ihre hellblauen Eier Laich) an den Steinen
des Grundes festgekittet, das gab bequeme Mahlzeiten für den hungrigen
Burschen. Erst speiste er Laich, und als die jungen Gründlinge ausschlüpf—
ten und sich eben umsehen wollten, wo sie eigentlich wären, da hatte der
—92
1
3
2
E
Hecht schon ein Dutzend und mehr von ihnen weggeschnappt. Die andern
stoben nach allen Seiten auseinander oder versteckten sich zu den Kaulköpfen
unter die Steine.
Die kleinen Fische wurden von Tag zu Tag größer und flinker, und
dem Hechte ward es schon nicht mehr so leicht, den quälenden Hunger zu
stillen. Er mußte Jagdkünste lernen und flink werden oder — verhungern.
2. Die andern Fische wissen es recht gut, welch ein schlimmer Bursche
der Hecht ist, und nehmen beizeiten vor ihm Reißaus. Sie können ihn
zwar nicht aus weiter Ferne riechen, wie etwa die Pferde den Wolf wittern,
denn die Nasen aller Fische sind nicht sonderlich fein; auch vermögen sie ihn
nicht weither zu hören wie der Hase den Hund. Die Fische machen beim
Schwimmen wenig Geräusch, und ihre Ohren sind nicht sehr empfindlich.
Desto besser aber können sie sehen, selbst drunten in der Tiefe, wo es einem
Menschen schwarz vor den Augen wird. Die Fischaugen sind groß und eigens
zum Sehen im Wasser gebaut. Der Fisch macht sie auch sein Lebtag nicht
zu, denn ihm sehlen die Lider. Die übrigen Fische verstehen ebenfalls treff—
lich zu schwimmen und können flinke Schwenkungen machen. Jede Art ver—
fährt dabei auf ihre besondere Weise; die einen tauchen rasch nach dem
Grunde, die andern schießen im Bogen dahin, noch andre können blitzschnell
linksum und rechtsum machen, einige vermögen sich sogar über das Wasser
hinauszuschnellen. Die Kaulköpfe können Löcher unter die Steine wühlen
und sich verstecken, und die Schmerlen (Schlammbeißer) verstehen die Kunst,
sich unsichtbar zu machen; denn sie rühren den Schlamm um, so daß das
Wasser ganz trübe wird. Da gilt es für den Hecht, noch schneller und
schlauer zu sein als sie alle, sonst bleibt sein knurrender Magen leer, und
er hat allenthalben nichts als das Nachsehen.
3. Zum Fassen seiner Beute hat der Hecht gewaltige Reihen sehr scharser,
spitzer Zähne; auch bekommt er sein Lebtag weder Zahnschmerzen noch hohle
Zähne. Sind die alten Zähne etwas abgenutzt, so wachsen flugs neue nach.
— Ist er mit einem seiner Vettern uneins geworden, hat sich mit ihm
herumgebissen und dabei ein Stück von seinem eigenen Fleische eingebüßt,
so schadet ihm dies auch nicht sonderlich. Ein Fisch vergießt nie eine Träne,
er schwimmt ja fortwährend im Wasser. Er verzieht selbst das Gesicht nicht;
die Schuppen, mit denen er ringsum gepanzert ist wie ein Ritter aus alter
Zeit, lassen schon solches nicht zu. Wenn die Wunden nicht gar zu schlimm
sind, so heilen sie bald wieder, und es bleibt kaum eine Narbe davon übrig.
Dagegen hat jede Mahlzeit, die der Hecht einnimmt, ihre Bedenken. Den
Fisch, den er einmal gefaßt hat, muß er auch ganz herunterschlucken, kann
weder erst die Gräten ausschälen, noch die Flossen und Stacheln abputzen.
— 133 —
3 gesthalten, aber nicht zum
Die langen, scharfen Hakenzähne sind wohl gut zum Festhalten, a
Zerkauen.
Da gilt es denn doch für den Nimmersatt, etwas vorsichtig sein
und nicht so blind zuschnappen nach allem, was ihm vor den Mund kommt.
Sonst kann er einmal selbst verspeist werden, anstatt andre zu verzehren.
Karpfen, Barben, Brachsen, Plötzen und Rotflossen mag er ungestraft
verschlucken. Die Bitterlinge munden ihm schon nicht besonders, so schön
violett und grünstreifig sie auch aussehen. Aber gerade das kleinste Fisch⸗
chen im Teiche, der Suchling, kann ihm verderblich werden. Das Bürschchen
ist nicht größer als ein kleiner Finger, dabei aber an den Seiten gepanzert
und auf dem Rücken mit drei, am Bauche mit einem scharfen Stachel be—
wehrt, die er gar geschickt zu gebrauchen versteht. Vorzüglich hat sich der
kleine, flinke Gesell darauf eingeübt, seine Rückenstacheln niederzulegen und
schnell aufzurichten. Damit kann er andern Fischen, die zehnmal größer
sind als er selbst, tiefe Wunden schlagen. Wenn ihn der Hecht in seiner
Gier aus Versehen verschlingt, so reißt der Stichling dem Fresser den Schlund
oder die Eingeweide entzwei, so daß es sein letzter Bissen ist, den er ge—
nossen hat.
4. Der alte Hecht, von dem ich erzähle, hatte viele Jahre lang im
Teiche sein Wesen getrieben und manches Hundert Fische verspeist, große
und kleine. Je größer und stärker er ward, desto größer ward auch sein
Hunger und desto schlimmer sein Übermut und seine Dreistigkeit. Aber eines
Tages fing ihn der Fischer doch und brachte den alten Räuber zur Küche. Nun
wurde er endlich selbst verspeist zur Strafe dafür, daß er sein ganzes Leben
hindurch nichts weiter getan hatte, als andre zu verschlingen.
ermann Wagner. (Entdeckungsreisen in Feld und Flur.)
101. Eichhörnchens Leben und Treiben.
1. Dort im Gipfel der Tanne sitat ein Eichhörnchen. Was wirft
es denn von oben auf uns hernieder? Es öffnet eine Haselnub,
die es zierlich zwischen den langen Fingern seiner Vorderpfoten
dreht und mit den scharfen Schneidezahnen an der Spitze be-
nagt. Es verfährt nicht viel anders als ihr bei ähnlicher Tätig-
keit. Wie euch, so ist auch dem Eichhörnchen die Stelle der
Nuß genau bekannt, wo die Schale so dünn ist, daß schon nach
leichtem Schaben ein leichter Rih erscheint. Wie ihr die Klinge
eures Taschenmessers, so setzt das Eichhörnchen seine langen,
134
meibelförmigen oberen Nagezahne in den Spalt ein; ein Druck,
und die Schalenhàlften fallen herunter. Der schmackhafte Kern
verschwindet in dem Mäulchen und wird zwischen den raspel-
ahnlichen Backenzahnen zerkleinert.
2. Dort tauent ein 2weites Tier auf. Es halt z2wisehen
seinen Pfoten einen Tannenzapfen, den die scharfen Zahne von
unten her entblättern, um zu dem Tannensamen zu gelangen.
Schuppe auf Schuppe rieselt einem Regen gleich zu uns her—
nieder. Das Eichhörnchen zieht übrigens Nüsse und Eicheln, auch
Bucheckern, Linden-, Ahorn-
und Weihbuehenfrüchte dem
harzig schmeckenden Tannen-
samen vor, wenn es nur
genug findet. Ost versteckt
es Frũüchte, um einen Vorrat
sir die Zeit der Not u
haben. Vergißt es dann
die Stelle, wo sein Schatz
lagert, so geht manchmal zur
Verwunderung der Menschen
ein Eichbaum auf, wo doch
niemand ihn gepflanzt hat.
So ist das Eichhörnchen
zuweilen ein unfreiwilliger
Forstbeamter; es ssstiftet aber
im ganzen doch mehr Scha-
den als Nutzen. Dringt es
vorübergehend in unsern
Obstgarten ein, so verkünden uns bald abgebrochene und über
den Boden verstreute Apfel und Birnen seine Anwesenheit. Aus
einem Nageloch hat es die nahrhaften Kerne herausgeholt; das
uns so wohlschmeckende Fleisch aber verschmaht es. Im Walde
stellt es den Eiern der Vögel nach und beibt die jungen Triebe
der Tannen ab, um zu den Knospen zu gelangen, die es ab-
bricht und von unten her ausnagt. Diese frischgrünen Abbisse
erscheinen wie ein freundlicher Schmuck der Waldwege, be-
deuten aber eine schlimme Schãdigung der Baàume.
3. Seiner Zierlichkeit wegen wird das Eichhörnchen trotz—
dem an vielen Orten gern gelitten und ist dann sehr zutraulich.
18385 —
WVie manierlich es auf den Hinterbeinen sitzt, und wie stattlich
es seinen buschigen Schwanz trägt! Ich klatsche in die Hände.
Es wendet zwar das zierliche Köpfehen mit den buschigen
Ohren zu uns her, bleibt aber unbekümmert sitzen. Erst jetzt,
da ich es durch einen Steinwurf scheuche, wendet es sich zur
Flucht. Blitz2geschwind klettert es in den Baumwipfel unter
scharfsem Kratzen seiner Krallen und springt in weitem Satze
hinüber auf den nächsten Baum, den Schwanz gleich einem
Steuerruder gerade von sich streckend. Bald ist es unsern
Blicken entschwunden.
4. Die Eichhörnchennester sind nicht leicht zu finden. Dort
scheint eins in einer Assstgabel zu stehen. Aus seinem Reisig
und Bast geflochten, überwölbt und warm mit Moos ausgefũttert,
bietet es genügenden Schutz gegen Kalte und Nãsse. Von seinen
zwei Eingängen wird immer einer gegen den Wind verschlossen
gehalten, bei rauher Witterung oder Kàlte sogar beide. Im
Winter versinkt das Eichhörnchen in tiefen Schlaf, der aber
zuweilen unterbrochen wird. An windstillen Tagen können wir
es dann umherspringen sehen, um Nahrung zu sammeln oder
aus einer der vielen Vorratskammern herauszuholen.
Bernhard Landsberg. (Streifzüge durch Wald und Flur.)
102. Der Fuchs.
1. Der Regen verzieht, der Vald schüttelt die lauen Tropfen
aus dem Haupte, und von den Vacholderbüschen der Heide steigt's
erfrischend und würzig in die Abendluft. In allen Schlupfwinkeln
regen sich Flügel und Füße. Die Mücken beginnen ihre Tänze;
die Ameisen kriechen hervor, ihre verschwemmten Straben wieder—
herzustellen; Finken und Lerchen schmettern um die Wette; der Hase
macht „Männchen“, und auch der Fuchs verspürt ein heimliches
Rühren. Dort lauscht er zwischen den VWurzeln einer alten Eiche.
Er „windet“, denn „Vorsicht ist die Mutter der Weisheit“; aber
alles ist sicher.
Nun macht er sich auf und schlendert gelassen, den Schweif
schleppend, duren Busch und Kraut, immer querfeldein. Bald ist
er mitten im Valde. Er schleicht langsamer, leiser, vorsichtiger.
Der Abend haueht kühl aus Halm und Blatt. Die Bäume heben
126
2
—
ihre Vipfel regungslos in die Stille; nur ein paar Vogelkehlen sind
noch laut. Reineke ist am Rande einer Valdwiese angekommen und
lauscht. Die Blumen neigen ihre Kelche, da und dort summt noch
eine Biene.
2. Plötzlich knackt es in den Zweigen, der Fuchs spitzt das Ohr.
Da tritt ein Reh heraus, das Haupt keck emporgerichtet, vorsichtig
nach allen Seiten hin „äugend.“ Alles ist ruhig; die Alte wendet
den Kopf zurück, und in schlankem Sprunge ist das Kälbechen ihr zur
Seite. Die Mutter leckt ihm kosend den Nacken. Plötzlich hebt
die Ricke den Kopf. Ihre „Lichter“ funkeln, ein Zittern fliegt über
die Flanken, sie macht ein paar Sprünge und stampft zornig mit
den Laufen. Es ist klar, sie hat den Räuber gewittert. Der hat
sich leise herangestohlen, sacht, sacht, das Kitzlein unverrückt im
Auge. Es gilt einen kühnen Griff. Wenn ihm nur die Alte nicht
soeben den Veg verrannt hätte! Aber Reineke läßt sich nicht be—
irren; er tut, als sei er in tiefen Gedanken. Träumerisch sinnend
starrt er ins Blaue. Keine Miene verrät, dab er der Beute ansichtig
geworden. Er verschwindet, um in weitem Bogen von einer andern
Seite den Angriff zu versuchen. Aber die wachsame Alte drängt
sich dicht an das Junge, denn sie kennt des Laurers Arglist. Dort
streift er schon wieder vorbei und sucht dem Ziele seiner Vünsche
allmãhlich näher und näher zu kommen. Reineke duckt sich nieder;
wie eine Katze schmiegt er sich an den Boden. Die „Lunte“ zuckt,
die Augen starren vildgierig auf das bebende Tier. Er weist die
137 —
mõrderischen „Reiber“, leise duckt er sich zum Sprunge, — ein
Augenblick noch — ein Satz, und — da stürzt sich die Mutter schnau⸗
bend auf den Räuber, um ihn mit den Vorderläufen niederzuschlagen.
Das Ralbehen ist gerettet, und Reineke kehrt hinkend und grimmig
heim; die Beute ist ihm heute entgangen.
3. Tritt die Sonne in den Löwen, so kommt des EFuehses
goldene Zeit. Uppige, reifende Stille liegt über der Erde, die hren
hängen schwer und gelb, ein unabsehbarer Fruchtwald! Dahin zieht's
den Fuchs. Dort lagern Hase und Kaninchen, Rebhuhn, WVachtel
und Lerche. Ach, es vird ihnen übel ergenen! Umsonst sind ihre
kleinen Künste; er mordet bei Tag und Nacht, und seine Brut wird
dreist und feist. Venn er sich gütlich getan hat, so winkt ihm auf
sonniger Heide das Bienenhaus. Er springt hinan, reißt einen
Korb herunter und schleckt die würzigen Tropfen, ob ihn auch das
ganze Immenheer umschwärme. Er lacht ihres Stachels, lädt sie
sich auf den Pelz, wälzt sich am Boden, zerdrũckt sie, friht sie,
und am Ende müssen die fleibigen Schaffnerinnen ihm doch die
süße Labe überlassen.
4. Aber die goldenen Tage sind bald vorüber. Die Felder
sstehen kahl, der Wald ist entlaubt; auch die letzten Vandervõögel sind
davongezogen. Uber die õôde brausen rauhe Stürme. Der EFuchs
liegt in seiner Zelle; denn es gibt wenig zu jagen, und die
gesammelten Vorräte schützen ihn zunächst noch vor Mangel. In-
zwischen drängt der Vinter immer ungestümer heran. — Bald liegt
alles erstarrt unter der weiben Decke. Seen und Bãche gefrieren
tief hinab, die Bàume krachen, vom Froste gespalten, das Wild
weilt hungrig in den dichtesten Gründen, und Krãhen und Sper-
linge haben längst die Straßen der Stãdte und Dörfer gesucht.
Reineke darf das nicht. „Venn ich ein Vöglein wär'!‘ seufzt er
und streicht lungernd hinter einem Bauerngehõft umher. Aber es
lãst sich keine Feder spüren. Die Not treibt inn dem Walde zu;
er ergeht sich in den düstersten Gedanken. Mit einem Male hebt
er die Nase, ein lieblicher Duft weht ihm entgegen. Ha, was ist das!
Siehe da. — mitten in der hungrigen Wildnis ein frischgebratenes
Stück von Kater Hinzes Lende. WVie appetitlich! Ohne Zögern ist
es verschlungen. Reineke fühlt seine Lebensgeister neu erregt und
trabt fürbaß. Und wanrlien! Da liegt oin zweltes Stüekt
Es ist derselbe Duft, dasselbe Fleisch und Bein. Reineke steht
—2
— 138
still, Überraschung und Argwohn in den Zügen. Er umschleicht
auf scheuen Sohlen die Stelle, steht vieder still, legt sieh, lauscht,
wirft die Augen spähend umher, springt vieder auf, um wieder
niederzukauern. Nirgends ein Laut, nur die alten Föhren knarren;
nirgends eine Spur. Er betrachtet den Bissen noch einmal. —
„VWäre es eine Falloꝰ — Die Menschenkinder sind voll Args! Schon
mancher Edle fiel duren ihre List! — Aber nein — hinveg mit
solchen Gespenstern!“ — und im Nu ist auch der zweite Brocken
hinab.
O Reineke, Reineke! Du bist verloren; — denn dort liegt noch
ein dritter Bissen. In vollen Zügen schlürft der vom Hunger
Gepeinigte den berauschenden Duft, starrt verglasten Blickes auf
die Lockung. Doch der innere Varner erhebt seine Stimme noch
einmal. Und wieder umkreist der Fuchs das leckere Mahl; wieder
duckt er sich, legt das Gehör vorwãrts, rückwãrts, spitzt es, „sichert“
allenthalben. Und wieder ist alles stumm; nur die Föhren knarren
noeh immer verdrossen. Es ist, als ssstocke der Atem der Natur.
Der Fuchs fängt an zu überlegen; aber je länger er hinschaut auf
das verhängnisvolle Gericht, desto wirrer verden seine Gedanken,
desto wirrer wird sein Blick. Es flimmert ihm vor den Augen, der
Duft betäubt ihn, er kann nicht los, — er muß, und gãlt' es sein
Leben, er mub hinzu. In einem vilden Satze springt er drauflos,
— da krach! schlägt das Eisen die zerschmetternden Zähne zu—
sammen.
So war der Schlaue doch nicht sechlau genug! Er heult vor
Wut; aber es ist nicht Zeit zu ohnmächtiger Klage, denn Gefahr
droht im Verzuge; es gilt eine kühne Vat.
Das Eisen zersehlug ihm den Lauf;
sieh zu retten, gibt er ihn auf,
amputiert sieh selbst, wie grimmig es sehmerze;
er hat ein entschlossenes, tüchtiges Herze.
(Caube.)
Einmal gefangen, denkt er, und nicht wieder! Und er jagt davon,
leicht und frei, „als hätte er eben nur den Stiefel ausgezogen“.
Das ist Reineke, der Held!
Hermann Masins. Maturstudien.)
139
103. Die Hasenjagd.
Ich weiß nicht, ist es ein Schwabe oder ein andrer deutscher Lands⸗
mann gewesen, der einmal von einem Hasen hübsch angeführt worden ist.
Es hatte nämlich ein lang anhaltender Regen die Gegend so sehr über—
schwemmt, daß fast alles Wild in den Niederungen zugrunde gegangen
war. In dieser Not hatte sich ein Häslein schwimmend auf einen Weiden—
baum gerettet, der noch aus dem Wasser hervorragte. Das sah ein
Bauer von seiner einsamen Hütte aus, und er dachte bei sich: der Hase
wäre doch mehr geborgen in seiner Küche als dort auf dem Baume, wo
er ohnehin zuletzt doch ersaufen oder verhungern müßte. Also zimmerte
er ein paar Bretter zusammen und ruderte damit gegen den Weidenbaum
zu, um den Hasen zu fischen. Der aber mochte dabei auch seine Ge—
danken und Pläne im Kopfe haben, wie sich's aus der Folge ergeben hat.
Denn wie nun der Bauer anfuhr und sich an den Zweigen hinaufhob,
ersah sich der Hase den rechten Augenblick und sprang über den Bauer
hinweg auf das bretterne Fahrzeug, das, durch den Aufsprung in Be⸗
wegung gebracht, nun fortschwamm, wohin es das Wasser führte. Beim
nächsten Bühel, wo es anfuhr, sprang der Hase aufs Trockene und dankte,
wie es schien, seinem Erretter mit einem allerliebsten Männle. Der Bauer
aber säße wohl noch auf dem Baume, wenn ihn nicht die Nachbarn heim—
geholt hätten, die ihn nun ob seiner Hasenjagd brav auslachten.
Ludwig Auxbacher. Ein Volkebüchlein. J. Teil.)
104. Waldvögel im Herbst und Winter.
1. Wir sind auf unserm Spaziergange tiefer in den dichten Wald
eingedrungen. Wie still und öde ist es jetzt hier, wo im Frühjahr so
viele lustige Vögel zwitscherten und sangen! Einige sind aber geblieben.
Sie sind sogar leichter zu beobachten als die scheuen Sänger des Sommers.
Dort fliegt eine Schar Eichelhäher bei unserm Herannahen auf und
begrüßt uns mit heiserm Gekrächze. Wie prächtig hebt sich von ihrem
bräunlichen Gefieder der schillernd blaue Spiegel an den Flügeln ab!
Die schönen Tiere sind aber arge Räuber. Manches Singvogelnest ist von
ihnen im Sommer geplündert worden. Nicht nur Eier, sondern auch junge
— 140 —
Vögel fressen sie auf. Sonst nähren sie sich von Eicheln und allerlei Beeren
und Samen. Man rechnet es ihnen wohl als Verdienst an, wenn zuweilen
eine Eichel keimt, die sie als Wintervorrat im Waldboden versteckt haben;
doch wird der Schaden, den sie anrichten, ihren Nutzen wohl überwiegen.
2. Auf den Kiefernbäumen erblicken wir eine Menge kunstloser, großer
Nester. Wir sind in ein Sommerquartier der Saatkrähen geraten, wo
die allbekannten Bettelleute mit dem glänzenden, violettschwarzen Gefieder
ihre Jungen ausgebrütet und erzogen haben. Jetzt streifen sie auf dem
Felde umher und machen Jagd auf Mäuse, Schnecken, Insektenlarven und
allerlei Ungeziefer. Da kann man sie gravitätisch hinter dem Pfluge des
Landmannes hergehen sehen und aufheben, was von Engerlingen und
Würmern zutage gefördert wird. Im Winter werden sie uns mit ihren
grauen Vettern, den Nebelkrähen, in der Stadt besuchen und sich den
Lohn für ihre Tätigkeit in allerlei Küchenabfällen holen, welche die Köchin
hinauswirft. So ganz einwandfrei ist ihr Leben und Treiben aber doch
nicht, da sie oft genug die jungen, keimenden Roggenfelder verwüsten.
Auch manch junges Hühnchen, manch kleine Ente, manches Junghäschen
fällt den immer hungrigen Krähen zum Opfer, so daß Landleute und
Jäger einen nicht ungerechtfertigten Haß gegen die dunkeln Gesellen hegen.
3. Ein andres Bild fesselt jetzt unser Auge: Kleine, zierliche Vögel,
die gleich beschwingten Äffchen an dem Stamm und den Zweigen der
Bäume umherklettern. Es sind Meisen. Bald hängen sie unter einem
Zweige, bald laufen sie den Stamm in die Höhe wie geschickte Turner.
Wie niedlich der Haubenmeise ihr Schöpfchen steht! Wie hübsch sieht die
Schwanzmeise aus mit ihrem langen, schmalen Schwanze! Doch auch die
dickere Kohlmeise ist geschickt und munter. Ihr leises „Szie, Szie .“
klingt vernehmlich zu uns herunter. Die Meisen gehören zu unsern
nützlichsten Singvögeln. Unermüdlich kletternd, holen sie Insekten und deren
Larven und Eier aus ihren verborgensten Schlupfwinkeln hervor, unter
der aufgehackten Baumrinde, aus Ritzen und Spalten, aus den Baum—
knospen. In den Körper größerer Kerfe hacken sie mit ihrem harten,
scharfrandigen und spitzen Schnäbelchen ein Loch, aus dem sie den Inhalt
mit ihrer harten, an der abgestumpften Spitze mit vier Borstenbüscheln
versehenen Zunge herauslecken. Wenn auch die kräftigste Art, die Kohl—
meise, hier und da in der Not des Winters ein schwächeres Vögelchen
mordet, um dessen Gehirn zu verzehren, so verdienen die niedlichen Tiere
doch vollauf den Schutz des Menschen, zumal ihr mörderisches Gelüste
schwindet, wenn sie sonst genügendes Futter haben. Hängt im Winter
geöffnete Walnüsse oder Fruchtstände der Sonnenblume an eure Fenster,
— 141 —
so werdet ihr Besuch von den Meisen erhalten und sie weiter beobachten
können. Manche Vogelfreunde locken sie mit Speckschwarten an. Zwar fressen
sie auch diese in der Not des Winters; doch bei dem beschwerlichen Klettern
auf den glatten, schlüpfrigen Streifen zerzausen und beschmutzen sie sich ihre
Flügel und gehen dann, in ihren Bewegungen gehemmt, kläglich zugrunde.
So sehen wir, daß das fröhliche Leben und Treiben der Vögel in
unsern Wäldern auch im Herbst und Winter nicht ganz erstorben ist,
sondern dem aufmerksamen Beobachter genug des Bemerkenswerten bietet.
Lernhard Landsberg. Streifzüge durch Wald und Flur.)
105. Nopemberx.
1. Solchen Monak muß man soben! Keiner kann wie dieser koben,
keiner so verdrießlich sein und so ohne Hhonnenschein!
Keiner so in Wolken maulen, keiner so mif Sturmwind graulen!
And wie naß er alles machtk! Da, es ist'ne wahre Vracht!
2. Zehl das schöne Schlackerwekler! und die armen, welken Blälfer,
wie sie lanzen in dem Wind und so ganz vexloren sind!
Wie der Slurm ste jagt und zwirbelk und sie durcheinanderwirbelf
und ste hetzk ohn' Ankerlaß; ja, das ist Novemberspaß!
3. And die Scheiben, wie sie rinnen! und die Wolken, wie ste spinnen
ihren feuchken bimmelskau ur und ewig, krüb und grau!
Auf dem Dach die Regenkropfen, wie sie pochen, wie sie klopfen!
Ichimmernd hängh's an jedem Zweig, einer dicken Träne gleich.
4. O, wie ist der Mann zu loben, der solch unvernünfl'ges Toben
schon im voraus hat bedacht und die Häuser hohl gemacht,
so daß wir im Trocknen hausen und mil stillvergnügkem Grausen
und in wohlgeborgner Ruh' solchem Greuel schauen zu! emnn
*
106. Winterliches Gastmahl im Gebirge.
1. In unsern deutschen Wäldern ist der Hirsch der König und un—
umschränkte Gebieter. Die Majestät seiner Gestalt und seines Auftretens
sichert ihm die Herrschaft. Besonders in den Bergwäldern kommt die
kraftvolle Schönheit dieses edlen Tieres zur Geltung. Bodengestaltung,
Asung und Lebensweise lassen ihn hier sich noch am stattlichsten entwickeln.
Die Spannkraft scheint sich hier noch zu steigern. Das Geweih erlangt
eine bedeutendere Stärke und ist gleich dem Fell dunkler getönt, als es
bei den Hirschen im Flachlande der Fall ist. Ein Rudel Hirsche in der
142 —
norddeutschen Ebene bringt oft nicht den Eindruck hervor wie ein einziger
Hirsch im Gebirge, wenn er hoch über uns auf einer Felswand steht, während
das vielzackige Gehörn sich dunkel von dem Grün des Waldes abhebt. Und
welch malerisches Bild, wenn wir beim Niedertauchen in eine Schlucht
am geröllbedeckten Ufer eines Wildwassers ein paar dieser stolzen Tiere auf—
stören! Verdutzt starren sie uns mit großen Augen für ein paar Augenblicke
an, um langsam umzuwenden, einige Schritte vorwärts zu tun und dann
mit kühnen Sätzen von Stein zu Stein die gegenüberliegende Bergwand
hinanzustürmen, bis die Zweige des Dickichts hinter ihnen zusammenschlagen.
2. Der Wildbestand des Thüringer Waldes genießt einen großen
Ruf. Besonders gilt dies vom Lande Gotha, dessen Besitz an Gebirge
mit zu den schönsten Teilen des Waldgebirges zählt. Den Wildbestand
immer auf ungefähr gleicher Höhe und Güte zu erhalten, ist eine der vor—
nehmsten Sorgen der Jägerei. Ein schlimmerer Feind und Verderber für
das Wild als das Feuerrohr ist der Winter in seiner Strenge und Grau—
samkeit. Wenn monatelang meterhoher, festgefrorener Schnee Täler und
Bergwände einhüllt und jede Halmspitze auf den Wiesen, das Moos der
Baumwurzeln, alles Gesträuch und Gerank unter einer dichten Decke ver—
borgen hält, dann beginnen die Tage bitterster Not für die Tiere. Gegen
die Kälte leisten sie tapfern Widerstand; aber der Hunger, der von Tag
zu Tag quälend wächst, wandelt allen Stolz und alle Zurückhaltung in
das Gegenteil. Dasselbe kraftvolle Tier, dessen kühner, markdurchdringender
Schlachtruf uns in frischen Herbstnächten erschauern läßt, drängt sich oft
bis dicht an die Wagen und Schlitten, die über das Gebirge kommen.
Es benutzt die Lücken und offen gelassenen Tore des Wildgatters, um zur
Nachtzeit in die Gärten der Bauern vorzudringen, dort nach Resten von
Kohl und Blätterkraut Ausschau zu halten.
3. Jedes Gebiet eines Oberförsters besitzt eine Anzahl von Wild—
fütterungen, gewöhnlich niedrige, brettervernagelte Blockhäuschen in einem
versteckten Waldtälchen oder auf einer windgeschützten, einsamen Halde.
Wind und Wetter haben diesen Häuschen einen grauen, in der Sonne
silberschimmernden Überzug gegeben. Moos und zarte Pflänzchen schmücken
das Dach. Zuweilen sind vor der Tür Salztischchen angebracht; zwischen
den Bäumen, die den Platz einrahmen, stehen Krippen. Weder Küche
noch Stube enthält das Haus. Die Diele ist mit duftendem Bergheu an—
gefüllt. Von hier führt eine steile, kurze Holztreppe zu einem darüber—
liegenden Verschlage, von dem aus sich durch Offnung des Ladens eine
Fensterlichtung auftut. Auch hier oben liegt Heu aufgestapelt sowie einige
Säcke Kastanien. Im Winter wird der Vorrat solcher Wildfütterungen
wöchentlich einigemal erneuert. Nachmittags zu gewohnter Stunde erscheint
143 —
der Waldhüter. Er schließt die Tür auf, stellt den Stutzen in die Ecke
und schickt sich an, seinen Schutzbefohlenen das Gastmahl im verschneiten
Walde herzurichten.
4. Monatelanger, harter Frost war vorangegangen. Dann kamen
mildere Tage. Aber noch einmal bäumte sich der ganze Trotz des Winters
auf, und heftige Schneewehen türmten Berge auf. In den Wäldern
krachte es dumpf zur Nacht, wenn unter der schweren Last die alten Riesen
zusammenbrachen. Verkehr und Leben waren auf den verschneiten Straßen
aufgehoben. Heute aber lacht die Sonne wieder von dem lichtblauen
Himmel, und trotz des frischen Windes glaubt man doch wieder an den
kommenden Frühling. Hinter uns liegen die letzten kleinen, buntgestrichenen
Häuschen der Bergstadt. Am weißschimmernden Buchenhange des Tenne—
berges hinschreitend, nähern wir uns zwischen Teichen, Gärten und Hecken
dem Walde, der sich hier terrassenförmig aufbaut. Noch durch ein Wild—
gatter, dann ein Stückchen Straße entlang, und wir sind unter seinen
Bäumen. Wie überzuckert bis in die feinsten Astverzweigungen glänzen
die Tannen. In der Tiefe gluckert leise eine schmale Wasserader durch
ein vereistes Quelltal. Da und dort hat der Sturm der letzten Tage
mächtige Wände herangeweht, eine lose, feinkörnige, leichtbewegliche Masse,
in der die Sonne ihr Zerstörungswerk langsam beginnt.
Tiefe Stille herrscht im Walde. Mühsam ist die Wanderung; denn
zuweilen geht man bis an die Knie im Schnee. Nur die Fußtapfen des
Wildhüters sind in die weiße Decke eingezeichnet; sonst liegt alles unberührt
ringsum. Jetzt aber zieht sich von rechts her die schmalhufige Spur eines
Hirsches über den Weg, begleitet ihn längs der Tannenwand ein Stück
und verschwindet wieder. Bald darauf zeigt sich eine neue Spur, von
rechts und links gesellen sich andre hinzu. Aus den Linien werden
breite Bänder, schließlich ist die ganze Breite der Straße, die Seiten—
böschungen, die Schneefläche unter den Bäumen wie übersät von den Tritt—
spuren starker Rudel Hirsche, ein wirres Durcheinander, das aber deutlich
die Richtung nach dem verborgenen Wallfahrtsorte aufweist. So geht es
eine Viertelstunde fort, bis sich zur Linken ein freier Schlag zeigt, der sich
zwischen den Weg und den Teil des Waldes schiebt, in dem sich die
Futterstelle befindet. Wenige Minuten später grüßt uns das Häuschen.
5. Geweihe und schlanke Füße werden zwischen den Stämmen sichtbar.
Unsre Aukunft bleibt nicht unbemerkt, und während uns der Wildhüter
heranruft, zieht sich das Wild, das sich schon eingefunden hat, aufgescheucht
in den Schatten des Forstes zurück. Ein stummer Händedruck, eine kurze,
flüsternd gegebene Anweisung, und wir klimmen leise die Holztreppe hinan,
stoßen den Laden auf und erwarten das Schauspiel. Der Wildhüter
—
hat bereits vor unsrer Ankunft die Krippen am Waldrande mit Heu ge—
füllt, ebenso lange Heustreifen strahlenförmig vom Hause aus hingeschüttet.
Aber noch bleibt der freie Platz in der Nähe von den Tieren unbesetzt.
Jetzt aber kommt eine seltsame Bewegung in die Tiere. Aus der Tür
trut der Wildhüter, einen großen Sack voll Kastanien tragend. Er greift
hinein, nimmt eine Handvoll der blanken Knollen und wirft sie gegen
die Borkenwand des Hauses. „Hans!“ ruft er, „komm!“ und begleitet
mit leisem Schnalzen seine Aufmunterung. Der Lockruf und das knatternde
Anschlagen der Früchte haben Wunder gewirkt. Zu Dutzenden brechen
jetzt die Hirsche aus dem Waldesschatten hervor, begleitet von den Spießern,
Hirschkühen und Kälbern. Immer mehr schwillt die Menge an, in die
uun der Mann mit vollen Händen die Kastanien, ein Lieblingsfutter der
Hirsche, schlendert. In wenigen Minuten stehen wohl anderthalbhundert
Tiere auf dem Plane. Sie balgen sich um die Früchte, fahren mit dem
Geweih klappernd gegeneinander, weichen einander aus, naschen von dem
Heu und heben dann wieder die Köpfe, uns mit großglänzenden Augen
ftarr und verwundert anzuschauen. Der mächtige, kraftstrotzende Bau, der
Adel und die Schmiegsamkeit der Bewegungen öffenbaren sich in jeder
Minute in überraschender Schönheit, und man möchte Maler und Bild—
hauer zugleich sein, um festzuhalten, was hier das Auge entzückt.
Jetzt nähert sich vom Waldessaum langsamen Schrittes der Nestor.
Fast schwarz ist seine Farbe, und wie er jetzt den Kopf leise bewegt, ver—
mögen wir die zwanzig Enden des Geweihes zu zählen. Vor dem Hause
liegt noch eine Anzahl Kastanien. Ein Spießer, der sich vordrängt, scheint
sie dem Alten streilig machen zu wollen; dieser aber wendet nur halb den
Kopf zur Seite und neigt ein wenig das schwere, vielzackige Geweih.
Mit einem raschen Sprunge weicht der Jüngling aus, und majestätisch setzt
der Alte seinen Weg fort, gerade aufs Ziel. Dort labt er sich gemächlich,
bis er seinen Hunger gestillt hat; dann bleibt er wieder in der Mitte stehen,
während sich die Tiere äsend und auslugend um ihn scharen.
6. Die Sonne ist indessen hinter die Berge gewichen; leichte Nebel
flattern um die Baumkronen. Die Kastanien sind aufgezehrt, das Heu
ist zum Teil vertilgt. Über die Gesellschaft kommt ein Gefühl behag—
licher Sattheit, eine Sehnsucht nach Ausruhen. Langsam, wie er ge—
kommen, wendet der Nestor wieder um und sucht sich unter den
Bäumen ein Plätzchen zum Ruhen. Sein Beispiel wirkt ansteckend.
Fünf Minuten später ist der Plan leer. Die Reste des Heus finden
bis zum nächsten Morgen Verwendung. Dann streifen die Tiere durch
die Waldungen, erfreuen sich an den Zweigspitzen junger Tannen und
Buchen, suchen eine eisfreie Stelle in einem Quelltal auf und stellen sich
— 1453 —
bald nach Mittag wieder an der Wildfütterung ein, um nun den Augen—
blick abzuwarten, wo die bekannte, graugrüne Gestalt des Wildhüters
den Hohlweg heraufkommt und das Gastmahl in zwei Gängen aufge—
tragen wird.
Noch eine Weile blicken wir zu den rastenden Tieren hinüber. Dann
wird der Holzladen geschlossen. Der Wildhüter wirft den Stutzen über
die Schulter, wir verlassen das Blockhaus. Aus dem Heuhaufen der
Diele klingt wie zum Abschied das helle Piepsen einiger Mäuse, der
einzigen stündigen Bewohner der Hütte. Der Schlüssel knarrt im Schlosse;
hinab geht's den Weg, den wir am Nachmittag heraufkamen.
August Trinins. (Aus grünen Bergen.)
107. Die Tannenmeise.
1. In Wald und Feld ist's kahl geworden,
verstummet ist der Liederschall.
Es hat der rauhe Wind aus Norden
ins Grab gelegt die Blumen all.
2. Er ließ der Flocken wilden Reigen
aus grauen Wolken niedersprühn.
Nur eines blieb: An Tannenzweigen
erglänzt und prangt das dunkle Grün,
3. und in den dicht beschneiten Ästen
ein Vöglein singt, sobald es tagt;
das schied nicht mit den Sommergästen,
das hat's mit Eis und Schnee gewagt.
4. Die Tannenmeise hat vertrieben
nicht Sturm und Frost. Ihr lust'ger Laut
sagt, daß dem Baum sie treu geblieben,
drin sie das Nest im Lenz gebaut.
5. Das Vöglein hat im Zweig gesessen;
es sang so frisch und frühlingsfroh!
Da hat's der alte Baum vergessen,
daß längst schon Lenz und Sommer floh.
6. Daß Winter herrscht ringsum im Lande
mit harter Hand, er ahnt es kaum
und träumt in seinem Schneegewande
noch weiter seinen Sommertraum.
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. U. Neubtg.
Emil Rittershaus.
1926
168
— 146 —
108. Die Raubvögel als Feldpolizei.
1. Hörst du den hellen, scharfen Schrei, der am frühen Morgen von
dem Wipfel der hohen Ulme herüberschallt? Ein Falke hat dort über—
nachtet und schwingt sich jetzt auf zur schnellen Jagd Hüte dich, Vöglein
im Buschel Hütet euch, ihr Tiere des Feldes! Der Falke und seine
Kameraden, Adler, Habicht, Weihe, Bussard und Sperber, sind scharfe,
gestrenge Flurwächter, die keinen Pardon geben. Was sie vom kleinen
Getier als Feldfrevler finden, dem pfänden sie nicht nur den Rock, sondern
auch noch den Kopf.
2. Die gefiederte Feldpolizei des Falkengeschlechts ist mit allen Waffen
für ihr Amt ausgerüstet. Die gewaltigen Schwingen treiben sie mit
wenigen Flügelschlägen in reißender Schnelligkeit vorwärts, so daß sie
leicht den Dampfwagen, der mit voller Kraft dahinbraust, überholen. Hat
der kräftige Vogel durch eine Anzahl tüchtiger Flügelschläge sich die ge—
hörige Geschwindigkeit nach vorwärts gegeben, so kann er mit geringer
Anstrengung die Richtung des Fluges verändern. Hält er die Flügel
ein klein wenig schräg, nach hinten zu abfallend, so steigt er schräg auf—
wärts. Stellt er dabei den einen Flügel schräger als den andern, so
beschreibt sein Flug einen Bogen. Der kühne Flieger zieht in mächtigen
Kreisen hoch droben durchs Luftmeer und steigt in Schraubenwindungen
höher und höher. Hält er dagegen die Fittiche vorn etwas nach unten
geneigt, so senkt sich der Flug und wird dadurch gleichzeitig schneller.
Klappt der wilde Jäger vollends die Fittiche dicht an den Leib, so schießt
er wie ein Pfeil, der vom Bogen geschnellt wird, hinab zur Erde. Wehe
dem Rebhuhn oder der Taube, die dies lebendige Geschoß trifft! Die
dicht an den Leib gezogenen Klauen fassen den Rücken der Beute und
dringen wie scharfe Dolche in ihren Leib. Der schwere Körper des
Raubvogels schmettert den schwächeren Vogel zu Boden, ohne daß dem
kräftigen Knochenbau des wilden Gesellen der Sturz im geringsten schadet.
Das blutige Werk, das die Klauen begonnen, vollendet der Hakenschnabel,
und der gefiederte Jäger belohnt seine Heldentat und seinen Amtseifer
durch einen Schmaus, bei dem er Gast und Wirt in einer Person ist.
3. Feld und Flur sind mit Kräutern und Gräsern reichlich gesegnet,
und im Frühjahr dringen der grünen Sprossen unzählige allenthalben
hervor, als sei das ganze Land ein einziger großer Quell, aus dem die
grüne, lebendige Flut hervorströmt. Aber die vielerlei Tiere des Feldes,
die sich von Gras und Kraut nähren, sind nicht minder fruchtbar. Würde
— 147 —
uur ein halbes Jahrzehnt hindurch kein Mäuschen getötet, wahrlich, das
Heer diefser Zwerge würde zahlreicher sein als die Grashalme auf der
Wiese. Kbnnen doch von einem einzigen Paar Feldmäuse im günstigen
Falle während eines Sommers 90 Paar junger Mäuse entstammen, und
schon in wenigen Jahren würden mehrere Millionen Stück vorhanden sein.
Ist beim Rebhuhn die Vermehrung auch etwa nur halb so stark, so ergäbe
ein einziges Paar nach fünf Jahren doch schon zwei Millionen. Tötet
man nicht jährlich im Herbste viele Tausende von gefräßigen Hamstern,
von denen ebensoviele Metzen Getreide in das Winterquartier eingeschleppt
worden waren? Und mehr noch war bereits durch sie von der Feld—
frucht verzehrt, ehe sie zu vorsorgenden Hauswirten heranwuchsen. Hast
du einmal die Wolken von Sperlingen und Ammern gezählt, die sich auf
das Weizenfeld niederlassen, wenn die Ähren sich bräunen?
Wahrlich, du kannst es mit dem Griffel auf der Tafel genau nach⸗
rechnen, wie wenige Jahre schon ausreichen würden, das ganze, weite
Land statt mit blühenden Blumen mit bunten Vogelköpfen, Hamsterbeinen
und Mäuseschwänzen zu bedecken! Diese kleinen Felddiebe müßten schließ⸗
lich einander selbst verzehren, wenn nicht mancherlei Feldpolizei angestellt
wäre, um beizeiten Einhalt zu tun.
Wiesel und Hermeline suchen die kleinen Wühler in ihren Quartieren
unter der Erde auf. Eulen, Füchse und Marder belauern sie während
der Nacht; den Tagdienst haben die Falken und ihre Verwandten.
4. Jede Raubvogelart hat ihr besonderes Jagdrevier und ihre eigen—
tümliche Weise. Der Adler zieht hoch droben im Wolkengebiet in weiten
Kreisen über das Land; wenige Stunden bringen ihn über Königreiche
hinweg! Mit scharfem Auge erspäht er den Hasen drunten, der dem
Bauern den Kohl stiehlt. Er stürzt pfeilschnell hinab und packt den er—
schrockenen Übeltäter. Da gibt's kein langes Verhör, kein Ausreden; der
Dieb ist auf frischer Tat abgefaßt und schwebt nach wenigen Minuten
zappelnd hoch droben in den Klauen des Rächers. Erstaunt siehst du dem
kecken Vogel nach. Du spähst, wo er hinfliegt; allein du müßtest sehr
schnelle Füße haben, wolltest du drunten ihm ebenso rasch folgen, als er
droben scheinbar gemächlich von dannen zieht. Meilenweit weg hat er im
dichtesten Forste seinen Horst auf dem Wipfel der höchsten Eiche, oder es
warten auf ihn die Jungen vielleicht in einer unzugänglichen Felskluft.
5. Ähnlich dem Adler benimmt sich der Falke; er übertrifft ihn aber
noch an Schnelligkeit Hat man doch berechnet, daß er beim Verfolgen
der Beute so rasch fliegt, daß er in einer Stunde 300 km zurücklegen
10*
—148 —
kann. Hasen und andre vierfüßige Tiere mag er weniger, dagegen jagt er
gern auf Geflügel. Das Rebhuhn, das er ungeschützt auf freiem Felde
antrifft, ist unrettbar verloren, ebenso die Taube, die sich in der Angst vom
Schwarm entfernt. Mitten in den Schwarm hinein stößt der Falke niemals.
6. Der schätzbarste Jäger für unser Ackerland ist der Mäusebussard.
Der Name Bussard bedeutet so viel wie Katzenadler und ward dem
Vogel gegeben, weil sein Geschrei dem der Katze ähnelt. An Größe
gibt er zwar dem Habicht und dem Falken nichts nach, hat aber weniger
scharfe Krallen, einen minder kräftigen Schnabel und ist viel träger als
diese. Er liebt weniger Treib- und Hetzjagden, wie seine Vettern der—
gleichen anstellen, sondern begibt sich auf den bequemeren Anstand. Hierzu
sucht er sich einen Feldbaum aus und setzt sich auf einem seiner unteren
Äste zurecht. Dabei zieht er den Kopf zwischen die Schultern, so daß
er aussieht wie ein buckliges, braunes Männchen, und schaut nun mit
scharfem Auge über die Felder dahin. Kommt ein vorwitziges Feldmäuschen
hervor, das bei Tage einen Spaziergang machen will, so stürzt er sich
rasch von seinem Wartturm herab wie ein Raubritter aus alter Zeit.
Mit fast lautlosem Fluge streicht er durch die Luft, und mit sicherm Griffe
faßt er die Näscherin, ehe sie ihr bergendes Loch wieder erreichen kann.
Auch der schwarzpelzige Maulwurf ist nicht sicher vor den Krallen des
Bussards. Geduldig beobachtet der Vogel die Arbeit des alten Wühlers
und sitzt bewegungslos an dem Gange, aus dem der Maulwurf aufzustoßen
pflegt. Kaum geschieht dies, so greift auch der Bussard zu und zieht ihn
ans Tageslicht. Dem diebischen Hamster tut er ebenfalls wacker Einhalt,
und wie ein kühner Ritter kämpft er mutig mit der giftigen Kreuzotter,
wo er ihrer ansichtig wird, trotzdem er nicht gegen ihr Gift geschützt ist.
Wegen seiner Mäusejägerei schont der Weidmann auch den Bussard, ob—
gleich er ihm hier oder da auch einen jungen Hasen verspeist. Die andern
Raubvögel kommen dem Jäger aber häufig ohne Jagdschein doch zu sehr
ins eigene Gewerbe, so daß er ihnen die Wilddieberei legt — voraus—
gesetzt, daß sie sich beikommen lassen.
Hermann Wagner. (Cntdeckungsreisen in Feld und Flur,)
109. Gedenket der Vögel im Winter!
L Komm zum Fenster, liebe Kleine,
bringe Körnlein mit und Brotl
Schau, im Hof dort auf dem Ssteine
liegt ein vögleinl — Es ist tot.
— — ⏑ ——
2. Eingefroren jedes Börnchen,
jeder Futterplatz verschneit!
„Nur ein Krümchen!l nur ein Körnchenl!“
flehn die Sänger weit und bhreit.
8. Gib ein Körnchen, gib ein Krümchen!
streu's vor unsers Hauses Türl
Und der Frübling schenkt ein Blümchen
und ein Vogellied dafur.
4. Und das ruft: „Zum Lenzesfeste
Komm ins frische Grün geschwind!
Doch das Schönste, Allerbeste
schenkt dir selbst dein Herz, mein Rind.“
Emtl Rittershaus.
110. Der Vöglein Weihnachten.
1. Alles freut sich auf Weihnachten, das lieblichste Fest, das Licht und
Wonne in die dunkle Winterzeit strahlt. Alles? Auch die muntern Vög—
lein, die oft so lustig vor unsern Fenstern zwitschern und auch im Winter
treulich bei uns aushalten? Ach nein, für die ist der Winter eine traurige
Zeit. Auch Weihnachten macht für sie keinen Unterschied; im Gegenteil, selbst
da, wo man ihnen sonst mitleidig ein wenig Futter hinstreut, pflegt es in
der Weihnachtszeit vergessen zu werden, weil ein jeder von der Festfreude ganz
hingenommen ist.
2. Aber ein Land weiß ich, wo man zu Weihnachten auch der Vöglein
nicht vergißt. Im hohen Norden liegt es und heißt Schweden. Dort geht
am Tage vor Weihnachten jeder Bauer mit seinen Kindern in die Scheune
und holt eine Garbe heraus, stellt sie am Abend unter dem Jubel der Kleinen
am Hause auf und freut sich, wie die Vögel zwitschern werden, wenn sie am
Morgen den Reichtum entdecken. In den Städten aber sieht man große
Wagen wie zur Erntezeit mit Korngarben beladen auf den Märkten auf—
gefahren, und die Leute kommen und kaufen davon viel oder wenig, aber
auch die Ärmsten etwas. Besonders die Kinder sind eifrig und freudig dabei
und befestigen die erkauften Ährenbündel vor den Häusern oder an den
Fenstern. Am Weihnachtsmorgen ist es dann eine Lust zu sehen, wie die
kleinen, lieben Vögel aller Art kommen und picken und hüpfen und flattern
und dazu zwitschern, als wollten sie allen sagen, wie fröhlich und dankbar
sie sind.
3. Nun, ihr deutschen Knaben und Mägdlein, möchtet ihr nicht auch wie
die kleinen Schweden und Schwedinnen die Vögel zur Weihnacht teilnehmen
150 —
lassen an der großen Freude der Welt? Es wäre kein großes Werk; aber es
würde das schöne Fest noch reicher und schöner machen, und eure Herzen
würden noch froher schlagen, wenn euch aus kalter Winterluft die Vögel
ein fröhliches „Hab' Dank!“ und „Frohe Weihnacht!“ zuzwitscherten.
Kaxl Thoxing. Geineckes Lesebuch.)
111. Der treue Leo.
1. „Leo, Leo, laß mich leben; Leo, du erstickst mich!“ so rief der
kleine Hans vergeblich einem mächtigen Bernhardiner in die gelblichen
Ohren. Vergeblich, — immer wieder legte dieser seine mächtigen Tatzen
auf die Achseln des Jungen und leckte dazu sein Gesicht mit der großen
Zunge. Endlich hatte er seine Freude genugsam gezeigt und ließ sich
nun schwanzwedelnd von der kleinen Hand den breiten Rücken klopfen.
„Ja, bist ein Guter, ein Braver; gelt, der Morgen ist dir lang geworden
ohne mich, ja, ja. Aber jetzt komm!“ Damit setzten sich die beiden in
Galopp und erreichten in großen Sätzen die väterliche Mühle, die am
klaren, sprudelnden Bergbach abseits vom Dorfe lag.
Jeden Morgen nach elf Uhr wiederholte sich diese Begrüßung
seit dem Frühlinge, da Hans seinen Schulsack schnallen und abwandern
mußte zum regelmäßigen Lernen. Da hatte Leo winselnd und heulend
seinen Spielkameraden auf die Landstraße begleitet, und lange hatte es
gedauert, bis er begriffen, er dürfe nicht weiter mitgehen.
2. Kamen die beiden atemlos an der Mühle an, dann setzte sich Leo
auf die Steinplatte vor dem Hause und wartete, bis Hans wieder zurück—
kam von drinnen. Daß es nicht lange dauerte, wußte er. Hans hatte
von der gütigen Mutter ein Stück Brot geholt.
„Laß mich doch, Leo; brauchst nicht so zu stoßen, es ist ja dein,
aber warte doch!“ — damit legte Hans schützend seine Hand auf die
Hosentasche, um sein erbeutetes Stück vor der zudringlich stoßenden Nase
Leos zu schützen. Dann rannte er nach einem Lattenzaun und schwang
sich hinauf, um in etwas gesicherter Höhe sein Brot zu verschmausen.
Leo setzte sich vor ihm hin und verfolgte mit rot leuchtenden Augen jeden
Bissen, der im Munde des Knaben verschwand. Aber mancher flog im
Bogen in seinen Rachen, den er geschickt öffnete. Manchmal hielt ihm
Hans den Brocken lange an die Nase und ließ ihn schließlich in den
eigenen Mund spazieren. Dann klopfte Leo mit dem Schwanze auf den
Boden, daß es schallte, als wollte er sagen: „Weil du's bist, lasse ich
mir das gefallen, sonst würde ich schnappen. Aber wir beide ver—
stehen Spaß.“
— 151 —
3. Nach dem Mittagessen sah Hans durchs Fenster, wie Friedrich,
der Knecht, den großen Leiterwagen, mit vollen, schweren Mehlsäcken
bepackt, zur Abfahrt rüstete. „Vater, wo geht Friedrich hin?“ „Nach
W. hinunter mit starker Fracht.“ „O, darf ich mit? Ich habe keine Schule,
bitte Vater!“ „Nein, du kannst nicht mit, der Vater fährt nicht mit, der
Friedrich geht allein“, legte sich die Mutter besorgt in die Verhandlung.
Der Knabe heftete seine Blicke flehend auf des Vaters Gesicht, von dem
er alles Gute hoffte.
„Du bist freilich noch nie ohne mich gefahren; aber der Friedrich ist
zuverlässig. Willst du ihn lassen, Mutter?“ „Ungern“, war die Antwort.
Hans aber hörte sie schon nicht mehr. Auf und davon war er und
kletterte eiligst auf das Brett vorn am Wagen und faßte die Leinen.
„Leo, wir fahren, hurra, Leo!“ Und Leo sprang hoch auf neben dem
Wagen, der rasselnd die Landstraße entlang rollte. Es war ein stiller,
milder Wintertag. Wie vergnügt schaute Hans um sich, wie jauchzte er,
als der Wagen über die Brücke fuhr und die grünen, stillen Wellen leise
rauschend unter dem polternden Wagen davonzogen! Er hatte den
Friedrich viel zu fragen, und dieser war guter Dinge, bis sie im statt—
lichen W. einfuhren.
4. Früh breitet sich die Winternacht über die schweigende Flur.
Schüchtern blinkt da ein Sternlein und dort eins durchs Gewölk. Die
Wellen des Flusses rauschen geheimnisvoll unter dem Brückenbogen. Da,
was stört die Stille? Polternd und knarrend fährt der leere Müller—
wagen auf die Brücke. Der Friedrich ist auf dem Heimwege. Aber nicht
mehr stramm sitzt er auf dem Bocke, schwer hängt der Kopf vornüber.
Im „Goldenen Kreuz“ hat er gute Freunde getroffen. Der Wein funkelte
so rot und glühend; jetzt freilich macht er ihm den Kopf schwer. Was
tut's? Er ist ja bald daheim. Die Pferde finden den Weg im Dunkeln,
er läßt ihnen den Willen und hält die Zügel schlaff. Da, was ist das?
Es klingt wie ein Aufspritzen des Wassers, wenn ein schwerer Körper
hineinfällt, und jetzt ein Gurgeln der Wellen. Aber Friedrich hat nichts
gehört, er führt weiter. Einer aber hat's gehört und gesehen. Der Leo
hat im Nu begriffen, daß es sein kleiner Herr ist, der beim Anstoßen
des Wagens an einen Stein in weitem Bogen über das Geländer fliegt
und ins Wasser fällt. Ein Sprung, und seine mächtigen Tatzen teilen
die Flut. Leo rudert tapfer pustend weiter. Seine Augen durchdringen
das Dunkel, — er sieht den schwarzen Körper des Knaben, er faßt ihn
mit der Schnauze fest am Rücken, beißt sich in das Tuch des Wamses und
schwimmt dem Ufer zu. Er zieht, zerrt, schleift, bis er den kleinen, stillen
52
2
Körper oben auf dem Uferrande hat. Da leckt er das Gesicht, die Hände,
winselt und wedelt, riecht und schnuppert. Hans will nicht erwachen.
Da stößt Leo ein mächtiges Geheul aus, daß es weit schallt wie ein
Feuerhorn über die Ebene. Alles still! Da legt er sich hin über den
Knaben, — seine warmen Tatzen decken die nasse Brust — und hält
Wacht. Ist's Totenwacht? Von Zeit zu Zeit wiederholt er sein macht—
volles Geheul, daß die Wellen erschrecken im Flusse. Endlich nahen
Schritte. Ein paar Männer kommen von W. her über die Brücke. Sie
hören das Heulen, finden den treuen Wächter neben dem kalten, nassen
Knaben. Sogleich laden sie ihn auf und tragen ihn heim in ihr Haus,
das seitab liegt von der Landstraße.
5. Der Friedrich führt weiter, ohne zu wissen, was vorgefallen. Als
die Braunen vor der Mühle halten, wird er munter. Er will absteigen
und dem Hans herunterhelfen. „Ach Gott, wo ist er?“ Der Platz ist
leer. Der Müller kommt heraus, die Mutter auch. Sie hat sich geängstet
um Hans und will ihn heimholen. Da ist er nicht auf dem Wagen.
Welch ein Jammer! Friedrich weiß keine Auskunft zu geben, und obwohl
er hoch und teuer versichert, nicht geschlafen zu haben, sieht jeder doch, daß,
während er schlief, der Knabe an seiner Seite verschwunden ist. Die Mutter
will selbst hinaus in die Nacht, das Kind zu suchen; aber der Vater
weist sie hinein in die Stube. Er zündet eine Laterne an und sagt:
„Ich find' ihn allein. Der Leo ist auch nicht heimgekommen, so ist er beim
Hans; es kann nicht schlimm sein.“ Er wandert hinaus; aber schon auf
halbem Wege kommt ihm ein Vote entgegen, einer der Männer, der ihm
erzählt, wie und wo Hans gefunden worden, und daß er, nächst Gott,
es dem treuen Leo verdanke, daß er gerettet und lebend sei. Im warmen
Bette bei der Nachbarsfrau habe er die Augen aufgeschlagen und die
Rede wiedergefunden. Da eilt der Vater mit dem Manne, sein Kind
zu umarmen und sich zu versichern, daß es ihm neu geschenkt sei. Seine
Angst verwandelt sich in Dank.
6. Was sitzt der Leo so vergnüglich auf der sonnenbeschienenen Stein—
platte vor dem Hause? Was blinzelt er mit den kleinen Augen in die
Sonne und leckt sich die Schnauze? Neben ihm steht eine rote, irdene
Schüssel, aber sie ist leer. O, es war etwas darin, eine ganze, rote, köst⸗
liche Wurst war drin! Hat die aber geschmeckt! Heute morgen ist er
mit dem Hans eingezogen in die Mühle, und da kam die Wurst. Und
Leo weiß wohl, warum; drum blinzelt er auch so vergnügt und leckt
und leckt.
Dorxa Schlatter. Wiesenberger: Aus Natur und Leben.)
— 153 —
112. Rätsel.
2. Er baut sie auf in wenig
Tagen
geräuschlos, du bemerkst es kaum;
doch kann sie große Casten tragen
und hat für hundert Wagen Raum.
L. Kennst du die Brücke ohne
Bogen
und ohne Joch, von Diamant,
die über breiter Ströme Wogen
errichtet eines Greises Handd
3. Doch kaum entfernt der Greis sich wieder,
so hüpft ein Rnabe froh daher,
der reißt die Brücke eilig nieder;
du siehst auch ihre Spur nicht mehr.
Friedrich Kind.
113. Hoffnung.
J. Und dräut der Winter noch so sehr
mit trotzigen Gebärden,
und streut er Eis und Schnee umher,
es muß doch Frühling werden!
2. Und drängen die Nebel noch so dicht
sich vor den Blick der Sonne,
sie wecket doch mit ihrem Cicht
einmal die Welt zur Wonne!
Z. Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht!
Mir soll darob nicht bangen;
auf leisen Sohlen über Nacht
kommt doch der Lenz gegangen.
4. Da wacht die Erde grünend auf,
weiß nicht, wie ihr geschehen,
und lacht in den sonnigen Himmel hinauf
und möchte vor Lust vergehen.
5. Sie flicht sich blühende Rränze ins Haar
und schmückt sich mit Rosen und Ahren
und läßt die Brünnlein rieseln klar,
als wären es Freudenzähren.
6. Drum still! Und wie es frieren mag,
o Herz, gib dich zufrieden: —
Es ist ein großer Maientag
der ganzen Welt beschieden!
7. Und wenn dir oft auch bangt und graut,
als sei die Höll auf Erden:
Nur unverzagt auf Gott vertraut!
Es muß doch Frühling werden!
2
Emannel Geibel.
— 154 —
D. Erdkundliche Bilder.
1. Aus der Heimat.
114. Gruß an die Schläsing.
1. Nichts Siebres mocht ich findern wohl in der weilen Welt,
wo ich frisch⸗fröhlich aufschlug mein flüchtig Wanderzelt,
als dich, das mir die Seele mit Zauberfelseln band:
mein Schlesfien, mein schönes, mein trautes Heimalt⸗
Land!
2. And hat auch wundermächtig die Jremde mir gelacht
irt ihrer Zarbenfülle, in ihrer bBunten Bracht, —
dir blieb mein ganzes Sinnen voll Sehnsucht zugewandt:
mein S5chlesien, mein schönes, mein trautes HSeimat⸗
Land!
3. Nach deinen Bergen zog's mich, nach deinen grünen Au'm,
zut deinen biedern Männerti, zu deinen bolden Frau'n. —
Von dir, von dir nur fräumt ich, wo still ich ging und stand:
mein Schlesien, mein schönes, mein trautes Beimal—
—and!
4. And neigt lsich meine Sonne, verlischt itzr guldrner Schein,
dir will mein letzt Gebet ich in ffummer Andacht weihn:
daß Gott der Serr dich schirme mit seiner gnãd'gen vand,
mein Schlesien, mein schõnes, mein trautes Seimat—
Lamd!
Max Heinzel.
115. Der Zobtenberg.
Der Zobten, der in der Provinz Schlesien weithin nach allen
Seiten sichtbar ist, bietet sich einer Bergwanderung von Breslau aus als
das nächste Ziel dar.
Von dem freundlichen Städtchen Zobten aus wandern wir zum Fuße
des Berges, dann steiler hinan; der Weg ist mit Felsstücken besät.
Während wir uns abmühen, einen steilen Hohlweg hinanzusteigen, sehen
wir zur Rechten das uralte Steinbild einer Frau ohne Kopf, einen
steinernen Fisch in ihrem Schoße und einen steinernen Bären an ihrer
Seite. Die Herrin der Zobtenburg soll eine Magd nach dem Städtlein
geschickt haben, für ihren gezähmten Bären einen Hecht als Medizin zu
holen. Der Bär aber sei entlaufen und habe unterwegs dem Mädchen
— 155 —
den Kopf abgebissen. Weiter oben gemahnt eine hohlklingende Stelle des
Bodens, das sogenannte Pumperfleckel, an eine andre Sage. Einst fand
ein Schweidnitzer Gelehrter an dieser Stelle den unterirdischen Weg geöffnet;
am Ende sah er drei bärtige Männer in einem schwarzen Gemache, und
einer überreichte ihm ein schwarzes Buch. Darin waren alle die schrecklichen
Taten verzeichnet, wodurch sie die Schätze erworben hatten, und wofür sie
büßen mußten. Als aber sich hinten ein Vorhang öffnete, und Gold und
Edelsteine dem Besucher verlockend entgegenstrahlten, da verschmähte es
der weise Mann, die Hand nach den blutigen Schätzen auszustrecken. Da—
durch löste er die armen Büßer; mit gewaltigem Donner tat sich eine
tiefe Kluft auf, die alles verschlang. Der betäubte Befreier aber erwachte
im Freien in den frischen Lüften der Mitternacht.
Endlich betreten wir den breiten Gipfel des Zobten; er besteht aus
einer Wiese, auf der sich eine kleine Felsengruppe bis 718 m über dem
Meeresspiegel erhebt. Auf der niedrigeren Spitze steht eine freundliche
Kapelle. Durch eine Senkung gelangen wir auf den zweiten Gipfel, und
hier enthüllt sich ein herrliches Bild. Da liegt uns zunächst, durch eine
tiefe Kluft getrennt, der waldige Gipfel des Geiersberges, weiterhin der
Költschener Berg, eine einsame Bergwarte, auf dessen Abhange der Kirch⸗
turm des Dorfes Költschen sichtbar ist. Hinter diesen Bergen erhebt sich
das Eulengebirge. Sein Gipfelpunkt, die Hohe Eule, liegt rechts; links
zeigt sich Silberberg, ein hoch am Berge klebendes militärisches Felsennest,
das jetzt verlassen ist. Zu den Füßen der Eule breitet sich eine freund—
liche Landschaft aus mit buntgewirkten Fluren und den hellen Kirchtürmen
ihrer Städte und Dörfer. Links von dem Eulengebirge ragen aus den
Glatzer Bergen der Große Schneeberg und der Spitzberg hervor, weiter—
hin der Altvater, und in blauer Ferne verliert sich das Mährische Gesenke
ins Flachland. Zur Rechten von der Eule erblickt man die Waldenburger
Berge, den glockenartigen Hochwald, den dreigipfligen Sattelwald. Da—
hinter ragt in tieferer Ferne mit majestätischen, leisen Umrissen der hohe
Kamm des Riesengebirges empor mit der im Gewölk verschwimmenden
Schneekoppe. Wir gehen zur Wiese zurück. Da breitet sich bis zu dämmernden
Waldgreuzen, bis zum Trebnitzer Höhenzuge, hier bis über Liegnitz, dort
bis über Brieg hinaus das geseguete Schlesierland vor uns aus mit seinem
Hauptstrome und dessen Flußgebiete. Wir suchen und finden Breslau mit
seinem hohen Elisabethturme und seinen schimmernden Häuserreihen, das
Herz der schönen Provinz.
Vom Gipfel des Berges hinabschreitend, biegen wir in den Weg
nach Gorkau ein. Statt des dunkeln, schillernden Zobtengesteins findet
man hier unten Granit. In dem einen der zwei Steinbrüche liegt ein
— 16 —
riesiger Granitblock; der sollte in Krieblowitz als Grabstein Blüchers dienen,
denn der Feldmarschall hatte einen schlichten Stein auf sein Grab gewünscht.
Doch es gelang nicht, das für den „Marschall Vorwärts“ bestimmte
Ungetüm, an dem die Steinmetzen vier Jahre gearbeitet hatten, weiter
fortzuschaffen; auch zeigten sich Sprünge im Granit. Datum muß der
„Blücherstein“ an dieser Stelle ein Denkmal des tapfern Marschalls bleiben.
Rudolf von Gottschall. (Das Schlesische Gebirge.)
116. Breslau.
1. Die Großstadt.
1. Wer aus der Stille des Landlebens kommt, kann sich nur schwer in
dem Leben und Treiben einer großen Stadt wie Breslau zurechtfinden.
Auf dem Bürgersteige gelangt man unter der Menge nur mit Mühe vor—
wärts. Droschken rollen auf den Straßen. Jetzt saust aus der Querstraße
ein Wagen der elektrischen Bahn vorüber und mahnt mit hellem Geläute
zur Vorsicht. Rollwagen, Handwagen, Frachtwagen werden geschickt durch die
Straßen geleitet. Dazwischen ertönt die Glocke des Radfahrers oder die Hupe
eines Kraftwagens. Eine Abteilung Soldaten marschiert zur Wache. Mit
durchdringendem Geläute kündigt sich ein Zug der Feuerwehr an, der zu
einem Schadenfeuer gerufen ist. Arbeiter reißen das Pflaster auf, um eine der
vielen Rohrleitungen auszubessern. Diese durchziehen die Stadt von dem
großen Wasserhebewerke oder von den Gasanstalten her oder nach den Schwemm⸗
kanälen zu wie ein unterirdisches Netz. Die Wasserleitungen und Gasröhren
verzweigen sich links und rechts in die Häuser, so daß selbst in den obersten
Stockwerken Wasser und Gas stets zur Hand sind. Hunderte von Drähten
überspannen wie ein Gitterwerk die Dächer, oder sie ziehen, von großen
Masten getragen, die Straßen entlang, oder sie schmiegen sich an Wand
und Wand. Ihre geheimnisvollen unsichtbaren Ströme tragen das gesprochene
Wort in die Ferne, ziehen Straßenbahnwagen, entzünden Lampen und treiben
Maschinen an allen Ecken und Enden der weiten Stadt. Und welch eine
Fülle der verschiedensten Gebäude! Da gibt es Kirchen, Schulen, Turn—
hallen, Bibliotheken, Museen, Druckereien, Theater, Kasernen, Fabriken, Lager⸗
häuser, Bankhäuser, Gasthäuser, Markthallen, Krankenhäuser. Dazu die ehr—
würdigen Amtshäuser. In dem schönen alten Rathause auf dem Ringe
walten die Behörden der großen Breslauer Stadtgemeinde. Ein herrliches
neues Amtshaus für die Oberleitung aller mittelschlesischen Gemeinden erhebt
sich am Lessingplatze bei der Lessingbrücke. Auf der Albrechtsstraße schmückt
— 1—7 —
eine würdige Säulenhalle den Eingang zu dem Amtshause des Oberpräsidenten
der Provinz. Auf derselben Straße wölbt sich über dem Hauptamte der Deutschen
Reichspost eine gewaltige Kuppel für die vielen Drahtleitungen zum Sprechen in
die Ferne. Am äußeren Ende der Schweidnitzer Straße steht neben dem Theater
ein großes, schlichtes Amtshaus. Soldaten halten Wacht, denn hier wohnt der
kommandierende General, der von dem obersten Kriegsherrn des Deutschen Reiches
die hohe Aufgabe erhalten hat, daß er das gesamte sechste Armeckorps stets tüchtig
und wohlgerüstet erhalte zu Schutz und Trutz. In der Nähe aber harrt das
Königliche Schloß jedes neuen Ehrentages, an dem er selbst, unser edler Kaiser
und König, wieder in seiner getreuen Residenzstadt Breslau weilt; stolz weht
dann auf dem Schlosse das Kaiserbanner wie in den Herzen der Schlesier die
Liebe und Treue zu König und Vaterland.
Lessinaplatz.
Regierungsgebünude.
Zur Lessingbrücke.
2. Auf Napoleons Befehl sprengten die Franzosen 1807 die Mauerwerle
der Festung Breslau. Nachdem aber unser Volk sich ermannt und die
Franzosen nach Frankreich zurückgeschlagen hatte, schenkte König Friedrich
Wilhelin III. feinen treuen Bürgern die Wälle vor dem Wallgraben, und
die Väter der Stadt wandelten sie in freundliche Spaziergänge um, die von
— 638—
Bäumen beschattet werden. Als Holtei 14 Jahre später wieder einmal daheim
war und zum erstenmal diese neuen Promenaden am Stadtgraben be—
schritten hatte, da schrieb er in dem Gedicht „Derheeme“:
Wie hust de dich doch seit verflußnen Jahren
su ümgewendt, schermantes Brassel du! —
De Festung han se reene weggeschliffen,
und Finken feifen, wu sust Kugeln pfiffen.
Im Südosten der Stadt sprang einst der Festungswall vor und bildete
die Taschenbastei. Jetzt steht auf dieser Höhe inmitten der schönsten Park—
anlagen ein großartiger Bau, ein Werk der Gebrüder Liebich. Nach diesen
wackern Bürgern, die ihre Stadt freiwillig so herrlich geschmückt haben, wird
der Ort die Liebichshöhe genannt. Über kunstvolle Steinterrassen erhebt sich
hier ein Aussichtsturm. Von ihm aus überschaut man den Halbkreis des
Stadtgrabens mit den Promenaden, innerhalb dieses Bogens die alte Stadt
bis zur Oder hin, und außerhalb die weiten schönen Vorstädte und ihre Park—
anlagen. Ebenso ist im Nordosten der Stadt die alte Ziegelbastei in einen
Parkhügel umgewandelt worden. Inmitten der Anlagen hat man hier dem
Dichter Holtei ein Denkmal gesetzt; hat er doch aus dem Herzen und in der
Sprache der Schlesier sein liebes Gruß-Brassel, den Zutaberg, die Summer⸗
kindel u. v. a. besungen. Er ist in Breslau geboren, kehrte immer wieder
gern hierher zurück — „Suste nischt, ack heem!“ — und ist hier auch
gestorben.
Steigen wir von dem Holteiplatze hinab, so kommen wir zu dem kunst⸗
bollen Denkmale, das den tapfern Kriegern geweiht ist, die 1864, 1866,
1870 und 71 fürs Vaterland den Heldentod gestorben sind. Vergiß, mein
Kind, die treuen Toten nicht!
3. Von acht Seiten her gelangen die Schlesier mit der Eisenbahn nach
ihrem „Gruß-Brassel“. Beginnen die Vorlesungen auf der Universität,
so reisen Jünglinge aus den verschiedensten Orten Schlesiens nach Breslau,
um sich hier zu dem Berufe eines Geistlichen oder Rechtsgelehrten oder
Arztes oder eines Lehrers an höheren Schulen vorzubereiten. Zur Zeit des
großen Maschinenmarktes kommen viele unsrer Landsleute aus allen
Teilen der Provinz auf den großen Platz vor dem Königlichen Schlosse
zusammen. Das ganze Jahr hindurch aber wird in Breslau ein reger
Handel, besonders mit Getreide, Spiritus, Vieh und Wolle, betrieben.
Stündlich fahren lange 8üge mit Waren der verschiedensten Art in die großen
Bahnhöfe ein und füllen die Speicher der Stadt. In den Straßen aber
reiht sich Laden an Laden. An den schönen Erzeugnissen, die in den prächtigen
Schaufenstern liegen, kann man sich nicht satt sehen.
— 159 —
4. Wer kann es ausdenken, was alles in den Herzen der vielen tausend
Menschen sich regt, die auf den Straßen aneinander vorübereilen? Die meisten
gehen ihren Geschäften, andre ihrem Vergnügen nach. Doch ach, wie oft
trifft man in der großen, reichen Stadt auch solche, denen die Angst und
Sorge aus dem Gesichte schaut! In Kellern und Dachstuben mancher Häuser
herrscht bittere Not. Barmherzige Menschen suchen hier überall zu helfen.
Ja es sind eine Menge von Anstalten für Arme, Kranke und Ver—
lassene gegründet worden. So besteht seit fast 400 Jahren in Breslau
das städtische Krankenhospital zu Allerheiligen, seit fast 200 Jahren
das Kloster der Barmherzigen Brüder. Auch eine Taubstummen—
und eine Blinden-Anstalt besitzt die Stadt. In der evangelisch⸗lutherischen
Diakonissen-Anstalt Bethanien, die 1850 gestiftet wurde, werden tãg—⸗
lich bis 160 Kranke ohne Unterschied des Bekenntnisses unentgeltlich versorgt.
Nur Bemittelte geben eine freiwillige Vergütung. 60 bis 70 unheilbare
Kranke finden in zwei Siechenhäusern liebevolle Verpflegung. In der Universi—
täts⸗Klinik wird armen Leuten täglich eine Stunde kostenfrei ärztlicher Rat
erteilt. Viele „Schwestern“ widmen an diesen Stätten ihre Kräfte dem gesegneten
Werke christlicher Barmherzigkeit.
2. Der Besuch des jungen Preußenkönigs. 1741.
König Friedrich II. von Preußen wollte Maria Theresia, die Königin
von Ungarn und Böhmen, nötigen, ihm die schlesischen Fürstentümer heraus—
zugeben, die den brandenburgischen Hohenzollern als Erben zukamen. So
begann der erste Schlesische Krieg. Acht Tage vor Weihnachten des
Jahres 1740 überschritten die ersten Preußen die schlesische Grenze.
Es war der letzte Tag des Jahres 1740, als die ersten preußischen
Husaren bis an den Stadtgraben heransprengten. Ihr Führer rief den Schild—
wachen auf dem Walle lustig zu: „Grüß dich Gott, Kamerad!“ Am Neusahrs—
tage 1741 füllten preußische Truppen die Vorstädte Breslaus auf der linken
Oderseite. Die Bürger freuten sich über die straffen preußischen Soldaten mit
knappen Röcken und blitzenden Waffen und schickten ihnen Lebensmittel hin—
aus. Am folgenden Tage besetzten die Preußen die Dominsel. Der König
ritt über die Zugbrücke und sprach dem alten Domherrn, der ihm zitternd die
Schlüssel überreichte, freundlich Mut zu. Am 3. Januar bewilligte er in
einem Vertrage, daß die Stadt Breslau sich vorläufig neutral verhalte. Des—
selben Tages verlegte er sein Quartier aus der Schweidnitzer Vorstadt nach
der Stadt. Auf einem feurigen Schimmel ritt der jugendliche König in
blauem Samtmantel durch die Reihen der Stadtsoldaten die Schweidnitzer
Straße entlang nach der Albrechtsstraße. Trotz des Schneegestöbers erwiderte
160
der König fast immer mit entblößtem Haupte die ehrerbietigen Grüße der
Menge. Kaum ins Haus getreten, erschien der König auch schon auf dem
Balkon und zeigte sich dem Volke, das sich an dem jungen Herrscher gar
nicht satt sehen konnte. Am 5. Januar eröffnete Friedrich noch den Ball,
den er dem Breslauer Adel gab, verließ aber um 10 Uhr in aller Stille
das Fest. Ihm folgten bald seine Offiziere. Strenger Dienst stand ihnen
bevor, denn der König gedachte, das ganze Schlesierland zu erobern und zu
behaupten. Ein Breslauer Geschichtschreiber aber schrieb am 6. Januar in
sein Tagebuch: „Gott behüte Ihre Majestät und deren Armee, behüte sie vor
allem Unglück und gebe zu allen Verrichtungen Glück, Segen und Sieg.“
UNach Dr. Colmar Grünhagen. (Schlesien unter Friedrich d. Gr.)
I17. Die Kaiserjagd im Oderwaldo.
1. „Der Kaiser Lommtl“ rufen die flatternden FPahnen und
Flaggen, mit denen die Stadt Ohblau sich eilig schmüekt. Tau—-
sende strömen vom Bahnbofe berein, aus allen Teilen der Provinz.
Offiziere aller Waffen in blitzenden Uniformen, vornebhme Beamte
in goldprunkendem EFrack, glänzende Equipagen mit edlen Rossen,
dazwischen Leibjäger, Reitknechte und Hoflakaien in schimmernden
Livreen, Schutzleute zu VFub und Rob, und in unabsebbarer Menge
die Tausende, welche hberbeigeeilt sind, den Kaiser, den Kaiser zu
grüßen.
Jetzt ordnen sich die Massen; die Stunde der Ankunft des
kaiserlichen Hofzuges ist herangerückt. Noch wogt die Menge un—
geduldig vor und zurück und hin und her; da heben plötzlich die
Glocken von allen Türmen an, in feierlichen Akkorden ihren Kaiser-
gruß in die Nacht hinauszusenden: der Monarch hat seinen FPuß auf
städtisches Gebiet gesetzat. Der hehre Glockenklang ergreift das
Herz, dié summende Menge wird still. Doch bald erhebt es sich
wie fernes Meeresbrausen, näher und näher dringt es, immer ge—
waltiger schwillt es an; dazwischen rascher Hufschlag ansprengender
Reiter. Dort tauchen die schwarzen Helmbüsche der Gendarmen
auf. Der geleitende Husarenleutnant, gefolgt von Unteroffizieren,
wird sichtbar. Der Spitzenreiter erscheint, das stolze Viergespann —
und jetzt erschüttert ein tausendstimmiger Jubelruf die Luft, ein
Wald von Armen fährt in die Höhe; dort in der weihben Kürassier-
uniform diese ehrwürdige Gestalt mit den milden, ernsten Zügen, die
jedler im Herzen trägt — das ist der rubmgekrönte Kaiser Wilhelm L.,
und der blonde Recke neben ihm, mit strablendlem Auge die Menge
grübßend, des Reiches Kronprinz Priedrich Wilbhelm.
— 61 —
2. Spät erst wurde es still an diesem Dage. Am Morgen ein
neues Bild! Leibjäger und Büchsenspanner eilen von Wagen 2zu
Wagen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Vor dem Stände-
hause begrübt der Kronprinz mit ritterlicher Anmut die anlangenden
Ehrengãste. Alle sind in schmueken Jagdkleidern. Die Sonne durch-
bricht den grauen Novemberhimmel und giebt eine Elut goldenen
Lichtes über den herbstlichen Wald. Drauben am Rande des Waldes
kegt ein Ostwind die Nebel aus dem Weidengebüsch der Oder und
streicht über den Strom, daß bald der blaue Herbsthimmel sich
blitzend in seinen Vuten viderspiegelt.
3. Am Stelldichein harrt die Jägerei ihres höchsten Gebieters.
Jehon zeigt sich der glänzende Jagdzug in der PVerne; rasch führen
die feurigen Rosse die vornebmen Jüger heran. Da sebmettern fest-
liche KIänge dem erlauchten Weidmann entgegen, der stolze Fürsten-
ruf hallt durech den Wald, und in jauchzendem Echo fliegt's weiter
durehs Revier: Der König jagt! Bald sprengen die Meldereiter den
Waldrand hinab, das Jagen vird angeblasen, die Dreiber Lürmen.
Erschreckt führt Reh und Hase aus sicherm Versteck und eilt in
blinder Flucht übers raschelnde Laub dahin. Nur kurze Zeit noch
Stille, bis von dem Kaiserstande her der erste Schub gefallen, dann
knattert und rollt es aus allen Reken. Weidmannsheil!
Auf weitem Wiesenplane an der Oder hat sich das RKaiserzelt
erhoben. Die Purpurstandarte flattert im frischen Herbstwinde, und
feine, blaue Rauchwolken wälzen sich über das Gelände; hier braten
und brauen kaiserliche Köche auf schnell errichteten Peldherden ein
kräüftig Jägermahl, woran nach mehrstündiger Jagd der hohe Herr
und seine Gaste sich erquicken sollen.
Zu Fubß und Wagen ist das Volk hinausgeströmnt. Und als
der Kaiser naht, umbraust ihn wieder der Jubelruf des Volkes, dab
drüben die BDichen des Fürstenwaldes mit lautem Echo einstimmen.
Kaiserliche Leibjäüger tragen das Mahl auf, das LDrompeterkorps
der SchillHusaren läht seine muntern Weisen erklingen.
Nach kurzer Rast wvird wieder aufgebrochen, und wie ein glän-
zendes Draumbild ist bald der Jagdzug unter den Eichen des Waldes
wieder verschwunden. Noch einmal, am folgenden Dage, erwacht
das lustige Jägerleben im Walde, dann vird es wieder still, und
unter diehtem Schneegeriesel entschlummert der Pürstenwald.
Th. Artopé. (Bunte Bilder aus dem Schlesierlande. 1.)
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. U. Neubtg
118
— 162 —
118. Der Redenberg bei Königshütte.
1. In der berühmten Königshütte, von der die Stadt Königshütte
den Namen hat, wird aus Eisenerzen reines Roheisen ausgeschieden und
zum Teil verarbeitet. Treten wir in die Hütte mit ihren vielen Schloten,
fen und Hallen ein, so hören wir es zischen, fauchen, brausen, pfeifen,
stampfen und dröhnen, daß uns angst und bange wird. Es ist uns erlaubt
worden, ein Walzwerk zu beschauen, wo Eisenbahnschienen verfertigt wer—
den, und wir treten in eine weite Halle. Die Räder, Walzen und Hämmer
der Halle können von großen Dampfmaschinen in Bewegung gesetzt wer—
den. Die sind so stark, daß sie in einem Augenblicke Hunderte von Menschen
zermalmen könnten, aber sie müssen dem schwachen Menschen dienen. Der
Arbeiter drückt auf einen Hebel, und der große Hammer, der dort hinten
eben noch ruhig über dem Amboß schwebte, saust hernieder auf das glühende
Eisenstück, das andre Arbeiter aufgelegt haben. Ein Hebeldruck, und
hier vorn setzen sich Räder und Walzen in Bewegung, und wie feurige
Schlangen kommen jetzt dünn und lang gepreßte Schienen heraus und
werden von den Arbeitern mit Eisenscheren gefaßt.
Etwa hundert große Dampfkessel sind hier täglich zu heizen. Aber die
Kohlen sind hier auch viel billiger als z. B. in Breslau, Liegnitz und Görlitz;
denn neben der Königshütte befindet sich ein mächtiges Steinkohlenbergwerk,
die Königsgrube, und aus ihr können die geförderten Kohlen mit geringen
Kosten ins benachbarte Kokswerk und zur nahen Hütte gefahren werden.
Doch die Hitze in dem Walzwerke ist so groß, und das Licht des
glühenden Eisens so grell, daß wir uns sehnen, auf die grüne Höhe des
nahen Redenberges in frische, freie Luft zu kommen.
2. Wir steigen hinan und stehen nach kurzem Marsche vor einem
Denkmale. Auf einem Sockel von schlesischem Marmor steht das Erzbild
eines Mannes, der den linken Fuß auf eine Mulde voll Steinkohlen ge—
stellt hat, auf dem linken Oberschenkel eine Karte ausbreitet und mit der
rechten Hand sich auf einen Beilstock stützt. Es ist das Bild des Berg—
hauptmanns Graf Reden, den Friedrich der Große 1777 über die schlesischen
Bergwerke setzte. 27 Jahre lang hat dieser tüchtige Mann das größte
Vergnügen darin gefunden, immer neue Schichten von Kohlen und Erzen
in der Tiefe aufzusuchen, dann abbauen und die Erze in Hüttenwerken
schmelzen und reinigen zu lassen. Dabei hatte er ein Herz für seine Arbeiter
und Beamten und sorgte für sie wie ein Vater. Damals war Oberschlesien
noch ein wenig geachteter Winkel; aber Graf Reden erkannte die großen
Bodenschätze des Landes und sagte: „Einst wird diese Landschaft eine
Perle der preußischen Krone werden.“
— 163 —
Sz
2
3
3
1
2
S*
5
2*
2
Q
S
3
S—
11*
164 —
Sein Blick wendet sich nach Norden zur „Königshütte“ und zur
„Königsgrube“, die er beide gegründet hat.
Dahinter erblicken wir Ortschaft an Ortschaft und selten ein grünes
Feld, oft aber ein ödes Gefilde, wo Schlacken und eingesunkene Felder
anzeigen, daß hier die unterirdischen Schätze schon gehoben sind. Hinter
den Türmen des Wallfahrtsortes Neu-Pickar beginnen herrliche Wälder, die
sich meilenweit an der russischen Grenze bis nach Neudeck hinziehen.
Gehen wir um den kleinen Park des Redenberges herum, so können
wir frei nach Süden hin blicken. Auch hier wird der Berg von Hütten,
Gruben und Fabriken umgürtet, aber dahinter dehnt sich ein weites schönes
Hügelland mit grünen Wiesen und ungeheuern Wäldern, in denen Rehe
und Hirsche in großer Zahl gehegt werden, auch Wildschweine, ja sogar
einige Auerochsen. Von den Wäldern verdeckt liegt die Stadt Pleß, zu der
man von hier aus etwa in 5 Stunden wandern kann. Schon oft hat der
Fürst von Pleß, dem auch Fürstenstein bei Salzbrunn gehört, unsern
Kaiser zur Jagd in seine wildreichen Forsten eingeladen. In weiter Ferne
sehen wir blaue Berge emporragen; sie erheben sich jenseit der österreichi—
schen Grenze.
3. Aer auch nach Rußland hinein kann man vom Redenberge aus
schauen. Nur eine Meile vom Redenberge nach Osten hin liegt die deutsch⸗
russische Grenze. Im Südosten, dort hinter Myslowitz, stoßen sogar drei
Kaiserreiche zusammen. Unser deutsches Gebiet senkt sich von dem Höhen—
zuge, auf dem wir stehen, bis zur Weißen Przemsa. Da, wo von drüben
her die Schwarze Przemsa in die Weiße einfließt, ist die Dreikaiserecke:
diesseits deutsches, jenseits aber links von der Schwarzen Przemsa russisches
und rechts österreichisches Gebiet.
Drüben links gibt es weißgrüne russische Grenzpfähle, und an der
Grenze hin reiten russische Kosaken auf kleinen Pferden. Wer die russische
Grenze auf der nahen Brücke überschreitet, muß bei dem Zollamte mit
dem russischen Doppeladler halten. Hat er keinen Paß, so wird er zurück—
gewiesen. Für das, was zollpflichtig ist, muß er den Grenzzoll entrichten.
Drüben rechts erheben sich schwarzgelbe österreichische Grenzpfähle mit
dem österreichischen Doppeladler, und österreichische Grenzer streifen umher.
Abschnitte1:; Karl Ernst; 2,3. nach Gottfried Fuhland. GBunte Bilder aus dem Schlesierlande. 1.)
119. Oberschlesische Dörfer und ihre Häuser.
L. Umringt von dem Kranze herrlicher Wälder liegen die Auen,
Wiesen und Felder des Dorfes und mitten drin dieses selbst. So bildet
fast jedes Dorfchen sein eigenes Reich, worüber hinaus der Oberschlesier
— 165
nur wenig Verkehr treibt, selten Bekanntschaft schließt, noch seltener Ver—
wandtschaft durch Verheiratung eingeht. Vorn am Eingange des Dorfes
liegt gewöhnlich der slattliche Gutshof; dahinter winkt uns, umgeben vom
stillen Friedhofe, das Kirchlein, und nicht fern davon erschauen wir das
Pfarrhaus, die Schule und das Gasthaus. Weiter reihen sich rechts und
links die Dorfstraße entlang die Anwesen der Dorfbewohner. Bretter—
und Staketzäune bilden zwei fortlaufende Linien, überschattet von Pappeln,
Linden, Weiden, oft auch von Ebereschen. Den Zutritt zum Hofe ver—
mittelt ein breites Tor für Fuhrwerke, daneben ein schmales Türchen für
Fußgänger. Auf dem Bauernhofe fällt uns vor allem das Wohnhaus
ins Auge, welchem dicht zur Seite die Stallungen anhängen. Entfernter
davon liegen Scheuer, Schuppen und Speicher. Vorzugsweise sind es
Holz und Stroh, die als Bau- und Deckmaterial Verwendung finden,
wohl aus Gründen der Billigkeit, dann aber auch, weil diese Baustoffe
warme und gesunde Wohnungen sichern. Jedoch macht sich auch hier
schon der Fortschritt geltend, so daß Ziegelbauten mit Fachwerkbedeckung
nicht eben gar zu selten sind.
Den Eingang zum Wohnhause schließen zwei Türen. Die äußere
davon reicht nur bis zur halben Höhe der Offnung und verhindert un—
berufenen Eindringlingen aus dem Tierreiche den Eintritt, während sie
in ihrer oberen Hälfte dem Tageslichte einen freien Einfall in den sonst
völlig unbeleuchteten Flurraum gestattet. Die innere, vollständig schlie—
ßende Tür kommt nur zur Nachtzeit und bei Abwesenheit der Bewohner
zum Verschluß.
2. „Beuge dein Haupt!“ muß unser Wahlspruch lauten, wollen wir
durch den niedrigen Eingang den Eintritt ins Zimmer gewinnen, das,
ebenfalls niedrig und mit wenigen kleinen Fenstern versehen, stets in
dämmerigen Schein getaucht ist. Den meisten Raum darin nimmt der
weißgetünchte Ziegelofen mit dem Herde in Anspruch. In nächster Nähe
davon finden wir auch den Kamin, den Zeugen so manchen traulichen
Winterabends. Die Wände der Wohnstube sind weiß getüncht, die Decke
bildet zeitgeschwärztes Gebälk. Rings an den Wänden sieht man in
katholischen Häusern eine größere Anzahl Heiligenbilder, deren Kunstwert
nicht immer über allen Zweifel erhaben ist. Den oberen Raum der
Wände umrahmen Holzleisten, hinter welchen die Hausfrau ihren Teller—
vorrat zu Schau ausgestellt hat. Die Teller weisen bunte Malereien
und sinnvolle Sprüche auf. Außerdem trägt die Wandleiste unter den
Tellern, an Pflöcken hängend, eine große Anzahl bunt bemalter kleiner
Töpfchen, Gefäße, worin die Hausfrau bei festlichen Gelegenheiten ihren
Gästen den wertgeschätzten braunen Trank vorsetzt, den wir Kaffee nennen.
Die sonstige Zeit über dienen jedoch diese Töpfchen außer zu Schmuck und
Zier auch noch als beliebter Aufbewahrungsort der verschiedensten Dinge
Einige dieser Gefäße bergen die aus Kräutern und Teesorten zusammen—
— 166 —
gesetzte Hausapotheke; andre enthalten des Hausherrn Vorrat an Stiefel—
zwecken und Schuhnägeln; bestimmt aber ruht auf dem Grunde eines der
Töpfchen die kleine Hauskasse der Hausfrau.
3. Dem neugierigen Blicke von außen durch die niedrigen Fenster
wehren verschiedene Topfpflanzen: Myrte, Fuchsie, Winteraster und, nicht
zu vergessen, die Meerzwiebel, ein geschätztes Hausmittel gegen mannig—
fache Gebrechen. Die Enge der Wohnungsverhältnisse läßt freilich keine
allzu bedeutende Reichhaltigkeit im Hausrate zu. Auffallend wirken durch
ihre dicken, bis zur Zimmerdecke reichenden Bettmassen die Schlafstellen
des ehelichen Paares. Tisch, Stühle und ein niedriger Kasten für Wäsche
prangen in dunkelrotfarbenem Anstrich, verziert mit buntem Blattwerk
und Vogelzeichnungen.
4. Unserm Forscherdrange kann jene schmale Tür kein Bollwerk
bieten, und wißbegierig überschreiten wir auch die Schwelle zur Kammer,
welche vielleicht den Schlafraum für das jüngere Geschlecht, meist aber
den Aufbewahrungsort für allerlei Speisevorräte bildet. Kammer und
Wohnstube verlassend, erblicken wir im Hausflurhintergrunde, durch den
mächtigen Bau der Esse fast völlig verborgen, den Eingang zum „Aus—
zugsstübchen“, jener Stätte, wohin der Wirt, nachdem er altersgebeugt
und des Schaffens und Sorgens müde, dem Sohne das Hausregiment
übertragen hat, sich flüchtet, die letzten Lebensjahre der Ruhe zu pflegen.
5. So haben wir denn gar sorgsam Umschau gehalten in dem An—
wesen des Oberschlesiers, und was wir erblickten, wohl war es nicht
strahlender Glanz, nicht üppige Pracht, nicht eitler Schimmer, nein, ein—
fach, ärmlich traten uns die Verhältnisse entgegen, doch freundlich verklärt
vom Hauche der Ordnung und Sauberkeit.
C. Luppa. (GBunte Bilder aus dem Schlesierlande. 1.)
120. Grünberger Wein.
Heute gibt es ein fröhliches Wandern, es geht ins schlesische Wein—
land. Ihr braucht weder Ruckhsack noch Bergstock, denn die Grünberger
Weinhügel sind keine Riesenberge. Wir durchschreiten die aufblühende
Stadt. Freundliche Obst und Grasgärten umhegen viele der älteren
Häuser. Hier und da fällt uns ein mit einem Hufeisen beschwerter Stroh—
kranz auf, der an langer Stange über der Straße hängt. Hier wird „Wein
geschenkt“. Jeder Besitzer eines Weinberges hat nämlich seit alters her
das Recht, den selbstgekelterten Wein drei Monate lang steuerfrei auszu—
schenken. Bald gelangen wir hinaus in den Kranz der Weinberge, in
den Grünberg freundlich eingebettet ist. Schimmernd liegt die warme Juni⸗
sonne über der Flur. In sanfter Steigung erheben sich vor uns die
Weingärten, die durch sauber gerechte Raine voneinander getrennt sind.
Die Stöcke stehen in Reihen immer in Abständen von einem halben Meter.
— 167 —
Neben jedem Stocke steckt ein etwa mannshoher Pfahl. Dort sehen wir
eine Schar Leute mit flnken Fingern die grünen Reben an die Pfähle
heften. Wir begrüßen den hagern, von der Sonne gebräunten Winzer.
In seiner von der schlesischen ftark abweichenden Mundart erzählt er uns, daß
er „die Gärte“ derjenigen Besitzer „macht“, die die zur Pflege des Gartens
notwendigen Arbeiten nicht selbst ausführen. Er zeigt uns die schon an
den Reben und Blättern kenntlichen Weinsorten: Gelb— und Blauschön⸗
edel, Traminer (aus Tirol eingeführt), Sylvaner genannt Scherwanel,
und Böhmischer. Die heiße Augustsonne soll den Wein „kochen“, wie der
Winzer sagt. Im September kommen schon die ersten Trauben, „Aus⸗
schneidetrauben“, auf den Markt und zur Versendung. Nach allen Himmels—
richtungen flegen dann die kleinen Fünfkilo-Kistchen, gefüllt mit Trauben
des köstlichen Gelbschönedels, der sich zur Versendung am besten eignet.
Und dann läutet eines Morgens Glockenklang die Lese ein. Das Rumpeln
der großen Gefäße, die auf Schrotwagen in die Berge gefahren werden,
klingi heiter in den Sang der Glocken. Draußen ist alt und jung be—
schäftigl die Trauben abzuschneiden. Macht der Oktoberhimmel ein freund⸗
liches Gesicht, so ist die Lese eine Lust. Böllerschüsse krachen, fröhlicher
Gasang ennt. Hier steigt zischend ein Schwärmer in die Luft, dort
hüpft ein feuriges „Fröschel umher. Am Abend erglühen die Gipfel
der grünen Hügel im Lichte der Freudenfeuer, wie anderswo in der
Johannisnachl. Unser Winzer weiß freilich auch von traurigen Zeiten,
wo ein einziger Maifrost die jungen Triebe getötet und die Hoffnung
auf einen guten Jahrgang zerstört hat.
Nun nehmen wir Abschied und wandern weiter auf grünen Rasen⸗
rainen an sonnigen Lehnen entlang. Vom höchsten Punkte, der Grünbergs⸗
höhe, halten wir Umschau. Wir überblicken hier fast das ganze Wein—
gelände von Grünberg und den umliegenden Dörfern, eine Fläche von
1300 ha, d. i. etwa der zehnte Teil des am Rhein im Ertrage stehen⸗
den Weinlandes. Die weile braune Heide umfaßt rings das grüne Ge⸗
lände. Durch die Heide, von Glogau her, zogen vor mehr als 750 Jahren
die ersten deutschen Einwanderer heran. Es waren Franken und Flam—
länder, die ihre Wohnsitze am Rhein verlassen hatten, wo schon zu jener
Zeit Wollenweberei und Weinbau getrieben wurden. In dem armen
Wendendorfe dort unten haben sie ihre Hütten aufgeschlagen, Weinreben
gepflanzt und Wolle gewebt. Und von Rorden her, aus der Mark, zog
Ende 1740 mit seiner Armee Friedrich der Große heran und betrat hier
zuerst schlesisches Gebiet. Er ordnete an, daß Weinbau und Wollenweberei
kräftig gefördert würden. Was der Alte Fritz begonnen, hat in späterer
Zeit die preußische Regierung fortgesetzt. Sie sandte im ersten Viertel
des neunzehnten Jahrhunderts Winzer an den Rhein und an die Mosel,
damit sie Weinbau und Weinpflege besser kennen lernten. Heute zeigt
168
die Regierung ihre Fürsorge in der Anlage von staatlichen Musterwein⸗
gärten. Aus dem armen Wendendorfe ist eine blühende Stadt geworden.
Dort gärt und edelt sich der Wein, dort wird in zahlreichen Fabriken
Kognak und Champagner bereitet. Der alte Webstuhl, der sonst in jedem
Hause klapperte, ist freilich verschhwunden. Zu uns herauf dringt aber aus
großen Fabriken das Stampfen der Maschinen und das Surren der Räder
und belehrt uns, daß hier eine blühende Tuchindustrie heimisch ist.
Auch der Obstbau blüht hier. Jeder Schüler, der Gelegenheit hat,
einen Baum zu pflanzen und zu pflegen, erhält bei seiner Konfirmation
ein von ihm selbst gewähltes, veredeltes Bäumchen zum Geschenk. Kein
Wunder daher, daß fast kein Raum ohne Baum ist, und daß zur Zeit
der Baumblüte unser grünes schlesisches Weinland im weißen Blüten⸗
schnee versteckt liegt. E. Schoxsch. (Originalartikel.)
121. In der Niederschlesischen Heide.
Und stehn auch nur Kiefern auf gelbem Sand,
kein Land ist so schön wie das Heimatland.
(Max Qeinzel.)
. An Sonntagnachmittagen durchstreiften wir Knaben als Räuber
und Soldaten, als Jäger und Hasen den Wald viele Stunden lang
bis in den späten Abend hinein. Oft mußten wir dann angestrengt auf
den Mooswuchs an den Bäumen achten, auf den hellen Himmel, auf
das ferne, uns wohlbekannte Gebell der Hunde, um zur Mutter zurück⸗
zufinden, die sich schon ängstigte.
Hatte man aber als Jäger oder als grimmig verfolgter Räuber
in den Abendstunden sich allein zu weit gewagt, dann redete die
nächtliche Heide ihre eigene Sprache. Der Nachtwind setzte schärfer
ein, raunend strich er an die scharfen Ranten der Riefernadeln, und
das geängstete Herz pochte den Takt dazu. Ein Windstoß trieb greise
Nadelbäume einander in die Arme, obgleich sie dazu knurrten und
murrten. Ein Räuzchen schrillte auf. Der Fuß, der bisher lautlos
über das Moos dahingeschritten war, zertrat einen dürren Riefernast
und fuhr erschreckt zurück. Ein Nadelbusch strich wie eine kalte, scharf—
gekrallte Hand durchs Gesicht. Trat man endlich aus dem Walde
heraus auf einen einsamen Feldweg, dann hüpften Irrlichter über die
fernen Wiesen, und die Juchhandelbüsche! verwandelten sich in Ge—
spenster der Nacht. O wie wohl war einem dann, wenn man endlich
die Lichter des Dorfes aufblinken sahl
1Wacholder.
— 169 —
Mein Heimatsdörflein zählt kaum 30 Häuser. Sie stehen meist am
Bache und haben auch ihr Wasser von ihm. Der Lauf des Baches
ist deshalb von zahlreichen winzigen Wehren unterbrochen, die man
„Schöppen“ nennt. In abgelegenen Seitengassen helfen sich die Be—
wohner mit einem Ziehbrunnen. Viele Häuser sind noch jetzt aus
Lehm und Fachwerk erbaut und mit Stroh gedeckt. Naht der Winter,
so werden die Fensterritzen mit Moos verstopft; der Vater baut aus
Caub und Streu eine schützende Setzwand bis hoch unter das Dach.
An die Fenster werden die Strohladen gebunden, die man am Abend
von innen hochzieht.
In der Wohnstube steht der große Rachelofen mit der Platte und
dem blanken Ofentopfe. Auf der Platte werden für die kleinen Lecker⸗
mäuler üpfel gebraten und Schnitten „gebäht“. Um den Ofen zieht
sich die Ofenbank bis zur „Hölle“. Wer kennt nicht die Hölle, jenen
Raum hinter dem Ofen vor dem Feuerloche, wo Brennholz aufge—
stapelt liegt? Wenn die Heide im Schnee liegt, wenn der Wintersturm
Weg und Steg verweht und an den Fensterläden rüttelt, da ist die
Hölle ein gar trauter Ort. Wer dann dem Feuer lauscht und es durch
dürres Reisig immer aufs neue entfacht, dem singt die knisternde,
zischende, prasselnde Glut ein wunderbares Lied vom Leben und Sterben
in der einsamen Heide. E. Schorsch. (Bunte Bilder aus dem Schlesierlande. II.)
2. Im nördlichen Teile der Lausitzer Heide hat Fürst Pückler mit
Runst und Fleiß nach den Befreiungskriegen den herrlichen Park von
Muskau geschaffen. Im südlichen Teile ist 1884 aus dem Ertrage
einer Sammlung das Rittergut Wunscha angekauft und in eine
ländliche Arbeiterkolonie umgebildet worden. Ein Hausvater und
zwei Gehilfen leiten die segensreiche Anstalt. Wer sonst als Tagedieb
und Bettler umherstreifte, darf hier eintreten und kann wieder an nütz—
liche und geordnete Tätigkeit gewöhnt werden. Die Rolonisten dürfen
keinen Branntwein trinken; das Rauchen hingegen ist ihnen gestattet.
Von 6 bis 12 und von U/ bis 7 Uhr müssen sie auf dem Felde, in der
Hopfenanlage, in der Weidenkultur oder im Garten arbeiten. Einige
Rolonisten bepflanzen kahle Stellen mit Riefern, damit der Boden
nicht noch weiler versande; andre heben Ranäle aus, um das Wasser
aus dem Schöpsflusse auf die Felder zu leiten. Bei dem Austritt aus
der Anstalt erhalten sie den überschüssigen Arbeitslohn. Auch sucht
man den abgehenden Leuten Arbeit zu verschaffen, damit sie sich nicht
aufs neue dem Müßiggange und der Bettelei ergeben.
Nach Dr. Franz Schroller. (Schlesien.)
— 170 —
122. Liegnitz.
1. Nach Osten eilt der Bahnzug brausend durch die Gefilde der nieder—
schlesischen Ebene. Zur Linken tauchen in unmittelbarer Nähe die Wasser—
spiegel mehrerer kleiner Seen auf; die erntegelben Getreidefelder treten
zurück, und ein bläulicher Hauch schwebt über dem Gemüselande. Im
weiten Umkreise flimmern die roten Ziegeldächer blühender Dörfer. Am
Horizont erscheinen die Waldstreifen der nahen Heide und die Schwester—
türme von Wahlstatt. Von Nordwesten zieht durch weite Wiesenflächen
das träge Schwarzwasser, von Süden her eilt ihm aus dem Berglande
die Katzbach hurtig entgegen. Hier liegt Liegnitz.
2. Die Bahnhofshalle verlassend, wenden wir uns jener Gegend zu,
aus welcher zwei alte mächtige Türme gar trutziglich herüberblicken, und
gelangen zum alten Schlosse der Piasten.
Im Jdahre 1163 hatte Boleslaus der Lange bei der Teilung Schle—
siens die Landschaften von Liegnitz, Glogau, Breslau und Oppeln er—
halten. Sogleich begann er in Liegnitz ein Schloß zu bauen und stark
zu befestigen. Dann zog er hier ein, und auch seine Nachfolger, die
tapfern, edlen und frommen Herzöge Heinrich J. und II. nahmen dauernd
hier ihren Wohnsitz.
Eine glückliche Zeit zog herauf, glücklich für Liegnitz, glücklich für
ganz Schlesien. Die Herzöge waren deutsch wie ihre Erziehung. Deutsch
waren ihre Waffen und ihr Hofstaat, deutsch war ihr Fühlen und Tun.
Und so ward das Liegnitzer Piastenschloß der Ausgangspunkt und Hort
deutscher Sitte und deutschen Rechts, deutscher Kunst und Wissenschaft
durch Jahrhunderte.
3. Da durcheilte 1241 eine Schreckensbotschaft die Lande. Ein Schwarm
Mongolen war von Rußland und Polen her in Schlesien eingebrochen.
Diese gelben, häßlichen Krieger aus Asien waren so wild, daß sie weder
alt noch jung schonten. Bei Oppeln setzten sie über die Oder. Da sie
Breslau nicht erobern konnten, zogen sie vor Liegnitz, verbrannten die
Holzhütten der Stadt und legten sich vor die Burg. Herzog Heinrich
der Fromme hatte nur einige tausend Krieger; denn nur die nahen
Ritter, Bürger, Bauern und Bergleute hatten ihm noch schnell Hilfe
bringen können. Aber voll Mut und Gottvertrauen brach er mit seinem
Kriegshaufen aus Liegnitz heraus und bahnte sich einen Ausweg. Die
zahlreichen Feinde zogen wie Wölfe hinter ihm her, und 9 km südöstlich
von Liegnitz auf der Hochfläche von Wahlstatt ward am 9. April eine
— 171 —
blutige Schlacht geschlagen. Wie der Sturmwind brausten auf ihren
kleinen Pferden die grauenhaften Reiter mit ihren krummen Schwertern
über das Feld. Ihre spitzen Pfeile flogen wie ein Hagelwetter gegen
das Christenheer. Mitten im Kampfe wurden die christlichen Streiter so
von Grauen und Entsetzen gefaßt, daß sie vor den Mongolen flohen wie
vor bosen Gastern.a Ver itterliche Herzog hielt bis zuletzt stand; end⸗
lich fand er im verzweifelten Kampfe gegen die Übermacht der Heiden
den Heldentod. Nicht umsonst, denn er hatte hier im Osten des Deutschen
Reiches die wilden Scharen so zurückgeschreckt, daß ihnen der Mut
verging, weiter gegen die Deutschen vorzudringen. Sie zogen über Jauer,
Striegau, Schweidnitz, Nimptsch und Kloster Heinrichau zurück, alles
Die Peter-Paulkirche in Liegnitz von der Sudseite.
172
verwüstend. Aber auf den Trümmern der verwüsteten Ortschaften erbauten
neue deutsche Ansiedler neue Dörfer und Städte.
4. Noch einmal blühte das Fürstengeschlecht auf durch Herzog
Friedrich II. Er war einer der ersten Fürsten, die sich der evange—
lischen Lehre anschlossen. Schon 1522 wurde in der Niederkirche die
erste evangelische Predigt gehalten. Die alte Oberkirche ist in der jüngsten
Zeit zu einem herrlichen evangelischen Gotteshause umgestaltet worden,
wie es unser Bild zeigt. Auf dem alten, nördlichen Turme steht über
dem Geländergange ein achteckiger Aufbau. Hier wohnt der Turmwächter.
Die schlanke Spitze ist zweimal durchbrochen. Erst vor wenigen Jahren
wurde der südliche Turm mit spitz aufstrebendem Helme errichtet. Wenn
die Sonne durch die Fenster, die mit herrlichen Glasmalereien geschmückt
sind, das Gotteshaus mit gedämpftem Lichte erfüllt, dann muß sich
Herz und Auge in Andacht zu dem hinaufwenden, dem diese Stätte
geweiht ist.
5. Derselbe Herzog Friedrich IL setzte 1337 die brandenburgischen
Hohenzollern zu Erben der Liegnitzer Herzöge ein und begründete
dadurch die Herrschaft der Hohenzollern, unter der das neue Liegnitz
aufgeblüht ist. In der Mitte des Friedrichsplatzes steht das Erzbild des
ersten unsrer Zollernkönige, Friedrichs des Großen, am Ansange der
Königsallee das Reiterstandbild unsers ersten Zollernkaisers, Wilhelms des
Großen. Nahe dabei erhebt sich aus düsterm Nadelgehölz und lachenden
Blumenrabatten das seinen Kriegern geweihte Denkmal. Es stellt
einen sterbenden Löwen vor. In stolzer Wehmut hemmen wir unsre
Schritte. Wir sehen sie stürmen, die tapfern Königsgrenadiere an ihrem
Ehrentage von Weißenburg, dort hinauf den steilen Geisberg in den Tod
und Sieg. Und ihnen voran den heldenmütigen Major von Kaisen—
berg, in der Linken die blutüberströmte Fahne seines Füsilierbataillons.
Und wir sehen auch, wie dort im Abendsonnenscheine des ruhmreichen
Tages Deutschlands unvergeßlicher Kronprinz den Helden dankbar in seine
Arme schließt und küßt. — Doch horch, da tönt Militärmusik. Dort kommt
es selbst, das stolze Regiment. Es kommt vom Hag, dem kleinen Exerzier—
platze, und räumt den Platz der Jugend, die sich nun auf dem freigewor—
denen Wiesenplane tummeln will.
Liegnitz hat schon lange aufgehört, Residenz zu sein. Nur von Zeit zu
Zeit hält hier ein deutscher Kaiser kurze Rast, und dann flammt es in den
Häusern und Herzen auf von freudiger Begeisterung für den „Herzog von
Schlesien und Herrn von Liegnitz“, unsern allergnädigsten Kaiser und König.
G. Wende. GBunte Bilder a. d. Schlesierlande. 1) Abschn. s nach Dr. Colmar Grünhagen. (Gesch. Schlesiens.)
— 173 —
123. Görlitz.
1. Görlitz fiel erst 1815 mit einem Teile der Oberlausitz an Preußen.
Als die Stadt zweiunddreißig Jahre später durch eine Eisenbahn mit Dresden,
dann auch mit Breslau und Berlin verbunden wurde, entstanden vor
der Stadtmauer und ihren Türmen nach dem Bahnhofe zu neue Stadt—
teile mit breiten Straßen, schönen Häusern und prächtigen Plätzen. Handel
und Gewerbe entwickelten sich mächtig, vor allem die Tuchfabrikation, der
Maschinenbau und die Erzeugung von chemischen Stoffen. So wurde Görlitz,
die Hauptstadt der preußischen Oberlausitz, eine Großstadt.
Der Ueiße-Vtadukt.
2. Gehen wir vom Bahnhofe nach Osten hinauf zum Hochrande des
Neißetales vor dem Blockhause, so öffnet sich eine entzückende Aussicht weit
hinüber in die Landschaft und hinab ins Neißetal. Der Fluß ist von Gon—
deln belebt, und seine Ufer prangen im Schmucke der schönsten Anlagen. Es
überspannen ihn und sein Tal dreißig aus Granitquadern gewölbte Bogen
eines Viaduktes, auf dem die Eisenbahn 830 m weit das Tal überschreitet,
36 m über dem Wasserspiegel.
Im Jahre 1866 war zu befürchten, daß die Osterreicher im Neißetale
aus Böhmen vorbrächen. Dann hätte hier vielleicht der Kampf getobt.
— 7 —
Aus den Schießscharten des Blockhauses, das die wichtige Verkehrsstraße decken
soll, hätte es geblitzt, und sausende Granaten des Feindes hätten den schönen
Ort verwüstet. Doch Prinz Friedrich Karl mit der J. Armee kam den Fein—
den zuvor und drang durch die Gebirgspässe nach Böhmen bis zur Iser,
wo ein starkes österreichisches Heer sich sammelte. Er führte seine Truppen
von Sieg zu Sieg und immer weiter bis vor Wien. So kam es, daß die
Lausitz damals vor Kriegsnot bewahrt blieb. Darum wurde fünfundzwanzig
Jahre nach dem Kriege mitten auf dem Platze vor dem Blockhause ein Erz—
bild des kühnen Heerführers errichtet. Auf einem vier Meter hohen Sockel
von schlesischem Granit steht der Held in der Uniform seiner Husaren und
zeigt mit der erhobenen Rechten nach Böhmen hin, als wollte er den preußi—
schen Kriegern, die bei Görlitz zum Vormarsche bereit standen, zurufen: „Ich
wag's, Gott walt's!“
3. Doch wir wandern weiter auf schattigen Promenaden, die dem Laufe
der Neiße folgen, und so erreichen wir den Geburtsort der Stadt.
Wo die alte Handelsstraße aus Sachsen nach Polen über die Neiße führt, lag
vor tausend Jahren ein Wendendorf. Dort entstand im dreizehnten Jahr—
hundert die deutsche Stadt Görlitz. Auf einem Felsen an der Neiße, wo die
Wenden einst den Göttern geopfert hatten, wurde von den Bürgern die Peters—
kirche erbaut. Weithin leuchten wie ein Wahrzeichen die neuen, weißen Stein⸗
türme des alten Gotteshauses. Wer es betritt, staunt vor allem über die schlanken
Pfeiler, die das hohe Gewölbe tragen wie die schlanken Stämme der Görlitzer
Heide das Geäst ihrer Kronen.
Auf dem Wege durch die untere alte Stadt kommen wir bald zum
Untermarkte mit seinem altersgrauen Steinbrunnen. Gelockt von kühlem Schatten,
schreiten wir auf der Ostseite unter mächtigen Laubengewölben der Häuser weiter.
Überrascht bleiben wir stehen. Uns gegenüber erblicken wir ein berühmtes
Meisterwerk alter Kunst. Es ist die Steintreppe, die zum Hauptportale des
alten Rathauses hinaufführt und sich oben links zu einer prächtigen Kanzel
erweitert. Ein Bild aus alten Zeiten kommt uns in den Sinn. Wir sehen dort
oben den Stadtschreiber und hören ihn die Befehle des hochwohlweisen Rates der
Stadt den ehrsamen Bürgern verlesen, die sich hier unten versammelt haben.
Weiter hinauf öffnet sich der Obermarkt. In der Mitte dieses großen
Marktplatzes erhebt sich das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. das Meister—
werk eines Schlesierss. Mit Rührung schauen wir die edlen Züge des großen
Helden, dem die getreue und dankbare Oberlausitz dies Kunstwerk geweiht hat.
4. Nahe bei dem obern Ausgange des Obermarktes steht der edelgeformte
Reichenbacher Tor-Turm und ihm gegenüber der massige Kaisertrutz. Hier ist
die Grenze der alten Stadtfeste. Bei dieser Stätte ruhmreicher Verteidigung
in alter Zeit ist den tapfern Kriegern des ersten Sollernkaisers ein Denkmal
— 175 —
geseht worden. Wie schlicht es aussieht! Eine Steinbank, eine Rückwand
mit Steinbildern und eine halbzerschossene Kanone. Je länger wir aber die
Bilder schauen, desto lebendiger erscheinen uns die treuen Krieger, die dort von
Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Weib und Kind Abschied nehmen,
vielleicht für immer. Es geht ja in den blutigen Kampf gegen die Franzosen.
Wir lassen Pflug und Hammer,
wir lassen Buch und Kammer;
in Arbeit und in Wehr
mit Gott und unserm Kaiser:
Ein Haus, ein Volk, ein Heer!
Und wie sie draußen im fremden Lande gekämpft haben, das lehrt hier täglich
diese französische Kanone. Laß dir's erzählen, wie sie hierher gekommen ist!
Der große Krieg zwischen den Deutschen und Franzosen hatte begonnen.
Am Morgen des 4. August 1870 überschritt der preußische Kronprinz Fried⸗
rich Wilhelm mit Reiterei, Fußvolk und Geschütz die französische Grenze bei
Weißenburg im Elsaß. Bayrische Jäger begannen den Kampf gegen die
Franzosen, und schon nach 1 Uhr war die Stadt Weißenburg von Bahern
und Preußen erobert und besetzt. Nun begann der Sturm auf den Geisberg
hinter der Stadt. Eine französische Batterie rechts auf der Höhe zog ab, als
die 5. Jäger, die Görlitzer, hier vordrangen. Ein Geschütz aber mußte
noch stehenbleiben, denn seine Bespannung war niedergeschossen. Die Jäger
der ersten Kompagnie gingen gegen das Geschütz vor, doch französisches Fußvolk
verteidigte es. Schnellfeuer herüber und hinüber. Unterdes waren von den
Frauzosen neue Pferde herbeigeschafft worden, um das Geschütz zu retten. Da
rief Feldwebel Meyer auf dem vorgeschobenen rechten Flügel: „Das müssen
wir haben!“ und ging mit seinen Leuten im Sprunge vor. Fast atemlos
kamen die Braben in eine neue Stellung. „Feuer!“ Schnell sind mehrere
der neuen Pferde und Artilleristen niedergeschossen. „Seitengewehr pflanzt auf!“
Im Nu sitzen die Hirschfänger auf den Büchsen. „Auf! marsch marsch!
Hurra!“ Todesmutig stürmt die kleine Schar vor. In wenigen Augenblicken
ist das Geschütz erobert. Doch schon rückt französische Infanterie gegen das
Häuflein vor, um die Kanone wiederzugewinnen. Schnell werfen sich die
Jäger nieder und geben Schnellfeuer. Werden sie der übermacht erliegen?
Nein; die ganze Kompagnie kommt ihnen zu Hilfe, und die Rothosen werden
zurückgeworfen. So war das erste französische Geschütz in der Schlacht
durch blutigen Kampf dem Feinde entrissen. Ganz Deutschland jubelte den
tapfern Jägern zu. Der König aber schenkte die Kanone der Stadt Görlitz.
Nun sehen wir mit ganz andern Blicken auf das alte Geschütz. Es ist uns,
als stehe es noch auf der Höhe, und unsre Brüder stürmen hinan durch den Hagel
der Geschosse und unter dem Lärm der Schlacht — jetzt sind sie oben — Hurra!
— 176 —
So todesmutig sind deutsche Krieger, und so werden sie allezeit sein,
getreu dem Könige und dem Vaterlande!
5. Etwa vier Kilometer südwestlich von Görlitz erhebt sich die majestätische
Landeskrone. Wie kommt dieser Berg mitten in die Ebene? Wenn die Ei—
schale an einer Stelle gebrochen ist, so quillt beim Kochen durch den Spalt
Eiweiß aus dem Inneren hervor und erstarrt zu einem Häufchen. In ähn—
licher Weise ist dieser Berg entstanden. Als nämlich vor vielen, vielen tausend
Jahren die mächtige Granitschale der Lausitz hier zerbrach, quoll durch die
Hffnung aus der Tiefe der Erde eine ungeheure feuerflüssige Masse hervor und
erstarrte zu dem großen Basaltkegel. 217 Meter ragt er über seinen Granit—
fuß empor, und wenn man den Berg aufmerksam besteigt, kann man den körnigen
grauen Granit von dem schlackenartigen blauen Basalt leicht unterscheiden.
Die Oberlausthzer Ruhmeshalle.
Im fünfzehnten Jahrhundert hausten trotige Raubritter auf der Höhe.
Die nahmen den Görlitzer Handelsherren auf der nahen Handelsstraße manchen
Wagen weg mit kostbaren Tuchballen, Gold- und Silberwaren. Ja manchen
Kaufmann griffen sie und setzten ihn so lange gefangen, bis die Seinen schweres
Geld zahlten. Da zogen die Bürger mit Schwert und Geschoß aus, die Burg
zu brechen. Jehtzt ist der Berg für die Stadt, der er gehört, eine Erholungs—
stätte. Eine elektrische Bahn verkürzt den Weg bis zu seinem Fuße. Alt
——S 7 7—
und jung freut sich darauf, nach der Arbeit in Werkstatt, Amtsstube, Kaufhalle
und Schule auf die Landeskrone zu steigen und dort die frische kräftige Luft
zu atmen. Der Blick, der unten auf der Straße so enge war, wird hier weit,
und weit um den Wanderer her breitet sich hier Gottes schöne Welt. Das
Auge reicht bis zur Schneekoppe und zur Tafelfichte; links von dem Hoch⸗
walle des Riesen und Isergebirges erblickt man die freundlichen Berge des
Katzbachgebirges und rechts die des Lausttzer Gebirges. Im Norden schließt
der Waldstreifen der Heide den Gesichtskreis. Innerhalb dieses Ringes dehnt
sich die Oberlausitzer Ebene aus, übersät mit Dörfern, Städten, anmutigen
Gebüschen und Feldern; in der Nähe aber fesselt den Blick vor allem die
schöne Hauptstadt des gesegneten Landes. Vom hohen Neißeufer schimmert
das gewaltige Bauwerk der Oberlausitzer Ruhmeshalle herüber, von unserm
ritterlichen Kaiser selbst geweiht zu einem Ehrenmal für die großen Begründer
des Deutschen Reiches und zu einem würdigen Heim vaterländischer Kunst.
Und wenn der Tag sinkt, da der große Kanzler des neuen Reiches geboren
wurde, dann flammt es auf von dem Bismarckturme, den dankbare Männer
hier auf der Landeskrone errichtet haben, und der Flammenschein trägt den
stolzen Namen hinaus in die Landschaft; unten aber auf dem Obermarkte im
Herzen der getreuen Stadt steht er selbst an der Seite seines ruhmreichen
Kaisers als Urbild deutscher Kraft und Treue. arl Exust. Originalartikel.)
124. Die Bewohner des Riesengebirges.
1. Die Bewohner des Gebirges sind ein allzeit fröhliches, dabei
arbeitsames und genügsames Völkchen. RKlein, doch stümmig gebaut,
sind sie durch das Klima abgehärtet und durch die mancherlei Ge-
fahren, die ihnen bei der Beschäftigung im Walde und auf dem Ge-
birge durch die Schneestürme im Winter und die Hochwasser im
Jommer drohen, ebenso vagemutig wie fromm und gottvertrauend.
dauberkeit und Ordnungssinn sind weitere Eigenschaften, die den
Besucher des Gebirges vohlgefällig anmuten und auch in den Wohn-
stütten ihren Ausdruck finden.
In den Talern sind die älteren Häuser entweder aus Fachwerk
erbaut oder nach Art der Blockhütten aus Baumstämmen gezimmert.
In neuerer Zeit sind infolge der, vielen Brettmühlen und Holzstost-
fabriken die Holzpreise so gestiegen, daß der reine Holebau immer
mehr schwindet, so dab die Zahl der aus Steinen und Ziegeln
aufgeführten Häuser immer gröher vird.
2. Die Ansiedlungen auf den höchsten, valdfreien Deilen des
Gebirges sind die Bauden. Sie sind teils Winter-, teils Sommer-
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. I. Neubtg.
122
E
— 178—
bauden; die letzteren sind nur im Sommer bewohnt und dienen be—
sonders zur Aufnahme des Viehes bei ungünstigem Wetter. Die
Bauden sind durchweg Blockhütten, die auf einem steinernen Unter-
bau ruhen und sich vielkach an den Hang eines Berges oder an
einen der vielen Pelsblöcke anlebhnen. Der Wohnraum, meist nur
ein einziger, ist niedrig und in der Regel sebr heib, da auch der
grobe Kachelofen darin steht. Den andern Deil des Hauses nehmen
die Viehstülle ein. In einem kleinen Anbau werden die Milehgeräte
aufbewahrt. Das frische Bergwasser rieselt unaufhörlich hindurch
und erhält die Luft rein und die Gefäbe spiegelblank.
Die Bauden an der groben Heerstraße haben heute zumeist ihr
ehemaliges Gesicht verloren und sind mehr oder minder zu prächtigen
Gasthäusern umgewandelt worden.
3. Im Tale und an den Abhängen hinauf blüht neben der Vieh—
zueht der Ackerbau. Die Acker schlieben sich in den Gebirgsdörfern,
welche zumeist in zwei Reibhen am Gebirgsbache entlang Legen, in
der Regel dem Geböfte an und zieben an den Abhängen des Dales
hänauf. Was wegen der Steilheit der Lebhne nicht mit dem Pfluge
bearbeitet werden kann, das mub die Hacke unde die Schaufel lockern;
wohin der Erntewagen nicht gelangen kann, da wird die Frucht auf
dem Rücken herabgeholt. Wenn auch vwiederholt Nachtfröste die
Hoffnung des Landmanns vernichten, oder Gewittergüsse den frucht-
baren Boden von der Lebne hinwegschwemmen, so gebt der Gebirgs-
bauer doch immer vieder mit Fleiß und Ausdauer an die Bearbeitung
der Scholle. Meist wird seine Sorgfalt im Anbau des Landes reichlich
belobnt. In den Lälern sprobt eine Halmfrucht so fruchtvyerbeibßend,
wie wir sie in den besten Strichen der Ebene finden. Am Hoch—
stamme und am Spalier bringen die Obstbäume die Frucht zur Reife,
ja der Nubbaum steigt noch bis zu den oberen Häusern von Agneten-
dorf und Saalberg empor.
Die zahlreichen Wasserkräfte haben die Gebirgsbewohner für
ihre Holzstoff-, Papier- und Spielwarenfabriken, für ihre Spinnereien,
Webereien und Bleichereien in Dienst genommen. Die Stadt Hirsch-
berg in der Ebene am Vube des Gebirges treibt einen schwunghaften
Handel mit Maschinen, Leinwand und Holz, vährend Schmiedeberg
kostbhare Spitzen und farbenprächtige DTeppiche erzeugt.
Eine bedeutsame Einnahmequelle der Gebirgsbewohner ist der
Premdenverkehr. Auber den vielen Reisenden, welche die Herrlich—
keit des Gebirges schauen und genieben wollen, halten in den an
den Abbängen und in den Tälern binaufziebenden Ortschaften
179
e Agnetendorf, Hain, Giersdorf, geidorf, Krummhbübel,
rckenbers) oder in Bad Warmbrunn zahlreiche Erholungsuchende
auf Lürzere oder längere Zeit Einkebr.
Nach Fr. Wulle. (Die Provinz Schlesien.)
125. Aus dem Riesengebirge.
1. Sage vom Rynast.
Einst lebte auf der Burg Kynast ein wunderschönes Rittersrãulein.
Seit dem Tode ihres Vaters war die Jagd im dichten Walde ihre
einzige Freude. Viele stolze Ritter warben um ihre Hand. Aber sie
wies einen wie den andern zurück. Damit es kein Freier mehr wage,
um sie zu werben, schwur sie: „Der nur wird mein Gemahl, der auf
der ãuheren Ringmauer rund um die Burg geritten ist Diese Mauer
erhebt sich nun zwar nach Süden hin am Rande einer schauerlichen
Tiese, die Hölle genannt, doch ein Ritter nach dem andern wagte den
gesfahrlichen Ritt, um die Hand des Ritterfräuleins zu gewinnen. Ver-
gebens! Den einen erfabte der Schwindel, bei einem zweiten scheute
das Rosh, unter den andern lösten sich Steine am Rande der Mauer: alle,
alle stürgten hinab und wurden in dem selsigen Abgrunde zerschmettert.
Da bam cinet ein herrlicher Ritter in den Burghof. Kunigunde
gewann ihn bald sehr lieb und hätte ihn gern von dem Bitte zurück-
gehalten. Aber er sprengte entschlossen die Mauer hinan, ließ dort
öben seinem edlen Rosse freien Lauf, und sicher trug es ihn Schritt
für Schritt an dem entsetzlichen Abgrunde hin bis zum Ende. „Heil,
Heill riefen die Burgleute. Da merkte die junge Burgherrin, dah
der Ritt glücklich vollendet sei; sie atmete auf und eilte dem Ritter
froh entgegen. Doch sieh — er steigt nicht ab, sein ernster Blick
ruht streng auf ihr, und dann spricht er diese Worte: „Ich begehre
deiner Hand nicht; ich bin der Landgraf von Thüringen und habe
daheim ein liebes Weib und herzige Kinder. Aber es ist hohe Zeit,
daß dein frevelhastes Spiel mit dem Leben wackrer Ritter ende.
Nur deshalb bin ich weither geritten und habe deinen Schwur gelõst.“
Erstarrt und bleich vor Schreck sah das Edelfräulein, wie der hoch-
sinnige Fürst sich zum Abschiede ritterlich neigte. Wie er aber zum
Tore hinaussprengte, brach sie zusammen; und wie sie wieder zur Be-
sinnung kam, schwang sie sich auf die Mauer und stürzte sich aus heller
Verzweiflung in die finsstere Tiefe hinab.
Volkssage, erzühlt von Karl Exnst.
12*
— 180 —
2. Eine Rörnerschlittenfahrt.
Wenn im Minter tiefer, hartgefrorener Schnee Steine und Knie-
holzbüsche bedeckt, kann man von manchen Stellen des Kammes
aus den ganzen Abhang des Hochgebirges zu Schlitten hinabsausen.
Wir begeben uns zur Prinz-Heinrich-Baude. Jeder von uns be-
steigt einen Hörnerschlitten. Vorn sitzt je einer der Gebirgsleute
als Führer; er fabt das hornartig gebogene Ende der Kufen und lenkt
mit Armen und Beinen. Pfeilschnell gleiten wir den ersten steilen
Abhang links vom erstarrten Groben Teiche hinab, so dab uns Hören
und Sehen vergeht. Die Schlitten fllegen und springen, als wären sie
toll geworden. Nun gleiten wir im Hochwalde schnell dahin. An
der Schlingelbaude wird der Weg flacher. Aber kaum haben wir
etwas Atem geschöpft, so tummeln sich die Schlitten aufs neue in
rasenden Sprüngen. Der Schnee sprüht uns ins Gesicht. Wie in
wilder Jagd scheint alles an uns vorüber zu stürzgen. Mit Windeseile
sausen wir an den Häusern von Brückenberg und an Kirche
Wang vorüber, und erst unten am Waldhause läbt die Geschwindig-
keit nach. Ein Ruck — und Krummhübel, unser Ziel, ist erreicht.
In 17 Minuten sind wir 8 km weit hinabgesahren.
Nach A. Berthelt. (Geographie in Bildern.)
126. Pfingstgebräuche in Schlesien.
Wie in der Natur Wiese, Feld und Wald zur Zeit des „lieblichen
Festes“ Pfingstschmuck anlegen, so schmücken auch Menschen Haus und
Hof mit jungen Bäumen, die Stube mit grünen Zweigen. Fenster und
Spiegel, Decken und Wände werden in Grün gekleidet; aus Krug und
Vase oder vom Bilde herab grüßen zierliche Reiser, und den Fußboden
bedecken grüne Kalmusblätter. Doch es ist nicht dieser Pfingstschmuck,
der Schlesien eigentümlich ist, das sind vielmehr Maien besonderer Art,
die im Dunkel der Pfingstnacht aufgestellten Maibäume.
Wenn wir in den Pfingsttagen Ortschaften der rechten Oderseite
Mittel- und Niederschlesiens, insbesondere in den Kreisen Ols und Trebnitz
durchwandern, winken uns schon von großer Weite, wenn noch die Häuser
unsern Blicken entzogen sind, hoch über ihnen rote und weiße Tücher
entgegen, die munter in der Luft flattern. Fragend treten wir ins Dorf,
und der erste Bauernhof gibt uns Auskunft. Ein junger, schlanker, gänz—
lich von der Rinde, den Zweigen und dem Wipfel befreiter Baum, hier
81 —
gewöhnlich eine Kiefer, ist gleich einem prächtigen Mastbaume aufgerichtet
und tief in der Erde befestigt. Ein zweites, dünneres Stämmchen erhebt
sich, sicher befestigt, auf dem starken Träger und zeigt am oberen Ende
ein kleines, um den Stamm sich bewegendes Gestell. Darin wird ein
60 70 em langes und breites Tuch aufgespannt, das der Wind nicht
zusammenrollen, wohl aber einer Wetterfahne gleich um den glatten Stamm
drehen kann. Zum flatternden Spiel wird der Wind dadurch eingeladen,
daß der untere äußere Zipfel bis über die Hälfte freigelassen ist. Die
Spitze des hohen Maibaumes zieren Birkenzweige und ein lieblicher
Blumenstrauß. Die Verbindungsstelle beider Stämme wird durch Reiser
und Blumen verdeckt, und von untenauf schmückt den festen Stamm eine
lange Girlande. Das sind die „Maien“.
Am Pfingstabende haben sich die jungen Burschen des Dorfes ver⸗
sammelt, sind dann in der Nacht von einem der auserwählten Gehöfte
zum andern gewandert und haben möglichst still einen Maibaum nach
dem andern eingesetzt. Mit einem fröhlichen Pfingstgutenmorgen sind sie
heimgegangen. Als der Pfingsttag anbrach, beschaute jung und alt die
Maien und bewunderte die schönsten und höchsten. Am dritten Feiertage
aber versammelt sich die junge Schar aufs neue; die Burschen ziehen mit
Musik zu den Maibäumen und legen sie behutsam um; dann schwingen
sie sich mit den Mädchen im fröhlichen Tanze.
In manchen Gegenden Schlesiens werden zu Pfingsten Volksfeste und
Volksspiele veranstaltet. Dann steht gewöhnlich ein Maibaum auf dem
Festplatze und einer vor dem Kretscham. Es seien drei solcher Spiele genannt.
Auf dem „Pfingstgrase“ oder der „Pfingstweide“ wird ein Wett—⸗
rennen oder ein Wettreiten veranstaltet. In uralter Zeit sind das
vielleicht Kriegsspiele der Fugend auf der Malstätte gewesen, wo sich das
Volk versammelte.
Bei dem Kranzreiten und dem Entenreiten war an den Quer⸗
balken eines starken Gerüstes ein Kranz befestigt oder eine getötete Ente.
Es siegte der Reiter, der im sausenden Galopp mit schneller Hand den
Kranz oder den herabhängenden Kopf der Ente erhaschte.
Das Hahnschlagen ergötzte ähnlich wie das Topfschlagen. Denn
wer durchs Los bestimmt war, mußte sich die Augen verbinden lassen,
wurde dann dreimal im Kreise herumgedreht und ging dann meistens mit
dem Schwerte nicht auf den Hahn los, dem er den Kopf abschlagen sollte,
sondern hieb in die leere Luft hinein.
— 182 —
Die Sitte, das Heim zu Pfingsten mit Maien zu schmücken, ist uralt.
Sie stammt noch aus den Zeiten unsrer heidnischen Vorfahren. Sie
brachten an Haus und Hof die Maien an und ließen sie dort, um böse
Gewalten fernzuhalten. Seit der Einführung des Christentums setzte man
bei jedem Feste neue Bäume, insbesondere zum Pfingstfeste. Man pflanzte
starke Bäume, meist Birken, aber auch Erlen und Pappeln mit voll—
ständiger Krone vor das Tor des Gehöfts. Da sie aber nur einmal
verwandt werden konnten, mußten alljährlich eine Menge schöner, grüner
Bäume unter der Säge fallen, und da man bei ihrer Beschaffung die
Grenze zwischen mein und dein oft verletzte, so wurden diese Maien bei
Strafe verboten. Als Ersatz dafür schlug vor etwa siebzig Jahren ein
findiger Kopf der Gegend die heutige Art vor, die allgemeinen Beifall
fand. Die Bäume halten bei vorsichtiger Behandlung mehrere Jahre aus,
so daß den Kiefern- und Fichtenwäldern wenig Schaden geschieht. Wohl
in Hinsicht auf die kirchliche Bedeutung des Pfingstfestes hat man bei
diesem Brauche die rote und weiße Farbe der Tücher gewählt und die
Kirchtürme zum Vorbilde genommen. Eltern und Großeltern erinnern
sich beim Anblick der frischen Maibäume gern ihrer fröhlichen Jugendzeit.
Leider verschwindet dieser freundliche Pfingstschmuck immer mehr.
Nach G. Tischer. (Bunte Bilder aus dem Schlesierlande. II.)
127. Das Heuscheuergebirge.
Vom Tale der Reinerzer Weistritz erheben sich nach Nordwesten 15 km
weit zwei Gebirgszüge. Sie sind etwa 7 km breit und durch eine Hochfläche
verbunden. Der östliche endet mit der Großen Heuscheuer. In diesem
Gebirge aus Quadersandstein gibt es nicht sanft ansteigende Lehnen und gewölbte
Rücken, sondern zerklüftete Felsmassen, die schroff abstürzen, wild zerrissene
Schluchten und tiefe Täler. Tausende von Fremden reisen jährlich hierher,
um die merkwürdigen Steingebilde zu bewundern und von den Zinnen der ge—
waltigen Felsenburg weit ins Land hinein zu schauen. Dadurch kommt Leben
und Geld in diese Gegend, die nur wenig ergiebiges Ackerland und deshalb
nur einige kleine Ortschaften enthält.
Erst vor etwa hundert Jahren ist ein bequemer Aufgang zur Großen
Heuscheuer hergestellt worden. Es mußten Stufen in die Felsen gehauen und
tiefe Felsspalten überbrückt werden. Wundersame Felsgebilde finden wir
hier, z. B. ein beladenes Kamel, zwei Schiffe, einen Bären, einen schlafenden
Mohren, eine Kanzel. Auf achtzig Stufen steigt man von der Hochfläche
— 183—
des Berges in eine tiefe Schlucht hinab. Es scheint, als ob eine unge—
heure Gewalt die hohen Felswände auseinandergerissen hätte. Tief unten
zwischen Felsspalten erreicht die Sonne ein Stücklein der Schlucht; dort ist
grüner Rasen. Das Wasser hat überall Rinnen, Gruben, Becken in dem
Sandsteine ausgewaschen. Die Kanten hat es abgeschliffen, die Unterlagen
zerbröckelt. Der höchste Fels auf dem Scheitel ist der Großvaterstuhl. Bei
schönem Wetter isi es entzückend, von hier aus die Berge und Täler der Graf⸗
schaft zu überschauen. Durch die Lücke des Warthapasses leuchtet in weiter
Ferne Kamenz, einst eine böhmische Burg, jetzt das herrliche Schloß des
Prinzen Friedrich Heinrich von Preußen.
Hinter der Heuscheuer beginnt jenseit der böhmischen Grenze ein dritter
Zug. Nach Norden hin nimmt er an Höhe ab. Er endet in dem Felsen—
tale von Weckelsdorf und Adersbach, das auch von Schlesiern gern
besucht wird.
Uach Dr. Joseph Kuhzen (Das deutsche Land) und Dr. Franz Schroller (Schlesien).
128. Schlesiens Kornkammer.
Am Fuße der Sudeten von Ratibor bis Görlitz findet man
30 — 60 km weit nach der Oder zu fast überall sehr fruchtbaren Boden.
Man nennt diesen Landstrich die „Kornkammer“ Schlesiens. Hier gibt
es wohlangebaute Felder und große, stattliche Dörfer; hier liegen die
wohlhabenden Städte Leobschütz, Neustadt, Neiße, Frankenstein,
Reichenbach i. Schl, Schweidnitz, Freiburg, Striegau, Jauer,
Goldberg, Liegnitz, Haynau, Bunzlau, Lauban, Görlitz.
Der vortreffliche Boden in der Nähe von Liegnitz und auf der
ganzen Hochebene nach dem Gebirge zu liefert Getreide in Fülle. Die
nächste Ümgebung der Stadt bringt vor allem Gemüse hervor. Da be—
finden sich die berühmten Liegnitzer Kräutereien. Aber nur bei
unverdrossener Mühe und Arbeit bringt der gute Boden reichliche Frucht.
Ein altes Sprichwort sagt: „Wer Kräuter werden will, darf keine Kreuz⸗
schmerzen haben.“ Oft muß sich ja der Kräuter den ganzen Tag bücken,
um bald hier, bald da zu säen, zu pflanzen, zu jäten, zu behacken oder
einzuernten. Maschinen und Zugvieh kann er nicht verwenden. Die Hacke,
der Spaten, die Hände sind seine Werkzeuge. Viel Liegnitzer Gemüse
wird nach England und Holland verkauft, und zur Erntezeit hat die Bahn⸗
verwaltung oft Mühe, die großen Massen Gurken, Zwiebeln, Kraut,
Blumenkohl, Sellerie schnell zu verladen und zu befördern.
Inmilten der fruchtbaren Hochebene zu beiden Seiten der Wütenden
Neiße liegt Jauer. Bis zum Bolkenhainer Ländchen hin zieht sich eine
— 184 —
Reihe der stattlichsten Bauernhöfe. Von der Hohenfriedeberger Siegeshöhe
überschaut man die große Striegauer Fruchtebene. Im Tale des
Striegauer Wassers liegt das Dorf Laasan. Seit den Befreiungskriegen
waltete hier Graf Friedrich von Burghauß als Gutsherr. Er hat
mehr als dreißig Jahre an der Spitze der schlesischen Landwirte gestanden
und sie zu einem großen Vereine verbunden. Dieser Verein sucht Land—
wirtschaftsschulen zu gründen, tüchtige Hufschmiede auszubilden, tiefe Äcker
zu entwässern, besseres Vieh einzuführen und durch Tierschaufeste und
Maschinenmärkte zu Verbesserungen anzuregen.
Von Schweidnitz schlängelt sich die Weistritz durch saftgrüne
Wiesen zwischen sanft geneigten Höhen mit üppigen Feldern. Im Peiletale
gedenken wir Moltkes, der hier als Gutsherr von Kreisau sich des goldenen
Erntesegens erfreute. Ein Blick von Reichenbach aus nach dem Eulen—
gebirge zu sagt uns, daß in den langen Dörfern dieser Gegend die Fabrik—
tätigkeit vorwiegt. Aber hinter Gnadenfrei, das so regelmäßig und
sauber daliegt und so ernste, friedliche Bewohner hat wie die andern Nie—
derlassungen der Herrnhuter, finden wir eine sehr fruchtbare, weite Acker—
ebene. In ihrer Mitte liegt Frankenstein an der berühmten Königs—
straße, auf der so oft die böhmischen Könige als Herren Schlesiens von
Glatz und Wartha über Nimptsch nach Breslau gezogen sind. Es ist eine
Lust, im Frühlinge die meilenweiten Reihen der blühenden Obstbäume
dieser Landschaft zu sehen. Frankensteiner Weizen ist berühmt, und das
Gemüse dieser Gegend wird weithin in die Badeorte der Grafschaft Glatz
versandt.
Von der Terrasse des Kamenzer Schlosses aus schaut man die
üppigen Wiesen und Äcker des Neißetales, dahinter die Gebirge der
Grafschaft. Friedrich der Große nannte es die reizendste Gegend von der
Welt. Folgt man der Ohle, die östlich von Kamenz entspringt, so gelangt
man zu den fruchtbaren Niederungen von Münsterberg und Strehlen,
wo Weizen, Zuckerrüben und Gemüse vortrefflich gedeihen. Inmitten der
gesegneten Gefilde, die von Patschkau bis Ratibor sich hinziehen, erhebt
sich die freundliche Stadt Neiße, von deren Festungswällen man einen
überraschend schönen Blick bis hin zum Glatzer Gebirge hat.
Noch wohnt in Schlesiens Hütten ein biedrer Menschenschlag,
der für sein Heim gestritten an manchem heißen Tag.
Er führt den Pflug bescheiden und schwingt voll Mut sein Schwert
und hat in allen Leiden sich treulich stets bewährt. (albech.)
Nach Dr. Franz Schrollex. (Schlesien.)
185 —
129. Hochwasser.
Wenn im Gebirge der Schnee schmilzt, so stürzen die Wasser von
Bergen und Vorbergen rauschend zu Tale. Rinnsale überall. Hier donnert
ein schäumender Wildbach talwärts; dumpf krachen die Felsblöcke, die
er mitreißt. Dort rieselt das Wasser schier unmerkbar, aber deshalb nicht
minder erfolgreich hinab und führt eine Menge Erde und feinen Sandes
mit sich. So arbeiten die Wasser bald mit furchtbarer Gewalt, bald un—
scheinbar, aber stetig am gemeinsamen Werke. Weit unten im Tale, wo
die Ebene sich breitet, da sind sie endlich ihrer übermütigen Jugendsprünge
müde, und uun fluten sie mächtig dahin, ufervoll. Und ehe der Fluß,
durch immer neue Wassermengen von rechts und links gespeist, die Oder—
niederung erreicht, ist er schon längst ausgeufert. Vor ihm liegt es wie
ein mächtig dahinfließender See: das überschwemmungsgebiet des Hoch—
wassers der Oder. So weit das Auge reicht, meilenweit nichts als trübe
gelbe Wassermassen, die mit reißender Schnelligkeit dahineilen. Hier drängt
sich das Hochwasser des Stromes durch einen herrlichen Eichenwald, dort
hat es Wiesen und Felder verschlungen, und da — ein Bild des Jammers —
ragen von so manchem Heim arbeitsamer Menschen nur noch die Dächer
aus der lehmigen Flut. Aber nicht nur die bedauernswerten Anwohner
kann man in solcher Wassersnot um den Besitz ihrer Habe, ja um ihr
Leben kämpfen sehen, auch Tiere groß und klein ringen den furchtbaren
Kampf ums Dasein mit dem gierigen Elemente. Gleich einer endlosen
Reihe ziehen Binsen, Rohrstückchen, Zweige und Äste an uns vorüber;
sehen wir genauer hin, so werden wir solche Todeskämpfe beobachten können.
Mancher Käfer, den das Hochwasser überraschte, klammert sich in der Angst
vor dem Ertrinken an einen Strohhalm an. Dort schwimmt ein fort⸗
gerissener Zaun vorüber, auf den sich in ihrer Todesangst zwei Hasen
gerettet haben. Hier treiben die leblosen, starren Körper mehrerer Rehe;
das Element hat sie überrascht, umzingelt und vernichtet. Was jetzt noch
lebt unter all den Tausenden von Tieren, die dort auf der Flut dahin—
treiben, findet nur in den seltensten Fällen noch Rettung. In wenigen
Tagen aber ist die verderbliche Flut verlaufen, verronnen wie ein böser
Traum.
186 —
2. Aus dem Vaterlande.
130. Spruch.
Wer viel gereist, hat viel geseben! —
Was bringst als Bestes du zurück?
Der Heimalt Schõönheit lernte ich verstehen
und preise täglich dieses Glück.
Dr. Wilhelm Petersen.
131. In der deutschen Kaiserstadt.
1. Wie wir in Berlin ankamen.
Wir nähern uns der Reichshauptstadt. Durch Kiefernwaldungen
und an sandigen Heideäckern vorüber hatte uns das Dampfroß geführt.
Jetzt meldeten sich die Vorboten der Riesenstadt. An die Stelle des
Heidelandes traten ausgedehnte Gemüsegärten. Hier und da erhob sich
ein Landhaus, eine Fabrikanlage. Weiterhin ordneten sich die Häuser zu
Reihen. Es waren hohe, drei- und vierstöckige Bauwerke, Wohnungen
für Arbeiter, die hier draußen weniger Miete zahlen als im Inneren der
Stadt. Nicht lange dauerte es, da umtoste uns der Lärm des Schlesischen
Bahnhofes. Auf seinen zahlreichen Schienensträngen rasselten lange
Eisenbahnzüge blitzschnell an uns vorüber. Nach wenigen Minuten fuhren
wir in die Bahnhofshalle ein, durch deren hochgewölbtes Glasdach die
Strahlen der Morgensonne nur mühsam hindurchdringen konnten.
Bald rollte der Zug weiter. Wir fuhren jetzt auf der Stadtbahn,
die Berlin von Osten nach Westen in weitem Bogen durchschneidet. Die
Schienen ruhen auf haushohen Gewölben, die von dicken Mauerpfeilern
getragen werden. Rechts und links von der Bahn breitet sich ein unend—
liches Häusermeer aus. Trotz der Morgenfrühe waren die Straßen
schon belebt. Scharen von Arbeitern begaben sich nach den Fabriken,
Schulkinder eilten mit ihren Mappen der Schule zu.
Auch auf der Spree, die durch Berlin fließt, und an der die Stadt—
bahn eine Strecke lang hinfährt, war es bereits lebendig. Große, mit
Sand und Mauersteinen beladene Lastschiffe fuhren langsam stromabwärts.
Auf den zahlreichen Obstkähnen, die am Ufer lagen, entwickelte sich schon
ein reger Handelsverkehr. Stämmige Schiffer ruderten lange, aus Bauholz
zusammengesetzte Flöße. Dazwischen bewegten sich in schnellerem Laufe
Ruderboote und kleine Dampfer.
A —
Das Königliche Schloß, die Wohnung Katser Wilhelms II.
Der Dom.
— 188 —
Bald sollten wir noch auf andre Weise einen Begriff von der Größe
Berlins erhalten. Unser Zug fuhr an der Zentral-Markthalle vorüber,
der größten von den 14 Markthallen Berlins. In diesen Gebäuden werden
von früh bis abends Lebensmittel und andre für den täglichen Bedarf
notwendige Dinge feilgeboten. Allein in der Zentral-Markthalle befinden
sich gegen 1700 Verkaufsstellen. Durch die Eisenbahn werden dieser Halle
täglich Waren im Gewichte von weit über 200000 kg zugeführt. Wir
besuchten später auch den Zentral-Vieh- und Schlachthof, wo alles nach
Berlin gebrachte Vieh geschlachtet werden muß. Hier wurden allein im
Jahre 1904 über 150000 Rinder, Mo0 Schweine, 160000 Kälber und
430000 Hammel geschlachtet.
2. Das Schloß und seine Umgebung.
Unser Ziel war der mitten in der Stadt gelegene Bahnhof Friedrich—
straße. Von hier aus traten wir unsre Wanderung an. Zunächst be—
gaben wir uns nach dem Mittelpunkte der Hauptstadt, dem von der Spree
bespülten Königlichen Schlosse. Dieses mächtige, von einer Kuppel
überragte Bauwerk, das neben mehreren Höfen gegen 700 Säle und
Zimmer umschließt, stammt in seiner gegenwärtigen Gestalt der Haupt—
sache nach aus der Zeit des ersten preußischen Königs. Über dem Nord—
westportal wehte die purpurne Standarte als Zeichen der Anwesen—
heit des Kaisers. Auf der Südostseite breitet sich der Schloßplatz aus.
Wir bewunderten den prachtvollen Brunnen in seiner Mitte, aus dem
eine riesenhafte Bildsäule des Meergottes Neptun sich erhebt. Über die
Spree führt von diesem Platze aus die Kurfürstenbrücke mit dem Reiter—
standbilde des Großen Kurfürsten. Wenn wir über sie hinweggehen, so
gelangen wir zu dem Rathause der Stadt Berlin, einem gewaltigen
Rohbau aus dunkelroten Backsteinen, dessen hoher Turm die umliegenden
Häuser weit überragt. Nordwestlich vom Schlosse liegt der Lustgarten.
Prächtige Schmuckanlagen umgeben das Denkmal Friedrich Wilhelms III.
in seiner Mitte. Diesem gegenüber erhebt sich das Museum, zu dessen
offener Säulenhalle eine breite Freitreppe hinaufführt. Es enthält in
seinem Inneren wertvolle Kunstschätze. Den Platz an der Spree zwischen
Schloß und Museum nimmt der neue, großartige Dom ein.
Wir wandten uns nach Westen. Hier erhebt sich vor der Südwest—
seite des Schlosses das gewaltige Denkmal Kaiser Wilhelms L. das zur
Jahrhundertfeier des Geburtstages des großen Kaisers sam 22. März 1897)
enthüllt wurde; dann überschritten wir die mit Marmorgruppen geschmückte
Schloßbrücke. Dicht hinter ihr erhebt sich die Ruhmeshalle, von
König Friedrich J. errichtet, dessen Brustbild über dem Haupteingange prangt.
— 189 —
Es enthält eine Waffensammlung und zahlreiche Erinnerungen an die
Ruhmestaten der preußischen Heere.
Die Ruhmeshalle (das BZeughaus).
3. „Unter den Linden“.
Vor uns lag jetzt die Straße „Unter den Linden“, die schönste
Berlins. Jun einer Breite von 50 mn dehnt sie sich 1 km lang aus bis
zum Tiergarten hin. Wir gedachten jenes Frühlingstages im Jahre 1871,
als durch diese Straße, begrüßt von dem Jubel vieler Tausende, die
siegreichen Truppen unter Führung Kaiser Wilhelms J. ihren Einzug
hielten. Wir dachten aber auch an die düstre Pracht, die diese Straße
angelegt hatte, als man am bitterkalten 16. März des Jahres 1888 die
entseelle Hülle des greisen Heldenkaisers durch sie zu Grabe führte.
Dort, wo die Doppelallee von Linden beginnt, die der Straße ihren
Namen gibt, erhebt sich das herrliche Denkmal Friedrichs des
Großen, ein Meisterwerk Rauchs. Es steht inmitten der Straße, gerade
vor dem Palais Wilhelms J. Wir standen lange vor dem einfachen Heim
des großen Herrschers. In unsrer Erinnerung tauchten jene Tage auf,
wo mittags beim Aufziehen der Wache Tausende hier zusammenströmten,
um den Kaiser, der dann stets am Fenster stand, mit brausenden Hoch⸗
rufen zu begrüßen. Auch jener Nacht erinnerten wir uns, als wieder
190 —
eine dichtgedrängte Menge das Palais umgab, diesmal aber stumm, die
bangen Blicke nach den matterhellten Fenstern gerichtet, hinter denen der
kaiserliche Greis mit dem Tode rang.
4. Die Friedrichstraße.
Die Straße „Unter den Linden“ wird etwa in ihrer Mitte von der
genau von Norden nach Süden führenden Friedrichstraße durchschnitten.
Sie ist eine der längsten Straßen Berlins. Ein mäßiger Fußgänger
würde, um sie ganz zu durchwandern, gegen drei Viertelstunden brauchen.
Ein außerordentlich reges Leben herrscht hier zu jeder Tageszeit. Auf
den Granitsteigen, die sich an den Häusern hinziehen, drängen sich die
Fußgänger. Auf der Asphaltbahn, die den Fahrweg bildet, rollen Fuhr—
werke aller Art dahin, darunter im Norden und Süden die mit Menschen
dicht besetzten Wagen der Straßenbahn. Oft ertönt die Warnungsglocke,
säumige Fußgänger, die den Fahrweg überschreiten, zur Eile mahnend.
Die Straße hinauf und hinunter jagen prächtige Kutschwagen und einfache
Droschken, von denen Berlin gegen 8000 besitzt. Hier und dort bewegt
sich ein schwerfälliger Omnibus, von dessen Verdeck die Fahrgäste auf
das Gewirr zu ihren Füßen behaglich niederschauen. Wo Hauptstraßen
sich kreuzen, hält auf stattlichem Roß ein Schutzmann und sorgt dafür,
daß in dem Verkehre keine Störung eintritt. Plötzlich ertönt ein schrilles
Läuten in der Ferne; schnell wenden sich die Fuhrwerke nach rechts und
links, und auf dem freigewordenen Mittelwege sausen, von wildschäumen—
den Rossen gezogen, die Wagen der Feuerwehr vorüber einer Brand—
stätte zu, nach der man sie durch telegraphische Botschaft berufen hat.
Üüber uns erblicken wir zahllose Telephondrähte, die, an Gerüsten auf
den Dächern befestigt, die entferntesten Teile der Stadt miteinander ver—
binden.
Allmählich näherten wir uns dem Südende der Friedrichstraße, die
hier durch die Säulenhallen des Halleschen Tores abgeschlossen ist. Vor
uns lag der kreisrunde Belle-Alliance-Platz, in dessen Mitte die von einer
Viktoria gekrönte Friedenssäule sich erhebt. Plötzlich ging eine lebhafte
Bewegung durch die Menge. Die Fußgänger blieben stehen und ordneten
sich in Reihen. Dahersprengende Schutzleute unterbrachen den Wagen—
verkehr. Aller Augen blickten erwartungsvoll nach dem Tore, durch das
rauschende Militärmusik hineindrang. Ein Regiment kehrte zurück, das
draußen auf dem Tempelhofer Felde, dem großen Exerzier- und Parade—
platze der Hauptstadt, geübt hatte. Geführt aber wurde es von dem obersten
Kriegsherrn, dem Kaiser selbst. Dicht hinter dem Musikkorps ritt er, mit
ernster Freundlichkeit die ehrfurchtsvollen Grüße seines Volkes erwidernd.
— 191 —
5. Vor dem Brandenburger Tore.
Wir kehrten nach der Straße „Unter den Linden“ zurück. An ihrem
westlichen Ende liegt das Brandenburger Tor. Dieses herrliche Bau⸗
werk wird von einer Siegesgöttin überragt, die sich auf einem von vier
Pferden gezogenen Kriegswagen erhebt. 1806 wurde dieses Kunstwerk
von den Franzosen nach Paris entführt, 1814 aber besonders durch
Blüchers Einschreiten wieder zurückgebracht. Seitdem trägt die Standarte
der Viktoria ein Eisernes Kreuz.
Das PBrandenburger Torx.
Durch das Brandenburger Tor gelangt man, an den marmornen
Standbildern Kaiser Friedrichs III. und seiner Gemahlin Viktoria vorüber,
in den Tiergarten, einen ausgedehnten Park, der von zahlreichen Wegen
durchkreuzt wird. Gleich an seinem Anfange breitet sich der weite Königs—
plat aus. Herrliche Anlagen umgeben die in seiner Mitte errichtete
Siegessäule, ein Denkmal der Siege Kaiser Wilhelms J.
Von der Siegessäule schaut man nach Süden in eine Allee hinein,
die auf beiden Seiten mit Standbildern besetzt ist. In dieser „Sieges⸗
allee“ stehen die Marmorfiguren der Fürsten Brandenburgs und Preußens
von Albrecht dem Bären bis auf Kaiser Wilhelm J. Neben jedem Fürsten
sind die Büsten je zweier für seine Zeit besonders bedeutungsvollen
Männer (Soldaten, Staatsmänner, Bürger) errichtet woͤrden. Diese Denk—
— 192—
mälerreihe hat der Kaiser der Stadt Berlin zur Erinnerung an die ruhm—
reiche Vergangenheit als einen bleibenden Ehrenschmuck gestiftet.
Den Abschluß bildet auf dem Kemperplatz ein schöner Brunnen
mit dem Roland. Mit ihm erhielt Berlin als Geschenk des Kaisers ein
Wahrzeichen wieder, das vor viereinhalb Jahrhunderten ein Hohenzoller
dem damals trotzig widerstrebenden Berlin genommen hatte.
Der Siegessäule gegenüber leuchtet die vergoldete Kuppel des Reichs—
tagsgebäudes. Vor ihm erhebt sich das gewaltige Denkmal Bismarcks,
des Begründers des Deutschen Reiches.
6. Die Hoch- und Untergrundbahn.
Noch eine besondere Sehenswürdigkeit Berlins sollten wir kennen lernen,
die neue Hoch- und Untergrundbahn. Durch die südlichen Stadtteile sich
hinziehend, verbindet sie den Osten und Westen Berlins untereinander und
mit der Mitte der Stadt, dem Potsdamer Platze. Der größte Teil der
Strecke, etwa 10 Kilometer lang, ist als Hochbahn erbaut. Der Schienen—
weg, nur auf eisernen Trägern ruhend, führt hier etwa in der Höhe des
ersten Stockwerks der Häuser längs der Mitte verkehrsreicher Straßen ent—
lang. Beim Nollendorfplatze senkt er sich in einen riesigen unterirdischen
Tunnel hinab, der, etwa 3 Kilometer lang, ungefähr in der Mitte der
Nachbarstadt Charlottenburg endigt.
Die in Abständen von 2 bis 4 Minuten abgelassenen kleinen Züge
von 3 Wagen, deren jeder etwa 40 Personen faßt, werden durch elektrische
Kraft getrieben und haben vor der Stadtbahn den Vorteil, daß sie weniger
Geräusch verursachen. Sie befördern für geringes Entgelt des Morgens
viele Tausende von Berufsarbeitern aller Stände in kürzester Frist nach
ihren Arbeitsstätten und abends wieder zurück zu ihrem Heim.
7. Wie für Reinlichkeit und Gesundheit gesorgt wird.
Bei unsern Wanderungen durch Berlin fiel uns besonders die Sauber⸗
keit auf, durch welche die Stadt sich auszeichnet. Trotzdem die Haupt—
reinigung der Straßen nachts geschieht, sind doch auch am Tage zahlreiche
Arbeiter beschäftigt, die Spuren jeder Verunreinigung sofort zu entfernen.
Sprengwagen fahren unablässig auf und ab, den Staub zu löschen. Zur
Entfernung der Abwässer ist die Kanalisation angelegt. Es wurde uns
mitgeteilt, daß sich unter der Stadt ein ganzes Netz von Kanälen aus—
breitet. Aus jedem Hause führt ein Tonrohr in den Straßenkanal. Dieser
mündet wieder in den gemauerten Sammelkanal, der so hoch ist, daß
ein Mann aufrecht darin gehen kann. Alle Kanäle eines Stadtteils ver—
einigen sich in dem Sammelbecken, das an seiner tiefsten Stelle in der
193
Nähe eines Wasserlaufes liegt. Hier werden die mitgeführten festen
Stoffe zurückgehalten. Die Abwässer dagegen werden durch Dampfpumpen
auf ausgedehnte Felder getrieben, die damit berieselt werden und infolge
der in den Wässern befindlichen Dungstoffe einen hohen Grad von Frucht⸗
barkeit erhalten. Seit Einführung der Kanalisation hat sich der Gesund⸗
heitszustand der Stadt Berlin beträchtlich gehoben.
Ein Hauptanteil daran gebührt auch der Wasserleitung, die Berlin
mit gutem Trinkwasser versorgt. Da die Brunnen in einer Großstadt
mehr als anderswo der Verunreinigung ausgesetzt sind, so war eine solche
Anlage notwendig. Das Wasser wird aus Brunnen gepumpt, die mehrere
Meilen von Berlin entfernt liegen. Ehe es aber in die Leitungsrohre
gelangt, läßt man es noch durch große Sandfilter hindurchrieseln, damit
es geklärt werde. Dann fließt es, durch gewaltige Dampfpumpen getrieben,
in das Rohrnetz, das die ganze Stadt durchzieht, und steigt in diesem bis
in die höchsten Stockwerke hinauf.
8. Abschied von Berlin.
An einem Abend nahmen wir von Berlin Abschied. Die Straßen,
durch die wir zum Bahnhofe fuhren, waren so belebt wie immer. Zwar
war die Sonne untergegangen, aber Tausende von Gasflammen und
elektrischen Lampen machten die Nacht zum Tage. Bald lag Berlin hinter
uns. Wir fuhren über die dunkle Heide. Nur ein heller Streifen fern
am Horizont kündete noch die Stelle an, wo die Riesenstadt liegt.
Robert Rißgmann. GOriginalartikel.)
132. Das Mausoleum in Charlottenburg.
1. Durch die schattigen Laubgänge des herrlichen Schloßparks zu Char⸗
lottenburg wandeln wir dem Mausoleum, der stillen Königsgruft, zu. Leise
rauschen über uns die Wipfel der alten Eichen und Linden. Feierliche Stille
umfängt uns. Eine düstre, schwermütige Allee von Tannen und Kiefern führt
uns zur Grabeshalle. Ernste Gedanken bewegen uns. Wie oft ist der große
erste Kaiser des neuen Deutschen Reiches diesen Weg zum Grabmal seiner
geliebten Eltern gewandelt! Wir sehen ihn im Geiste, wie er tiefbekümmert
und sorgenvoll am 19. Juli 1870, am Vorabend des großen Krieges, im
Gebete Trost an dieser heiligen Stelle suchte. Wunderbar gestärkt, aufgerichtet
und siegesgewiß verließ der einsame, greise Held das stille Haus.
Vor dem schlichten Tempelbau befindet sich ein Rasenplatz, den Rosen,
Vergißmeinnicht und Immergrün schmücken. Vier rote Marmorsäulen tragen
das Giebelfeld mit der Inschrift Ra, d. h. Jesus Christus ist der Anfang
13 w
Hierts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. II. Neubtg.
3
—
4
7
3
2.
2*
33
— 57—
5
8
553
S
—D
23
S
J
2
2
35
2
—
*
2
2
S
S
2
2
*
3
—
195 —
und das Ende, der Erste und der Letzte. Einige Marmorstufen führen zu
einer Flügeltür aus getriebener Bronze. Wir treten in die Vorhalle.
2. Dem milden Mondscheine gleich fällt blaues Dämmerlicht aus der
Kuppelwölbung in die Halle. Als stummer Wächter der Gruft steht in
kriegerischer Gewandung die mächtige Gestalt eines geflügelten Erzengels da.
Er stützt sich als Streiter für Recht, Ehre und Wahrheit auf das gewaltige
Flammenschwert. Stolz und ernst erhebt er das schöne Haupt, unter dessen
Helm das Haar herniederwallt. Es schwebt etwas Heiliges, Feierliches, Un—
nahbares um ihn.
Vier grün und weiß geäderte Marmorsäulen trennen die Vorhalle, in
der sich die vier Sarkophage mit den lebensgroßen Marmorbildern der fürst—
lichen Paare befinden. Den Abschluß bildet im Hintergrunde ein Altar, um—
schlossen von einer Nische. Ein schönes Altarbild zeigt auf goldenem Grunde
Friedrich Wilhelm III. und Luise, dem thronenden, segnenden Heiland ihre
Kronen überreichend. Von den Wänden leuchten goldene Bibelsprüche; der
Boden ist mit schwarzem und weißem Marmor getäfelt.
3 . Wie eine friedlich Schlummernde ruht dort im Marmorbilde „Preußens
guter Engel“, die Königin Luise. Sie ist in ein langes Gewand gehüllt; auf der
Stirne trägt sie das Diadem. Der Kopf ist leicht geneigt; die Arme sind über der
Brust gekreuzt. Stiller Friede spricht aus ihren schönen Zügen. Auf der Stein—
platte neben dem Sarkophag steht das Wort: „Wie der Herr es gewollt, also
ist es geschehen.“
Neben ihr ruht Friedrich Wilhelm III. im schlichten Soldatenmantel.
Sein Wahlspruch lautet: „Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott.“
Neben den beiden Sarkophagen an den Kopfenden stehen zwei kunstvolle
Leuchter, der des Lebens und der des Todes. Die Züge des königlichen Paares
sind vom Bildhauer Rauch getreu wiedergegeben.
4. Schwer war die Aufgabe des Bildhauers Encke, ähnlich Vollkommenes
in den Sarkophagen des ersten kaiserlichen Paares zu schaffen. Aber auch
er hat seine Aufgabe in meisterhafter Weise gelöst.
In der Uniform des 1. Garderegiments zu Fuß ruht auf dem von
Lorbeer umgebenen Bahrtuch entblößten Hauptes das Marmorbild Kaiser
Wilhelms J.; die Hände sind über dem Griffe des lorbeerumwundenen Reichs—
schwertes gefaltet, die Gestalt wird vom Hermelinmantel bedeckt. Seine Züge
zeigen Schlichtheit, Herzensgüte und Frömmigkeit. In den Stein neben ihm
sind die Worte eingegraben: „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden
fahren.“ Ihm zur Seite schlummert seine Gemahlin, die Kaiserin Augusta, das
Antlitz mit einem feinen Spitzenschleier verhüllt. Auf dem Haupte trägt sie um
das Diadem den goldenen Myrtenkranz zur Erinnerung daran, daß sie mit ihrem
Gatten die Goldene Hochzeit gefeiert hat. Die über der Brust gefalteten Hände
13*
196 —
halten ein Kruzifir, von dem sich Blätter und Blüten der Passionsblume herab⸗
ranken. Auf dem Fußboden lesen wir den Spruch: „Seid fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet!“ Die Ecken der Sarkophage werden
von geflügelten, trauernden Löwen gebildet. Auf den Seitenfeldern finden wir
beim Kaiser Wilhelm als Sinnbilder des Krieges: Helm, Schwert und Kriegs—
fackel mit Lorbeer- und Eichenblättern und als Zeichen des Friedens: Spinnrocken,
Hammer usw. Der Kaiserin sind die Sinnbilder der Frömmigkeit und Mildtätig—
keit beigegeben: Glaubenskelch und rotes Kreuz mit Palmen und Lorbeer.
In heiliger, feierlicher Stimmung verlassen wir das hehre Grabmal.
Walter Nohl. Mach Verschiedenen.)
133. Im Spreewalddorse.
. Unweit Lübbenau im Oberspreewalde liegt das Dorf Lehde,
das im Frũühling und Sommer von vielen Malern besucht wird. Wenn
der Marzschnee geschmolzen ist und die Spreewasser in jugendlichem
Ungestüm durch die Wiesen und Forsten laufen, wenn das lichtgrüne
Laub sich in den warmen Frühlingswinden wiegt, dann kommen sie,
und den langen, warmen Sommer bleiben sie eifrig an der Arbeit, bis
der Oktober alle gelben und roten Blätter von den Bäumen gerissen
und auf die Lahlen Miesen und die dunkeln Gräben geworsen hat. Sie
malen die uralten Blockhäuschen, umglüht vom letzten Abendsonnen-
glanz, und die am Wasser im Erlenschatten liegenden Bauernhöse, die
blanken Fliebe, den grünen Eichwald, durch den sich schmale Wasser-
lein mit rosafarbenen und weihen Seerosen schlängeln, die Männer auf
dem Fischeuge und die Weiber in ihrer schõnen bunten Sonntagstracht.
2. An einem schönen Junimorgen unternahm auch ich die Fahrt von
Lubbenau nach Lehde. Auf der schmalen Wasserstrahe, die zwischen
roten Ziegelhãuschen und kleinen, schmalen Gärten auf der einen
und der braungelben Landstrabe auf der andern Seite durchläust,
wartete meiner der breite, niedere Kahn, der den Verkehr zwischen den
Spreewalddörfern vermittelt. Sachte glitten die Häuschen und Gärten
vorbei. Fast unmerklich verstummte das Treiben der kleinen Stadt
hinter mir. Die schweigsame Schönheit der von zahllosen Wasser-
laufen durchflossenen Acker, Felder und Wiesen, deren tieses Grün
kräftig von dem blauen Himmel abstach, begann mich zu sesseln.
Die WVinde schliefsen. Die Pappeln an den Landwegen rührten sich
nicht; die schlanken, dünnen Birken, die sich da und dort in Gruppen
zu zweien und dreien zusammengefunden hatten, die verwachsenen
Weiden, die über ihre Mihgestalt trauerten, die hohen Erlen an den
tiefen Flieben: sie standen alle unbeweglich.
—
— 197 —
Leise gleitet der Kahn von Flieb zu Fließ. Im Wiesengrün steht
in nachdeniclichem Sinnen auf dem rechten Bein ein Storch. Den
Kopf hat er in die Schulter gezogen; den langen Schnabel ssteckt er
gerade vor sich in die klare Lust. Uber die Furchen eines Kartoffelfeldes
stolpern drei Krähen und suchen sich in den Erdspältchen ihr Putter.
Unter dem blauen Himmel schiehen Schwalben dahin. Ein schnell
verflegendes Gezwitscher in den Lüsten, ein mürrisches Krächzen am
Boden — sonst alles rings in feierlicher Ruhe.
3. Nach kurzer Fahrt auf den stillen Wasserläufen taucht ein
bleiner, hoher Erlenwald auf; das ist Lehde. Das schmale Flieb ist
nun s0 eng geworden, daßb saum drei Kähne dicht aneinander vor-
beigleiten coönnen. Wütendes Hundegebell empfängt jeden Kahn,
der ins Dorf fährt. Von den Höfen springen Hunde aller Rassen,
Größen und Farben an den Wasserrand und bellen, daß es eine Art
hat. Einer sucht den andern zu überschreien, und das währt so
lange, bis der Kahn am Wirtshause „Zum fröhlichen Hecht“ auf den
Ufersand schurrt.
Unweit des dicht ineinander verschlungenen Wurzelwerks einer
Erle, knapp vor der Einfahrt hängt im flebenden Wasser der hölzerne
Fischlasten, den eine einfache Kurbel in die Hõhe windet, so dalʒ
man die zappelnden Fische mit der Hand greifen kann
4. Dies Gasthaus „Zum fröhlichen Hecht“ ist eine Sehenswürdig-
keit von Lehde. Es ist ein weitläufiges, niedriges Haus mit drei
Schenkstuben, der Vohnung des Wirts, den Mägdekammern und
vielen Winkein. Noch nicht alt ist der Tanzsaal mit dem dienst-
eifrigen Orchestrion, das alle Sonntage den „Ledigen“ des Ortes
unermũdlich seine alten und neuen Tanze aufspielt. Da bieten die
Madchen mit ihren steifen, vielgefaltelten Rõcken und buntgeblümten
Kopftũuchern, mit ihrem dunkeln Samtmieder und ihrer breiten, sarbigen
Schũrze, die Burschen in ihren straffsitzenden, schwarzen Jacken, den
seidenen, schwarzen Westen und dem unter dem RKinn festgeknoteten
Halstuch ein farbenprächtiges Bild. Wahrend sie tanzen, sitzen die
Verheirateten und Alten beisammen an den Kaffeetischen im wendischen
Saale, aus dessen niedriger Holzdecke die festen Quer- und Längsbalken
hervorspringen. Auf schmalen Holzleisten stehen nebeneinander gereiht
altertũmliche Krũge, Gläser, Teller und Schüsseln. Viele Bilder
und Skizzen in Oh Kreide und Bleistist schmücken die Nande. Un-
weit des Wirtshauses, jenseit der hohen, sich über ein schmales Spree-
wasser wölbenden Holzbrücke liegt das Fremdenhaus. Es ist ein
luftiger, grober Bau aus langen, schmalen Brettern, von denen zahe
Harztropfen langsam herabflieben.
5. Warum Lehde so zahlreich von den Malern aufgesucht wird,
ist jedem klar, der einmal dort war. Das Dorf liegt eigenartig schön;
—
alle Häuser stehen auf kleinen Inselchen. Will ein Bauer zum andern,
s0 mub er sich des flachen, breiten Kahnes bedienen, der im Dorfe
und von Dorf zu Dorf den Verkehr vermittelt. Auf dem Rahne
bringt der Bauer die Früchte seiner Acker und Felder: Meerrettich,
Mohrrüben, Zwiebeln, Kürbisse und vor allem die weitberühmten Gurken
zum Markte. Der Kahn trägt den Post- und Paketboten von der
Stadt ins Dorf, den Arzt zu den Kranken, den Pfarrer zu den
Sterbenden. Auf dem Kahne fahren die Täuflinge mit ihren Eltern
und Paten zur Lübbenauer Kirche, Braut und Bräutigam zur Hochzeit,
die Toten zum Grabe.
6. Die Häuschen des Dorfes sind auf Steingrund aus Balken
erbaut mit Schilf oder Rohrdächern, auf denen grünes Moos sich
angesiedelt hat. Die bretterbeschlagenen Giebel schmücken nach
altem Herkommen hölzerne Tierköpse. Durch die quergeteilte Tür
tritt man in einen engen Flur, an dessen einer Seite die Altenstube
liegt, welche die Bauern bewohnen, die sich zur Ruhe gesetzt haben.
An der andern Seite liegt die geräumige, geweibte Slaatsstube mit
ihrem altmodischen Hausrat, den buntbemalten Truhen und Schränken
und dem niedrigen, von einer breiten Bank umzogenen braunroten
Kachelofen. Daneben liegt, nur durch eine dunne Bretterwand
abgetrennt, die enge Schlaffammer mit den hochgetürmten Feder-
betten.
Im Hintergrunde des Elurs befndet sich die Küche mit be-
scheidenem Gerät; über dem Flur liegt der weite Boden mit den
Wintervorrãäten. An das Haus schlieben sich die Viehställe und
Scheunen an, der Schweinekoben und der Gansestall.
7. Kaum ein halbes Dutzend Häuser findet man in Lehde, die
nur einigermahen feuerfeste Mauern haben. Wenn einmal Feuer
dureh Blitzschlag oder Fahrlässigkeit ausbricht, so ist das Dorf ver-
loren; dann brennt alles bis auf die kahle Erde nieder. Wenn ein
Gewitter heraufzieht, eilen deshalb alle, Männer wie Weiber, aufs
schnellste heim von den Feldern und Wiesen. Sie lockern die Ketten
des Viehs, um es bei auffommendem BFeuer leichter ins FEreie zu
bringen; sie schnüren ihre besten Kleider und Betten in Bündel zu-
sammen und stopsen ihre Schmuck- und Wertsachen in die Taschen,
um das Gehöst zu verlassen, sobald der Blitz einschlagen sollte.
8. Die alte, bunte Volkstracht der Spreewälder hat sich noch
bis auf den heutigen Tag erhalten. Doch sie wird mit den Jahren
schwinden, vielleicht in nicht allau ferner Zeit, ebenso wie die
wendische Sprache, die heute schon keiner mehr in Lehde spricht.
Ein paar Brocken vielleicht und den Anfang einiger Liedchen: mehr
weiß keiner im ganzen Dorfe von seiner Väter Sprache. Reins der
ergreisenden, traurigen wendischen Volkslieder hört man mehr von
199
blühenden Mädchenlippen. Es ist, als hätten ihre Schwestern in
vergangenen Tagen nie gesungen:
Wir können nicht immer beisammen bleiben;
wir muüssen mal scheiden, mal scheiden.
Doch wenn vwir auch jetzt voneinander gehn,
einst werden wir uns ja wiedersehn.
Mein Vater ist tot; das Mutterlein starb;
der alteste Bruder im RKriege verdarb.
Nun sitz' ich einsam und traurig vorm Haus
und lausche in die Nacht hinaus,
und das Kauzlein schreit nahe im Wald:
„Schlafen all in Evigkeit. Komm du auch baldl
Dr. Alfred Semeran. (Tägliche Rundschau.)
27
134. Der Baltische Landrücken.
1. Felsige Höhen, enge und tiefe Täler hat das nördliche Deutschland
nicht. Eben breitet es sich aus wie das Meer, aus dem es sich vorzeiten
allmählich emporgehoben hat. Langsam ziehen die wasserreichen Flüsse und
Ströme zwischen niedrigen Ufern dahin, und die Masten und Segel der
Schiffe darauf schauen weit in das Land hinein. Doch gibt es auch in
diesen Teile unsers Vaterlandes sanfte Hebungen und Senkungen. Die
gewaltigen Gletscher, die vor vielen Jahrtausenden die norddeutsche Tief⸗
ebene bedeckten, haben hier aus den Gesteins— und Erdmassen, die sie mit
sich führten, ein wellenförmiges Höhenland aufgedämmt. An manchen
Siellen nähert es sich der Küste der Ostsee; aber nirgends reicht es ganz
an sie heran. Auf einem bis zu 100 Kilometer breiten Höhenrücken er—
heben sich sanft gerundete Hügel aus Lehm, Sand und Kies, in dem zahl—
reiche muschelförmige Versteinerungen deutlich anzeigen, daß sie dem Meere
entstammen. Nach Westen hin dacht sich dieses Höhenland immer mehr
ab, bis es sich an der Ostküste der Jütischen Halbinsel verliert. Die
größte Höhe und Breite erreicht es in Ost— und Westpreußen, wo einzelne
Berge bis zu 300 Meter hoch emporragen.
2. Der schönste Schmuck dieses Höhenzuges sind die zahlreichen
kleinen und großen Landseen, die sich auf seiner ganzen Länge in solcher
Menge und Lieblichkeit wie sonst nirgends wieder in Deutschland vor⸗
finden. Tiefblau lacht uns ihr Spiegel aus der Ferne entgegen. An
ihren Ufern liegen einsame Dörfer und kleine Städte. Oft sind sie von
welligen Höhen umrahmt, oft von Wiesen und Ackerland umgeben. Hier
sind fie von einem gelblichweißen Sandstreifen, dort von dunkelm Nadel⸗
imd Laubwald umsäumt. Im hohen Schilf ihrer Ufer nisten wilde Enten
200 —
und Gänse, deren Ruf weithin durch die stille Abendluft hallt. Flinke
Taucher mit glänzendem Gefieder treiben auf dem Spiegel des Sees ihr
munteres Spiel. Plötzlich sind sie vor unsern Augen verschwunden; Minuten
vergehen, ehe sie an einer andern Stelle wieder emportauchen. Große
Scharen zahmer Gänse eilen von den anliegenden Dörfern dem Ufer zu, um
sich auf dem See zu tummeln und in ausgelassener Lust zu baden Der
Fischer zieht sein Net durch die klare Flut. Leicht und ruhig gleitet der
Nachen über den See, bis er allmählich unserm Auge entschwindet. Auf den
größeren Seen, die zuweilen durch Kanäle miteinander verbunden sind, wie
z. B. die großen masurischen Seen, fahren kleine Dampfer und Segelboote.
3. Flache Seen sind nicht selten dadurch versumpft, daß ungeheure
Mengen von Wasserpflanzen nach und nach das ganze Seebecken ausge⸗
füllt haben. Beginnt nun das Torfmoos zu wachsen, so verwandelt sich der
ehemalige See im Laufe von Jahrhunderten in eine schwarze Torfwiese,
die allmählich immer trockener und fester wird. Der Torf ersetzt in jenen
Gegenden noch heutzutage die Steinkohle. Fast jede Gemeinde, ja jeder
größere Grundbesitzer hat dort sein Stück Torfland, das ihm die Feue⸗
rung für Stubenofen und Kochherd liefert. Die schwarze oder braune
Torferde wird gegraben, mit den Füßen oder von einer Maschine ge—
knetet, in viereckige Formen gestrichen und dann getrocknet, ganz ähnlich
wie man Ziegel streicht. Gar sonderbar nehmen sich die zum Trocknen
aufgestellten schwarzen Türmchen aus Torfziegeln im grünen, wasserreichen
Bruchland aus.
4. Anmutig belebt wird die Landschaft auch durch die das Hügel—
land durchschneidenden Flußtäler, die sich vielfach mit denen des Thü⸗
ringer Berglandes vergleichen lassen. Selbst da, wo diese Küsten- und
Nebenflüsse größerer Ströme innerhalb des Höhenzuges nicht durch dichte
Wälder hineilen, sind ihre steilen, bis zu 25 Meter hohen Ufer dicht mit
Baum und Busch bedeckt, und sicher muß der Schritt des Wanderers sein,
der in die grüne Finsternis mit ihren Schönheiten eindringen will. Durch
enge Schleusen schießend, senden diese Flüsse ihre Gewässer bald reißend
schnell über Kies und Steingeröll, bald langsamer über die Tiefen dahin
unter dem weit überhängenden Gezweige des Waldes. Dort singen im
Schlehdorn Amsel und Sprosser; dort lauert der schönste unsrer einhei—
mischen Vögel, der scheue, flinke Eisvogel, auf das sorglose Fischlein,
nur zuweilen gescheucht von den mächtigen Stämmen, die den Fluß hinab—
geflößtk werden.
5 Vielfach breiten sich auf dem Baltischen Landrücken größere oder
kleinere dürre Sandflächen aus, die nur hier und da mit einer dünnen,
wenig fruchtbaren Ackerkrume überzogen sind. Die kahle, gelblichweiße
—
Heide gleicht dann einem Sandmeere, das Inselchen mit dürftigem Grün
umschließt, deren Wacholderbüsche und Ginstergestrüpp Hasen und Feld—
hühnern sichern Aufenthalt bieten. Mühsam und schwerfällig arbeitet sich
der Fuß des Wanderers durch den losen Sand, der unter jedem Fußtritte
nachgibt. Das Ohr vernimmt nichts als das Gezirp der Heuschrecke oder
das Krächzen eines scheuen Raben. Tiefe Einsamkeit, schweigende Ver—
lassenheit ruht über der Landschaft, in der oft meilenweit kaum ein dürf⸗
tiges Dörflein zu treffen ist. Nur hier und da überrascht uns ein Gehölz
herrlicher Eichen und Buchen, ein Zeichen, daß sich unter der sandigen
Oberfläche fruchtbarer Lehmboden hinzieht.
Heidekraut, Sandgräser und der genügsame Wacholder bereiten
durch ihre Überreste den Boden für Kiefern- und Tannenwälder zu. Das
Kraut der Heidel- und Preißelbeeren, die in diesen Wäldern üppig wuchern,
die dicken Lagen der trockenen Nadeln und dichten Moospolster bedecken
ihn allmählich mit fruchtbarer Pflanzenerde und verwandeln den dürren
Sandboden schließlich in ertragfähiges Ackerland.
Nach Johann Just. Geineckes Lesebuch.)
135. In Trakehnen.
1. Zwischen den Vorwerken Jonastal und Bajohrgallen war's, wo
ich zum erstenmal eine Trakehnerherde sah. Ich kam auf dem Landwege,
nicht auf der großen Landstraße, von Gumbinnen und fuhr schon geraume
Zeit durch die herrlichen, alten, schattigen Alleen, die nach allen Rich—
tungen hin das riesige Gebiet von Trakehnen durchschneiden. Rechts und
links vom Wege lagen weitgestreckte, üppige Weiden; über die völlig
ebene Fläche schweifte das Auge bis dorthin, wo am Horizont eine neue
Allee die Sicht begrenzte. Kein lebendes Wesen auf der grünen, im
Sonnenlicht glänzenden Flur außer einigen hochbeinigen Störchen, die
durch den grünen Klee wandelten.
2. Plotzlich hob der Kutscher die Peitsche und wies nach vorn: „Die
Jonastaler Herdel“ Noch eine kleine Viertelstunde, und wir befanden
uns dicht neben den herrlichen Tieren zweijährigen jungen Hengsten,
die, gegen 100 Stück in einem großen Rudel vereinigt, kaum 50 Schritt
vom Wege ruhig grasten. Während wir uns näherten, hob nur dann
und wann ein Tier neugierig den schöngeformten Kopf und äugte zu
unserm Wagen herüber. Drei berittene Hirten waren dabei, frische Bur—
schen, die wie angegossen auf ihren Gäulen saßen und aufmerksam jedes
Tier beobachteten, das etwa Miene machte, sich zu weit von der übrigen
Herde zu entfernen.
292
Nichts Schöneres für einen Tierfreund, auch wenn er gar kein be—
sonderer Kenner des edlen Pferdes ist, als solch eine Trakehnerherde im
Freien! Keine Hecke, kein Zaun hemmt die Tiere in ihrer Bewegung.
Ungezwungen tummeln sie sich umher, die einen eifrig weidend, die andern
in lustigen Sprüngen miteinander spielend und tollend, wie um ihre feinen
Gelenke zu erproben. Froher Jugendübermut spricht aus allen Be—
wegungen der schönen, ebenmäßigen Glieder. Die kräftigen Rücken, die
noch nie einen Sattel getragen, dehnen sich vor Lust; die feingeschwungenen
Hälse strecken sich vor Behagen, und die klugen Köpfe mit den glänzenden
Augen schauen gar merkwürdig verständig um sich. Dann ist ein Weil—
chen die ganze Herde ruhig, bis plötzlich eine Gruppe stutzt, 50, 60 Schritte
in lustigen Sprüngen fortgaloppiert und Bewegung in die Masse bringt,
die ihr, wie freudig erregt über den Einfall, nachstürmt. Jeden Augen—
blick ein andres Bild, und jeden Augenblick ein schöneres!
Die Gehöfte von Trakehnen sind freundlich und sauber; man sieht
ihnen an, daß sie zu einer Musterwirtschaft gehören. Rechts umfangreiche
Parkanlagen, aus denen das „Schloß“, das stattliche Wohnhaus des
Landstallmeisters, hervorlugt, links das treffliche Gasthaus mit dem großen,
goldenen Elchgeweih über der Tür. Die siebenzackige Elchschaufel, auf
dem rechten Hinterschenkel aufgebrannt, ist das Merkmal jedes im größten
preußischen Gestüt gezogenen Pferdes.
3. Zur Mittagszeit sah ich, wie eine Herde Mutterstuten des soge—
nannten leichten Reitschlages samt ihren Füllen bei leichtem Regenwetter
eingetrieben wurde. Ein entzückender Anblick, die stattlichen Stuten, mit
den zierlichen Kleinen vermischt, sich ihre Ställe suchen zu sehen, wie sie
bald den rechten Stall sogleich finden, bald sich, gleichsam schäkernd, erst
durch die Hirten zurechtweisen lassen. Mir fiel hier so recht das aus—
gezeichnete Verhältnis zwischen den Wärtern und den ihrer Pflege an—
vertrauten Tieren auf, das gegenseitige Sichkennen, die Sorgfalt, die der
Hirt jedem einzelnen Pferde entgegenbringt. Freilich, die Wärter sind
von Kindesbeinen auf mit den Tieren verwachsen, und wenn der Ost—
preuße überhaupt ein geborner Pferdepfleger ist, so sind es die Trakehner,
die sich schon als kleine Buben in den Ställen und zwischen den Herden
herumtummeln, ganz besonders. Solcher Bursch kennt jedes einzelne
Stück seiner Herde aufs genauste. Er nennt mit Stolz dessen Abstam—
mung, redet wie ein Buch über seine Eigenschaften, spricht mit ihm wie
mit einem guten Kameraden und sieht es schließlich, glaube ich, nur mit
tränenden Augen aus der Herde scheiden.
4. Besonders schön sind die herrlichen Füchse. Ich sah sie, als sie zur
Tränke getrieben wurden, und konnte mich nicht satt schauen an den
203
*3
2
—
— 204 —
kräftigen Tieren, auf deren glänzendem Haare die Sonne sich förmlich
spiegelte. Jedes einzelne Stück schien das andre an Leichtigkeit und Frische
der Bewegungen zu überbieten. Wie überall auf dem Gestüt weiden die
Mutterstuten den ganzen Sommer hindurch auf den ausgedehnten Weide—
plätzen, werden aber zur Fütterung und zur Nacht zur Tränke einge—
trieben. Dabei spielt sich jedesmal ein höchst ergötzlicher Vorgang ab.
Das Eintreiben kann bei den großen Herden nicht auf einmal erfolgen,
sondern nur in kleineren Gruppen. Der Hirt ruft, wenn die Stunde
gekommen, die Tiere einzeln nach ihren Namen auf, die Fohlen noch
nach dem Namen der Mutter. Er holt sie sich, sobald sie nicht sogleich
willig folgen, mit seiner langen Peitsche, die er mit unfehlbarer Sicherheit
handhabt, mitten aus der Herde heraus. Häufig entsteht dann ein recht
niedlicher Wirrwarr, ein buntes Durcheinander, ein angstvolles Suchen
der Stuten, die ihre Fohlen verloren haben, und ein noch angstvolleres
der lieben Kleinen nach den Müttern. Erst nach einer geraumen Weile
entwirrt sich der Knäuel, und die Hirten ziehen mit ihren Gruppen ruhig
heimwärts. Nicht immer freilich geht es ganz glatt ab. Kurz ehe ich
nach Trakehnen kam, war z. B eine ganze Herde durch einen plötzlichen,
von Hagel begleiteten Gewittersturm derart außer Rand und Band ge—
raten, daß sie sich zum Schaudern ihrer Hirten in wilder Jagd auf
den Weg gemacht hatte und querfeldein einige Meilen über Land gerast
war. Erst nach stundenlanger Mühe gelang es, sie auf völlig fremdem
Gebiet wieder aufzufinden und heimzuführen.
5. Der kaiserliche Marstall wählt sich jährlich etwa 30 Reit- und
Wagenpferde aus. Die meisten der prächtigen Tiere, die vor den Gala—
wagen des Berliner Hofes gehen, stammen ja aus Trakehnen, und ich
sah gerade bei meinem letzten Besuch in dem Gestüt auch einen wunder—
vollen Rappen, der als Leibpferd für den Kaiser bestimmt war. Der
Rest des Jahrganges nebst den sonstigen ausgemusterten Mutterstuten wird
dann zur Auktion gestellt.
Solch eine Auktion in Trakehnen ist ein Ereignis für die ganze
Provinz, in der ja, wie man sagt, jeder zehnte Mensch Pferdezüchter oder
Pferdehändler, jeder zweite aber ein leidenschaftlicher Pferdeliebhaber ist.
Von nah und fern finden sich an dem lange vorher bekannt gemachten
Tage des Mai die Kauf- und Schaulustigen ein, die benachbarten Guts—
besitzer und die Offiziere der nächsten Garnisonen mit ihren Damen. Dazu
kommen die Händler aus den ostpreußischen Städten, aus Berlin und
vielfach aus dem Auslande, die pferdezüchtenden Bauern, die Liebhaber
aus Insterburg, Königsberg, Memel. Am meisten begehrt sind die
wertvollen, für Zuchtzwecke verwendbaren Mutterstuten, die meist von ost—
203 —
preußischen Züchtern gekauft werden. Aber auch das übrige Gebrauchs—
material erzielt hohe Preise; ein Pferd, welches das Elchgeweih von
Trakehnen als Brandzeichen trägt, ziert ja jeden Stall.
In den langen Wintermonaten stehen die Pferde im Stalle, werden
aber fleißig bewegt, bis der Juni sie wieder auf die Weide führt. Dann
beginut die goldene Zeit der Freiheit aufs neue, die das Trakehner Pferd
so überaus leistungsfühig und verhältnismäßig hart auch gegen die Einflüsse
der Witterung macht. Daß es das ist, hat ihm neben allen andern guten
Eigenschaften auch den hohen Ruf als Soldatenpferd erster Klasse er—
worben, der von ihm aus auf die ganze ostpreußische Zucht übergegan—
gen ist. Hanns von Zobeltitz. GVelhagen und Klasings Monatshefte.)
136. In der Ferienkolonie am Ostseestrande.
1. „Mütterchen, liebstes Mütterchen!“ schreit der zehnjährige Karl
Harder atemlos, „denke dir nur, ich darf mit, ich werde wirklich mit—
genommen!“
„Ja, wohin denn, mein Kind?“ fragt Frau Harder, eine sanfte, stille
Frau, deren blasses Gesicht seit ihres Mannes Tode nur selten ein heiteres
Lächeln zeigt.
„Ich darf mit der Ferienkolonie an die Ostsee, der Schul—
arzt hat es bestimmt. Fünfundzwanzig Jungens sind wir, und das feinste
ist daß Herr Andres, unser Klassenlehrer, mit uns geht. Der weiß immer
etwas Huͤbsches, was uns Spaß macht. Hei, wird das lustig werden!
Mutter, freust du dich auch?“
O, wie sie sich freut! Mit Freudentränen schließt die arme Frau
den schmächtigen Knaben in die Arme. „Gott sei Dank, mein Herzens—
kind,“ sagt sie leise, ‚nun wirst du dich kräftigen und mit runden, roten
Wangen heimkommen.“ —
2. Mit grellem Pfiff läuft der Zug auf dem Bahnhofe des Ostsee—
bades ein. Die ungeduldigen kleinen Fahrgäste ergreifen ihre Gepäckstücke
und folgen mit klopfendem Herzen ihren Führern nach dem Hospiz, wo
sie sechs lange Wochen ohne Vater und Mutter leben sollen. Aber das
große, freundliche Haus, die hohen Zimmer mit den saubern Betten, der
äinladende, gedeckte Tisch im Speisesaal lassen sie bald empfinden: Hier
ist gut sein. Welch ein Glück, hier wochenlang gehegt und gepflegt zu
werden und sich tummeln zu dürfen in der freien, schönen Gotteswelt!
Schon die Luft ist ganz anders als daheim. Schneidend weht der
frische, scharfe Seewind um die blassen Kindergesichter, daß sie sich röten.
Aber auch die Augen blitzen heller in freudiger Erwartung. Hat doch
206 —
noch keins der Kinder je das Meer gesehen, das große, gewaltige Meer,
von dem sie so viel gehört und gelesen haben.
Endlich stehen sie davor und schauen von der hohen Sanddüne auf
die weite, endlose Wasserfläche. Es ist schon spät geworden; ein wolken—
bedeckter Himmel verstärkt die Abenddämmerung. Bleigrau und schwer—
fällig rollen die Wogen an das Ufer, wo sie mit donnerndem Getöse
branden. Darüber schießen kreischende Möwen hin und her und tauchen
mit unheimlicher Gewandtheit in den weißen, sprudelnden Gischt.
Mit angstvoll aufgerissenen Augen starren die Kinder in die dämmernde
Ferne, wo Himmel und Meer ineinanderfließen. Es scheint ihnen, als
ob die Wasserwogen mit furchtbarer Gewalt eine Anhöhe herabrollen, und
sie wundern sich, daß der Strand nicht überflutet wird. Voll heimlicher
Furcht guckt ein Junge den andern an, während die kleinen Mädchen sich
dicht an ihre Lehrerin drängen.
„Du, Fritze, hast du dir das so gedacht?“ fragt Karl leise.
wMein,“ erwidert Fritz mit enttäuschter Miene, „da haben wir uns
umsonst gefreut. In dem Wasser da bade ich nicht.“
Stumm, mit trüben Gesichtern kehrt die kleine Schar heim und horcht
noch in den Betten ängstlich auf das ferne Donnern des Meeres.
3. Aber welche Überraschung harrt ihrer am Morgen! Das Brausen
des Meeres ist verstummt. Heiler lacht die Sonne vom Himmel herab
und spiegelt sich glitzernd in der klaren Flut. Erstaunt schauen die Kinder
auf das Wunder zu ihren Füßen. Wo ist das schreckliche, bleigraue, un—
heimliche Meer geblieben? Eine durchsichtig blaue, an manchen Stellen
grünliche, ruhige Wasserfläche breitet sich vor ihnen aus. Nur hin und
wieder kräuseln kleine, schaumgekrönte Wellen den blitzenden Spiegel und
hüpfen neckisch an den riesigen, moosbedeckten Steinen empor, die ernst
und unbeweglich aus der Flut schauen.
„Nun, Jungens, wer ist der erste im Wasser?“ fragt Herr Andres
in munterm Tone. Mit lautem Hurra stürzt die ganze Schar den Sand—
hügel hinab an den flachen Strand des Herrenbades. Stiefel, Jacken,
Mützen, Höschen fliegen in buntem Durcheinander in den trockenen See
sand, und fröhlich taucht einer nach dem andern in das klare Wasser.
„Du,“ sagt Fritz zu seinem Freunde, „hast du schon das Seewasser ge—
schmeckt? Probier's einmal!“ Gehorsam nimmt Karl einen Schluck, ver—
zieht aber das Gesicht, als habe er Essig gekostet. „Pfui, das ist ja ganz
salzig und bitter!“ ruft er entrüstet.
„Ja, siehst du, nun kannst du dir denken, warum der Walfisch so
heftig spuckt. Dem schmeckt das Meerwasser auch nicht“, sagt der junge
Lehrer scherzend.
297 —
„Wißt ihr, wir könnten Walfisch spielen“, schlägt einer vor.
„Ihr?“ sagt Herr Andres. „Ihr könnt doch höchstens Heringe sein.“
„Hurra, wir sind die Heringe und Herr Andres der Walfisch!
Bitte, bitte, lieber Herr Andres!“
Freundlich geht der Lehrer auf das Spiel ein und verfolgt mit ge⸗—
waltigem Schnauben und Plätschern die schmächtigen, kleinen Heringe.
Lachend und kreischend fliehen sie vor ihm an den Strand, um hinter
seinem Rücken wieder ins Wasser zu schlüpfen und keck herausfordernd
nach ihm zu spritzen. Bald aber müssen sie heraus aus der blauen Flut,
und die plätschernden Heringe verwandeln sich in behagliche Seehunde, die
müde im trockenen Sande liegen und sich von der Sonne bescheinen lassen.
Auch Herr Andres hat sich lang ausgestreckt. „Jetzt könnt ihr mich
eingraben“, sagt er behaglich. Lustig machen sich die Knaben ans Werk,
und bald ragt nur noch der Kopf des Lehrers aus dem Sande hervor.
Heller Jubel ertönt, als es dem jungen Manne scheinbar nicht gelingt,
fich davon zu befreien. Wo er nur eine Hand oder eine Fußspitze hervor—⸗
streckt, werden eilig neue Sandmassen darauf gehäuft, bis Herr Andres
endlich mit einem Ruck in die Höhe springt und den herabrieselnden Sand
von sich schleudert. Alle Hände sind jetzt bereit, ihn abzuklopfen. Aber
siehe da, nicht ein Stäubchen haftet an dem saubern Anzuge. Der See—
sand hat nicht die geringste Spur hinterlassen.
4. Im Damenbade ist es inzwischen nicht weniger lustig hergegangen.
Zwar hatten die kleinen Mädchen nicht alle den Mut, sogleich in das
große Wasser hineinzugehen. Aber die Lehrerin nahm das ängstliche, kleine
Lottchen freundlich auf den Arm, und als dieses erst lustig plätscherte,
verloren auch die andern alle Furcht.
Mit frohem Gesange kehrt die ganze Schar mittags heim zu dem
Hospiz, wo schon die gedeckten Tische ihrer warten. Ei, wie das schmeckt!
Ganz anders, als wenn man daheim müde und matt durch die heißen,
staubigen Straßen nach Hause kam. „Ja, ja, das macht die Seeluft und
das Bad“, sagt die freundliche Schwester, die den Haushalt leitet.
„Eßt tüchtig, Kinder, damit ihr hübsch frisch und rund nach Hause
kommt! Leckerbissen kann ich euch nicht vorsetzen, aber gesund und kräftig
ist die Kost.“ Nach kurzer Mittagsruhe geht es wieder an die See.
5. Fräulein Schmidt läßt sich am Strande nieder und gibt ihren
Schützlingen die Erlaubnis, Schuhe und Strümpfe abzuziehen, wie die
Kinder der übrigen Badegäste tun. Ei, wie wonnig es sich in dem
weichen, warmen Sande wühlt! Selbst Lotte, das Nesthäkchen, das immer
so leicht weint, jauchzt vor Vergnügen. Die kleinen Mädchen graben nun
größere und kleinere Gruben in den Sand. Das sind Wohnungen, die
208 —
sogleich von den kleinen Müttern mit ihren Puppenkindern bezogen werden.
Ein reges Leben entwickelt sich nun. Was gibt es nicht alles zu sehen,
zu zeigen und zu besprechen! Lieschen hat hübsche, gerippte Muscheln ge—
funden, Erna ein Stückchen Bernstein. Anna und Martha bewundern
ein paar hübsche, runde Steine, die Fräulein nach Hause mitzunehmen rät.
Man kann sie an Regentagen mit Abziehbildern schmücken und in Brief⸗
beschwerer verwandeln. Johanna zeigt, wie man die flachen Steine auf
die ruhige Wasserfläche werfen muß, damit sie ein paarmal in die Höhe
hüpfen, ehe sie versinken. „Butterstullen werfen“ nennt sie es wichtig.
Am meisten aber freut sich Lottchen. Sie hat mit Fräuleins Hilfe ein
paar Büschel des braunen Seetangs in ihr blondes Haar gewunden und
kommt sich wunderschön damit vor.
6. Die Knaben haben ihr Lager etwas weiter abseits aufgeschlagen.
Sie brauchen Platz, denn es gilt, eine Burg zu bauen. Nach des Lehrers
Anleitung wird ein großer Kreis gezogen. Um diesen herum beginnt ein
eifriges Schaufeln und Graben. Um die Vertiefung in der Mitte wird
ein mächtiger Sandwall errichtet, der wieder von einem breiten Graben
umgeben ist. Ein altes Brett bildet die Zugbrücke, die an der einzigen
Offnung des Walles angebracht wird. Jauchzend werden ein paar Fähn⸗
chen aufgesteckt, und freudestrahlend betrachten die Knaben ihr Werk: Eine
feine Burg“, meint Fritz, indem er sich den Schweiß von der Stirne wischt.
„Oho! Jetzt kommt erst die Hauptsache“, sagt Herr Andres.
Es wird gelost, wer die Burg zu verteidigen hat. Die Zugbrücke
wird aufgezogen, und hüben und drüben bereitet man sich zum Kampfe.
Herr Andres leitet den Angriff.
„Schützt die Augen, Jungens,“ kommandiert er, „denen würde der
Sand nicht gut tun. Sonst dürft ihr euch ruhig damit werfen.“ Hin
und her fliegt das leichte Geschoß, bis die Angreifer mit wildem Geschrei
die Festung stürmen und ihre Besatzung zu Gefangenen machen. Seh
die Siegesillumination!“ ruft der Lehrer in diesem Augenblick und deutet
auf das Meer. Glutrot wie ein feuriger Ball sinkt die untergehende
Sonne in die glitzernden Wogen. Himmel und Meer sind in die wunder—
barsten Farben getaucht. Blutrot leuchtet der Horizont. Leichte, rosen⸗
rote Wölkchen schweben am Himmel, dessen Bläue in ein weiches Violett
übergeht. Das ruhige Meer spiegelt glitzernd diese Farbenpracht wider.
Sogar die flatternden Möwen schimmern im lieblichsten Rosenrot. An—
dächtig betrachten die Kinder diese märchenhafte Schönheit, und heller als
gestern stimmen sie heute bei der Abendandacht in den Gesang:
„Dich predigt Sonnenschein und Sturm,
dich preist der Sand am Meere.“
26
9 —
7. Aber nicht immer ist das Wetter so günstig wie im Anfang. Es
folgen heiße, windstille Tage, an denen selbst das Baden keine Erfrischung
gewährt. Da flüchtet alles in den kühlen, schattigen Wald. Es ist ein
neues Vergnügen, im weichen Grase zu liegen und in die Wipfel der
Eichen und Kiefern hinaufzuschauen. Neugierige Eichhörnchen huschen von
Ast zu Ast, und der bunte Specht hackt lustig Späne aus der Baumrinde.
Wie wundervoll paßt das geheimnisvolle Rauschen und Flüstern der
Blätter zu den Märchen, die Herr Andres oder Fräulein Schmidt zu er—
zählen wissen. Da sieht man beinahe die Meerungeheuer, die Elfen und
langgeschwänzten Nixen oder gar die Seelen der Ertrunkenen, die ruhelos
als Möwen umherflattern und die Schiffer vor dem Sturme warnen.
Gern suchen die Mädchen auch Blumen und winden Kränze daraus, wäh⸗
rend die Knaben in der Abendkühle „Räuber und Soldaten“ im dichten
Buschwerk spielen. Selbst die Regentage bringen Angenehmes. In der
großen Spielhalle sind Turngeräte angebracht, die von den Knaben
eifrig benutzt werden, indes die Mädchen allerlei Rund- und Singspiele
treiben.
8. Ja, es ist alles schön, wunderschön! Die Kinder wüßten gar nicht
zu sagen, was das Schönste sei, welches das beste Spiel und der lustigste
Tag wäre. Darum eilen die Wochen im Fluge dahin; ehe man sich's
verfieht, sind die schönen Ferien zu Ende, und es gilt, sich auf die Heim⸗
kehr zu rüsten. Beim Abschiede fließen heiße Tränen, und die Blicke
suchen immer wieder und wieder die freundliche Stätte, als der Zug die
kleinen Badegäste heimwärts führt. Aber in den Abschiedsschmerz mischt
sich auch die Freude des Wiedersehens mit den Lieben daheim. Und
Karl, der mit runden, braungebrannten Wangen heimkehrt, freut sich
besonders auf die staunende Freude seines Mütterchens, das ihn so blaß
und schmal von sich ließ und ihn nun so wohl und frisch auf dem Bahn⸗
hof in Empfang nehmen kann. Genina Tolkadorf. Originalartikel.)
137. Der Jung' auf der See.
1. Spät ist's im Herbst und dunkle Nacht,
da ist die Mutter aufgewacht.
Sie hört den Wind, der draußen weht,
wie um das Haus er heulend geht,
und ihr Jung' ist auf der See!
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. U. Neubtg.
14
—2140 —
In finstrer Nacht auf wilder See!
Rein Stern glänzt nieder aus der Höh'!
Wie da wohl hoch die Wogen gehn;
gar bald ist's um ein Schiff geschehn,
und der Jung' ist auf der See!
3. O Mutter, sorg dich nicht zu sehr!
Wie wild auch Wind und Wasser wär',
wir stehn doch in derselben Hand,
die fest uns hält: uns auf dem Land
und den Jungen auf der See!
Johannes Crofan.
138. Die Halligen.
1. An der Westküste des früheren Herzogtums Schleswig finden sich,
umflutet von den Wogen der Nordsee, mehrere Inseln. Als Überreste einer
zusammenhängenden Landstrecke, die dem Meere zum Raube geworden ist,
mahnen sie den Bewohner des festen Küstenlandes, sich mit allen ihm zu Gebote
stehenden Mitteln der Fluten zu erwehren.
Die größeren dieser Eilande sind teils durch Deiche, teils durch Dünen
vor den Wogen geschützt, die, täglich mit Flut und Ebbe kommend und
gehend, immer neue Versuche zu machen scheinen, die letzten Brocken ihres
großen Raubes in den gierigen Schlund des Meeres hinunterzuziehen. Bei
der Ebbe geht die See so weit zurück, daß ein meilenweiter weicher Schlick⸗
grund bloßgelegt wird. Einzelne Rinnen und andre Senkungen werden aber
auch dann nicht wasserleer. Rings um die Inseln winden sich die unter—
einander und mit dem zurückgewichenen Ozean zusammenhängenden sogenannten
Tiefen, gleichsam Schlangenarme, mit denen der eine Zeitlang an andern
Gestaden kämpfende Riese die nie vergessene Beute auch zur Zeit der Ebbe
umschlungen hält. Diese Tiefen setzen dem einsamen Wanderer, der auf dem
weichen Meeresgrunde Krabben, Rochen oder einen von dem schnellen Abfluß der
Wogen überraschten Seehund sucht, auch bei der hohlsten Ebbe unüberschreitbare
Grenzen. Sie verhindern die Verbindung zwischen den Inseln zu Lande selbst
dann, wenn sie scheinbar hergestellt ist. Nur einzelne kleinere Eilande erfreuen
sich beim Rückgange des Meeres einer kurzen Gemeinschaft miteinander oder mit
dem festen Lande auch ohne das umständliche Mittel der Schiffahrt.
2. Aber wehe dem Wanderer, der zu viel dem trügerischen Riesen vertraute!
Dieser kehrt oft mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zurück, führt den Nebel mit
sich als Bundesgenossen, und der Schlickläufer (so nennt man den, der die
Ebbe zu größeren Wanderungen benutzt) sieht das heimische Gestade vor seinen
— 211 —
Blicken verschwinden. Er fühlt die Flut um seine Füße spielen, und Entsetzen
sträubt sein Haar bei diesem Spiele; er eilt mit Todesangst vorwärts, aber
die schon ganz gefüllten Rinnen versperren seinen Weg. Er wendet sich seit—
wärts, um sie zu umgehen; er verliert dadurch seine Richtung; er läuft hin und
her, ist gefangen ohne Ausweg, und mit jedem Augenblicke kriecht die Flut
höher an ihm hinan. Sein Geschrei verhallt in der großen, weiten Wasserwüste
und wird zuletzt von den ihn überrauschenden Wogen ganz erstickt, die bald
seine Leiche bedecken. Ein tiefflutendes Meer ist da, wo noch vor kurzem die
Fußtapfen des Armen sichtbar waren.
3. Im Gegensatz zu den größeren, durch Deiche und Dünen gesicherten
Inseln werden die kleineren Eilande „Halligen“ genannt. Eine solche Hallig
ist ein flaches Grasfeld, das kaum einen Meter höher liegt als der Stand
der gewöhnlichen Flut des Meeres. Es wird daher, weder durch Kunst noch
durch Natur beschützt, sehr oft, in den Wintermonaten sogar wohl zweimal
an einem Tage, von der wogenden See überschwemmt. Hooge, jetzt die
größte der Halligen, hat nur noch eine Grundfläche von 600 ha mit kaum
170 Bewohnern. Die kleineren, oft nur von einer Familie bewohnten Inseln
sind kaum ein paar tausend Fuß lang und breit. Die kleinsten sind unbe—
wohnt und dienen nur dazu, ein wenig kurzes und feines Heu zu gewinnen,
das aber sehr oft, ehe es geborgen werden kann, von der Flut weggespült
wird. Das geborgene Heu wird in Diemen zusammengehäuft, über die ein
Flechtwerk von Stroh, an beiden Enden mit Steinen belastet, herabhängt.
Dadurch gewinnen sie eine solche Festigkeit, daß nur mit eisernen Spaten das
zum jedesmaligen Gebrauch Nötige abgestochen werden kann. Diese Heuberge
an der Seite des Hauses geben daher oft noch eine Zuflucht, wenn die Mauern
vor der Gewalt der Wellen niederbrechen.
4. Auf künstlichen Erderhöhungen oder Werften stehen die einzelnen Woh⸗
nungen, die selten mehr Raum auf der sich schräg absenkenden Höhe lassen,
als zu einem schmalen Gange um die Hütte erforderlich ist. Daher trifft man
denn auch fast auf allen Halligen keinen Fleck Gartenland für ein wenig Ge—
müse, keinen einzigen Strauch mit einer erquickenden Beere, keinen Baum zu
einem Ruheplatz im Schatten. Für solche Genüsse müßte die Werfte größer sein,
deren Aufführung und Unterhaltung, so klein sie ist, schon mehr Kosten erfordert
als das einfache Gebäude, das darauf steht. Auf der Ebene sproßt der Über—
schwemmungen wegen kein fröhliches Gewächs, keine nährende Frucht. Sie
ist eine Wüste, die freilich durch ihr fahles Grün, das noch dazu vielfach von
schmutziggrau überschlickten Stellen unterbrochen wird, andeutet, daß das genüg—
same Schaf hier wohl seine spürliche Nahrung finden mag. Sie kennt aber
keineswegs jenen frischen, duftigen Graswuchs, in den sich behaglich die fette
Kuh hinstreckt, oder über den das wiehernde Roß mutwillig hin und her springt.
14 *
212
5. Suchst du sprudelnde Quellen, die einen Labetrunk geben könnten da,
wo die Sonnenstrahlen auf das matte Grasfeld brennen? Wohl findest du vom
Wellenschlage zerrissene Ufer, wohl tiefe Einbrüche des Meeres, die sich oft in
langen Krümmungen weit ins Land hinein erstrecken, als wollten sie es in noch
kleinere Stücke zerteilen, um seiner leichter Herr zu werden. Wohl gibt es stehende
Lachen, einen Nachlaß der letzten Überschwemmung zur Erinnerung, daß das
Land schon halb dem Ozean gehbre und ihm bald ganz zufallen werde, —
aber Trinkwasser? Auf der Werfte wird ein Behältnis ausgegraben und
ringsum mit Grassoden ausgesetzt; dahin mag sich Regenwasser von obenher
Wohnhaus einer nordfriestschen Hallig.
sammeln oder von den Seiten durchsickern. Es dient den Schafen zur
Tränke und ihren Herren zur Bereitung ihres Tees, obwohl es von dem
mit Meersalzteilen durchdrungenen Boden den widerlichsten Geschmack ange—
nommen hat, der es für den nicht daran Gewöhnten ungenießbar macht.
Vielleicht bringt auch gar einmal ein Boot ein Tönnchen Wasser mit vom
festen Lande, und in den Zeiten der Dürre kann solche Zufuhr zur dringend⸗
sten Notwendigkeit werden.
6. Eine Freude hat aber doch wohl der Halligbewohner: das muntere
Treiben eines täglichen und reichen Fischfangs? Nein, nicht einmal den schönen
Anblick eines in hellen, grünlichen Wellen flutenden Meeres hat er. Ein widriges,
— 7*
trübes Gelb in Grau ist die gewöhnliche Farbe der Gewässer um ihn her,
und vor dem Aufenthalt in einer Meeresstrecke, die bei der Ebbe stundenweit
ihren Schlammboden aufdeckt, hüten sich die Fische und überlassen gern dem
Seehund und der häßlichen Roche das wenig einladende Gebiet. Und dies
Meer, das die Halligen umgibt und so oft überwogt, dies an Gaben so arme
Meer ist noch dazu fortwährend ein Räuber, der bald mit langsamer, still unter—
grabender Macht, bald mit wildstürmender Gewalt ein Stück Land nach dem
andern von dem Eiland abbricht, so daß der Halligbewohner schon die Jahre zählen
kann, wann den Hütten und den Herden der letzte Raum genommen sein wird.
7. Doch glücklich die Hallig, wenn hiermit ihr Bild vollständig gezeichnet
wäre! Aber es bleibt noch eine furchtbare Seite übrig. Zur Gewohnheit
sind die Überschwemmungen geworden, die, alles flache Land überwogend, an
den Wersten hinaufsteigen und an die Mauern und Fenster der Hütten mit
ihrem weißen Schaume anschlagen. Da blicken denn diese Wohnungen aus
der weiten, wogenden Wasserflüche nur noch als Strohdächer hervor. Man
glaubt nicht, daß sie menschliche Wesen bergen, daß Greise, Männer, Frauen
und Kinder unterdessen vielleicht ruhig um ihren Teetisch sitzen und kaum einen
flüchtigen Blick auf den umdrängenden Ozean werfen.
Aber zuweilen bricht der Sturm zugleich mit der Flut auf das bange
Eiland ein. Die Wasser steigen bis zu sechs Meter über ihren gewöhnlichen
Stand hinauf. Die Wogen dehnen sich zu Berg und Tal, und das Meer sendet
in immer neuen, langen Zügen seine volle Gewalt gegen die einzelnen Werften,
um sie aus seiner Bahn wegzuschieben. Der Erdhügel, der eine Zeitlang
zitternd widerstand, gibt nach. Bei den unausgesetzten Angriffen bricht ein
Stück nach dem andern ab und schießt hinunter. Die Pfosten des Hauses,
welche die Vorsicht ebenso tief in die Werste hineinsenkte, als sie darüber hervor—
stehen, werden dadurch entblößt; das Meer faßt sie, rüttelt sie. Der erschreckte
Bewohner des Hauses rettet zuerst seine besten Schafe hinauf auf den Boden;
dann flieht er selbst nach, und hohe Zeit war es! Denn schon stürzen die
Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten den schwankenden Dachboden,
die letzte Zuflucht.
Mit furchtbarem Siegesübermut schalten nun die Wogen in dem unteren
Teile des Hauses. Sie werfen Schränke, Kisten, Betten, Wiegen in wildem
Spiele durcheinander und schlagen sich immer freieren Durchgang, um alles
hinauszureißen auf den weiteren Tummelplatz ihrer unbändigen Kraft. Der
Stützpunkte des Daches werden immer weniger, des Daches, dessen Nieder—
sturz rettungslos einer noch vor wenigen Stunden in häuslicher Geschäftigkeit
wirkenden oder im sanften Arme des Schlummers ruhenden Familie ein
schäumendes Grab bereitet. Ängstlich lauscht das Ohr, ob nicht das Brausen
des Sturmes abnimmt; ängstlich pocht das Herz bei jeder Erschütterung; immer
214
enger drängen die Unglücklichen sich zusammen. In der Finsternis sieht keiner
das entsetzenbleiche Antlitz des andern, im Donnergeroll der tobenden Wogen
verhallt das bange Gestöhn; aber jeder kann an seiner eigenen Qual die
marternde Angst seiner Lieben ermessen.
Der Mann preßt das Weib, die Mutter ihre Kinder mit verzweiflungs—
voller Todesgewißheit an sich. Die Bretter unter ihren Füßen werden von
der drängenden Flut gehoben, aus allen Fugen quellen die Wasser auf. Das
Dach wird durchlöchert vom Wogensturz; ein irrer Mondstrahl dringt durch
die zerrissenen Wolken und fällt hinein auf die Jammerszene, die, von seinem
bleichen, zuckenden Lichte beleuchtet, in all ihrer Furchtbarkeit erscheint und
die angstverzerrten Gesichter erkennen läßt. Da kracht ein Balken. Ein
furchtbarer Schreckensruf! Noch eine martervolle Minute!l Noch einel Der
Dachboden senkt sich nach einer Seite; ein neuer Flutenberg schäumt herauf,
und — im Sturmgeheul verhallt der letzte Todesschrei. Die triumphierenden
Wogen schleudern einander Trümmer und Leichen zu. —
8. Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat, liebt sie über alles,
und der aus der Sturmflut Gerettete baut sich am liebsten wieder auf dem
Flecke an, wo er alles verlor, und wo er in kurzem wieder alles und sein
Leben mit verlieren kann.
Um die Bewohner der noch vorhandenen zwölf Halligen, die zusammen
nur noch eine Grundfläche von etwa 1600 Hektar haben, vor diesem Schicksal
zu bewahren, läßt die preußische Regierung die abbrüchigen Ränder der Halligen
in neuerer Zeit durch Feldsteinbauten gegen die beständig nagenden und ab—
spülenden Fluten des Meeres schützen. Auch werden jetzt Dämme durch das
Watt von Hallig zu Hallig oder von dieser zum Festlande gebaut, um durch
den Niederschlag der erdigen Bestandteile des trüben Wattenmeeres hinter diesen
Dämmen allmählich neues Marschland entstehen zu lassen und so dem
Meere in jahrhundertelanger Arbeit wieder zu entreißen, was es einst in
wenigen Schreckenstagen geraubt hat.
UNach Johann Christoph Biexnahzki. (Die Hallig.)
139. Der Halligmatrose.
1. „Rapitän, ich bitt Euch, laßt mich fort,
o lasset mich frei, sonst lauf' ich von Bord;
ich muß heim, muß heim nach der Hallig!
Schon sind vergangen drei ganze Jahr',
daß ich stets zu Schiff, daß ich dort nicht war,
auf der Hallig, der lieben Hallig.“ —
215 —
„Vein, Jasper, nein, das sag' ich dir,
noch diese Reise machst du mit mir,
dann darfst du gehn nach der Hallig.
Doch sage mir, Jasper, was willst du dort?
Es ist ein so öder, armseliger Ort,
die kleine, die einsame Hallig.“
3. „Ach, mein Rapitän, dort ist's wohl gut,
und an keinem Ort wird mir so zumut',
so wohl als auf der Hallig;
und mein Weib hat um mich manch' traurige Nacht;
hab' so lang' nicht gesehn, wenn mein Kind mir gelacht,
und Hof und Haus auf der Hallig.“
4. „So höre denn, Jasper, was ich dir sag':
Es ist gekommen ein böser Tag,
ein böser Tag für die Hallig;
eine Sturmflut war wie nie vorher,
und das Meer, das wildaufwogende Meer,
hoch ging es über die Hallig.
*
5. Doch sollst du nicht hin. Vorbei ist die Not;
dein Weib ist tot, und dein Rind ist tot,
ertrunken beid' auf der Hallig.
Auch die Schafe und Lämmer sind fortgespült;
auch dein Haus ist fort, deine Wurt zerwühlt.
Was wolltest du tun auf der Hallig?“
6. „Ach Gott, Rapitän, ist das geschehn!
Alles soll ich nicht wiedersehn,
was lieb mir war auf der Hallig?
Und Ihr fragt mich noch, was ich dort will tun? —
Will sterben und im Grabe ruhn
auf der Hallig, der lieben Hallig.“
Hermann Allmers.
140. Eine Reise von England nach Hamburg.
(Louis Kurmann, der sechaehnjährige Sohn eines Elsässers,
der nach dem Deutsch-frangösischen Kriege nach Nordafrika ge-
zogen und dort ein wohlhabender Gutsbesitaer geworden ist,
will Seemann werden. Der Vater erlaubt ihim, seinen Groß-
vater in Straßburg 2u besuchen, und Louis macht die heise
von Algier aus bis Hamburg æꝛur See.)
216
2
S
—
—
—
2
*
F
.
.
—
1. Bei der Einfahrt
in den Hafen von South-
ampton entdeckte Louis
einen Dampfer, der
weit gröher und schöner
war als alle andern. Er
führte die deutsche
Flagge. Ein Reisegenosse
erklärte ihm, das sei
die „Auguste Viktoria“
der Hamburg-Amerika-
Linie, einer der größten
und schönsten Dampfer,
die es auf der Erde
gebe. Mit grober Neu-
gier betrachtete der
Knabe dieses stolze
Schiff. Ob es wohl ge-
race auf der Ausfahrt
nach Amerika oder auf
der Ruckkehr naeh
Deutschland begriffen
warꝰ Bald erfuhr er
dureh die an Bord kom-
menden Agenten und
Hoteldiener, daß die
„Auguste Viktoria“ am
andern Morgen nach
Deutschland zurück-
kehre. Nunmehr be—
eilte Louis sich mög-
lichst, ans Land zu kom-
men, und erreichte mit
andern Passagieren bald
in einem Boote das
Ufer. Er fuhr sofort in
einer Droschke nach der
Agentur der Hamburg-
Amerika-Linie und
217
erfuhr zu seiner größten Freude, dab er noch einen guten Platz er-
halten könne, weil viele Engländer die überfahrt von Amerika nach
England auf der „Auguste Viktorias mitgemacht und das Schiff in
Southampton verlassen hätten. Es wurclle ihm aber bemerkt, er
mõöge noch heute an Bord gehen, da die Abfahrt voraussichtlich sehr
krüh stattfinden werde.
Unser Freund lieb sich das nicht zweimal sagen. Nach kurzer
Zeit hatte er ein Boot gefunden, das ihn zu dem deutschen
Dampfer brachte.
2. War das ein Kolohl So etwas hätte Louis nicht kür möglich
gehalten, wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Von
fern erschien das Schiff ja schon sehr groß. Aber vwie riesig nun
in der Nãähe! Das ging doch über jede Erwartung.
Und erst als er die Fallreeptreppe erstiegen hattel Louis
Kurmann dünkte sich in einer Märchenwelt. Diese eleganten Treppen,
Gange und Kabinen! Er hatte sich eine Fahrkarte zweiter Klasse
genommen und wurde von einem Matrosen in die betreffende Kabine
geführt, wollte aber gar nicht glauben, daß das wirklich seine Kabine
sei. Auher einem Bette befand sich da noch ein Sofa, ein Wasch-
tisch und ein Schränkchen. Es war ein allerliebstes kleines Zimmer.
„lIch habe aber zweiter Klasse.“
„Jawohl. Das ist auch eine Rabine zweiter Klasse.“
„Bleibe ich denn da allein ?“
„Ja; die meisten unsrer Passagieère sind ausgestiegen, und jetzt
herrscht an und für sich geringer Verkehr. Da werden die Sofa-
betten nicht benutzt. Dort, mein Herr, ist der Speisesaal der
zweiten Klasse; in dieser Richtung geht es zum Rauchsalon, und in
der Mitte sind die Badekabinen. In einer Stunde wird das Diner
aufgetragen.
Wie das alles so grohartig klang! Welch eine Höflichkeit und
Liebenswürdigkeit der Mannschaft!
Mit einem Male erstrahlte die ganze „Auguste Viktoria“ in
elektrischem Lichte. Dadurch wurde der Glanz und Reichtum
des Schiffes erst recht erkennbar. Louis vandelte nach dem Teile,
der die Rĩume der ersten Klasse enthielt. Als ein Schiffsoffizier
merkte, dab er diese gern besichtigen möchte, meinte derselbe
freundlich: „Solange das Schiff vor Anker liegt und das Diner noch
nicht begonnen hat, dürfen Sie sich ohne Scheu überall umsehen.“
Louis trat in den Speisesaal der ersten Klasse und blieb vollständig
218 —
überrascht, kast sstarr vor Bewunderung, stehen. Das vwar ja ein
Zauberschloß, ein Feenpalast! Der Schmuck an Gemãlden, an ver-
goldeten Schnitzereien, an kostbaren Einlagen usw. war aber auch
wirklich fabelhaft. Der Knabe hatte ja bisher gar keine Vorstellung
von einer solchen Pracht gehabt. Uberall sah er sich um, und jeder
Blick zeigte ihm neue Schätze. Diese Spiegel, diese geschnitzten
Mõbel, diese ũüberreichen Samtvorhänge!
„Ja, jetzt glaube ich es gern,“ sprach er zu sich selbst, „was
mein englischer Reisegenosse sagte, daß dieser Dampfer einer der
schönsten auf der Erde ist. Er wird wohl der allerschönste sein.
Ein deutscher Dampfer! Ich hätte doch nie gedacht, daß die Deutschen
solche Schiffe besitzen.“ Unter solchen Gedanken stieg er zu dem
Brũückendeck empor und kam zum Damenzimmer. Die Tür stand
offen; er sah hinein. Da wubßte er gar nicht mehr, was er sagen
und denken sollte. Die vunderbaren Samtmöbel mit ihren schwellen-
den Kissen, die herrlich gearbeiteten Schränkehen und Tischehen,
die entzückenden Gemalde und Blumen, das kostbar geschnitzte
Klavier: alles war wvirklich da, er träumte nicht.
Die Glocke störte ihn in seinem Sinnen; sie rief ihn zum
Mittagsmahl. Abends spielte die Schiffskapelle schöne Stücke, und
Louis lauschte mit tiefempfundener Vonne den erhebenden Weisen.
Er kam sich wirklich wie ein Märchenprinz vor.
3. Aueh am folgenden Morgen fand seine Bewunderung neue
Nahrung. Drei Schornsteine und drei Masten ragten auf dem Dampfer
empor. Die „Auguste Viktorias hatte ein Brückendeck, ein Ober-
deck und ein Hauptdeck; zehn große Rettungsboote hingen an den
Seiten des ersteren, und was den Knaben am meisten überrasehte,
war, daß der Dampfer zwei Schrauben führte, statt der einen, welche
die übrigen Schiffe, dié man sah, in Bewegung setzte.
Nun erkundigte er sich bei einem der Schiffsoffiziere nach den
Maßen des riesigen Dampfers und erhielt sofort die liebenswũrdigste
und genauste Auskunft.
„Die Auguste Viktoriafs ist 150 m lang und erreicht eine
Schnelligkeit von vier deutschen Meilen, also etwa dreißig Kilometer
in der Stunde“, bemerkte der freundliche Schiffsleutnant. „Das wird
dureh Schiffsmaschinen von 13000 Pferdekräften erreicht. Auber
den beiden groben Maschinen für die Schrauben betinden sich noch
vierzig kleinere Dampfmaschinen zu andern Zwecken an Bord.“
Louis fragte weiter: „Vas kostet wohl so ein Dampfer?“
219 —
„Etwa fünk Millionen Mark, weil wir eine sehr kostbare Ein-
richtung haben.“
„Das glaube ich gern. Es werden aber die Fahrten aueh sehr
viel kosten?ꝰ
„O ja. Eine Reise von Hamburg bis New Vork erfordert allein
240 Eisenbahnwaggons Kohlen. Jeder Vaggon hat 100 Doppel
zentner Kohlen. Das gibt eine hübsche Zahl.“
„Eine riesige Zahl. Venn aber so ein Schiff untergeht! Welch
ein Verlustl
„Es ist kaum denkbar, daß die Auguste Viktoria untergehen
kann. Das ganze Schiff ist in elk wasserdichten Abteilungen her-
gestellt und hat überdies einen doppelten Boden. Dadurch ist ein
Sinken unmöglich gemacht. Und gegen einen Brand schützt uns
einerseits die Bauart aus Stanl und andrerseits die strenge Manns-
zucht, die auf allen deutschen Schiffen herrscht. Also Sie sehen,
nach menschlicher Berechnung kann unsrer Auguste Viktoria‘, die
ihren Namen nach unsrer erhabenen Kaiserin führt, nichts zustoben.“
4. Die Fahrt der „Auguste Viktorias verlief anstandslos. Schon
am Mittag nach dem Verlassen des Hafens von Southampton ge-
langte man aus dem Kanal in die Nordsee. Der Vind machte sich
dort heftig auf; aber auf dem großen, starken Schiffe merkte man
nichts davon. Der Tag und die folgende Nacht vergingen ohne be—
sonderes Ereignis, und am nãächsten Morgen tauchte links der rote
Fels von Helgoland, bald darauf das Feuerschiff, dann der Leucht-
turm von Neuwerk, nun der von Cuxhaven und zuletzt Cuxhaven
selbst auf. Mit verlangsamter Fahrt lief hierauf die „Auguste Vik-
toria* in die Elbe ein. Die Städte Glückstadt und Stade, viele lieb-
liche Dörfer, das villenreiche Blankenese zogen vorüber, und jetzt
fiel der Blick des neugierig um sich sehenden Louis Kurmann auf
die Türme und Kuppeln, auf die riesigen Lagerhäuser, Speicher und
Fabrikgebãude Hamburgs und auf ein ungeheures Hafengewühl.
5. Vor seinem staunenden Auge entrollte sich ein Bild der
mãchtigsten deutschen Handelsstadt und des gewaltigsten und ver-
kehrsreichsten Hafens des europäischen Festlandes. Je mehr man
stromaufwärts dampfte, desto betäubender, desto verwirrender er-
schien das bunte Treiben auf dem breiten Strome mit seinen zahl-
reichen Nebenhäfen, eingemauerten Buehten und einmündenden
Kanãlen. Das jagte hierhin und dorthin, das dampfte kreuz und
quer durcheinander. Hier zogen kleine Schleppdampfer gewaltige
220
Segelschiffe stromaufwärts; dort steuerte ein riesiger Passagier-
dampfer die Elbe hinab. Dazwischen huschten gleich flinken Möwen
kleine Dampfjollen hinduren, und geschickt wie glatte Schlangen
wanden sich Ruderboote mitten zwischen den groben Ungetümen
von Dampfern hindurch. An den Kais in eigens gemauerten kleinen
Häfen und vor den mächtigen Speichern lagen in ungezãhlter Menge
Lastschiff an Lasstschiff, Frachtdampfer an Frachtdampfer, und weiter
oben tauchte ein ganzer Vald von Mastbäumen der dort liegenden
Segelschiffe auf. Soweit das Auge reichte, ein seemãännisches
Treiben, ein Leben, ein Hasten und Arbeiten, daß Louis schon durch
das einfache Schauen in immer gröbere Erregung geriet.
6. Jetzt stoppte die „Auguste Viktoria““. Die Ankerkette rasselte
herab, das Schiff vurde beigedreht und legte am Amerikakai an.
Bald waren alle polizeilichen Forderungen erfüllt. Louis eilte, so
rasch er konnte, ans Land. Der freundliche Schiffsleutnant hatte
ihm ein bescheidenes, aber gutes Gasthaus genannt, und eine Droschke
brachte ihn dorthin. Er hatte sich fest vorgenommen, in Hamburg
zu übernachten, denn er wollte nochmals den Hafen sehen. Kaum
daß er sich Ruhe gönnte, etwas zu genießen. Dann eilte er schnell
wieder an den Hafen. Einen vorübergehenden Herrn fragte er, wie
er am besten einen guten UÜberblick über den Hafen gewinnen könne.
Der Hamburger gab ihm Bescheid:
„Sie steigen am besten dort an der Drehbrücke in eine Dampf-
jolle und bleiben darauf so lange, bis sie wieder an derselben
Stelle landet. Dann haben Sie eine etwa drei Viertelstunden
dauernde Rundfahrt dureh den ganzen Hafen gemacht, und das alles
kostet nur zehn Pfennig.“
7. Louis befolgte sofort den höflichen Rat und stand wenige
Minuten später auf der vordersten Spitze einer solchen Dampfjolle.
Jetzt ging die Fahrt los. Hei, wie der scharfe Schiffsschnabel die
WVogen teilte, wie die Spritzer bis zu Louis heraufkamen und ihn
ins Gesicht trafen! Das störte ihn aber nicht. Im Gegenteil!
Er kam sich wie ein Lotse vor, der auslugt; er sog die nasse Luft
mit wahrem Wonnegefühl ein, er fühlte sich geradezu glũcklich.
Und was er wiederum alles, und zwar diesmal aus nächster Nãhe
sahl Die Jolle dampfte von einem Kai zum andern; sie kuhr an
mãchtigen Lagerhäusern vorbei, vand sich durch wahre Straben von
Schiffen und besuchte die verschiedensten Häfen und Kanäle. Da
erkannte man wieder dieses fortwänrende Kommen und Gehen von
221
Schiffen aller Art. Beim Löschen und Laden erblickte man die
Schaàtze der Alten und Neuen Welt. In allen nur denkbaren Sprachen
sehwirrte und rief es durcheinander. Mächtige Kräne hoben die
Lasten empor; auf den Rais standen ganze Eisenbahnzüge und
brachten dicht an die Schiffe heran ihre Fässer, Kisten und Ballen
oder nahmen solche in Empfang; überall herrschte das regste
Leben, die angestrengteste Arbeit. Dazwischen heulten die Dampf-
pfeifken von Schiffen, die Platz verlangten; schrill erschollen die
Pfiffe der Lokomotiven, Taue knirschten, Ketten rasselten, Maste
ãchzten, eingeladene Fässer polterten, Vasserstrahlen aus den Schiffs-
pumpen plãtscherten oder zischten aus Ventilen, und die Schrauben
der Dampfer rauschten. Es war ein betäubender, ein unbeschreib-
licher Lärm. Bei dieser Fahrt bekam Louis eine Vorstellung von
der Bedeutung des ungeheuern Verkehrs, der sich an diesem Mittel-
punkte des überseeischen Handels vereinigt und Hamburg zur
ersten Handelsstadt des europaischen Festlandes gemacht hat.
Karl Tanera. GDer Freiwillige des Iltis.)
141. Ein Tag auf dem Marschhose.
1. Möge mich der geneigte Leser auf einen groben Marschhof
echter Art, wie er mir im Geiste vorschwebt, begleiten, um ein an-
schauliches Bild von dem Leben und Treiben dort zu erhalten. Wahlen
wir zu unserm Besuche die Zeit gegen Ostern, wo noch Winter- und
Frũhlingsarbeit zusammenfallen.
Es ist frühmorgens. Die alte Hausuhr im Vorplatz, deren
hohes, schnörkelreiches Holzgehäuse im Laufe der Jahre fast schwarz—
braun geworden ist, und die dem Hause schon manche frohe und
traurige Stunde gemeldet hat, schlägt eben fünf; aber seit länger als
einer Stunde herrscht schon überall das rührigste Treiben. Auf der
Diele dreschen eben vier Tagelõöhner das letzte Korn; eine Magd
schlägt die Garben um und schwingt dann und wann auch wohl selbst
rüstig den Flegel. Die andre Magd hat eben gemolken und trägt
die Milch in die Kiche, wo die zwanzigjährige, älteste Tochter des
Hauses, ein umsichtiges und still emsiges Mädchen, sie in Empfang
nimmt und durch ein blankes Messingsieb mit eingelegtem Tuch in
flache, hölzerne Bütten seint. Auf dem Herde aber flammt unter dem
Kessel mit der Morgensuppe schon ein lustiges Feuer. Es gibt
meistens Buttermilchsuppe, Grũütze oder heihe, sũhe Milch, in die
Schwarzbrot gebrockt wird
9519
— ⸗
— —
B
Aus dem Pferdestall dringt Lärm, Wiehern und Schlagen der
Ackerpferde, dann lautes Schelten des Grobknechts mit dem vierzehn-
jährigen Jungen; denn achon seit zehn Minuten hat die alte, braune
Lotte kein Futter mehr in ihrer Krippe, Auch der Sohn des Haus-
herrn, der unterdes aufgestanden ist, tritt in den Stall, sieht alles nach
und nimmt redlich am Schelten teil.
2. Aber plötzlich ertönt ein Zauberwort, das allem Leben und
Treiben eine andre Gestalt gibt. Aus der halb geöffneten Vorplatztũr
steckt nämlich die eine Magd ihren Kopf und ruft laut mit heller
Stimme die Diele hinab: Rinkamen! — Wat eten!“ Noch ein paar
Schlàge — und das Geklapper der Drescher verstummt; schnell wird
noch einigen Pferden neues, wohlgenäbtes Häcksel eingeschüttet, und
in wenigen Minuten sitzt alles um die grobe, dampfende Zinnschüssel
mit sũßer, ausgekochter Milech und wartet, bis der Grobknecht, der
eben mit gewaltiger Arbeit vom mächtigen Schwarzbrot daumendicke
Schnitten abschneidet, mit seinem Werke fertig ist. Schnell ist die
Schũssel vollgebrockt und nun alles in vollem Essen; kaum ein Wort
wird gewechselt. Noch eine halbe Stunde — und man ist satt. Was
noch in der Schüssel blieb, bekommt der mächtige Hofhund, der
Liebling des Grobknechts. Die hölzernen und zinnernen Löffel
werden jetzt am Tischtuch abgewischt, und mit Gepolter bricht
man auf.
3. Der Sohn des Hauses hat indes seine Morgenkost allein ver-
zehrt; denn nur im Felde ibBt er mit den Leuten. Und wieder geht's
zum Stalle! — Die Krippen sind alle leer gefressen. Jetzt die Pferde
heraus und angeschirrt! Zwei werden vor den Wagen gespannt, auf
den man eben ein paar Eggen und Saäcke mit Saatgerste gelegt hat.
Der Sohn fährt; der Grobknecht und zwei Jungen reiten hinterdrein,
und so trabt der Zug dem unfernen Ackerfelde zu, wo gepflügt und
gesãt werden soll.
Der Sohn hält den einen, der Knecht den andern Pflug, jeder
mit vier Pferden bespannt, die ein Junge treibt. Zu Hause haben
auch die Drescher wieder begonnen, und ein Knecht bringt den
Dunger aus den Viehställen. Eine Magd arbeitet am Buttersab, und
eine andre, kleinere wäscht erst die Milchgefäbe und geht dann in
der Küche der Tochter zur Hand. Diese bereitet den Kaffee; denn
auch die Alten haben sich jetzt erhoben und machen ihren Morgen-
gang durch die Wirtschaft. Er, im Flausrock, in gewirkter Schlaf-
mũtze und Pantoffeln geht durch Diele, Stall und Scheunen; die gute
223 —
Mutter aber, angetan mit einem saubern, dunkelfarbigen Morgenrock
von Kattun, sieht nach Küche und Reller, Milch- und Speisekammer,
bis der dustende Kaffee in blanker Messingkanne Eltern und Tochter
auf ein halbes behagliches Stündchen in der saubern, sehr einfachen
Wohnstube wieder vereinigt. Schlieblich langt der Alte nach seiner
Morgenpfeise, die letzten Zeitungen und Anzeigeblätter hervorsuchend.
Die Mutter aber berät mit ihrer Tochter über das Mittagsmahl.
4. Wieder eine Weile spãter — und die gute Mutter hat sich ans
Spinnrad gesetzt und spinnt weiche Wolle, zu warmen Socken für
den lieben Sohn bestimmt. Die Tochter ist in der Küche, und den
Vater sehen wir mit langem „Rlubenstook“ auf der Schulter das
Haus verlassen. —
Eine stattliche, Achtung gebietende Erscheinung ist der Alte. Milde,
herzgewinnende Treuhberzigkeit schaut ihm aus dem Auge, aber doch
gepaart mit dem würdigsten Ernst. — In seiner Jugend, ja bis an
sein vierzigstes Jsahr war er der tüchtigste Arbeiter. Oft und gern
redet er davon, wie er habe schaffen müssen, wie strenge er von
seinem seligen Vater in Zucht gehalten worden sei, wie kein andrer
im Dorsfe so genau habe pflügen können. — Aber nun hat er seit
langen Jahren keine Arbeit mehr angerührt. Er ist jetzt ein Sech-
ziger. Seine Gestalt ist sehr ins Korpulente gegangen; die Parbe seines
Gesichtes ist weib und zart, die Haut seiner Hände äuberst dünn und
weich geworden. Aber den echten Hausmann sieht man ihm doch
auf den ersten Blick an; denn nur ein freier, reicher Bauernstand ver-
mag solche würdigen Gestalten zu erzeugen und auszuprägen. Folgen
wir jetzt seinen Schritten.
Er springt mit seinem Klubenstock zwar behutsam, aber trotz
seiner sechrig Jahre noch immer recht behende über ein paar Gräben
und wendet sich zuerst zu seinen Weiden. Allerlei Jungvieh ist bereits
drausßen, nur die dreijährigen Ochsen und die Milchkũhe und jungen
Kãlber sind noch im Stalle. Aber prächtiges Gras schon und ein
herrliches Wetter; · wenn das noch etwas anhält, denkt er, will er
vor „Maitag alles hinausjagen. Er springt wieder über einige Gräben
und kommt zu dem Acker, wo sein Sohn sät und der Knecht gerade
dabei ist, das letzte Stũck zu pflũgen.
„Na, wo geit't jo dermitꝰ?“ fragt er.
„God, Herr; dat Land ward sein,“ antwortet freundlich und kurz
der blonde, kräftige Knecht, ohne sich aufzuhalten, „vor Middag krieg
ick't rum.“
224 —
„Paßt man god op!“
„Ja, Herr!
Jetzt redet er mit seinem Sohne, der eben das Stück vollgesãt
hat und sich nun kräftig und gewandt auf eins der Pferde schwingt,
die vor die Egge gespannt sind. Fort geht's wieder, und der Junge
mit der zweiten Egge hinterdrein.
Lange schaut der Alte dem Sohne zu. Er mag sich wohl still
in der Seele freuen, zu sehen, wie der schlanke und krastvolle Junge
so nobel und stattlich zu Pferde sitzt, wie frisch und arbeitsfreudig er
von früh bis spät drauf und dran ist, und wie er gepflügt und die
Furchen gelegt hat, eine um nichts breiter als die andre und alle so
schnurgerade, dab man in Haarbreite eine Büchsenkugel an jeder hin-
schieben könnte; vor allem aber, wie brav und wacker er ist, welch
ein Herz in ihm steckt. Ja, das weiß er sicher, der wird dem ur-
alten, unbefleckten Namen seiner Familie keine Schande machen.
MNa, ade, Rinners; seht to, dat yert god briegt ruft er 2um
Abschiede.
Ade, Herrl rust der Grohknecht zuruek.
So verlãht er seinen Acker, sich wieder dem Dorfe zuwendend.
5. Aber nach Hause geht's noch nicht gleich. Zuvor wird noch
ein Stündchen im Wirtshause verplaudert. Da kommt denn gleich
die Rede auf das Wetter, auf den Stand des Winterkorns, auf die
schõône Saatzeit, auf Land-, Vieh- und Kornpreise, auf die letzten Ver-
ordnungen des Amtes oder der Wasserbaubehörde usw. Oft wird auch
ein Handel abgeschlossen, so daß man diese Morgenzusammenkünfte
recht wohl die Börsenstunde der Hausleute nennen könnte. Mit der
heranrückenden Mittagsstunde geht die Versammlung regelmäbig aus-
einander; denn zwölf Uhr ist in jedem Hause stehende Essenszeit.
6. Seit einer halben Stunde sind auch die Pflüger heimgekehrt,
und eifrig wühlen die Pferde in den vollen Krippen. Von den Lippen
einer Magd ertöõnt abermals hell der herzerfreuende Ruf: „Rinkamen!
Wat eten!
Alles eilt an den „Soot Brunnen), Hände und Gesicht zu
waschen, dann in die Gesindestube, wo auf blanker, mächtiger Zinn-
schussel ein wahrer Berg von Klöben, Kartoffeln undd Wurzeln und
dabei auf einer andern Schüssel ein paar dicke, leckere Speckstreifen
dampfen. Der Grobknecht führt wie immer den Vorsitz, schneidet
Brot und teilt den Speck. Ihm zunächst sitzt der zweite Knecht,
dann solgen die Jungen und die Tagelõöhner und an der andern Seite
225 —
die Magde nach dem Alter ihrer Dienstzeit im Hause. In der Wohn-
stube iDt die Familie des Hauses ebenfalls sehr einfache, derbe Kost,
ost dasselbe, was die Leute bekommen, wohl etwas feiner zubereitet.
Bis zwei Uhr isst Rastzeit, denn die Pferde müssen doch mit Rube
fressen. Die Mägde waschen die Schüsseln, die andern Leute ruben
oder schlendern umher. Vater und Mutter schlafen ein Stündchen,
und der Sohn nimmt vielleicht ein Buch zur Hand.
7. Bald ist alles von neuem in Tatigkeit. Die Diele dröhnt wieder
vom Talkte der Drescher, später vom rollenden Getöse der Staub—
mũhle, denn noch heute soll das letzte reine Korn auf den Boden.
Vater und Mutter sind auch wieder da. Gegen drei Uhr bringt die
Tochter den Kaffee und nimmt eine weibliche Handarbeit vor. Neben
ihr sitzt die wieder emsig spinnende Hausfrau. Der Alte schlürst be—
haglich zur langen Pfeise den duftigen Inhalt seiner grohen Geburts-
tagstasse, schlendert hierhbin und dorthin und steht wohl später mit
Kreide und „Streichholz“ in der Hand auf der Diele, das Getreide
„aufmessend“.
8. So wird's Abend. Das Pferdegetrappel meldet die heimkehren-
den Ackerer, und bald sitzen die Leute wieder um ihre Schüssel mit
der Abendmilchspeise. Diese besteht sast täglich aus Gerstengraupen,
in Buttermilch dick gekocht und mit sũher Milch übergossen, der s0-
genannten „Schälgerste“. Wie schon vom NMittagsmahbl regelmäbig
ein paar arme RKinder des Dorfes ihr Teil erhielten, so sehen wir auch
jetzt wieder einige in der Küche oder auf dem Vorplatz ihre Leller
leeren. Auch ein Töpfchen voll süber Milch bekommen sie mit nach
Hause für ihre Eltern; denn jeder ordentliche Bauernhof hat immer
einige bestimmte Arme, die sich auf ihn sstützen und tausend Wohl-
taten von ihm genieben.
Der kleine Rest des Abends wird auf verschiedene Weise hin-
gebracht. Die Tagelõhner verlassen den Hof. In behaglich warmer
Gesindestube sitzen die Magde beim schnurrenden Spinnrade. Der
Junge schalt für morgen RKartofseln oder schneidet Futterrüben. Nach-
dem der Grobknecht drauben sein Häcksel geschnitten hat, nimmt
er vielleicht noch eine Drehspindel zur Hand und dreht mit Hilfe
des andern Jungen Stricke von Hede (Werg) zum häuslichen Ge-
brauch, oder er sitzt mit ein paar besuchenden Bekannten beim Karten-
spiel, vielleicht auch mit einer dampfenden Pfeise bei einem Buche
voll schöner Geschichten.
Ich selbst hatte so einen lieben, wackern Knecht, der an solchen
Abenden meistens den andern vorlas, mit ihnen auch wohl ein Lied
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubtg
15
2
226
sang, und meine lampenhelle, warme Gesindestube bot oft das erquick-
lichste Bild eines friedlichen, man könnte fast sagen familienhaften
Zusammenlebens, so dabß ich oft und gern darin geweilt habe.
Mit dem Schlage zehn begibt sich alles zur Ruhe, und tiefe Stille
herrscht alsdann im ganzen weiten, sonst so rührigen Hause. Nur
die gute, sorgsame Mutter macht noch einen späten Rundgang durch
die Räume, überall nach Feuer und Licht schauend. Ein Mutterauge
ist scharf und wacht gern am längsten.
Das ist ein Tag auf dem Marschhose
Bauernlebens.
— ein Stũuck norddeutschen
Hermann Allmers. (Marschenbuch.)
142. Im niederdeutschen Moore.
L. lin Erübjahr, venn die Sonne wieder Kraft gewinnt und die
Winterfeuchtigkeit aus dem Boden trocknet, ziebt der Moorbewohner
hinaus auf seinen Acker. Im Herbst hat er schon das Heidekraut
abgestochen und den Boden zerhaekt. Nun hniet er nieder auf der
schwarzbraunen, vurzligen Erde und zündet ein Bund Stroh an,
das eêx über sein Veld zerstreut. Langsam fängt der torfige Boden
Feuer. Oft mub es noch hier und da mühsam angefacht werden,
meist aber bläst es der Frühlingswind schnell an. Damit der Wind
cdie Hammen nicht zu weit trage und das wobltätige Peuer in
blinder Raserei Haus und Hof, Baum und Zaun zerstöre, wird an
der dem Winde entgegengesetzten Seite des Moors ein breiter Schutz—
graben ausgehoben. Wenn das FVeld am Rande des Grabens brennt,
werfen die Bauern die torfigen Schollen mit langen, zweizinkigen
EForken über das Moor. Diese brennenden Schollen entzünden dann
nach und nach das ganze Beld, vobei der Wind den Bauern, die
einige Meter hbinter dem FPeuer hergehen, den Rauch ins Gesicht jagt.
Ist das Moorbrennen beendigt, so hat deèr Moorbauer seine Prub-
jahrsbestellung hinter sich. Pflügen und Eggen ist ihm erspart. Er
braucht nur den Buchweizen in die Aseche zu säen und dann im
Watsommer zu ernten.
2. Diese unzulängliche Beackerung zieht natürlich nur das aus
dem Boden, was der Torfbauer gerade notwendig braucht. Es ist ein
Leben in Dürftigkeit und übermäbiger Bescheidenbeit, das ihm durch
das Moorbrennen gestattet vird. Da aber schlieblich alle Menschen
nach größeren Genüssen streben, so begnügt sich auch der Moor-
bauer nicht mehr allein mit dem Ertrage der gebrannten Belder.
Auch er führt nach und nach eine regelrechte büuerliche Bearbeitung
227
cdles Bodens ein, die natürlich ihre
dem Achker entsprechenden Beson—
derheiten hat. Vor allen Dingen
müssen Gräben durch das Gelände
gezogen werden, damit der ausge—
hobene Lorf, der den ertragfähigen
Ackerboden oft in einer Machtig-
Leit von mehreren Metern bedeckt,
fortgeschafft werden kann nach den
Städten, die am Rande des Moores
liegen. Bremen ist eine Hauptab-
nehmerin der Torfbauern.
3. Im Prübjahr beginnt das
Dorfgraben. Es hostet ebrlichen
Schweib. Im sommerlichen Sonnen-
brande steht der Bauer in den Torf-
gruben; mit einem langen, messer-
ähnlichen Spaten schneidet er in
die schwarze, brennstoffhaltige Erde,
zerteilt sie in regelmäbige Würfel
und hebt sie mit kunstgerechten
dtichen heraus. Vorher mub er
aber erst die zuhe Grasnarbe, die
„Bunkerde?“, abheben und an einer
freien Stelle aufschichten. Diese
Bunlerde wird spater vieder über
den Acker zerstreut. Ein Mann,
der zur Seite des Dorfstechers steht,
hebt die Torfstücke mit einem Spa-
tenstich heraus. EDine Bauernfrau
fährt den Torf auf Karren oder
auf äleinen Feldwagen, deren Rä—
der auf Holzschienen laufen, nach
dem Stapelplatz. Dort wvird der Lorf
in kleinen Haufen aufgeschichtet
und von der auf die Heide nieder-
brennenden Sonne getrocknet. Die
über dem Moore brütende Hitze
dõrrt ihn wie in einem Ofen. Wenn
er öfter umgesetzt und zuletzt in
L
2
2
—
15*
9
gröbßeren Stapeln aufgeschichtet worden ist, bekommt der Vorf bester
Güte fast die Härte des Holzes.
Aber nicht immer ist mit dem Stechen und Aufschichten die
Arbeit des LTorfbauern getan, denn nicht jeder hat den besten, dunkeln
Dorf zum Eigentum. Mancher mubß mühsam den leichten, helleren
und gehaltloseren Torf seiner Stiche mit Spaten und Hacke loshauen.
Und vwill er nur einigermaben einen Gewinn dafür erzielen, so mub
er diesen „Backtorf“ auf flachem Peld erst anfeuchten und gehörig
mit den Füben durchkneten, damit er dichter, gehaltyoller und somit
aueh wertvoller vird. Sonst kann dieser Torf nur zur schlecht be—
zahlten Streu und zur Anfertigung von Bieruntersätzen, Verbandstoffen,
Zuündsteinen usw. gebraucht werden.
4. Nicht immer sind die Torfstiche von gleicher Mächtigkeit
und Tiefe. Manche haben eine Ausschachtungsfähigkeit von acht
Meter, viele aber nur von drei und zwei Meter. Die UVorfstiche
erscheinen mit ihren steilen, dunkeln Wänden, mit ihrem brachen
Boden und den überall aufgeschichteten Lorfhaufen, die so hoch wie
die Hütten im Moor aufgestapelt sind, fast wie ein offen zutage
liegendes Bergwerksfeld. In manchen Leilen des Moors reibt sich
Torfstich an Lorfstich, eine schwarze Grube gühnt hinter der andern.
Der flache Horizont wirdd nur von wvenigen Bäumen und dürftigem
Gestrüpp unterbrochen.
In den wohlhabenderen Dörfern, die am Rande des groben
Teufelsmoors liegen, das zwischen der unteren Elbe und Weser seine
schlammige Pflanzenerde lagert, sieht es freilich anders aus. Da steigen
in den Lorfstichen Terrassen über Terrassen an. Alle sind bepflanzt,
und Pferde ziehen Pflüge über die gut gedüngte Erde. Aber nicht
überall trägt der nachgiebige Boden die Last des Pferddes. Wohl hat
cder Torfbauer bereits einen Ausweg gefunden. EDbenso wie er selbst
auf breiten Holzgchuhen über das Moor geht, bindet er auch seinem
Pferde Holzschuhe unter die Hufe. Aber das sind dürftige Notbehelfe.
5. Die ganze Arbeit im Moore hat, wo nicht neuerdings soge-
nannte Moorkulturen entstanden sind, noch etwas Urwüchsiges; dies
zeigt besonders die im Herbst vor sieh gehende Beförderung des
Dorfes. Schmale, schwarze Kähne, die etwa eine Länge von sieben
bis acht Meter haben, ziehen die Kanäle entlang. Die geradlinig
gestochenen Wasserwege sind meist gerade so breit, dab zwei einander
begegnende Kähne sich ausweichen können. In den Gräben mub
der mit ungefäühr 8000 kg Torf beladene Kaln mit der Ruderstange
geschoben werden, wobei der Bauer selbst in dem kühlen Herbstregen
229 —
schwitzt. Erst auf der Hamme, einem Moorflusse, der einem Bronze-
strom gleicht, Kann der Bauer sein braunrotes Segel aufsetzen.
Wenn dann eine Reihe solcher Lorfkühne durch die saftgrünen, meilen-
weiten Hammewiesen fährt und die braunen Segel sich von dem tief-
blauen Himmel abheben, so gevilhrt das ein überaus farbenreiches Bild.
6. Die Farbe hat überhaupt ein Heim im Moore gefunden.
Wenn im Sommer die Hammevwiesen von vielen Hunderttausenden
blühender Nelken überwuchert sind, so ist das ein Glühen und
Leuchten voller Pracht. Und der Herbst im Moore! Die bei jeder
Hutte, bei jedem Hause stehenden Bäume schillern so bunt vwie
Riesenstrũube. Das Fachwerk der Bauten leuchtet mit seinen hell-
grünen Balken und roten Ziegeln. Die Wiese steht tiefgrün, und
an den Rändern der Wege, die durch das mit ersterbendem, violettem
Heidekraut bestandene Moor führen, glüht das Rot der Brombeeren,
Hagebutten und Ebereschen aus dem noch grünen Buschwerk. Die
hellen Birken, die längs der schwarzen, moosberandeten und von
kleinen Brücken überwölbten Kanäle stehen, streuen ihre mattgoldenen
Blatter auf das grüne Ufer und über das dunkle Wasser. Das trägt
die Blätter langsam davon, vorüber an den aus Beisern geflochtenen,
von graugrünem Moos umsponnenen Scheunen und Schutzdächern der
Torflcuhne, vorüber an den weichen, mit Eöhren bestandenen Sand—
hügeln mit den kupfern leuchtenden Stämmen und den schwarzgrünen
Wipfeln. Jede Jahreszeit, jede Stunde mit ihrem Licht- und Sonnen⸗
wechsel, mit Dimmerung und Mittagsklarheit bietet neue Reize.
Hans Ostwald. (Die Woche.)
143. Abseits.
Wergleiche das Bild auf der nächsten Seite.)
1. Es ist so still. Die Heide liegt
im warmen Mittagssonnenstrahle;
ein rosenroter Schimmer fliegt
um ihre alten Gräbermale.
Die Kräuter blühn; der Heidedust
steigt in die blaue Sommerlufst.
2. Laufkäfer hasten durchs Gesträuch
in ihren goldnen Panzerröckchen;
die Bienen hängen Zweig um Zweig
sich an der Edelheide Glöckchen;
die Vögel schwirren aus dem Kraut;
die Luft ist voller Lerchenlaut.
3. Ein halbverfallen, niedrig Haus
steht einsam hier und sonnbeschienen;
der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
behaglich blinzelnd nach den Bienen;
sein Junge auf dem Stein davor
schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.
4. Kaum zittert durch die Mittagsruh
ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
dem Alten fällt die Wimper zu,
er träumt von seinen Honigernten.
Kein Klang der aufgeregten Zeit
drang noch in diese Einsamkeit.
MNheodor Storm
220
5*
5
*
—
2
2
*
—
*
2
—
S
2
—
2
5
231 —
144. Die Halloren.
I. Nalle ist eine sehr alle Stadt, deren Geschiohte eng mit dem
dortigen Saluerh, der Saline, veruvebt ist. Im lal“, einer tief ge-
legenen Sltelle der adt, qullt dus salαiq Masser, Sle genanmnt,
in vier Quellen oder Bornen aus der Erde. Diese Salaquellen wuren
fruher Vgentum einiger ungesehener Pamilien der Stadt, dio Pfunmer
genannt rurden nach den ehernen Pfunnen, in denen das Salæꝝ gesotten
ν Das Sieden fund friiher, ehe die großen Siedehciuser erbau
wuren, in hleinen Gebuden, Roten gendnnt, Slott. Iede dieser Rolenm,
deren es iber hundert gub, enthielt eino Pfanne, in dor die Sole mil
Strohfeuer eingedaumpft sur Venn das Vasser verdampft uw—,
Mieben die Salulristalle in der Siedepfunne aurÊν Dur Sletiges
Dmrhren mit langen Rruchen uurde beuwirsit, duß das Sal Floine
Köornchen bildote.
2. Die Arbeiter in den Salinen, die sogenaunnten Salgirlier, Sind
nun die Halloren, die sich selber die Bruidersohouft der Salauuirler
m Tul u Hulle nennen. Die Geschichte der Houlloren reicht weit
m die Vergungenseit urich. Uam nimmt an, daß sie von den
Franken abstammen, die Karl der Große ums Jahn 800 r A—
beutung der Salxquellen un die Sadle geschict hat.
LEinst aouren die Halloren eine Stattliche Gemeinsehaft, so daß
sie ums Jalir 1450 an 700 streitbare Munner stellen Lonnten. No hatten
ine besondere Gerichtsbaurheit, das Talgerich, dem eim Salugruf vor-
stund. bber die vier Salaquellen waren Bornmeistor gesetat, die die
Angelegenneiten der Halloren ordneten. Seit der Ausberbung des grosen
Slonsalælagers bei Staßfurt ist jedoch die Geuinm des Sl s
den hallischen Sulabrunnen nicht melir lohnend. Der Betrieb ist dau—
her noch und nauen immer melir eingeschrumset wον. Au die Zui
der Halloren ist infolgedessen selir ανmναανο S bν
jetat etivs noch 100 in der Saline arbeitende Unner. Viele von
nen hauben sion andern Berufsarten auααον mννο. So haben
sie jJetut die Badeunstalten in Halle unter sioh un geniesen uls
Schiuimmlehrer eines großsien NHufes.
3. Die Holloren Sind ein stottlicher, hruftiger Menschenschlug
und aeichnen sieh duroh ein freies, offenes Wesen aus. Die geruöhmliche
Kleidung der Munner bestelit aus Sohihen, weißen Striumpfen, huraen
Beinzleidern und langer Meste mit 18 hugelförmigen Enoöpfen. M
232 —
rem Nautssleide gehört außerdem noch ein Dreimuster und ein langer
Roch von auffalloender, oft roter Farbe. Die eigenartige Prachi der
Hallorimnnen, au der ein mit Pels
gefttortor Rocæk und eine Pelumitue
gehörten, ist jetat mioht mehr ge-
bräuoni.
4. Bis in die neuste Zeit ha-
ben Sich manohe alle Bräuche der
Halloren erhalten. Ihrm altes Reclht
uwr , jedem neuen Landesherrn
in besonders feierlicher Weise au
huldigen. Sie erbaten sich dabei
das Leibpford des Mirsston un or
hielten es. TDer ulteste Saloirler
r> dur gααον fο—
lichor Imaug um die Brunnen ge-
halten, vobei man alle Valmen und
lnverter voruntrug. Zu jedoem
Neujalisfest orscheint einoe Gesundi-
schuft der Halloren in Berlin, die
dem Loönige die Glcnoον dor
Sulmνανονν nebst er
an Brot, Salæ, Sleiern unl Mr uberbringt. Noch jetat feiern die
Halloren alljuhrlich in Holle das Plingsthier, ein großes Vost, bei
dem vwenigstens dio Uunner noeh in α allen leνο.
sν.
Franz Hossmann. Meuer deutscher Jugendfreund.)
145. Aus der Heimat der Spielwaren.
1. Der Thüringer Wald ist das größte Puppenheim der Welt, eine
Riesenspielschachtel, aus welcher der Weihnachtsmann alljährlich auf
hunderttausend lichtüberstrahlte Weihnachtstische die köstlichen, schillernden
Gaben stellt. Denn wenn der alte, weißbärtige Herr wirklich ein festes
Heim besitzt, dessen Zugang freilich auch dem in allen Schluchten und auf
allen Bergen Vertrauten immer ein Geheimnis bleiben wird, so kann dies
nur im Thüringer Walde sein. Wenn die Waldberge ihre Hermelin—
mäntel umgelegt haben, die hohen Tannen unter der Last des Schnees
leise nach dem Frühling seufzen, wenn alles so verwunschen still liegt und
die kalten Sterne flimmernd am nächtlichen Winterhimmel stehen, dann
233 —
schreitet Knecht Ruprecht“, der Weihnachtsmann, sachte von Dorf zu Dorf,
von Ort zu Ort, und sucht und sammelt ein, den rechten Glanz dem
nahenden Feste zu bringen.
2. Die Hauptorte des Thüringer Waldes, wo Herstellung und Handel
aller Spielwaren zusammenfluten, sind das meiningische Sonneberg
mit dem benachbarten koburgischen Städtchen Neustadt an der Heide
und das gothaische Städtchen Waltershausen. Was die Ortschaften
im und am Walde an Hausindustrie schaffen, in diesen drei Städten
sammelt es sich an, wird zum Teil noch zusammengesetzt, bemalt, verpackt,
und wandert dann im Dutzend und Gros, wohlverwahrt in mächtigen,
blechausgeschlagenen Kisten, über alle Meere, zu den fernsten Erdteilen.
Alljährlich im Spätherbst treffen die Käufer aus aller Herren Län—
dern in den thüringischen Fabrikstädten ein. Da werden die neuen Muster
in Augenschein genommen, ausgewählt, und dann der Bedarf für das
nächste Jahr bestellt, oft zu vieltausend Dutzenden. Von den Besuchen
dieser Fremden hängt gar manchmal das Wohl und Wehe zahlloser
armer Familien im Walde ab. Fielen die Bestellungen reich und glänzend
aus, so gibt es Arbeit für das kommende Jahr. Blieben die Käufer aus,
so stellt sich dafür die Not ein, die ja als Hausbewohnerin des Waldes
von jeher nicht unbekannt gewesen ist. Freilich auch in guten Jahren
müssen alt und jung heran, bis in die Nacht hinein tüchtig Arme und
Finger rühren, soll das Nötigste an Brot und Kleidung nicht fehlen.
3. Unter den Erzeugnissen der Spielwarenindustrie marschiert die
Puppe voran. Millionen von Puppen werden alljährlich im Thüringer
Walde geboren, von dem schlichtesten „Täufling“ mit grobgeschnitztem
Holzkopf bis zur kleinen Modedame, die laufen, sich setzen und alle
Glieder mit Anmut bewegen kann, die singt, mit Anstand Milch trinkt,
„gute Nacht, Papa! gute Nacht, Mama!“ schnarrt und dann gähnend
die Augen zum Schlafe schließt. Aber selbst die einfachste Puppe ist
heutzutage ein kleines Kunstwerk, ein Wunderding an Geschmack und
Liebreiz gegen das, was noch vor einigen Jahrzehnten der Kinderwelt
dargeboten wurde. Vor allem aber ist die Thüringer Puppe unendlich
billig! So angenehm diese Eigenschaft auch für den Käufer sein mag, sie
wird doch nur erkauft durch niedrige Arbeitslöhne und durch den Umstand,
daß die ganze Familie bis zum Kleinsten dafür tätig sein muß. Mit—
wirkend für die billige Herstellung ist auch die Arbeitsteilung, die jeder
Hand nur eine ganz bestimmte Tätigkeit zuweist.
234
4. Es gibt ganze Walddörfer, die nur Köpfe, Arme, Beine und Ge—
lenkteile schnitzeln und formen. Der Hirt an der Bergwand inmitten
der käuenden Herde, der Chausseegelderheber im einsamen Waldhause, der
Alte, der sich auf den Steinstufen der Haustür behaglich sonnt: sie und
noch viele andre helfen dabei mit. Die Frauen nähen Lederbälge; die
kleinsten Kinder wenden sie — eine mühsame, knifflige Arbeit! — bis
in die äußersten Fingerspitzen um — das Dutzend für zwei Pfennig.
Größere Kinder füllen die Bälge mit Sägespänen. Der Sohn taucht
Kopf für Kopf, Bein für Bein, Arm für Arm in eine fleischfarbene, dünn—
breiige Tunke, Tag auf Tag, Woche auf Woche, das ganze Jahr hin—
durch. Mechanisch reiht er sie dann in niedrigen Holzkästen aneinander,
die nun rings um den auch im Sommer geheizten Kachelofen in Gestellen
aufgetürmt werden oder auch auf den Fensterbrettern längs der Hausfront
und des Gartenzauns im Sonnenschein als eigentümlicher Schmuck prangen.
Sind die mit Fleischfarbe gesättigten Köpfe trocken, so tritt der
Künstler in seine Rechte. Gewöhnlich ist auch hier alles auf geteilte
Arbeit eingerichtet, um die Fertigstellung zu beschleunigen. Da ist der
eine auf kühn geschwungene Augenbrauen gedrillt; ein andrer malt die
Augen, ein dritter die Kirschlippen und roten Wangengrübchen, ein vierter
zaubert zwei Reihen weißschimmernder Zähnchen zwischen die schwellenden
Lippen. Da sitzen Frauen und nähen Hemdchen und Wickelkissen, stricken
Strümpfe in allen Formen und Farben; wieder andre fertigen korbweise
die niedlichen Goldkäferschuhe an.
5. An jedem Sonnabend kommen dann im Winter und Sommer
Männer und Frauen mit den hochbeladenen Schiebkarren aus dem Gebirge
zur Stadt hinab, den Fleiß ihrer Hände abzuliefern, abzurechnen und neue
Aufträge entgegenzunehmen. Vom Morgen bis in die späte Nacht hinein
hat die ganze Familie emsig zum Erwerb des Notwendigsten mitgeholfen,
und wie schmal will uns der Wochenlohn trotzdem bedünken!
In den geräumigen Fabriksälen der Stadt greift nun neue Arbeit
ein, die Puppe immer mehr zu vervollständigen. Da werden die einzelnen
Glieder durch Kugelgelenke verbunden, die der Puppe alle dem Menschen—
körper abgelauschten Bewegungen möglich machen. Inzwischen sind voll—
ständige Perücken, dem Menschenhaare täuschend ähnlich, hergestellt. Nun
kommen die Puppenköpfe in den Saal, wo an langen Tischen Mädchen
sitzen, welche die Perücken den Köpfen aufkleben, um dann mittels des
Kammes und zehn spitzer, geschickter Finger das Puppenhaupt kunstvoll
235 —
zu frisieren, fast jedes in einer andern Mode. Arme, Beine und Kopf
werden nun am Balge befestigt; die Puppe wird angezogen oder muß
sich auch mit Hemd und Goldkäferschuhen begnügen. Dann wird sie noch
mit buntseidenen Bändern kreuzweise verschnürt und in einen saubern, in
der Buchbinderei der Fabrik angefertigten Karton eingesargt.
6. Bisher haben wir nur das Gebiet der Puppenindustrie durchstreift.
Welche Mannigfaltigkeit tritt uns nun erst entgegen, wenn wir die Arbeits—
stuben und -säle der andern Fabriken durchwandern, die sich die Her—
stellung der tausenderlei bunten Spielsachen zur Aufgabe gestellt haben!
In breiten Lettern prangt dort an einem vielfenstrigen, dreistöckigen Ge—
bäude die Inschrift: „Puppenmöbelfabrik“. Es klingt so einfach! Wer
aber hineintritt, wird erstaunt sein, welche Fülle von zierlichen Kunst—
werkchen uns hier im Packraum, in den Mustersälen zur Augenweide
und Herzensfreude erwartet. Da finden wir Einrichtungen für die
Puppenstube vom schlichtesten Bürgerheim bis zum Fürstenzimmer. Alle
Holzarten bis zum Ebenholz sind vertreten — wenn auch das letztere
meist nur in guter Nachahmung. — Hohe, vergoldete Spiegel mit Mar—
morplatte, die kostbarsten Möbel, fein gedrechselt, in allen Farben aus—
gelegt und in Wolle und Seide gepolstert, Waschtischchen mit bemaltem
Service und Messinghähnen für das Wasser, Himmelbetten, Schreibtische
mit den niedlichsten Schubfächern, mit Schreibmappe und Tintenfaß: alles
in kleinstem Maßstabe der Wirklichkeit nachgeahmt.
7. Wem ginge das Herz nicht auf, wenn er in die Säle tritt, wo all
die unsre Erde bevölkernden Tiere entstehen! Löwen und Lämmer halten
da friedlich Zwiesprache, Elefanten und Kühe begrüßen sich ehrbar, Hund
und Katze hocken einträchtiglich nebeneinander. Da werden die Holzgestalten
mit Fellen überzogen, Hörner aufgesetzt, Beine eingerenkt, Glasaugen von
wahrhaft täuschender Lebendigkeit eingesetzt. Ist das Tier fertig, so kommt
es auf ein Gestell mit niedrigen Rädern. Die Ziegen erhalten Metall—
glöckchen an buntem Bande; den kurzgeschorenen Pudeln überläßt man
es, durch Geschick und Gelehrigkeit sich bei den Kleinen beliebt zu machen.
Eine andre Fabrik hat sich auf die Herstellung ganzer Armeen ge—
worfen — wenn auch nur von Zinnsoldaten. Alle Waffengattungen sind
vertreten, Reiter und Fußgänger, die Artillerie mit ihren Geschützen,
Proviant- und Sanitätskolonnen. Der Matrose und der Marinesoldat
fehlen ebensowenig wie der schwarze, dürftig bekleidete Neger unsrer
afrikanischen Schutztruppe, der allerdings im Vergleich mit den andern
236 —
eine ärmliche Rolle spielt. Wir finden da „Buffalo-Bill“ mit Indianern,
Zelten und ungesattelten Präriepferden; mittelalterliche Ritter, Lagerleben
und Biwak, Krieger und Helden aller Völker und Erdteile sind hier vertreten.
8. Eine gewisse Bedeutung haben unter den Gegenständen, die den
Kleinen zur Lust und Augenweide dienen sollen, in den letzten Jahren die
Zusammensetzspiele gewonnen. Indem sie das Kind zum Nachdenken anregen,
fördern sie zugleich den Sinn für Form und Farbe und bilden darum eine
Vorstufe für das zukünftige Lernen. Nach buntfarbigen Vorlagen werden
Bilder zusammengesetzt. Die Herstellung dieser Sachen fällt der Abteilung
für Buchbinderei in den Fabriken anheim. Hier werden die sechs Seiten
der Holzwürfel beklebt, scharf abgeschnitten, geglättet und dann sauber mit
den Vorlagen in passende Schachteln gepackt. Hier entstehen auch die Festun⸗
gen, Theater und alles, was mit Papier und Leimtiegel verknüpft ist.
9. Wie oft waren diese bunten Sächelchen, all der liebenswürdige
Tand, Zeugen bitterer Not, tiefen Harms? So manche Träne, mancher
Seufzer begleitete das Entstehen einer Puppe. Aber diese will nichts
davon erzählen, wenn sie als Liebling in den Armen des kleinen Mütter—
chens ruht. Mit roten, vollen Bäckchen schaut sie die Kleine an und
lächelt, während der Tannenbaum im Schimmer heller Kerzen festlich das
behaglich durchwärmte Zimmer erleuchtet und aus den dunkeln, harz⸗
duftenden Zweigen leise und doch vernehmbar alte, selige Jugendträume
hervorschweben, die das Herz so tief bewegen, und die keiner wieder
vergißt, wenn auch Alter und Sorgen ihm das Haar bleichten; denn
sie bedeuten die Erinnerung an die reinsten und schönsten Tage eines
Menschenlebens.
Angust Trintus. (Im Waldesrauschen.)
146. Der Ursprung der Brockenflüsse.
1. Weit oben in dem Hochgebirge des Harzes, 700— 900 m
über dem Meere, hat die sorgsame Hand der Natur kunstreiche und
unerschöpfliche Wassersammler angelegt, aus denen die meisten oder
doch bedeutendsten Flüsse des Gebirges ihre Gewässer empfangen.
Dort auf dem Gipfel des Brockens, des Königsberges und des Bruͤch—
berges hat sich auf den granitenen Grundlagen der Berge eine mächtige
Torfschicht angesammelt, die aus erstorbenen und verrotteten Moosen,
Flechten und Gräsern entstanden ist. Von neuen Pflanzen ähnlicher
Art durchwachsen und überzogen, bildet jene Torfschicht mit diefen
237 —
gemeinschaftlich eine lockere, schwammartige Decke, die jegliche Feuchtig—
keit begierig einsaugt. Die Wolken, die fast immer um diese Gipfel
schweben oder auf ihnen lagern, tränken diese Erddecke so reichlich
durch ihre Feuchtigkeit, daß eine weite Bruchgegend entsteht, die als
die Mutter der Harzflüsse zu betrachten ist.
. In Tausenden von kleinen Rinnsalen entweichen die Ge—
wässer, deren Übermaß jener schwammige Boden nicht zu halten ver—
mag, dem hohen Bruche. Die Rinnsale vereinigen sich zu kleinen
und dann zu größeren Rinnen, die Rinnen zu Bächlein, die Bäch—
lein zu größeren Bächen. Eine besondere Eigentümlichkeit der Quellen
des Brockengebirges ist es, daß sie fast alle nach einer kurzen
Wanderung auf der Oberfläche der Erde sich wieder eine Zeitlang
ihren Weg im Inneren derselben suchen. Sie verschwinden unter
den Granittrümmern, die den Rand der Berge umgeben, und nur
ein leises Murmeln verrät dem Wanderer, daß sie noch da sind.
Weiter abwärts brechen sie in größeren Massen wieder zutage und
eilen nun rauschend dem Tale zu. So ist der Ursprung fast aller
Brockenflüsse, wie der Bode, Ilse, Holzemme, Oker u. a.
Johannes Meyer. (Aus allen Weltteilen.)
147. Aus dem Brockenbuch.
1. Der Brocken ist ein harter Mann,
ein finsterer Geselle,
der nichts als nebeln, regnen kann,
läßt's gar nicht werden helle.
2. Der Scherz ward still auf unsern Lippen,
und unser Lachen wurde stumm;
vergessen waren Wald und Rlippen,
vergessen alles Cand ringsum,
als mit den ersten ihrer Strahlen
die Sonne Aug' und Herzen traf.
Grote 1813.
Dr. Goching.
3. Ich bin zufrieden mit dem Stroh;
im Jahre zwanzig war's ein Stein.
Wenn ich den Brocken wiederseh',
wird es vielleicht bequemer sein.
Viktor Friedrich, Fürst von Anhalt-Bernburg.
— 238 —
4. Nun hältst du wieder mich umfangen,
du frische, starke Harzesluft.
Der Bergwind fächelt meine Wangen,
es trinkt die Brust den Tannenduft.
Vom Berge blick' ich froh hernieder,
zu dem mich heiße Sehnsucht trieb.
Die alte Stätte grüßt mich wieder. —
O hHarz, wie hab' ich dich so lieb!
Brockenbuch.
148. Erwerbsquellen der Harzbewohner.
1. Seit alter Zoeit gewährt der Harz seinen Bewohnern einen
allgemeinen Nutzen dureh seinen Waldreichtum. Zwar keblt dieser
dem höchsten Teile des Granitgebietes; der Gipfel des Brockens, der
einst bis zur Spitze Hochwald trug, ist mit seiner nächsten Umge-
bung kahl, mit Dorflagern oder mit mächtigen Blöcken und ols-
trümmern bedeckt. Allein bis gegen 950 Meter steigt die abgehũrtete
und anspruelslose Pichte empor, und bis gegen 440 Meter hoch gedeihen,
namentlich im Unterharze, überall die herrlichsten Laubwälder. Der
Waldbau bildet daher, besonders in dem rauberen Oberharze, eine
Hauptbeschäftigung der Bevölkerung, von der wohl die Hälfte mit
ihren Hoffnungen und Arbeiten auf die Erzeugnisse des Waldes an
gewiesen ist.
2. Der Weidegrund der grünen Waldwiesen und Matten hat dort
eine bedeutende Rindviehwirtschaft veranlaßt, und fast überall Lann
der Wanderer die rein und harmoniseh klingenden Glocken der Vieb-
herden vernehmen, mit denen einsame Hirten weit in die Walder
hineingezogen sind.
An andern Stellen haben die Holzfäller ihr Werk begonnen.
Unter den wuehtigen Hieben ihrer Axte stürzen auf dem Holæschlage
krachend die Bäume, die dann zu gelegener Zeit auf Wagen oder
Schliften zu den Wobhnstütten der Menschen gebracht werden, um
dort als Bau- und Brennholz zu dienen oder als Nutzholz- beim Tisch-
ler Verwendung zu finden.
3. Auch die in Meilern betriebene Waldköhlerei hat zehon in
sehr frühen Zeiten im Harze eine erhebliche Ausdehnung gewonnen.
Sie hat ihren ditz hoch im Gebirge, wohin sieh der Pub des
— —
22
S
—
Z
—⸗—
—
E
2
— 240 —
Lustreisenden selten verirrt, meist in der Nihe der Erzgruben und
Schmelzöfen, und man kann ihre Spur dahin leicht verfolgen an den
schwarzen, tief ausgefahrenen Geleisen der Kohlenkarren. Das friseh
gefũllte Holz wird in gewaltigen Stöben aufgesetzt, mit Rasen überdeckt,
um den Zutritt der Luft zu verhindern, und der Meiler dann in Brand
gesteckt. Nach wochenlangem Schwelen fällt er zusammen, und das
grüne Holz, in glänzendschwarze Kohle vervandelt, hat dann etwa
drei Vierteile seines Gewichtes und ein Dritteil seines Umfangs ver-
loren. Dieser Vorteil für Verwendung und Verfrachtung dieses wieb—
tigen Brennmaterials ist so grob, daß sich die Waldköhlerei im
Har- immer noch eines nur venig geschmülerten Betriebes erfreut,
obwohbl jetzt den Hüttenwerken Koblen und andre Brennstoffe reich-
licher zugekführt und bäufiger als früher benutzt werden.
4. Der Wald des Harzes ist endlich eine Hauptstütze für den
Bergbau; ja man kann sich diesen, der aus dem Walde seine Ma-
schinen, die dicken Stützen seiner Gruben und die Beuerung seiner
Hütten bezieht, ohne ihn gar nicht vorstèllen. Diese Verbindung des
Waldes mit dem Bergbau führt uns zu dem Berg- und Hüttenwesen
des Harzes, das unstreitig auch jetzt noch der hervorstechendste Zug
in dessen gesamtem Leben ist. Das bewirken seine Bisenerz-, Blei-
und Silbergruben, vorzüglich in der Gegend von Goslar, Klausthal,
Zellörfeld, Andreasberg und Harzgerode. Überall schwingt dort der
Bergmann den Eäustel, schmelzt der braune Hüttenmann die dem
Schobe des Gebirges entnommenen Erze; überall siebt man dort Gru-
ben und Halden, Poch- und Walzwerke, HÜrmende Bisenhämmer und
rauchende Hochöfen; überall sind zahllose grobe Priebräder und
Karren mit Erz in unaufhörlicher Bewegung.
Dem Harzer Bergmann, der Tag für Tag auf dunkelm, unsiche-
rem Pfade in die schweigsame, gefahrvolle Diefe hinabsteigen mub,
ist im allgemeinen ein frommer, ernster Sinn eigen. Scblügt ihm
aber die Stunde erquickender Rube und lustiger Freude, dann ertönt
Gesang und Musik, und man vernimmt in der dortigen harten,
scharken Mundart den eigenartigen Trinkspruch des Oberhbarzers:
»Es grüne die Tanne, es wachse das Erz,
Gott schenke uns allen ein fröbliches Herzl«
—22
Uach Kuhen- Steinecke. (Das deutsche Land.)
— 2 —
149. Stubbenkammer.
1. „Auf nach Stubbenkammer!“ sagte an einem schönen Frühlingstage
mein Vater. Die nötigen Kleider wurden schnell gepackt, und am nächsten
Tage in aller Frühe dampften wir auf der Eisenbahn nach dem von
unserm mecklenburgischen Heim in wenig Stunden zu erreichenden Stral—
sund, der altehrwürdigen Pforte Rügens. Von hier geht mit Hilfe eines
Dampfbootes die Eisenbahn nach Rügen hinüber, und zwar über Bergen
bis Saßnitz Hafen.
Stubbenkammer ist die Perle dieser schönen Insel an Pommerns
Küste und ohne Zweifel einer der großartigsten Punkte von ganz Nord—
deutschland. Man erreicht ihn von dem vielbesuchten Badeorte Saßnitz
aus zu Fuß durch einen herrlichen Buchenwald über die Strandhöhen
oder mit einem der Dampfer, die vom Saßnitzer Hafen nach Stubben—
kammer fahren. Wir benutzten einen solchen und hatten eine herrliche
Fahrt bei mäßig bewegter See. Aber noch viel herrlicher als die Fahrt
war ihr Ziel. Es ist bei weitem die schönste Gegend der Insel, in der
sich Stubbenkammer erhebt, die Halbinsel Jasmund. Diese erstreckt sich im
nordwestlichen Teile des vielzackigen Rügen ins Meer hinaus und verdankt
ihre Hauptreize dieser Lage. Sie ist mit köstlichen, frischen Wäldern,
meistens Buchenwäldern, bestanden.
Die Stubbenkammer d. i. Stufen zum Meere) machte auf uns einen
unvergeßlichen Eindruck, den der Einsamkeit und Erhabenheit. Sie liegt
sehr abgeschlossen und bildet eine kleine Welt für sich, eine Welt voll
Schönheit und großartigen Reizes. Der Königsstuhl und der Herthasee
sind ihre beiden Glanzpunkte.
2. Aus dem kernigen Buchenwalde, der die felsige Höhe der Stubben—
kammer bedeckt, tritt man auf die freie Platte, die den Gipfel des
Königsstuhles bildet. Wir stehen unter einer stolzen, einzeln sich er—
hebenden Buche. Ihr dichtes Gezweig breitet sie schattend wie eine Laube
über uns aus.
Welch ein Anblick bietet sich uns dar! Schroff und jäh fällt die
gegen 130 Meter hohe, gelblichweiße, kahle Kreidewand unmittelbar vor uns
zur See hinab, nur wenige Schritte Raum lassend zwischen den schäumenden
Wellen und ihrem spärlich mit Gestrüpp bewachsenen Fuße. Hier lagern
riesige Felstrümmer, die in Urzeiten wohl einmal an der Skandinavischen
Küste sich auftürmten, bis sie, vom Eise getragen, an die Gestade des
deutschen Eilands verschlagen wurden. „Riesige Felsentrümmer!“ — so
sagte der freundlich uns führende Wirt des nahegelegenen Gasthauses;
16 w
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. LU. Neubtg.
— 242 —
uns erschienen sie, von dieser Höhe aus gesehen, wie kleine Steine.
Links vor uns liegt eine tief einschneidende Waldschlucht. Kahle Felsen—
wände umgeben sie rings und lassen sie nur um so tiefer erscheinen.
Rechts sehen wir die bewaldeten Felsen der Stubbenkammer, dann hinter
einem schroffen Abfall in die Tiefe nur Meer und Himmel, nichts als
Himmel und Meer!
3. Als der Abend gekommen war, rief uns ein Trompetensignal ins
Freie. Da erlebten wir etwas unvergleichlich Schönes. Nacht lag über
dem Meere; man hörte nicht einmal sein Rauschen, alles war still und
feierlich. Wir traten auf den Königsstuhl hinaus, und das angekündigte
Feuerwerk begann. Uns zur Linken, jenseit der an den Königsstuhl gren—
zenden Schlucht, flackert es hell auf: lauter Feuergarben, groß und flam—
mend, welche die weiß schimmernden Felsen rosig überhauchen.
„Es sind Reisigbündel,“ erklärt der stets dienstbereite Wirt, „die da
drüben aufgetürmt und angebrannt sind.“ Jetzt werden sie an den Felsen
hinabgeworfen in die See; sie gleiten ganz leise hinab und werfen einen
glühroten Schein auf den weißen Felsen — wie lauter Johanniswürmer
in der schwarzen Nacht! Das herrliche Schauspiel war vorbei. Im
Wasser war das Feuerwerk erloschen, und schwarze Nacht gähnte wieder
überall.
4. Den Sonnenaufgang am andern Morgen, die Glut über dem
Meere, die Spiegelung im Wasser, den Widerschein an den Felsen —
das mag ein Dichter schildern!
Nachdem wir den Kaffee genossen, wanderten wir durch die Morgen—
luft nach dem Herthasee. Nur ein kurzer Gang durch den köstlichen
Wald, und wir standen in dem tiefen Talkessel, aus dessen Grunde uns
der See entgegenglitzerte. An drei Seiten steigen seine dunkel bewachsenen
Ufer empor. Die Gipfel der Bäume spiegeln sich in dem regungslosen
Wasser. Alles ruht in Frieden, Schweigen, Andacht. Kaum ein Vogel
ist vernehmbar. Auf dem nördlichen Ufer des Sees — Herthaburg heißt
es im Munde des Volkes — soll der Tempel der Göttin gestanden haben,
von der die Sage so viel zu berichten weiß.
5. Schließlich sahen wir uns den Strand an. Wir schlugen einen
Pfad ein, der durch eine Schlucht an der rechten Seite des Königsstuhles
zwischen alten, ehrwürdigen Buchen hindurch, ans Gestade hinabführt.
Von unten gesehen, gewährt die gewaltige, vielgefurchte und zerrissene
Wand einen erhabenen Anblick. Je näher wir ans Ufer traten, und je größer
der Raum zwischen uns und der Felswand wurde, um so großartiger
erschien die Naturmauer. Die Felsen der Stubbenkammer steigen hier
213 —
beinahe senkrecht empor, zerklüftet durch die unheimliche, gewaltig tiefe
Schlucht, zu deren einer Seite der Königsstuhl aufragt. Das Weißgelb
der Kreidefelsen und das frische Grün der Buchen bilden einen höchst
malerischen Gegensatz der Farben.
Mit dem Bewußtsein, einen wahrhaft erhebenden und großartigen
Naturgenuß gehabt zu haben, nahmen wir Abschied von dieser herrlichen
Meer- und Felsenlandschaft.
Franz Hoffmann. (Neuer Deutscher Jugendfreund. — Gelürzt.)
150. Der Hopfenbau in der Provinz Posen.
1. Obwohl Posen an landschaftlichen Reizen von den meisten preußi—
schen Provinzen übertroffen wird, entbehrt sie derselben nicht ganz. Sie
besitzt im Kreise Kolmar ihre „Posensche Schweiz“, und die Lage der
Städte Wollstein und Birnbaum zwischen Seen mit herrlicher Umgebung
ruft stets die Bewunderung selbst verwöhnter Besucher aus dem Westen
unsers Vaterlandes wach. Was der Provinz aber vor ihren preußischen
Schwestern eigentümlich ist, das ist der ausgedehnte Anbau des Hopfens,
der hier rund 1800 Hektar bedeckt und durchschnittliche Erträge von
28 29000 Zentner liefert. Seine Verwendung findet er bei der Bier—
bereitung des In- und Auslandes.
2. Der Hopfen wird vorzugsweise in der Umgegend der Städte
Neutomischel, Bentschen, Wollstein und Grätz angebaut. Hier findet sich
in den Niederungen der dazu geeignete Boden von leichtem Sand, der
mit eisenhaltigem Ton oder Lehm gemischt und darum andauernd feucht
ist. Auffallend in jener Gegend ist der vollständige Mangel an Feld—
steinen, die nicht einmal in Haselnußgröße vorkommen. Der Hopfenbau
wurde hierher durch „böhmische Brüder“ gebracht, die zur Zeit des Dreißig—
jährigen Krieges aus ihrer Heimat um ihres Glaubens willen vertrieben
wurden. Wohl gedeiht der Hopfen auch in fruchtbarerem Boden, ja er
wird dort noch kräftiger und ertragreicher. Aber es ergeht ihm wie
seinem wildwachsenden Bruder; seinem Hopfenmehl, das sich zur Reifezeit
in den Fruchtzapfen bildet, fehlt das angenehm-bittere Aroma, das dem
Biere den eigenartigen Wohlgeschmack verleiht. Von Mai bis August
bieten die zahlreichen Hopfengärten mit ihrem undurchdringlichen, dunkeln
Grün einen erfreulichen Anblick dar, und Städte und Dörfer blicken daraus
nur mit den Dächern wie aus einem jungen Laubwalde hervor.
3. Bearbeitung und Pflege der Hopfenpflanze erfordern nicht geringe
Mühe. Betrachten wir zunächst eine Neuanlage. Die Vermehrung erfolgt
16
*
— 244 —
durch Fechser, das sind handlange, mit Knospen versehene Abschnitte von
dem unterirdischen, fleischig gewordenen Teile der Hopfenranken. Diese
„Hopfenkeime“ legt man im Frühjahr in 5m tiefe, zuvor mit Dung und
lockerm Boden gefüllte Gruben, die in ihren schnurgeraden Lüngs- und
Querreihen einen Abstand von 1m haben. Die daraus hervorsprossenden
Ranken erreichen aber nur Mannshöhe. Sie begnügen sich mit einer
Bohnenstange als Stütze und gewähren dem dazwischen gepflanzten Gemüse
noch Raum, Licht und Luft genug zum Gedeihen. Auch der Ernteertrag
des einjährigen Hopfens ist nur klein. Viel stattlicher, dicht belaubt und
bis 9mn hoch stellen sich unserm Blicke die zwei- und mehrjährigen
Pflanzungen dar. Hier fallen uns die hohen Kämme auf, zu denen man
in den Längsreihen am Fuße der Hopfenranken die Erde aufgehäuft hat.
Im Frühling beginnt die Bearbeitung des Hopfens damit, daß diese
Kämme mit großen, scharfen Hacken auseinander geworfen werden, so daß
der darin steckende Teil der Ranke freisteht und bis auf einige Keimaugen
zurückgeschnitten werden kann. Nach wenigen Tagen sprießen aus dem
daraufgelegten Dünger und lockern Boden die jungen Ranken hervor.
Haben sie etwa Meterlänge erreicht, so wickelt man 2 oder 3 der stärksten
von links nach rechts um eine 8—9m lange Stange, die man dicht an
der Wurzel fest in das Erdreich steckt. Die Spitzen der Ranken bindet
man mit feuchten Strohhalmen an. Die übrigen Sprossen werden ent—
fernt und die Kämme in Längsreihen bis zu m Höhe aufgehäuft. Hat
der Hopfen die halbe Höhe der Stangen erklettert, so erhält er nochmals
Dünger, wobei zugleich das Unkrau beseitigt wird. Von allen euro—
päischen Rankengewächsen entwickelt sich der Hopfen am schnellsten. Bereits
Anfang Juni hat er die Stangenspitze erklommen und wirft nun in seinem
oberen Drittel Seitenäste, in deren Blattwinkeln Ende dieses Monats
die zartgrünen Blüten erscheinen. Der Hopfen ist zweihäusig. In den
Anlagen werden aber nur Pflanzen mit weiblichen Blüten geduldet, weil
diese allein Wert für die Verwendung haben. Die Blüten wachsen sich
später zu grünlichgelben Fruchtzapfen, auch Kätzchen oder Dolden genannt,
von der Größe einer Pflaume aus.
4. Ende August oder Anfang September zeigt die goldgelb ge—
wordene Farbe der Fruchtzapfen an, daß sich unter ihren schuppenartigen
Deckblättern das stark duftende Hopfenmehl vollständig entwickelt hat, und
die Ernte beginnt. Bei trockenem Wetter schneidet man die Ranken in
einiger Entfernung vom Kamm durch, zieht die Stange heraus und streift
die Pflanze ab. Im Freien oder auf geöffneten Haus- und Scheunen—
fluren regen sich alle verfügbaren großen und kleinen Hände, um die
Fruchtzäpfchen mit den Stielen abzupflücken. Die gefüllten Körbe leert
— 245 —
man zunächst in „Hürden“, das sind Behälter mit handhohem Holzrand
und Leinwandboden. Schräg in die Sonne gestellt, ermöglichen sie ein
schnelles Übertrocknen des Kopf an Kopf geschichteten Hopfens, der jetzt
seine gelbe Farbe wieder in zartes Grün wandelt. Nach einigen Stunden
bringt man ihn in etwas dickeren Schichten auf die gedielten Hopfenböden,
deren jedes Wohn- und Stallgebäude mehrere übereinander hat, und die
durch eine Anzahl kleiner Türen reichlichen Luftzug und genügend Licht
erhalten. fteres Umrühren befördert nicht nur das Trocknen, sondern
gewährleistet auch die Güte und die schöne, grüne Farbe des Hopfens. Nach
und nach werden die Schichten erhöht, bis sie bei völliger Trockenheit
große Haufen bilden. Mit dem festen Einstampfen in große Drillichsäcke
schließt die Reihe der Arbeiten, die der Hopfenbau erfordert. Nun gilt es
noch, Blätter und Zweige von den Ranken abzustreifen. Die Ranken geben
ein gutes Heizmittel, und die scharfbehaarten Blätter, die denen des Weines
ähneln, sind in der Hopfenernte das ständige Futter der Rinder und Ziegen.
5. Ende September beginnt das Verkaufsgeschäft sich zu regen. Kauf—
leute von nah und fern prüfen mit Kennerblick die aus den Ballen hier
und da herausgezogenen Proben und bieten Preise, die je nach dem Aus—
fall der Ernte zwischen 30 und 300 Mark für den Zentner schwanken.
1882 wurde in Posen der Zentner sogar mit 600 Mark bezahlt, weil
England und Nordamerika Mißernten gehabt hatten. In neuerer Zeit
sind diese Preisschwankungen dadurch gemäßigt worden, daß man den
Hopfen in große, eiserne Büchsen preßt, die luftdicht verschlossen werden.
Darin läßt er sich jahrelang für die Zeiten einer Mißernte aufbewahren,
ohne an Güte einzubüßen, während der in Säcke verpackte Hopfen bald
minderwertig, nach einigen Jahren sogar unbrauchbar wird.
6. Das klebrige, aromatisch duftende Hopfenmehl mit dem bittern
Geschmack stellt sich unter dem Vergrößerungsglas als eine gelbe Masse
nierenförmiger Körnchen dar, die sich im Wasser öffnen und unzählige
kleine Kügelchen verstreuen. Letztere enthalten das Lupulin, jenen Bitter—
stoff, der beim Brauen dem Biere den angenehm bittern Geschmack gibt
und es zugleich klar und haltbar macht. Ohne den Hopfen würde das
Bier bald sauer und ungenießbar werden.
7. Ein nicht unbedeutender Teil des Hopfenertrages gelangt in der
Provinz Posen selbst zur Verwendung, besonders in den Brauereien der
Stadt Grätz. Seiner guten Eigenschaften wegen hat das Grätzer Bier
nicht nur in Posen, sondern auch weit darüber hinaus Verbreitung ge—
wonnen. Es erfrischt angenehm, ohne irgendwie nachteilig zu wirken, und
kann sogar von Kranken genossen werden. Ein leichter Rauchgeschmack ist
das auffallende Kennzeichen dieses Bieres. Theodor Einsporn. (Originalartikel.)
246 —
151. Lorelei.
1. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten
daß ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
2. Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
3. Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar;
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.
4. Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei,
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
5. Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
6. Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn, —
und das hat mit ihrem Singen
die Lorelei getan. einrich Qeine.
152. Eine Weinlese am Rhein.
1. In der Nähe des herrlichen Rolandseck im Siebengebirge lag
das Gut des Onkels Lerch, den seine beiden Neffen, zwei frische, junge
Bürschchen, zur Zeit der Weinlese besuchten.
Auf dem Hofe herrschte bei ihrer Ankunft ein buntes Treiben. Da
standen allerlei Kübel, Bütten, Fässer und sonstige Gefäße umher, die
von den Leuten des Onkels gereinigt wurden. Unter einem großen
Schuppen waren zwei mächtige Keltern zu sehen, die bereits zum Gebrauch
aufgestellt waren und ihres süßen Inhalts harrten. Alles war unsern
Stadtkindern neu, und tausenderlei hatten sie den Onkel zu fragen, der
sie zumeist auf die nächsten Tage vertröstete, wo sie alles aus eigener
Anschauung kennen lernen sollten.
2. Der andre Morgen fand unsre beiden Gäste oben in des Onkels
Giebelzimmer beizeiten wach. Unten im Hofe hörten sie schon Leben und
Treiben, ein vielstimmiges Schwatzen und Lachen, ein Hämmern und
Pochen, so daß sie geschwind in die Kleider fuhren, um ja nicht die letzten
auf dem Platze zu sein. Im Halbdunkel des Morgengrauens eilten sie
die Treppe hinab nach dem Wohnzimmer, wo Onkel und Tante beim Kaffee
saßen, den die beiden sich nun auch trefflich munden ließen.
Dann aber ging's hinaus in den Hof, wo sich eben der Zug zum
Abmarsch in den „Wingert“ ordnete.
Vorauf schritten etwa zwanzig Mädchen, Arm in Arm in mehreren
Reihen, dann folgten einige Reihen kräftiger Männer und Burschen, die
Legel- oder Büttenträger, und zum Schlusse kam Martin, des Onkels
Knecht, mit dem Wagen, der mit allerlei Gefäßen, von der größten Bütte
—
247 —
bis zum kleinsten Kübel, mit der Traubenmühle und sonstigem Gerät
beladen war. So ging's mit flatternder Fahne, die ein Bursche trug,
zum Tore hinaus; alles war voll Lust und Leben, voll Lachen und Fröh—
lichkeit. Unsre Stadtjungen waren mit ganzer Seele dabei und jauchzten
und jubelten mit aus vollem Herzen. Der Onkel hatte sich mit ihnen
dem Zuge angeschlossen, und hinaus ging's in den frischen, nebelduftigen
Oktobermorgen. Aus allen Häusern kamen größere oder kleinere Scharen
von Lesern, denn das ‚„Herbsten“ beginnt für die ganze Gemeinde an
demselben Tage, und es war lauter Sang und Jubel auf der Straße.
3. So kamen sie an das Ende des Dorfes. Vor ihnen breitete sich
eine Hügelreihe aus, über und über mit Reben bedeckt. Ein feuchter Nebel
verhüllte die Ferne, und durch den duftigen Schleier drang hier und dort
fröhliches Stimmengewirr und lauter Gesang der Winzer und Winzerinnen.
Jetzt brach auch die Sonne durch den Nebel, groß und purpurn wie
eine Feuerkugel, und schickte ihre goldenen Strahlen aus, um die grauen
Nebelmassen aus Flur und Feld zu verjagen. Die ganze Herrlichkeit
eines Herbstmorgens im Rhein- und Weinlande trat nun in aller Pracht
zutage, und als der fröhliche Zug jetzt den Abhang eines Hügels erstiegen
hatte, bat der Onkel seine kleinen Besucher, sich einmal umzuschauen.
Vor ihnen lag, vom Golde der Morgensonne übergossen, eine weite,
schöne Landschaft: ringsum Weinberg an Weinberg, belebt von dem fröh—
lichen Getümmel der Menschen. Links zu ihren Füßen, halb versteckt
zwischen Obstbäumen, lachten die roten Ziegeldächer des Dorfes herauf;
rechts auf dem höchsten Punkte der Gegend winkten aus Waldesgrün hervor
die halb zerfallenen Trümmer einer mittelalterlichen Burg, ein Denkmal
vergangener Zeiten. Vor ihnen aber, in nicht zu weiter Ferne, wand sich
silbern und klar ein mächtiges Band durch die Landschaft — der herrliche
Rheinstrom!
Stumm und leuchtenden Blicks betrachteten Fritz und Hans das
herrliche Bild, das im Glanze der Sonne vor ihnen lag, und lächelnd
sagte der Onkel: „Nun sagt mir einmal, ob es bei uns nicht schöner ist
als bei euch in der dumpfen Stadt. Schaut euch einmal diese Land—
schaft an! Sieht sie nicht aus, als hätte der liebe Gott ein Stückchen
Himmel auf die Erde fallen lassen?“
„O, wie schön!“ riefen beide zugleich. Der kleine Hans war der
Meinung, daß der Onkel die allerschönste Heimat auf der ganzen Welt
habe, und Fritz meinte, es müsse doch ein herrliches Leben sein, immer
in dieser prächtigen Natur weilen und schaffen zu können.
Der Onkel aber sagte: „Ja, es ist wahr, schön ist es hier wie kaum
an einem zweiten Ort in unserm deutschen Vaterlande. Das Leben hat
— 248 —
hier aber auch seine Kehrseite voll Sorgen und Mühen. Doch wir wollen
uns hier nicht länger aufhalten; seht, unsre Leute sind bereits an Ort
und Stelle, um die Lese zu beginnen.“
Sie schritten nun weiter den Hügel hinan, immer mitten durch Wein—
berge, deren Rebstöcke in schnurgeraden, langen Reihen sich auf beiden
Seiten des Weges die Hügel entlang zogen. Am Anfang eines solchen
Wingerts flatterte lustig die aufgepflanzte Fahne. Martin war mit Hilfe
der Burschen beschäftigt, die Gefäße von dem Wagen abzuladen und aufzu—
stellen, worauf er mit dem Wagen wieder nach Hause fuhr.
4. Munter und guter Dinge ging es jetzt an die Arbeit. Die Lese—
rinnen versahen sich mit kleinen Holzgefäßen und verteilten sich in regel—
rechter Ordnung in den Rebzeilen. Jede hatte zum Abschneiden der
Trauben eine kurze, scharfe Schere und einen Blechlbffel, um die kostbaren
Beeren darin aufzufangen. Auch unsre Feriengäste wurden mit gleichem
Handwerkszeug ausgerüstet, und der Onkel belehrte sie, wie eine richtige
„Lese“ vor sich gehen müsse. Allerlei Scherze und Neckereien würzten
die Arbeit, und selbst Herr Lerch blieb heute nicht verschont. Lachend
ließ er sich manches Neckwort der mutwilligen Leserinnen gefallen.
Die Träger hängten nun ihre länglichen, etwas flach gedrückten, nach
unten zu enger werdenden Holzgefäße, „Legel“ genannt, mit zwei Trag—
riemen über den Rücken und ließen die Leserinnen die mit Trauben ge—
füllten Kübel darein entleeren. Die gefüllten Legel trugen sie dann zur
Traubenmühle, die über einer großen Bütte aufgestellt war. Eine trichler⸗—
förmige Offnung nahm den Inhalt auf. Einer der Burschen drehte die seit⸗
lich angebrachte Kurbel; die Beeren wurden zerquetscht und samt Hülsen
und Stielen in den darunter befindlichen Zuber befördert. Fritz und Hans,
denen ja alles neu war, und die alles kennen lernen wollten, waren der
Aufforderung eines Legelträgers gefolgt und schauten mit Verwunderung zu.
„Pfui!“ rief Hans, „das wird aber eine trübe Brühe; davon möchte
ich nichts genießen!“
„Was soll denn nun aus dieser Suppe werden, die man kaum an—
sehen und noch viel weniger genießen mag?“ fragte Fritz.
„Wein, heller, goldklarer Wein!“ erwiderte lachend der Bursche.
„Daraus soll Wein werden?“ versetzte Fritz kopfschüttelnd, „wie ist
denn das möglich? Das sieht ja alles so schmutzigrot aus, daß einem
aller Appetit vergeht!“
Und Hans erklärte mit Entschiedenheit: „Ich wenigstens mag keinen
Tropfen von solchem Wein! Da haben wir zu Hause im Keller ganz andern!“
„Ist auch einmal solch schmutzige Brühe gewesen,“ sagte der hinzu—
tretende Onkel, „vielleicht gerade in diesem Wingert hier gewachsen. —
— 249 —
Z
*
250 —
5
Ja, sieh mich nur nicht so ungläubig an, Hänschen; kommen wir nur
erst nach Hause, wo der Inhalt dieser Bütte gekeltert wird, dann werde
ich euch erklären, wie das alles zugeht.“
Etwas enttäuscht gingen die Neulinge wieder an die Arbeit. — Die
Lese ging nun munter fort bis zu Mittag, zu welcher Zeit Martin wieder—
kam, um einen Teil der Ernte auf den Wagen zu laden und nach Hause
zu fahren.
Mädchen und Legelträger aber setzten sich vergnügt im Kreise nieder,
um die von Frau Lerch geschickte einfache Mahlzeit, bestehend aus einer
steifen Kartoffelsuppe, aus Brot und Käse und einigen Krügen Weins,
mit bestem Appetit zu verzehren. So war es Brauch im Herbst; die
Hauptmahlzeit folgte erst abends nach der Feierstunde zu Hause.
5. Der Onkel aber ging jetzt mit seinen Neffen wieder nach dem
Dorfe zurück, nachdem er ihnen versprochen, daß sie nachmittags wieder
nach den Weinbergen gehen könnten.
Zu Hause trafen sie ebenfalls rühriges und geschäftiges Leben; denn
hier schickte man sich eben an, die vollen Traubenbütten abzuladen und
sie der Kelter anzuvertrauen. Diese ist ein starker, runder oder viereckiger
Behälter, der etwas hoch steht, um aus zwei Ausgußröhren den Trauben—
most in die davorstehenden Bütten ausströmen zu lassen.
Kaum war die trübbraune Masse in die Kelter geschüttet, als auch be—
reits munter der Saft herauszurinnen begann. Vermittels einer gewaltigen,
durch einen langen Hebelarm drehbaren Schraube, die sich auf dem oberen
Verschlußbrett der Kelter aufsetzt, konnte ein immer stärkerer Druck auf
den Inhalt ausgeübt werden, so daß der ganze Rebensaft nach und nach
herausgekeltert wurde.
Ein würziger Duft verbreitete sich ringsum, und schmunzelnd pro—
bierte der Onkel die Beschaffenheit der rötlichen Flüssigkeit, welche die
glühende Sonnenhitze zur Reife gebracht hatte.
„Na, Kinder,“ wandte er sich nun mit dem Glase an seine Neffen,
„nun probiert einmal, was uns der Herbst gebracht hat.“
Mit Behagen kosteten die beiden den süßen Most. „Ja, jetzt lasse
ich mir's gefallen!“ rief Fritz. Auch Hans änderte nun gern seine An—
sicht über die „schmutzige Brühe“. Nur eins ging ihm noch im Kopfe
herum und wollte ihm nicht recht klar werden, wie nämlich die rötliche
Flüssigkeit hier später zu der hellen Goldfarbe kommt. Er wandte sich
deshalb an den Onkel mit der Bitte, ihm doch zu erklären, wie denn
nun aus diesem süßen Moste der eigentliche Wein gemacht werde, der ja
doch gar nicht süß schmecke.
— 251—
„Gemacht wird da gar nichts, mein Sohn,“ sagte der Onkel, „das
Geschäft besorgt der Most selber. Der ausgepreßte Traubensaft kommt
nun in große Fässer, die ihr bereits im Keller unten liegen sehen könnt.
Darin fängt er bald an, gewaltig zu rumoren; das braust und rauscht
so sonderbar, als ob ein Heer von Geistern in den Fässern arbeitete und
schaffte, und wir sagen dann, der Wein „gärt“. Bei diesem Vorgange
setzen sich die unreinen Teile sämtlich ab und bilden die Hefen und den
krustigen Weinstein. Die Flüssigkeit wird dadurch natürlich heller und
reiner und muß mehrmals auf andre Fässer gezogen werden, bis sie
ruhiger und goldklarer geworden ist. Der Zuckerstoff, den ihr ganz leicht
aus dem Moste hier herausschmeckt, verwandelt sich nach und nach in
Alkohol. Das ist der gefährliche Geist, der dann den Wein so berau—
schend und feurig macht, und der im Kopf anfängt zu rumoren, wenn
einer gar zu oft und tief ins Glas schaut.“
Mittlerweile lief der Mostquell an der Kelter dünner und spärlicher
und drohte, allmählich zu versiegen, obwohl der Schraubendruck immer
mehr verstärkt worden war. Da drehten denn die Männer die Schraube
auf, entfernten den Verschluß, und ein großer, aus Stielen und Trauben⸗
hülsen gepreßter Kuchen wurde sichtbar. Diesen zerschnitten und zerstückelten
fie mitiels eines großen Messers, worauf abermals gekeltert wurde.
„Was macht ihr nun mit dem Überrest, wenn der Most völlig
herausgepreßt ist?“ fragte Fritz.
„Das ist der Trester,“ versetzte einer der Männer, „den kauft der
Branutweinbrenner, der ihn gar gut zur Branntweinbereitung verwenden
kann⸗
6. Nachdem sich nun unsre beiden Stadtkinder mit Muße alles be—
sehen und am Moste nach Herzenslust gelabt hatten, wanderten sie wieder
nach den Weinbergen, wo des Onkels Leute immer noch rüstig bei der
Lese waren.
Als dann der Abend allmählich seine dunkeln Schleier über die weite
Landschaft ausbreitete, log da und dort ein zischender Schwärmer auf,
oder ein Schuß krachte durch die Luft, beantwortet vom fröhlichen Jauchzen
der Leser.
Bald tönte vom Kirchturm die Feierabendglocke, und mit Sang und
Klang, wie sie gekommen, zogen die Leute wieder nach Hause, um sich
bei einer kräftigen Mahlzeit für des Tages Mühe zu entschädigen.
So ging's nun die ganze Woche hindurch unter Lust und Rührigkeit
mit Lesen und Keltern. Alle Tage zogen Fritz und Hans singend mit
hinaus, und war es einmal gar zu frisch draußen im Weinberg, so trugen
252 —
—
sie alte Wingertspfähle zusammen und brannten ein lustiges Feuer an,
an dem die Gesellschaft sich die Hände wärmen konnte, wenn die Finger
in der Morgenkälte zu steif werden wollten.
7. Endlich kam das Ende der Lese, bei dem abends ein mächtiger
Holzstoß im Wingert aufgeschichtet und angezündet wurde. Unter dem
Krachen von Freudenschüssen und den schmetternden Klängen der Dorf—
musik zog der ausgelassene Schwarm der Leser aus dem Wingert zum
Hause des Onkels, wo ein fröhlicher Festschmaus mit Musik und Tanz
die Lese beschloß. Emil Walther. (Lohmeyers Wlustrierte Kinderzeitung.)
153. Eine Talsperre.
1. An den bewaldeten Ufern der Lenne in den schönsten Tälern des
Sauerlandes liegt das Fabrikstädtchen Altena, seit uralten Zeiten durch
seinen Eisendraht berühmt. Zwei Bächlein münden hier in die Lenne,
bescheidene Wässerlein für gewöhnlich, die von den nahen Höhen mit
starkem Gefäll herniederrauschen. In den engen Tälern bachaufwärts
liegen Hunderte von „Rollen“ Das sind kleine, meist einstöckige Fabrik—
räume, die ein Wasserrad beherbergen. Das Wasser der Bächlein muß
die Räder drehen. Sie bewegen das Triebwerk der „Rolle“, und so wird
die teure Dampfmaschine ersetzt, die sonst nötig wäre.
2. So unscheinbar die Bächlein sind, so gefährlich konnten sie vor—
mals werden, wenn im Frühling oder Herbst große Wassermengen von
den Bergen stürzten. Dann traten sie aus den Ufern, überfluteten die
engen Straßen und richteten gewaltigen Schaden an. Wenn aber die
Flutwelle abgeflossen war und ein heißer, trockener Sommer folgte, so
trat leicht, wo vor wenigen Monaten die Flut toste, der allerempfindlichste
Wassermangel ein. So mußten die alten „Zöger“ — so heißen die Draht—
zieher — oft über die Launen der Bächlein klagen, die ihnen zuzeiten
Wasser im Übermaße spendeten und ihre Rollen bedrohten, in andern
Tagen dagegen austrockneten und den Stillstand der Werke herbeiführten.
Was würden sie wohl gesagt haben, wenn man ihnen gezeigt hätte, daß
man das unnütze oder gar Schaden bringende Hochwasser im oberen Fluß—
oder Bachlauf aufhalten, aufspeichern und den etwa entstandenen Wasser—
mangel aus diesem Vorrat wieder ausgleichen kann! Das geschieht heute
in den sogenannten ‚Talsperren“, indem man in künstlich geschaffenen Ge—
birgsseen den Überfluß der Regenzeiten aufstaut und daraus die verfüg—
baren Wassermengen zu allen möglichen Zwecken ausnutzt.
253 —
3. Wenn wir von Altena nach Lüdenscheid das Tal der „Rahmede“
hinaufwandern, so marschieren wir eine gute Stunde lang an unzähligen
Rollen vorbei, in denen es lustig klappert und hämmert. Endlich biegen
wir in das Seitental der „Fuelbecke“ und befinden uns nun in der Nähe
der Altenaer Talsperre. Auf guter Fahrstraße durch herrlichen Wald
emporsteigend, gelangen wir bald an ein geräumiges, talabwärts sich ver—
engendes Gebirgstal mit hohen Ufern, das durch eine Riesenwand ab—
gesperrt ist. 135 m lang und 25 mm hoch erhebt sich vor uns eine un—
geheure Mauer, die an der Sohle 16 mn stark ist und nach oben sich bis
auf 31 m verjüngt. Zu beiden Seiten sind Felsenwände, in welche die
Mauer gleichsam hineingewachsen ist. Auf festem Fundament, das in den
felsigen Grund hineingebaut ist, ruht die Mauer. Sie geht nicht in einer
geraden Linie von der einen Höhe zur gegenüberliegenden, sondern hat
eine im Grundriß talaufwärts gekrümmte Form. Wie ein auf der Tal—
sohle flachliegendes Gewölbe stemmt sie sich der Wassermasse entgegen, die
das Tal erfüllt. Den gewaltigen Druck des Wassers überträgt sie so
zum Teil auf die felsigen Talwände. Die Sperrmauer muß durchaus
fest und geschlossen sein, um Durchquellungen und Unterspülungen zu ver—
hindern. Wenn es dem Wasser gelänge, die Mauer zu durchbrechen, so
wäre ein schreckliches Unglück die Folge. Ein großer Teil des Rahmeder
Tals wäre verloren. Die ungeheuern aufgespeicherten Wassermassen würden
alles vernichten, was ihnen im Wege stände. Der Bau der Mauer ist mit
großen Schwierigkeiten verknüpft gewesen. Als der Riesenbau in der Haupt⸗
sache fertig gestellt war, wurde er an der Wasserseite mit einem dichten Putz
von Zementmörtel überzogen, um das Eindringen des Wassers zu verhindern.
In der Mauer hatte man in der Höhe der Talsohle Stollen gelassen,
die während der Bauzeit offen blieben. Durch sie konnte das Wasser unge—
hindert abfließen. Nach Vollendung des Baues sind in die Stollen große
Rohre mit doppeltem Schieberverschluß sorgfältig eingemauert worden.
Mittels der Schieber kann aus dem Talsperrbecken je nach Bedarf Wasser
abgegeben werden. Dieses fällt in mächtigen Wasserfällen herab und
strömt dem früheren Bachbette wieder zu..
4. über die Mauer geht eine Straße. Von ihr führen Treppen
hinauf zu der vornehm eingerichteten Terrasse des Gasthauses „zur Tal—
sperre“. Von der Mauer und der Terrasse aus übersieht man nun den
künstlichen Gebirgssee in seiner ganzen Ausdehnung, wie er eingebettet
zwischen buchenbestandenen Berghöhen glatt und friedlich daliegt. Boote
fahren auf dem Wasser hin und her, und ein kleiner Dampfer setzt sich
eben in Bewegung. Im Winter aber, wenn Eis die weite Fläche bedeckt,
254 —
2
8
3
*
2
2
2
S
2
p
*
S
2
2
t
255 —
herrscht ein noch regeres Leben. Da tummeln sich Schlittschuhläufer auf
dem glatten Spiegel, und Schlitten sausen dahin. Auf der Terrasse und
in den Räumen des Gasthauses aber sammeln sich Zuschauer und blicken
hinab auf das bewegte Treiben. —
5. Zwischen den Bergen hervor rieseln die Bächlein in den See und
sammeln sich zu einem Vorrat, aus dem die Besitzer der Fabriken und
Werkstätten, die das Wasser als Betriebskraft brauchen, gleichmäßig ihre
Räder speisen können. Die Altenger Talsperre ist keine der größten
Deutschlands; sie faßt nicht ganz 1 Million chm Wasser. Viel bedeutender
ist schon die schlesische Talsperre bei Marklissa am Queis, deren Sperr—
mauer eine Höhe von 39 m hat. Der gesamte Fassungsraum des hier
geschaffenen Staubeckens beträgt 15 Millionen ebhm, wovon 5 Millionen ebm
ständig mit Wasser gefüllt gehalten werden, dessen Kraft für gewerbliche
Zwecke verwendet wird. Die größte Talsperre Europas ist die zu Gemünd
in der Eifel. Sie hat eine Mauer von 58 mm Höhe und 52 mn Stärke über
dem Fundament. Aber auch sie wird vielleicht noch übertroffen werden,
wenn sich der Plan der Bewohner von Frankfurt am Main verwirklicht.
Sie wollen die Gewässer des Vogelsberges in einer großen Stauanlage
ansammeln und aus diesem See ihr Trinkwasser entnehmen.
Walter Uohl. (riginalartikel.)
154. Kaiser Wilhelm J. in Essen.
. Als Raiser Wilhelm J. einmal die Kruppschen Werke in Essen
besuchte, führte man ihn vor den mächtigen Dampfhammer „Fritz“.
Man erklärte ihm, wie vernichtend der Hammer herniedersausen könnte.
„Aber“, sagte Krupp und deutete auf einen ergrauten Arbeiter, der
neben dem Hammer stand, „der Arbeiter Ackermann hat eine so sichere
Hand und ein so scharfes Auge, daß er mit einer Bewegung am Hebel
den Hammer im Niederfallen aufhalten kann. Man darf getrost seine
Hand auf den Amboß legen; wenn der Eisenhammer von diesem
Manne bedient wird, dann hält er eine Linie über der Hand im
Schlagen inne, ohne sie zu berühren.“
2. Der Raiser hatte aufmerksam zugehört und betrachtete dann
den Arbeiter, der ziemlich verlegen aussah. „Mit einer Menschenhand
wollen wir den Versuch dieses Runststücks zwar nicht machen,“ meinte
Raiser Wilhelm, „aber meine Uhr will ich dazu hergeben!“ Er zog
seine mit Edelsteinen besetzte Uhr aus der Tasche und legte sie auf
den mächtigen Amboß. Ackermann machte ein sehr bestürztes Gesicht,
ging aber doch an die Arbeit.
256 —
2
Die Dampfmaschine, die den Hammer in Bewegung setzt, beginnt
zu brausen. Die Riemen knattern. Langsam erhebt sich der Riesen—
hammer. Plötzlich saust er mit Blitzesschnelle in die Tiefe, und ebenso
schnell hält er an. Ackermann hat durch einen Hebel das Fallen des
Hhammers aufgehalten; eine Linie über der Uhr war er zum Stehen
gekommen. Sie lag unverletzt auf dem Amboß, und der Arbeiter
reichte sie dem Raiser, im stillen glücklich und dankbar, daß ihm sein
Runststück auch heute gelungen. Aber der kaiserliche Herr lächelte
gütig. „Die Uhr sollen Sie zum Andenken an diesen Augenblick be—
halten, Ackermann!“ sprach er. überrascht, beinahe ungläubig sah
der Arbeiter den Raiser an und streckte ihm, noch immer wortlos,
die goldene Uhr entgegen, als könnte er seinen Ohren nicht trauen.
Krupp nahm ihm die Uhr aus der Hand und sprach einige freund—
liche Worte mit dem aufgeregten Mann. Einige Minuten später,
als er sich etwas beruhigt hatte, gab ihm sein Herr die Uhr zurück
— in einen Tausendmarkschein gewickelt.
Deutscher Kinderfreund.
155. Deutsches Cand und Volk im
Volksmunde.
1. Ein richtiges Berliner Kind muß mit Spreewalsser ge⸗
tauft sein.
2. Jlãming, arm an Born — reich an Kornm.
3. Ein rechler Vreuße alter Art trägt seinen Velz bis
Simmelfabrf; wenn man aber schreibt Jobanni, so
ziehk er ihn schon wieder an.
4. Der Schlesier kann den Sonntagsrock nicht anzießn,
ohne dabei zu singen.
5. Er hat einen pommerschen Magen; der kann Kiesel—
steine vertragen.
6. Ein Westfale spricht nicht, wo ex schlagen kann.
7. Der Dbüringer wird mit der Geige geboren und der
Elberfelder mit dem Regenschirm.
8. Marzer Kind, äußerlich arm und gedrückt,
innerlich reich und geschmückt.
9. Wen Gott liebhat, dem gibt ex eine Wohnung im Mans-
felder Lande.
10. Auf dem Westerwalde brauchen die Kirschen zwei Jahre
Zeit, um reif zu werden.
11. Großer Rhein — saurer Wein;
kleinrer Rhein — sußer Wein.
12. Die Norosee — eine Mordsee.
Aus „Ml. Vlant; Deuntsches Land und Volk im Volksmunde.“
257
—
3. Aus der Ferne.
156. Der Schweizer.
1. Zu Straßburg auf der Schanz',
da ging mein Trauern an.
Das Alphorn hört' ich drüben wohl anstimmen;
ins Vaterland mußt' ich hinüberschwimmen.
Das ging nicht an.
2. Ein' Stund' wohl in der Nacht
sie haben mich gebracht;
sie führten mich gleich vor des Hauptmanns Haus.
Ach Gott, sie fischten mich im Strome auf!
WUt mir ists aus
3. Frühmorgens um zehn Uhr
stellt man mich vor das Regiment;
ich soll da bitten um Pardon,
und ich bekomm' gewiß doch meinen Lohn;
das weiß ich schon.
4. Ihr Brüder allzumal,
heut' seht ihr mich zum letztenmal!
Der Hirtenbub' ist doch nur schuld daran,
das Alphorn hat mir solches angetan;
das Llag ich an.
Volkslied.
157. Auf der Alm.
1. Wenn der Frühsommer kommt und die Hochmatten er—-
grünen, so öffnen sich unten im Tale die Tore und Stãlle der Ge-
höfte. Mit klingenden Schellen, hüpfend und blökend ziehen die
Rinder, auch Ziegen und Schafe den sonnigen Höhen zu, und das
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. I. Neubtg.
258
Jodeln der Sennerin und das Jauchzen der Halterbuben klingt von
den Felsen wider. Die Leutchen freuen sich auf die Hõhe. Mag
die Sennhütte noch so ärmlich sein, noch so mũhevolle Arbeiten
fordern, sie bietet ein freies Leben. Mehl und Salz, ein paar Töpfe
und einen dicken Lodenkittel nehmen die Senner mit hinauf; damit
wissen sie nach ihrem Geschmack ein Vohlleben zu führen. Ihr
ganzes Bestreben haben sie darauf zu riehten, dab sie dem Dienst-
herrn unten möglichst viel Käse und Butter gewinnen. Die Herde
und der Stall, der Klee und das fette Blãttergras, das sind die
Hauptsachen; nach etwas anderm hat die Sennerin, hat der Almbub'
nicht zu fragen.
Die Almhütte ist aus rohen Balken gezimmert, die auf einem
Steinlager ruhen. Die vier Bretteèrwände deckt das sehr flache Dach,
dessen lange Schindeln nicht festgenagelt sind, sondern nur durch
querũber gelegte, mit groben Steinen beschwerte Latten vor dem
Davonfliegen bei Vind und Wetter geschũtzt werden. Das Dach steht
ringsum weit vor, so daß es eine Art von Schuppen bildet, unter
dem Heu, Holz und Gerätschaften vor Regen verwahrt werden. Die
Tũür steht angelweit offen; nur ein niederes Gatter mit einem
„Schnapper“ ist lose angelehnt, damit das Vieh nicht herein Lann.
Vor Räubern und Dieben fürchtet sich der Almer nicht; denn so
hoch oben gibt es keine Schätze mehr zu stehlen. Nur wenn er
sich weiter entfernt, versperrt er seine VWVohnung mit einem einfachen
Holzschlob.
2. Die Sennerin schafft mit Kübeln und Behãltern, bereitet das
Stallfutter, besorgt das Melken. Der Almbub' ist Hüter der Herde,
treibt sie auf Veiden, abgemähte WViesen und Heidegelãnde und
kührt sie abends wieder in den Stall. Beide essen die gekochte
Mileh und den Sterz (ein Gericht aus Mehl und Schmalz, in der
Pfanne gebraten) aus einem Topf am Herde. Dann zünden sie,
wenn es finster geworden ist, den Kienspan an. Sie bessert die
schadhaften Stellen seiner Lodenkleider aus, die halten müssen bis
zum Heimfahren. Er nimmt dafür ihre auf dem rauhen Apenboden
wund gewordenen Schuhe zwischen die Knie, zieht nach beiden Seiten
den bepechten Draht aus und schmaucht eine Pfeife dabei, erzãhlt
WVilderergeschichten oder brummt ein Liedchen. Ewig jung sind die
alten Liedehen, die er brummt und sie singt. Die Leute mögen
denken oder sagen, was sie immer wollen. sie brauchen keine
magern Worte dafür; sie haben für alles ihre Lieder und Liedehen.
258
l
—
—
mn
—
—
3
N*
17*
260
Draußen zieht die kalte Abendluft von den bleichen Gletschern
herüber dureh die Mondnacht, oder es liegt ein Nebel über den nächt-
lichen Firnen, oder es hebt sich in den Schluchten und Rissen der
Hochschroffen ein brausender Gewittersturm und läßt seine Blitze
lohen und schmettern über der einsamen Hütte; — sie schieben
den Holzriegel vor die Tür und beten ein Vaterunser. Dann sagt
sie zu lm: „Buberl, steig hinauf in dein Heu!“ Er lehnt eine Holz-
leiter an die Vand und klettert duren eine Offnung hinauf zum
Dachboden, zieht seine Schuhe und seine Jacke aus und legt sich
ins duftende Heu. Sie tut desgleichen und legt sich in ihr Bett.
Draußen im Stalle schellt oder brüllt eins oder das andre der Herde.
3. Die Sennhütten stehen häufig nahe beisammen, so daß sie
fast Dörfer bilden; dann herrscht unter den Sennen grober Gemein-
sinn. In jedem Senndorf ist eine Person gewaählt, die darauf zu
sehen hat, daß die Parteien sich nicht gegenseitig an VWeideplãtzen,
Heu und Streu benachteiligen. Meist ist das eine ältliche Magd
oder ein Mann, der noch die Obliegenheit hat, die Bewohner der
Hütten zu den Gebetstunden aufzurufen. Da tritt er des Abends,
wenn sie ihr langes Tagewerk vollendet haben, und wenn in den
entfernten Tälern die Glocken klingen, auf einen freien, erhöhten
Platz und singt durch einen Milchtrichter, damit es einen lauten Ton
gibt, ein frommes Lied. Darauf kommen sie, besonders an den
Samstagen, alle zusammen und verrichten gemeinschaftlich ihre
Andacht.
4. Gegen Abend ziehen die Sennerinnen aus und rufen den
Kuhreigen: „Vo bist denn, mei Gamslo, mei Hirschloꝰ He do, he
do! Kriagst an Klee, kriagst an woachi Streu, kriagst a Federl Heu!“
Auf solchen Ruf kommen sie von allen Seiten mit ihren Glocken
und Schellen herangezogen, ernst und behäbig, besonders die
Glockentrãgerinnen, die sich auf diesen ihren Beruf nicht wenig
einbildoen. Beim Herannahen eines Gewitters verden die Herden
oft scheu, und alle Kraft und Umsicht muß aufgeboten werden,
um die in Sturm und Hagel wild umherfahrenden Rinder vor dem
Abstürzen zu bewahren und sie in den Gewahrsam des Stalles zu
bringen. Bös ist es auch, wenn Schneewetter eintritt. Dann leidet
das Vieh sehr unter Hunger, Nässe und Kälte oder verirrt sieh an
gefãhrliche Stellen, so daß die Leute Vache halten müssen. Ist es
aber schon spãt im Herbst, so besinnen sich die Sennen nicht
lange, sondern rüsten sich zum Aufbruch.
— 260 —
5. Der Tag, an dem Menschen und Tiere bekränzt von der Alm
in das Tal zurückkehren, ist ein wahres Fest. Die Krippen in den
Stãllen werden gefüllt mit dem fettesten Klee, und der Tisch wird
mit den auserlesensten Fleisch- und Mehlspeisen für die Heim-
kehrenden gedeckt. Der Vinter geht hin unter schönen Erinnerungen
und Hoffnungen, und im Frühjahr, zur Zeit wenn die Tannen blũhen,
ziehen Sennerin, Kuh und Hirtenbub' neu verjüngt wieder hinauf
auf die schöne, grüne Alm.
— 2——
Peter Rosegger. (Das Volksleben in Steiermark. — Die Älpler.)
158. Ein Stiergefecht.
1. In Madrid sollte zur Feier des Vermählungstages der jungen
Königin Isabella Il. ein grobes Stiergefecht stattfinden. Um drei
Uhr nachmittags begaben vir uns nach der kreisrunden Arena;
12000 Menschen waren dort versammelt, um die Stierkämpfe zu
schauen. Vie in den Theatern der alten Griechen und Römer
erheben sich etwa zwanzig steinerne Stufen, auf denen man sitzt,
und darüber noch zwei Reihen Logen, in der Mitte die der Königin.
Der innere, ganz freie Raum, der eigentliche Kampfplatz, ist von
den Zuschauern durch eine ringförmige, zwei Meter hohe Schranke
von Balken und starken Planken getrennt. Ein kleiner Auftritt macht
es möglieh, sieh über diese Vand zu schwingen, wenn dem Stiere
nicht anders auszuweichen ist.
2. Nach einigem Harren öffnete sich eine Pforte, und herein
ritt der Aguazil, eine Obrigkeitsperson in altertümlicher Tracht,
der den Anfang des Spiels verkündigt. Er wurde einmütig aus-
geziseht, ausgelacht und ausgepfiffen; varum, weib ieh nicht. Er
mochte sein Schicksal wohl schon im voraus wissen und schien sich
wenig daraus zu machen. Jetzt traten die Chulos ein, zu Fub, mit
bunten Mänteln über dem Arm; ihnen folgten sechs Picadores zu
Pferde. Sie waren in ledernem Vams, auf der rechten Seite mit Eisen-
schienen gesichert, den spanischen Hut auf dem Kopfe. Jeder trug eine
ssstarke Lanze mit nur zwei Zentimeter langer, eiserner Spitze und sab
in einem hohen Sattel, der sehr festen Sitz gewährt. An ihre Spitze
trat unter lebhaften Beifallsrufen der Matador, ein berühmter, ge-
felerter Held der Arena. In einer Reihe rückten sie gegen den
königlichen Sitz vor, lieben sich auf ein Knie nieder und gaben den
königlichen Grub.
265
b
3. Jetzt trat die Hauptperson ein, ein gewaltiger schwarzer Stier
mit spitzigen Hörnern und flammenden Augen. Diese Bestie be—
findet sich in einem Zwinger, in dessen Decke Löcher angebracht
sind, durech die man den Stier mit spitzen Stacheln sssticht, s0 dab
er schon bei ziemlich übler Laune ist, bevor er zum Gefechte
schreitet. Sobald daher die Pforte des Kerkers sich öffnet, schießt
er mitten in die Arena, sieht sich wild und verwundert um, scharrt
den Sand mit den Füßen und stürzt dann auf den ihm zunächst
stehenden Picador los.
Dieser hält unbeweglich still und läbt das wütende Tier gegen
seine Lanzenspitze auflaufen. Dem Pferde ist das rechte Auge ver-
bunden, damit es den Stier nicht sieht und dadurch scheu wird.
Der Anlauf war aber so gewaltig, und der Reiter saß so kest im
Sattel, daß Mann und Roß in die Höhe gehoben wurden und sich
rũcklings überschlugen. In demselben Augenblick saben die spitzen
Hörner dem Pferd im Leibe, so daß ein fingerdicker Blutstrahl
aus dem Herzen floß. Der Picador lag unter dem Tiere, und sein
Anzug hinderte ihn, irgendwie freizukommen. Es war um ihn ge·
schehen, venn nieht die Chulos mit ihren bunten Mänteln zu
Hilfe kamen.
4. Alsbald läsßt der Stier von seiner Beute los und stürzt sich auf
den Fubgãnger oder vielmehr auf den bunten Lappen. Er verfolgt
den Träger dureh die ganze Bahn, aber dieser schwingt sich gewandt
über die Schranke, die unter dem Stoßhe des Tieres erbebit. Wie
verdutzt steht es da, nachdem sein Gegner verschwunden ist. Als-
bald stellt sich ihm ein zweiter Picador dar, der dasselbe Schicksal
wie sein Vorgänger hat. Ehe noch die Chulos zu Hilfe kommen
können, versetzt der Stier dem Pferde einen neuen Stob und trãgt
das zappelnde Tier hoch auf den Hörnern durch die halbe Bahn.
Dem dritten Pferde riß der Stier im Nu den ganzen Leib auf, und
in diesem Zustande wurde es durch Sporen und Schläge angetrieben,
noch einen zweiten Kampk mit der wilden Bestie aufzunehmen.
Natürlich erhält der Stier jedesmal einen furchtbaren Stob von der
spitzen Lanze in die linke Schulter und verweigert endlich den
ferneren Angriff.
5. Nun müssen die Banderilleros heran. Dies sind Fußgãnger, die
in jeder Hand einen zwei Fuß langen Pfeil tragen. Die Spitze ist
mit Viderhaken versehen, und am andern Ende sind Faähnchen und
Rauschgold befestigt. Mit solehen Vaffen gehen sie geradeswegs
263
3—
auf den Stier los. In demselben Augenblick, wo dieser ausholt,
springen sie seitwärts und stoben ihm die Pfeile zwischen Ohren
und Hörnern ins Genick. Jetzt wird das Tier vollends rasend und
toll; oft treibt es ganze Scharen flüchtender Banderilleros über die
Schranken, wobei sie laut verhöhnt werden. Einmal saß der Stier
fast quer über der Schranke, und es soll bisweilen vorkommen,
daß er hinübergelangt. Einer der Chulos hatte die Keckheit, den
farbigen Mantel umzuhängen, so daß der Angriff des Stieres nun
unmittelbar auf ihn gerichtet war. In dem Augenblick, wo jener den
Kopf senkte und geschlossenen Auges auf ihn zustürzte, sprang er
über ihn kort und kam neben ihn zu stehen.
6. Venn nun endlich die Vut des Tieres aufs höchste ge—-
stiegen, seine Kraft aber schon im Schwinden ist, tritt der Matador
ihm ganz allein gegenüber. Jetzt entsteht die größte Stille und
Aufmerksamkeit; denn dies Beginnen ist bei weitem das gefähr-
lichste. Der Matador, ein schöner Mann in Schuhen, weißen
Strümpfen, hellblauer seidener Jacke und Beinkleidern, ein Netz
über das Haar geflochten, führt in der Linken ein scharlachrotes
Mãntelchen, in der Rechten eine meterlange, vierschneidige Toledo-
klinge. Diese mub dem Stier an einer genau bestimmten Stelle in
den Nacken gestoßen werden, um es zu töten. Um aber den
rechten Punkt zu treffen, handelt es sich um sechs, höchstens
acht Zentimeter Entfernung, in der das Tier an dem Menschen vor-
beistoben muß. Alles ist darauf berechnet, daß der Stier eher
nach dem roten Tuch als nach dessen Träger ausholt, und daß er
seinen Stoß blindlings geradeaus führt. Es kommen aber Aus-
nahmen vor, und dann ist der Matador verloren.
Bedãchtig und kaltblütig schreitet der Kämpfer auf seinen
schwarzen Gegner zu und hält ihm das Tuch hin. Zweimal läßt er
ihn unter seinem Arme durchpassieren. Beim drittenmal steckt die
Klinge dem Tiere bis an das Heft im Nacken. Noch wütet dieses
wohl eine Minute herum; dann aber fängt es an, aus dem Maule zu
bluten, schwankt und stürzt zusammen. Eine Art Henkersknecht
schleicht dann von hinten heran und stößt ihm einen Dolch in den
Nacken, worauf denn auch der Stier sogleich tot ist. Jetzt treten
fünf Maultiere mit bunten Bändern und Schellen in die Bahn und
schleifen die gefallenen Pferde und zuletzt den Stier im Galopp
hinaus. Es vwird etwas Sand auf die Blutspur gestreut, und ein
neuer Stier kommt an dlie Reihe.
264 —
7. So wurden acht Stieère nacheinander zu Tode gehetzt.
Zwanzig Pferde blieben tot auf dem Platze, mehrere wurden mit
schrecklicher Verwundung hinausgeführt. Ein einziger Stier tötete
acht Pferde. Menschen kamen nicht zu Schaden. Es ist wahr, die
Pferde sind derart, dab, wenn der Stier sie heute nicht tötete, sie
morgen zum Schinder gebracht würden. Gute Pferde würden teils
zu kostbar sein, teils würden sie selbst mit verbundenen Augen
nicht dazu zu bringen sein, dem Anrennen des Stieres stand-
zuhalten, ohne zu scheuen oder sich zu vehren. Je mehr Pferde
der Stier töõtet, und je gefährlischer er den Menschen wird, um so
lauter wird ihm Beifall geklatscht.
Ein Stier wollte überhaupt nicht angreifen. Unter vütenden
Verwünschungen der Zuschauer lief er verzagt in der Bahn herum.
Da rief alles: „Die Hunde!“ In die Bahn gebracht, waren diese
kaum noch zu halten und stürzten wütend auf den Stier, der so-
gleich einen spießte und hoch in die Luft warf. Die übrigen
faßten ihn aber; einer biß sich in seine Zunge fest und ließ sich
hoch auf und nieder schleudern. Man hätte ihn zerreibßen können,
ehe er losgelassen. Vier Hunde hielten zuletzt das grobe Tier so
fest, daß es sich nicht mehr befreien konnte und der Matador es
niederstieß. Als der achte Stier geendet, fing es bereits an zu
dunkeln; das ganze Publikum rief aber nach einem neuen Stier, und
so wurde der neunte fast im Finstern gehetzt, vwas für den Matador
ãußerst gefãhrlich vwird.
Dies ist das Schauspiel, das die Spanier über alles lieben, und
an dem die zartesten Erauen teilnehnmen. Was mich betrifft, habe
ich an einem Stiergefecht vollkommen genug gehabt, und Du viel-
leieht an der Beschreibung. Graf von Moltke. (Tagebuchblätter aus Spanien.)
159. Eine Wanderung durch die Pußta.
1. Im Osten lichtete sich der Himmel, die Sterne begannen zu
bleichen, scharf und eisigkalt strich der Wind über die leise rauschenden
Weizenfelder. Plötzlich erschien der Horizont von einer einzigen, undurch—
dringlichen weißen Wolke überzogen. Sie senkte sich tiefer und tiefer,
und nun begann der Tau aus der Höhe herabzurieseln so dicht und stark,
daß mein Mantel bald bis auf die letzte Faser durchnäßt war. Ein un—
angenehmes Kältegefühl durchschüttelte meinen Körper und steigerte sich zu
heftigen Frostschauern. Tau, nur Tau ist oft wochen-, ja monatelang
265
—
das einzige Geschenk, das die Mutter Natur während der anhaltenden
Sommerdürre den genügsamen Pflanzenkindern der Steppe spendet.
Der breite, sandige Fahrweg, auf dem ich rüstig vorwärts schritt,
und der mich bis an den Rand der Steppe führen sollte, war rechts von
schier endlosen Kukuruzplantagen, links von Sonnenblumenfeldern be—
grenzt. Es war so totenstill ringsum, daß ich das Geräusch der schweren
Tautropfen vernahm, die unaufhörlich von den tiefgesenkten Blüten der
Sonnenblumenstauden herabfielen.
2. Am Rande des Kukuruzfeldes fand ich eine sonderbare Haustier—
gesellschaft friedlich beim saftigen Morgenmahl beisammen. In der Mitte
ftand ein Esel, der aufmerksam die Ohren spitzte, als ich mich der Gruppe
näherte. Ihn umdrängte eine kleine Herde von Schafen. Den äußeren
Riug dieser Genossenschaft bildeten ein großhörniger Stier, eine Kuh und
ein Dutzend grauborstiger Schweine und Ferkel, Tierfreundschaften, wie
sie die Ode und Einsamkeit der Pußta mit sich bringt.
Da Hirt und Wolfshund fehlten, konnte die Meierei nicht weit sein.
Nur wenige Schritte noch, und hinter dem Kukuruzfelde, etwas abseits
vom Wege erschien ein graues, dickes Rohrdach hinter hohen, knorrigen
Akazien und uralten Fliederbäumen, deren weiße, leuchtende Dolden fast
bis an den umfangreichen Schornstein des Lehmhäuschens hinaufragten.
Weder Mauer noch Zaun umgab das kleine, ärmliche Anwesen. Einige
windschiefe Ställe mit rohen Lehmwänden und schadhaftem Strohdach,
ein paar Strohhaufen und ein Ziehbrunnen seitlich vom Wohnhäuschen
vervollständigten das Bild.
3. Der Hebebalken des Ziehbrunnens knarrte. Das Wasser rauschte
in die lange Tränkröhre. Dort stand ein Heidemädchen im kurzen, roten
Rock. Dicke Flechten welligen, blauschwarzen Haares fielen über ihren
Rücken. „Guten Morgen!“ rief ich laut und fröhlich hinüber, „ich sehe,
daß der Schornstein qualmt. Kann ich eine Schale heiße Milch haben?“
Sie musterte mich mit ihren pechschwarzen Augen und antwortete freundlich:
„Kommt nur herein, die Milch könnt Ihr haben!“
Die Zweige der Fliederbäume bildeten vor der Tür des Häuschens
einen dichten Laubengang. Von den Dolden und Blättern tropfte und
rann es wie dichter Sprühregen auf das einfache Holztischchen und die
Holzbank hernieder, die in der Nähe der Tür aufgestellt waren. Daher
flink hinein an das flackernde, wärmende Feuer des umfangreichen, ge—
mauerten Küchenherdes, wo an einem Eisengestell ein Kessel über den
züngelnden Flammen langsam hin und her schwankte. über dem Herde er—
hob sich ein riesiger Rauchfang, der in den geräumigen Schornstein mündete.
266
Das Mädchen schob einen Binsenstuhl an das Feuer, breitete einen
zottigen Schafpelz darüber und lud mich freundlich ein, auf diesem weichen
Polster Platz zu nehmen. Dann eilte sie in die anstoßende Kammer
und kam mit einem großen, roten Tonkruge zurück, aus dem sie frische
Milch in einen andern Topf goß. Den Topf stellte sie in die Glut
des Feuers. Eine angenehme Wärme durchzog den kleinen Küchenraum.
Mit der heißen Milch brachte sie mir auch frisches Brot und Käse.
Das Brot mußte soeben erst dem kleinen, kegelförmigen Backofen zur
Seite des Häuschens entnommen sein; denn es lag auf einem kleinen
Eichenbrett unter der Vorhalle vor dem Ofen. Es mundete mir vor—
trefflich.
4. Ich machte mich wieder auf den Weg. Der Fahrweg, den ich
jetzt wanderte, war noch viel breiter und zerfahrener als der, auf dem ich
zuerst gekommen war.
Eine kleine Karawane elender Zigeunerwagen, mit hinkenden, dürren
Kleppern bespannt, quälte sich durch den tiefen Sand. Unbarmherzig
hieben die langhaarigen, braunen Führer mit den Lassopeitschen auf die
abgehetzten Tiere ein. Wolfshunde umsprangen mit lautem Gekläff die
knarrenden und ächzenden Zeltwagen. Ihnen folgte ein Rudel Kinder,
Mädchen und Buben.
Kaum war ich in Sicht, so stürzten sie schreiend und lärmend auf
mich zu und umringten mich mit dem Rufe: „Bitte untertänigst um ein
Kreuzerchen; küss' die Füße und die Hände!“ Hinter den Löchern und
Rissen der zerfetzten Wagenplanen wurden sofort braune Gesichter und
schwarze Augen sichtbar. Der Kreuzersegen, den ich zu verschwenderisch
unter das kleine Gesindel ausgestreut hatte, lockte nach und nach die ganze
Reisegesellschaft von den Wagen herunter. Weiber und Mädchen drängten
sich bittend an mich heran und ließen nicht eher Ruhe, bis sie ihren
Kreuzer erhalten hatten. Eine forderte sich eine Zigarre, biß lachend mit
ihren weißen Zähnen die Spitze ab und entzündete fie mittels eines Feuer⸗
zeugs, das ihr ein alter, weißhaariger Zigeuner gereicht hatte. In krieche—
rischer Unterwürfigkeit fragte er, ob er mit seiner kleinen Musikbande dem
„gnädigen Herrn“ aufspielen dürfe.—
Als ich bejahte, schlüpften auch die männlichen Insassen des Wagens
unter dem Zeltdach hervor. Sie prüften die Saiten ihrer schmutzigen
Geigen und begannen frisch und feurig ein ungarisches Volkslied zu
spielen.
5. Mein Weg führte weiter durch eine weite, wüste Ebene, die nicht
eine Spur von Graswuchs zeigte. Weißlich schimmernde Salzwassertümpel
durchsetzten den Boden, über den sich in dichten Polstern Salzpflanzen
— 287 —
zogen. In den Schlamm der Lachen und Tümpel hatte sich eine viel—
köpfige, krausborstige Schweineherde eingewühlt, und unter ihnen weilte
traulich und stillvergnügt der Schweinehirt. Sein durchlöcherter Schlapp—
hut und der zerfetzte Lodenmantel lagen neben andern Kleidungsstücken
am Rande der Lache.
Als der tückisch dreinschauende Wolfshund, der die Borstentiere und
die Kleidungsstücke seines Herrn bewachte, auf mich losfuhr, sprang der
braune Gesell aus dem Sumpfe heraus, ergriff seinen langen, dicken
Knüttel und trieb mit Flüchen und Schimpfworten den Hund zurück.
6. Vor mir inmitten der Ode lag ein Pußtendorf mit grauen Rohr—
dächern, weißen, weithin leuchtenden Hausgiebeln und einem schlanken,
spitzen Turme.
An einem Ziehbrunnen jenseit des Dorfes hielt ein kleiner Troß
von zweirädrigen Karren und Wagen. In Mäntel gehüllt, hockten Frauen
und Mädchen auf den Wagensitzen, während die Geschirrführer die Pferde
ausspannten und zur Tränke führten. Körbe mit Melonen, Kürbissen,
Aprikosen und Pfirsichen, Möhrenbündel, riesige Krautköpfe, grüne Paprika—
schoten und alles, was die Pußta an Früchten und Gemüsen hervorbringt,
lagerten auf den Marktwagen. Die weiblichen Reisenden schliefen droben
bei ihren Bündeln und Körben. Sie holten auf der Fahrt nach, was
sie an Schlaf in der Nacht entbehrt hatten.
7. Als ich vorüber war, lag vor mir die unbegrenzte Steppe, über
die sich der klare, lichtblaue, fast durchsichtig schimmernde Morgenhimmel
breitete. Kein Baum, kein Strauch ringsumher! — Der Weg verlor sich
in den graugrünen Rasenpolstern. Hier und da tauchte noch eine Wagen—
spur inmitten sandiger Strecken auf. Die Sonne stieg höher und höher,
die kühle Luft wurde lauer und lauer. Der lichtblaue Himmel nahm eine
rötlichgraue Färbung an.
Das Steppengebiet, das ich nun durchwanderte, erschien mir trostlos
öde. Auf einigen meterhohen, hügligen Sandwehen, durch deren blendend
weiße Decke sich Brennesseln, Wolfsmilch und mannshohe Kugeldisteln in
Büschen und Stauden herausgemüht hatten, lagen die ärmlichen Anwesen
der Schafhirten. Es waren dürftige Rohrhütten, entweder freistehend
oder mit einem Rohrzaun umgeben, daneben einige Rohrpferche zum
Unterschlupf für die Haustiere und vor der Hütte ein Holzpfahl mit
Pflöcken, auf denen bunte und rote Tonkrüge und Töpfe trockneten. Halb—
nackte und nackte braune Kinder wälzten sich im Sande und glotzten mich
neugierig an, als ich vorüberging. Da und dort weideten die Schaf—
herden.
268
8. Bald stieß ich auf den Rinderhirten und einige Hirtenjungen. Es
waren große, muskulöse Gestalten. Die schwarzbraunen Arme, die aus
den flatternden Ärmeln des kurzen Hemdes bis weit über den Ellenbogen
hervorsahen, waren wohl imstande, den Kopf eines wild gewordenen
Stieres in den Sand zu zwingen. Weite blaue oder weiße Jacken, ein
mächtiger Schlapphut und ein lässig über die Schultern geworfener Loden—
mantel vervollständigten die einfache Kleidung dieser Naturkinder. Einer
der Hirtenjungen trug an einem Haken seines Gurtes einen eisernen Koch—
kessel und kellenartige Löffel. Der andre schleppte den Schnappsack mit
den Nahrungsmitteln. Mannshohe dicke Knüttel halten die kecken, präch—
tigen Vierfüßler in dem nötigen Respekt.
Vor mir wogte ein riesiger See mit silbergrauen Wellen. Bäume,
Sträucher, Dörfer, Landhäuser und Windmühlen umkränzten in greifbarer
Klarheit seine Ufer und spiegelten sich in seinen Fluten. Rinder schienen
mitten durch das Gewässer zu schreiten, ja sogar darin zu grasen. Eine
wilde, unübersehbare Pferdeherde, gefolgt von flüchtigen Wolfshunden
und berittenen Csikosen (Pferdehirten), die lustig die lange Lassopeitsche
schwangen, stürmte hindurch. Auch der Ziehbrunnen, dem ich jetzt zu—
steuerte, schien in den Fluten zu versinken. — Weiter und weiter dehnte
sich der See und zog sich rings um mich her. Es war eine der dort
häufig wahrnehmbaren Luftspiegelungen, die mich täuschte.
9. In der drückendsten Schwüle des Mittags langte ich bei den
Hirten an. Hunderte von weißen Rindern und grasenden und schnaubenden
Pferden drängten sich um die langen Tränkröhren bei dem Ziehbrunnen.
Die Hirtenjungen saßen auf den dicken Eichenbohlen der hohen Brunnen—
einfriedigung und ließen in Eile die umfangreichen Eimer in dem tiefen
Brunnenschacht auf und nieder steigen. Unaufhörlich knarrten die sich
senkenden und hebenden Hebelstangen, und das klare, kühle, kristallhelle
Wasser rauschte in ununterbrochenen Strömen in die langen Tränkrinnen
hinein, wo es von den durstigen Tieren gierig aufgesogen ward. Die
sich satt getrunken, verließen ihren Platz; andre traten in die Reihen.
Einige der Csikosen lagen an einem flackernden Herdfeuer und
schmauchten ihre kurzen Pfeifen. Sie forderten mich auf, mich zu ihnen
auf ihre ausgebreiteten, bunt benähten Lodenmäntel niederzulassen und an
ihrem Mittagsmahl teilzunehmen, das in großen, hängenden Kesseln zu—
bereitet war. Es war ein Brei aus Kukuruzmehl, mancherlei Gewürzen
und geschabtem Speck.
Ich war hungrig wie ein Steppenwolf, und der schmackhafte Brei
und der kühle Trunk aus dem nahen Brunnen mundeten ganz vortrefflich.
Fran; Woenig. Gej, die Pußta!)
207 —
160. Ein türkisches Bad.
L. Wir waren in Schumla angekommen. Hunger, Kälte und Ermüdung
nach vierzehnstündigem Ritte schüttelten mir die Glieder mit Fieberfrost, als
ich vom Pferde stieg, und die kurzen Steigbügel des Tatarensattels hatten
meine Beine fast gelähmt. Man schlug mir vor, in das türkische Bad
zu gehen. Da ich von diesem Bade noch keine Vorstellung hatte, so
schleppte ich mich mit meinem Begleiter mühsam dorthin, um es wenigstens
zu sehen.
Wir traten in ein weites, hohes Gewölbe, in dessen Mitte ein Spring—
brunnen plätscherte. Eine empfindliche Kälte herrschte in diesem Raume, so
daß ich nicht die geringste Versuchung verspürte, auch nur das kleinste Stück
meiner Kleidung abzulegen. Überdies sah ich durchaus keine Badewanne und
dachte nur mit Schrecken an den Springbrunnen und seine Eiszapfen. Mit
Erstaunen erblickte ich auf der hölzernen Erhöhung, die rings das Gemach
umgab, mehrere Männer auf Teppichen und Matratzen liegen. Bloß mit
einem dünnen Leintuch zugedeckt, rauchten sie behaglich die Pfeife und labten
sich wie an einem schwülen Sommertage an der Kühle, die mir in diesem
Augenblick entsetzlich erschien.
2. Der Badewärter, der in unsern bedenklichen Mienen las, führte uns
in ein zweites Gewölbe, in dem schon eine ganz anständige Hitze war. Hier
bedeutete man uns durch Zeichen, daß wir uns entkleiden möchten. Man
wickelt sich ein halbseidenes, blaues Tuch um die Hüften und bekommt ein
Handtuch als Turban um den Kopf. Nach dieser Einkleidung schob man uns
in eine dritte gewölbte Halle hinein, deren marmorner Fußboden so stark ge—
heizt war, daß man ihn nur auf hölzernen Pantinen betreten konnte. Unter
der Mitte der Kuppel, durch deren sternförmige, mit dickem Glase geschlossene
ffnungen das Tageslicht eindringt, streckt man sich behaglich auf eine etwa
zwei Fuß hohe, mit Marmor ausgelegte Plattform, und der Badewärter schreitet
nun zu einem ganz eigentümlichen Verfahren. Der ganze Körper wird ge—
rieben, und alle Muskeln werden gereckt und gedrückt. Der Mann knetet
einem die Brust und fährt mit dem Knöchel des Daumens das Rückgrat
herab; alle Glieder, die Finger und selbst das Genick bringt er durch leichte
Handbewegungen zum Knacken. Wir mußten oft laut auflachen; aber der
Schmerz nach dem langen, mühsamen Ritte war verschwunden.
3. Durch Klatschen in die Hände gibt der Badewärter das Zeichen, daß
er fertig sei. Man begibt sich nun in die kleinen, noch stärker erwärmten
Zellen, welche die große Halle umgeben. Hier sprudelt klares Wasser in Marmor—
becken, und zwar nach Belieben, aus zwei Hähnen, warmes und kaltes. Der
Badende wird nun demselben Verfahren unterworfen wie die türkischen Pferde
— 270 —
beim Striegeln. Der Wärter zieht nämlich einen kleinen Sack aus Ziegenhaar
über die rechte Hand und reibt damit anhaltend den ganzen Körper.
Das ist allerdings eine gründliche Reinigung, und man möchte sagen,
daß man noch nie gewaschen gewesen ist, bevor man nicht ein türkisches Bad
genommen. Der Badewärter erscheint nun aufs neue mit einer großen Schüssel
mit wohlriechendem Seifenschaum. Mittels eines großen Quastes aus den
Fasern der Palmrinde seift er seinen Mann vom Scheitel bis zur Fußsohle,
Haare, Gesicht, alles ein, und mit wahrem Vergnügen gießt man sich dann
das kalte Wasser über Kopf, Brust und Leib.
4. Jetzt ist man fertig. Statt der durchnäßten Tücher erhält man trockene,
über dem Feuer erwärmte, umgewickelt, einen Turban auf den Kopf und ein
Laken über die Schultern. Wir erkannten uns in dieser Maskerade kaum
wieder und mußten einer über den andern lachen. Wir streckten uns nun in
der Eingangshalle so behaglich hin, wie wir es vorher bei den Türken ge⸗
sehen. Man schlürft ein Scherbett, Kaffee oder die Pfeife und empfindet
die Kälte nur als angenehme Erfrischung, so innerlich durchwärmt ist der
Körper. Die Haut fühlt sich äußerst glatt und geschmeidig an, und es ist gar
nicht zu beschreiben, wie erquickend und wohltätig ein solches Bad nach großer
Ermüdung wirkt. Nach einem köstlichen Schlafe setzten wir am folgenden
Morgen unsern Ritt so frisch fort, als ob wir noch keine Anstrengungen gehabt
hätten. Graf von Moltke. GBriefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei.)
161. In Moskau.
1. Ver die Stadt Moskau von der Höhe des Kreml zum
ersten Male an einem warmen, sonnigen Tage erblickt, der wird
gewiß nicht denken, daß er sich hier unter demselben Breiten-
grade befindet, unter dem in Sibirien die Renntiere weiden
und in Kamtschatka die Hunde den Schlitten über die Eisflächen
ziehen. Moskau macht entschieden den Eindruck des Südens,
aber zugleich den des Fremdartigen, nie Gesehenen.
Kein Ort der Velt, Rom ausgenommen, umschließt so viele
Kirchen wie die alte Hauptstadt Rußlands; man behauptet, daß
Moskau vierzigmal vierzig Gotteshäuser besitze. Jedes hat min-
destens fünf, einige sogar sechzehn Kuppeln, die bunt bemalt
und mit farbigen, glasièrten Ziegeln gedeckt sind oder, reich
versilbert und vergoldet, in der blauen Luft funkeln. Selbst die
schlanken Türme, die aus der ungeheuern Masse von Häusern und
Gãrten, die mehrere Quadratmeilen bedecken, zum Teil in bedeu-
tender Höhe emporsteigen, tragen diesen glänzenden Schmuck,
und aueh den grõöberen Palästen fehlt die Zierde einer Kuppel nicht.
271 —
Die Vohnhäuser liegen fast immer in Gärten und zeichnen
sieh auf dem dunkeln Grunde der Bäume mit ihren weiben
Mauern und den hellgrün oder rot angestrichenen, flachen Eisen-
dãchern in sehr bestimmten Umrissen ab. Nur der älteste Teil
dieht am Kreml, das Chinesenviertel, bildet eine Stadt, wie wir
sie kennen, wo Haus an Haus sich lehnt. Alles übrige scheint
eine weite Versammlung von Landhäusern zu sein, zwischen
denen die Moskwa in weiten Krümmungen hinfließt.
Auf der Höhe des Kreml erheben sieh neben den Palästen
des Zaren und des Patriarchen die Rüstkammern des Heeres
und die Heiligtümer der Kirche. Dort thront die oberste welt-
liche und geisstliche Macht. Die Klöster, meist an den Enden
der Stadt gelegen, bilden Fesstungen für vich.
2. Noch immer ist das ehrwürdige Moskau mit seinen alten
Heiligtũmern und geschiehtlichen Erinnerungen für jeden Russen
ein Gegenstand der Verehrung und Liebe. Petersburg ist sein
Stolz, aber Moskau steht seinem Herzen nahe. Man hat gesagt,
daß bei zunehmender Bevölkerung das unermeßliche Reieh in
sich zerfallen müsse. Aber bein Teil desselben kann ohne den
andern bestehen, der waldreiche Norden nicht ohne den korn-
reichen Sũüden, die gewerbtätige Mitte nicht ohne beide, das
Binnenland nicht ohne die Küste, nicht ohne die große gemein-
same WVasserstrabe der vierhundert Meilen schiffbaren Wolga.
Mehr noch als dies hält aber das Gemeingefühl aller aueh die
entferntesten Teile zusammen. Und für dies Gefühl nun ist
Moskau der Mittelpunkt nicht nur des europaischen Kaisertums,
sondern des alten, heiligen Zarenreiches, in dem die geschieht-
lichen Erinnerungen des Volkes wurzeln, und aus dem trotz einer
mehrhundertjährigen Abschweifung vielleteht doch noch seine
Zukunkt hervorgehen wird. Graf von Mollke. (GBriefe aus Rußland.)
162. Der Normann.
J.
„Siehst du die Krone auf den Sparren?
Bald wird mein Häuschen fertig sein,
und ehe Wald und Bach erstarren,
zieh' ich in meine Wohnung ein.
5Da unter ihr dio Meereswogen,
von alloer Völker Schiffen bunt,
und dorther Kommt der Strom gegogen
zur Westsee aus dem Oeresund.
272—
S0o liegt, wenn ich in Frieden rasto,
0 vor meinen Augen noch das Velcd,
das mir, dem unruhvollen Gaste,
die vor'ge Zeit entgegenhält.
Denn ich bin lang' zur See gefahren,
und ohne Heimat, da und hier,
15 sah iceh in mehr als dreibig Jahren
nur fremde Flaggen über mir.
Nun will ich erst als Normann hausen,
zu liober Erdo heimgekehrt,
geniegend, was in Sturmes Brausen
20 diée Fromde meinem Fleiß gewäbrt.““
II.
„Mein Haus auf hohem Uferrande
und hier mein Boot in meiner Hut:
Ich bin daheim im Norweglande,
ieh bin daheim auf Norwegs Flut,
5 von Lotsensegeln rings umflossen,
den Blumen, die der See entkeimt;
iehn bin bei Frounden, bei Genossen,
bin Norwegs Männern eingeheimt. —
Noch ist es still, die Schiffe gleiten
l0ö goemach zum Lindesnaes hiĩnaus;
doeh Wetter drohn. Die Lotsen breiten
sieh an der Scohareonkũüste aus.
Ihr fromden Gäste, fahrt geborgen
hinab an Norwegs Felsenstrand;
15 wir, Norwogs Männer, hüten, sorgen,
wir allom Menschenkind verwandt. —
Nun jagt der Sturm. Ur ist zur Stäte.
Die Wolken rollen wild heran.
Still, Altor, noige dich und betol
20 Nun geht die Lotsenarbeit an.“
III.
„Siehst du die Brigg dort auf don Weollen?
Sio stouert falsoh, sie treibt heroin
und muß am Vorgebirg' z2erschellen,
lenkt sie nicht augenblicklich ein.
z Ieh muß hinaus, daß ich sie leitoel
273
„CGehst du ins offné Wasser vor,
so legt dein Boot sich auf die Seitoe
und richtet nimmer sieh empor.“ —
„Allein ich sinke nicht vergebens,
sowenn sie mein letater Ruf belehrt.
EKin ganzes Schiff voll jungen Lebens
ist wohbl ein altes Leben wert.
Gib mir das Sprachrohr! Schifflein, eilo!
Es ist die letate, höchste Notl —
s5 Vor fliegendem Sturme gleiech dem Pfoeile
hin dureh die Schären eilt das Boot;
jotat schĩetßt es aus dom Rlippenrande.
„Links müßt ihr steuern!“ hallt ein Schrei.
Kiel oben treibt das Boot zu Lande,
20 und sicher fährt die Brigg vorbei.
Ludwig Giesebrecht. (Gelürzt.)
163. Aus dem Norden.
1. Wenn bei uns in den Feldern die Kornblumen blühen und in den
Gärten die Johannisbeeren reifen, dann sind die Tage recht lang und die
Nächte kurz. Die sparsame Hausmutter läßt die Lampe ruhig stehen, ohne
sie anzuzünden; die Kinder spielen auf den Straßen und Plätzen bis zum
Schlafengehen, und die lichtscheue Eule muß lange warten, ehe sie ihre
sichere Wohnung in der Spitze des Kirchturms verlassen kann.
Um diese Zeit geht unsern Brüdern, die im nördlichen Schweden und
Norwegen wohnen, die Sonne gar nicht unter; um Mitternacht scheint sie
noch hell zu Spiel und Tanz für alt und jung, als gäbe es keinen Schlaf und
keine Nacht. Die Schnee-Eule wartet vergebens auf den Abend; sie muß sich
bequemen, bei Tag auf Raub auszufliegen. Die Sonne kreist groß und
hell rings am Horizont herum, senkt sich um Mitternacht wohl ein wenig,
geht aber nicht unter. Wer nicht gut bei Tageslicht schlafen kann, der muß die
Fenster seiner Kammer sorgfältig verhängen, um durch künstliche Dämmerung
den Schlaf zu fördern. Das mag manchem gar schön dünken; aber wenn
es nur immer so bliebe. — Schreiben wir den 21. Dezember und feiern bald
darauf das liebe Weihnachtsfest, dann sind bei uns die Tage wohl bedeutend
kürzer als um Johannis; aber die Sonne kommt doch jeden Morgen wieder
zum Vorschein, wenn sie auch etwas auf sich warten läßt. In jenen Ge—
genden jedoch hat sie auf lange Zeit Abschied genommen, und die Kerzen
am Weihnachtsbaume können des Mittags um zwölf Uhr angezündet werden.
Wer will, kann des Morgens um sechs Uhr zu Bett gehen und des Abends
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. U. Neubtg.
—18
274
um sechs Uhr aufstehen; es ist alles einerlei. Finster ist es und bleibt es,
so daß mancher zuletzt gar nicht mehr wissen mag, ob es denn eigentlich
Tages- oder Nachtzeit ist.
2. So wird der Winter im hohen Norden von einer mehrere Monate
langen Nacht begleitet, wogegen der Sommer durch ebenso lange Gegenwart
der Sonne entschädigt. So gut es aber auch dann die Sonne meint, ein
Sommer in unserm deutschen Vaterlande ist mir doch lieber als ein Sommer im
Norden von Schweden und Norwegen. Zwar überziehen sich in kurzer Zeit
die Täler mit einem saftigen, vollen Grün; auch fehlt es nicht an Blüten
mancherlei Art, und die Wärme steigert sich mit jeder Stunde, da die ab—
kühlende Nacht nicht eintritt. Aber an Kirschen und Birnen ist nicht zu
denken, ja nicht einmal an Kartoffeln, und Brot aus Roggen gilt als Lecker—
bissen. — Wer dort wohnt, der bekommt keinen andern Baum zu sehen als die
Tanne oder die Birke, und wer aus unserm Vaterlande dorthin ziehen will,
der nehme nur Abschied von den Buchenwäldern und Obstbäumen, von der
Weinrebe und den Weizenfeldern. Anfangs begleiten ihn zwar noch alte
Bekannte: Apfelbäume, Birnbäume, Buchen und Eichen; aber je weiter er
reist, desto mehr bleibt ein Baum nach dem andern zurück, bis er zuletzt nur
noch die düstre Tanne und die zierliche Birke neben sich schaut. Aber ehe er
sich's versieht, sind auch diese zu Zwergen zusammengeschrumpft, die kauernd
hinter Klippen und Schluchten Schutz suchen. Hält er immer noch nicht an
in seiner Wanderung, so nehmen auch diese Zwerglein von ihm Abschied. Nun
erinnert ihn nur noch ein Weidengebüsch an sein Heimatland, bis auch dieses
verschwindet, Heidekraut das endlose Wellenland überzieht und Moose und
Flechten den Boden polstern.
3. Das Blöken der Schaf- und Rindviehherden hat sein Ohr schon
längst nicht mehr vernommen. Die Menschen, die er hier und da etwa an—
trifft, kommen ihm fremdartig vor, kleiner als daheim, mit einem andern
Schnitt der Kleider und mit einem andern Gesicht. Es sind die Lapp⸗
länder, mit denen er im Norden von Schweden und Norwegen Bekannt—
schaft macht. Auch mit dem Renntier wird er Freundschaft schließen müssen;
denn ohne dieses Tier könnte er in Lappland gar nicht leben. Es gehört zu
dem Hirschgeschlecht und hat unter allen seinen Arten die gedrungenste und
kräftigste Gestalt. Sein Hals ist kurz und muskulös, seine Hufe sind platt,
seine Beine kräftig gebaut; kurz, der ganze Bau dieses Tieres ist zum Er⸗
kragen von Beschwerden, zum Ziehen von Lasten eingerichtet. Auch weiß es
sich auf einem Boden zu ernähren, der acht Monate des Jahres mit Schnee
und Eis bedeckt ist. Hunger erträgt es ohne viel Beschwerde; Moos ist
sein Lieblingsgericht. Trotz dieser kärglichen Nahrung überwindet es aber
viel besser als das Pferd alle Schwierigkeiten, die Schnee- und Eisfelder
38
27—
bieten. Unglaubliches vermag es vor dem Schlitten zu leisten. Wegstrecken,
zu denen der Lappe im Sommer drei Tage gebraucht, durchläuft es im
Winter in einem Tage. Nur gegen die Wärme ist es empfindlich. Kommt
daher die kurze Sommerzeit, so ist der Lappe gezwungen, mit seinem Renntier
aus den warmen Tälern auf die Berge zu flüchten, und selbst da sucht es
sich gern ein Schneefeld zum Ruhen aus.
Renntierschlikten.
4. So ist der Bewohner des Nordens von Europa ein Nomade ge—⸗
worden, weil die Renntiere, die ihm Kleidung und Nahrung geben, Nomaden
sind. Im Winter lebt er in den Tälern, im Sommer schlägt er seine Wohnung
auf den Bergen auf. Birkenstämme bilden das Gerüst, Renntierfelle die
Decke des Zeltes, in dem nicht nur Weib, Kind und Gesinde, sondern auch die
Hunde wohnen. Diese treiben jeden Tag die Herde zum Melken zusammen,
und wie der Lappe keine andre Milch als die seiner Renntiere kennt, so
kennt er auch kein andres Bett als ihr Fell. Seine Herden sind sein einziger
Reichtum, und Glück und Unglück hängt hier von dem Besitze dieses einzigen
Tieres ab. Wer Herr einer Herde von 1000 Renntieren ist, gilt für einen
reichen Mann. Wird dem Lappländer ein Kind geboren, so beschenkt er es
mit einem Renntierkalbe; bekommt es den ersten Zahn, so wird es wieder
mit einem solchen Geschenke bedacht. arl Gude. (R. H. Hieckes Erstes Lesebuch.)
18*
276
E. Volkstümliche Erzählungen
und Sagen.
164. Wie Reineke Fuchs Braun den Bären
anführt.
Reineke saß in Malpartaus,
dem festen, stolzen Fuchsenhaus.
Da klopft' es ungestüm ans Tor:
„He, Reineke, du Schelm, hervor!
z Als Bote steh' ich hier. Vernimm,
du reiztest deines Rönigs Grimm!
Entbieten läßt er vor Gericht
Reineke Fuchs, den Bösewicht.
Und kommst du nicht, so sei bedroht
10 mit Foltersqual und Henkerstod!“
Vorsichtig lauernd an der Pforte,
vernahm der Fuchs des Bären Worte.
„Ha,“ dacht' er, „könnt' ich dir dein Prahlen
in meiner Münze wiederzahlen!“
15 Und listig lugt' er durch die Spalte,
ob andre wohl im Hinterhalte.
Er sah, daß Braun allein zur Stelle,
und trat hinaus vor seine Schwelle.
„Willkommen, Vetter, Gottwillkommen!
20 Du hast dich doch nicht übernommen?
Der Weg ist weit, die Sonne heiß;
dir perlt vom Pelz dein edler Schweiß.
Hat denn der Rönig, sag mir an,
nicht sonst noch Boten, teurer Mann,
25 daß auf den edelsten von allen,
den besten seine Wahl gefallen?
Mir aber wird's besonders frommen,
daß du, verehrter Freund, gekommen;
willst du nur klugen Rat mir spenden,
zo wird bald des Rönigs Sinn sich wenden.
277 —
Ich ziehe mit, sei außer Sorgen!
Nur bitt' ich, warte noch bis morgen.
Mir ist so voll, so schwer der Magen,
kann Süßigkeiten nicht vertragen.“
z5 „Ei, ei!“ rief Braun, „laß hören, was?“
Reineke sprach: „Was hilft dir das?
Ich muß nach armer Schlucker Weise
zufrieden sein mit jeder Speise,
und wenn mich Not und Hunger treiben,
10 und nichts im Haus als Honigscheiben . . .“
„Wie, was?“ so unterbrach ihn Braun,
„du kannst den Honig nicht verdaun,
die wunderbare, süße Speise,
die ich mir über alles preise?
15 Willst du mit Honig mich erfreuen,
es soll dich sicher nicht gereuen!“ —
„Ich merk' es wohl, du spottest mein.“ —
„Ich spotten ? Ei, beileibe nein!“ —
„So komm! Ein Stündchen nur von hier
zo zeig' ich den schönsten Honig dir
bei Rustifeil, dem reichen Bauer.
Zwar wird das Gehen mir noch sauer;
doch ist Befehl mir dein Begehren; —
was tut man nicht dem Freund zu Ehren!“
z5 Das Wasser Braun vom Maule troff.
So kamen sie zum Bauernhof.
Dort lag ein Eichstamm auf der Erden,
der sollte längs gespalten werden.
Drum hatte klüglich Rustifeeilil
—WoIe—
hineingetrieben mit Gewalt.
Schon klaffte fußesweit der Spalt.
Reineke sprach: „Mein Vetter Braun,
ist dir's genehm, den Stamm zu schaun?
s5 Er hält mehr Honig, als man glaubt.
Steck nur recht tief hinein das Haupt.
Du siehst, schon rückt die Nacht heran,
zu Bett ging längst der Bauersmann.
Genieße froh dein Leibgericht;
7o nur, rat' ich, überfriß dich nicht!“
22
278
„Ein Mann wie ich, weiß, was er tut;
Maß ist zu allen Dingen gut.
Hab' Dank für das, was du geboten“,
sprach Braun, und beide Vorderpfoten
5 und Ropf und Nacken hinterdrein
steckt tief er in den Spalt hinein.
Reineke aber springt herzu
und bricht die Reile aus im Nu.
„So, Freundchen,“ ruft er voller hohn,
z0 „merk auf, das ist dein Botenlohn!“
Dem Bären saust und brummt der Ropf.
da steckt er nun, der arme Tropf,
und wie er auch sich kraftvoll stemmt, —
der Eichstamm hält ihn festgeklemmt.
z5 Jetzt mit den freien Hintertatzen
hebt er gewaltig an zu kratzen.—
279—
Umsonst, sein Halsband schließt zu gut.
Caut heult er los in wilder Wut ..
Und aus dem Schlaf schreckt Rustifeil,
go lugt auf den Hof und greift zum Beil.
Reineke aber lacht und spricht:
„Gelt, Braun, ein treffliches Gericht!
Den Herrn des Hauses seh' ich kommen;
der hat gewiß sich vorgenommen,
g5 ein gutes Schlückchen dir zu weihen.
Caß es zum Besten dir gedeihen!“ —
Der Bauer macht ein groß Geschrei:
„Herbei, ihr Männer, all herbei!
Ein Bär auf meinem Hof gefangen!“
100 Da kommen sie mit Spießen, Stangen,
mit Gabeln, Flegeln, Rechen, Hacken,
den Honignäscher Braun zu packen.
Der aber reißt mit Schmerz und Graus
den Ropf ruck! aus dem Spalt heraus.
105 Ein gutes Teil von seinen Ohren,
von Haut und Haaren geht verloren;
auch beide Rlauen läßt er drinnen ..
doch heißt's: Nicht lange jetzt besinnen!
Und atemlos vor Angst und Pein —
110 die Bauern tobend hinterdrein
mit Hollahoh! und hussahuh! —
läuft Braun dem nahen Walde zu.
Manch schwerer Stein, manch wucht'ger Speer
flog pfeifend hinterm Flüchtling her,
115 und nur mit knapper Müh' und Not
entging der Bär dem sichern Tod.
JTulins Lohmeyer und Edwin Lormann. (Reinele Fuchs.)
*
165. Von den Schildbürgern.
a) Wie die Schildbürger ihre Glocke versenken.
Einstmals verbreitete sich im Lande die Kunde von einem großen
Kriege. Die Schildbürger wurden besorgt, es möchte ihnen ihr Hab und
Gut von den Feinden weggeführt werden. Besonders angst war ihnen
für eine Glocke, die auf dem Rathause hing. Auf diese, dachten sie,
2320
könnte das Kriegsvolk ein besonderes Auge haben und Büchsen daraus
gießen wollen. So wurden sie denn nach langem Ratschlagen eins, sie
bis zum Ende des Krieges in dem See zu versenken und sie, wenn
der Feind abgezogen wäre, wieder herauszuziehen und aufzuhängen.
Sie bestiegen also ein Schiff und fuhren mit der Glocke auf den See.
Als sie aber die Glocke hineinwerfen wollten, fiel es einem unter ihnen
ein, wie sie den Ort auch wiederfinden könnten, wo sie die Glocke aus—
geworfen hätten. „Da laß dir keine grauen Haare wachsen“, sagte der
Schultheiß und schnitt mit dem Messer eine Kerbe in das Schiff an dem
Orte, wo sie die Glocke in den See versenkten. „Hier bei dem Schnitt“,
sprach er, „wollen wir sie wiedererkennen.“ So ward die Glocke hinaus⸗
geworfen und versenkt. Lange nachher, als der Krieg vorüber war, fuhren
sie wieder auf den See, ihre Glocke zu holen. Den Kerbschnitt an dem
Schiffe fanden sie richtig wieder, aber den Ort, wo die Glocke war,
zeigte er ihnen nicht an. So mußten sie forthin ihre gute Glocke entbehren.
b) Die Schildbürger und die Kuh.
1L. Die Schildbürger waren
immer gar ernstlich auf den
allgemeinen Nutzen bedacht.
Einmal gingen sie hinaus, eine
Mauer zu besehen, die noch
von einem alten Bau übrig—
geblieben war, ob sie nicht
die Steine mit Vorteil an—
wenden könnten. Nun war
auf der Mauer schönes, langes
Gras gewachsen; das dauerte
die Bauern, wenn es verloren
sein sollte. Deswegen hielten
sie Rat, wie man es etwa
benutzen könnte. Die einen
waren der Meinung, man
sollte es abmähen; aber nie—
mand wollte sich auf die hohe
Mauer wagen. Andre mein—
ten, wenn Schützen unter
ihnen wären, so dürfte es
das beste sein, wenn man es
mit einem Pfeile herabschösse—
28
1
Endlich trat der Schultheiß hervor und riet, man sollte das Vieh auf
der Mauer weiden lassen, das würde mit dem Grase wohl fertig werden;
so dürfe man es weder abmähen noch abschießen. Diesem Rate neigte
sich die ganze Gemeinde zu, und zum Danke wurde beschlossen, daß
des Schultheißen Kuh die erste sein sollte, die den guten Rat zu ge—
nießen hätte.
2. Darein willigte der Schultheiß mit Freuden. So schlangen sie
denn der Kuh ein starkes Seil um den Hals, warfen es über die Mauer
und fingen auf der andern Seite an zu ziehen. Als nun aber der Strick
zuging, wurde die Kuh erwürgt und reckte die Zunge aus dem Schlunde.
Als ein langer Schildbürger dies gewahr wurde, rief er ganz erfreut:
„Ziehet, ziehet nur noch ein wenig!“ und der Schultheiß selbst schrie:
„Ziehet, sie hat das Gras schon gerochen! Seht, wie sie die Zunge
danach ausstreckt! Sie ist nur zu tölpisch und ungeschickt, daß sie sich
nicht selbst hinaufhelfen kann! Es sollte sie einer hinaufstoßen.“ Aber
es war vergebens, die Schildbürger konnten die Kuh nicht hinaufbringen
und ließen sie daher wieder herab. Und jetzt wurden sie erst inne, daß
die Kuh schon lange tot war.
Gustav Schwab. (Deutsche Volksbücher.)
166. Vill Eulenspiegel.
1. Im Munde des Volkes lebt noch jetzt nach mehr als 500 Jahren
der Name eines durchtriebenen Schalks, namens Till Eulenspiegel. Dieser
fand seine größte Lust daran, die Welt zu durchwandern, lustige und über—
mütige Streiche zu verüben und andern einen Schabernack zu spielen, am
häufigsten dadurch, daß er ihre Aufträge buchstäblich verstand und auch
buchstäblich ausrichtete.
2. Ein Barbier, der ihn auf der Landstraße zum Gesellen annahm,
bezeichnete ihm, weil er nicht selbst gleich nach Hause ging, seine Wohnung.
„Sieh nur“, sagte er, „nach dem roten Hause an der Ecke des Marktes
mit den hohen Fenstern von Spiegelglas; da geh nur hinein und warte,
bis ich komme!“ Till Eulenspiegel bezog die Worte „da geh nur hinein“
auf die Fenster; er ging nicht durch die Tür wie andre Leute, sondern
stieg durch ein Fenster, dessen kostbare Scheiben dabei zerbrochen wurden.
Als der Herr vernahm, was der neue Gesell vollführt hatte, hieß er ihn
sofort des Weges gehen, den er gekommen sei. Eulenspiegel brach ein
zweites Fenster in Stücke, um nur des Weges zu gehen, auf dem er
gekommen war.
3. Ein andrer Meister nahm ihn mit den Worten in Dienst, bei
ihm habe er nur die halbe Arbeit zu tun. Das nahm der Schalk
222
28
abermals wörtlich und tat jegliche Sache nur halb. Wenn er nach der
Stadt gehen sollte, kehrte er unverrichteter Sache auf der Hälfte des
Weges um. Wenn er die Pferde vor den Wagen spannen sollte, spannte
er nur ein Pferd vor, und wenn er ein Fuder Holz holen sollte, kam er
zurück mit halber Ladung; es sei ihm ja geheißen, daß er immer nur die
halbe Arbeit tun solle. Das wurde seinem Herrn am Ende doch ver—
drießlich, und er hieß ihn das Haus räumen. Das tat der Schalk denn
auch im eigentlichen Sinne und warf in Abwesenheit seines Herrn Stühle
und Tische, Bänke und alles Hausgerät zum Hause hinaus.
4. In einer Herberge zu Cöln am Rhein mußte er eines Tages lange
auf das Essen warten. Als er seine Ungeduld darüber laut werden ließ,
sagte die Wirtin: „Wer nicht warten kann, bis das Essen fertig ist, der
mag essen, was er hat.“ — „Gut!“ sagte Eulenspiegel bei sich selbst,
setzte sich an den Tisch und verzehrte mit gutem Appetit einen Salzkuchen,
den er zufällig bei sich hatte. Als nun bald darauf ein großer Braten
aufgetragen wurde, rührte Eulenspiegel ihn nicht an, sondern meinte, er
sei von dem Geruch schon gesättigt. Nach Tisch forderte der Wirt
von jeglichem Gaste Zahlung für die Zehrung. Till Eulenspiegel aber
sagte: „Wie soll ich zahlen, so ich doch nichts gegessen oder getrunken
habe?“ Der Wirt sagte dagegen: „Du hast mit bei Tisch gesessen und
hättest essen mögen, soviel du wolltest. Bist du aber von dem bloßen
Geruch schon satt geworden, so ist es mein Vorteil und der deinige auch;
du hast dir den Magen gewiß nicht überladen.“ Da nahm Eulenspiegel
drei Geldstücke aus der Tasche, warf sie auf das Zahlbrett und fragte den
Wirt, ob sie nicht einen guten Klang hätten. „Jawohl“, sagte der Wirt und
wollte sie einstreichen. Aber Eulenspiegel kam ihm zuvor und sagte: „Ich
habe den Geruch von deinem Braten gehabt, nimm du dafür den Klang von
meinem Gelde.“ Die übrigen Gäste lachten; der Wirt aber mußte den
schlauen Gast ohne Zahlung davonziehen lassen, und mancher fragte ihn hohn—
neckend, wozu er den Klang von Eulenspiegels Gelde doch anwenden wolle.
5. Till Eulenspiegel war in einem Dorfe unweit Schöppenstedt im
Herzogtum Braunschweig geboren. Er starb 1850 in dem Städtchen Mölln,
vier Meilen von Lübeck, wo man einen Grabstein mit seinem Wappen
zeigt. So oft er nämlich an einem Orte einen Mutwillen verübt hatte
und sich, um den Folgen zu entgehen, aus dem Staube machte, zeichnete
er mit Kreide an die Tür des Hauses einen Spiegel mit einer Eule
und schrieb darunter: „Der ist es gewesen.“ Noch jetzt nennt man
deshalb mutwillige, verkehrte und närrische Handlungen Eulenspiegel—
streiche.
UNach Otto Schulz. GBerlinisches Lesebuch.)
283 —
167. Eine grausame Todesart.
1. Die Abelsberger sind von jeher die Klügsten im Lande gewesen. Die
fanden zu jeder Spalte den richtigen Keil. Eine der bewunderungswürdigsten
Taten der Abelsberger war, wie sie die Maulwürfe eingeschüchtert haben.
Die Wiesen um Abelsberg waren alljährlich, besonders im Herbst
und Frühjahr, voller Maulwurfshügel. Darüber war der Gemeinderat
sehr betrübt, und der Bürgermeister seufzte oftmals: „Liebe Genossen, wir
kommen ganz um unser Gras!“ Da geschah es, daß der tapfre Knabe
Gosel, Bürgerssohn von Abelsberg, einen lebenden Maulwurf fing und
in einem Käfig nach Hause brachte. Auf dem Marktplatze wurde ein
Tisch errichtet; darauf wurde der Käfig gestellt und festgenagelt, und das
Volk der Stadt strömte zusammen, den dunkeln Bösewicht zu sehen. Mit
geballten Fäusten stürmte die Menge auf den Gefangenen ein. Die
Polizei hatte Mühe, ihn zu schützen vor der Volksrache, damit er ordnungs—
mäßig gerichtet werden könnte. Das Todesurteil war gesprochen über
den armen Sünder, der hier an dem Pranger stand. Dieser gebärdete
sich aber ganz wohlgemut, guckte mit seinen winzigen Äuglein neugierig
auf die Menge und schnupperte schalkhaft mit dem kleinen Rüssel zwischen
den Eisenstangen hervor. Darüber ergrimmte alles Volk.
Noch war aber der hohe Rat wegen der Todesart nicht einig. Das
stand fest: So hart sollte sie sein, wie es das wühlende Geschlecht noch
nicht erfahren hatte. Einige waren für das Hängen; aber der Übeltäter
hatte dafür einen zu kurzen und dicken Hals, der Strick wäre abgeglitten.
Andre wollten ihn enthaupten; das fand der Rat jedoch viel zu ehren—
voll für den Schelm. Das Verbrennen wurde zurückgewiesen, weil der
Feuertod erst recht einen glänzenden Schein um das Haupt des Verbrechers
geworfen hätte.
2. Da erhob sich ein weißlockiger, langbärtiger Greis und begann
unter lautloser Stille der Menge so zu reden: ‚Wichtig ist die Tat, die
wir zum Wohl unsrer geliebten Stadt heute vollbringen wollen. Wir
haben freilich nur einen einzelnen Maulwurf vom Leben zum Tode zu
bringen, in ihm aber sozusagen sein ganzes Geschlecht, das allmählich und
tückisch den Grund unterwühlt, der uns ernähren muß, wie er unsre
Vorfahren ernährt hat. Darum sind die Maulwürfe unsre Erbfeinde.
Zwischen uns und ihnen gibt es keine Versöhnung!“
Ein ungeheurer Beifallssturm unterbrach den Redner. Selbst der
kleine Gefangene öffnete die Ührlein und stellte sich dann höchst possierlich
auf sein Hinterteil. Er glaubte, die Leute wollten sich von ihm ergötzeu
lassen, und der Beifall ginge ihn an. „Werte Versammlung!“ fuhr der
284 —
Greis fort, „wir wollen heute ein Beispiel aufstellen, daß jenes elende
Geschlecht voll Grauen sich sammeln und die Gaue von Abelsberg auf
Nimmerwiedersehen verlassen soll. Kinder und Kindeskinder sollen es
erzählen, was zu Abelsberg einem ihrer Genossen geschehen ist. Nicht
hängen und nicht köpfen, nicht spießen und nicht braten wollen wir den
Bösewicht. Den gräßlichsten Tod soll er sterben, der je gestorben worden
ist: der Schelm soll lebendig begraben werden!“
Rat und Volk überboten sich in Beifall. Sie führten den Käfig
hinaus auf den freien Anger, hoben den Maulwurf behutsam hervor, und
nach wenigen Minuten war das Urteil vollzogen.
Und nun, liebe Freunde, denkt einmal nach, wer den Nutzen hat,
wenn ein Maulwurf lebendig begraben wird. Der Maulwurf? Der
Landmann? Behüt' euch Gott!
Peter Rosegger. (Chronik der Abelsberger.)
168. Die Kinder von Hameln.
1. Im Jahre 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann
sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, wes-
halb er Bunting soll geheiben haben, und gab sich für einen Ratten-
fanger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt
von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit
ihm einig und sicherten ihm einen bestimmten Lohn zu. Der Batten-
fänger zog danach ein Pfeifchen heraus und pfiff; da kamen als-
bald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und
sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre beine
zurück, ging er hinaus, und der ganze Hause folgte ihm, und so führte
er sie an die Neser. Dort schurzte er seine Kleider und trat in das
Wasser, worauf ihm alle die Tiere folgten und hineinstürzend ertranken.
2. Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute
sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Mann
unter allerlei Ausflüchten, so dabß er zornig und erbittert wegging.
Am 26. Juni, morgens früh sieben Uhr, nach andern zu Mittag, er-
schien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, erschrecklichen An-
gesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut und ließ seine Pfeife in
den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse,
sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an, in grober
Zahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Bürger-
meisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie
hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand.
285
3. Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, das mit einem Kinde
auf dem Arm von fern nachgezogen war, dann umkehrte und das
Gerũucht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen haufenweise vor alle
Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter er-
hoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund' an wurden
Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkun-
digen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen hãtte, aber
alles vergeblich. Es waren im ganzen hundertunddreibig verloren.
Zwei sollen, wie einige sagen, sich verspatet haben und zurückge-
kommen sein, wovon aber das eine blind, das andre stumm gewesen
sei. Das blinde Kind habe daher den Ort nicht zeigen können, aber
wohl erzahlt, wie sie dem Spielmanne gefolgt wären; das stumme aber
habe den Ort gewiesen, ob es gleich nichts gehört. Ein RKnäblein
war im Hemde mitgelaufen und kehrte um, seinen Rock zu holen,
wodurch es dem Unglück entgangen ist; denn als es zurückkam,
waren die andern schon in der Grube eines Hügels, die noch gezeigt
wirc, verschwunden.
4. Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt
der Poppenberg, wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform auf-
gerichtet worden sind. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle
geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.
Gebrüder Grimm. (Deutsche Sagen.)
169. Das Rad im Mainzer Wappen.
Im Jahre 1009 wurde Willegis, der Lehrer Kaiser Ottos
ein frommer und gelebrter Mann, zum Bischof von Mainz gewählt.
Er war aber von geringer, armer Herkunft und sein Vater ein Wagner
gewesen. Deswegen habten ihn die adligen Domberren und Stifts-
genossen. Sie nahmen Kreide und malten Räder an die Wände und
Tũren seines Schlosses und gedachten, ihm damit Verdrub zu bereiten
und eine Schmach anzutun. Als der fromme Bischof ihren Spott
vernahmm, lieb er einen Maler rufen. Dem befabl er, wit guter FParbe
in alle seine Gemächer weibße Räder in rote Felder zu malen, und
lieb einen Reim dazu setzen, der sagte: „Willegis, Willegis, denk,
woher du kummen sis.“ Daher kommt es, dabß seit dieser Zeit alle
Bischöfe zu Mainz weibe Räder im roten Schilde führen. Andre
kügen hinzu, Willegis habe aus Demut ein hölzernes Pflugrad stets
an seiner Bettstatt hängen gehabt.
Gebrüder Grimm. (Deutsche Sagen.)
286 —
170. Sagen aus dem Harze.
a) Die Roßtrappe.
1. Vor tausend und mehr Jahren war das Land rings um den
Harz von Riesen bewohnt, die Heiden und Zauberer waren, Raub, Mord
und Gewalttat übten. Sechzigjährige Eichen rissen sie samt den Wurzeln
aus und fochten damit. Was sich entgegenstellte, wurde mit Keulen nieder—
geschlagen und die Weiber in die Gefangenschaft fortgeschleppt, wo sie
Tag und Nacht dienen mußten.
2. In dem Boheimer Walde hauste dazumal ein Riese, Bodo genannt.
Alles war ihm untertan; nur Emma, die Königstochter vom Riesen—
gebirge, konnte er nicht zu seiner Liebe zwingen. Stärke und List
halfen ihm nichts; denn sie stand mit einem mächtigen Geist im Bunde.
Einst aber ersah sie Bodo jagend auf der Schneekoppe und sattelte sogleich
seinen Hengst, der meilenlange Fluren im Augenblick übersprang. Er schwur,
Emma zu fangen oder zu sterben. Fast hätte er sie erreicht. Als sie ihn
aber zwei Meilen weit von sich erblickte und an den Torflügeln eines
zerstörten Städtleins, die er im Schilde führte, erkannte, da schwenkte sie
schnell das Roß. Von ihren Sporen getrieben, flog es über die Berge,
Klippen und Wälder durch Thüringen in die Gebirge des Harzes. Oft
hörte sie einige Meilen hinter sich das schnaubende Roß Bodos und jagte
dann den nimmermüden Zelter zu neuen Sprüngen auf. Jetzt stand ihr
Roß verschnaufend auf dem furchtbaren Felsen, der Hexentanzplatz heißt.
Angstvoll blickte Emma in die Tiefe; denn mehr als 1000 Fuß ging
senkrecht die Felsenmauer hinab zum Abgrunde. Tief rauschte der Strom
unten und kreiste in furchtbaren Wirbeln. Der entgegenstehende Fels
schien noch entfernter und kaum Raum zu haben für einen Vorderfuß
des Rosses. Von neuem hörte sie Bodos Roß schnauben. In der Angst
rief sie die Geister ihrer Väter zu Hilfe, und ohne Besinnung drückte sie
ihrem Zelter die ellenlangen Sporen in die Seite. Und das Roß sprang
über den Abgrund glücklich auf die spitze Klippe und schlug seinen Huf
vier Fuß tief in das harte Gestein, daß die Funken stoben. Fortan
hieß dieser Fels die Roßtrappe. Die Zeit hat die Vertiefung kleiner ge—
macht, aber kein Regen kann sie ganz verwischen.
3. Emma war gerettet, aber die zentnerschwere goldene Königskrone
fiel während des Sprunges von ihrem Haupt in die Tiefe. Bodo, in
blinder Hitze nachsetzend, stürzte in den Strudel und gab dem Flusse den
Namen. Hier bewacht er als schwarzer Hund die goldene Krone der
Riesentochter, daß kein Mensch sie heraushole. Ein Taucher wagte es
522
297
einst für große Versprechungen. Er stieg in die Tiefe, fand die Krone
und hob sie in die Höhe, so daß das zahllos versammelte Volk schon die
Spitzen golden schimmern sah. AWer zu schwer, entsank sie zweimal seinen
Händen. Das Volk rief ihm zu, das drittemal hinabzusteigen. Er
tat's, und ein Blutstrahl sprang hoch in die Höhe. Der Taucher kam
nimmer wieder empor.
Jetzt deckt Nacht und Stille die Tiefe; kein Vogel fliegt darüber—
Nur um Mitternacht hört man oft in der Ferne das dumpfe Hundegeheul
des Heiden. Gebrüder Grimm. (Deutsche Sagen.)
b) Prinzessin Ilse.
1. Zur Zeit, als noch der Ilsenstein mit der Westerklippe zusammen—
hing, trug diese Kuppe ein stolzes Schloß. Darin wohnte König Ilsung
mit der Prinzessin Ilse, seinem schönen Töchterlein. Drunten aber im
Tale, wo jetzt das herrliche Grafenschloß steht, wohnte eine böse Zauberin
mit ihrer häßlichen Tochter Trute. Einst ritt der stattliche Ritter Rolf
durch das Tal. An dem fand Trute Gefallen und bewog ihre Mutter,
ihn mit Zauberkünsten zu umstricken, daß er bei ihnen bliebe. Dennoch
gelang es ihm nach einiger Zeit, zu entfliehen. Er gelangte nach Ilsungs
Schloß, wurde hier freundlich aufgenommen und blieb freiwillig in des
Königs Diensten. Bald gab ihm auch der alternde König die Hand
seiner einzigen Erbin. Aber die böse Trute und ihre Mutter verfolgten
ihn mit ihrem Haß. In der Walpurgisnacht sandten sie ungeheure
Wassermassen vom Brocken hinab gegen Ilsungs Schloß. Die unter—
wühlten den Felsen, bis er und mit ihm das Schloß donnernd zusammen—
stürzte. Nur Ilse rettete sich auf den Gipfel, der nun das Kreuz trägt.
Dort wohnt sie seitdem und durchforscht ruhelos die Talschlucht, um ihren
Gemahl zu suchen. Wer sie erlösen will, der muß ihr in der Mitter—
nacht des ersten Maitages einen Strauß Waldblumen überreichen; doch
sind die richtigen schwer zu finden. Wehe aber dem, der es ihr gegen⸗
über an der nötigen Ehrerbietung fehlen läßt. Er wird von ihr in eine
altersgraue, mit zottigen Flechten behangene Tanne verwandelt, wie deren
schon eine ganze Zahl ihre Wohnung umstehen. Nur wenigen ist es ver—
gönnt, sie zu sehen. Aber wer sie kennt, der preist sie.
2. Einst fand ein Köhler sie frühmorgens und grüßte sie freundlich.
Danach winkte sie ihm, und er folgte ihr nach bis vor den Felsen. Hier
nahm ihm die Jungfrau seinen Ranzen ab, ging damit hinein und brachte
ihn gefüllt zurück Doch befahl sie dem Köhler, er solle ihn erst in
seiner Hütte öffnen. Die Schwere fiel ihm auf, und als er auf der
Ilsenbrücke war, konnte er sich nicht länger enthalten und machte den
238
8
Ranzen auf. Da sah er nur Eicheln und Tannäpfel. Unwillig schüttelte
er sie in das Wasser. Sobald sie aber die Felsbrocken in der Ilse be—
rührten, vernahm er ein Klingen und sah mit Schrecken, daß er Gold
verschüttet hatte. Doch war im Ranzen noch ein kleiner Überrest ge⸗
blieben; den bewahrte er sorgfältig auf und wurde dadurch noch reich
genug. Franz Hoffmann. (Deutsche Jugend.)
c) Der getrene Eckart.
1. „O wären wir weiter, o wär' ich zu Haus'!
Sie kommen, da kommt schon der nächtliche Graus;
sie sind's, die unholdigen Schwestern.
Sie streifen heran, und sie finden uns hier,
sie trinken das mühsam geholte, das Bier,
und lassen nur leer uns die Rrüge.“
2. So sprechen die Rinder und drücken sich schnell;
da zeigt sich vor ihnen ein alter Gesell:
„Nur stille, Kind! Rinderlein, stille!
Die Hulden, sie kommen von durstiger Jagd,
und laßt ihr sie trinken, wie's jeder behagt,
dann sind sie euch hold, die Unholden.“
3. Gesagt, so geschehn! Und da naht sich der Graus
und siehet so grau und so schattenhaft aus,
doch schlürft es und schlampft es aufs beste.
Das Bier ist verschwunden, die Krüge sind leer;
nun saust es und braust es, das wütige Heer,
ins weite Getal und Gebirge.
4. Die Rinderlein ängstlich gen Hause so schnell,
gesellt sich zu ihnen der fromme Gesell:
„Ihr Puppchen. nur seid mir nicht traurigs! “
„Wir kriegen nun Schelten und Streich' bis aufs Blut!“ —
„Nein, keineswegs, alles geht herrlich und gut,
nur schweiget und horchet wie Mäuslein!
5. Und der es euch anrät und der es befiehlt,
er ist es, der gern mit den Rindelein spielt,
der alte Getreue, der Eckart.
Vom Wundermann hat man euch immer erzählt;
nur hat die Bestätigung jedem gefehlt,
die habt ihr nun köstlich in Händen.“
289
b. Sie kommen nach Hause, sie setzen den Krug
ein jedes den Eltern bescheiden genug
und harren der Schläg' und der Schelten.
Doch siehe, man kostet: „Ein herrliches Bier!“
Man trinkt in die Runde schon dreimal und vier,
und noch nimmt der Krug nicht ein Ende.
7. Das Wunder, es dauert zum morgenden Tag;
doch fraget, wer immer zu fragen vermag:
„Wie ist's mit den RKrügen ergangen?“
Die Mäuslein, sie lächeln, im stillen ergötzt;
sie stammeln und stottern und schwatzen zuletzt,
und gleich sind vertrocknet die Krüge.
8. Und wenn euch, ihr Rinder, mit treuem Gesicht
ein Vater, ein Lehrer, ein Aldermann spricht,
so horchet und folget ihm pünktlich!
Und liegt auch das Zünglein in peinlicher Hut,
verplaudern ist schädlich, verschweigen ist gut;
dann füllt sich das Bier in den Krügen.
Johann Wolfgang von Goethe.
171. Der Schatz auf der Landeskrone.
Bei der Stadt Görlitz liegt ein Berg, die Landeskrone genannt, weil
er das umliegende Land so stolz wie eine Krone schmückt. In diesem
Berge ruht von alten Zeiten her ein Schatz vergraben. Unterschiedliche
Leule haben ihn gesehen; darunter der fromme Schuster und Weise Jakob
Böhme in Görlitz, als er noch ein Knabe war und das Vieh hütele.
Es war um die Mittagstlunde, und Jakob ging ganz in Gedanken
am Berge hin. Da öffnete sich plötzlich vor ihm das Gestein. Der
Knabe sah ein Tor von schönem, rotem Gemäuer, und aus dem dunkeln
Gewölbe funkelte es ihm entgegen wie lauter Gold und Silber. Er
erschrak aber so sehr, daß er eiligst zurükkging, ohne die Herrlichkeilen zu
heruühren. Als Jakob nochmals mit andern Hirtenbuben den Vetg erstieg,
konnte er den Eingang nümmer finden.
Einmal hat sich auch eine arme Frau mit ihrem Kinde auf der
Landeskrone ergangen. Das Kind hat wischen den Steinen gespieln und
so in seiner Unschuld die Tür zu dem Schahe gefunden. Es ist hinein⸗
gegangen, hat auch seiner Mutter zugeschrien, die dem Kinde nachgefolgt
und so ebenfalls in das Gewölbe gekommen ist.
Überall glänzten ihr gleich hellen Karfunkeln die Gold- Silber- und
Schaustücke entgegen, die in großen Kasten links und rechls aufgehäuft
standen. Nirgend war ein Wächler dieser Schätze zu sehen. Ein runder
Tich nur stand unweit vom Eingange, und einige Üsel so frisch sie nur
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. U. Neubtg. 199
E
290
zur Herbstzeit auf den fruchtiragenden Bäumen prangen, lagen darauf.
Auf diesen Tisch setzte die Frau ihr Kindlein nieder, damit es mit den
herrlichen Früchten spielen möge. Sie selbst aber scharrte und sammelte
so viel des blanken Goldes in ihre Schürze, als sie nur ertragen konnte,
und trug es nach Hause.
Da erst fiel es ihr schwer aufs Herz, daß sie über dem Mammon
versäumt hatte, ihr Kindlein mitzunehmen. Eilends lief sie in großer
Angst nach dem Berge hin; aber, o Jammer! weder die Tür zu dem
Gewölbe noch das Kind konnte sie wiederfinden. Wie gern hätte sie jetzt
all die blanken Schätze, die sie gewonnen, dahingegeben für den größten
Schatz, den sie verloren: für ihr einziges Kindlein!
Sie ging aufs Rathaus, klagte sich bei den Herren an für ihre
Nachlässigkeit und bat um Hilfe. Da wurden hundert Arbeiter hinaus—
geschickt zum Berge, die solllen zwischen den Sleinen nachgraben, ob sie
nicht das unterirdische Gewölbe fänden. Und wieder hundert Männer
suchten Tag für Tag die ganze Gegend ab nach Spuren des verlorenen
Kindes. Aber alles Nachforschen und Suchen und Graben war ohne
Nutzen, ob die Frau gleich die Hälfte ihres Schatzes darauf verwendete.
Sie mußte einsehen, daß alle Mühe, das Kind zu finden, vergeblich wäre.
Da verschloß sie sich tagelang in ihrer Kammer, weinte und betete. Als
eine andre trat sie dann wieder hervor, verteilte die letzte Hälfte des
Schatzes unter die Armen und tat Gutes, wo sie konnte.
So verging ein Jahr, und die Osterzeit, um die sie ihr Kindlein ver⸗
loren hatte, kam wieder heran. Am Karfreitag ging die Frau abermals
hinaus auf die Landeskrone, um die Stelle zu suchen, wo sie vor einem
Jahre so glücklich und doch so unglücklich gewesen war. Und siehe! Da
öffnete sich mit einem Male wieder jene unterirdische Pforte mit ihren
gleich Karfunkeln blitzenden Schätßen. Sie aber, tränend und sehnend,
sah nichts als ihr Kindlein, das, immer noch auf jenem runden Tische
sitzend, munter mit den frischen AÄpfeln spielte und freundlich ihr die Arme
entgegenstreckte. Gar gern wählte sie diesmal statt all der toten Schätze
den lebenden und trug ihn unter Tränen des Glückes nach Hause.
Meide Exner. ESchlesische Sagen.)
172. Der hartgeschmiedete Landgraf.
1. Landgraf Ludwig zu Thüringen und Hessen war anfänglich
ein gar milder und weicher Herr, gütig und demütig gegen jeder—
mann. Da fingen seine Junker und Edelinge an stolz zu werden
und verschmähten ihn und seine Gebote. Es trug sich nun einmal
zu, dab der Landgraf im Walde jagte und ein Wild antraf; dem
kolgte er so lange nach, bis er sich verirrte. Als die Nacht herbei-
kam, gewabrte er dureh die Bäume ein Feuer. Er richtete sich danach
und kam in die Rubla zu einem Hammer- oder Waldschmied. Der
291
Hhürst war mit schlechten Kleidern angetan und hatte sein Jagd-
horn umgehängt. Der Schmied fragte ihn, ver er väre. „Des Land-
grafen Jäger.“ Da sprach der Schmied: „Pfui des Landgrafen!
Herbergen will ich dich. In der Schmiede findest du Heu, da magst
du dieh mit deinem Pferde behelfen. Aber um deines Herrn villen
vill ich dich nicht beherbergen.“ Der Landgraf ging beiseit und
konnte nicht schlafen.
2. Die ganze Nacht aber arbeitete der Schmied, und wenn er
mit dem groben Hammer das Eisen zusammenschlug, sprach er bei
jedem Schlage: „Landgraf, werde hart! Landgraf, werde hart wie
dieses Pisen!“ Dann schalt er ihn und sprach weiter: „Du böser,
unseliger Herr! Was taugt dein Leben den armen Leuten? Siehst
du nicht, wie deine Räte das Volk plagen?“ So erzählte er dem
dehmiedegesellen bei der Arbeit die liebe lange Nacht, wie die armen
Untertanen Gewalt litten. Rlagten sie, so sei niemand, der helfen
wolle; denn der Herr nehme es nicht an. Die RBitterschaft spotte
seiner hinterrücks und halte ibn gar unwert. „Unser Fürst und seine
Jager treiben die Wölfeé ins Garn und die roten Füchse in ihre
Beutel.“
3. Mit solchen und andern Worten redete der Schmied bis zum
Morgen. Jedesmal, venn die Hammerschläge fielen, schalt er den
EHerrn und hieb ihn bart verden vie das Eisen. Der Landgraf er-
schrak gar sehr, als er aus dieser harten Stimme des Schmieds des
Volkes Meinung über siech vernalm. Aber er nahm alles zu Herzen
und faßte den Entschluß, dem Unfug, den seine Edlen verübten,
ein Ende mit Schrecken zu machen. Ganz hartgeschmiedet verlieb
er, nachdem er kbein Auge zugetan, die Ruhlaer Waldschmiede.
dein milder Sinn war in einen eisernen umgewandelt. Er nahm die
Zügel der Regierung in die eigene Hand, strafte die Übeltäter und
zwang die Widerspenstigen zum Gehorsam. Darum hieß man ihn
von nun an den eisernen Landgrafen.
Gebrüder Grimm. (Deutsche Sagen.)
173. Kyffhäusersagen.
a) Barbarossa.
1. Der alte Barbarossa,
der Kaiser Friederich,
im unterird'schen Schlosse
hält er verzaubert sich.
2. Er ist niemals gestorben,
er lebt darin noch jetzt;
er hat im Schloß verborgen
zum Schlaf sich hingesetzt.
19*
292
3. Er hat hinabgenommen
des Reiches Herrlichkeit
und wird einst wiederkommen
mit ihr, zu seiner Zeit.
4. Der Stuhl ist elfenbeinern,
darauf der Kaiser sitzt;
der Tisch ist marmelsteinern,
worauf sein Haupt er stützt.
5. Sein Bart ist nicht von Flachse;
er ist von Feuersglut,
ist durch den Tisch gewachsen,
worauf sein Kinn ausruht.
6. Er nickt als wie im Traume,
sein Aug' halb offen zwinkt,
und je nach langem Raume
er einem Knaben winkt.
7. Er spricht im Schlafzum Knaben:
„Geh hin vors Schloß, o Zwerg,
und sieh, ob noch die Raben
herfliegen um den Berg.
8. Und wenn die alten Raben
noch fliegen immerdar,
so muß ich auch noch schlafen
verzaubert hundert Jahr.“
Eriedrich Rückert.
b) Die Wunderblume.
1. Einmal weidete ein Schäfer aus dem nahen Dörfchen Sitten-
dorf seine Herde am Fube des Kyffhäusers. Er war ein braver,
hübscher Mensch und mit einem guten, aber armen Mãädehen ver-
lobt; doch weder er noch sie hatte ein Hüttchen oder Geld, um
eine Virtschaft einrichten zu können.
In Gedanken über seine Lage vertieft, stieg der junge Schãfer
eines Tages den Berg hinan. Aber je höher er stieg, desto mehr
verlor sich seine Traurigkeit; denn mild und freundlich lachte die
Sonne über den grünen Berghängen. Bald befand er sich auf der
Höhe; da schimmerte ihm eine vwunderschöne Blume entgegen,
dergleichen er noch nie auf seinen Vanderungen im Gebirge ge-
sehen hatte. Die pflückte er und steckte sie an seinen Hut, um
sie seiner Braut mitzunehmen.
2. Er ssstieg nun noch bis auf die höchste Spitze des Kyffhãusers
in der Hoffnung, dort noch mehr solcher Blumen zu finden. Er
fand aber keine; dagegen bemerkte er auf der Burg ein Gewölbe,
dessen Eingang nur wenig verschüttet war. Unwillkürlich trieb
es ihn, hineinzugehen. Hier sah er eine Menge bkleiner, hell-
glãänzender Steine auf der Erde liegen. Er nahm so viele, wie
seine Taschen fassen konnten, und steckte sie ein. Nun wollte er
wieder das Gewölbe verlassen und ins Freie treten, als ihm eine
dumpfe Stimme zurief: „Vergiß das Beste nicht!“ Ein kalter
Schauer überliet ihn bei diesen Vorten. Er flüchtete sich mit soleher
Hast aus dem Gewölbe, daß er selbst nicht wußte, wie er wieder
an das Tageslicht gekommen war.
20
Kaum aber befand er sich im Freien, so schlug eine Tür,
die er zuvor nicht gesehen hatte, mit grohem Geprassel hinter ihm
zu. Er griff nach seinem Hut, und die vunderschöne Blume war
weg. Wabhrscheinlieh war sie bei der raschen Flucht aus dem Ge—
wölbe herabgefallen, wo er, sich bückend, oft gestolpert war.
3. Vehmütig blickte der Schäfer nach dem Fleck des Hutes,
Vo er die Blume befestigt hatte. Da stand plötzlich ein Zwerg vor
ihm. „Vo hast du die Vunderblume?“ fragte er ihn vVersoren!?
antwortete traurig der Schãfer.
„Dir war sie bestimmt!“ fuhr der Zwerg fort, „und sie ist
mehr wert als der ganze Kyffhäuser.“ Mit diesen Worten ver-
scehwand er.
Sehr traurig und niedergeschlagen ging der Schäfer am Abend
zu seiner Braut und erzählte ihr die Geschichte von der verlorenen
Vunderblume. Beide weinten, denn Hüttchen und Hochzeit waren
wieder verschwunden.
4. Nach einem Weilchen fielen dem Schäfer die Steine ein, die
or in der Tasche hatte. Der Anblick seiner Braut hatte ihn wieder
etwas heiterer gestimmt, und scherzend warf er die Steinchen dem
Maädehen in den Schob. Vie vunderbar — als diese die Steinchen
genauer betrachtete, waren es — lauter Goldstücke. Sie konnten
sieh nun ein Hüttchen kaufen und ein Stück Acker dazu, und nach
einem Monat waren sie Mann und Frau.
Und die Vunderblume? Die ist verschwunden. Bergleute suchen
sie noch bis auf den heutigen Tag, und zwar nicht allein in den Ge-
wölben des Kyffhäusers, sondern auch auf der Questenburg und
selbst auf der Nordseite des Harzes. Bis jetzt aber ist sie noch
keinem wieder bestimmt gewesen. Einige glauben, die Vunderblume
blühe nur alle hundert Jahr einmal, und wer sie dann finde, gelange
zu groben Reichtümern.
Johann Heinrich Lehnert. (Wanderungen im Gebiete deutscher Vorzeit.)
174. heinrich der Löwe.
J. Zu Braunschweig steht, aus Erz gegossen, das Denkmal eines
Helden, zu dessen Füßen ein Löwe liegt; auch hängt im Dom daselbst
eines Greifen Klaue. Davon lautet folgende Sage:
2. Vorzeiten zog Herzog Heinrich, der edle Welf, nach Abenteuern
aus. Als er in einem Schiffe das wilde Meer befuhr, erhob sich ein
42
n
294 —
heftiger Sturm und verschlug den Herzog; lange Tage und Nächte
irrte er ohne Land zu finden. Bald fing den Reisenden die Speise
an auszugehen, und der Hhunger quälte sie schrecklich. In dieser Not
wurde beschlossen, Lose in einen Hut zu werfen, und wessen Cos ge⸗
zogen ward, der verlor das Leben und mußte der andern Mannschaft
mit seinem Fleische zur Nahrung dienen; willig unterwarfen sich diese
Unglücklichen und ließen sich fuͤr den geliebten Herrn und ihre Ge⸗—
fährten schlachten. So wurde den übrigen das Ceben eine Zeitlang
gefristet; doch schickte es die Vorsehung, daß niemals des Herzogs
Cos herauskam. Aber das Elend wollte kein Ende nehmen; zuletzt
war bloß der herzog mit einem einzigen Rnechte noch auf dem Schiffe
lebendig, und der schreckliche Hunger hielt nicht stille. Da sprach der
Fuͤrst: Laß un⸗ beide losen, und auf wen es fällt, von dem speise
sich der andre.“ Über diese Zumutung erschrak der treue Rnecht;
doch dachte er, es würde ihn selbst treffen, und ließ es zu; siehe, da
fiel das Los auf seinen edlen, liebwerten Herrn, den jetzt der Diener
töten sollte. Da sprach der Rnecht: „Das tue ich nimmermehr, und
wenn alles verloren ist, so hab' ich noch ein andres ausgesonnen; ich
will Euch in einen ledernen Sack einnähen, wartet dann, was geschehen
wird.“ Der Herzog gab seinen Willen dazu; der Rnecht nahm die
Haut eines Ochsen, den sie vordem auf dem Schiffe gespeist hatten,
wickelte den Herzog darein und nähte die Haut zusammen; doch hatte
er sein Schwert neben ihn mit hineingesteckt.
3. Nicht lange, so kam der Vogel Greif geflogen, faßte den
ledernen Sack in die Rlauen und trug ihn durch die Lüfte über das
weite Meer bis in sein Nest. Als der Vogel dieses bewerkstelligt
hatte, sann er auf einen neuen Fang, ließ die Haut liegen und flog
wieder aus. Mittlerweile faßte Herzog Heinrich das Schwert und zer⸗
schnitt die Nähte des Sackes. Als die jungen Greifen den lebendigen
Menschen erblickten, fielen sie gierig und mit Geschrei über ihn her.
Der treue Held aber wehrte sich tapfer und schlug sie sämtlich tot. Als
er sich aus dieser Not befreit sah, schnitt er eine Greifenklaue ab, die er
zum Andenken mit sich nahm, stieg aus dem Neste den hohen Baum
hernieder und befand sich in einem weiten, wilden Walde.
4. In diesem Walde ging der Herzog eine gute Weile fort; da sah
er einen fürchterlichen Lindwurm wider einen Löwen streiten, und der
Löwe schwebte in großer Not, zu unterliegen. Weil aber der Löwe
insgemein für ein edles und treues Tier gehalten wird und der Lind—
wurm für ein böses, giftiges, säumte Herzog Heinrich nicht, sondern
9⸗
*
sprang dem Löwen mit seiner Hilfe bei. Der Lindwurm schrie, daß
es durch den Wald erschallte, und wehrte sich lange Zeit; endlich gelang
es dem Helden, ihn mit seinem guten Schwerte zu töten. Hhierauf
nahte sich der Löwe, legte sich zu des Herzogs Füßen neben dem Schilde
auf den Boden und verließ ihn nimmermehr von dieser Stunde an.
Nach Verlauf einiger Zeit, während welcher das treue Tier ihn mit
gefangenem Wildbret ernährt hatte, überlegte der Herzog, wie er aus
dieser Einsde und der Gesellschaft des Löwen wieder unter die Menschen
gelangen könnte. Er baute sich ein Floß aus zusammengelegtem Holze,
mit Reisig durchflochten, und setzte es aufs Meer. Als nun einmal
der Löwe in den Wald zu jagen gegangen war, bestieg Heinrich sein
Fahrzeug und stieß vom Ufer ab. Der Löwe aber, der zurückkehrte
und seinen Herrn nicht mehr fand, kam zu dem Gestade und erblickte
ihn aus weiter Ferne; alsobald sprang er in die Wogen und schwamm
so lange, bis er auf dem Floß bei dem Herzog war, zu dessen Füßen er
sich ruhig niederlegte.
5. Hierauf fuhren sie eine Zeitlang auf den Meereswellen; bald
überkam sie Hunger und Elend. Der Held betete und wachte und
hatte Tag und Nacht keine Ruhe. Da erschien ihm der böse Teufel
und sprach: „Herzog, ich bringe dir Botschaft; du schwebst hier in
Pein und Not auf dem offenen Meere, und daheim zu Braunschweig
ist lauter Freude und Hochzeit; heute an diesem Abend hält ein Fürst
aus fremden Landen Hochzeit mit deinem Weibe, denn die gesetzten
sieben Jahre seit deiner Ausfahrt sind verstrichen.“ Traurig versetzte
Heinrich, das möge wahr sein, doch wolle er sich auf Gott verlassen,
der alles wohl mache. „Du redest noch viel von Gottd“ sprach der
Versucher, „der hilft dir nicht aus diesen Wasserwogen; ich aber will
dich noch heute zu deiner Gemahlin führen, wofern du mein sein
willst.“ Sie hatten ein langes Gespräch, denn der Herzog wollte sein
Gelübde gegen Gott nicht brechen. Da schlug ihm der Teufel vor,
er wolle ihn ohne Schaden samt dem Cöwen noch heute abend auf
den Giersberg vor Braunschweig tragen und hinlegen, da solle er
seiner warten; finde er ihn nach der Zurückkunft schlafend, so sei er
ihm und seinem Reiche verfallen. Der Herzog, der von heißer Sehn—
sucht nach seiner geliebten Gemahlin gequält wurde, ging hierauf ein
und hoffle auf des Himmels Beistand wider alle Rünste des Bösen.
Alsbald griff ihn der Teufel, führte ihn schnell durch die Cüfte bis
vor Braunschweig, legte ihn auf dem Giersberg nieder und rief: „Nun
wache, Herr! Ich kehre bald wieder!“ Heinrich aber war aufs
296 —
höchste ermüdet, und der Schlaf setzte ihm mächtig zu. Nun fuhr der
Teufel zurück und wollte den Löwen, wie er verheißen hatte, auch ab⸗
holen. Es währte nicht lange, so kam er mit dem treuen Tiere da—
hergeflogen. Als nun der Teufel, noch aus der Luft herunter, den
Herzog in Müdigkeit versenkt auf dem Giersberg ruhen sah, freute
er sich schon im voraus; allein der Löwe, der seinen Herrn für tot
hielt, hub laut zu schreien an, so daß Heinrich in demselben Augen⸗
blick erwachte. Der böse Feind sah nun sein Spiel verloren und be—
reute es zu spät, das wilde Tier herbeigeholt zu haben; er warf den
Cöwen aus der Luft herab zu Boden, daß es krachte. Der Löwe kam
glücklich auf den Berg zu seinem Herrn, der Gott dankte und sich auf⸗
richtete. um, weil es Abend werden wollte, hinab in die Stadt Braun—
schweig zu gehen.
6. Nach der Burg war sein Gang, und der Löwe folgte ihm
immer nach; großes Getön schallte ihm entgegen. Der Herzog wollte
in das Fürstenhaus treten, da wiesen ihn die Diener zurück. „Was
heißt das Getön und Pfeifen,“ rief Heinrich aus, „sollte doch wahr
sein, was mir der Teufel gesagt, und ist ein fremder Herr in diesem
Hhause?“ Kein Fremder,“ antwortete man ihm, „denn er ist mit
unsrer gnädigen Frau verlobt und bekommt heute das Braunschweiger
Land.“ „So bitt' ich“, sagte der Herzog, „die Braut um einen Trunk
Weins; mein Herz ist mir ganz matt.“ Da lief einer von den Ceuten
hinauf zur Fürstin und hinterbrachte, daß ein fremder Gast, dem ein
Löwe nachfolge, um einen Trunk Wein bitten lasse. Die Herzogin
verwunderte sich, füllte ihm ein Geschirr mit Wein und sandte es dem
Pilgrim. „Wer magst du wohl sein,“ sprach der Diener, „daß du
von diesem edlen Wein zu trinken begehrst, den man allein der Her⸗
zogin einschenkt?“ Der Pilgrim trank, nahm seinen goldenen Ring,
warf ihn in den Becher und hieß diesen der Braut zuruüͤcktragen. Al—
sie den Ring erblickte, worauf des Herzogs Schild und Rame ge⸗
schnitten war, erbleichte sie, stand eilends auf und trat an die Finne,
um nach dem Fremdling zu schauen. Sie ward des Herzogs ge⸗
wahr, der da mit dem Löwen saß; darauf ließ sie ihn in den
Saal entbieten und fragen, wie er zu dem Ringe gekommen sei,
und warum er ihn in den Becher gelegt habe. „Von keinem hab'
ich ihn bekommen, sondern ihn selbst genommen, es sind nun länger
als sieben Jahre; und den Ring hab' ich hingelegt, wo er billig
hingehört.“ Als man der Herzogin diese Antwort hinterbrachte, schaute
sie den Fremden an und fiel vor Freuden zur Erden, weil sie ihren
297
geliebten Gemahl erkannte; sie bot ihm ihre weiße Hand und hieß
ihn willkommen.
7. Da entstand große Freude im ganzen Saale; Herzog Heinrich
setzte sich zu seiner Gemahlin an den Tisch; dem jungen Bräutigam
aber wurde ein schönes Fräulein aus Franken angetraut. Hierauf
regierte Herzog Heinrich lange und glücklich in seinem Reiche. Als
er in hohem Alter verstarb, legte sich der Löwe auf des Herrn Grab
und wich nicht davon, bis er auch verschied. Das Tier liegt auf der
Burg begraben, und seiner Treue zu Ehren wurde ihm eine Säule
errichtet.
Gebrüder Grimm. (Deutsche Sagen.)
175. Vineta.
1. An der Küste der Insel Usedom — so erzählt die Sage — sieht man
häufig bei stillem Wetter in der See die Trümmer einer alten, großen Stadt.
Dort hat einst die weltberühmte Stadt Vineta gelegen, die schon vor tausend
und mehr Jahren wegen ihrer Laster und Sünden ein schreckliches Ende
genommen hat. Diese Stadt ist größer gewesen als irgend eine andre
Stadt in Europa, und es haben darin allerlei Völker gewohnt: Griechen,
Wenden, Sachsen und andre. Die hatten allda jedes seine besondere Religion,
doch durften die Christen ihre Religion nicht öffentlich bekennen; nur die
heidnischen Götzen wurden öffentlich verehrt.
Die Einwohner trieben einen überaus großen Handel. Ihre Läden
waren gefüllt mit den seltensten, kostbarsten Waren. Jahraus, jahrein kamen
Schiffe aus allen Gegenden und von den entlegensten Enden der Welt dort—
hin. Deshalb war denn auch in der Stadt ein über die Maßen großer
Reichtum und das lustigste Leben. Die Bewohner von Vineta waren so
reich, daß die Stadttore aus Erz und Glockengut, die Glocken aber aus
Silber gemacht wurden. Das Silber war so gemein in der Stadt, daß man
es zu den gewöhnlichsten Dingen gebrauchte, und daß die Kinder auf den
Straßen mit harten Talern gespielt haben sollen.
2. Solcher Reichtum und das abgöttische Wesen brachten aber am Ende
die schöne und große Stadt ins Verderben. Denn nachdem sie den höchsten
Gipfel ihres Glanzes und Reichtums erreicht hatte, gerieten ihre Einwohner
in große Uneinigkeit. Jedes von den verschiedenen Völkern wollte vor dem
andern den Vorzug haben, worüber heftige Kämpfe entstanden. Da riefen
die einen die Schweden, die andern die Dänen zu Hilfe. Diese hatten auf
solchen Aufruf nur gewartet, um gute Beute zu machen. Sie kamen schleunig,
298 —
zerstörten die mächtige Stadt Vineta bis auf den Grund und nahmen ihre
Reichtümer mit sich. Dieses soll geschehen sein zu den Zeiten des großen
Kaisers Karl.
Andre sagen, die Stadt sei nicht von den Feinden zerstört worden,
sondern auf andre Weise untergegangen. Denn nachdem die Einwohner
so überaus reich geworden waren, verfielen sie in die größten Laster. Dafür
traf sie denn der gerechte Zorn Gottes, und die üppige Stadt wurde urplötz—
lich von dem Ungestüm des Meeres zugrunde gerichtet und von den Wellen
verschlungen.
3. Als die Stelle, wo Vineta gestanden haben sollte, bezeichnet die Sage
den Seestrand unweit des Streckelberges in der Nähe des Dorfes Koserow.
Dort lagen noch vor einigen Jahrzehnten im Wasser mächtige Steinblöcke, die
man wohl für die Grundmauern einer untergegangenen Stadt halten konnte.
Jetzt sind sie längst herausgeholt und zum Bau der Molen in Swinemünde
verwendet worden. Es waren eben Felsblöcke und keine Grundmauern. Trotz—
dem aber scheint es, als hätte sich in dieser Sage eine uralte Erinnerung
erhalten an eine Handelsstadt, namens Jumneta, die vor langen Jahrhunderten
durch fremde Völker zerstört sein soll. Freilich hat diese nicht auf Usedom
gelegen, sondern wohl dort, wo jetzt die Stadt Wollin liegt.
J. D. . Temme snach der Chronik des Thomas Kantzow).
176. Siegfrieds Schwert.
L. Jung Siegfried war ein stolzer Knab',
ging von des Vaters Burg herab.
2. Wollt' rasten nicht in Vaters haus,
wollt' wandern in alle Welt hinaus.
3. Begegnet' ihm manch Ritter wert
mit festem Schild und breitem Schwert.
4. Siegfried nur einen Stecken trug;
das war ihm bitter und leid genug.
5. Und als er ging im finstern Wald,
kam er zu einer Schmiede bald.
1
6. Da sah er Eisen und Stahl genug;
ein lustig Feuer Flammen schlug.
7. „O Weister, liebster Meister mein,
laß du mich deinen Gesellen sein,
8. und lehr du mich mit Fleiß und Acht,
wie man die guten Schwerter macht!“
29*
9 —
9. Siegfried den Hammer wohl schwingen kunnt',
er schlug den Amboß in den Grund.
10. Er schlug, daß weit der Wald erklang
und alles Eisen in Stücke sprang.
U. Und von der letzten Eisenstang'
macht er ein Schwert, so breit und lang.
12. ‚Nun hab' ich geschmiedet ein gutes Schwert,
nun bin ich wie andere Ritter wert;
13. nun schlag' ich wie ein andrer Held
die Riesen und Drachen in Wald und Feld!“
Ludwig Uhland.
177. Rolands horn.
1. Der ßönig Karl beim Iubelmahl,
hoch schwang in der Hand er den goldnen Pokal:
2. „LCang' lebe der Sieger, der heute noch fern,
Roland, mein Roland, der Streiter des HFerrn!““
3. Da — bei der Becher Busammenstoß
wie Schatten sich's über die Wände goß,
4. und als das jsauchzende Hoch verscholl,
ein Dämmern über die Erde schwoll,
5. und weit, weit her es trauxig hallt',
hĩnklagend über See und Wald ..
6. Und als sie drängtken zur Tür mit Macht,
da wuchs das Dunkel zur finstern Nacht,
7. und angstvoll durch die Luft herbei
rxang sich's wie wilder Todesschrei.
8. Und als sie sich wandten entsetzt zum Thron,
da stöhnte zum drikkenmal her ein Ton,
9. da zitter!' es über Wald und See
wie aus verröchelnder Brust ein Weh..
10. Doch als der ßönig sich bleich erhob,
blaß wieder ein Dämmern die Halle durchwob.
11. Und als er rief: „Verrat! Bu Roß!“
weiß wieder der Tag die Halle durchfloß.
12. Wohl fagten sie windschnell querfeldein,
xastlos bei Sonnen- und Sternenschein
300 —
13. hin bis zum Morxgen nach Ronceval —
da kreischten die Krähen schon über dem Tal,
14. da lagen die Helden, die Wunden vorn,
und stumm er, Roland, zerborsten sein Horxn.
Ferdinand Avenarius.
178. Wilhelm Tell.
1. Unter dem Kaiser Albrecht tat Geßler, Landvogt zu Uri und Schwhz,
den Landleuten daselbst großen Zwang an. Er hielt sie streng und hart und nahm
sich vor, eine Feste in Uri zu bauen, damit er und andre Landvögte nach
ihm um so sicherer dort wohnen möchten, wenn Aufruhr entstände, und auch
das Land in desto größerer Furcht und in Gehorsam erhalten würde. Er
fing also an, auf einem bei Altorf, dem Hauptflecken, gelegenen Hügel den
Bau ins Werk zu richten, und wenn ihn jemand fragte, wie die Feste heißen
werde, antwortete er: „Zwing Uri wird ihr Name sein.“ Das verdroß die
edlen Landsassen und gemeinen Landleute in Uri, und als sie sich das merken
ließen, wurde Geßler grimmig und drohte, er wolle sie so weich und
zahm machen, daß man sie um einen Finger winden könne. Da ließ er zu
Altorf am Platze bei der Linde, wo viele vorübergingen, eine Stange aufrichten,
einen Hut oben darauf legen und gebieten, daß jeder, der vorüberginge, sich
vor dem Hute neigen sollte, als ob der König selbst zugegen wäre, widrigen—
falls ihn Verlust seines Gutes und Leibesstrafe treffen würde. Auch stellte
er einen steten Wächter hin, der die anzeigen sollte, die dem Gebote nicht
Folge leisteten. Dieser große Übermut drückte das Volk noch ärger als der
Bau des Schlosses; doch wagten sie aus Furcht vor des Kaisers Ungnade
und gewaltiger Macht keine Widersetzlichkeit.
2. Da ging an einem Sonntag im November ein redlicher, frommer
Landmann, Wilhelm Tell genannt, an dem aufgesteckten Hute vorüber, ohne
sich vor ihm zu neigen. Das ward dem Landvogt angezeigt. Morgens da—
nach, am Montag, beruft er den Tell vor sich und fragt, warum er seinem
Gebote nicht gehorsam wäre und dem Kaiser wie auch ihm zum Trotze sich
vor dem Hute nicht geneigt hätte. Tell gab zur Antwort: „Lieber Herr,
es ist von ungefähr und nicht aus Verachtung geschehen; ich dachte nicht,
daß es Eure Gnaden so hoch ansehen würden.“ Nun war der Tell ein
guter Armbrustschütze, daß man einen besseren kaum fand, und hatte hübsche
Kinder, die ihm lieb waren. Die ließ der Landvogt holen und sprach: „Tell,
welches unter den Kindern ist dir das liebste?“ Der Tell antwortete: „Herr,
sie sind mir alle gleich lieb.“ Da sprach der Landvogt: „Wohlan, Tell, du bist
ein guter Schütze, wie ich höre. Nun wirst du deine Kunst vor mir bewähren
30 1 F
und einem deiner Kinder einen Apfel vom Haupte schießen; triffst du
ihn nicht auf den ersten Schuß, so kostet es dir dein Leben.“ Der Tell
erschrak und bat den Landvogt um Gottes willen, daß er ihm den Schuß
erließe; denn es wäre unnatürlich, daß er auf sein liebes Kind schießen sollte;
er wolle lieber sterben. Der Landvogt sprach: „Das mußt du tun, oder
du und das Kind sterben.“ Nun sah der Tell, daß er nicht ausweichen
konnte, bat Gott inniglich, daß er ihn und sein liebes Kind behüten möchte,
nahm seine Armbrust, spannte sie, legte einen Pfeil auf und steckte noch einen
Pfeil hinten in sein Koller. Der Landvogt selber legte dem Kinde den
Apfel auf das Haupt; Tell zielte und schoß ihn glücklich dem Kinde vom
Scheitel.
3. Der Landvogt verwunderte sich des meisterhaften Schusses und lobte
den Tell wegen seiner Kunst. „Aber eins“, sprach er, „wirst du mir sagen.
Was bedeutet es, daß du den zweiten Pfeil hinten in das Koller stecktest?“
Tell erschrak und sprach: „Das ist so der Schützen Gewohnheit.“ Der Land—
vogt aber wußte wohl, daß Tell etwas andres im Sinne gehabt hatte, und
redete ihm gütlich zu: „Tell, nun sage mir fröhlich die Wahrheit und fürchte
nichts; du sollst deines Lebens sicher sein, aber die gegebene Antwort nehme
ich nicht an.“ Da sprach Wilhelm Tell: „Wohlan, Herr, da Ihr mich
meines Lebens versichert habt, so will ich Euch die gründliche Wahrheit sagen.
Hätt' ich den Apfel verfehlt, so würde ich Euch mit dem andern Pfeile nicht
verfehlt haben!“ Darüber erschrak der Vogt und sprach: „Deines Lebens
habe ich dich zwar versichert; weil ich aber deinen bösen Willen gegen mich
erkannt habe, so will ich dich an einen Ort führen lassen, wo du weder
Sonne noch Mond sehen sollst, damit ich vor dir sicher sei.“ Hierauf ließ
er ihn binden und auf ein Schiff führen; denn er wollte gen Brunnen fahren
und von dort seinen Gefangenen über Land durch Schwyz in sein Schloß
Küßnacht führen.
Als sie nun auf dem See waren, da ließ Gott einen so ungestümen
Sturmwind losbrechen, daß sie alle elend zu verderben meinten. Da sprach
der Diener einer zum Landvogt: „Herr, Ihr seht Eure und unsre Lebens—
gefahr. Nun ist der Tell ein starker Mann und versteht sich gut darauf,
mit einem Fahrzeug umzugehen; man sollte ihn jetzt in der Not gebrauchen.“
Bleich vor Furcht wandte sich der Landvogt an Tell mit den Worten:
„Wenn du dich getrautest, uns aus dieser Gefahr zu helfen, so wollt' ich
dich deiner Bande entledigen.“ Der Tell gab zur Antwort: „Ja, Herr, ich
getraue mich, uns mit Gottes Hilfe wohl zu retten.“ Also ward er los—
gebunden, trat an das Steuerruder und fuhr redlich dahin; doch lugte er
allenthalben auf gute Gelegenheit, zu entrinnen. Und als er der Felsenplatte
nahe kam, die seitdem den Namen Tellsplatte hat, ersah er seinen Vorteil
302
und ermunterte die Knechte, sest anzuziehen, bis sie vor jene Platte kämen;
denn dann hätten sie das Schlimmste überwunden. Also kamen sie der Platte
nahe. Da drückte er das Schiff mit Macht an den Felsen, erraffte sein Schieß⸗
zeug, das im Schiffe beim Steuerruder lag, und tat einen Sprung hinaus
auf die Platte. Das Schiff aber stieß er mit Gewalt weit hinter sich in den
See zurück. Nun kletterte er den Berg hinauf und floh durch das Land
Schwyz bis auf die Höhe an der Landstraße bei Küßnacht, und wo dort
eine hohle Gasse ist, verbarg er sich im Gebüsch, den Landvogt erwartend.
Dieser und seine Diener kamen, mit genauer Not dem See entronnen, durch
den Hohlweg geritten.
4. Tell hörte in seinem Versteck allerlei Anschläge des Landvogts wider
ihn, nahm seine Armbrust und durchschoß den Vogt mit einem Pfeile, daß
er tot vom Rosse zu Boden sank. Hierauf entfloh Tell über die Gebirge
gen Uri. Das Volk aber freute sich überall, wo die Tat ruchbar wurde,
daß es seines schlimmsten Gewaltherrn entledigt war.
Qermann Ferdinand Bäßler. (Sagen aus der Geschichte des deutschen Volkes.)
179. Der reichste Fürst.
L. Preisend mit viel schönen Reden
ihrer Länder Wert und Zahl,
saßen viele deutsche Fürsten
einst zu Worms im Raisersaal.
2. „Herrlich“, sprach der Fürst von Sachsen,
„ist mein Land und seine Macht;
Silber hegen seine Berge
wohl in manchem tiefen Schacht.“
3. „Seht mein Land in üpp'ger Fülle!“
sprach der KRurfürst von dem Rhein,
„goldne Saaten in den Tälern,
auf den Bergen edlen Wein!“
4. „Große Städte, reiche Rlöster“, —
Cudwig, Herr zu Bayern, sprach. —
„schaffen, daß mein CLand dem Euren
wohl nicht steht an Schätzen nach.“
5. Eberhard, der mit dem Barte,
Württembergs geliebter Herr,
sprach: „Mein Land hat kleine Städte,
trägt nicht Berge silberschwer;
303
6. doch ein Rleinod hält's verborgen,
daß in Wäldern, noch so groß,
ich mein Haupt kann kühnlich legen
jedem Untertan in 'n Schoß!“
7. Und es rief der Herr von Sachsen,
der von Bayern, der vom Rhein:
„Graf im Bart, Ihr seid der reichste!
Euer CLand trägt Edelstein.“
Instinus Kerner.
180. Der treue Stallmeister.
1. In der berübhmten Schlacht bei Fehrbellin am 18. Juni 1675,
dureh die der Grobe Kurfürst die Schweden aus der Mark Branden-—
burg hinausschlug, vereinte er die Pflichten eines Feldherrn mit
denen eines tapfern Kriegsmannes. Unbesorgt um die eigene Person,
war er überall, wo die gröbte Gefahr drohte, und oftmals war er in
das tiefste Schlachtgetümmel verwickelt. Er ritt aber an jenem
Page sein Lieblingsrob, einen milchweiben Schimmel, durch den er
auch aus der Perne jedermann leicht kenntlich wurde.
Der Große Kurfürst in der Schlacht bei Fehrbellin.
38
4 —
2. Sein Stallmeister Emanuel Froben nahm wahr, dab dle
schwedischen Kanoniere ihre Geschütze immer dahin richteten, wo
der Kurfürst seinen Stand hatte. Dieser aber lieb sich durch keine
Vorstellung bewegen, seinen Platz zu räumen, wiewohl die Kugeln
dicht um ibhn her einschlugen. Da sann der treue Mann auf eine
List, wie er die Gefahr vom Haupte seines Herrn auf sich herüber-
lenken könne.
„Kurfürstliche Durchlaucht,“ sagte er, „Ibhr Pferd ist von den
Anstrengungen dieses Tages nicht mehr fest auf den Beinen und
wird hnen beim Anrennen schlechte Dienste leisten. Wollen Eure
Durchlaucht nicht lieber meinen Braunen besteigen, der noch frisch
bei Kräften ist?“
3. So getäuscht, wechselte der Kurfürst mit seinem Stallmeister
das Pferd. Kaum hatte Froben den Schimmel seines Herrn be—
stiegen, als er ihm die Sporen gab und ihn munter vor der Pront
tummelte. So bot er sich geflissentlich den feindlichen Geschützen
zur Zielscheibe. Es währte auch nicht lange, als er, von einer Stück-
kugel getroffen, samt dem Rosse zusammenbrach. Er hatte sich ge-
opfert, um seinen Pürsten für einen groben Sieg zu sparen.
Hermann Ferdinand Bäßler. (Sagen aus allen Gauen des Vaterlands.)
1I81. König Friedrich und sein Nachbar.
Der König Friedrich II. von Preußen hatte acht Stunden von
Berlin ein schõönes Lustschloh und war gern darin, wenn nur nicht ganz
nahe dabei eine unruhige Mühle gewesen wäre. Denn erstlich stehen
ein königliches Schlob und eine Mühle nicht gut nebeneinander, ob-
gleich das Weihbrot auch in dem Schlosse nicht übel schmeckt,
wenn's die Muhle fein gemahlen und der Ofen gut gebacken hat.
Aubherdem aber, wenn der König in seinen besten Gedanken war
und nicht an den Nachbar dachte, auf einmal ließb der Müller die
Flũgel der Windmũhle los und dachte auch nicht an den Herrn
Nachbar, und die Gedanken des Königs störten zwar das Räderwerk der
Mühle nicht, aber manchmal das Klapperwerk der Räder die Gedanken
des Königs. Der geneigte Leser sagt: Ein König hat Geld wie Laub,
warum kauft er dem Nachbarn die Mühle nicht ab und läbt sie nieder-
reißen? — Der König wubte, warum; denn eines Tages lieb er den
Müller zu sich rufen. „Ihr begreift,“ sagte er zu ihm, „daß wir zwei
nicht nebeneinander bestehen können, einer mußb weichen. Was
305
gebt Ihr mir für mein Schlößlein?“ Der Müller sagte: „Wie hoch
haltet Ihr es, königlicher Herr Nachbar?“ Der König erwiderte ihm:
„MNunderlicher Mensch, so viel Geld habt Ihr nicht, daß Ihr mir
mein Schloh abkaufen könnt. Wie hoch haltet Ihr Eure Mühle?“
Der Müller erwiderte: „Gnãdigster Herr, so habt Ihr auch nicht so
viel Geld, daß Ihr mir meine Mũhle abkaufen Lönnt; sie ist mir nicht
feil.“ Der RKönig tat zwar ein Gebot, auch das zweite und dritte;
aber der Nachbar blieb bei seiner
Rede: „Sie ist mir nicht feil. Wie
ich darin geboren bin,“ sagte er,
„so will ich darin sterben, und wie
sie mir von meinem Vater erhalten
worden ist, so sollen sie meine
Nachkommen von mir erhalten und
auf ihr den Segen ihrer Vorfahren
ererben.“ Da nahm der König
eine ernsthastere Sprache an. „Wibt
Ihr auch, guter Mann, dab ich gar
nicht nötig habe, viele Worte zu
machen?ꝰ Ich lasse Eure Mühle
taxieren und breche sie ab. Nehmt
alsdann das Geld, oder nehmt es
niehtiite Da lachelte der uner
schrockene Mann, der Müller, und
erwiderte dem Könige: „Gut ge-
sagt, allergnädigster Herr, wenn
nur das Kammergericht in Berlin
nicht wärel“ Namlich, dab er es
wolle auf einen richterlichen Aus-
spruch ankommen lassen. Der
Kõönig war ein gerechter Herr und
konnte überaus gnädig sein, also,
daß ihm die Herzhastigkeit und Ereimütigkeit einer Rede nicht mib-
sällig war, sondern wohlgefiel. Denn er ließ von dieser Zeit an den
Müller unangefochten und unterhielt fortwahrend mit ihm eine fried-
liche Nachbarschast. Der geneigte Leser aber darf schon ein wenig
Respekt haben vor einem solchen Nachbarn und noch mehr vor
einem solchen Herrn Nachbarn.
Johann Peter Hebel. (Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes.)
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. I. Neubta.
20
306 —
F. Aus der Geschichte unsers
Volkes.
182. Wie es vormals in Deutschland ausgesehen hat.
1. Zur Zeit, als unser Herr Jesus Christus auf Erden wandelte,
sah es in dem Lande zwischen Rhein und Weichsel ganz anders aus als
jetzt. Es gab keine Städte und zusammenhängenden Dörfer, keine Kirchen
und Schulen, weder Landstraßen noch Eisenbahnen. Dichter Wald be—
deckte den größten Teil des Landes; Seen, Teiche und Sümpfe breiteten
sich weithin aus. Zerstreut lagen die Gehöfte, in denen der freie Deutsche
mit seiner Familie und seinem Gesinde wohnte.
2. Am sonnigen Abhang eines Hügels, in der Nähe einer Quelle
und im Schatten einer gewaltigen Eiche war das Wohnhaus erbaut.
Einfach und schlicht war sein Aussehen. Starke Baumstämme wurden in
die Erde eingelassen und durch wagerechte Balken miteinander verbunden;
die Zwischenräume waren mit Rutengeflecht ausgekleidet, das mit Lehm
beworfen war. Das Dach wurde aus dichten Lagen dauerhaften Schilfes
hergestellt. Durch eine niedrige Haustür betrat man das Innere. Der
Fußboden bestand aus der festgestampften Erde; keine Wände teilten die
Halle in Stuben oder Kammern. Daher diente sie gleichzeitig zum
Wohnen, Essen und Schlafen, und im Winter fand wohl auch Geflügel
oder junges Vieh hier Platz. In der Mitte der Halle brannte Tag und
Nacht ein Feuer, über dem ein großer Kessel hing. Der Rauch zog
durch eine Offnung in der Wand oder im Dache ab. Fenster waren
nicht vorhanden.
3. Dürftig war der Hausrat. An der Wand entlang zogen sich
rohe Bänke; der Tisch bestand aus einem Brett auf vier Pfählen. In
der Ecke waren über getrocknetes Laub Felle ausgebreitet; diese bildeten
die Lagerstätte. An den Wänden hingen Schwert und Schild, Pfeile und
Bogen, Speere und Netze, aber auch Trinkhörner und Geschirr aus Holz
oder Ton. An der Wand befand sich wohl noch ein Webstuhl, neben
dem die Vorräte an Wolle oder Garn lagen. Im Hofe sah man einen
307
einfachen Pflug, einen zweirädrigen Karren und andres kunstloses Acker—
gerät. Schlichte Bauten aus Holz und Lehm dienten als Ställe für das
Vieh und als Räume für die geringen Vorräte.
4. In diesen ärmlichen Wohnungen hauste aber ein starkes Volk.
Männer und Frauen waren so groß und kräftig, daß die andern Völker
sie anstaunten und fürchteten. Selbst die tapfern Römer erschraken vor
ihrem drohenden Blick und ihrer Donnerstimme. Breit und gewölbt war
ihre Brust, ihr Auge klar und voll wilden Feuers, ihr Haar rotblond.
Das Zeichen des freien Mannes, das lange Haupthaar, fiel lockig herab
oder war auf dem Scheitel in einen Knoten zusammengebunden.
Die Kinder wurden streng erzogen. Ihre Nahrung war gleich der
ihrer Eltern sehr einfach: Haferbrei, Sauermilch, wildes Obst und Wild—
bret, mit Salz und Kräutern gewürzt. Sie badeten häufig in den Flüssen
und Teichen und gingen zu jeder Jahreszeit halbnackt; daher ertrugen sie
leicht Kälte und Hunger, Hitze und Durst.
5. Die Kleidung der Erwachsenen war verschieden nach Rang und
Besitz. Die Männer trugen leinene oder wollene Gewänder, oder sie
hängten sich Tierfelle um, die durch einen Gürtel zusammengehalten
wurden; die Frauen kleideten sich in Leinwand oder Wollstoffe, die sie
selbst gewebt hatten. Als Schmuck trugen Männer und Frauen goldene
und silberne Armspangen und Ringe. Abs schönste Zier betrachtete aber
der Mann seine Waffen, nämlich das kurze Schwert und den Speer.
6. Der freie Besitzer eines Bauernhofes war Herr über Weib und
Kind und Vormund der jüngeren Geschwister. Er ordnete die Arbeit an,
die von den unfreien Knechten und den Kindern ausgeführt wurde, und
führte die Aufsicht auf dem Hofe oder Felde. Sehr oft zog er aber mit
seinen Brüdern und erwachsenen Söhnen auf die Jagd in die großen
Wälder der Nachbarschaft. Auerochsen, Hirsche, Rehe, Hasen und Wild⸗
schweine lieferten ihm Vorrat an Fleisch; Bären, Wölfe und Luchse tötete
er, weil sie den Herden gefährlich wurden und um des Pelzwerks willen.
Nicht selten aber griff das wilde Tier den Jäger an, und mancher starke
Mann wurde schwerverwundet oder tot nach Hause gebracht.
Die liebste Beschäftigung des freien Mannes war der Krieg; denn
er brachte Ehre und Beute. In der Schlacht standen die Mitglieder der—
selben Familie oder desselben Stammes beieinander, um sich zu tapferm
Kampfe anzufeuern und zu unterstützen. Hinter der Schlachtreihe be—
fand sich die Wagenburg, in der zumeist die Frauen und Kinder Schutz
suchten. In Tapferkeit und Todesverachtung wurden die Germanen von
keinem Volk übertroffen; dagegen verstanden sie wenig von der Kriegskunst.
20*
308
**
S
*
—
3
g
309 —
7. Waren die Männer ausgezogen zur Jagd oder in den Krieg, so
besorgten unterdes daheim die Frauen, Töchter und Knechte die Haus- und
Feldarbeit. Die Weiber webten und schneiderten, ernteten und buken
unter Beihilfe der leibeigenen Knechte. Einen besondern Handwerkerstand
gab es nicht; die Leibeigenen verstanden die nötigsten Handwerke; sie
gruben, schmolzen und verarbeiteten die Metalle, drehten Seile und strickten
Netze, schnitzten Bogen, Pfeile und Lanzenschäfte, gerbten Leder und
verarbeiteten es und brauten berauschendes Bier. Sie durften keine
Waffen führen und hatten kein Eigentum, konnten verkauft und verschenkt
werden, hatten es aber sonst gut. Reiche Grundbesitzer teilten kleine
Stücke Landes an Arme und an brave Knechte aus, die ihnen dafür einen
Teil ihrer Ernte, Hühner, Eier und Gänse abgeben und auch Arbeit ver—
richten mußten. So war es damals wohl ganz anders als jetzt, aber
gewiß nicht besser, und Reiche und Arme, Angesehene und Niedere, Herren
und Knechte, Glückliche und Unglückliche gab es auch schon.
8. Unser Bild zeigt die glückliche Heimkehr eines freien Mannes mit
seinen Genossen von der Jagd. Eben sind sie durch die einfache Pforte
in den Hofraum getreten. Der Hausherr trägt das erlegte Wild an
seinem Speere. Die Hausfrau begrüßt sie und hält dem Vater den
jüngsten Knaben, der froh jubelnd seine Händchen ausstreckt, entgegen.
Das andre Söhnchen an der Seite der Mutter schenkt dem freudig bellenden
Hunde seine Aufmerksamkeit. Die ältere Schwester hat fleißig mit der
Spindel Garn gesponnen; jetzt aber freut sie sich der glücklichen Rückkehr
der Männer und ihrer Beute.
Eine Magd bringt einen Eimer voll Wasser von der nahen Quelle,
während eine andre auf dem Mahlsteine Körner zu Mehl reibt. Ein
Sklave trägt ein Bündel Holz ins Haus zum Herde, und bald wird am
lustigen Feuer den Hungrigen ein Mahl bereitet sein. Dann werden die
Jäger, am Herde sitzend, den Frauen erzählen, was sie heute erlebt haben;
das Trinkhorn, mit Met gefüllt, wird geleert werden, bis endlich alle auf
dem einfachen Lager — der Hausherr auf dem weichen Bärenfell — sich
zur Nachtruhe niederlegen. Gotllob Schurig. OMriginalariilel.
183. Das Grab im Busento.
1. Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder;
aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wider.
2. Und den Aluß hinauf, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten,
die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten.
310 —
3. Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,
wührend noch die Jugendlocken seine Schultern blond umgaben.
4. Und am Ufer des Busentko reihten sie sich um die Welte;
um die Strömung ahzuleiten, gruben sie ein frisches Belte.
5. In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
senkten tief hinein den Leichnam mit der Rüstung auf dem Pferde.
6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.
7. Abgelenkt zum zweiken Male, ward der Auß herbeigezogen;
müchtig in ihr alkes Bette schäumten die Busentowogen.
3. Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren!
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab versehren!“
9. Sangen's, — und die Lobgesänge könken fort im Gotenheere.
Wälze sie, Busenkowelle, wälze sie von Meer zu Meere!
Anugust Graf von Platen.
184. Winfried im Lande der Türingo.
a) Die Reise ins Land der Diüringe.
I. Auf dem Waldwege, der vom Main nordwärts in das Hügel-
land der Eranken und Thüringe führt, zogen an einem heiben
Sommertage drei Reiter schweigend dahin. Der erste war der
Fũhrer, ein junger Mann von starken Gliedern; das lange Haar hing
ihim wild um das Haupt, die blauen Augen spähten nach beiden
Seiten des Weges in den Wald. Er trug eine verschossene Leder-
kappe, über der braunen Jacke eine grobe Tasche mit Reisevorrat,
in der Hand den Wurfspeer, auf dem Rücken Bogen und Jagdköcher,
an der Seite ein langes Weidmesser, am Sattel seines Rosses eine
schwere Waldaxt. Hinter ihm ritt ein breitschultriger Mann in den
Jahren seiner besten Kraft. Die mächtige Stirn und die blitzenden
Augen gaben ihm das Aussehen eines Kriegers; aber er trug sich
nicht wie ein Mann des Schwertes. Das kurzgeschorene Haar deckte
ein sãchsischer Strohhut. An dem langen Gewande war nicht Wehr-
gehenk, nicht Waffe sichtbar; nur die Axt, die jeder Reisende in der
Wildnis fũhrte, steckte im Sattel. Nach dem groben Ledersack, der
vor ihm über dem Sattel befestigt war, mochte man ihn für einen
311
Hãändler halten. Ihm zur Seite trabte ein Jüngling in gleicher Tracht
und Ausrüstung, der auch auf dem Rücken ein Bündel trug und in
der Hand einen Baumzweig, mit dem er sein Röblein antrieb.
2. Durch Sand und über Steinblöcke zog sich der rauhe Pfad
zwischen alten Kiefernstämmen von einer Erdwelle zur andern. Auf
dem braunen Grunde wuchs wenig andres als Wolssmilch, Heide-
kraut und dunkle Waldbeeren. Es war still im Walde, nur die
Krähen schrien über den Wipfeln; die heibe Luft war mit Harz-
geruch erfüllt, und kein Windeshauch kühlte die erhitzten Wangen. —
Der Pfad senkte sich in ein stilles Naldtal, führte durch sumpfigen
Grund und das Bett eines Baches und stieg auf der andern Seite
wieder in den Wald.
Als das Abendrot sich über den Himmel breitete, ritt der Führer
einen schmalen Weg bergauf. Die Rosse der Reisenden Hlommen
muhsam nach durch dichtes Holz bis auf eine Berghöhe. Der Gipfel
war ein unebener Raum, baumlos, mit niedrigem Buschwerk und
wilden Blumen bewachsen. Nur eine mächtige Esche erhob sich in
der Mitte aus dem niedrigen Kraut. Der Führer sprang vom Rob
und neigte sich tief gegen den Eschenbaum. Dann wandte er sich
der Esche zu und sprach ehrfürchtig: „Dies ist der heilige Baum
der hohen Schicksalsfrauen. Schutz vor schädlichen Gewalten hat
die Stelle, und darum habe ich euch hierher geführt.“
3. Als nun der Führer sich anschickte, weiter abwärts vom Baume
den Zaun für das Nachtlager zusammenzuschlagen, rief der Fremde
befehlend hinunter: „Hierher, Ingram! Trage die Pfähle herauf, wir
rasten am Baume.“ Ingram stand unbeweglich und antwortete finster:
„Das geht nimmer an; denn wisse, nicht ich habe jenen Baum zu
scheuen, sondern du. Weit bekannt ist er im Lande, und um ihn
schwebt seit der Urzeit die Gewalt der Götter, die dir feind sind und
nicht mir.“ — „Ob sie mir feind sind, will ich dir zeigen, wenn du
mir folgst, antwortete der Fremdling und schritt dem Baume zu.
Er erhob seine Axt und rief: Haben sie Grimm, so mögen sie
zürnen; haben sie Macht, so mögen sie mich treffen wie ich diesen
Stamm!“ Und mit starßem Schwunge schlug er die Axt in den
Baum. Der Führer trat zurück, griff nach seiner Wafsfe und starrte
gen Himmel, ob von dort die Strafe der Götter den Frevler trefse.
Aber alles blieb still, nur ein trockener Zweig mit Eschensamen fiel
herab. Grollend zog sich der Führer zurück, des Schutzes innerhalb
des Zaunes für sich und sein Rob nicht begehrend.
312
4. Als die Reisenden am Abend des nächsten Tages aus dem
dunkeln Fichtenwalde ritten, schauten sie von der Berghöhe niedrige
Hügel, in der Ferne offenes Land. Vor ihnen lag am Fube des
Berges ein Dorf, grau die Dächer, grau die Balken, rundherum ein
Zaun aus Pfahlwerk und ein breiter Graben. An der Wegseite hielt
der Fübrer und sagte kurz: „In das Land der Thüringe habe ich
euch geleitet; dies ist das Dorf, dort ist der Hof des Franken, den
sie einen Meier des Grafen nennen, und dort steht er selbst. Voll-
bracht ist, was ich gelobt; fahret dahin!
Wãhrend die Fremden mit geneigtem Haupte ihrem Gott danscten
und um Segen für ihren Eintritt flehten, jagte Ingram von
dannen. Er war bereits hinter einem Vorsprunge des Holzes ver-
schwunden, als Winfried, denn das war der altere der beiden Fremden,
nach ihm aufsah. Von der andern Seite aber kam der fränkische
Verwalter ihnen entgegen, ein Mann mit grauem Haar und ernster
Miene. Winfried bot ihm den Christengruß, und das Gesicht des
Mannes rötete sich vor Freude, als er antwortete: „In alle Ewigkeit.
Und als ihm Winfried ein ausgeschnittenes Pergamentblatt hinhielt
als Erkennungszeichen, da nahm er ehrerbietig den Hut vom Haupte,
ergriff selbst die Zügel der Rosse und führte die Fremden nach
seinem Hose.
b) Die Bekehrung der Düringo.
L. Nach einiger Zeit war dem Winfried eine Halle bei dem Meier-
hose des Grafen errichtet worden, damit er würdiger das Volk emp-
fange; doch war er selten daheim. Von einem Gesfolge ansehn-
licher Männer begleitet, zog er rastlos durch das Land. Wo er er-
schien, predigte er gewaltig von dem Gott der Christen, und viele
zogen das weihe Gewand der Tauflinge an, noch mehr sstanden unsicher
zur Seite. Fand er auch überall bittere Feinde, wider den ersten
Andrang seiner Lehre vermochten sich nur wenige zu wehren; denn
gütig und schonend sprach er zu den einzelnen, und jedem gab er
seine Ehre. Er war freundlich zu den Frauen, und sein Antlitæ wan-
delte sich in helle Fröhlichkeit, wenn er mit den RKindern sprach.
Wo er einen Bedrängten oder Darbenden fand, gab er alles, was er
selbst gerade hatte, und bat so feierlich und dringend, dab er ost auch
die Harten zur Guttat beredete. Im ganzen Lande sagten die Leute,
dabß er ein milder und vornehmer Mann sei, und darum hörten sie
ihn williger.
313
2. Auch das Dorf, in dem er zuerst eingekehrt war, hatte sich
verwandelt. Mitten darin stand ein Haus mit einem groben Kreuz über
dem Giebel; es war die erste Schule im Lande. Dort saben die
Knaben auf niedrigen Hol2bänken. Sie lernten in ihrer Sprache das
Vaterunser und den Glauben, dazu einige lateinische Kirchengebete
und Gesaänge. Ihr Lehrer Memmo laãchelte jedesmal stolz, wenn er
den Knaben einen neuen Spruch beibrachte. Er strich denen, die
gut lernten, so zart über das gelbe Kraushaar wie seinem Stieglitz
über das rote Käppchen. Aber den Ungefügen zahlte er unerbittlich
ihr Kerbholz mit einer groben Birkenrute, die der Unartigste jeden
Sonnabend neu liefern mubte, damit er selbst die ersten Streiche
empfange. Auch Schreibgerät bereitete er, um den Knaben das
Geheimnis der Schrifst zu offenbaren. Er kochte den schwarzen
Zaubersaft der Tinte, während ihn die Knaben ängstlich umstanden.
Er lehrte sie kleine Holztafeln schneiden und einrahmen und für den
Gebrauch des Griffels mit einer dünnen Lage Wachs überziehen, für
die Tinte aber mit weihem Birkenbast bekleiden. So ost die
Weise des Abendliedes von der Hõöhe über das Dorf klang, hörten
die Landleute mit der Arbeit auf und sahen furchtsam zu dem Hof
empor, wo dem neuen Gott der Nachtgruß geboten wurde. Und
wenn Memmo mit seinen Schülern durch Wiese und Holz zog und
ihnen die Tugenden der Bäume und Kräuter erklärte, dann wurden
seine kleinen Gesellen von den Dorfknaben angeschrien wie ge-
zähmte Vögel von wilden, und er hatte zuwellen mit seinem
Stock Arbeit, um die Köpsfe der Raufenden auseinanderzubringen.
So ost Winfried von seinen Reisen heimkehrte, empfing er die
Berichte seiner Getreuen. Er stand fröhlich unter den Kindern, freute
sich der guten Köpsfe, die Memmo lobte, und mahnte die Säumigen.
Gustav Freytag. (Die Ahnen.)
*
185. Die Bekehrung des Sachsenherzogs Widukind.
1. Es war in der Morgenfrühe des Weihnachtsfestes 784. Schneidend
fegte der Ostwind über die winterlichen Schneefelder. Noch funkelten die
Sterne durch die kalte Morgenluft, aber schon begann die aufdämmernde
Morgenröte die Wolken am östlichen Himmel purpurgoldig zu säumen.
An den Ufern der Elbe hatte sich das fränkische Heer unter dem mäch—
tigen Frankenkönige Karl gelagert. Schon mehrmals hatte er die wilden
Sachsen mit Waffengewalt unterworfen, aber immer aufs neue entbrannte
der Krieg. Die Sachsen kämpften für die Götter ihrer Väter, für die Freiheit
31—e—
ihrer Wälder. Empört über den Bluttag von Verden, wo König Karl
Tausende von sächsischen Kriegsgefangenen hatte töten lassen, und aufge—
hetzt von ihrem alten Führer, dem unermüdlichen Widukind, hatten sich die
vereinigten Sachsenstämme zum letzten, gewaltigen Entscheidungskampf er—
hoben. Aber so tapfer sie fochten, sie konnten doch auf die Dauer den Heeren
der Franken nicht widerstehen. Nach der schweren Niederlage an der Hase
(im Hannöverschen) hatte Widukind sich über die Elbe zurückziehen müssen
und erwog nun, ob es geraten sei, den ungleichen Kampf noch länger fort—
zusetzen.
2. Jetzt um die Weihnachtszeit ruhte die blutige Kriegsarbeit, da man
eine Waffenruhe von einigen Tagen vereinbart hatte. Widukind hatte
erfahren, daß die Franken ein Fest feierten, das von ihnen besonders heilig
gehalten würde. Da wollte er gern einmal sehen, wie denn die Christen
ihren Gott verehrten, den sie den Sachsen mit Gewalt aufdrängen wollten.
In ein Bettlergewand gehüllt, schleicht er sich beim ersten Scheine des
Morgenrots in das fränkische Lager und schreitet unerkannt durch die Reihen
der Zelte. Viele der fränkischen Krieger eilen schon zur Christmette; der
Sachsenherzog schleicht sich mit ihnen ein und bleibt scheu unter den Bettlern
am Eingange des Gotteshauses stehen. Aber was sieht er da? Wie geht's
da anders her als bei den heidnischen Opferfesten, wo man dem Wodan zu
Ehren auf den großen Steinblöcken Tiere oder wohl gar gefangene Krieger
mit den spitzen Steinmessern schlachtet! Hier kniet König Karl mit seinen
fränkischen Helden andächtig vor dem Altar, das heilige Sakrament aus der
Hand des Priesters zu empfangen. Chorgesänge preisen in wunderbaren
Tönen die heilige Nacht, in der einst der König des Himmels seinen Sohn
in die Welt gesandt hat.
3. Widukind ist tief ergriffen, unwillkürlich faltet er die Hände. Ihm
ist, als ob das Christkindlein mit der Krone auf dem Haupt ihm aus seiner
Krippe zuwinkte: „Komm her zu mir!“ Er wirft sich vor dem Altar auf
die Knie nieder, und als ihn alle erstaunt umringen, ruft er: „Ich bin
Widukind, der Sachsenherzog; ich will nun auch ein Christ werden wie ihr!“
Verwundert und über die Maßen erfreut, begrüßt der Frankenkönig den
Sachsenherzog. Lauter Jubel erschallt bald durch das ganze Frankenheer;
denn dieser eine war ihnen mehr wert als zehn gewonnene Schlachten.
Im folgenden Jahre ward Widukind getauft, und König Karl soll
selbst bei ihm und seiner Gemahlin Patenstelle übernommen haben. All—
mählich folgten die meisten Sachsen seinem Beispiel. Sie entsagten dem
Götzendienst und den heidnischen Gebräuchen und nahmen durch die Taufe
den christlichen Glauben an. Und wenn der Krieg in einzelnen Gegenden
3185 —
des Landes auch noch jahrelang fortdauerte, so hatte das Sachsenland
doch bald nach Anfang des neuen Jahrhunderts das Christentum wenigstens
äußerlich angenommen und sich der Herrschaft des Frankenkönigs unter—
worfen.
Dentscher Kinderfreund.
186. Karl der Große auf der Jagd.
1. Gern führte Karl der Große seine Gäste auf die Jagd; denn Weid—
werk blieb ihm die liebste Erholung. Der Jagdgrund, zu dem er am häufigsten
zog, war der Ardenner Wald. Stattlich war der Auszug der kaiserlichen Jagd,
wie ihn Angilbert, der Freund und Sänger Karls, beschreibt.
Wenn die erste Morgenröte auf die Berggipfel fiel, dann eilte die
Schar der edlen Knaben vor das Schlafgemach des Königs und erwartete ihn
auf der untersten Stufe. In der Stadt wurde es laut. Die Menge tummelte
sich auf dem Platze, die Herren riefen ihren Dienern, Roß wieherte gegen
Roß. Das Leibpferd des Königs wurde an die Stufen geführt. Zaum und
Decke waren mit Gold geschmückt; stolz schüttelte es die Mähne und freute
sich der Bergfahrt. Endlich trat Karl heraus. Sein edles Haupt umschloß
ein Goldreif, gewaltig war auch in der Jagdlust seine Haltung und Gebärde.
Der Schwarm umdrängte ihn; die Knaben trugen die Jagdspieße mit spitzen
Eisen, das leinene Netz mit vierfachem Saume, sie führten die halsgefesselten
Jagdhunde. Das Stadttor öffnete sich, die Hörner tönten, lustig zogen die
Klänge durch die Luft, der König fuhr mit seinem Jagdgefolge ins Freie.
2. Länger säumte die Königin. Endlich kam sie aus dem Schlafgemach,
gefolgt von großer Schar. Die Locken hingen, mit Purpurband durchwunden,
auf den hellen Hals, goldene Fransen umsäumten das dunkle Purpurgewand,
an der Schulter glänzte ein kostbarer Edelstein, auf der Stirn das goldene
Diadem, am Hals ein Band von Edelsteinen. Die Königin bestieg ihr Roß,
das feurig unter der Hand des Knaben aufbäumte, und folgte mit ihren
Kindern und großer Begleitung dem Gemahl.
3. Das ganze Jagdheer ist am Waldessaum versammelt. Die Ketten
werden den Hunden abgelöst; sie rennen in das Holz, das Wild zu suchen.
Die Reiter umgeben das Dickicht. Gebell erschallt, ein Eber ist gefunden;
den Hunden stürmen die Männer nach, der Wald ertönt von lautem Getöse.
Der Eber stürzt vorwärts und hält sich auf der Höhe des Berges. Die
Hunde erreichen ihn, er aber fällt sie mit scharfem Zahn. Da sprengt der
König selbst herzu, und als der schnellste im Haufen stößt er ihm das Eisen
in die borstige Brust und ruft laut dem Gefolge zu: „Gut Heil dem Tage,
wie der Anfang war; wohlauf an Weidmanns Werk mit Gunst, Gesellen!“ —
—316—
Kaum war das Wort gesprochen, so stob der Haufe den Berg hinab, und jeder
dachte der Beute; Karl aber flog allen voran, den Wurfspeer in der Hand.
4. Viel Wild wurde erlegt bis zum Abend. Da teilte der König die Jagd⸗
beute unter alle Edlen; dann ging der Zug nach der grünen Lichtung, wo ein
Bach floß, Wohnsitz von vielen Vögeln, die dort hausten und badeten. Dort
standen goldgeschmückte Zelte auf dem Grunde und hin und wieder die Jagd—
hütten der Edlen. Und Karl rüstete den Jagdgenossen ein frohes Mahl und
setzte, nach den Jahren gesellt, die würdigen Greise zusammen, die Männer bei
vollen Jahren und wieder die flügge Jugend, und gesondert die Jungfrauen.
Er ließ den Wein auf die Tische setzen. Unterdes sank die Sonne, die Nacht
stieg herauf, die Müden ruhten aus unter dem Zeltdach im grünen Walde.
5. Nicht ohne Gefahren war die Jagd im Bergwalde. Noch wurde der
Bär und der Auerochs verfolgt, und Karl selbst erlebte mit dem wilden Getier
Abenteuer. Einst verfolgte er einen Trupp Ure. Er fuhr an eins der Tiere
heran und hob die Waffe, aber der Schlag mißlang. Das greuliche Tier zer⸗
riß dem Könige die Strümpfe und die Bänder der Schuhe und traf mit der
Spitze des Hornes sein Bein. Isambard aber, einer aus der Gefolgschaft des
Königs, sprang gegen das Tier, bohrte den Speer zwischen Schulter und Hals
bis in das Herz und wies das zuckende Ungeheuer dem Könige. Dieser
aber tat, als sähe er's nicht. Nun kamen alle und wollten zum Dienste
des Königs ihre Strümpfe ausziehen; er aber hinderte sie und sprach: „So
zugerichtet muß ich zur Hildegard kommen.“ Der König ritt zurück; er rief
die Königin, zeigte ihr den zerrissenen Fuß und sprach: „Was verdient der,
der mich von diesem Gegner befreit hat?“ Und sie erwiderte: „Das Beste!“
Da erzählte der Herr ihr alles der Reihe nach und legte ihr die ungeheuern
Hörner als Zeichen hin. Da Isambard damals in Ungnade war und aller
Würden beraubt, so warf sie sich dem Könige zu Füßen und erbat für Isam⸗
bard alles zurück, und sie selbst spendete ihm Gaben.
Gustav Freytag. Gilder aus der deutschen Vergangenheit.)
187. Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt.
1. Als Raiser Rarl zur Schule kam und wollte visitieren,
da prüft' er scharf das kleine Volk, ihr Schreiben, Buchstabieren,
ihr Vaterunser, Einmaleins, und was man lernte mehr;
zum Schlusse rief die Majestät die Schüler um sich her.
2. Gleichwie der Hirte schied er da die Böcke von den Schafen;
zu seiner Vechten hieß er stehn die Fleißigen, die Braven.
Da stand im groben Linnenkleid manch schlichtes Bürgerskind,
manch Söhnlein eines armen Rnechts von Raisers Hofgesind.
— 317—
Wie Kaiser Karl Schnlvistkation hielt.
318
3. Dann rief er mit gestrengem Blick die Faulen her, die Böcke,
und wies sie mit erhobner Hand zur Linken, in die Ecke.
Da stand im pelzverbrämten Vock manch feiner Herrensohn,
manch ungezognes Mutterkind, manch junger Reichsbaron.
4. Da sprach nach rechts der Kaiser mild: „Habt Dank, ihr frommen
Rnaben!
Ihr sollt an mir den gnäd'gen Herrn, den güt'gen Vater haben;
und ob ihr armer Leute Rind und Rnechtesöhne seid —
in meinem Reiche gilt der Mann und nicht des Mannes
Rleidl⸗
5. Dann blitzt' sein Blick zur Linken hin; wie Donner klang sein
Tadel:
„Ihr Taugenichtse, bessert euch! Ihr schändet euern Adel.
Ihr seidnen Püppchen, trotzet nicht auf euer Milchgesicht!
Ich frage nach des Manns Verdienst, nach seinem Namen
nicht!“
6. Da sah man manches Rinderaug' in frohem Glanze leuchten
und manches stumm zu Boden sehn und manches still sich feuchten.
Und als man aus der Schule kam, da wurde viel erzählt,
wen heute Raiser Rarl belobt, und wen er ausgeschmält.
7. Und wie's der große Raiser hielt, so soll man's allzeit halten,
im Schulhaus mit dem kleinen Volk, im Staate mit den Alten;
Den Platz nach Kunst und nicht nach Gunst, den Stand nach dem
Verstand!
So steht es in der Schule wohl und gut im Vaterland.
Narxl Gexok.
188. Heinrich der Vogelsteller.
1. Herr Heinrich sitzt am Vogelherd recht froh und wohlgemut;
aus tausend Perlen blinkt und blitzt der Morgenröte Glut.
2. In Wies' und Feld und Wald und Au, horch, welch ein süßer Schall!
Der Lerche Sang, der Wachtel Schlag, die süße Nachtigall!
3. Herr Heinrich schaut so fröhlich drein: „Wie schön ist heut' die Welt!
Was gilt's? Heut' gibt's 'nen guten Fang!“ — Er lugt zum Himmelszelt.
4. Er lauscht und streicht sich von der Stirn das blondgelockte Haar:
„Ei doch! Was sprengt denn dort herauf für eine Reiterschar?“
3459 —
5. Der Staub wallt auf, der Husschlag dröhnt, es naht der Waffen Klang
„Daß Gott! Die Herrn verderben mir den ganzen Vogelfang! —
6. Ei nun! — Was gibt's ?“ — Es hält der Troß vorm Herzog plötzlich an;
Herr Heinrich tritt hervor und spricht: „Wen sucht ihr da? Sagt an!“
7. Da schwenken sie die Fähnlein bunt und jauchzen: „Unsern Herrn!
Hoch lebe Kaiser Heinrich! — Hoch des Sachsenlandes Stern!“
8. Dies rufend, knien sie vor ihn hin und huldigen ihm still
und rufen, als er staunend fragt: „'s ist Deutschen Reiches Will'!“
9. Da blickt Herr Heinrich tiefbewegt hinauf zum Himmelszelt:
„Du gabstmir einen guten Fang! — Herr Gott, wie dir's gefällt!“
Tohann Uepomuk Vogl.
189. Hermann Billungs Berufung.
L. Es var um das Jahr 940 nach Ohristi Geburt, da hütete nicht
weit von Hermannsburg in der Lüneburger Heide ein dreizehn- bis
vierzehnjähriger Knabe die Rinderherde seines Vaters, als plötzlich
ein prächtiger Zug von gewappneten Rittern dahergezogen kam.
Der Knabe sieht mit Lust die blinkenden Helme und Harnische, die
glänzenden Speere und die hohen Reitersleute an und denkt wohl in
seinem Herzen: Das sieht noch nach was aus! Aber plötzlich biegen
die Reiter von der sich krümmenden Strabe ab und kommen querfeldein
auf die Weide zugeritten, vo er hütet. Das ist ihm zu arg; denn
das Peld ist doch keine Strabe, und das Feld gehört seinem Vater. Er
besinnt sich kurz, geht den Rittern entgegen, stellt sich ihnen in den
Wes und ruft ihnen mit dreister Stimme zu: „Kehret um, die Strabe
ist Vuer. das Peld ist mein!“
2. Ein hoher Mann, auf dessen Stirn ein majestätischer Ernst
thront, reitet an der Spitze des Zuges und sieht ganz verwundert den
Knaben an, der es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Er hält
sein Roh an und hat seine Freude an dem mutigen Jungen, der so
kühn und furchtlos seinen Blick erwidert und nicht vom Platze weicht.
„Ver bist du, Knabe?“ — „Iceh bin Hermann Billungs ãltester
Sohn und heiße auch Hermann. Dies ist meines Vaters Peld; Ibr
dürft nicht darüberreiten.“
„Ich will's aber,“ erwiderte der Ritter mit drobendem Ernst,
„weiche, oder ich stobe dieh nieder!“ Dabei erhob er den Speer.
Der Knabe aber bleibt furchtlos stehen, siebt mit blitzendem Auge
— 320—
zu dem Ritter hinauf und spricht: „Recht mub Recht, bleiben, und Ihr
dürft nieht über das Peld reiten, Ibr reitet denn über mich hinweg.“
„MWas weißt du von Recht, Knabe?« — „NMein Vater ist der
Billung,“ antwortete der Knabe, „vor einem Billung darf niemand das
Recht verletzen.“
Da ruft der Ritter noch drohender: „Ist das denn Recht,
Knabe, deinem Könige den Gehorsam zu versagen? Ich bin Otto,
cdein Königl —
„Ihr wäret Otto, unser König, von dem mein Vater uns so viel
erzuhlt? Nein, Ihr seid es nicht! König Otto schützt das Recht, und
Ihr brechet das Recht; das tut Otto nicht, sagt mein Vater.“
„Führe mich zu deinem Vater, braver Knabe!“ antwortete der
König, und eine ungewöhnliche Milde und Freundlichleit erglänzte
auf seinem ernsten Angesicht.
„Dort ist meines Vaters Hof, Ihr könnt ibn sehen,“ sagte
Hermann; „aber die Rinder hier hat mir mein Vater anvertraut, ich
darf sie nicht verlassen, kann Euch also auch nicht führen. deidl
Ihr aber Otto, der König, so lenset ab vom Felde auf dis Strabe;
denn der König schützt das Recht.“
Und der König Otto der Grobe gehorehte der Stimme des
Knaben und lenkte sein Rob zurück auf die Strabe.
3. Bald wird Hermann vom Pelde geholt. Der König ist bei
seinem Vater eingekehrt und hat zu ihm gesagt: „Billung, gib mir
deinen ältesten Sohn mit; ich wvill ihn bei Hof erziehen lassen; er
vird ein treuer Mann werden, und ich brauche treue Mnnenl. Und
weleher Sachse konnte einem Könige wie Otto etwas abschlagen?
So sollte denn der mutige Knabe mit seinem Könige ziehen,
und als Otto ihn fragte: „Fermann, villst du mit mir zichen
da antwortete der Knabe freudig: „Ieh will mit dir ziehen, du bist
der König, du schützest das Recht.“
Otto übergab den jungen Billung guten Lehrmeistern, in deren
Pflege und Leitung er zu einem tugendhaften und tüchtigen Mann
orwuchs. Der König hielt ihn wie einen seiner nächstêen Freunde
und vertraute dermaben der Klugheit, Dapferkeit und TDreue geines
Pfleglings, daß er, als er seine Römerfabrt antrat, ihm das eigene
angestammte Herzogtum Sachsen zur Verwaltung übergab. Dieser
Hermann Billung ist der Ahnhberr eines blühenden Geschlechts ge-
worcdlen, das bis zum Jahre 1106 dem Sachsenlande seine EHerzöge gab.
Hermann Ferdinand Bäßler. (Sagen aus der Geschichte des deutschen Volkes.)
321 —
190. Kaiser Otto J.
1. Zu Quedlinburg im Dome ertönet Glockenklang,
der Orgel Stimmen brausen zum ernsten Chorgesang;
es sitzt der Kaiser drinnen mit seiner Ritter Macht,
voll Andacht zu begehen die heil ge Weihenacht.
2. Hoch sitzt er in dem Kreise, von männlicher Gestalt,
das Auge, scharf wie Blitze, von goldnem Haar umwallt;
man hat ihn nicht zum Scherze den Löwen nur genannt,
schon mancher hat empfunden die löwenstarke Hand.
3. Wohl ist auch jetzt vom Siege er wieder heimgekehrt,
doch nicht des Reiches Feinden hat mächtig er gewehrt;
es ist der eigne Bruder, den seine Waffe schlug,
der dreimal der Empörung blutrotes Banner trug.
4. Zu Quedlinburg vom Dome ertönt die Mitternacht,
vom Priester wird das Opfer der Messe dargebracht;
es beugen sich die Kniee, es beugt sich jedes Herz,
Gebet in heil ger Stunde steigt brünstig himmelwärts.
5. Da öffnen sich die Pforten, es tritt ein Mann herein,
es hüllt die starken Glieder ein Büßerhemde ein; —
er schreitet auf den Kaiser, er wirft sich vor ihm hin,
die Knie er ihm umfasset mit tief gebeugtem Sinu.
6. „O Bruder, meine Fehle, sie lasten schwer auf mir;
hier liege ich zu Füßen, Verzeihung slehend, dir;
was ich mit Blut gesündigt, die Gnade macht es rein,
vergib, o strenger Kaiser, vergib, du Bruder mein!“
7. Doch strenge blickt der Kaiser den sünd'gen Bruder an:
„Zweimal hab' ich vergeben, nicht fürder mehr fortan,
die Acht ist ausgesprochen, das Leben dir geraubt,
nach dreier Tage Wechsel da fällt dein schüldig Haupt!“
8. Bleich werden rings die Fürsten, der Herzog Heinrich bleich,
und Stille herrscht im Kreise gleichwie im Totenreich;
man hätte mögen hören jetzt wohl ein fallend Laub,
denn keiner wagt zu wehren dem Löwen seinen Raub.
9. Da hat sich ernst zum Kaiser der fromme Abt gewandt,
das ew'ge Buch der Bücher, das hält er in der Hand;
er liest mit lauter Stimme der heil gen Worte Klang,
daß es in aller Herzen wie Gottes Stimme drang:
10. „Und Petrus sprach zum Herren: Nicht so? Genügt ich hab',
wenn ich dem sünd'gen Bruder schon siebenmal vergab?
Doch Jesus ihm antwortet: Nicht siebenmal vergib,
nein, siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb!“
11. Da schmilzt des Kaisers Strenge in Tränen unbewußt,
er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust;
ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht, —
nie schöner ward begangen die heil ge Weihenacht.“ Deinrich von Mühler.
Die hier erzählte Aussöhnung fand jedoch nicht in Quedlinburg statt, sondern
im Jahre 941 in Frankfurt a. M.
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubig.
214
322
191. Schwäbische Kunde.
Als Raiser Rotbart lobesam
zum Heil'gen Land gezogen kam,
da mußt' er mit dem frommen Heer
durch ein Gebirge, wüst und leer.
z Daselbst erhub sich große Not:
Viel Steine gab's und wenig Brot,
und mancher deutsche Reitersmann
hat dort den Trunk sich abgetan.
Den Pferden war's so schwach im Magen,
10 fast mußt' der Reiter die Mähre tragen. —
Nun war ein Herr aus Schwabenland,
von hohem Wuchs und starker Hand,
des Rößlein war so krank und schwach,
er zog es nur am Zaume nach;
15 er hätt' es nimmer aufgegeben,
und kostet's ihn das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
hinter dem Heereszug zurück.
Da sprengten plötzlich in die Quer'
20 fünfzig türkische Reiter daher;
die huben an, auf ihn zu schießen,
nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
ging seines Weges Schritt vor Schritt,
25 ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
und tät nur spöttlich um sich blicken,
bis einer, dem die Zeit zu lang,
auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut;
zo er trifft des Türken Pferd so gut,
er haut ihm ab mit einem Streich
die beiden Vorderfüß' zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
da faßt er erst sein Schwert mit Macht;
z5er schwingt es auf des Reiters Ropf,
haut durch bis auf den Sattelknopf,
3—
23
haut auch den Sattel noch in Stücken
und tief noch in des Pferdes Rücken.
Zur Rechten sieht man wie zur Linken
10 einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus;
sie fliehn in alle Welt hinaus,
und jedem ist's, als würd' ihm mitten
durch Ropf und Leib hindurchgeschnitten.
15 Drauf kam des Wegs ne Christenschar,
die auch zurückgeblieben war.
Die sahen nun mit gutem Bedacht,
was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Raiser vernommen,
zo der ließ den Schwaben vor sich kommen;
er sprach: „Sag an, mein Ritter wert!
wer hat dich solche Streich' gelehrt?“
Der Held bedacht' sich nicht zu lang':
„Die Streiche sind bei uns im Schwang,
zs sie sind bekannt im ganzen Reiche,
man nennt sie halt nur Schwabenstreiche!“
Lundwig Uhland.
192. Ein Turnier im Beginn des 13. Jahrhunderts.
1. Eine halbe Wegstunde von Erfurt entfernt waren auf großer Wiese
die starken Pfähle der Turnierschranken errichtet und durch Querriegel ver—
bunden, mit zwei Eingängen auf den entgegengesetzten Seiten. Der freie Raum
ringsum stieg allmählich zu den bewaldeten Höhen empor. Dort standen
unter den ersten Bäumen die buntfarbigen Zelte der Kämpfenden. Wo ein
Edler sich gelagert hatte, wehte ein Banner mit seinen Farben und Wappen⸗
zeichen. Bei jedem Zelte stampften Rennpferde und drängten sich buntgekleidete
Knechte, Spielleute und neugierige Zuschauer. Dazwischen hatten die Erfurter
Buden und Tische aufgestellt, in denen sie Speise und Trank feilboten. Hier
und da war in Holzhütten ein Herd errichtet mit dem Blasebalg, und die
Schmiede warteten mit ihren Hämmern am Amboß, um an Rüstungen und
Hufbeschlag ihre Kunst zu erweisen. Zwischen dem Waldesrand und den
Schranken trieben sich Städter und Dorfleute umher zu Fuß und zu Roß.
Viele waren aus großer Entfernung aufgebrochen und hatten die Nacht bei
Bekannten in der Nähe oder gar im Freien am flammenden Feuer zugebracht.
215
*
324
Lange vor Beginn des Festes schallte der Lärm zum Himmel. Die Sänger,
welche die Fahrt begleitet hatten, sangen von den Taten ihrer Helden. Die
Geiger spielten lustige Reigen, Rosse wieherten, die Verkäufer luden schreiend
zu ihren Buden, die Menge schwatzte und lachte. Um jeden, der Bescheid
wußte, sammelte sich ein Haufe Neugieriger, die sich die Wappen und Namen
der Ritter erklären ließen und ihre Vermutungen über das Glück der einzeluen
austauschten.
2. Während der Kämmerer des Edlen Ivo von Ingersleben, Herr
Godwin, mit seinen Knechten in den Schranken umherritt, sie von Knaben
und vorwitzigem Volke freizuhalten, standen die „fahrenden Leute“, die als
Turniergehilfen der Kämpfer in Sold genommen waren, in großen Haufen
unweit der Eingänge. Denn als Helfer der Knappen mußten sie sich in das
Gewühl der Männer und Rosse werfen, um Geworsene zu retten, Speer—
krümmer aus dem Wege zu räumen, Speere aufzuheben, kleine Schäden an
Riemzeug und Rüstung zu bessern. Die Übung half ihnen; aalgleich wußten
sie sich zwischen den Reitern und unter den Rossen durchzuwinden. Wenn
aber einer von ihnen getreten und verwundet wurde, hatte er den Schaden
und geringen Dank.
3. Unterdes trugen in Erfurt die Knappen der Ritter, die an dem
Turnier teilnehmen wollten, die Schilde anmeldend nach der Herberge, in
welcher der alte Graf von Orlamünde als erwählter Turnierrichter saß.
Durch ihn wurden die Kämpfer in zwei Parteien geteilt und nach ihrem
Wunsch entweder Herrn Henner, Ivos Marschalk, oder einem Dienstmann
der Grafen von Gleichen zugewiesen. Denn Markwart von Gleichen hatte
die Führung der Gegner übernommen, und alle, die dem Herrn Ivo ab—
geneigt waren oder ihre Kraft gegen die Herausforderer versuchen wollten,
sammelten sich unter seinem Banner. Die Mehrzahl der Kämpfer aber ging
zur Messe und tat heimliche Gelübde für einen guten Ausgang; denn der
Kampf im Turnier bedrohte mit weit größerer Gefahr als das Speerrennen
der einzelnen. Wer in die Hände der Gegner fiel oder gar vom Rosse ge—
schleudert wurde, der hatte schlechte Behandlung und Schaden an Leben und
Gliedern zu besorgen.
4. Lange harrten die Zuschauer auf dem Rennplatz. Endlich klangen die
Posaunen, und vier Scharen Geharnischter sprengten mit geschlossenen Helmen
auf der Straße heran, jede gefolgt von ihren Knappen. Die Kämpfer im
Helme hielten, von ihren Marschällen geführt, durch die beiden Tore ihren
Eintritt. Es waren im ganzen etwa 80 Speere, die sich so aufstellten, daß
die Herausforderer den Osten und Süden und die Gegner den Norden und
Westen des eingehegten Raumes erhielten; die gegenüberstehenden Haufen
3
25 —
hatten abwechselnd gegeneinander zu reiten. Wer den Speer verstochen hatte,
oder wer sich an die Schranken drängen ließ, galt für wehrlos. Er durfte
nach Turnierrecht durch Schläge gezwungen werden, den Helm abzubinden
und sich gefangen zu geben. Roß und Rüstung verfielen dem Sieger.
Die vier Scharen ordneten sich jede in zwei Glieder. Die Partei Ivos
war kenntlich durch einen weißen Schleier, die Gegner durch ein Tannenreis an
den Helmen. Als die Herren so hielten und die Rosse schnoben und stampften,
da dachten die Zuschauer mit Stolz daran, daß sie die Blüte ihres Adels
und der waffentüchtigen Helden vor sich sahen in ihrem schönsten Krieger—
schmuck. Die großen Helme waren zum Teil mit den Wappenfarben be—
malt, bei manchen Edlen gekrönt durch einen Aufsatz, der ein geschnitztes
Wappentier wies, einen Fächer, einen Mohrenkopf, oder was sonst den Herrn
als Zierat gefiel. Die Holzschilde, mit schwarzem, grauem oder weißem Pelz—
werk überzogen und zuweilen mit dem Wappenzeichen versehen, die langen
Gewänder über Rüstung und Roß von farbigem Stoffe mit Bildern ge—
schmückt, waren den Leuten ein prachtvoller Anblick.
5. Posaunen und Pfeifen erklangen, das Kampfspiel begann. Ivo ritt
mit seinem Haufen in schnellstem Laufe gegen die Schar des Grafen Mark—
wart von Gleichen, die ihm entgegensprengte, um den Anprall nicht
stehenden Fußes zu erwarten. Laut krachten die Speere des ersten Gliedes
in jeder Schar. Die Trümmer sanken zu Boden, und im Nu fuhr das
zweite Glied durch die Zwischenräume des ersten in den Vorkampf, damit
die speerlosen Genossen Zeit erhielten, von den Knappen, die sich in das
Gewühl stürzten, neue Speere zu empfangen. Mit diesen Waffen drängte,
wer von der ersten Reihe freie Hand behielt, wieder den Genossen nach,
um die Reihen der Gegner zu durchbrechen und die Hintersten des feindlichen
Haufens an die Schranken zu drücken. Ein wildes Getümmel erhob sich;
von allen Seiten tönte der Schlachtruf und das Geschrei nach Speeren, und
an der einen Seite des Kampfplatzes wogte ein unsägliches wirres Durch—
einander von Rossen und Menschenleibern. Auch die Zuschauer schrien und
jauchzten in wilder Aufregung, bis sich die beiden kämpfenden Scharen nach
den entgegengesetzten Seiten der Schranken auseinanderzogen, während ihre
Gefangenen von den Knappen gewaltsam aus der Umfriedung gezerrt wurden.
Jetzt sprangen die „fahrenden Leute“ in den Rennplatz und säuberten ihn
von dem gebrochenen Holz und den gestürzten Rossen, die sich nicht aufzu—
richten vermochten. Wieder rief die Posaune; die beiden andern Scharen, die
gegenüber hielten, rannten ebenso wie die ersten zusammen. Unterdes zogen
sich die Kämpfer des ersten Rennens hinter ihnen auf den früheren Stand.
In solcher Weise wurde viermal gerannt, damit jede der Scharen ihren langen
225
29—
S
2
2
—
—2
2
2
2
—
⸗
—
2
2
2
2
2
b
2
2
2
Ʒ
*7
Anlauf erhielt. Dann erhob sich nach einer Pause, in der nur einzelne
gegeneinander ritten, ein allgemeiner Kampf der beiden Parteien. Die Zahl
der Streitenden war kleiner geworden, aber der Eifer gestiegen. Die Reihen—
folge im Abritt war nicht mehr zu bewahren, auch der Zusammenhalt der
Scharen wurde gelockert. Von allen Seiten stießen die Wilden nach der Mitte
und suchten sich die Gegner, die ihnen am leidigsten waren. Immer schärfer
gellten die Rufe der Kämpfenden; die Pfeifen und Posaunen schrien da—
zwischen, und gleich dem Gebrüll empörter Meereswogen tönte Zuruf, Jubel⸗
geschrei und Klage der Schauenden um das sinnbetörende Schauspiel.
6. Unterdes blieben die Führer im dichten Kampfgewühl; denn um beide
scharten sich am engsten die Genossen, weil die Ehre der Partei daran hing,
daß ihr Vorkämpfer nicht gefangen wurde. „Gebt Raum!“ rief Ivo, den
zugereichten Speer einlegend, „jetzt bring' ich's zum Ende!“ Und er fuhr
mit so gewaltigem Roßsprung auf Herrn Markwart zu, daß diesem das Tier
auf das Hinterteil gesetzt wurde und mit dem Reiter zu Boden rollte. Hilf⸗
los lag der Graf unter dem Roß, und um ihn begann das Stoßen und
Zerren, so daß die Zuschauer in dem tollen Gewirr nichts deutlich erkannten,
nur einen Strudel von Helmen und Roßhäuptern, der sich kreisend um den
unsichtbaren Mittelpunkt bewegte. Aber die Mannen Ivos drängten mit
ihren Speeren dicht um den liegenden Grafen, und Ivo rief ihm zu „Gebt
Euch, Graf Markwart, damit meine Knaben Euch nicht die Arme schnüren.“
Der Betäubte vermochte kaum zum Zeichen der Ergebung die Hand zu heben.
Ivo sprang herab, löste ihm die Schnur des Helms und half ihm auf das
zitternde Roß.
7. Da gab der Kampfrichter den Bläsern ein Zeichen, das Ende aus—
zurufen. Wer nach dem letzten Posaunentone noch weiterkämpfte, verlor
seine Rüstung. Darum schwand allmählich das Getöse; die Kämpfer banden
ihre Helme ab und suchten ihre Stelle in den geminderten Haufen. Ivo
aber sprengte mit entblößtem Haupt in die Mitte des Raums, rief den Teil⸗
nehmern am Turnier seinen Dank aus und zog dann langsam mit seiner
Schar in den Schranken umher, während der Beifallssturm der Zuschauer
wie Donner erklang. Die Gefangenen entließ er, soweit er Macht über sie
hatte, ohne Lösegeld.
Es war ein kleines, aber ruhmvolles Turnier. Die Gegner Ivos hatten
den größeren Verlust an geworfenen Helden wie an zerbrochenen Rippen, und
die Erfurter rühmten als besondern Zufall, daß kaum zwei gefährlich ver—
wundet waren. Nur die Beutelustigen grollten dem Sieger, weil er das
Waffenspiel allein auf Speere und nicht auf die stumpfen Schwerter ein—
gerichtet hatte, die sonst nach dem Speerkampf geschwungen wurden und reich—
licher zu Gefangenen verhalfen.
328
193. Gutenberg und die Buchdruckerkunst.
. Jahrhundertelang bestand das einzige Mittel der Vervielfältigung
eines Schriftstücks in dem mühsamen und zeitraubenden Abschreiben. Schon
im Altertum gab es Buchhändler, die solche Abschriften gewerbsmäßig her⸗
stellen ließen, indem in ihren Werkstätten ein Vorleser einer ganzen Anzahl
schreibkundiger Sklaven das abzuschreibende Werk Wort für Wort in die
Feder diktierte. Im Mittelalter verrichteten die gelehrten Mönche in den
Qlöstern diese Arbeit und brachten es dabei zu einer ganz erstaunlichen Kunst⸗
fertigkeit im Schreiben. Namentlich verwandten sie viel Fleiß und Geschick
auf die kunstvolle Verzierung und Ausmalung der Anfangsbuchstaben eines
Abschnitts. Oft statteten sie ein Werk auch mit sauber und zierlich aus—
geführten Bildern aus, die noch heute unser Staunen erregen. Kein Wunder
daher, daß damals ein Buch einen ganz andern Reichtum darstellte als heut⸗
zutage. Ein Gelehrter, der zwanzig Bücher sein eigen nannte, wurde von
vielen beneidet, und eine Bibliothek von 200 Bänden galt als außer—
ordentlich reichhaltig und kostbar. Daher war es auch um die Bildung des
Volkes sehr schlecht bestellt, und mancher Ritter oder Fürst, der das Schwert
recht geschickt zu schwingen verstand, wußte nur unbeholfen oder gar nicht
mit der Feder umzugehen. Er mußte, wenn er einen Brief zu schreiben oder
zu lesen hatte, die Hilfe des Geistlichen in Anspruch nehmen. Erst die Er—
findung der Buchdruckerkunst durch Johann Gutenberg führte gegen die Mitte
des 15. Jahrhunderts einen völligen Umschwung in diesen Verhältnissen herbei.
2. Wie aber kaum jemals eine neue Erfindung plötzlich und unvermittelt
zutage getreten ist, so hatte auch die Buchdruckerkunst ihre Vorläufer. Der
wichtigste unter ihnen ist die Holzschneidekunst. Schon lange vor Gutenberg
hatte man angefangen, Bilder, die man vervielfältigen wollte, in zarten Um—
rissen auf Holzplatten erhaben auszuschneiden. Bestrich man diese hochliegende
Zeichnung mit Farbe und legte einen Bogen Papier darüber, so druckte sich
das farbige Bild därauf ab, und durch Erneuerung der Farbe konnte man
so beliebig viele Abzüge herstellen. Zunächst wurden besonders Spielkarten
in dieser Weise verfertigt; bald aber benutzte die Geistlichkeit das neue Ver—
fahren zur Verbreitung von Heiligenbildern und bildlichen Darstellungen aus
der Biblischen Geschichte. Diese boten für die große Masse des Volkes den
besten Ersatz für das geschriebene Wort, das sie doch nicht verstehen konnten,
ganz abgesehen davon, daß eine geschriebene Bibel damals ungefähr 1000 Mark
kostete. Ein einfaches Bild aber konnte auch der Ungelehrteste rasch und
leicht begreifen, und so entstand die berühmte Armenbibel, eine Sammlung
von vierzig bildlichen Darstellungen aus den Erzählungen des Alten und
des Neuen Testaments. Allmählich fügte man diesen Bildern Unterschriften,
329 —
einzelne Sprüche und erklärende Worte hinzu, die natürlich alle, genau wie
das Bild selbst, verkehrt aus der Holzplatte herausgeschnitten werden mußten,
und schließlich schnitt man ganze Seiten Schrifttext ohne Bilder aus Holz—
tafeln erhaben heraus. Das war zwar an sich eine mühsame Arbeit, aber
sie ersparte wenigstens das vielfältige und langwierige Abschreiben und machte
es möglich, rasch eine beliebige Anzahl von Abzügen herzustellen.
3. So weit war der Buchdruck schon gekommen, als Gutenberg seine
anscheinend so einfachen und doch so weltbewegenden Erfindungen machte.
Johannes Gensfleisch, nach seiner Mutter meist Gutenberg genannt, entstammte
einer alten, vornehmen Mainzer Familie. Er widmete sich der Buchdrucker—
kunst und war unablässig bemüht, Verbesserungen und Vereinfachungen für
seine Kunst zu schaffen. So erfand er zunächst die Buchdruckerpresse, deren
gleichmäßiger Druck es gestattete, von nun an das Papier auf beiden Seiten
zu bedrucken. Endlich aber kam er auf den großen Gedanken, von dem die
ganze weitere Entwicklung der Buchdruckerkunst ausgegangen ist, nämlich jene
Holzplatten in ihre einzelnen Buchstaben zu zerschneiden und diese dann beliebig
wieder zu neuen Wörtern zusammenzufügen.
So einfach freilich war in Wirklichkeit der Druck mit diesen beweglichen
Lettern nicht, und Gutenberg mußte noch eine Menge Schwierigkeiten aus
dem Wege räumen, ehe sich der Gedanke praktisch verwerten ließ. Zu diesen
mannigfachen Versuchen aber brauchte er viel Geld. Als sein vöäterliches
Vermögen erschöpft war, verband er sich daher im Jahre 1450 mit einem
reichen Mainzer Goldschmied, Johannes Fust, der ihm die nötige Summe
vorschoß, und mit dessen Schwiegersohn Peter Schöffer. Im Vereine mit
diesen beiden Männern gelang es dem rastlosen Gutenberg allmählich, die
leicht zerbrechlichen hölzernen Lettern durch metallene zu ersetzen, und bald
erfanden sie auch die Kunst, diese metallenen Lettern nach einem einmal
geschnittenen Muster in Formen zu gießen, vermittels deren sich ein beliebig
großer Vorrat von Buchstaben herstellen ließ. So konnten sie denn endlich an
die erste große Aufgabe gehen, die sie sich für ihre neue Kunst gestellt hatten:
den Druck einer prachtvollen lateinischen Bibel. Sie wurde auch um das
Jahr 1461 vollendet, und zwar in so sorgfältiger, sauberer Ausführung, daß
sie noch jetzt mit Recht Bewunderung erregt.
4. Aber Gutenberg sollte die Frucht seiner jahrelangen angestrengten
Arbeit nicht ernten. Noch vor der Vollendung dieses ersten Hauptwerkes,
auf das er alle seine Hoffnungen gesetzt hatte, verlangte der schlaue Fust die
Rückzahlung seines Darlehens. Weil Gutenberg dazu außerstande war, so
nahm ihm jener seine ganze Werkstätte mit allen Einrichtungen und Er—
findungen als Pfand ab und drängte ihn schließlich ganz aus dem gemein—
samen Unternehmen.
330
So sah sich Gutenberg um den Preis seiner Mühe betrogen und mußte
wieder von vorn anfangen. Nunmehr bestanden die beiden Druckereien neben—
einander in Mainz, und einige Jahre hindurch blieben sie die einzigen in der
Welt; denn sowohl Gutenberg wie seine früheren Genossen Fust und Schöffer
hüteten ängstlich ihr Geheimnis. Die Gesellen mußten sich sogar eidlich zum
Schweigen über die neue Kunst verpflichten, die daher vielfach als etwas
Zauberhaftes, als eine „schwarze Kunst“ verschrien war. Als aber im
Jahre 1462 bei einer Fehde die Stadt Mainz erobert und geplündert wurde,
zerstreuten sich die Gesellen in alle Welt, und bald entstanden in vielen an—
dern Städten, namentlich in Süddeutschland, selbständige Druckereien.
———
md
nacit
——
——
Eine Druckerei zur Beit Gutenbergs.
So hatte Gutenberg wenigstens noch die Genugtuung, zu sehen, mit
welcher Schnelligkeit sich seine Erfindung durch alle Läünder verbreitete, und
wie gewaltige Umwälzungen sie in dem Leben der Völker hervorrief. Er
selbst zwar erntete nicht den ihm gebührenden Lohn; schon von seinen eigenen
Zeitgenossen fast ganz vergessen, starb er im Jahre 1468 in seiner Vater—
stadt, und längst schon ist sein Grab vom Erdboden verschwunden. Aber
3317 —
noch vor wenigen Jahrzehnten fand man in dem Hause „zum Jungen“, in
dem er seine ersten Versuche angestellt hatte, den Querbalken einer Drucker—
presse mit der eingeschnittenen Bezeichnung J. G. 1441; es war der letzte
Überrest der ersten Druckerpresse Johann Gutenbergs.
Dr. Angust Nöfer. Liermanns Deutsches Lesebuch f. höh. Lehranstalten.)
194. Luthers Jugend.
1. Komm mit ins Thüringerland! Das ist ja schon ein Land, das
einem auch ohne den Dr. Luther das Herz abstiehlt mit seinen Wäldern und
Wiesen, seinen Bergen und Bächen und Burgen und mit alledem, was da
dran und drum hängt von alten Sagen und Liedern. Was so ein rechtes
deutsches Herz ist, dem wird's dort wohler als selbst auf den hohen Bergen
der Schweiz oder am rauschenden Meere, weil Land und Leute sich einem
nah ans Herz legen. Auf den Alpen und am Meere, da schweigt der Mund
vor der Majestät Gottes, aber hier geht er auf in dieser lieblichen Gegend
von wonnigen Liedern.
2. Thüringen liegt im Herzen unsers lieben Vaterlandes, und im Herzen
schlägt das Leben doch anders als im Kopf und im Fuß. Hier, recht
eigentlich in Deutschlands Mitte war Luthers väterliche Heimat. Dort in
dem Dörfschen Möhra unweit Salzungen war der Vater, Hans Luther, ein
Bergmann. Von hier zogen die Eltern nach Eisleben, wo ihnen am
10. November 1483 ein Sohn geboren wurde, der in der heiligen Taufe
den Namen Martinus erhielt. Als der Knabe kaum ein halbes Jahr alt
war, verließen die Eltern Eisleben wieder und gingen nach der etwa andert—
halb Meilen entfernten Stadt Mansfeld, weil der Bergbau dort reich—
licheren Verdienst verhieß. Hier besuchte Martin, als er alt genug war,
zuerst die Schule. Der Weg aber war weit, das Büblein klein und schwach.
Da übernahm's ein älterer Schüler, Nikolaus Omler, den kleinen Studenten
auf dem Arm in die Schule zu tragen. Das tat ihm wohl, und noch
als alter Mann hat's Luther ihm nicht vergessen, daß er in so weichem,
lebendigem Kutschwagen dahin gefahren worden. In der Mansfelder Schule
gab's zwar allerhand zu lernen, was wissenswert war, aber es gab auch
harte Prügel. So wurde Martin einmal an einem einzigen Vormittag fünf—
zehnmal gestäupt, d. h. mit Ruten gepeitscht, und zwar ganz unschuldig, weil
er Sachen aufsagen sollte, die er zuvor nie gehört noch gelernt hatte.
3. Zu Hause war die Zucht auch nicht von Samt und Wolle. Der
Vater, Hans Luther, war ein ehrenhafter Mann, streng, gerad' und kurz
und hielt die Kinder mit fester Hand ans vierte Gebot. Zuweilen war seine
Zucht allzu streng, und Luther erinnerte sich, daß er einmal so hart gestäupt
⸗
worden ist wegen einer kleinen Sache, daß er seinem Vater schier gram
geworden. Die Mutter war eine derbe Frau, guter Sprüche voll und
beweglichen, witzigen Geistes. Auch sie fackelte nicht und schlug einmal ihren
Martin wegen einer Nuß bis aufs Blut. Und doch hat's Luther den Eltern
nie vergessen, wie hart sie sich um ihrer Kinder willen geplagt haben, und
wie seine Mutter das Holz auf dem Rücken zusammenschleppen mußte. Oft
sagte er: „Sie haben's doch herzlich gut mit mir gemeint.“ Und später hat er
bis zu ihrem Tode gezeigt, in welch hohen Ehren er seine lieben Eltern hielt.
4. Als Martin in Mansfeld gelernt, was da zu lernen war, zog er mit
seiner Weisheit nach Magdeburg, allwo ihn sein Vater hintat. Schon auf der
Reise mußte er sich das Brot vor den Häusern ersingen. Sein Freund und
Genosse hieß Hans Reinicke,
eines Bergvogts Sohn, mit
dem er zeitlebens in Freund⸗
schaft blieb. Der zog mit
ihm zu den „Nullbrüdern“,
die eine Schulanstalt hatten.
Ob, was er daselbst gelernt,
auch gleich Null war, wird
nicht gemeldet. Uns scheint
es so; denn er trieb nur
kurze Zeit sein Wesen dort.
b. Ein Jahr darauf
schickten ihn die Eltern nach
Eisenach, um ihn näher bei
sich zu haben, und weil sie
dort Verwandte hatten, von
denen sie hofften, daß sie dem Knaben beistehen würden. Aber ob diese nicht
konnten oder nicht wollten, — Martin mußte hier erst recht, wie er es schon
in Magdeburg getan, mit andern armen Schülern vor den Türen singen, um
Brocken für seinen Unterhalt zu sammeln. An manchen Türen gab's wenig
und an vielen auch gar nichts. Aber Gott, der die Sperlinge unter dem
Himmel ihr Brot finden läßt, hatte auch für seinen Martin Luther ein Stück
Brot schon im Kasten liegen. Als er so einige Zeit herumgesungen, nahm
ihn eine vornehme Frau, die zu dem Knaben um seines hellen Singens und
andächtigen Gebetes willen Zuneigung faßte, in ihr Haus und an ihren
Tisch. Es war die Frau Cotta, deren Mann einer der angesehensten Bürger
der Stadt war. In diesem Hause hatte unser Martin Gelegenheit, milde
Zucht und feine Sitten zu lernen. Das war für später gesorgt, wo er so
oft und viel mit den Großen dieser Welt zusammenkommen sollte. So
Dr. Martin Luther.
*
m o—
222
war's denn der erste warme Sonnenstrahl, der in das verschüchterte Gemüt
des jungen Luther fiel.
6. In Eisenach war auch die Schule besser, und es saß nicht alles auf
einem Haufen beieinander, alt und jung, sondern es gab drei ordentliche
Klassen. In andern Schulen saßen nämlich alte Käuze von schier dreißig
Jahren mit zwölfjährigen Kindern zusammen.
Am Fuße der Wartburg lag ein Haus, das den Franziskanern ge—
hörte. Es war ihnen von der Familie der Cottaschen Ehefrau vornehmlich
geschenkt. Dort verkehrte Luther viel mit den Mönchen, die er als ehr—
würdige Männer schildert. Ob ihm nicht dort schon der Gedanke leise
gekommen, daß es ein gut und heilig Leben sei im Kloster, seitab von der
Welt, — wer weiß es? — Luther hatte fleißig studiert; was von Anlage
und Geist in ihm war, blühte jetzt fröhlich auf. Scharfsinnig und schnellen
Geistes, gewandt und der Sprache gleich mächtig im Schreiben und Reden,
so zog der siebzehnjährige Luther aus Eisenach auf die hohe Schule nach
Erfurt.
195. Luther im häuslichen Kreise.
1. Wie liebenswürdig war Luther als Vater in der Familie! Als
seine Kinderlein vor dem Tische standen und mit allem Pleiß auf
das Obst und die Pfirsiché sahen, sagte er: „Wer da sehen vill
das Bild eines, der sich in Hoffnung freut, der hat bier das rechte
Konterfei. Ach, dabß wir den Jüngsten Tag so freudig ansehen
könnten! Adam und Eva werden viel besseres Obst gehabt haben,
unsers sind eitel Holzäpfel dagegen.“ So sah er seinem dreijährigen
Söhnlein zu, das spielte und mit sich selbst plauderte. „Das Kind
ist wie ein Drunkener; es weib nicht, daß es lebet, und lebet doch
gicher und fröhlich dahin, springet und hüpfet. Solche Kinder sind
gern in groben, weiten Gemächern, vo sie Raum haben.“ Und er
zog das Kind an sich: „Du bist unsers Herrgotts Mirrchen, unter
seiner Gnade und Vergebung der Sünden, nicht unter dem Gesetz.
Du fürchtest dich nicht, bist sicher und bekümmerst dich um nichts;
wie du es machst, so ist's unverderbt. Die Eltern haben die jüngsten
RKinder allezeit am liebsten; mein Kleiner Martin ist mein liebster
Schatz. Solche Kindelein bedürfen der Eltern Sorge und Liebe am
meisten; darum steigt die Liebe der Eltern allezeit vielfältig nieder-
wärts. Wie mub Abraham zu Sinne gewesen sein, da er seinen
jüngsten und liebsten Sohn opfern vollte! Er vird der Sara nichts
davon gesagt haben. Der Gang wird ihm sauer angekommen sein.“
334
2. Seine überaus grobe Zürtlichkeit gegen seine Kinder hinderte ihn
jedoch nicht, sie in guter Zucht zu halten. Als sein zwölfjähriger Sohn
sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte, ließ er ihn drei Dage
nicht vor sich und nahm ihn nicht eher wieder zu Gnaden an, bis er
ihim schrieb, sich demütigte und Abbitte tat. Bei dieser Gelegenheit,
als die Mutter und Dr. Jonas für ihn baten, sprach Luther: „Ich
wollt' lieber einen toten als einen ungezogenen Sobn baben.“
Luther im Kreise seiner PVamilie. (Nach dem Gemälde von Spangenberg.)
3. Sein „Herr Käthe“, wie er die Gattin gern in Briefen an
seine Preunde nannte, hatte sich bald zu einer tüchtigen Wirtin
gebildet. Und sie hatte nicht geringe Mühe: kleine Kinder, der
Mann oft krünklich, eine Anzahl LTischgänger — Magister und arme
Studenten —, ein immer offenes Haus, dem selten gelehrte und vornehme
Guste fehlten, dazu ein knapper Haushalt und ein Gatte, der lieber
gab als nahm, und der in seinem EBifer einmal sogar über das Paten-
silber der Kleinen herfiel, um ein Almosen zu geben.
4. Grobe Freude war ihm die Geselligkeit mit treuen Männern.
Dann trank er vergnügt seinen Wein, und die Unterhaltung flog lebendig
über Grobes und Kleines. Er sang wohl selbst oder schlug die Laute
und richtete eine Kantorei auf; denn „Musik“, pflegte er zu sagen,
„ist das beste Labsal eines betrübten Menschen, dadurch das Herz
335
wieder zufrieden, erquickt und erfrischt wird; sie verjaget den Geist
der Praurigkeit, vie man an König Saul siebet. Die Jugend soll
man stets zu dieser Kunst gewöbnen; denn sie macht feine und ge—
schickte Leute.“
Gustav Freytag. (Doktor Luther.)
196. Drangsale der Stadt Goldberg im Dreißig—
jährigen Kriege.
1. Nach der Schlacht am Weißen Berge bei Prag im Jahre
1620 ging Kaiser Ferdinand II. daran, in Schlesien die evan—
gelische Lehre wieder auszurotten. Da schlossen die Häupter der
Evangelischen in Schlesien, die Herzöge von Liegnitz, Brieg und
Ols, mit dem Kurfürsten von Sachsen ein Bündnis zum Schutze
ihrer Religionsfreiheit.
2. Dieser Verbindung trat der kaiserliche Feldherr Wallen—
stein entgegen. Am 4. Oltober 1633 erschien eine Abteilung
seines Heeres vor Goldberg. Als die vor die Tore der Stadt
befohlenen Ratsherren herauskamen, wurden sie überfallen, ihrer
Kleider beraubt, mit Stricken um den Hals an die Pferde ge—
bunden und unter den ärgsten Mißhandlungen auf die Stadt
zu geschleppt. Als dies die Bürger von den Wällen aus sahen,
schlossen sie die Tore und zogen die Brücken auf, um sich zu
retten. Bald wurden von den Soldaten Wallensteins die Tore
gewaltsam geöffnet, und Goldberg wurde als eine eroberte Stadt
zwei Tage lang furchtbar geplündert. Durch die ausgesuchtesten
Martern zwang man die unglücklichen Bewohner, verborgene
Wertgegenstände zu zeigen. In einer Beschreibung dieser Plün—
derung, welche kurz nachher gedruckt wurde, heißt es:
„Es wurden vielen die Köpfe mit knotigen Stricken ge—
rüttelt und gedrehet, daß ihnen die Augen aus dem Kopfe
gegangen, vielen brennende Schwefellichter unter die Nägel ge—
schoben und auf die nackte Haut des Leibes geworfen, vielen
mit Pistolstecken die Daumen eingeschraubt, zerbrochene, spitzige
Stöcke in die Hälse gestoßen, vielen der Leib mit Mistpfützen
und andrer Unsauberkeit angefüllt. Viele wurden in die Brunnen
336 —
geworfen, viele an den Dachrinnen gewippt und aufgehenkt, viele
in Backöfen gesteckt. Andern wurde der Mund bis an die Ohren
aufgeschnitten. Müttern wurden die Kindlein aus den Armen
gerissen und wider die Erde und Wände geworfen.“
Mädchen und Frauen band man an die Pferde und zwang
sie, ihren Peinigern große Lasten der Beute bis zum nächsten
Orte nachzutragen.
3. Das Hauptheer Wallensteins eroberte bald ganz Schlesien
und hauste überall aufs furchtbarste. Dazu kam eine pestartige
Krankheit, welche Tausende von Menschen hinraffte. Hirschberg
zählte allein in der Stadt 2600 Tote; in Nimptsch, das auch
wiederholt geplündert worden war, blieben von 163 Bürgern
noch 2 am Leben. Das verhältnismäßig kleine Reichenbach
zählte in kurzer Zeit 4000 Leichen, das benachbarte Peters—
waldau gegen 2000, Glatz über 4000 und Liegnitz mit seinen
Vorstädten und Stadtdörfern über 6000. An vielen Orten
fanden sich nicht Hände genug zum Bestatten der Gestorbenen.
So wurde ganz Schlesien durch den Krieg und die Seuche
auf das furchtbarste heimgesucht.
Dr. Franz Scholler. GBilder a. d. Geschichte Schlesiens. I1.)
2
197. Aus Schlesiens Urzeit.
Von den ältesten Bewohnern einer Gegend, über die uns kein schrift—
licher Bericht Auskunft zu geben vermag, erzählt uns oft der Boden des
Landes. Der Bauer stößt bei dem Pflügen des Ackers wohl auf Ton—
gefäße und Totengebein aus uralter Vorzeit, oder der Arbeiter am Eisen—
bahnbau trifft im Erdreiche mit der Hacke auf Stein und Knochen, die
von Menschenhand einst zu Waffen und Hausgerät geformt worden sind.
So hat man auch in Schlesiens Boden Spuren entdeckt, die bekunden,
daß der Mensch als heimatloser Jäger dessen Gefilde schon in uralter
Vorzeit durchstreifte.
Aus Hunderten und Tausenden von Jahren erfahren wir dann über
die Menschen, die einst zu beiden Ufern der oberen Oder wanderten oder
—
337
wohnten, nichts anderes, als was uns die Funde im Erdboden über sie
berichten. Diese zeigen uns, wie sie aus Stein, aus Bronze, zuletzt aus
Eisen Geräte und Waffen fertigten, wie sie ihre Toten begruben, wohl
auch, wie sie in Erdhöhlen oder Gruben wohnten, und welche Tiere sie
jagten. Erst um die Zeit der Geburt Christi wird uns die erste schrift⸗
liche Mitteilung über unser Land.
Damals schmückten sich die vornehmen Frauen in Rom und dem
Römischen Reiche gern mit dem klaren Bernstein, den die Ostsee in reicher
Menge an das Land spülte. Der Seeweg von Italien aus war sehr
lang, deshalb kamen die Händler aus diesein Lande durch die schlesischen
Wälder nach Norden, um im Tauschhandel den kostbaren Stoff zu er⸗
werben. Wahrscheinlich reisten sie dann am linken Oderufer entlang, bis
sie den Strom etwa bei Oppeln oder Krappitz überschritten.
Natürlich traten diese Kaufleute auch in Tauschhandel mit den Stämmen,
durch deren Gebiete sie zogen. So darf es uns nicht wundernehmen,
wenn manches Erzeugnis italischen Kunstfleißes und einer fortgeschrittenen
Kultur sich auch im Boden Oberschlesiens gefunden hat und immer noch
findet: Gefäße aus Erz und Ton, Waffen und andres Gerät, auch
Münzen mit den Häuptern römischer Kaiser. Manches davon mag in
kriegerischer Zeit zum Schutze im Erdboden vergraben worden sein, andres
wurde vornehmen Männern und Frauen als Schmuck und Beigabe ins
Grab gelegt.
So fand im Jahre 1885 ein Bauergutsbesitzer in der Nähe Oppelns
beim Grundgraben für eine neue Scheuer eine Anzahl Schalen und
Schüsseln, die wahrscheinlich einem Toten mit ins Grab gegeben worden
waren.
Das kostbarste Stück dieses Fundes war eine mit Bildwerk verzierte
silberne Schale von römischem Ursprunge. Sie befindet sich jetzt im
Kunstgewerbe⸗Museum in Breslau. Wahrscheinlich ist aber manches Stück
auch als Kriegsbeute, durch Tausch oder als Geschenk von den Nachbarn
nach Schlesien gekommen.
Welchem Stamm aber, so fragen wir, gehörte der Mann oder die
Frau an, denen so kostbare Beigaben im Grabe zuteil wurden? Welches
Volk wohnte damals zwischen dem Gesenke und dem Oberschlesischen Laud—
rücken?
Deutsche waren es vom großen Stamme der Vandalen. Wie ein
alter römischer Schriftsteller die Deutschen schildert, so mögen auch diese
Urbewohner Schlefiens gelebt haben: ein kräftiges Geschlecht, das seine
Dörfer und Gehöfte zwischen Wald und ödem Lande liegen hatte. Gemein⸗
sames Eigentum war das Ackerland, von dem den einzelnen Familien
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. BD. II. Neubta. 229
2
2
oder Sippen wechselnd ein Anteil gegeben wurde, um ihn unter den
Pflug zu nehmen. Krieg und Jagd auf die Tiere des Waldes war der
Männer Beschäftigung, während die Frauen im Verein mit den Mägden
in Haus und Hof fleißig schafften. Einförmig floß das Leben dahin im
undicht bevölkerten Lande, und gewiß war die freudige Aufregung groß,
wenn ein fremder Händler aus dem fernen Lande Italien kam und seine
Herrlichkeiten vor den staunenden Augen der Männer, der Frauen und
des Gesfindes ausbreitete und dabei in ungelenkem Deutsch von der Pracht
des ewigen Rom erzühlte und dem goldenen Hause, in dem der mächtige,
weltgebietende Kaiser wohnte.
Wie im ganzen übrigen Deutschland, so ergriff auch die damaligen
Bewohner Schlesiens zur Zeit der großen Völkerwanderung die Wander⸗
lust. Die reichen Provinzen des Römischen Reiches lockten die bedürfnis⸗
losen Männer der deutschen Wälder, und vernichtend und verheerend er⸗
gossen sich ihre Scharen über die Grenzen des Römerreiches an Rhein und
Donau. Ein Stamm der Vandalen aber hieß die Silinger. Aus diesem
Namen ist dann im Laufe der Jahrhunderte das Wort Schlesien ent—
standen. Nach Dr. Vaul Anötel. (Geschichte Oberschlesiens.)
198. Deutscher Anbau in Schlesien.
Im dreizehnten Jahrhundert wurde ganz Schlesien für deutschen
Anbau, deutsche Sprache und Sitte gewonnen, ohne Zutun des Reiches,
durch Deutsche, die freiwillig hierber kKamen und zweckvoll geleitet
wurden. Hauptsächlich waren es bleine Arbeiter, Handwerker und
Bauern, die sich hier niederlieben. Die meisten Ansiedler waren aus
den nächsten Landschaften Mitteldeutschlands. Der Sprache nach
stammt die Hauptmasse der deutschen Schlesier aus Pranken.
Nieht nur die Höhen der Riesenberge, sondern auch das Flach-
land der Oder waren noch mit dichtem Wald bedeckt. In den Wald-
sümpfen hatten zahlreiche Herden von Wildscehweinen ihr Lager. Am
Rande der Heide steckte der braune Bär seine Schnauze in die hohlen
Baumstämme und suehte den wilden Honig, und die Kiefernäste auf
der Heide zerrib das Hlen mit seinem unförmigen Geweih. An den
Plussen aber baute zablreich der Biber, und um die Teiche schwebte
der Fischadler und über ihm der edle Jagdfalke. Biber und Falken
waren den polnischen Fürsten zuweilen teurer als ihre Leibeigenen,
die in elenden Hütten saßen und bei schwerer Strafe dafür einstehen
muhten, dab sich niemand am Bau des Bibers oder dem Neste des
Adlers vergreife.
334
9
Die polnischen Stãdte waren gewöhnlich einer Burg angebaut und
mit einem Graben und Palisadenzaun umgeben. Auch in den Städten
war der größte Teil der Bewohner nach polnischem Rechte unfrei.
Woenn ein Peind nahte, floben die Bauern vom Lande hinter den Graben
der Stadt. In rubiger Zeit aber vurden dort die Märkte gebalten.
Die Herren Niederschlesiens heirateten deutsche Fürstentöchter;
dadureh kam deutsche Sitte an ihren Hof. Die Fürstenkinder reisten
in deutsche Länder und wurden oft in Deutschland versorgt. Aus
den deutschen Rittern am Fürstenhofe und ihren Vettern wurden
schnell schlesische Grundbesitzer.
Mehr aber noch als die fremden Grundherren beförderte die
Geistlichkeit deutsche Sitten. Deutsche Priester und Mönche wan—
derten unablässig von Westen her in das halbwilde Land. Merk-
würdig schnell wurdeé die Landschaft mit Klöstern und frommen
Stiftungen besetat.
Schnell erkannten jetzt Fürsten, Edelleute und Geistliche den
Unterschied zwischen deutscher und slawischer Arbeit. Grobe Land-
strecken brachten bisher wenig ein. Der Wald gab nur Holz für
den eigenen Bedarf, die Heide nur Honig. Die unfreien Leibeigenen
bauten wenig Früchte, und der Zehnte trug deshalb nicht viel. Mit
Verachtung sah man auf den Haken, mit velchem die Einheimischen
pflügten, und rief nach dem großhen Pfluge der Deutschen und
nach stärkeren und freien Händen, ihn zu führen. Die Anlage eines
deutschen Ortes aber geschah regelmäbig nach derselben Art. Pürsten
und Grundherren machten Verträge mit einem Unternehmer. Er
hatte die deutsche Bauernschaft einzurichten, dafür wurde er
selbst Schulze des Dorfes. Jedesmal wurde zuerst die Hufenzabl der
Dorfflur festgestellt. Dem Unternehmer wurde dann die Schultisei
des Ortes mit ihren zinsfreien Hufen als freies Rigentum übergeben.
Er war Ortsobrigkeit, hatte die Steuern zu erheben und abzuliefern
und seine Gemeinde zu vertreten. Die Bauern saben als freie Männer
auf ihrem Gute, durften es aber nur mit Genehmigung des Grund-
herrn verkaufen. Die neuen Ansiedler waren auf mehrere Jahre von
Abgaben frei. Wo Gelegenbeit zu einem Markte war, oder wo neben
einer polnischen Stadt die Deutschen zahlreicher wurden, da gaben
die Landesherren einem Ritter Erlaubnis, hier eine Stadt nach
deutschem Rechte zu gründen.
G6Go entstand seit 1200 in Schlesien ein neuer deutscher Stamm,
der Stamm der Schlesier. Am Ende des Jahrhunderts war seine
EHerrschaft über das Land entschieden. Aber noch dauerte die deutsche
22*
340 —
Einwanderung fort, und der stille Kampf zwischen deutscher und
polnischer Art wurde noch lange fortgesetzt, ja in einigen Landkreisen
dauert er noch heute Nach Gustav Freytag. GBilder aus der deutschen Vergangenheit.)
199. Karl IV. als Oberherr Schlesiens.
Als Karl IV. 1346 König von Böhmen und dadurch Oberherr Schlesiens
wurde, konnten sich die Schlesier freuen. Er duldete keinen Krieg der Herzöge
gegeneinander. Räuber mußten aufgegriffen und hingerichtet, Amter und Lasten
mußten ohne Ansehen der Person verteilt werden. Auch den ärmsten Bürger
hörte der hohe Herr freundlich an, wenn er auf seinem Schlosse zu Breslau
weilte, wo jetzt die Universität steht. König Karl war auch deutscher Kaiser.
Er schützte die Breslauer Kaufleute überall, wohin sie zogen, und sorgte dafür,
daß sie auch in Polen und Böhmen frei kaufen und verkaufen durften. Da
wurden die Bürger der Stadt reich. Als sie aber immer üppiger lebten,
verbot der Breslauer Rat solche Verschwendung. Bei einer Bürgerhochzeit
sollten z. B. nicht mehr als 24 Schüsseln erlaubt sein, jede für vier Gäste.
Wenn eine Bürgersfrau eine Schleppe am Kleide trage, so sollte auf dem
Rathause die Schleppe abgeschnitten werden.
Das Geld hatte damals einen höheren Wert als jetzt; so kostete ein
Scheffel Weizen etwa 5 Groschen, ein Schwein 8 Groschen.
Im Jahre 1362 kam die furchtbare Krankheit auch nach Schlesien, die
schon jahrelang in den Nachbarländern gewütet hatte. Man nannte sie den
Schwarzen Tod. Ganze Ortschaften starben aus, wo sie sich verbreitete.
Das unwissende Volk schob die Schuld auf die Juden, drang hier und da in
ihre Häuser, schleppte die Bewohner ins Gefängnis, ja auf den Scheiter—
haufen und verbrannte ihr Besitztum.
Als Karl IV. 1378 starb, waren im Breslauer Fürstentume nur noch
zwei Dörfer, in denen nicht die deutsche Wirtschaft eingeführt war. In fast
ganz Schlesien wurde zu dieser Zeit Deutsch gesprochen. Noch heute erinnern
herrliche Bauwerke an die Zeit Karls IV. und seines Vaters Johann, vor
allem das Breslauer Rathaus.
Karl Exnst. (Unter Benutzung von Dr. C. Grünhagens Geschichte Schlesiens.)
200. Zwei deutsche Frauen.
1. Das liebe Dorel.
Von 1547 an herrschte im Brieger Herzogtume 40 Jahre lang
Georg II. aus dem alten schlesischen Fürstenhause der Piasten. Er
lebte in glücklicher Ehe mit Barbara von Brandenburg, einer
—
Hohenzollerin. Ihre Väter hatten 1537 in Liegnitz eine „Erbver—
brüderung“ geschlossen, wonach die brandenburgischen Hohenzollern Erben
in den Herzogtümern Liegnitz, Brieg und Wohlau sein sollten. Dann
hatten sie die Kinder verlobt. Eine andre Hohenzollerin, das „liebe
Dorel“, hat zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges im Brieger Piasten—
schlosse liebreich gewaltet.
Am 6. Januar 1610 standen Rat und Bürgerschaft der Stadt
Brieg vor dem Breslauer Tore. Die Herren vom Rat trugen schwarze
Mäntel und Barettlein und weiße Halskrausen, die andern Männer ihre
Feiertagswämser. Zwölf Schüsse erdröhnten, und die Glocken begannen
in allen Kirchen zu läuten. Nun nahte der Herzog Johann Christian
von Liegnitz und Brieg, um feierlich mit seiner jungen Gemahlin Doro—
thea Sibylla von Brandenburg seinen Einzug zu halten. Die
Frauen traten hinzu und verehrten der neuen Herzogin einen Mantel von
Hermelin und Goldstoff, eine Pelzhaube, die mit Perlen benäht war,
einen Muff von Marderfell und einen Fußsack aus Wolfspelz und rotem
Samt mit einer kunstreichen Wärmflasche aus Zinn. Da stieg die Herzogin
aus dem Wagen, sagte den Bürgerfrauen allerlei Liebes und Gutes und
ließ sich den Mantel anlegen. Als sie nach dem Schlosse fuhr, rühmten
Männer und Frauen, wie anmutig und holdselig sie sei. Bald war die
fürstliche Frau der Liebling des Volkes.
Zwei Jahre darauf wollten die Kinder der Stadtschule der lieben
Landesmutter an ihrem Namenstage Glück wünschen. In festlichem
Aufzuge kamen sie mit ihren Lehrern, mit den Ratsherren und mehreren
Bürgern aufs Schloß. Die Herzogin besah die Büchlein und Zeugnisse
der Schulkinder; und weil die Kinder, um ihre liebe Landesmutter recht
zu erfreuen, sehr fleißig gelernt hatten, wußten sie auf alle Fragen gut
zu antworten. Nun war da auch ein kleines Mädchen. Die gnädige
Frau fragte: „Wie heißt du, mein Töchterlein?“ Das Kind sagte seinen
Namen. Die Fürstin fragte weiter: „Wie heiße ich?“ Schnell antwortete
das Mädchen: „Du heißt liebe Dorell“ Da ward alles ganz still.
Der Meister Gierth aber faßte sich ein Herz und sprach: „Fürstliche
Gnaden wollen es nicht übel deuten, da es wahr ist, daß die gnädige
Frau in Stadt und Land von allen liebe Dorel genannt wird.“ Mit
Tränen in den Augen hob da die Herzogin die Hände gen Himmel und
rief: „Gott sei gelobt für solch einen köstlichen Titel!“ Der Herzog aber
umarmte seine Gemahlin und sagte: „Nun will auch ich dich lebenslang
nicht anders nennen als liebe Dorel!“
Nach sechzehnjähriger Ehe ging diese liebreiche Fürstin in das himm—
lische Freudenreich. Schon im Jahre 1675 trug man den letzten der
342 —
schlesischen Piasten aus seinem Brieger Schlosse hinaus, um ihn in
der Liegnitzer Fürstengruft zu bestatten. 66 Jahre später erkämpfte sich
Friedrich der Große das Erbe der Piasten mit dem Schwerte.
George Nesekiel. (Das liebe Dorel.)
2. Luise Heuriette, Kurfürstin von Brandenburg.
An allen Unternehmungen Friedrich Wilhelms des Großen Kurfürsten
hatte seine erste Gemahlin, Luise Henriette von Oranien, Tochter des Erb—
statthalters der Niederlande, den innigsten Anteil. Wie Friedrich Wilhelm
das Vorbild eines weisen Landesvaters darstellte, so bildete sie das
Muster einer edlen und tugendsamen Landesmutter. Luise besaß eine
herzgewinnende Freundlichkeit und einen sehr hellen Verstand. Oft mil—
derte sie den heftig aufbrausenden Zorn des Kurfürsten und verhütete
übereilte Schritte. Sie begleitete ihren Gemahl auf allen Reisen, selbst
auf seinen Feldzügen, und stand ihm stets beratend und tröstend zur Seite.
Eine besonders gesegnete Wirksamkeit entfaltete die junge Kurfürstin in
Oranienburg, das früher Bötzow hieß, und in Neuholland, Dörfer, welche
ihr zu Ehren so genannt wurden. Hier sorgte sie mütterlich für ihre
Untergebenen und regte durch Viehzucht, Garten- und Ackerbau auf ihren
Besitzungen überall zu nützlicher Tätigkeit an. Sie berief aus ihrer Heimat
Gärtner und Bauern, daß sie den Brandenburgern als Muster und Lehrer
für den Ackerbau dienten. Sie ließ Zuchtrinder, ferner feine Obstsorten
und gute Gemüsearten aus Holland kommen, ließ die ersten Kartoffeln
anbauen und pflanzte kostbare Tulpenzwiebeln. Um alle Zweige der
Wirtschaft kümmerte sie sich und führte Buch darüber. Zu den Bauten
entwarf sie selbst Zeichnungen, in den Gartenanlagen wies sie selbst den
Bäumen ihre Plätze an. In die Teiche setzte sie Fische und überwachte
ihre Pflege. Zur besseren Verwertung der Milch legte sie eine Molkerei an.
Bei der Taufe ihres zweiten Sohnes stiftete die Kurfürstin in Oranien—
burg ein Waisenhaus, um armen, elternlosen Kindern eine Heimstätte zu
bieten. Fast täglich besuchte sie diese Kinder; sie liebte sie wie eine Mutter
und war der belebende Sonnenstrahl ihrer freudlosen Jugendzeit. Die
Kurfürstin war überhaupt eine Mutter der Armen und Notleidenden und
unterstützte sie mit vollen Händen; nicht selten versah sie den Dienst einer
barmherzigen Schwester und stand im Spital den Sterbenden bei. Dem
Schulunterrichte wandte sie gleichfalls ihre landesmütterliche Fürsorge zu;
durch sie wurde das Unterrichtswesen gefördert und die öffentliche Wohl—
tätigkeit durch Errichtung von Hospitälern und Waisenhäusern angeregt.
Sie verwendete auch viel Sorgfalt auf die Erziehung ihrer Kinder und
stellte tüchtige Lehrer an.
343
Trotz des Glanzes, den wir sonst um diese Zeit mehr denn je bei
Hofe finden, bewahrte Luise ihre Einfachheit und die stillen Tugenden
der Häuslichkeit. Sie verschmähte die französische Mode, die zu dieser
Zeit maßgebend war, und verunzierte nicht nach damaliger Zeit ihr An—
gesicht mit Schönheitspflästerchen; sie war eine schlichte und doch im
wahren Sinne des Wortes eine fürstliche Frau.
Die Kurfürstin Luise Henriette besaß ein gläubig frommes Gemüt.
Jeden Tag begann sie mit einer Morgenandacht, an der die Prinzen und
die Dienerschaft teilnahmen; außerdem hatte sie täglich eine stille Gebets—
stunde, wo sie mit Gott redete und ihm alles sagte, was ihr Herz bewegte.
Ihr frommer Sinn bekundete sich auch dadurch, daß sie selbst ein An—
dachtsbuch herausgab. Die ihr zugeschriebenen geistlichen Lieder, z. B.
das bekannte „Jesus, meine Zuversicht“, sollen nicht von ihr, sondern
von O. von Schwerin, dem Erzieher ihrer Kinder, herrühren.
Es war dieser herrlichen Frau nicht beschieden, eine lange Reihe von
Jahren segensreich wirken zu können. Die öfteren und weiten Reisen,
die um jene Zeit so beschwerlich waren, hatten frühzeitig ihre Gesundheit
untergraben; längere Zeit litt sie an einem Brustübel. Sie reiste zwar
nach Holland, um dort Genesung zu finden, aber umsonst; schwer krank
kehrte sie zurück und starb bald danach in ihrem vierzigsten Lebensjahre
am 18. Juni 1667. Der Kurfürst kniete an ihrem Lager, ihre Hände
ruhten in den seinen. Er betete mit seiner sterbenden Gemahlin, und
unter diesen Gebeten hauchte sie ihre edle Seele aus. Der Jammer ihres
Gatten und des ganzen Volkes war unsäglich groß; ihr Begräbnis war
ein Trauertag im ganzen Lande.
Nach Kanlmann u. a. (Mittenzwey, Frauengestalten.)
201. Die Krönung des ersten Königs von Preußen.
1. Kurfürst Friedrich III. hatte mit dem deutschen Kaiser einen
Vertrag geschlossen, nach dem er den Titel eines Königs annehmen durfte.
Die Krönung sollte in Königsberg, der Hauptstadt des vom Kaiser
unabhängigen Herzogtums Preußen, stattfinden.
Am 17. Dezember 1700 erfolgte der Aufbruch nach Königsberg.
Nach zwölftägiger Reise langte der Kurfürst in Begleitung seiner Gemahlin
und seines Hofstaates daselbst an. Zwei Wochen waren erforderlich, um
die Vorbereitungen zu den Krönungsfeierlichkeiten zu treffen. Viele Hände
regten sich; denn der Kurfürst wollte zur Feier seiner Krönung eine Pracht
entfalten, von der noch Kinder und Kindeskinder reden sollten.
— 344 —
2. So kam der 15. Januar 1701 heran. Es hatte mehrere Tage
ununterbrochen geschneit. Die Zinnen der Türme, die Dächer der Kirchen
und Häuser prangten in weißem Schmuck; auf den Straßen lag der
Schnee mehrere Fuß hoch, und Tausende von Personen waren beschäftigt,
Wege zu bahnen.
An dem gedachten Tage nun sah man aus dem Tore des alters—
grauen Schlosses vier Herolde reiten, die den Einwohnern und den herbei—
geströmten Fremden die Erhebung des Herzogtums Preußen zu einem
Königreiche verkünden sollten. Sie trugen blausamtne Hüte mit weißen,
wogenden Federn. In der Hand hielt jeder einen Stab, dessen Spitze
mit einer vergoldeten Krone geziert war. Die Decken ihrer Pferde be—
standen aus Silberstoff und waren mit goldenen Kronen und Adlern ver—
ziert. Vor ihnen her ritt eine Abteilung Dragoner; eine Zahl hoher
Staatsbeamter folgte ihnen. Von allen Türmen erscholl Glockengeläute.
Auf fünf Plätzen hielt der Zug, und einer der Herolde verkündete mit weit⸗
hin schallender Stimme den herzugeeilten Scharen und den aus den offenen
Fenstern Schauenden Zweck und Bedeutung der bevorstehenden Feier und
schloß mit der Aufforderung: „Ein jeder getreue Untertan rufe also mit
uns aus: Es lebe Friedrich, unser allergnädigster König! Es lebe Sophie
Charlotte, unsre allergnädigste Königin!“ Jubelnd stimmte das Volk ein.
3. Am 17. Januar, dem Tage vor der Krönung, erfolgte die Stiftung
des Schwarzen Adlerordens. Das Ordenszeichen ist ein goldenes, in acht
Spitzen ausgehendes Kreuz, das an einem breiten, orangefarbenen, von
der linken Schulter nach der rechten Hüfte gehenden Bande getragen wird.
Das Kreuz zeigt in der Mitte einen schwarzen, fliegenden Adler, dem der
Wahlspruch beigefügt ist: Suum cuique“ (Jedem das Seine). Dieser
Wahlspruch soll andeuten, daß jedem nach Verdienst das Seine werden soll.
4. Der Krönungstag, der 18. Januar 1701, war angebrochen. Um
die neunte Stunde versammelten sich im Krönungssaale des Schlosses die
höchsten Staatsbeamten. An der Rückseite des Saales befand sich ein
prächtiger Thronhimmel, unter dem zwei silberne Sessel standen.
Friedrich erschien in feierlichem Aufzuge und ließ sich auf einen der
Sessel nieder. Darauf nahten sich ihm die Staatsbeamten und überreichten
ihm kniend die Abzeichen der königlichen Würde. Friedrich setzte sich die
Krone, deren Bügel von kostbaren Diamanten funkelten, mit eigenen Händen
auf das Haupt, um damit anzuzeigen, daß er sie als von Gott und nicht
von einer geistlichen oder weltlichen Macht empfangen ansehe.
— 4345 —
5
2
E
—
4
⸗—
—
—
S
28
*
2
*
—E
—*
Z
c2
*
2
*
S
—
2
2
8
*
3
ꝛ
—2
⁊
—
*
—
2
ã
2
S
S
*
S
2
S
2
*w⁊
—
2
—⸗
*
*
5
346
Der König trug ein mit Goldstickereien reich verziertes Kleid von
Purpursamt. Jeder der diamantnen Knöpfe des Gewandes hatte einen
Wert von 3000 Mark. Der Purpurmantel, der über der Brust von
einer goldenen, mit drei kostbaren Diamanten verzierten Spange zusammen—
gehalten war, hatte einen breiten Hermelinbesatz und war mit goldenen
Kronen und Adlern gestickt. Das Zepter, ein Geschenk Peters des Großen,
war von Gold und Silber, mit Brillanten und Rubinen reich besetzt
und trug an der Spitze einen goldenen Adler mit ausgebreiteten Flügeln.
Hierauf begab sich der König, dem eine Krone für seine Gemahlin
vorangetragen wurde, in das Zimmer der Königin. Sophie Charlotte
trug ein mit Diamanten besetztes Kleid von Goldstoff. Ihr purpurner
Mantel hatte wie der ihres Gemahls einen breiten Besatz von Hermelin.
Als der König sich ihr genaht hatte, kniete sie auf ein Purpurkissen nieder,
und er setzte ihr die Krone auf das Haupt.
In ihrem Kronenschmuck begaben sich nun der König und die Königin
in den Krönungssaal und nahmen die Huldigung der Anwesenden ent—
gegen. Friedrich hatte den Titel König Friedrich J. in Preußen ange—
nommen.
5. Glockengeläute kündete den Beginn der gottesdienstlichen Feier an.
Vom Schlosse bis zur Kirche war der über den Schloßplatz führende Weg
mit rotem Tuch belegt. Reihen von Soldaten standen auf beiden Seiten;
hinter ihnen drängte sich die Menge. Unter einem kostbaren, von zehn
Kammerherren getragenen Baldachin begaben sich der König und die Königin
nach der Kirche, durchschritten ihren Mittelgang und ließen sich auf die
am Altar einander gegenüberstehenden Sessel nieder. Es erfolgte die
Salbung, worauf das Volk rief: „Amen, Amen! Glück zu dem Könige!
Glück zu der Königin! Gott verleihe ihnen langes Leben!“ Danach begaben
sich beide auf dem gleichen Wege nach dem Schlosse zurück. Das rote Tuch
ward dem Volk überlassen.
6. Während der Hof und die geladenen Gäste Tafel hielten, wurde
auf dem Marktplatz die Bevölkerung auf mancherlei Art ergbtzt. Ein
mit Rehen, Hasen, Geflügel und Würsten gefüllter Ochse war an einem
Spieße gebraten worden; er wurde der Menge preisgegeben. Zwei
kunstreich gearbeitete Adler sprudelten roten und weißen Wein empor.
Ferner wurden dem Volke ein Riesenkuchen und viele Körbe voll Brezeln
gespendet, endlich auch noch Silbermünzen im Werte von 18000 Mark
ausgeworfen.
Ferdinand Schmidt. Preußens Geschichte in Wort und Bild.)
347 —
202. Preubenlied.
1. Ieh bin ein Preubol Lennt ihr meine Farben?
Die Fahne sohwebt mir weiß und sehwarz voran;
daß für die Freihbeit meins Väter starben,
das douten, merkt es, meine Farben an.
Nio werd' ioh bang verzagen,
wio jons will ich's wagen!
gei's trüber Tag, sei's heitrer Sonnenschein;
Ich bin ein Preube, will ein Preuße sein!
—
2. Mit Lieb' und Treue nah' ioh mioh dem Throno,
von welohem mild ↄu mir ein Vater spricht;
und wie der Vater treu mit seinem dohne,
so steh' ioh treu mit ihm und wanke niebt,
Fest sind der Liebe Bande:;
Heil meinem Vaterlande!
Des RKönigs Ruf dringt in das Herz mir ein;
Ioh bin ein Preube, will ein Preube sein
3. WVo Lieb' und Treu' sieh so dem Lönig
wo Fürst und Volk sieh reichen so dis Hand
da muß des Volkes wahres Glück gedeihen,
da blüht und wäohst das sohöne Vaterland.
So sohwören wir aufs neue
dom Lönig Lieb' und Treue!
Fost soi dor Bund: Ja, sohlaget mutig ein!
Wir sind ja Preuben, laht uns Preußben sein!
weiben,
Bernhard Thiersch. (Gekürzt.)
203. Eine Rekrutenwerbung unter dem Soldatenkönig.
1. Es war ums Jahr 1723. An einem schönen Sommertage herrschte
auf dem Marktplatz eines märkischen Städtchens ein buntes, bewegtes
Treiben. Tags zuvor waren Werber in den Ort gekommen; es waren ein
Offizier, zwei Korporale und zwei Trommler. Ihre Aufgabe war, für die
Grenadiere des Königs Rekruten zu werben. Schon am frühen Morgen
des Werbetages rasselten an verschiedenen Orten des Städtchens die Werbe—
trommeln. Die gesamte Bürgerschaft lief bei dem Klange dieser unerhörten
Musik aus ihren Häusern und traf schließlich auf dem Marktplatz zusammen.
Hier war vor dem Wirtshaus ein großer Tisch aufgestellt, auf dem gewaltige
— 2348 —
Krüge mit Bier standen, neben denen Pfeifen und Tabaksbeutel lagen.
Einige Musikanten spielten ein lustiges Stückchen auf.
2. „Trinkt, Burschen, euer König bezahlt alles!“ rief der Korporal,
und die Burschen ließen sich nicht nötigen.
„Lustig, Kinder! So will es unser allergnädigster König haben!“ sagte
auch der Offizier, indem er seinen gewaltigen Schnauzbart strich. Dazu dampfte
er aus einer kurzen, holländischen Tonpfeife blaue Rauchwolken in die Luft.
Der Korporal nahm währenddessen einen grauen Leinwandbeutel, gefüllt
mit großem und kleinem Silbergeld, vom Tische, hielt ihn empor und rief:
„Hier ist Geld genug, wir wollen alle lustig sein!“ Damit nahm er eine
Handvoll neuer silberner Groschen und warf sie unter die Jugend, die in
wütender Balgerei sich um das seltene Geschenk herumstritt.
„Bei uns Soldaten Seiner Majestät geht's immer so her! Musikbande,
spielt mal ‚,unsers Herrgotts Dragonermarsch.“ Sofort gingen die Musi—
kanten dazu über, den bis auf den heutigen Tag im preußischen Heere be⸗
liebten „Dessauer Marsch“ zu blasen. Dieser Marsch war die Lieblingsmelodie
des „alten Dessauers“, der sogar die Lieder beim Gottesdienst nach dieser
Melodie gesungen haben soll.
„So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!“ sangen die
Korporale mit, und die leicht ins Ohr fallende Melodie prägte sich schnell
den immer lustiger werdenden Leuten ein.
„Burschen, so sollt ihr es alle Tage haben, wenn ihr des Königs
Soldaten werdet!“ rief der Offizier den singenden Burschen zu. Aber
mancher von ihnen wollte sich doch weder durch die glänzenden Ver—
sprechungen noch durch das Handgeld verlocken lassen. Da versuchte es der
Werber, sie beim Ehrgeiz zu fassen.
„Nun, ihr dummen Tölpel, dann bleibt meinetwegen Bauern!“ sagte
er zu ihnen, „nie wieder wird euch ein solches Glück wie heute geboten
werden. Des Königs Dienst ist Gottesdienst. Nicht jeder kann die Ehre
ertragen oder weiß den Ruhm zu schätzen, eine Muskete unsers Landes—
vaters zu tragen. Ihr müßt das am besten fühlen! So bleibt denn Knechte
euer Leben lang!“
3. Endlich hatten die Werber ihren Zweck erreicht. Viele ließen sich,
vom Bier angeregt, von dem versprochenen Golde berauscht, im Hinblick
auf die verheißenen Ehren und schönen Tage verleiten, das Handgeld zu
nehmen und sich anwerben zu lassen. Mochten auch Vater und Mutter
weinen und jammern und händeringend ihren Sohn beschwören, doch den
Namen nicht unter den Werbeschein zu setzen — die Versuchung war zu groß.
Auch Christian Götze, der Sohn eines ehrsamen Schusters, unter—
schrieb den Schein. Er erhielt nun noch mehr Bier und Branntwein, die
349
Korporale nannten ihn „Kamerad“, und ehe er sich's versah, war er Soldat.
Ihm folgten andre; die Lust stieg immer höher. Der Abend kam heran;
die Bürgerschaft und die Kinder hatten sich längst verlaufen, aber immer
noch zechten die Angeworbenen auf dem Platze vor dem Wirtshause.
Am nächsten Tage verließen die Werber die Stadt. Es folgten ihnen
mit schwerem Schädel und gegen gestern merklich herabgestimmtem Mut
acht junge, stämmige Burschen. Christian Götze war der größte von ihnen;
seine Lünge betrug beinahe zwei Meter nach heutigem Maße, um Hauptes—
länge überragte er alle andern.
„Bursche, freue dich, du kommst in des Königs Regiment nach Pots—
dam“, sagte feierlich der Offizier, ihm die Schulter klopfend. —
EFranz Nofsmann. (Neuer Deutscher Jugendfreund.)
204. Schlesiens erster Zollernkönig ein Held,
ein Vater.
1. Der Held von Leuthen.
4. Etwa 3 km nordwestlich von dem Dorfe Leuthen zwischen Neumarkt
und Lissa erhebt sich eine Höhe mit freundlichen Anlagen, der Scheuberg.
Dort ist auf einem Unterbau eine Säule aus schlesischem Granit und auf
ihr eine goldglänzende Siegesgöttin errichtet. Denn hier stand Friedrich
der Große am Morgen des 5. Dezembers 1757 und richtete sein Feldherrn—
auge auf die österreichische Schlachtstellung links und rechts von Leuthen.
Hier entwarf er den Plan, nach dem er in wenigen Stunden ein fast drei—
mal so starkes Heer in wilde Flucht schlug.
2. Am Anfange des Monats schien Schlesien für Preußen verloren zu
sein. Schweidnitz war erobert, der Herzog von Bevern war südwestlich von
Breslau bei Groß-Mochbern und Schmiedefeld am 22. November geschlagen,
und Breslau hatte sich am 24 mit allen Kriegsvorräten den Osterreichern
ergeben. Aber schon rückte der König Friedrich in Eilmärschen heran, um
Schlesien wiederzuerobern. Er hatte am b. November die Franzosen bei
Roßbach in die Flucht gejagt, war am 13. November aus Leipzig auf—
gebrochen und hatte zur Zeit der größten Bedrängnis Breslaus Görlitz
erreicht. Am Ende des Monats schlug er bei Parchwitz ein Lager auf.
Am 2. Dezember vereinte er sich hier mit den 18000 Mann, die von der
bei Breslau geschlagenen Armee übriggeblieben waren. Nun nahte die große
Entscheidung.
3. An dem Wege von Neumarkt nach Leuthen stand winterlich entlaubt
und von Frost durchschauert eine Birke. Sie stand da mit hängendem Ge—
zweige, einsam wie der Held, der hier vor der verhängnisvollen Schlacht
250 —
noch einmal zu seinen Feldherren redete. Ernst und schweigend hingen die
narbenvollen Helden an ihres Königs Munde. Sie sahen in sein seelen—
volles Auge, sahen sein frühgebleichtes Haar, sein durch Fürstensorge vor
den Jahren gebeugtes Haupt. Sie standen auf dem heiligen Boden seiner
Siege und gedachten, wie er Hunger und Durst, Hitze und Frost und alle
Strapazen mit ihnen redlich geteilt. Sie alle fühlten sein rührend Los,
das Los des Helden, der von allen Seiten todmüde gehetzt wird. Und
nun schildert er ihnen die Gefahr seiner Lage, gedenkt der ehrenvollen
Handlungen, durch die ein jeder von ihnen sich ausgezeichnet, und des un—
gleichen Kampfes, dem sie entgegengehen. „Ich muß diesen Schritt wagen“
— fährt er fort — „oder es ist alles verloren; wir müssen den Feind
schlagen oder uns alle vor seinen Batterien begraben lassen. Wenn Sie
bedenken, daß Sie Preußen sind, so werden Sie sich gewiß dieses Vorzugs
nicht unwürdig machen. Ist aber einer unter Ihnen, der sich fürchtet, alle
Gefahren mit mir zu teilen, der kann noch heute seinen Abschied erhalten,
ohne von mir den geringsten Vorwurf zu leiden.“ Und fragend gingen
des Königs große Augen im Kreise herum. Tiefe Stille! Aber aufwallende
Begeisterung blitzte aus aller Blicken. Mit freundlichem Lücheln nahm
Friedrich es wahr, und feierlich fuhr er fort: „Schon im voraus hielt
ich mich überzeugt, daß keiner von Ihnen mich verlassen würde. Verlassen
kann ein Preuße seinen König nicht. Ich rechne also ganz auf Ihre treue
Hilfe und den gewissen Sieg. Gehen Sie nun ins Lager und wiederholen
Sie den Regimentern, was Sie von mir gehört haben! Leben Sie wohl, meine
Herren; in kurzem haben wir den Feind geschlagen, oder wir sehen uns
nie wieder.“ Die Begeisterung, die Friedrich den hohen Offizieren einzu—
flößen gewußt hatte, ergoß sich bald über alle Offiziere und Soldaten der
Armee, und lauter Jubel durchhallte das preußische Lager.
4. Der Morgen des verhängnisvollen 5. Dezembers brach an. Der
König ritt durch den Nebel seinen Völkern voraus. Dann hielt er auf
hartem Felde: reglos, weiß sein Mantel, weiß sein Roß, weiß der Höhen⸗
nebel um ihn her. Sein Geist durchwandelte das Gefilde, wo er so oft
manövriert hatte in Kriegs- und Friedenszeit, wo er so wohl bekannt war.
Dann winkte er Zieten, daß er ihm einen Offizier mit 50 Husaren zur
Bedeckung erwähle. Zu diesem sprach er: „Ich werde mich heute bei der
Schlacht mehr aussetzen müssen als sonst. Er mit seinen 50 Mann soll
mir zur Deckung dienen. Er verläßt mich nicht und gibt acht, daß ich
dem Feinde nicht in die Hände falle. Bleibe ich, so bedeckt Er den Körper
gleich mit dem Mantel und läßt einen Wagen holen. Er legt den Körper
in den Wagen und sagt keinem ein Wort. Die Schlacht geht fort, und
der Feind, der wird geschlagen!“ Der Offizier salutierte mit dem Degen.
351 —
Allgemach kamen dem Könige seine Schwadronen nach. Die Kürasse der
Reiter glänzten im Morgenschimmer, und vom hohen Rosse herunter erscholl
es aus dem Munde der Seydlitz-Kürassiere: „'s ist heute wieder der Fünfte!“
„Roßbach!“ rief die Armee, vom ersten Manne bis zum letzten. So ging
es vorwärts. Die ersten Kolonnen der Armee sangen mit Feldmusik:
Gib, daß ich tu' mit Fleiß, was mir zu tun gebühret —
Der König horchte, und sein Adjutant fragte: „Befehlen Eure Majestät, daß
ich's ihnen verbiete?“ „Das laß Er bleiben,“ entgegnete ernst der König,
„mit solchen Leuten wird Gott mir heute gewiß den Sieg verleihen!“
5. Friedrichs Späherauge erkannte, daß der linke Flügel des Feindes
am schwächsten sei. Auf ihn richtete er seinen Stoß. Der rechte preußische
Flügel allein sollte ihn ausführen, der linke dagegen sollte beständig zurück—
gehalten werden, damit der Feind das kleine Häuflein nicht überflügle.
Der König ließ seine Armee daher hinter den Höhen mit „halb rechts“
in weitem Bogen seitwärts ziehen, und Feldmarschall Daun meinte schon:
„Die Leute paschen ab, man störe sie nicht!“ Aber um Mittag stand der
preußische rechte Flügel unerwartet in des Feindes linker Seite und griff
hier ungestüm an. In schönster Ordnung, mit klingendem Spiel und
fliegenden Fahnen gingen die Bataillone vorwärts, überstiegen die Ver—
haue, griffen mit dem Bajonett an und rollten nach und nach den feind—
lichen linken Flügel auf, so daß er sich in heftiger Flucht nach Leuthen
warf. Siegesfreude strahlte auf des Königs Angesicht; im Siegesmarsche
ging's auf die Üterreicher in der Mitte los, die sich schnell dem Könige
gegenüber aufgestellt hatten. Sie waren durch das stark besetzte Dorf
Leuthen gedeckt. Aus seinen Häusern und von den Mauern her knatterte
ein heftiges Gewehrfeuer den Preußen entgegen, und vom hohen Kirchhofe
her donnerte schweres Geschütz. Es entspann sich ein hartnäckiger Kampf.
Ein preußisches Gardebataillon machte einen Angriff auf das Dorf. Der
Kommandeur stutzte, als er übersah, wie schwer man hier eindringen könnte.
Da sprang der älteste Hauptmann, der nachmalige Feldmarschall Möllendorf,
vor. „Folgt mir, Kinder!“ und so ging er mit seinen Tapfern auf einen
versperrten Torweg los. Man stieß und riß die Flügel auf: 10 Gewehre
lagen im Anschlag, aber die Tapfern drangen durch. Das Dorf wurde
genommen, doch jedes einzelne Gehöft erst nach blutigem Kampfe.
6. Aber auf der Erhebung des Bodens hinter dem Dorfe stand der
Feind in dichten Massen und schmetterte mit Kanonen herein. Furchtbar
wüteten die preußischen Brummer in seinen Reihen, doch er wankte nicht;
die Schlacht stand. Der König blickte sorgenvoll in das Schlachtgewühl.
Er sandte von frischen Truppen, was er noch hatte; die gingen mit dem
Bajonett drauf. Doch die Schlacht stand. Und der Tag sank; düstre
355
2
Schatten lagerten sich schon über das Feld In sorgenvoller Unruhe jagte
der König vor die Front, zurück auf seine Höhe. Es war bereits 6 Uhr.
Noch donnerten die feindlichen Batterien, und die heldenmütigste, todver—
achtende Tapferkeit der preußischen Bataillone konnte keinen Fuß breit Landes
gewinnen. Da saust über das Feld ein österreichischer Reitersturm. Er
will den Unsern in die linke Flanke fallen, den Sieg an sich zu reißen.
Doch sieh, von den Hügeln her, hinter denen sie gestanden, stürzen sich
50 preußische Schwadronen in ihre Seite. Da bricht der stolze Mut; zurück—
geschleudert flieht die österreichische Reiterschar; die Preußen jagen nach, und
als wären sie aus den Lüften herabgeschossen, fallen sie nun dem feindlichen
Fußvolk in die rechte Flanke. Dieses hat vor sich die heiße Schlacht, in
seiner Seite das mähende Eisen, hinter sich die schützende Dunkelheit: es
macht kehrt und schleudert von sich das glühende Gewehr. „Maria und
Joseph! 's tut's halt nimmermehr! Rette sich, wer kann!“ So erscholl
es, und in wilder Unordnung eilte die ganze österreichische Armee hinter
das Schweidnitzer Wasser und ließ 12000 Gefangene zurück. Die Nacht
hemmte die weitere Verfolgung des Feindes und hinderte seine völlige Ver—
nichtung. Aber 51 Fahnen und Standarten, 116 Geschütze waren schon
jetzt erbeutet „Meine Soldaten“, sagte der König, „haben Wunder der
Tapferkeit getan.“
7. Doch Friedrich war noch nicht ganz befriedigt. Er wollte sich die
Brücke sichern, die auf der Breslauer Straße bei Lissa über das Schweid—
nitzer Wasser führt. Daher nahm er Zieten und einen Trupp Kürassiere
und 3 Bataillone, auch einige Kanonen, und suchte die Straße nach Lissa
auf. Man bemerkte auf dem Wege ein Licht in dem Kretscham von Saara
und pochte den Wirt heraus, daß er dem Zuge leuchte. Die Steigbügel
des Königs fassend, erzählte er treuherzig, wie die österreichischen Offiziere,
als sie am Morgen sich bei ihm wärmten, den König und seine Potsdamer
Wachtparade verspottet hatten. „Aber abends“, fuhr er fort, „kamen sie nach
Lissa hin vorbeigesprengt, und keiner sah sich um. Ich merkte Unrat, und
bald kamen auch die andern, so breit die Straße war; nichts war in
Ordnung, Reiter und Musketiere liefen alle durcheinander: unser König
muß sie jämmerlich gehuscht han!“ Wie alles still zuhorcht, fallen plötzlich
Schüsse. Schnell wird das Licht ausgelöscht, die Reiter sprengen nach
links und rechts, einige Kanonenschüsse säubern die Straße von fliehenden
Feinden, und der Marsch wird fortgesetzt. In Lissa waren die Straßen leer,
aber in den Häusern herrschte geschäftiges Leben. Plötzlich wurde ein starkes
Feuer eröffnet, und es entspann sich ein Gefecht um die Weistritzbrücke.
Friedrich aber sagte gelassen zu seiner Umgebung: „Meine Herren, folgen
Sie mir, ich weiß hier Bescheid!“ Sogleich ritt er links über die Parkbrücke
— 353—
nach dem herrschaftlichen Schlosse; seine Bedeckungsmannschaften folgten.
Kaum war er am Eingange angekommen, als eine Menge österreichischer
Offiziere, erschreckt durch das Schießen auf der Straße, mit Lichtern in den
Händen aus den Zimmern und von den Treppen herabgestürzt kamen.
„Sollten die Preußen uns schon auf den Fersen sein und die Brücke besetzt haben?
Dann wären wir ja von unsrer Armee abgeschnitten und gefangen“ — —
Erstarrt blieben sie stehn, als Friedrich sie mit den Worten bewillkommnete:
„Guten Abend, meine Herren! Gewiß werden Sie mich hier noch nicht vermuten.
Kann man hier auch mit unterkommen?“ Die Herren Osterreicher ergaben
sich in ihr Mißgeschick und leuchteten dem Könige höflich die Treppe hinauf
in das erste Zimmer, und der König unterhielt sich freundlich mit ihnen. Unter—
des fanden sich auf dem Schlosse immer mehr preußische Offiziere ein, denn
die ganze Armee war auf dem Wege nach Lissa.
8. Im Eifer des Sieges waren ihm alle gefolgt. Der Lärm der
Schlacht war verklungen. Still und ernst schritt ein jeder einher. Der kalte
Nachtwind strich schaurig über die Felder, die vom Ächzen und Wimmern
der Verwundeten erfüllt waren.
Da aus der tiefsten Stille anstimmt ein Soldat:
„Nun danket alle Gott!“ Und wie aus Schlaf
erhebt ein Heer die Seele aus tiefer Erdennacht
zum Herrn der Heeresscharen, 20000 und mehr
singen mit Herzen, Mund und Händen das Lied zu Gottes Ehr'.
Und alle, die da liegen auf Leuthens Eb'ne wund,
in ihren blut'gen Qualen, auf ihre letzte Stund',
singen mit in der Runde den nächtlichen Choral,
vergessen ihre Stunde, versingen ihre Qual;
singen in schauerlichen Tönen aus dankbarem Gemüt
ihren letzten Odem wohl aus mit ihrem Lied.
Zieten verfolgte in den nächsten Tagen den Feind rastlos, so daß von der
gewaltigen österreichischen Armee nur 37000 Mann die böhmischen Grenzen
betraten. Der König nahm noch vor Weihnachten Breslau mit reichen
Vorräten und gefüllter Kriegskasse. Und bis auf Schweidnitz war am Ende
des Jahres ganz Schlesien von den Feinden geräumt. Das Volk in
Preußen aber sang:
„Es lebe durch des Höchsten Gnade
der König, der uns schützen kann,
so schlägt er mit der Wachtparade
noch einmal 80000 Mann!“
Uach Scherenbergs Gedicht bearbeitet von Gottlob Schurig.
2. Der Landesvater.
1. Für alle seine Länder sorgte der König, nicht zuletzt für sein Schmerzens—
kind, das neu erworbene Schlesien. In Wien war das Verzeichnis der
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. II. Neubta.
2386
— 354 —
verbotenen Bücher groß gewesen, jetzt war das Lesen und Kaufen der Bücher
frei. In Wien war alle Arbeit Sache der Unterbeamten; in Preußen war
auch der Vornehmste gering geachtet, wenn er dem Staate nichts nützte,
und der König selbst war der allergenauste Beamte, der über jedes Tausend
Taler, das erspart oder verausgabt wurde, sorgte und schalt. In Glaubens—
sachen gab der große König im Gegensatze zu der früheren Regierung seinen
Untertanen volle Freiheit. Einst hatten hundert Jahre nicht ausgereicht,
die Spuren des Dreißigjährigen Krieges zu verwischen; in den Städten lagen
noch überall Schutthaufen aus der Schwedenzeit, überall gab es neben den
gebauten Häusern noch wüste Brandstellen. Durch die Preußen waren die
Spuren nicht nur alter Verwüstung, sondern auch der neuen des Siebenjährigen
Krieges nach wenigen Jahrzehnten getilgt. Friedrich hatte einige hundert
neue Dörfer angelegt, hatte fünfzehn ansehnliche Städte zum großen Teil
auf königliche Kosten wieder in regelmäßigen Straßen aufmauern lassen;
er hatte den Gutsherren den harten Zwang auferlegt, einige tausend einge—
zogene Bauernhöfe wieder aufzubauen und mit erblichen Eigentümern zu be—
setzen. Der Adel wußte, daß es ihm beim Könige für eine Ehre galt, wenn
er für die Kultur des Bodens sorgte, und daß der neue Herr solchen kallte
Verachtung zeigte, die nicht Landwirte, Beamte oder Offiziere waren. Früher
waren die Prozesse endlos und kostspielig gewesen und ohne Bestechung kaum
durchzusetzen; jetzt wurde die Zahl der Advokaten geringer, und die Urteile
kamen schneller. Unter den Österreichern freilich war der Karawanenhandel
mit dem Osten Europas größer gewesen, aber dafür erhoben sich neue
Industrien, Wolle und Tuch, und in den Gebirgstälern ein großartiger
Leinwandhandel.
2. Aber noch etwas andres fiel dem Schlesier an dem preußischen Wesen
auf. Das war ein hingebender Geist der Diener des Königs bis in die
niederen Ämter. Da waren die Akziseeinnehmer, invalide Unteroffiziere, alte
Soldaten des Königs, die seine Schlachten gewonnen hatten, im Pulverdampf
ergraut waren. Sie saßen jetzt an den Toren und rauchten aus ihrer Holz⸗
pfeife, sie erhielten sehr geringes Gehalt, konnten sich gar nichts zugute tun,
aber sie waren vom frühen Morgen bis zum späten Abend zur Stelle, taten
ihre Pflicht gewandt, kurz, pünktlich, wie alte Soldaten pflegen. Sie dachten
immer an ihren Dienst; es war ihre Ehre, ihr Stolz. Und noch lange er—
zählten alte Schlesier aus der Zeit des großen Königs ihren Enkeln, wie
ihnen auch an andern preußischen Beamten die Pünktlichkeit, Strenge und
Ehrlichkeit aufgefallen war. Da war in jeder Kreisstadt ein Einnehmer der
Steuern. Er hauste in seiner Dienststube, die vielleicht zu gleicher Zeit sein
Schlafzimmer war, und sammelte in einer großen hölzernen Schüssel die
Grundsteuer, welche die Schulzen allmonatlich am bestimmten Tage in seine
355 —
Stube trugen. Viele tausend Taler wurden auf langer Liste verzeichnet
und bis auf den letzten Pfennig in die großen Hauptkassen abgeliefert. Ge—
ring war die Besoldung eines solchen Mannes; er saß, nahm ein und packte
in Beutel, bis sein Haar weiß wurde, und die zitternde Hand nicht mehr
Zweigroschenstücke zu werfen vermochte. Und der Stolz seines Lebens war,
daß der König auch ihn persönlich kannte und, wenn er einmal durch den
Ort fuhr, während des Umspannens schweigend aus seinen großen Augen
nach ihm hinsah oder, wenn er sehr gnädig war, ein wenig gegen ihn das
Haupt neigte. Mit Achtung und einer gewissen Scheu sah das Volk auch
auf diese Leute. Friedrich II. aber wollte in seinem unermüdlichen, pflicht—
treuen Sorgen der erste Diener seines Staates sein. Wie er auf den Schlacht⸗
feldern seinen wilden Adel gelehrt hatte, daß es höchste Ehre sei, für das
Vaterland zu sterben, so drückte sein unermüdliches, pflichtgetreues Sorgen
auch dem kleinsten seiner Diener in entlegenem Grenzort den großen Gedanken
in die Seele, daß er zuerst zum Besten seines Königs und des Landes zu
leben und zu arbeiten habe. Gustav Freytag. GBilder aus der deutschen Vergangenheit.)
3. Im Sommer 1785 reiste der dreiundsiebzigjährige Monarch wie
alljährlich zu einer großen Truppenübung nach Schlesien, diesmal nach
Hirschberg. Der König wollte das freundliche Tal am Fuße des
Riesengebirges noch einmal sehen, um dann auf immer von dem schönen
Lande Abschied zu nehmen. In der Stadt waren die Straßen wie aus—
gestorben. Fast die ganze Einwohnerschaft hatte sich vor dem Tore ver—
sammelt, um den geliebten König zu begrüßen. Man drängte sich an ihn
heran und küßte seine Hände. Tränen standen in den Augen seiner Treuen,
als sie sahen, wie schwach und hinfällig die Gestalt des Helden geworden
war, wie seine Hände zitterten, wenn er an den Hut griff. Bei den großen
Truppenübungen herrschte ein fortwährendes Regenwetter. Nichts aber
konnte den greisen König zurückhalten. Sechs Stunden lang ritt er auf
sreiem Felde ohne Mantel in strömendem Regen umher. Als er in sein
Quartier zurückkehrte, konnte man das Wasser in den Stiefeln wie aus
Eimern ausschütten. Noch denselben Tag erkrankte er an einer heftigen
Erkältung. Ein starker Schweiß verschaffte ihm jedoch Erleichterung, und
am nächsten Tage war er wieder bei seinen Truppen. Doch nie mehr wurde
er von dieser Zeit an ein gesunder Mann. Als im nächsten Jahre die
linden Frühlingstage wiederkehrten, ließ er sich gern vor das Schloß in
den warmen Sonnenschein tragen. Und als die goldenen Halme auf den
Feldern geschnitten waren, da verließ auch er, der Unermüdliche, das reiche
Erntefeld seiner irdischen Tätigkeit.
Wilhelm Köhler. (Der Alte Fritz.)
23*
— 356 —
205. Wie der Alte Fritz lebte.
(Brief eines Kammerdieners an seine Eltern.)
1. Liebe Eltern! Nun bin ich schon eine lange Zeit hier in Berlin; aber
ich habe immer noch keine Ruhe gefunden, Euch ein paar Zeilen zu schreiben.
Denn es gibt gar viel aufzupassen, und des gnädigen Königs Majestät ist gar
streng. Aber nun will ich gleich anfangen und Euch erzählen, wie dieser große
König seinen Tag verbringt.
Der König denkt von morgens bis abends an das Wohl seiner Untertanen.
Ich habe einmal gehört, daß er gesagt hat: „Daß ich lebe, ist nicht nötig, wohl
aber, daß ich tätig bin.“ Das ist er aber auch. Jetzt im Winter muß ich ihn
um vier Uhr wecken, im Sommer gar schon um drei Uhr. Früher soll er immer
sehr schnell auf den Beinen gewesen sein; jetzt, da er älter wird, hapert's manchmal.
Vorige Woche wollte er besonders früh bei der Hand sein und befahl
mir strengstens, ihn um drei Uhr zu wecken. Um die Zeit ja nicht zu verfehlen,
habe ich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Als ich daun zu ihm kam, war
er noch recht müde und wollte durchaus nicht wach werden. Ich bat ihn, rief
ihm zu, ja ich rührte ihn an — er blieb liegen. Endlich faßte ich die Bett—
decke und riß sie weg. Da war er mit beiden Füßen im Nu heraus und
lachte: „Das war Sein Glück, sonst hätt' ich Ihn fortgeschickt.“
2. Seine Strümpfe, Hosen und Reiterstiefel zieht er an, wenn er noch
auf dem Bettrand sitzt. Wenn ich ihm dann den Zopf mache, liest er schon
die eingegangenen Briefe und Depeschen, die ich ihm ans Bett bringen muß.
Einen Teil davon legt er zurück für seine Räte. Die andern nimmt er mit
in sein Schreibzimmer. Dort zieht er seinen Samtrock an und setzt einen
weichen Hut auf, den er nur bei Tisch ablegt. Dann schreibt er an den Rand
der Briefe seine Antworten; die sind manchmal kurz, manchmal lang. Ist er
damit fertig, dann liest er die Potsdamer Fremdenliste durch und merkt sich
die Leute, die ihn sprechen wollen. Es darf jeder zu ihm, der ein Anliegen hat.
Dann kommen seine Offiziere und seine Räte. Die berichten ihm oder
holen sich Befehle.
3. Mittlerweile ist es acht Uhr geworden. Da bringe ich ihm seinen Kaffee,
den er sehr stark trinkt, jedesmal drei Tassen. Nachher nimmt er seine Flöte
und geht im Zimmer auf und ab und spielt. Die Flöte ist doch eigentlich
ein einfaches Ding; aber der König bläst sie wunderschön, trozdem es ihm
Mühe macht, da er viele Zähne verloren hat. Ist er mit dem Musizieren
zu Ende, dann kommen seine Räte wieder. Mit diesen bespricht er alles, was
zu tun ist. Um elf Uhr pudere ich ihn dann und helfe ihm seinen Soldaten—
rock anziehen. Dann nimmt er seinen Stock und reitet aus, entweder auf
die Parade oder eine Stunde spazieren.
157 —
4. Um zwölf Uhr wird zu Mittag gegessen. Der König ißt gern, viel und
gut. Seine Speisen sind immer arg fett und stark gewürzt; eigentlich kann
er sie nicht mehr gut vertragen. Aber er folgt seinen Ärzten nicht, die ihm
davon abraten. Ich fürchte, es wird noch einmal sein Tod sein. Dann
kommt der Nachtisch. Dabei werden aus den Treibhäusern die schönsten Obst⸗
sorten dargereicht. Er sitzt lange zu Tisch und unterhält sich gern mit seinen
Generalen und mit Gelehrten.
5. Nach dem Mittagsmahl nimmt der König wieder seine Flöte zur
Hand. Dann trinkt er seinen Kaffee. Nachher hört er die Bittsteller an,
unterschreibt die ausgefertigten Briefe und Befehle, die ihm die Räte bringen,
und liest. Ist das geschehen, so geht er spazieren. Sein Windhund begleitet
ihn. Es ist jetzt der vierte, den er hat; die drei audern liegen im Schloß—
garten begraben. Den ersten hatten ihm einmal im Kriege die Osterreicher
gefangen genommen. Sie schickten ihn aber unversehrt zurück, worüber der
König Tränen geweint haben soll.
Gern beschaut der König den Fortgang seiner Bauten.
Ihr solltet aber auch einmal unser Schloß sehen mit seinen Terrassengärten,
Blumen- und Obsthäusern, Laubgängen, Springbrunnen und Bildsäulen.
Sanssouci, d. h. Sorgenfrei, hat er es genannt, und in seinem Garten will
er auch begraben sein. „Wenn ich im Grabe bin, werde ich sorgenfrei sein“,
sagt er immer. Außer Sanssouci hat er einen neuen, schönen Palast bei
Potsdam erbaut, wo er im Winter wohnt.
6. Von fünf bis sechs Uhr schreibt der König an seinen Werken oder läßt
sich von den gelehrten Leuten vorlesen. Dann hält er zumeist mit den Kammer—
musikern Konzert, wobei er natürlich die Flöte bläst. Um sieben Uhr ist Abend—
tafel, die bis zehn Uhr dauert. Da kommen dann die gelehrten Herren, und
der König unterhält sich mit ihnen so geistreich, daß unsereinem, der so dumm
ist, ganz schwindelt. Nur eins gefällt mir nicht. Es sind lauter Ausländer,
Franzosen und Engländer, die da kommen. Immer und immer reden sie
Französisch. Man sagt, der König verachte die deutschen Gelehrten. Er schreibt
auch immer Französisch; die deutsche Sprache sei so plump, meint er.
Nach dem Abendessen liest der König noch lange. Dann schellt er mir,
und ich helfe ihm dann, wenn er zu Bett geht.
So, nun wißt Ihr, wie unser großer König lebt, und daß er in der
Arbeit uns ein rechtes Vorbild sein kann. — Lebt wohl und denkt recht oft
an Euern
gehorsamen Sohn August.
Dr. C. Spielmann. (Schülerhefte für den vaterländischen Geschichtsunterricht.)
358
—
206. Der alte Zieten.
1. JSoachim Hans von Zieten,
Husarengeneral,
dem Peind die Stirne bieten,
er tat's wobl hundertmal.
Sie haben's all erfabren,
wie er die Pelze wusch
mit seinen Leibhusaren,
der Zieten aus dem Busch.
2. Hei, wie den Feind sie bleu-
teon
bei Hennersdorf und Prag,
bei Liegnitz und bei Leuthen
und weiter Schlag auf Schlag!
Bei Torgau, Tag der Ebre,
ritt selbst der Eritz nach Haus',
doch Zieten sprach: „Ich kehre
erst noch mein Schlachtfeld aus.“
3. Sie kamen nie alleine,
der Zieten und der Pritz;
der Donner war der eine,
der andre war der Blitz.
Es wies sich keiner träge,
drum schlug's auch immer ein,
ob warm', ob kalte Schläge,
sie pflegten gut zu sein. —
4. Der Eriede war geschlossen,
doch Krieges Lust und Qual,
die alten Schlachtgenossen
durchlebten's noch einmal.
Wie Marschall Daun gezaudert
und Pritz und Zieten nie,
es ward jetzt durehgeplaudert
bei Lisch in Sanssouci.
5. Einst mocht' es ihm nicht
schmecken,
und sieb, der Zieten schlief.
Vin Höfling wollt' ihn vecken,
der König aber rietf:
„Laßt schlaken mir den Alten,
er hat in mancher Nacht
für uns sieh wach gebalten,
der hat genug gewacht!“ —
6. Und als die Zeit erfüllet
des alten Helden war,
lag einst, schlicht eingehüllet,
Hans Zieten, der Husar.
Wie selber er genommen
die Veinde stets im Husch,
so war der Tod gekommen
wie Zieten aus dem Busch.
Theodor Fontane.
207. Am Nittwoeh nachmittag.
Eridrieus Rex, der grobe LBold,
kam siegreich aus dom Rriegesfold,
und wenn er duroh die 8Straben ritt,
go LUefen alle Kinder mit.
sdie stellton sion wohl auf die Zeb'n,
den lieben Vater Fritz zu sehn.
die faßten ihn an Pferd und Rock;
doeh Vater EFritz erbob den dtock
⁊
359
und sagte lächeludi Habet acht,
lo dab ihr mein Pford niebt böse macht!“
Doch einst ein wilder Knabenschwarm
den Kopf ihm macdhte gar zu warm;
da hat er böse dreingesehn:
„Mollt ihr wohbl gleieh zur dohule gehnl“
is Da sprach ein dioker Bube: eh,
heut' ist ja Mittwoceh nachmittagl
Der ganze Ohor fiel jubelnd ein;
„Der Alte EFritz will König sein
und weiß nieht mal zu dieser Erist,
20 dabß Mittwoohs keine dehule istl“
KAarl Exöhlich. (Gekürzt.)
208. Leutseligkeit Friedrich Wilhelms III.
und seiner Gemablin.
a) Der KLönig und der Narkaner.
Ein ehemaliger Unterofficier Sondermann brachte selbst aus der
Grafschaft Mark seinen grob und schön gewachsenen Sohn nach
Potsdam zur Garde und zwei Jahre nachher wieder zwei andre seiner
wackern Jungen. Der König, dem diese Anhänglichkeit gefiel,
schenkte ihm diesmal vierzehn Friedrichsdor und freie Rückreise. Als
der König im nächsten Jahre durch eine Stadt Westfalens kam, be-
merkte er in der sich drängenden Volksmenge einen Bauern, der
sich durcharbeiten wollte, aber von einem Gendarmen zurückgehalten
ward. „Durchlassenl“ sagte der König, „kenne den Mann! Wie geht's,
Sondermann?“ — „Mir geht's gut; wollte nur Sie, Herr König,
fragen, was meine Jungen in Potsdam machen.“ — „Wird ihnen
wohl gut gehen, habe nichts Nachteiliges von ihnen gehört.“ —
„Nun,“ sagte der Bauer treuherzig, „wenn Sie nach Potsdam
kommen, grüßen Sie sie schön von mirl“ — „Werd' es besorgen!“ —
Wochen waren vergangen; aber der König war kaum in Potsdam
angekommen, als er wirklich die Gebrũder Sondermann von der Leib-
kompagnie auf das Schlob rufen lieb. Hab' euern Vater gesehen, ist
recht munter. Läht euch vielmal grühen, was ich hiermit getan haben
will.“ Darauf lieb er ihnen in der Küche ein Frühstück verabreichen.
Rulemaun Friedrich Enlert. (Charaklerzüge aus dem Leben Friedrich Wilhelms 111.)
360 —
b) Der alte Timm.
Der „alte Timm“ war einst eine in Berlin stadthekannte Per-
sönlichkeit. Er wurde dank seiner Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit
vom einfachen Hoflakaien zuerst zum Kammerdiener, dann zum Ge-
heimen Kämmerer des Königs Friedrich Wilhelm III. befördert und
von diesem fast wie ein Freund bebandelt. Timm erzählte aus seiner
Jugend gern folgende Geschichte: Ieh kam jung und ungeübt in den
königlichen Dienst, var aber zunächst jedermanns Diener, dem alles
aufgepackt wurde, vas die andern nicht tun vollten. Als ieh nach
einiger Zeit den persönlichen Dienst beim König erbhielt, vurde ich
Mar von allen beneidet, trat aber meine Stelle sebr zaghaften Herzens
an. Der König war sehr peinlich und eigen; jede Kleinigkeit mubßte
genau auf dem bestimmten Platze liegen. Dabei gab der RKönig,
wortkarg vie er war, seine Befehle stets in knappster Porm, so dab
es nieht leieht war, sie zu verstehen, und gefragt durfkte doch nicht
werden. Es bedurfte also grober Gewandtheit, und die traute ieh
mir nieht zu. So machte ieb denn virklich, ängstlich vie ich war,
anfangs meine Sache schlecht und wurde dabei nur immer verwirrter.
Eines Dages fand der König seine Handschuhe nicht und sagte ärger-
lich: „Auch gar nichts begreifen. Alles verkehrt machen. Nicht zum
Aushalten. Werde mich nach anderm umsehen.“ ILeh war wie ver-
nichtet und stand zitternd im Vorzimmer am Venster. Da trat die
Königin ein, sah mieh an und sagte: „Was ist denn, Timm? Wie
siehtt Er denn aus?“ „Ach, Majestät, “ antwortete ich, „ich bin sehr
unglücklich. Ieh kann es dem Könige nicht recht machen; ieh bin
zu ungeschickt, oft verstehe ich auch den König nicht.“ „Aber“,
sagte sie, „wer wvirda denn den Mut verlieren, venn es nicht
gleich geht, wie es soll; was hat es denn gegeben?“ „Ach, Masestüt,
ich hatte nicht die richtigen Handschuhe zum Reiten hingelegt, und
da. „Nun komm Er mal her, Timm, ich vill Ihm zeigen, wo
alles stehen und legen mubß; ich weib, wie es der König wünscht.“
Und nun ging die Königin mit mir in das Zimmer des Königs und
zeigte es mir, es wurde mir nun alles klar. „Und wenn Er einmal
wieder etwas nicht weiß,“ sagte sie dann noch, „ßo komme Er nur
zu mir und frage; ich werde es Ihm dann sagen.“ Die Königin
hatte eben ein Herz für alle, auch für den Geringsten, wvie ich da-
mals einer var. Ach, und so viel Huld und Schönhbeit und Güte
und Majestüt mubte so früh dahin! Bewegt schwieg der alte Mann,
und die Zuhörer füblten ühre Augen feucht werden.
Nach der „Nenen dentschen Rundschau“.
361 —
209. Huldigung der Königin Luise durch die Breslauer
Kräuter im Jahre 1798.
os troiem
Unser Ollergnädigsten Fro Königin
Herzen übergeben vu da Kroitern üm Brassel
a poar Tage vor Johanne.
1. Nee, üns is siche Freede do
sei Latig nich geschehn,
daß wer gor ünsers Königs Fro
vu Angesichte sehn.
2. Ju, siche Fro is erem Herrn,
wie's n der Bibel stieht,
a reeches Schief, a heller Stern,
a Licht, dos nie vergieht.
3. Sie sitt su freundlich uf üns nei,
daß ma fur Freede greint;
s is, wie uf ünse Kroiterei
die Sunn am Frühjahr scheint.
4. Die Nubbern links und rechts, die honn
ke siches Fürstenpoar;
oh, is doch dem gemenen Moan
su enne Troie roar.
5. Sie laben wie em Himmelreech,
ei Lieb und hibschen Spoaß.
Wür's sitt, dem würd's üms Harze weech
und ei a Ogen noaß.
6. Ei Schlesien, soat olle Welt,
is noch a redlich Blut;
und wenn ma's do nich orntlich stellt,
su meent ma's harzlich gutt.
7. Wer bleiben ünserm König troi,
hie hat a Harz und Hand.
Good sagn' ihn olle Murgen noi.
Su freet sich Stoad und Land.
362
8. Nu Good gesägne dich dofern
und dene Kinder do!
Vu Harzen huldige wir deer,
du schiene gute Fro!
9. Vo Freiheit schwotze, wer do mag;
su ennen guten Herrn
und enner Fro vu sichem Schlag,
dann dient ma harzlich gern.
10. Ha gab deer Freede, Glück und Ruh,
und denen Kindern do,
du gude Landesmutter du,
du brave Königs-Fro!
Die Königin ließ sich dies Gedicht hersagen und dolmetschen. Der
treuherzige Volkston fand hellen Anklang in ihrem für alles Volkstüm—
liche empfänglichen Gemüte.
Bunte Bilder aus dem Schlesiexlande II.
210. Tod der Königin Luise.
1. Einem lãngst gehegten Herzenswunsche folgend, var die Königin
Luiss am 25. Juni 1810 von Berlin zum Besuch in ihrem Vater-
hause nach Strelitz und Hohenzieritz abgereist. Hier wurde sie von
einem Unwohlsein befallen, das sich in kurzer Zeit verschlimmerte.
Brustkrãmpfe traten mit einer Heftigkeit auf, daß es schien, als ob ihr
der Atem ausgehen wollte. Von ihrem zunehmenden Leiden benach-
richtigt, begab sich der König in Begleitung seiner beiden ältesten
Söõhne nach Hohenzieritz an das Krankenlager seiner Gemahlin.
2. Die Nacht auf den 19. Juli war die letzte Erdennacht der
Königin Luise. Der Arzt saß die Nacht über an ihrem Bette, ebenso
die Prinzessin Friederike, welehe die Königin während der ganzen
Dauer ihrer Krankheit mit schwesterlicher Sorgkalt pflegte. Gegen
Morgen brachte ihr der Arzt die Nachricht von der Ankunfkt des Königs.
„Der König, mein Gemahl?“ rief die Kranke freudig, „das hilkt mir
von meinen Schmerzen. O, laßt ihn zu mir kommen!“ Das war ein
schmerzliches Viedersehen. Der König umarmte sie mit Wehmut
und konnte vor Traurigkeit nicht reden. „Du bist ja so traurig,
lieber Freund,“ sagte sie, „ist es denn so gefährlich mit mir?“
„Das nicht,“ erwiderte der König gefabt, „ich sehe dich nur leiden,
363
das ist mein Schmerz. — Gottlob, daß ieh hier bin“, setzte er hinzu.
Die Antwort schien die Königin etwas zu beruhigen. — „Wer ist mit
dir gekommen?“ fragte sie. Er antwortete: „EFritz und Wilhelm.“ —
„Ach, welche Freude!“ rief sie innig gerührt. Der König entfernte
sich und kehrte bald darauf mit den beiden Söhnen zurück. „Mein
Fritz, mein Vilhelm!“ rief die Königin bei ihrem Anblick wieder-
holt aus. Beide knieten an ihrem Bette nieder und empfingen ihren
letzten Segen.
3. Es nahte die neunte Stunde. Die Brustkrämpfe traten wieder
ein, sie vurden heftiger und heftiger. Auf einen VWink des Königs
entfernten sich die beiden Prinzen, nachdem sie Abschied von der
sterbenden Mutter genommen hatten; der König blieb. Die Irzte
korderten die Kranke auf, die Arme höher zu legen — ihr fehlte
die Kraft dazu. — „Ach, mir hilkt nichts als der Tod“, sagte sie
mit matter Stimme. Der König hielt die rechte Hand der Sterbenden
in der seinigen. Auf der andern Seite des Bettes kniete die
Prinzessin Friederiße. Der Herzog, ihr Vater, die verwitwete Land-
gräfin von Hessen-Darmstadt, einst ihre Pflegerin in seliger Kinder-
zeit, varen im Zimmer. Die Züge der Kranken nahmen eine
himmlische Verklärung an. „Herr Jesus, kürze mein Leiden!“ betete
sie, und mit diesem letzten Gebetsseufzer schied ihre Seele von dem
irdischen Leibe. Der König beugte sich im tiefsten Seelenschmerz
mit ãuberster Fassung zu der Toten nieder und drückte ihr die
Augen zu — „ssseines Lebens Sterne, die ihm auf seiner dunkeln
Bahn so treu geleuchtet“. — Eine ehrfurchtsvolle Stille herrschte
ringsum. Auf dem Angesichte der Toten lag der Eriede einer besseren
VWlVelt, zu dem sie nach den Kämpfen des Lebens eingegangen war.
Fedox von KSöppen. (Die Hohenzollern und das Reich.)
211. Aus der Zeit der Erhebung Preußens.
1. Je näher der Frühling des Jahres 1813 kam, und je weiter er vor—
rückte, um so lebendiger ward es um uns her in unsrer Mark. Das Volk
stand auf, der Sturm brach los! Er brach los, der Sturm des Volkszornes
und der Vaterlandsliebe, selbst in unserm ruhigen Uckermärkerlande, und
rührende Zeichen davon sind mir noch heute lebhaft in der Erinnerung
gegenwärtig. Der Müller Düsing von Schmöllen, ein wohlhabender Mann,
brachte seine beiden Söhne von siebzehn und achtzehn Jahren, die er voll—
ständig als freiwillige Jäger auf eigene Kosten ausgerüstet hatte, nach
— 364 —
Wallmow herüber, damit mein Vater als Geistlicher sie segnen solle, ehe
sie ins Feld zögen. Ihnen folgten zwei jüngere Brüder unsers Freundes
und Nachbarn, des Amtmanns Sänger, die hoch zu Roß in gleicher Ab⸗
sicht sich von dem Vater verabschiedeten. In keiner der vier Dorfkirchen,
die zu meines Vaters Pfarre gehörten, fehlten später die schwarzen Tafeln,
die, am Altar aufgehängt, die Namen und das Ehrengedächtnis derjenigen
jungen Männer enthielten, die in den Schlachten der Fahre 1813 1815
ihr Leben für die Befreiung des Vaterlandes gelassen hatten.
2. Der Aufruf zu den Waffen ward von andern Aufrufen begleitet,
die zu freiwilligen Gaben für „die heilige Sache“ aufforderten. Auch an
uns erging diese Mahnung nicht umsonst. Ich entsinne mich noch, als
wäre es gestern gewesen, eines sonnenhellen Frühlingsmorgens dieses glor—
reichen Jahres 1813. Mein Vater stand reisefertig neben meiner Mutter
am Tische der grünen, sogenannten „guten Stube“. Der Wagen, der ihn
nach Prenzlau führen sollte, hielt schon angespannt vor der Tür, und
meine Mutter packte auf dem Tisch an einem Kästchen, das er mitnehmen
wollte. Ich sah, wie sie unsre silbernen Eßlöffel und den großen, innen
vergoldeten Vorlegelöffel — ein Familienerbstück, das nur an hohen Fest⸗
und Ehrentagen in Gebrauch kam — sorgfältig in Papier wickeltè und in
die lange Holzschachtel legte. Dann holte sie aus der großen, bunt⸗
gemaserten Kommode die goldene „Erbskette“ und drei Ringe hervor, die
sie zu dem Silberzeug in das Kästchen tat, das auch die wenigen Schau⸗
münzen aus unsern Sparbüchsen, eine silberne Zuckerzange und eine sil—
berne Kinderklapper, mein Patengeschenk, bereits verschlungen hatte. Die
hellen Tränen stürzten ihr aus den Augen, als sie sich von der Kette
und den andern Liebeszeichen trennen sollte. Aber mein Vater nahm die
Weinende in seine Arme und sagte: „Mutter, so viele Tausende geben
ihr Blut und wir nur das elende Metall! Komm, gib mir einen Kuß
und sei fröhlich! Es gilt ja Freiheit und Vaterland!“ Und sie küßte
ihn, und unter Tränen lächelnd, streifte sie ihren goldenen Trauring ab
und reichte ihn dem Vater hin, der gleichfalls den seinigen vom Finger
zog und beide zu dem übrigen legte. Es war das letzte Wertstück, das
sie beide als Opfer bringen konnten „auf dem Altar des Vaterlandes“
Dann begleiteten wir ihn an den Wagen, und fort rollte er mit unsern
Schätzen hin zur Hauptstadt der Uckermark, um unsre Tropfen hinein—
zuschütten in das hochaufwogende Meer opferfreudiger Begeisterung des
treuen Volkes. Meine Mutter war froh, daß sie wenigstens den Vater
selbst behielt. Ihre Bitten und Tränen hatten ihn nur schwer von dem
Gedanken abgebracht, wie sein Amtsbruder, der Prediger Haffner in
Stresow, selbst die Büchse zu nehmen und für seinen König ins Feld zu
363 —
ziehen; denn mein Vater war ein kühner, kriegerisch gesinnter Mann und
seinem Könige mit Leib und Seele ergeben.
3. Die gewaltigen Kriegsereignisse des Jahres 1813 sind bekannt,
und ich berühre sie daher nur so weit, als ihre Eindrücke bis in unser
einsames Dorfleben hindrangen. So erinnere ich mich eines Sonn—
tags, an dem mein Vater des Morgens früh die Nachricht erhielt, daß
es im Felde nicht gut stehe, daß die Verbündeten zwar bei Bautzen tapfer
gestritten, aber vor der Übermacht des Franzosenkaisers hätten nach Schlesien
hin zurückweichen müssen. Mein Vater wurde durch diese Kunde tief er—
schüttert. Es läutete bereits zur Kirche, wohin ich den Vater regelmäßig
zu begleiten pflegte. Ich sah nicht ohne Verwunderung, wie er aus der
großen Bibel mit goldenem Schnitt das sauber geschriebene Konzept der
Predigt, die er immer sorgfältig auszuarbeiten gewohnt war, herausnahm
und es in seinen Schreibtisch legte. Als er die Kanzel betreten hatte,
verkündete er der Gemeinde, was er vernommen. Dann fügte er
hinzu, daß er zwar über einen andern Text habe predigen wollen,
daß er es aber vorziehe, heute seine Predigt zu knüpfen an das herrliche
Wort des Makkabäerhelden, der da gesprochen: „Uns ist leidlicher, daß
wir im Streit umkommen, denn daß wir solchen Fammer an unserm Volk
erleben! Ist unsre Zeit gekommen, so wollen wir ritterlich sterben und
unsre Ehre nicht lassen zuschanden werden!“ — „Also dachten“, sprach
der Vater weiter, „auch unsre Brüder, die Streiter alle, die für uns auf
den blutgetränkten Feldern für Vaterland und Freiheit stritten.“ Und
niemals wieder habe ich erlebt, daß eine Predigt einen solchen Eindruck
auf die Gemeinde hervorgebracht hätte als diese unvorbereitete Rede, die
sich wie ein feuriger Strom aus seinem bewegten Inneren in die Herzen
der dicht gedrängten Zuhörer ergoß.
4. Für die Verwundeten in den Spitälern wurden von der Mutter
Sammlungen an altem Leinen und Wäsche veranstaltet, zu denen der Land—
rat von Winterfeld im Namen des Frauenvereins in Prenzlau aufforderte.
An der Spitze dieses Vereins stand eine energische und patriotische Frau,
die Postmeisterin Balke, die sich schon während der Franzosenzeit durch
die Kühnheit auszeichnete, mit der sie Botschaften und Depeschen unter
eigener Lebensgefahr persönlich beförderte. Auch Scharpie ward fleißig
gezupft, und oft saßen wir mit acht bis zehn Bauernkindern, unsern Spiel—
genossen, noch spät abends unter Aufsicht meiner Mutter bei diesem Ge—
schäft, hocherfreut, auch unserseits etwas „Ffür die gute Sache“ zu tun.
Wenn die Zeitung ankam, die wir mit einem benachbarten Gutspächter
zusammen hielten und wöchentlich zweimal bekamen, dann zeigte mir mein
Vater auf einer alten, großen Karte von Deutschland, wo die Unsrigen
—
26
166 —
und die Franzosen ständen, und mehr als einmal rief er im Laufe des
Sommers dabei aus: „Ach wenn ich es doch erlebte, daß die Franzosen
noch über den Rhein zurück müssen!“
5. Aus dem Jahre 1814 habe ich nur ein Hauptereignis im Gedächt—
nis behalten, den Einzug der siegreich heimgekehrten Landwehr in die Haupt⸗
stadt der Uckermark. Die ganze Provinz war zu diesem Jubelfest nach
Prenzlau zusammengeströmt, und auch mein Vater hatte sich schon tags zuvor
mit mir und meiner Mutter dahin aufgemacht. Die Stadt schwamm in einem
Meer von Laub⸗ und Blumengewinden, und auf der Straße, die von dem
Berliner Tore nach dem Marktplatz führte, war ein stattlicher Triumphbogen
aus Laubwerk errichtet, auf dem hoch oben das Eiserne Kreuz prangte. Die
Stadt wimmelte von Menschen, besonders Landleuten jeden Alters und Ge⸗
schlechts, die ihre Angehörigen erwarteten. Endlich verkündeten Trommel—
wirbel und Hörnerklang das Nahen des Zuges. Da kamen sie an in ihren
blauen, abgetragenen Litewken, die Mützen mit grünen Reisern geschmückt,
abgerissenen Aufzugs, die Gesichter von der Sonne verbrannt, an Bart und
Haupthaar verwildert, unsre braven Landwehrmänner, die, vom Pfluge
weggeholt, den Feind gleich alten Soldaten in so mancher heißen Schlacht
geschlagen hatten. Der Jubel war unermeßlich, das Hurra- und Vivat—
rufen betäubend, sinnverwirrend. Aus allen Fenstern wehten weiße Tücher,
flogen Tausende von Kränzen und Blumensträußen ihnen entgegen. Ich
sah einen alten Bauern mit seinem Weibe sich an den Rock eines Soldaten
hängen und mit dem Rufe: „Laat mil laat mil he is uns' eenzig Söhn!“
dem Zuge folgen. Auf dem Markte ward ein Viereck gebildet, in dessen
Mitte die Geistlichkeit, der Magistrat, die Offiziere einen Kreis um eine
Tribüne schlossen. Von dort herab hielt ein Geistlicher die Festpredigt, nach
deren Schluß alle die Tausende „mit Herzen, Mund und Händen“ ein—
stimmten in das alte, fromme, herzerhebende Lied: „Nun danket alle Gott!“
AWdolf Stahx. (Lebenserinnerungen. I. Aus der Jugendzeit.)
212. Das Lied vom Feldmarschall.
1L Was blasen die Crompeten? husaren, heraus!
Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus;
er reitet so freudig sein mutiges Pferd,
er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert.
2. O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar!
O schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar!
So frisch blüht sein Alter wie greisender Wein,
drum kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein.
— 367
3. Der Mamn ist er gewesen, als alles versank,
der mutig auf gen Himmel den Degen noch schwang;
da schwur er beim Eisen gar zornig und hart,
den Welschen zu weisen die deutscheste Art.
Den Schwur hat er gehalten. Als Kriegsruf erklang,
heil! wie der weiße Jüngling in 'n Sattel sich schwang!
Da ist er's gewesen, der Rehraus gemacht,
mit eisernen Besen das Land rein gemacht.
5. Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Strauß,
daß vielen tausend Welschen der Atem ging aus,
daß Tausende liefen dort hasigen Cauf,
zehntausend entschliefen, die nimmer wachen auf.
6. Am Wasser der Ratzbach er's auch hat bewährt,
da hat er den Franzosen das Schwimmen gelehrt.
Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab
und nehmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab!
7. Bei Wartburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch!
Da schirmte die Franzosen nicht Schanze noch Burg,
da mußten sie springen wie Hasen übers Feld,
hinterdrein ließ erklingen sein „Hussa!“ der Held.
8. Bei Leipzig auf dem Plane, — o herrliche Schlacht!
da brach er den Franzosen das Glück und die Macht,
da lagen sie sicher nach blutigem Fall,
da ward der Herr Blücher ein Feldmarschall.
9. Drum blaset, ihr Crompeten! husaren, heraus!
Du reite, Herr Feldmarschall, wie Winde im Saus
dem Siege entgegen zum Rhein, übern Rhein,
du tapferer Degen, in Frankreich hinein!
Ernst Moritz Arndt.
213. Der Ausgang der Schlacht bei Leipzig.
1. Enger und enger hatte sich am 18. Oktober der eiserne Ring der
Verbündeten um Napoleons Heer zusammengezogen; alle Versuche, ihn zu
sprengen, waren gescheitert. Die Sachsen und Württemberger, die bis
dahin gezwungen unter Napoleons Fahnen dienten, waren zu ihren
deutschen Brüdern übergetreten. Der Ausgang der Völkerschlacht war jetzt
nicht mehr zweifelhaft.
36
8
Als die dunkle Nacht schon das große Blutfeld bedeckte, befand sich
Napoleon noch auf dem Hügel bei seiner Windmühle, wo er sich ein
Wachtfeuer hatte anzünden lassen. Er hatte dem General Berthier die
Anordnung des Rückzuges mitgeteilt, und dieser diktierte sie an einem
Seitenwachtfeuer einigen Adjutanten. Ringsum herrschte tiefe Stille. Man
hatte dem von der harten Anstrengung der letzten Tage und noch mehr
von den heftigsten Bewegungen des Gemüts erschöpften Herrscher einen
hölzernen Schemel gebracht, auf dem er in Schlummer sank. Hoffnung,
Furcht, Zorn, Unmut — was mochte alles in diesen Tagen sein heftiges
Gemüt erschüttert haben! Jetzt saß er, wie ein Augenzeuge ihn gesehen,
nachlässig auf seinem Schemel zusammengesunken, die Hände schlaff im
Schoße ruhend, die Augen geschlossen, unter dem dunkeln Zelte des
Himmels mitten auf dem großen Leichenfelde, das er geschaffen hatte, und
das durch die brennenden Dörfer und unzähligen Wachtfeuer wie mit ver—
zehrenden Flammen besät war. Die Anführer standen düster und ver⸗
stummt um das Feuer, und die zurückziehenden Haufen rauschten in einiger
Entfernung am Fuße des Hügels vorüber. Nach einer Viertelstunde er—
wachte Napoleon und warf einen langen, verwunderten Blick im Kreise
um sich her. Dann stand er auf, traf gegen neun Uhr in Leipzig ein
und nahm, als wollte das Schicksal seiner spotten, sein letztes Nachtlager
in dem „Gasthof von Preußen“
2. Nach Mitternacht, als der Mond aufging, begann der Rückzug
des ganzen Heeres durch Leipzig. Da aber die Haufen von mehreren
Seiten vom Schlachtfelde hereinzogen, und für alle nur ein nicht breiter
Ausweg nach Lindenau, der Ranstädter Steinweg, da war, so gab es ost
Aufenthalt und Stockung. Die Wagen und Kanonen verfuhren sich in—
einander, und die Soldaten zu Fuß konnten sich kaum daneben hinaus⸗
drängen. Voran zogen die Garden, auf deren Rettung es am meisten au—
kam, dann die besten Haufen der übrigen Truppen. Die Polen, Badener,
Darmstädter mit einigen Franzosen sollten die Stadt verteidigen, solange
es möglich sei. Leipzig war keine Festung; aber man hatte die Tore ver—
rammelt, Schanzen aufgeworfen und alle Gräben und Gartenmauern zur
Befestigung benutzt.
3. Aber das Bundesheer war nicht gesonnen, so ruhig zuzusehen, daß
die Franzosen mit aller alten Beute und allem Kriegsgerät ungestört
abzogen. Schon seit acht Uhr morgens rückten von allen Seüen die Truppen
zum Angriff heran und beschossen die Tore. Da wurde den Abziehenden
noch banger, und sie strömten in solchem Getümmel nach dem einzigen
Ausgang hin, daß Napoleon, als er dem Könige von Sachsen den lehlen
Besuch gemacht hatte und nun gegen zehn Uhr die Stadt verlassen wollte,
369 —
nicht durchzukommen vermochte. Selbst die Furcht vor seinem Antlitz
und die Säbelhiebe seines Gefolges halfen nicht mehr; der Trieb der
Selbsterhaltung war mächtiger als jede andre Regung. Er mußte sich
von dem großen Wege abwenden und auf einem Nebenwege um die
Stadt nach dem Ranstädter Steindamm reiten. Und auch hier konnten
er und sein Gefolge sich nur einzeln an der Seite des Gewühles fort—
winden. Da zogen Fußvolk und Reiterei, Geschütz und Pulverwagen,
Gesunde, Verwundete und Sterbende, Wagen mit Frauen und Kindern,
Marketender und geraubte Viehherden im wildesten Getümmel mit Drängen
und Stoßen und Geschrei bunt durcheinander, und er, der sich einen Herrn
der Welt genannt hatte, mußte sich von diesem Strome nun mit fort—
schieben lassen.
Die verbündeten Herrscher hätten die Verwirrung noch sehr ver—
größern, die abziehenden Haufen noch in verzweifeltere Flucht, die Wider—
stand Leistenden zu schnellerer Ergebung bringen können, wenn sie die
Stadt hätten beschießen lassen. Aber ein so grausames Mittel, das
Tausende von unschuldigen Einwohnern mit verdorben hätte, war ihrem
menschenfteundlichen Herzen zuwider. Sie wollten nur die Tore und Ein—
gänge erstürmen lassen, und das vollbrachten ihre unerschrockenen Krieger
auch sehr bald. Der Prinz von Hessen-Homburg stürmte mit den Preußen
gegen das Grimmaische Tor, Bennigsen gegen das Peterstor, Langeron
gegen das Hallische Tor. Auch zu den Seiten drangen die Kämpfenden
in die Gärten ein; aber die Franzosen und Polen verteidigten jeden
Schritt. Jedes Gartenhaus und jede Hecke mußte erobert werden, und
noch einmal floß viel Blut. Aber der Sieg konnte nun nicht mehr
zweifelhaft sein. Gegen halb zwölf Uhr drangen die ersten Preußen in
die Stadt ein, und der tiefe Hörnerklang der pommerschen Füsiliere er—
tönte die Grimmaische Straße herunter. Dazwischen hinein lärmten die
Trommeln und gellten die Querpfeifen auch in den andern engen Gassen,
die nahe bei dem Rathause münden. Das war den betäubten, ängstlich
harrenden Einwohnern ein herrlicher, deutscher Klang. Die verschlossenen
Türen öffneten sich, und noch in das Schießen hinein wehten die weißen
Tücher zum Freudengruß aus den Fenstern.
4. Um dieselbe Zeit wurde plötzlich die einzige Brücke, die an der
andern Seite der Stadt den Franzosen zur Rettung diente über den
Elster-Mühlengraben, in die Luft gesprengt. — Es ist nicht entschieden, ob
es auf Napoleons Befehl geschah, der den Feind an der Verfolgung
hindern wollte, oder durch Furchtsamkeit und Voreiligkeit eines Feuer—
werkers, wie der französische Bericht angibt. Alle aber, die sich noch auf
dem Wege zu dieser Rettungsbrücke hindrängten, stießen einen Schrei des
Hirts Teutsches Lesebuch. Ausg. BD. U. Neubta.
240
IX2
370—
Entsetzens aus und zerstreuten sich nach allen Seiten, um noch einen Aus—
gang zu finden. Es war keiner mehr. Viele stürzten sich aus Verzweiflung
in die Elster, um hindurch zu schwimmen; allein sie kamen fast alle in
dem tiefen Fluß um oder blieben in seinen sumpfigen Ufern stecken. Auch
einige der Feldherren, die noch zurück waren, sprangen mit ihren Pferden
in das Wasser, um der Gefangenschaft zu entgehen; aber einer der ersten,
der polnische Fürst Poniatowski, den Napoleon noch eben zum franzö—
sischen Marschall gemacht hatte, ertrank in dem Flusse; Macdonald ent—
kam. Unter denen, die gefangen wurden, waren Reynier, Bertrand und
Lauriston.
5. An diesem Tage verlor Napoleon noch mehr als in den Tagen
der Schlacht. Über 15000 waffenfähige Krieger, die durch das Sprengen
der Brücke abgeschnitten waren, wurden gefangen, und 25000 Verwundete
und Kranke blieben noch der Gnade der Sieger überlassen. Eine unüber—
sehbare Menge Kanonen und Wagen war bei der Stadt stehen geblieben;
auf der Allee allein standen 105 Kanonen zusammengefahren. Gegen 400
derselben und 1600 Wagen sind in diesen Tagen erbeutet worden; es war
ein Trümmerhaufen, wie ihn die Geschichte selten aufzuweisen hat.
Nach ein Uhr zogen Alexander und Friedrich Wilhelm mit ihrem
Gefolge unter lautem Siegesgruß ihrer tapfern Scharen und dem
Freudengeschrei der Einwohner in die nun errettete Stadt ein. Wenige
Stunden nachher kam auch der Kaiser Franz, und es war ein großer
Anblick, als sich die drei nun die Rechte reichten und zu der Errettung
Deutschlands und der Begründung einer neuen Ordnung in Europa Glück
wünschen konnten.
Eriedrich Kohlrausch. Deutsche Geschichte.)
214. Der gute Kamerad.
1. Ich hatt' einen Kameraden,
einen bessern find'st du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
er ging an meiner Seite
in gleichem Schritt und Tritt.
2. Eine Kugel kam geflogen.
Gilt's mir, oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
er liegt mir vor den Füßen,
als wär's ein Stück von mir.
3. Will mir die Hand noch reichen,
derweil ich eben lad'.
„Kann dir die Hand nicht geben,
bleib du im ew'gen Leben
mein guter Kamerad!“
Ludwig Uhland.
— 371—
215. Aus dem Leben König Friedrich Wilhelms IV.
a) Die Geburtstagsfeier.
1. Gewöhnlich feierte der König Friedrich Wilhelm IV. mit seiner
Gemahlin Elisabeth den Tag seiner Geburt still im Kreise der Seinen
auf einem Landgut in der Nähe der Stadt Potsdam. Paretz heißt der
friedliche und freundliche Ort, wo schon sein Vater, König Friedrich Wil—
helm III., oft und gern weilte. Hier und in noch zwei benachbarten
Dörfern lebte der königliche Herr, als wäre er nur in diesen drei Dörfern
der höchste. Und er war doch Herr im ganzen großen Preußenland über
viele, viele Städte und Dörfer. Die Bauern und die Tagelöhner der drei
königlichen Dörfer freuten sich schon das ganze Jahr auf den festlichen Tag,
wo ihre hohe Gutsherrschaft den Geburtstag in ihrer Mitte feierte. Sie
hatten aber auch Ursache dazu. An diesem Tage wurden nämlich alle zwei
Jahre sämtliche Schulkinder vom Kopf bis zum Fuß neu gekleidet. Da
standen sie denn in Scharen mit ihren Lehrern und empfingen die hohen
Herrschaften mit einem herzhaften Hurra! Die Geistlichen und die Pächter
der königlichen Güter brachten ehrfurchtsvoll ihre Glückwünsche dar. An
den niedrigen Fenstern des einfachen Herrenhauses standen dann Männer,
Frauen und Kinder in großer Menge. Mit freudestrahlenden Blicken schauten
sie hinein in den Saal, wo das königliche Paar mit den Prinzen und
Prinzessinnen an der festlichen Tafel saß.
2. Nun war die Tafel zu Ende. Die Menge fing an, sich freudig
zu bewegen; denn jetzt trat der hohe und doch so freundliche Herr mit der
milden, liebenswürdigen Landesmutter, der Königin Elisabeth, aus dem
Saal heraus. Nun reichte der mächtige Preußenkönig den armen Tage⸗
löhnerjungen mit einem freundlichen Scherz ein Glas Wein. Die paus—
bäckigen Bauernkinder drängten sich um ihn wie um einen lieben Vater und
verlangten sehnsüchtig nach dem Labetrunk, noch mehr danach, daß ihr König
freundlich zu ihnen sei. Die Königin brach den feinen, weißen Kuchen den
kleinsten Kindern selbst. Sie sprach aufs freundlichste mit ihnen. Manches
muntere, volle Gesicht erkannte sie wieder und freute sich über das Gedeihen
der Kinder. Den Umstehenden traten Tränen in die Augen, wenn sie so
den wahren Landes vater, die treue Landesmutter unter den Kindern
sich bewegen sahen.
2
Gottlob Schuxig. GOriginalartikel.)
b) Das alte Nlütterehen.
Friedrieh Vilhelm IV. wollte einst von Berlin nach Potsdam
kahren. Die Beamten auf der Eisenbahn vubten, daß der Kõnig
kommen werde, und er war auch pünktlich zur Zeit der Abfahrt da.
24*
— 372 —
Nun wurde das Zeichen mit der Glocke gegeben, dab die Reisenden
einsteigen möchten. Der König stieg aber nicht ein, auch dann
noceh nieht, als zum letztenmal geläutet worden war, worüber die
Beamten nicht wenig verlegen wurden. Als nun der erste Beamte
den königlichen Herrn erinnern sollte, daß es hohe Zeit zum Ab-
fahren sei, san man eine alte Frau mit einem Korb eiligst heran-
kommen. Ihretwegen hatte der König mit dem Einsteigen gezögert.
Als sie ankommt, geht der König auf sie zu, klopft ihr zutraulich
auf die Schulter und sagt:
„Ja, Mütterchen, da wäre Sie eben nicht mit kortge-
kommen, wenn ieh nicht auf Sie gewartet hätte.“
c) Kindermund.
Friedrich Wilhelm IV. war einmal auf einer Reise in Schlesien.
In einem Dorfe wurde er festlich empfangen. Die Schuljugend mit
ihrem Lehrer begrüßte ihn. Ein kleines Mädchen sagte ihm ein Gedicht
her, worüber er sich sehr freute. „Du hast deine Sache schön gemacht,
mein Kind“, sagte der hohe, freundliche Herr. „Nun will ich dir aber
einmal einige Fragen vorlegen. Wohin gehört das?“ fragte er und
zeigte dem Kinde eine Apfelsine. „Jus Pflanzenreich“, antwortete
schüchtern das Mädchen. „Wohin denn das?“ fragte der Rõnig weiter
und zeigte auf ein Goldstück. „Ins Mineralreich“, war die Antwort.
„Wohin aber gehöre ich denn, mein Rind?“ war die dritte Frage.
Freundlich blickte das Kind seinen Rönig an und sagte: Ins himmel—
reich.“ Da glänzte eine Träne in des Rönigs Auge, und er hob das
Mäsdlein empor und küßte es.
Rulemann Friedrich Eulert. (Charakterzüge aus dem Leben Friedrich Wilhelms III.)
216. Die Erstürmung der Düppeler Schanzen.
(18. April 1864.)
1. Die Erstürmung der Düppeler Schanzen war auf den 18. April
angesetzt. Schon mehrere Tage zuvor waren die sechs Sturmkolonnen,
die das Unternehmen ausführen sollten (je eine Kompagnie von jedem
Bataillon Jnfanterie), ausgelost worden. Die Mannschaften, die der ge—
fahrvollen Ehre teilhaftig werden sollten, hatten sich dazu durch den
gemeinsamen Genuß des heiligen Abendmahls in ernster Weise vorbereitet.
Am frühen Morgen rückten sie in den dritten Laufgraben. Um vier Uhr
früh begann ein neuer Kugelregen aus allen preußischen Batterien; um
zehn Uhr sollte der Sturm beginnen. Zehn Minuten vorher trat ein Feld⸗
geistlicher an die Sturmkolonnen und hielt an sie eine einfache, aber
27
35418
53
ergreifende Ansprache, der alle mit entblößtem Haupt und Tränen in
den Augen zuhörten. Darauf beteten die Truppen ein stilles Gebet; dann
segnete sie der Prediger und rief: „Geht mit Gott!“
2. In demselben Augenblick schwieg das Feuer der Geschütze. Es
war zehn Uhr. Eine lautlose, kurze Pause folgte, dann schlugen die
Trommler den Sturmmarsch; drei Musikkorps spielten: „Ich bin ein
Preuße“, und mit tausendstimmigem Hurra ging es auf die Schanzen
los. Der Feind begrüßte die Angreifer mit dem heftigsten Infanterie—
und Kartätschfeuer, aber es vermochte den Ungestüm der vorwärts—
stürmenden Truppen nicht aufzuhalten. Ohne einen Schuß zu tun, eilten
sie vorwärts; unaufhaltsam ging jede Kolonne auf die ihr bezeichnete
Schanze los. Die Kartätschen fielen wie dichter Hagel ein; aber mit
der klingenden Musik hinten, die Pioniere voran, stürmten die Truppen
auf die Schanzen los. Sie warfen über die davorliegende doppelte Eggen—
reihe Sandsäcke, zerschnitten und zerhieben die Drahtgitter und erstiegen
in beständig wechselndem Zickzacklauf die Schanzen. An einer Stelle
standen die Stürmenden vor Palisaden, eine Offnung war nirgends vor—
handen. Da trat, wie erzählt wird, ein einfacher Pionier namens Klinke
vor und sagte zum Offizier: „Ich werde Luft schaffen, besser einer als
zehn.“ Damit warf er einen Pulversack unter die Palisaden und stieß
die Lunte hinein. Halb verbrannt flog er selbst nach der einen, die
Palisaden nach der andern Seite, und durch die gewonnene Offnung ging
die Kolonne zum Siege vor.
3. Nach zehn Minuten schon wehte die erste preußische Fahne von
der sechsten Schanze, dem riesigsten der Werke, kurz darauf von der ersten,
dritten und fünften, dann nach heftigem Kampfe von der vierten und
zweiten. Am wildesten wogte der Kampf um die Schanzen acht, neun
und sieben; doch auch diese fielen den ungestümen Angreifern bald in die
Hände. Die Dänen leisteten tapfre Gegenwehr, besonders die Kanoniere,
die zum Teil bis auf den letzten Mann bei den Geschützen blieben. Der
größte Teil der in den Schanzen selbst kämpfenden Dänen wurde ge—
fangen; die weiterhin stehenden dänischen Truppen wandten sich alsbald
zum Rückzug über die beiden großen Brücken nach Alsen. Die Preußen
aber hatten kaum die Schanzen in ihrer Gewalt, als auch die hinter den
Sturmkolonnen im zweiten Treffen stehenden Truppen schon nachstürmten.
Aufgelöst in eine lange Kette, trieben sie die Dänen vor sich her und ge—
statteten ihnen keinen Aufenthalt. Vergebens war das heftige Kartätsch—
und Granatfeuer von den Batterien der Insel Alsen, von den Wällen der
Brückenköpfe und von dem in der Bucht herandampfenden Panzerschiff
Rolf Krake. Unaufhaltsam drangen die preußischen Truppen vor und
— 374 —
eroberten die beiden Brückenköpfe. Die Flucht der Dänen nach Alsen
hatten sie jedoch nicht mehr zu hindern vermocht. — Um zwei Uhr war kein
Feind mehr diesseits des Alsensundes. Die zehn Schanzen, das dahinter
liegende feste Lager, die beiden Brückenköpfe waren genommen; die Düppel—
stellung war in den Händen der Preußen. Kein Kampf mehr, nur über
den Alsensund herüber donnerte noch das Feuer der Geschütze. Bald
schwieg auch dieses.
4. Ein großer Sieg war in wenigen Stunden errungen. Prinz
Friedrich Karl, der mit dem Kronprinzen, den übrigen Prinzen und dem
greisen Feldmarschall Wrangel auf einem nahen Hügel hielt, entblößte,
als er die glückliche Kunde erhielt, sein Haupt und dankle Gott für den
herrlichen Erfolg. Der Sieg hatte manch schweres Opfer gekostet. Etwa
70 Offiziere und nahezu 1200 Mann waren tot oder verwundet; aber
so schmerzlich diese Verluste waren, sie standen nicht im Verhältnisse zur
Größe des Errungenen. Die Dänen hatten ihrerseits weit über 5000 an
Toten und Verwundeten. Von König Wilhelm kam wenige Stunden
nach beendigtem Kampf ein Telegramm mit folgenden Worten an den
Prinzen Friedrich Karl: „Nächst dem Herrn der Heerscharen verdanke ich
Meiner herrlichen Armee und Deiner Führung den glorreichen Sieg des
heutigen Tages. Sprich den Truppen Meine höchste Anerkennung aus
und Meinen königlichen Dank für ihre Leistungen.“
Dr. Ludwiĩg Mahn, (Geschichte des preußischen Vaterlandes.)
217. Ein Heldenkampf an Schlesiens Grenze (1866).
„Werden die sterreicher durchs Gebirge nach unsrer Heimat vordringen
und hier ihre Schlachten schlagen?“ das war die bange Frage der Schlesier, als
1866 der Krieg zwischen Kaiser Franz Joseph von Osterreich und unserm Könige
Wilhelm J. ausbrach. Aber die preußischen Truppen drangen nach Böhmen
vor, und bei Königgrätz wurde der entscheidende Sieg errungen. Die
Reihe der glänzenden Siege in Böhmen eröffnete der Heldenkampf bei Nachod.
Am 27. Juni 1866 früh 5 Uhr brach das 5. preußische Armee—
korps unter General Steinmetz aus der Gegend von Reinerz auf, um
nach Nachod in Böhmen zu marschieren. Stundenlang war der Zug der
Reiterei, des Fußvolkes, der Geschütze und der Wagen mit Kriegsbedarf.
Noch befand er sich mitten auf dem engen Wege des langen Passes, als die
preußische Vorhut am Ausgange desselben bei Nachod von den Osterreichern
schon angegriffen wurde. Aber ihr Befehlshaber, Generalmajor von Löwen—
feld, ließ sich nicht schrecken. Er mußte seinem Korps den Weg freihalten,
sonst war es verloren. Hier hieß es: Festhalten oder sterben! Deshalb
2
22*
54
besetzte er auf der Hochfläche hinter Nachod einen Wald an der Straße, auf
welcher die Osterreicher heraufzogen, und ein Wäldchen vor dem nahen
Dorfe. Um 119 Uhr erstürmten die sterreicher das Wäldchen. Da kam die
preußische Vorhut in große Gefahr. Mit klingendem Spiel und fliegenden
Fahnen drang österreichisches Fußvolk weiter gegen den Wald an der Straße
vor. Aber vor dem vernichtenden Feuer der Preußen, die mit dem Zünd—
nadelgewehr bewaffnet waren, wich es zurück. Gegen den rechten Flügel
unsrer Vorhut gingen nun österreichische Kürassiere und Ulanen vor, doch die
schlesischen Dragoner warfen sich mit voller Wucht von beiden Seiten
auf sie, und es entstand ein heftiges Handgemenge. Endlich jagten die
feindlichen Kürassiere in voller Auflbsung nach Westen. Unsre Dragoner
und Ulanen verfolgten sie. Kaum hatten sich einige Abteilungen unsrer
Reiter wieder gesammelt, so warfen sie sich auf das ins Wäldchen zurück—
gehende österreichische Fußvolk. Sie ritten ein Knäuel Jäger nieder und
zersprengten ein Infanteriebataillon. Ja im Kampfeseifer jagte ein Teil der
tapfern Dragoner bis in das Wäldchen dem Feinde nach.
Es war 12 Uhr. Dem Generalmajor von Löwenfeld war es gelungen,
mit seiner kleinen Schar drei Stunden lang den Ausgang des Passes gegen
eine viermal so starke Macht zu behaupten. Zu dieser Zeit kam die Haupt⸗
macht des 5. preußischen Korps glücklich aus dem Engpasse heraus und
nahte dem Kampfplatze. Nun wurde der Feind von der Hochebene gedrängt,
das Wäldchen ward wieder genommen, auch das Dorf dahinter erstürmt.
Auf allen Punkten traten die österreichischen Brigaden den Rückzug an, und
die Schlacht bei Nachod war gewonnen.
Nach dem Generalstabswerke erzählt von Karl Erust.
218. Drei Tage nach dem Gefecht bei Langensalza.
1. Endlich war ich in Gotha. Nach vielen vergeblichen Versuchen, einen
Wagen nach Langensalza zu bekommen, fand ich Aufnahme in dem Gefährt
einiger Herren, die ich auf der Reise kennen gelernt hatte.
Bald nähern wir uns dem eigentlichen Kampfplatze. Zu beiden Seiten
des Weges liegen erschossene Pferde. Vor der Stadt stehen in unabsehbaren
Reihen die Gewehre, welche die hannöversche Infanterie hat abliefern müssen,
daneben die Gepäckwagen der Armee, von preußischen Landwehrleuten bewacht.
Endlich hält unser Wagen vor dem Gasthof. Wir steigen aus, aber kein
Plätzchen ist in der Gaststube zu finden. Sie ist erfüllt von preußischen und
hannöverschen Offizieren aller Waffenarten, von Müttern und Schwestern, die
ängstlich nach ihren Lieben fragen, von Bauern, die sich beklagen, von
Soldaten, die erzählen. Wir verlassen daher das Gasthaus und trennen uns
3706 —
mit dem Versprechen, am Abend wieder hier zusammenzutreffen, nachdem wir
das Schlachtfeld in Augenschein genommen.
2. Ich lasse mir den Weg zum Judenhügel zeigen, von wo man das
ganze Schlachtfeld übersieht: hier standen vier preußische Geschütze und spien
Tod und Verderben auf die Ebene. Noch lagen ringsum die Saaten nieder—
getreten und die Pflanzungen verwüstet.
Am Abhange des Judenhügels liegt zur rechten Hand die Badeanstalt,
von einem lieblichen Hain umgeben. Unter dem Schutze dieses Haines er—
öffneten einige preußische Bataillone ein mörderisches Feuer auf die hannöversche
Kavallerie, die Angriff um Angriff auf die Preußen versuchte und dabei durch
die Batterien auf der gegenüberliegenden Anhöhe von Merxzleben unterstützt
wurde. Da mußte der Tod reiche Ernte gehalten haben; denn bei jedem
Schritt stieß ich auf tote Pferde, aufgeworfene Gräber, verstümmelte oder
niedergerissene Bäume und verwüstete Kornfelder. Nur mit großer Mühe ge—
langte ich auf dem von Kanonenkugeln durchwühlten Wege auf die Chaussee
und zu der steinernen Brücke, die vor Merxleben über die Unstrut führt. Hier
standen zur Rechten zwei Regimenter preußischer Landwehr, die unter der Über—
macht der Hannoveraner zusammenbrachen und wichen, sich wieder sammelten,
wieder zersprengt wurden und immer von neuem feststanden.
3. An der Rasenmühle schlug ein aus preußischen und gothaischen Soldaten
gebildetes Viereck heldenmütig die wiederholten Angriffe der vorzüglichen feind—
lichen Reiterscharen ab. „Wir standen“, erzählte mir später ein bei diesem
Vorfall leichtverwundeter Unteroffizier, „und sahen die schweren Massen der
Dragoner auf uns losstürmen. Unser Anführer ließ sie bis auf 2500 Schritt
herankommen; dann erst gaben wir Feuer. Da war es, als hätte der Schnitter
das reife Korn abgemäht; ganze Reihen stürzten zusammen. Doch unaufhaltsam
rückten sie wie der Wind vor. Kaum hatten wir abermals mit gleichem Er—
folge gefeuert, so waren sie uns auf dem Leibe. Noch einmal kamen wir
zum Schuß. Da wäre unser Viereck beinahe von den dicht vor uns nieder—
fallenden Toten gesprengt worden, was die Lebenden nicht vermocht hatten.
Die wenigen Reiter, die übrigblieben, retteten sich in wilder Flucht, auf der
noch viele von unsern Kugeln erreicht wurden.“
4. Allein die Zahl der Feinde war zu groß und zu fest ihre Stellung
auf der Höhe von Merxleben, wohin sich die aus der Ebene geworfenen han—
növerschen Truppen zurückzogen. Deshalb führten selbst so glänzende Waffen—
taten zu keiner Entscheidung, und das Gefecht wurde gegen Abend abgebrochen.
Unterdessen hatten jedoch andre, von allen Seiten anrückende preußische Truppen—
teile Zeit gewonnen, die tapfern Hannoveraner gänzlich einzuschließen, die
am 29. Juni die Waffen strecken und sich ergeben mußten.
377 —
5. Nach langem Umherirren traf ich endlich wieder in Langensalza mit
meinen Reisegefährten zusammen. Nur noch kurze Zeit blieb uns für einen
Gang in das dortige Hauptlazarett. Ich weiß nicht, was mich hier am tiefsten
bewegt hat, die Leiden der Verwundeten und Sterbenden oder die Aufopferung
der Lebenden. Die barmherzigen Schwestern wurden überall von Damen aus
dem Orte und aus Gotha in der Pflege der Verwundeten unterstützt. Geist—
liche spendeten Trost, unter ihnen ein achtzigjähriger Greis, den keine Bitten
bewegen konnten, sich zu schonen.
6. Die Tür eines Zimmers tat sich auf, und ein Arzt trat ein. Seine
Rockärmel sind aufgestreift, seine Kleidung ist mit Gipsflecken übersät. Es
ist der durch seine staunenerregenden Operationen bekannte Geheimrat Wilms.
Er führte uns selbst durch einige Säle. Vor einem Bette blieb er stehen.
„Nun, wie geht es?“ fragte er den Kranken, der, anscheinend wohl, seine
Zigarre rauchte. „Ganz gut, Herr Geheimrat!“ war die Antwort. Wilms
hob die Decke auf und besah das Bein des Soldaten. „Nun, das geht ja
wirklich gar nicht schlecht“, sagte er. Im nächsten Zimmer aber rief er einen
Geistlichen, nannte ihm die Nummer jenes Bettes und sagte: „In höchstens
ein paar Stunden tritt der Todeskampf ein; ich kann weder den Brand ver—
hindern, noch eine Ablösung vornehmen.“ So sahen wir weiter Leiden über
Leiden und verließen, tief ergriffen, das Lazarett und bald darauf auch den
Ort. Das Andenken aber an die Wanderung durch das Langensalzaer Schlacht—
feld wird unserm Gedächtnis unauslöschbar eingegraben bleiben.
Uach dem „Daheim“.
219. Am 19. Juli 1870.
1. Zu Charlottenburg im Garten
in den düstern Fichtenhain
tritt, gesenkt das Haupt, das greise,
unser teurer König ein.
2 Und er sieht in der Kapelle —
seine Seele ist voll Schmerz —,
drin zu seiner Eltern Füßen
liegt des frommen Bruders Herz.
3. An des Vaters Sarkophage
lehnet König Wilhelm mild,
und sein feuchtes Auge ruhet
auf der Mutter Marmorbild.
4. „Heute war's vor sechzig Jahren,“
leise seine Lippe spricht,
„als ich sah zum letzten Male
meiner Mutter Angesicht!
5. Heute war's vor sechzig Jahren,
als ihr deutsches Herze brach
um den Hohn des bösen Feindes,
um des Vaterlandes Schmach!
6. Jene Schmach hast du gerochen
längst, mein tapfrer Vater, du;
aber Frankreich wirft aufs neue
heute uns den Handschuh zu!
7. Wieder sitzt ein Bonaparte
ränkevoll auf Frankreichs Thron,
und zum Kampfe zwingt uns heute
wieder ein Napoleon!
8. Tret' ich denn zum neuen Kampfe
wider alte Feinde ein,
dann soll's mit dem alten Zeichen,
mit dem Kreuz von Eisen sein!
378
9. Der Erlösung heilig Zeichen
leuchte vor im heil'gen Krieg,
und der alte Gott im Himmel
schenkl' dem alten König Sieg!
10. Blicke segnend, Mutterauge!
Vater, sieh, dein Sohn ist hier!
Und auch du, verklärter Bruder,
heute ist dein Herz bei mir!“
11. Leise weht es durch die Halle —
König Wilhelm hebt die Hand;
all die goldnen Sprüche funkeln
siegverheißend von der Wand.
12. Zu Charlottenburg im Garten
aus dem düstern Fichtenhain
tritt der König, hoch und mächtig,
um sein Antlitz Sonnenschein!
George Heseklel.
220. Unsre Mainbrüche.
1. Das war zu Wörth der heibe Tag,
als wir die Blutschlacht schlugen;
wie krachte von ihrem Donnerschlag
das Kaiserreich aus den Fugen!
Das war zu Wörth der heiße Tag, —
die Hõhen waren erstürmet,
auf blutiger, glühender Heide lag
des Todes Saat getürmet.
2. Und drunten im Grund, am einsamen Tann,
wo rot die Wellen heut' rauschen,
da hob sich empor ein gefallener Mann,
den Donnern des Sieges zu lauschen.
Und neben ihm hob sich ein andrer empor,
die Rechte geprebt auf die Wunde,
mit brechendem Aug' und mit lechzendem Ohr
einsaugt er die jubelnde Kunde.
3. Der Erste, ein Preuße vom nordischen Strand,
vom bayrischen Hochland der Zweite,
sie waren gefallen am waldigen Rand,
hier liegen sie Seite an Seite!
Gerächt und gerettet das Vaterland,
der Rauber zu Boden gerungen!
Und selig umklammert sich Hand in Hand
und halten sich glühend umschlungen.
379
4. Viktorial klang's, — mit flüchtigem Rot
aufs neue die Wangen sich färben:
Willkommen nun, heiliger Schlachtentod!
Das nenn' ich ein seliges Sterben!
Und der Preuße: Gott segn' euch die Massentat;
heut' zahlet ihr heim in Treuen
den angesonnenen deutschen Verrat
dem Franken, ihr bayrischen Leuen!“
5. Und der Bayer darauf: „Geschmiedet in eins
sind heute im Feuer wir worden!
Heut' ward sie geschlagen, die Brũücke des Mains,
geschlagen von Süuden nach Norden!
Und wie wir hier sterbend zum Bunde die Hand,
zum Schwure der Treue ersfassen,
so reichen die Rechte sich Land und Land,
im Tode sich nimmer zu lassen! —
6. Und als nun erglommen um Felsen und Wald
des Abendrots glühende Braände,
da ruhten die Tapfern friedlich und kalt,
im Tod noch verkettet die Hande.
Doch wir hörten den Schwur, und wir halten ihn euch,
bei dem rinnenden Herzblut im Sande!
Und die Kunde vom wiedererstandenen Reich,
sie donnre von Lande zu Lande!
Tulius Lohmeyer.
221. Der Sergeant in der Bauernstube.
I. Nach der Schlacht bei Wörth kommt ein Sergeant mit seiner
Mannschaft in ein Bauernhaus des Dorfes Fröschweiler, um Nabrungs-
mittel zu suchen. Das Haus ist wie ausgestorben, und alle Stuben
sind leer. Der Kriegsmann stöbßt mit dem Gewehrkolben auf den
Boden und ruft: Hollal wo seid ibr, Leute?“ Keine Antwort. Er
geht gegen den Alkoven, zieht den Vorhang weg. Da sitzt ein altes
Mütterlein, in Prünen gebadet, und hält ein kleines Kind auf ihrem
Schobe. Wie das Kind die fremden, bärtigen Gestalten erblickt.
380 —
fängt es laut an zu schreien und drückt sich fest in Grobmutters
Arme. Dem Sergeanten wird's vundersam ums Herz. Er wäre lieber
seiner harten Kriegspflicht überhoben gewesen; aber er mubß es tun,
er kann nicht anders. „Wo ist der Bauer? Ieh mub Brot und Wein
haben, gleich! geschwind, oder —“ und er macht ein Gesicht wie ein
leibhaftiger Menschenfresser.
2. Da schaut das Mütterlein empor, blickt dem fremden Kriegs-
mann wehmütig fragend ins Auge und sagt gar niehts. Der steht
da tief gerübrt vor dem ehrwürdigen Bilde; sein Herz schlägt ge-
waltig. Dann sagt sie mit zitternder Stimme: „Lebt Eure Mutter
noch, und habt Ihr auch Geschwister?“« Jetæzt rieseln dem Soer—
geanten die Tränen über den strammen Schnurrbart herunter. Die
Erage hat ihn plötzlich aus dem wüsten Kriegsgetümmel in die liebe
Heimat, in die goldene Jugendzeit zurückgetragen. Ja,“ sagte er,
„mein Mütterchen lebt noch, und so ein Jüngelchen ist auch noch
zu Hause. Gebt ibn mal her, den Kleinen; ich tu ihm nichts zu—
leide.“ Nun nimmt er das Kind auf seinen Arm, streichelt es freund-
lich übers Köpfehen und gibt ibm einen Kubß auf die Stirn. Dem
alten Mütterlein wird's auch ganz vundersam zumute; sie sieht, daß
diese Preuben, wie man dort kurzweg alle Deutschen nennt, auch
Menschen sind. Sie steht auf, geht in die Küchenkammer und ruft:
„Peter! Ohristinel kommt heraus, sie tun euch niehts! Kommt nur
geschwind!“
3. Dem Peter fährt's wie eine Engelsbotschaft durch alle Glieder;
er stöbht den Boden weg, hinter dem er sich ins Zwetschenfab ver—
steckt hat, und kriecht heraus. Die Obristine hat ihre Lebensgeister
aueh wiedergefunden; sie drückt den Deckel von der Meblkäste empor,
in der sie sich verkrochen hat, und krabbelt ans Tageslicht. Wie
aus der Hölle erlöst treten beide unter fröhblichem Herzklopfen in
dio Stube. Der Sergeant hat das Büblein noch auf dem Armoe.
„Ha, Bauer, was bist du für ein Mordskerl und fürchtest dich vor
deutschen Soldaten! Schau mich mal an und meine Soldaten da,;
sind wir denn Menschenfresser?“ Der Peter sperrt Maul und Ohren
auf; die Obristine lächelt ganz seelenvergnügt. Das wär' hnen im
Praume nicht eingefallen. „Ha, Kamerad,“ sagt der Sergeant, hol
uns ein Stück Brot und ein paar Kannen Wein — sonst wollen wir
nichts!“ Und nun sehe einer den Peter an, vie er einmal übers
andre mit dem Melkkübel in den Keller hinabsteigt, uncd wie die
Ohristine ihre vier Laib Brot bis aut den letzten freudestrahlend auf
381
den Tisch legt, und wie die alte Grobmutter den schmucken, strammen
dergeanten immer wieder woblgefällig anblickt, vährend der gute
Elsusser Wein die durstigen, ausgebrannten Keblen erquickt. Es var
ein Bild — ich sage, wenn ich's malen könnte, ein schöneres dürfte
es in der Welt nicht geben! Und vwas geschieht?
Den andern Tag haben die Grobmutter, der Peter und die Obri-
stine wie alle andern nichts zu essen. Da kommt am Nachmittag
ein Soldat, der bringt Speck und Brot und sagt: „Da, labt's euch
schmeckhen! Und der Sergeant bat mir aufgetragen, ieh soll euch
grühen, und er wird sein Leben lang an gestern gedenken!“
Kaxl Klein. (Th. Gümbel: Erinnerungen eines freiwill. Krankenpflegers.)
222. Die Rose von Gorze.
1. Die zweite große Schlacht vor Metz, am 16. August 1870, war ge—
schlagen. Ein Regiment aus Thüringen hatte in dieser tapfer gekämpft, aber auch
viele Leute verloren. Seine zweite Kompagnie allein hatte hundertsiebzig Tote
und Verwundete. Unter den Verwundeten war auch der Leutnant Ewald
von Zedtwitz. Die Krankenträger hoben ihn vom Schlachtfeld auf und brachten
ihn in das Dörfchen Gorze, in das Haus eines französischen Kaufmanns.
Diesem war vor elf Jahren, als die Franzosen in Italien Krieg führten, in
einer Schlacht ein Bein abgeschossen worden. Er hatte daher Mitgefühl mit
dem todwunden Mann und pflegte ihn mit großer Liebe. Der Leutnant lag
auf einem Strohlager im Laden des Kaufmanns, und hierhin brachte das
Töchterchen des Franzosen dem Verwundeten täglich die schönsten Rosen, damit
er sich an ihnen erfreue.
2. Drei Tage später, als der Verwundete wieder bei voller Besinnung
war, vernahm er plötzlich von draußen ein brausendes Geräusch und ein
donnerndes Hurra. Das kam von den vielen auf der Straße liegenden Ver—
wundeten und galt dem König Wilhelm, der eben am Hause vorüberfuhr.
Er hatte am Tage vorher auch die dritte Schlacht geschlagen und kehrte jetzt
in sein Quartier zurück. Durch das Fenster sah der Leutnant von Zedtwitz
die Pferde des königlichen Wagens. Rasch nahm er die schönste Rose aus
dem Glase und schickte einen Trompeter, der bei ihm war, mit ihr zum Könige.
Der Mann sollte zu dem Könige sagen: „Ein schwerverwundeter Offizier,
der wohl schwerlich die nächsten Tage überleben wird, schickt Eurer Majestät
diese Rose als Siegesgruß.“
Der König war tief gerührt. Er befahl dem Kutscher langsam zu fahren
und nahm die Rose an. Als er sie in das Knopfloch seines Rockes steckle,
382
2*
fragte er nach dem Namen des Offiziers, dankte und wünschte ihm gute
Besserung. Dann ließ er schnell weiterfahren.
3. Ewald von Zedtwitz wurde wieder gesund, wenn auch lange Zeit
darüber verging, bis seine Wunden heil wurden.
Als der Friede kam, wurde er als Hauptmann nach Halberstadt ver—
setzt. Am Weihnachtsabend des Jahres 1871 kam auf einmal eine große
Kiste aus Berlin für ihn an. Als er die Kiste aufmachte, fand er darin ein
schönes Bild, auf dessen oberer Rahmenleiste eine schwere silberne Rose an—
gebracht war. Dabei lag ein Schreiben vom Könige, worin stand:
In dankbarer Erinnerung an den mir unvergeßlichen Augenblick, wo Sie,
schwerverwundet, in Gorze am 19. August 1870 mir eine Rose nachsandten, und
ich, Sie nicht kennend, an Ihrem Schmerzenslager vorübergefahren war, sende
ich das beikommende Bild, damit man noch in späten Zeiten wisse, wie Sie in
solchem Augenblick Ihres Königs gedachten, und wie dankbar er Ihnen bleibt.
Weihnachten 1871. Wilhelm.
Dr. C. Spielmann. (Schülerhefte für den vaterländischen Geschichtsunterricht.)
223. Das 11. Regiment vor Vionville
(16. August 1870).
Aufs Schlachtfeld senkt sich des Abends Flor,
die Biwaksfeuer züngeln empor,
und an den Feuern lang gestreckt
ruhn müde Kämpfer staubbedeckt.
s5 Der Tag war heiß, heiß war der Kampf,
schwarz sind die Gesichter vom Pulverdampf,
doch ernst die Stirnen, die Lippen stumm,
kein Scherzwort tönt, kein Lied ringsum;
denn reiche Mahd hielt heut' der Tod
10 und färbte die Erde purpurrot.
Vor Weißenhaus und vor dem Holz
von Vionville, da kämpften stolz,
da sanken sie nieder, wie Blüten im Lenz,
die Mannen des elften Regiments.
15 Und als die Schlacht geschlagen war
und vom Kampf sich verschnaufte die siegreiche Schar,
da fehlten elfhundert Grenadier'
und fünfundvierzig Offizier'!
Fünfundvierzig Off ziere, elfhundert Mann,
20 sie traten nicht mehr beim Sammeln an,
383
sie lagen vorm Holze von Vionville
in ihrem Blute stumm und still. —
O Tag der Ehren! O Tag voll Ruhm!
O du herrliches schlesisches Heldentum!
25 Was war die Macht,
die Siegen und Sterben so leicht gemacht?
Der Glaube war's an den ewigen Gott,
der unsre Feinde machte zu Spott; —
der Glaube war's an den irdischen Herrn,
30 unsern Schlachtenherzog und leuchtenden Stern; —
der Glaube war's an heiliges Land,
an das herrliche, deutsche Vaterland!
Dem Vaterland in alter Treu'
weiht Heer und Volk sich stets aufs neu'!
35 Zum Schwure heben wir die Hand:
Hurra, das deutsche Vaterland!
Dagobert von Gerhardt.
——
224. Wie König Wilhelm Deutscher Kaiser wurde.
1. Während Paris belagert wurde, richtete der König Ludwig II. von
Bayern im Namen der deutschen Fürsten an den König von Preußen die
Bitte, er möge das Deutsche Reich wieder aufrichten und die Kaiserwürde
annehmen. Lange Zeit war der greise König schwankend, ob er diese
Bitte erfüllen sollte Graf Bismarck und der Kronprinz hatten Mühe,
den bescheidenen Herrscher dazu willig zu machen. Am 18. Januar 1701
war Preußen zum Königreich erhoben worden. Der 18. Januar 1871
wurde dazu ausersehen, einen Hohenzollern zum Deutschen Kaiser auszurufen.
2. In dem berühmten großen Spiegelsaale des Versailler Schlosses
steht ein bescheidener Altar; zwei goldene Kronleuchter strahlen im Kerzen—
glanze; vor dem Altaͤr steht ein Geistlicher in seinem einfachen, schmuck⸗
losen Kleide. Ihm gegenüber haben der König, der Kronprinz und viele
fürstliche Gäste Platz genommen. Bismarck und Moltke stehen in der
Nähe des Königs.
Ein Soldaten-⸗Sängerchor leitete die kirchliche Feier durch ein „Jauchzet
dem Herrn alle Welt“ mit Posaunenbegleitung ein. Dann folgte die
Predigt des Hofpredigers Rogge aus Potsdam über den gerade für
diese Feier passenden 21. Psalm: „Du überschüttest ihn mit gutem Segen,
du setzest eine goldene Krone auf sein Haupt. .. . Du sehest ihn zum
Segen ewiglich. . Denn der König hoffet auf den Herrn und wird durch
384
Die Ratserproklamation im Schlosse zu Versailles
am 18. Zannar 1871.
383
die Güte des Höchsten fest bleiben. ..“ Mit einem brausenden „Nun
danket alle Gott!“ schloß die kirchliche Feier.
3. Der König erhob sich nun und schritt, begleitet von allen Prinzen
und Fürsten und dem Grafen Bismarck, durch die Galerie gerade auf die
Erhöhung zu, wo die Fahnenträger standen. Am Rande der Erhöhung
stand der greise, fast Ajährige König, zu seiner Rechten der Kronprinz;
die Fürsten traten hinter den König. Mit bewegter Stimme sagte der
König, wie ihm die Kaiserkrone von allen deutschen Fürsten und freien
Reichsstüdten angetragen worden sei, daß er sie annehme und in diesem
Sinne heute eine Bekanntmachung an das ganze deutsche Volk erlasse,
die der Bundeskanzler jetzt verlesen werde— Nach der Verlesung trat der
Großherzog von Badein vor und rief mit lauter Stimme: „Hoch lebe
der Kaiser Wilhelm!“
4. Bei dem brausenden Jubelruf der großen Versammlung ward
manches Auge naß, und dem greisen Könige stürzten die hellen Tränen
aus den Augen. Man sah, wie die stattliche Gestalt erschüttert war vor
Rührung. Der Kronprinz von Preußen huldigte dem Kaiser durch Hand—
kuß; — aber der Kaiser schloß ihn in die Nme und küßte ihn wieder
und immer wieder unter glücklichen Tränen. Auch seinen Bruder Karl
und seinen Vetter Admiral Adalbert, seinen Schwager, den Großherzog
von Weimar, und seinen Schwiegersohn, den Großherzog von Baden, schloß
der König in die Arme. Vie älteren Fürsten brachten ihren huldigenden
Glückwumsch durch Handschütteln, die jungen Prinzen durch Handkuß dar.
Die ganze übrige Versammlung huldigte dem Kaiser durch Vortreten und
tiefe Verbeugung, die er durch freundliches Kopfnicken erwiderte.
Als der Kaiser das alte Schloß der französischen Könige verließ,
sank die Hohenzollernfahne nieder, und die neue deutsche Kaiserfahne
rauschte in die Höhe. Während dieser Kaiserfeier donnerten die deutschen
Kanonen gegen Frankreichs Hauptstadt. Max Hübner. (Kaiser Wilhelm 1)
225. Kaiser Wilhelms J. Heimgang.
1. Am Sonntag, den 4. März 1888 erschien Kaiser Wilhelm nicht am
Fenster, und als sich das am folgenden und nächstfolgenden Tage wieder—
holte, verbreitete sich mit Windeseile in der Hauptstadt und von da aus
im ganzen Lande die Kunde von einer ernstlichen Erkrankung desselben.
Die Besorgnis steigerte sich, als am Abend des 7. März zum erstenmal
eine amtliche Kundgebung über das Befinden des Kaisers veröffentlicht
wurde, in der es hieß, daß sich zu den seit Sonnabend, den 3. März
vorhandenen allgemeinen Erkältungserscheinungen schwerere Beschwerden
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. U. Neubta.
2
380 —
gesellt hätten, und daß infolgedessen eine allgemeine Abnahme der Kräfte
stattgefunden habe. Niemand konnte sich seitdem über die unmittelbar
vorhandene Gefahr täuschen. Als dann am Donnerstag, den 8. März
morgens der Reichs- und Staatsanzeiger die Kunde brachte: „Seine
Majestät der Kaiser und König haben eine sehr unruhige Nacht gehabt;
die Kräfte haben noch mehr abgenommen“, da mußte sich jedermann auf
das Außerste gefaßt machen. Der Platz vor dem Kaiserlichen Palais bot
den ganzen Tag über ein Bild unendlichen Wehs, und die beunruhigendsten
Gerüchte durchschwirrten die Luft. „Lebt der Kaiser noch? Ist das
Gefürchtete eingetroffen?“ so ging es durch die Reihen der trotz des
strömenden Regens lawinenartig anwachsenden Menge, die auf dem Opern-—
platz und in der Straße Unter den Linden hin und her wogte, und deren
Stimmung immer schwerer, immer düsterer wurde.
2. Inzwischen war die kaiserliche Familie schon seit dem Morgen um
das Sterbelager des teuern Familienoberhauptes oder doch in seiner Nähe
vereinigt gewesen. Sowohl mit dem Prinzen Wilhelm als mit dem Fürsten
Bismarck hatte der Kaiser ernste Unterredungen.
Schon im Laufe des Nachmittags war auf Veranlassung des Prinzen
Wilhelm der Kaiser in schonender Weise gefragt worden, ob nicht der
Oberhofprediger Kögel gerufen werden sollte. Er erklärte sich hiermit
einverstanden. Gegen fünf Uhr trat D. Kögel an das Krankeubett des
Kaisers, um mit ihm zu beten. Bei dem Spruche „Herr, nun lässest du
deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast, deun meine Augen
haben deinen Heiland gesehen —“ fragte die Großherzogin von Baden
ihren Vater, ob er verstanden habe. Er bejahte es, indem er die Worte
vernehmlich wiederholte: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“
Später sprach er wieder mit dem Prinzen Wilhelm von der Armee
und Preußens gesamtem Volke. Die Großherzogin von Baden bat den
Vater, sich nicht zu sehr anzustrengen, da das andauernde laute Sprechen
ihn müde machen müsse. Der Kaiser erwiderte hierauf: „Ich habe jetzt
keine Zeit, müde zu sein“ Es waren dies die letzten zusammenhängenden
Worte, die von ihm zu vernehmen waren. Im Verlauf des Abends
vermochten die Kräfte sich nicht zu heben. In abgebrochenen Worten
sprach der Kaiser vielfach von den Truppen und von Erinnerungen der
Feldzüge; er nannte einzelne ihm bekannte Namen. Gegen vier Uhr morgens
wurde der Puls immer schwächer, der Atem schwerer; das Bewußssein
schwand. Auf Veranlassung der Ärzte wurden die Mitglieder der kaiser⸗
lichen Familie zusammenberufen. Ab und zu schienen von den Lippen
des Kaisers unbestimmte Laute zu kommen. Die Großherzogin richtete
noch kurze Fragen an den Kaiser. So fragte sie: „Weißt du, daß Mama
387 —
an deinem Bette sitzt und dir die Hand hält?“ Da schlug er das Auge
auf und sah die Kaiserin lange klar an. Dann schloß er es, um es nicht
wieder zu öffnen. Der letzte Blick galt der Kaiserin. Als sich die Zeichen
des Todes deutlich ankündigten, segnete der Geistliche den Sterbenden ein
mit den Worten: „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von
nun an bis in Ewigkeit! Ziehe hin in Frieden! Es ist noch eine Ruhe
vorhanden dem Volke Gottes Vater, in deine Hände befehlen wir seinen
Geist, du hast ihn erlöst, du treuer Gott!“ — Da, um acht Uhr 28 Mi⸗
nuten morgens noch ein tiefes Aufseufzen — Kaiser Wilhelm hatte ge—
endet. Hand in Hand blieb die Kaiserin mit dem Gemahl vereint bis
über den letzten Atemzug hinaus. Prinz Wilhelm stand am Fußende des
Bettes, angesichts des dahingeschiedenen Großvaters. Dann näherten sich
alle Familienmitglieder, um von dem geliebten Oberhaupt den letzten Ab—
schied zu nehmen und ihm nochmals die Hand zu küssen. Alle knieten
vor dem Sterbebette nieder.
3. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich in der Hauptstadt die Kunde
von dem Tode des Kaisers, während gleichzeitig der Telegraph sie in alle
Lande hinaustrug. Nachdem die kaiserliche Purpurstandarte auf dem Sterbe⸗
hause halbmast gezogen war, geschah das gleiche mit den Fahnen auf allen
in der Nähe gelegenen öffentlichen Gebäuden und auf vielen Privathäusern.
Durch die nach vielen Tausenden zählende Menschenmenge, die schon vom
frühen Morgen an in der Nähe des Palais und Unter den Linden sich
angesammelt hatte, ging ein allgemeines Schluchzen. In den Schulen
wurde nach kurzen Änsprachen der Unterricht ausgesetzt, und die Kinder
eilten nach Hause, um weinend den Ihrigen die Trauerkunde zu über—
bringen. Mancher Vater, manche Mutter hoben ihr Jüngstes empor und
wiesen es auf das freundliche Antlitz des Kaisers hin, dessen Bild fast in
keinem deutschen Hause fehlt, und das nun in aller Eile mit einem Trauer—
flor geschmückt ward. Die Straßen füllten sich mit einer von Stunde zu
Stunde wachsenden Menge, die schmerzerfüllt an den Anschlagsäulen die
Todesnachricht las und dann nach den Linden drängte. Die Schaufenster
wurden schwarz verhängt, selbst ganze Häuser mit schwarzem Tuch und
Flor bekleidet. Trotz des strömenden Regens, der an diesem Tage
herniederfloß, hielten die Menschen stundenlang vor dem Palais und in
dessen Nähe aus. Aller Augen waren nach dem Eckfenster gerichtet, an
dem der geliebte Kaiser sich so oft gezeigt hatte. Die Trauer des ganzen
Volkes war unbeschreiblich. Durch das ganze Land ging der Klageruf:
„Wir sind wie Waisen, die ihren Vater verloren haben.“
D. Bernhard Rogge. (Kaiser Wilhelm 1)
25*
388 —
226. Fürst Bismarecks erster Ordensschmuck.
Fürst Bismarck, der deutsche Reichskanzler, machte im Jahre
1842 als Leutnant bei den Landwehr-Ulanen eine Ubung mit. An
einem Sommernachmittag stand er mit mehreren Kameraden zu-
sammen an der Brücke des Sees zu Lippehne, einem Städtchen in
der Neumark, und sah zu, vie sein Reitknecht Hildebrand dort
das Pferd in die Schwemme ritt. Der unkundige Reiter geriet in
eine tiefe Stelle des Sees. Das Pferd wurde unruhig und ũüber-
schlug sich beim Schwimmen; der Reiter verschwand in der Hlut.
In einem Augenblick warf Bismarck Säbel und Uniform von sich und
sprang ihm nach. Es gelang ihm auch, den Diener zu ergreifen
und mit ihm an die Oberfläche emporzukommen. Aber nun um-
klammerte dieser in der Todesangst seinen Retter und zog ihn in
den Abgrund hinab. Eine lautlose Pause angstvoller Spannung trat
unter der herbeigeströmten Menge ein; für einige Sekunden schien
es, als ob beide verloren wvären. Endlich war es Bismarck unter
dem Vasser gelungen, sich aus der gefährlichen Umarmung loszu-
ringen. Mãächtig rudernd erreichte er das Ufer und zog unter dem
lauten Jubel der Zuschauer den geretteten Diener nach sich ans Land.
Dieser edlen Tat verdankte Bismarek das schlichte Denkzeichen mit
der Inschrift: „Für Rettung aus Gefahr“, das er lange als einzigen
Ordensschmuck auf der Brust trug.
Fedox von Köppen. (Die Hohenzollern und das Reich.)
227. Aus dem Leben Kaiser Friedrichs III.
a) Kronprinz Friedrich Wilhelm und der Bayher.
1. Am Morgen nach der Schlacht bei Wörth fand der Kronprinz von
Preußen in einer kühlen Gartenlaube einen bayrischen Soldaten, der ebenso
tapfer frühstückte, wie er am Tage vorher tapfer auf die Franzosen eingehauen
hatte. Sowie der wackre Bayer den hohen Herrn erblickte, sprang er von
seinem Sitz in die Höhe und richtete sich kerzengerade auf. Dem Kronprinzen
gefiel der hübsche, kräftige Soldat. Er ging auf ihn zu, nannte ihn seinen
braven Kriegskameraden und sagte: „Ich freue mich, daß du dir's hier so
trefflich schmecken läßt und so fröhlich bist bei deiner Arbeit.“
2. Dem Bayern behagte diese Anrede, und da ihm der Mund auf der
rechten Stelle saß und nicht angefroren war, so erwiderte er: „Na, sollen's
mer nit lustig sein, Königliche Hoheit? Dös allein freut mi, daß mer setzt so
— 2———
Mi mternatiorn
ehusbe o νν
ν
EMA—oÒÈ
389 —
keckli raufen können, und hat uns keiner mehr dreinz reden.“ Der Kronprinz
lachte und sagte: „Ja, ja, ihr habt aber auch nach Noten gerauft, ihr braven
Bayern!“ Nun wurde der Baher erst recht redselig und fuhr fort: „Haben's
vielleicht gemeint, wir hätten keine Courage nit? Hätten's uns geführt dazu—
mal 1866, Königliche Hoheit, hätten's schauen sollen, wie wir die Malefiz—⸗
preußen sakrisch verhauen hätten.“ Der Kronprinz und seine Begleiter brachen
in ein schallendes Gelächter aus über diese freimütige Rede des Tapfern.
Dann griff der Kronprinz in die Tasche, langte ein Geldstück hervor und
gab es dem Bahern mit den Worten: „Du bist ein braver Junge, nimm dies
und trinke eins auf meine Gesundheit!“
Der „brave Junge“ wird sich den Befehl seiner Königlichen Hoheit gewiß
hinters Ohr geschrieben haben. Zu seiner Umgebung aber sagte der Kronprinz,
daß ihm noch nie ein Schmeichelwort so großes Vergnügen gemacht habe wie
dies offene Wort des bayrischen Soldaten. A. Wolter. GKaiser Friedrich UI.)
b) Der Kronprinz und der Vahnrich.
I. Es war im September des Jahres 1879. Auf dem groben
Exerzierplatze bei Königsberg hatte vor Kaiser Wilbelm die Parade
des I. Armeekorps sstattgefunden. Die von den Strapazen des Tages
ermüdeten Druppen, die vom frühen Morgen auf den Beinen gewesen
waren, hatten ihre Quartieère bezogen. Der Kaiser und der Kron—
prinz hatten in dem alten, ehrwürdigen Schlosse von Kõnigsberg
Wohnung genommen. Zu ihrer Wache war auber einem lteren
Offizier auch ein junger, äuberst strebsamer, aber nicht mit irdischen
Gutern gesegneter Degenfähnrich Kommandiert worden. Es war be—
reits sehr spãt am Abend. Der Kronprinz kehrte eben in Begleitung
seines Adjutanten von einer Pestlichkeit zurück, dié man ihm 2zu
Ehren veranstaltet hatte. An der Wachtstube vorüberschreitend,
winkt er dem auben stehenden Posten zu, die vorgeschriebene Ehren-
bezeigung diesmal zu unterlassen, und tritt an das Fenster, um einen
Blick in das Innere des Wachtlokals zu werfen. Drinnen im Offizier-
zimmer sab der junge Fähnrich, vorschriftsmähig angekleidet, am
Lische, das Haupt in dié Hand gestützt, die Augen geschlossen.
Die Anstrengungen des Tages waren zu grob gewesen; der Schlaf
hatte hn übermannt.
2. Leise trat der Kronprinz näher. Auf dem Tische vor dem
jungen Schläfer lag ein angefangener Brief, in dem die Worte
standen:
— 390 —
„Läiebe Mutter!
Heute nach der Parade habe ich erfahren, daß ich in den
nächsten Tagen zum Offizier befördert werde. Ereue dich mit mir!
Doch wie vwird's mit der Beschaffung der Offizierausrüstung? Du
hast alles für mich getan, bist arm, und ieh mub mir anderweitig
Rat schaffen. Schulden, ein herbes Wort! Und wer vird sie be
ahlen
Weiter war der arme Fahnrich in seinem Briefe niceht gekom-
men. In dem sorgenvollen Nachgrübeln über die letzte Erage war
er, ermüdet von dem scehweren Tage, eingeschlummert; jetzt lag ein
stiller, sorgenloser Eriede auf dem Antlitz des jungen Mannes. Von
Mitleid ergriffen, trat der Kronprinz näher, nahm ihm leise die Feder
aus der Hand und schrieb als die schönste Antwort auf die kummer-
volle Frage seinen Namen darunter:
„Eriedrich Wilhelm, Kronprinz“.
Dann entfernte er sich ebenso leises, den Schlummernden weiter
den Traumgeistern überlassond. Und fast schien es dem jungen
Mann, der bei seinem Erwachen aufs höchste erstaunt war, als oh
wirklich die Geister vährend seines Schlummers im Zimmer gewesen
vären. Kaum traute er seinen Augen, als er die wohlbekannten
Namenszüge des Kronprinzen in seinem Briefe fand. Ja, ein guter
Geist hatte vährend des Schlummers in seiner Nähe gewaltet, der
edle, menschenfreundliche Geist „unsers Eritæ“, der allen Leidenden
so gern ein Helfer war. — In seine Garnison zurũückgekebrt, fand der
junge Fähnrich ein Schreiben des Kronprinzlichen Hofmarschallamts
vor, das ihn aufforderte, nach stattgebabter Beschaffung einer voll-
stündigen Offigierausrüstung die Rechnung einzureichen.
Hermann Müller-Bohn. (Unser Fritz.)
c) Kaiser Friedrichs letzte Fahrt.
(6. Juni 1888)
„Ich sähe wohl gern (er sprach es stumm)
noch einmal die Plätze hier herum,
am liebsten auf Alt⸗Geltow zu! —
Und ihr kommt mit, die Rinder und du.“
5Das Dorf, es lag im Sonnenschein;
in die stille Rirche tritt er ein,
die Wände weiß, die Fenster blank,
zu beiden Seiten nur Vank an Bank.
Und auf der letzten — er blickt empor
— 39 —
10 auf Orgel und auf Orgelchor
und wendet sich und spricht: „Wie gern
vernähm' ich noch einmal Lobe den Hherrn!!
Den LCehrer im Feld, ich mag ihn nicht stören;
Vicky, laß du das Lied mich hören!“
15 Und durch die Rirche klein und kahl,
als sprächen die Himmel, erbraust der Choral.
Und wie die Cöne sein Herz bewegen,
eine Lichtgestalt tritt ihm entgegen,
eine Lichtgestalt, an den Händen beiden
20 erkennt er die Male: „Dein Cos war leiden,
du lerntest dulden und entsagen;
drum sollst du die Krone des Lebens tragen.
Du siegtest; nichts soll dich fürder beschweren:
Lobe den mächtigen Rönig der Ehren!“
25 Die Hände gefaltet, den Ropf geneigt,
so lauscht er der Stimme. — Die Orgel schweigt. —
Cheodor Fontane.
228. An Kaiser Wilhelm II.
L. In trauervollen Tagen
ward dein der Krone Zier;
denn um zwei Kaiser klagen
wir alle jetzt mit dir.
Auf ewig unvergessen
leuchtet der Toten Ruhm.
Aus Lorbeern und Zypressen
erstand dein Kaisertum.
2. Von Glorienschein umflossen,
so würdig und so mild,
steht wie aus Erz gegossen
des Ahnherrn Heldenbild.
Er hat den Sieg errungen
in Stürmen der Gefahr,
den goldnen Reif geschlungen
glorreich ins Silberhaar.
3. Der Sohn an seiner Seite,
wie er im Kampfe groß,
nun ruht auch er vom Streite
in ew'gen Friedens Schoß.
Ein Dulder auf dem Throue,
jetzt langer Qual entrückt,
denn eine Dornenkrone
ward ihm aufs Haupt gedrückt.
4. Zwei Sterne sind verblichen.
Glück auf dem neuen Herrn!
Denn dir, dem jugendlichen,
glänzt hell der Zukunft Stern.
Ausstrahle reichen Segen
der Herrscherkrone Gold;
auf allen deinen Wegen
sei Glück und Ruhm dir hold!
392
5. Umrankt, ihr Friedenskränze,
dies Zepter blütenreich;
es wecke geist'ge Lenze,
dem Zauberstabe gleich!
Wächst in des Landmanns Pflege
der Garben Fülle auf,
o Kunst und Wissen, lege
den schönsten Kranz darauf!
6. Und wenn's den Feind gelüstet,
dem Friedensreich zu drohn,
dann steht dein Volk gerüstet
sturmfest um deinen Thron.
Da mag der Feind zersplittern
an deinem Herrschersitz!
Du führst in Kriegsgewittern
des schwarzen Adlers Blitz.
Rudolf von Gottschall.
229. Kaiserlied.
1. Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Kaiser, dir!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil, Kaiser, dir!
2. Nicht Ross', nicht Reisige
sichern die steile Höh',
wo Fürsten stehn.
Liebe des Vaterlands,
Liebe des freien Manns
gründen den Herrscherthron
wie Fels im Meer.
3. Heilige Flamme, glüh,
glüh und verlösche nie
fürs Vaterland!
Wir alle stehen dann
mutig für einen Mann,
kämpfen und bluten gern
für Thron und Reich.
4. Handlung und Wissenschaft
hebe mit Mut und Kraft
ihr Haupt empor!
Krieger⸗ und Heldentat
sinde ihr Lorbeerblatt
treu aufgehoben dort
an deinem Thron!
5. Sei, Kaiser Wilhelm, hier
lang' deines Volkes Zier,
der Menschheit Stolz!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil, Kaiser, dir!
Balthasar Schumacher nach Neinrich Harries.
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig
*
guboch det berlagebuchhanan
Ferdinand hirl
Gortsetzung von der vordern Innenseile des Einbands)
6 Vermeide das Einatmen von staubiger oder übelriechender
Luft!
Arbeite im Sommer bei offenem Fenster; im Winter er⸗
neuere die Stubenluft täglich mehrmals durch gleichzeiliges
Sffnen der Curen und Fensier!
8. Wenn du erhitzt bist, so setze dich nicht der Zugluft aus!
9 Vies oder schreibe nie in der Dammerung! Feruge feine
Handarbeiten nicht bei u shwachem Lichte!
20. Beim Schreihen und Lesen halte den Oberksötper gerade und
neige den Bopf nicht mehr, als notig ist, nach porn! Die
Schrift muß wenigstens 35 cm von Auge entfernt sein
21 Bewahre das Auge vor jedem Stoße oder Druce
22 Bewahre das Ohr vor starken Erschütterungen!)
2 Bohre nicht mit spitzen Gegenständen im Ohre Und stecke
niccht feste Rorper in dasselbel
24. Wenn du krank bist, so befolge die Mordnungen der Eltern,
des Lehrers oder des Arztes!
25 Frühzeitig gewohne dich Schmerzen zeduldig zu ertragen.
Erne leiden ohne zu klagen!
26. Sprich in Gegenwart Erwachsener nur, wenn du gefragt wirst!
2 Sprich stets die Wahrhen
28. Sprich immer laut und deutlich kurz und bestinmtl!
29. Benutze treu deine Zeit! Erst die Arbeit dann die Ruhe!
Wohlgeregelte Arbeil erhalt gesund an Leib und Seele.
— —
Vachdruck erbolen
c
5
—“