— 12— An jedem Abend stellte sie die Lampe ans Fenster und schaute Tag und Nacht über die See hinaus, ob nicht der Bruder käme. 2. Es vergingen Monde, es vergingen Jahre, und noch immer kam der Bruder nicht. Elxke ward zur Greisin. Immer sabß sie noch am Fenster und schaute hinaus, und an jedem Abend stellte sie die Lampe aus und wartete. Endlich war es bei ihr dunkel und das gewohnte Licht erloschen. Da riefen die Nachbarn einander zu: „Der Bruder ist gekommen“ und eilten ins Haus der Schwester. Da saß sie da, tot und ssstarr ans Fenster gelehnt, als wenn sie noch hinausblickte, und neben ihr stand die erloschene Lampe. Karxl Müllenhoff. (Sagen, Märchen und Lieder usw.) 10. Die leine Schwester und der große Bruder. 1. Eine meiner liebsten Kindheitserinnerungen ist die an meine kleine Schwester. Licht und lieblich, freundlich und schelmisch, so stelit sie vor mir in meinen Gedanken. Ich war sechs und Bruder Anton sieben Janr alt, als wir eines Tages mit der Nachricht überrascht wurden: Ihr habt ein Schwesterchen bekommen. Sogleich stürmten wir in die Schlafstube hinein, und da lag ein winægiges, winaiges Schwesterchen in der WViege. Mit großer Neugier untersuchten wir ihre ꝛarten Händechen und das sleine Gesiehtehen; aber erst nach einigen Monaten bekamen wir Augen dafür, wie süß sie war. Bruder Anton liebte sie ꝛ2äürtlich. Er war es, der sie die ersten Schritte gehen lehrte, der isir beibrachte, Mutter“ 2u sagen, der erste, nach dem sie die Händchen ausstreckte, wenn er zur Tür hereintrat. Als sie ꝛuei Jalr alt war, da war sie buchstäblich Anton sstets auf den Fersen, so schnell sie das auf irgend eine Weise nur ausführen konnte. Ilir kleines Näschen drückte sie flach an die Scheiben, um ihrem großen Bruder nachsehen au können, wenn er aur Schule ging. 2. Ihres fünften Geburtstages hann ich mich deutlich er- innern. Wir Jungen wateten durch knietiefen Schnee nach Hause aus der Schule, heim ꝛum Schokoladenschmause au Ehren der kleinen Schwester. Die sah heute aus wie ein kleiner