— 119 Ein Postknecht ritt vorbei und sah ihn starr da liegen; er be— merkte jedoch einige Lebenszeichen an ihm, ritt schneller und zeigte es unter dem Tore der benachbarten Stadt an. Was hilft's?« sagten die hartherzigen Menschen; »bis wir hinaus⸗ kommen, ist er tot.« Ein armer Tagelöhner aber wärmte sich gerade in der Wacht— stube; er hörte es und empfand großes Mitleid mit dem Unglücklichen. Ohne ein Wort zu sagen, ging er sogleich auf die Landstraße hinaus, fand den erstarrten Handwerksburschen, rieb ihn mit Schnee, und der Erstarrte erwachte endlich wieder. Darauf führte ihn der Tagelöhner mit sich in die Stadt, nahm ihn in seine Stube auf und teilte mit ihm, was er hatte, bis der Handwerksbursche wieder weiterreisen konnte. Kaiser Joseph der Zweite erfuhr die schöne Handlung, rief den Tagelöhner zu sich nach Wien und belohnte ihn, wie er alle guten Handlungen, die ihm bekannt wurden, zu belohnen pflegte. Schubert. 171. Die Waisen. Ein edles Herz hatte ein berühmter Professor in Berlin, der bei all seiner Gelehrsamkeit doch nicht die notleidenden Menschen, be— sonders aber die armen Waisen, vergaß. Eines Tages ging derselbe spazieren, und als er über einen großen Platz kam, sah er auf der steinernen Treppe eines Hauses zwei Kindlein sitzen, ein Mägdlein und ein Knäblein. Das kleine Mägdlein weinte unaufhörlich; der kleine Knabe aber, der auf ihrem Schoße saß, schlummerte recht sanft. Da ging der Professor heran und sagte: »Warum weinst du, mein liebes Kind?« Das Mädchen antwortete: »Ja, ich muß wohl weinen, denn ich habe keinen Vater mehr, und unser gutes Mütterlein hat lange Zeit krank gelegen; heute ist es aber eingeschlafen. Da die Mutter so lange schlief, haben wir sie geweckt, aber sie wollte nicht aufwachen. Da ist denn endlich die Nachbarin gekommen und hat ge⸗ sagt: Ihr armen Kinder! Eure Mutter wacht nicht mehr auf, die ist lol. Dann hat sie uns ein Stück Brot gegeben und hat gesagt: Nun geht nur auf die Straße und setzt euch auf die Treppe, denn ihr könnt hier nicht länger bleiben. Ich bin auch blutarm; ach, wenn ich doch erst tot wäre, wie eure gute Mutter! Nun sitzen wir hier schon so lange; aber es will kein Vater und kein Mütterlein kommen. Ach, ich und mein Brüderchen, wir wollten dem neuen Vater und der neuen