— 12— 20. Die Tulpe. Die Tulpenzwiebel wird schon im Herbst in die Erde gesteckt. Hier bleibt sie den ganzen Winter hindurch unter Frost und Schnee liegen. Kaum aber hat im Frühling die Sonne den Schnee geschmolzen und die harte Eisrinde der Erde gebrochen, so öffnet sich oben die Zwiebel, und zwei dicke, blaugrüne Blätter ohne Stiel kommen hervor. Zwischen ihnen windet sich der runde, derbe Blumenstiel hindurch, der an seiner Spitze eine sechsblaätterige Blume trägt. Hart und dick, wie sie sind, machen sich die Blätter nichts aus dem Froste. Anfangs sind sie grün; aber allmählich nehmen sie im Glanze der Frühlingssonne die Farben an, in denen sie prangen sollen. Unten behalten sie jedoch einen weißgrünen Fleck. An der Spitze sind sie zierlich nach außen umgebogen und bilden daher einen großen Becher oder eine Glocke, die mit der Offnung auf⸗ wärts gewendet ist. Inmitten dieses Bechers steht der kurze dreikantige Stempel oder Griffel, umgeben von sechs messerförmigen Staubgefäßen, gleich schwarzen Klingen auf grünen Heften. Der Stempel hat oben eine dreieckige Narbe. Die Frucht ist eine dreifächerige Samenkapsel. So deutlich wie bei der Tulpe sind selten alle diese Teile bei einer Blume gebildet. Obgleich die Tulpe eine sehr schöne Blume ist, so fehlt ihr doch das, was uns an den Blumen am meisten erfreut — der Geruch. Sie ist daher das Sinnbild des Stolzes, denn das Hochtragen des Kopfes und die äußere Schönheit ohne inneren Wert sind Merkmale des Stolzes. 21. Die Tulpen und das Veilchen. Es war im April. Drei Tulpen standen bei einander auf dem Gartenbeete. Die eine war gelb, die andere rot, die dritte weib von Farbe. Stolz streckten sie ihre Stengel empor und schauten recht Leck in die Luft hinein. Da rief ihnen ein Veilchen zu, das am Rande des Beetes stand: «Nur nicht zu hoch hinaus, damit euch kein Unglück begegnetl» Allein die Tulpen verachteten den Rat des bescleidenen Plüumchens. Die rote blies sich nur noch mebhr auf, bis sie platzte und ihre Blütenblätter schlaff herab hingen und verwelkten. Jetzt sah sie so jammerlich aus, dab sie sieh vor allen Blumen schämen mubte. Bald darnach zogen am Himmel CEarze Wolken herauf, ein Windstob fuhr über das Gartenbeet und kniekte den Stengel der gelben Tulpe, weil sie sich nicht