101 Im bauchigen Kelche, der an seiner Mündung mit 5 Zähnen endet, sleckt eine zierliche, goldfarbige Röhre, oben breilet sich der Blumensaum wagerecht aus und zerspaltet sich in fünf schwach ausgerandete Teile. Aus der Milte der Röhre ragt der Stempel hervor. So gleicht die Blume ganz einem Schlüssel zu einem altdeutschen Dornschlosse. Aber es ist ein Schlüssel aus lebendigem, duftendem Gold; er öffnet kein irdisches Schloß, er ist nur gut genug für den Himmel. So nannte man denn das Blümchen „Himmelschlüsselchen.“ Weißt du wohl, wie das Himmelschlüsselchen es anfängt, daß es zuerst von allen seinen Geschwistern im Walde auf dem Platze ist? Du siehst, die Glocken und Winden, die Goldruten und Dolden, Habichtskräuter und Nelken schlafen noch sämtlich. Ich will dir das kleine Geheimnis des Hümmelschlüsselchens verraten. Als das Samenkörnchen, aus welchem die Primel entstanden ist, im vergangenen Sommer auf die feuchtè Erde fiel und die verrotteten Blätter des Strauches es deckten, säumte es nicht lange, sondern begann hurtig zu wachsen. Es benuhte jeden Augenblick Zeit, jedes Krümchen gute Erde und jede Spur Wasser daran. Zunächst verwendete es alles, was es erworben, um sich in der Tiefe gehörig zu befestigen. Ein Würzel— chen rieb's nach dem andern und streckte es im Grunde weiter und weiter Iedes Faserchen mußte sofort auch wieder mit arbeiten helfen und neue Nahrung herbeischaffen. Nach oben hin that es zunächst noch wenig. Nut ein lleiner Krauz von Blättern ward gefertigt. Aber auch diese Blätter waren fleißige Arbeiter. Sie tranken die Luft und das Licht und mischten die Saͤfte. Aus den Wurzeln strömte ihnen Nahrung zu, andere Nahrung sandten sie den Wurzeln wieder zurück. Und was war das Ende der ganzen Arbeit von Wurzeln und Blättern? Eine Knospe ward im Schude der Blätter dicht am Boden angelegt, von den Blatt— stielen umhüllt und niemand bemerklich. Die Primel verfährt damit so und verborgen wie ein Mensch, der einem andern eine Über— raschung bereiten will. In Wurzeln und Blättern lagerten außerdem noch Vorräte von Nahrung. So hat die Primel ihre Jugendzeit gut benutzt, um einen Schatz zu sammeln nach ihrer Art. Während des Winters schläft sie wie alle ihre Geschwister. Die allen Primelpflänachen haben schon Mitte Sommer ihre Samen gereift Ihre Stengel verdorren dann, und die Kräutchen gehen eben⸗ falls zeitig schlafen wie die Kinder, welche etwas anhe für der Mutter Geburlstag bereitet haben und am nächsten Morgen am ehesten aus dem Belte auf sein wollen. Kaum taut nun im nächsten März oder April die warme Frühlingssonne das letzte Schneehäufchen hin— weg und erwärmt den kälten Boden, so ist das Primel auch als kleiner Fruhauf schon munter, erhascht von den rinnenden Tropfen des April— egens d viel, als es trinken kann, und entwickelt die sorglich versteckte Kuͤospe. Diefe streckt sich rasch empor und wird zur lieblichen Blüte, die allen Leuten, welche zum Walde kommen, freundlich Glück zum neuen Blumenjahre wünscht. Wagner.