2 1 44. Der Knabe vor dem Spiegel. Der vierjährige Paul war allein in der Stube; da kletterte er auf die Kommode hinauf, um sein Steckenpferd herunter— zulangen. Über der Kommode hing aber der große Wandspiegel, und Paul sah in demselben einen kleinen Buben, der schaute ihn verwundert an. Der Bube im Spiegel war ein hübsches Bürschlein mit Locken, roten Wangen und hellen Augen, wie Paul. Und Paul lachte ihn an. Das Bürschlein lachte auch. Das gefiel dem Paul, und er winkte mit der Hand und sagte: „Komm, du darfst auf meinem Pferde reiten!“ Und das Bürschlein winkte auch mit der Hand. Paul schüttelte mit dem Kopfe und sagte: „Nein, du mußt zu mir kommen, ich komme nicht zu dir!“ Der Bube schüttelte den Kopf auch. Das ver— drießt Paul, und er macht ein böses Gesicht; der Bube auch. Paul macht ihm jetzt eine Faust. Der Bube macht auch eine Faust. Paul wird böse und streckt gegen den Buben die Zunge heraus. Der Bube streckt die Zunge auch heraus. Da ergreift Paul im Zorn sein Steckenpferd und haut nach dem schlimmen Buben. O weh! da zerschlägt er den Spiegel in hundert Stücke. Was werden Vater und Mutter sagen! 45. Der lügenhafte Hirtenknabe. Ein Hirtenknabe hatte sich das Lügen angewöhnt. Im Scherze, meinte er, dürfe man schon lügen. Oft rief er mit ängstlicher Stimme: Ein Wolf, ein Wolf! Wenn dann die anderen Hirten zusammenliefen, lachte er sie aus, daß sie so leichtgläubig wären. Eines Tages fiel wirklich ein Wolf in die Herde des Knaben ein. Da rief er wie sonst: Ein Wolf, ein Wolf! Aber die Hirten dachten: Dich kennen wir schon. Darum eilte auch keiner zu Hilfe, und der Wolf würgte ungestört in der Herde des Knaben. Was du sagest, das sei wahr; bleibe redlich immerdar; halte Wort in jedem Fall; dann traut man dir überall. 46. Der Wolf und die Ziege. Eine Ziege stand auf einem hohen Felsen. Ein Wolf sah die Ziege und wollte sie gern verzehren. Deshalb rief er ihr freundlich zu: „Komm doch herab, denn hier gibt es viel bessere Weide.“ Die Ziege aber merkte, was der Wolf wollte. Sie sprach: „Mein Leben ist mir lieber als die fette Weide.“