L Die heidnische Volkspoesie. Rustung mir abgezogen?“ Er antwortete: „Das Siegemunden-Kind hat's gethan, Siegfried's Schwert zerschnitt deinen Panzer!“ Sie sprach: „lange schlief ich, lange war ich eingeschlafen, lange sind der Menschen Leiden. Mit Runen hat's Odin gestiftet, daß ich meine schlummernden Augen nicht auf— schlagen konnte.“ Siegfried setzte sich nieder und fragte sie nach ihrem Namen, sie aber nahm ein Horn voll Meth und reichte ihm einen Gedächtnißtrank: „Heil dir Tag! Heil euch, Söhne des Tags! heil dir Nacht! heil dir, Tochter der Nacht! mit milden Augen schauet auf uns, verleihet uns Verbundenen Sieg! heil euch, Asen! heil euch, Asinnen! heil dir, segenbringende Erde! Rede und Weisheit verleiht uns edlen Beiden und heilende Hände lebelang!“ Dann sagte sie, daß sie Sigurdrifa heiße und eine Walküre sei. Zwei Könige hätten sich bekriegt, Helmgünther, alt und ein berühmter Held, und dem habe Odin Sieg verheißen, der andere Agnar, Auda's Bruder, dessen niemand sich hätte annehmen wollen. Sie erzählte weiter, daß sie ihm da beigestanden und den Helmgünther im Kampfe getödtet, aber Odin, zur Rache dafür, habe sie mit einem Schlaf⸗Dorn gestochen und gesagt, sie solle fortan nicht mehr den Sieg im Kampf erstreiten, sondern einem Mann zur Ehe gegeben werden. „Aber, sprach sie, ich that dagegen das Gelübde, keinem Manne mich zu vermählen, der vor etwas auf der Welt erschrecke.“ Siegfried bat sie, daß sie ihn Weisheit lehre, weil sie ja wisse, wie es in allen Landen stehe. Sie sprach: „Bier bring ich dir, du Baum in der Schlacht! hineingemischt sind Kräfte und großer Ruhm, voll ist's von Liedern und heilenden Sprüchen, gutem Zauber und Freuden-Runen. Sieg-Runen sollst du einschneiden, wo du Sieg dir wünschest, auf den Griff deines Schwertes, etliche auf die Seiten, etliche an die Spitze: zweimal sollst du Tyr's Namen dabei nennen. Bier-Runen sollst du kennen, wo du nicht willst, daß die Frau eines andern dich trüge in Treuen, wenn du ihr vertraust; auf's Trinkhorn sollst du sie einschneiden und auf der Hand Rücken und zeichnen ein Nauf den Nagel. Meer-Runen sollst du kennen, wo du willst die See-Rosse im Meer erhalten; auf's Vorschiff soll man sie einschneiden und auf des Steuers Seite, und Feuer in's Ruder legen. Wie schnell stürmend die Wellen sind, wie dunkel die Gewässer, du kommst doch unbeschädigt aus dem Meer. Zweig-Runen sollst du kennen, ob du hei— len willst und beschauen die Wunden. Auf die Rinde soll man sie einschnei— den und auf den Ast des Baumes, wo gen Osten die Zweige hinauswachsen. Gerichts-Runen sollst du kennen, wo du willst, daß niemand dir dein Leid mit Bosheit vergelte; die soll man winden, die soll man drehen, die soll man zu⸗ sammensetzen, allzumal auf dem Gerichtstag, wo die Männer zum Endurtheil hinfahren. Geistes-Runen sollst du kennen, willst du weis sein über alle Menschen; die errieth, die schnitt ein, die durchdachte Odin. Das sind Buch— Runen, das sind Hülf-Runen und alle Bier-Runen und die herrlichen Kraft⸗ Runen: jedem, der sie kennet, unverwirret und unverdorben, helfen sie zum Glück. Nütze sie, wenn du sie gelernt hast, bis die Götter vergehen. Nun sollst du wählen, du starker Waffen-Baum! weil dir Wahl ist gegeben; Nachruhm oder Vergessenheit, bedenk in deinem Herzen, abgemessen ist alles Unglück.“ Siegfried sprach: „nimmer werd ich fliehen, wüßtest du auch meinen Tod vor— aus, nicht bin ich mit Feigheit geboren; deinen treuen Rathschlägen aber will ich folgen, so lange ich lebe.“ Sigurdrifa sprach: „das rath ich dir zuerst, daß du gegen deine Freunde lebst fleckenlos. Räche dich nicht gleich, wenn du be— leidigt wirst, das ist rühmlich, sagt man, für den Todten. Das rath ich dir zweitens, daß du keinen Eid schwörest, der nicht wahrhaftig ist: schwere Fesseln