— 105 — also eine selbstständige politische Existenz. In der Folge jedoch, als in Alexander Mißtrauen und Argwohn gegen jedes unab- hängige Volksleben auftauchten, hatte er sich in Hinsicht auf Censur und Oeffentlichkeit der Verhandlungen im Reichstage zu manchen Beschränkungen der Verfassung veranlaßt ge- funben. Indessen war die russische Regierung zu Alexanders Zeit immer noch mit einer gewissen Mäßigung verfahren; anbers aber gestaltete sich bas Verhältniß, als Kaiser Nico- laus ben Thron bestieg, ber zwar bie äußeren Formen ber Verfassung bestehen ließ, aber ihre einzelnen Bestimmungen öfters verletzte.*) Was übrigens äußeres Glück, Ruhe und Wohlstand anbetrifft, so befand sich Polen unter russischem Scepter wohler, als zur Zeit seiner früheren Selbstständigkeit. Es herrschte Ordnung in der gesammten Verwaltung, und Unparteilichkeit in der Rechtspflege. Volksunterricht, Acker- bau, Handel und Kunstfleiß erfreuten sich der Begünstigung der Regierung. Aber alle diese Wohlthaten vermochten in den Polen die Erinnerungen an die verlorene Unabhängigkeit nicht zu erlöschen. Man fühlte, daß die verliehene Freiheit nur die Gnadenerweisung eines fremden Gebieters, kein sicher erworbenes Recht sei. Mit bitterem Schmerze gedachten die Polen ihrer früheren Selbstständigkeit, der Macht und Größe ihres alten Reiches und der glorreichen Thaten ihrer Ahnen; der Gedanke an die Theilungen ihres Staates, an Rußlands Gewaltthätigkeiten erfüllten den Geist der zertretenen Nation und forderte sie, wie ein blutiger Schatten, zur Wiederher- stellung der alten Herrlichkeit auf. Wenn aber auch in allen Schichten der Gesellschaft eine russenfeindliche Gesinnung herrschte, so war man doch über Mittel und Wege, zu einer politischen Wiedergeburt Polens zu gelangen, verschiedener Meinung. Eine Partei, die beson- *) In die Verschwörung beim Regierungsantritt des Kaisers waren auch einige hundert vornehme Polen verwickelt. Sie wurden einer Mi- litärcommission überwiesen, und erst auf die Beschwerden der Polen, deren Verfassung hierdurch verletzt war, vor den polnischen Senat ge- stellt. Die öffentliche Meinung sprach sich zu Gunsten der Angeklagten aus, und der Senat, eben so gesinnt, sprach sie frei. Diese Freisprechung rief den größten Unwillen in Nicolaus hervor, so daß er mißtrauischer und strenger gegen die Polen wurde.