318 Ueberlieferung mit ben geschichtlichen Volkskönigen ber Völkerwanderung vollzog sich im Munbe bes Volkes vor ber Zeit ber Hohenstaufen. Als biese herrschten, erwachte bie Lust jene Ueberlieferungen als Dichterwerke aufzuzeichnen. König Rother, bie Nibelungen, Gudrun würben ge¬ schrieben ; in ben späteren Jahrhunberten einzeln biese Stoffe in Verse gesetzt. Viele bieser Sagen kennen wir auch nur burch Erwähnung in anbern Gebichten, wie wir bies gleicherweise in ber griechischen unb rö¬ mischen Literatur erfahren haben. Wie viel poetischen Sammelfleiß unb schöpferisches Gestaltungs¬ vermögen hat es beburft, um den taufenbjährigen Schatz bes deutschen Volkes in seiner Ganzheit unb Herrlichkeit wieber aufzuerwecken, bie Helbengeftalten unserer homerischen Lieber, bas versunkene National¬ heiligthum, bie Nibelungen, bie wir für ein um so köstlicheres Gut achten sollten, als es „bas altgemünzte Golb unseres eigenen Sinnes unb Ge¬ müthes ist/' Wenn auch bas französische, bas lombarbische, bas engli¬ sche Volk, reich an einheimischen Sagenkreisen, jebes seine eigene epische Poesie ausgebilbet hat, so ist es boch nur bie engere ober weitere Ver¬ knüpfung an bie deutsche Dichtung, welche ihr ben hauptsächlichsten Werth verleiht, unb sie in ben vielstimmigen Accorb einfügt, welcher bie ver¬ schiedenartigen Bestanbtheile als harmonisches Ganzes zu faffen vermag. In bent Nibelungenlieb vereinigen sich bie Sagenkreise aller beutfchen Stämme: ber nieberrheinische, bessen Held Siegfried ist; ber burgunbifche, mit feinen Helben Günther, Gernot unb Giselher, mit Frau Ute ber Königin, Kriemhilb unb Brunhilb, unb ben tapfern Mannen ber Könige, unter ihnen Hagen unb Volker. Der britte Sagen¬ kreis ist ber oftgothische von Dietrich von Bern unb jgilbebranb; ber vierte Mittelpunkt ist Attila, ber Hunnenkönig, unb ber Schauplatz bie Etzelburg im heutigen Ungarn. Gewissenhaftes Stubium hat aus bent mächtigen Gedichte bereits zwanzig alte Volkslieber herausgefunden unb abgelöst, bie sich von ber Arbeit bes unbekannten Dichters, welcher bie letzte Hanb an bie Anorbnung unb Verschmelzung desselben legte, bebeu- tenb unterscheiben. Es warb der handschriftliche Schatz gefunden auf der Burg Ems in Graubündten in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals ward das Werk von dem Bearbeiter an Friedrich den Großen gesandt, welcher die vielberüchtigte Antwort ertheilte, die sich jetzt unter Glas und Rahmen in der Bibliothek zu Zürich befindet: „Ihr habt eine viel zu vorteilhafte Meinung von diesen Dingen. Meines Bedünkens sind sie nicht einen Schuß Pulver werth und würde ich sie nicht in meiner Bibliothek dulden, sondern herausschmeißen." Wie haben sich die Zeiten geändert! Jetzt weiß Jedermann, daß das Nibelungenlied der erste Edelstein in der Krone deutscher Dichtung ist und bei dem Klang der Worte: „Uns ist in alten Mären Wunders viel gesagt" (Ansang des Nibelungenliedes), muß sich jedes Deutschen