16 Charakter, Sitten und Gemeinöeleben der Germanen. §§ 14—15. für den Gau, der König, wo Königsherrschaft bestand, für den Staat die priesterlichen Dienste. Auch abgesehen von den Opfern und der Anrufung der Götter hatte man der religiösen Gebräuche viel: man warf das Los, beobachtete den Vogelflug, horchte auf das Wiehern der Rosse und suchte den Ausgang der Schlacht durch einen zuvor angestellten Zweikampf zu erkunden. Ebenso achtete man auf Tage und Zeiten, Neumond und Vollmond. — Die großen Tugenden des Volkes, Tapferkeit, Keuschheit, Wahrhaftigkeit und Gastfreiheit, fanden nur in den Lastern des Trunkes und des Spieles einen entstellenden Gegensatz; aber selbst in diesen noch konnte man Stärke des Muts und Ehrenhaftigkeit der Gesinnung bewundern. § 15. So etwa schildert uns Tacüus den Charakter, so die Sitten unserer Vorfahren; ein vollständigeres Bild von ihrem Sein und Wesen ge- Winnen wir aber erst, wenn wir uns auch das Gemeinde leben der Germanen vorstellen. Tacitus gibt uns auch hier reichen Stoff, und andere Quellen ergänzen seine Skizze zu volleren Formen. Alle Freien hatten an dem Gemeindeleben Anteil. Es gab zwar neben den Freien noch Edelinge (einen Adel); aber sie bildeten keinen die Freien drückenden Stand; dazu war ihre Zahl viel zu gering. Ein größeres Ansehen, das vielleicht schon lange Zeit hindurch vom Vater auf den Sohn vererbt war, wohl auch damit verbunden ein größerer Besitz, zeichnete sie allein aus. Das nächste und heiligste Band bildete die Familie, ein weiteres die durch Blutsverwandtschaft verbundene Sippe; in ihnen fand der einzelne seinen Schutz und seine Gewähr; für Tötung und Verletzung traten sie ein zur Rache oder Acht. Doch konnte vor der Gemeinde der Verletzte sich mit ihnen abfinden durch eine bestimmte Buße, indem er das Wergelb zahlte: so ward der furchtbare Brauch der Blutrache gemildert. Die benachbarten freien Grund* Besitzer bildeten unter sich zunächst die Markgenossenschaft, die zusammen ihre Allmende (§ 14) — Wald, Wiese, Moor und Weide — nutzte. Die einfachste politische Gemeinschaft war der Gau, der meist natürliche geographische Grenzen hatten. An der Spitze eines jeden stand ein von den Freien gewählter") Gaufürst, dem in den Gauversammlungen der Vorsitz,, im Kriege die Führung der Gaugenossen zukam. Jährlich mindestens einmal, bei Voll- oder Neumond, trat die ganze Völkerschaft, die sich aus einer Anzahl von Gauen zusammensetzte und einen Staat bildete, zur Ver- sammlung, zum Ding, öffentlich unter freiem Himmel zusammen. Das. Volk erschien gewaffnet, die Versammlung diente zur Heerschau und zur Beratung über die wichtigsten Angelegenheiten der ganzen Völkerschaft; es. wurde über Krieg und Frieden entschieden, Fürsten wurden gewählt und wichtige Rechtsentscheidungen getroffen. Zog die ganze Völkerschaft in den Krieg, so wurde aus der Zahl der Fürsten ein Herzog gewählt, der den Oberbefehl führte und nach der Beendigung des Krieges wieder in seine frühere Stellung zurücktrat. — Neben Edlen und Freien gab es Halbfreie oder Hörige (sogenannte Liten oder Letten), die ein Eigentum gleichsam nur in Erbpacht besaßen und dem eigentlichen Grundherrn Steuern entrichteten, und vollständig Unfreie oder Knechte, die als kauf- und tauschbare Sache *) Für die Wahl des Fürsten gilt, was Lamprecht, Dtsch. Gesch. I, S. 125, sagt: »Es mar keine bis ins kleinste abgekartete, nach allen technischen Erwägungen und Er- fahrungen etwa unseres vielwählenden Zeitalters ausgestattete Ordnung, durch welche der Häuptling berufen ward. Er wurde überhaupt nicht so sehr berufen, als er nach Geburt und Verdienst unter dem Beifall der Gemeinde, welcher er angehörte, in den Beruf des Herrschers hineinwuchs."