Die Wiedergeburt Preußens. 229 Er hatte die rheinischen Feldzüge in der Nähe beobachtet und die Über¬ zeugung gewonnen, die er einmal der Kaiserin von Rußland vor versammeltem Hofe aussprach: das Volk sei treu nnd tüchtig, nur die Erbärmlichkeit seiner Fürsten verschulde Deutschlands Verderben. Er haßte die Fremdherrschaft mit der ganzen dämonischen Macht seiner naturwüchsigen Leidenschaft, die, einmal ausbrechend, unbändig wie ein Bergstrom dahinbrauste; doch nicht von der Wiederaufführung der verlebten alten Staatsgewalten noch von den künstlichen Gleichgewichtslehren der alten Diplomatie erwartete er das Heil Europas. Sein freier großer Sinn drang überall geradaus in den sittlichen Kern der Dinge. Mit dem Blick des Sehers erkannte er jetzt schon die Grundzüge eines dauerhaften Neubaus der Staatengesellschaft. Das unnatür¬ liche Übergewicht Frankreichs — so lautete sein Urteil — steht und fällt mit der Schwäche Deutschlands und Italiens; ein neues Gleichgewicht der Mächte kann nur erstehen, wenn jedes der beiden großen Völker Mitteleuropas zu einem kräftigen Staate vereinigt wird. Stein war der große Staats¬ mann, der die treibende Kraft des 19. Jahrhunderts, den Drang nach nationaler Staatenbildung ahnend erkannte; erst zwei Menschen¬ alter später sollte der Gang der Geschichte die Weissagung des Genius recht- fertigen. Noch war sein Traum vom einigen Deutschland mehr eine hoch¬ herzige Schwärmerei als ein klarer politischer Gedanke; er wußte noch nicht, wie fremd Österreich dem modernen Leben der Nation geworden war, wollte in den Kämpfen um Schlesien nichts sehen als einen beklagenswerten Bürgerkrieg. Immerhin hatte er schon in jungen Jahren die lebendige Macht des preußischen Staates erkannt und, weit abweichend von den Gewohnheiten des Reichsadels, sich in den Dienst der protestantischen Großmacht begeben. . . . Als er dann auf der roten Erde die noch lebensfähigen Überreste altgermanischer Gemeindefreiheit und altständischer Institutionen kennen lernte, als er die gemeinnützige Wirksamkeit der Landstände, der bäuerlichen Erbentage, der Stadträte und Kirchensynoden beobachtete und damit die formensteife Klein¬ meisterei, die allfürsorgende Zudringlichkeit des königlichen Beamtentums verglich, da überkam ihn eine tiefe Verachtung gegen das Nichtige des toten Buchstabens und der Papiertätigkeit. Mit harten und oftmals ungerechten Worten schalt er auf die besoldeten, buchgelehrten, interesselosen, eigentumslosen Buralisten, die, es regne oder scheine, die Sonne, ihren Gehalt aus der Staatskasse erheben und schreiben, schreiben, schreiben. So in rüstigem Handeln, in lebendigem Verkehr mit allen Ständen des Volkes bildete er sich nach und nach eine selbständige Ansicht vom Wesen politischer Freiheit, die sich zu den demokratischen Doktrinen der Revolution verhielt wie die deutsche zur französischen Staats¬ gesinnung. . . . Der eigentliche Quell seiner politischen Überzeugung war ein starker, sittlicher Idealismus, der, mehr als der Freiherr selbst gestehen wollte, durch die harte Schule des preußischen Beamtendienstes gestählt worden war. . . . Es war der Schatten seiner Tugenden, daß er in den verschlungenen Wegen der auswärtigen Politik sich nicht zurechtfand und die unentbehr¬ lichen Künste diplomatischer Verschlagenheit als niederträchtiges Finassieren verachtete. Ihm fehlte die List, die Behutsamkeit, die Gabe des Zauderns und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er sich mit vollendeter Sicherheit. Wenn aber eine Aussicht auf die Befreiung seines Vaterlandes sich zu er¬ öffnen schien, so verließ ihn die besonnene Ruhe, und, fortgerissen von dem