46. Die Jungfrau von Orleans (1429). 101 beschloß Karl VII., sich nach dem äußersten Süden des Landes zurück- zuziehen. In dieser höchsten Not erstand Frankreich unerwartet ein Retter der wunderbarsten Art. 2. Auftreten der Jungfrau (1429). Es war im Frühjahr 1429, als am Hofe Karls VII. eine Jungfrau in männlicher Kleidung erschien, die sich ^als gottgesandte Befreierin Frankreichs ankündigte. Sie hieß Johanna d'Are und war die Tochter eines Landmannes in Lothringen. Diesem einfachen Mädchen war die Not des Königs und des Vaterlandes tief zu Herzen gegangen; schlaflos lag sie oft auf ihrem Lager, grübelnd und betend. Endlich — so meinte sie — hatte sie himmlische Er- scheinnngen, und die heilige Jungfrau trug ihr, dem siebenzehnjährigen Mädchen, auf, Orleans zu entsetzen und den König nach Reims zur Krönung zu führen. So begab sie sich denn ohne Furcht zum Könige und sprach: „Wohledler Dauphin, ich bin Johanna, die Magd. Mir ist vom Himmel der Auftrag geworden, Eure Feinde von Orleans zu vertreiben und Euch nach Reims zu führen. Dort werdet Ihr, nehmt Ihr meine Dienste an, die Krone von Frankreich empfangen." Obwohl der König, den sie nie gesehen, sich unter die Hofleute gemischt hatte, soll sie ihn doch auf der Stelle erkannt, ihm auch Geheimnisse entdeckt haben, die auf natürliche Weise außer ihm kein Mensch wissen konnte. So fand sie denn Glauben. Bald erschien sie öffentlich, in glänzender Rüstung und auf einem prachtvollen Streitrosse reitend, während ein weißes Banner mit dem Bilde des Heilandes vor ihr hergetragen wurde. Dem staunenden Volke erschien sie wie ein überirdisches Wesen, und begeistert griff man zu den Waffen. 3. Entsatz von Orleans. Als die Engländer von der Jungfrau hörten, spotteten sie,- daß ein Mädchen Frankreich retten solle, nachdem die besten Männer es nicht vermocht hatten. Sie mußten aber bald erfahren, daß die Franzosen jetzt ganz andere Gegner waren. Schon zog die Jungfrau an der Spitze einer Schar gegen Orleans heran, um der bedrängten Stadt Lebensmittel und Mannschaft zuzuführen. Zuvor hatte sie strenge Zucht und Ordnung unter den Soldaten wieder¬ hergestellt und alle beichten lassen. Glücklich gelangte sie in die Stadt und wurde mit Jubel empfangen. Ihr erster Gang war in die Kirche, um Gott zu danken. Unter ihrer Anführung machten die Franzosen nun glückliche Ausfälle und eroberten eine englische Schanze nach der andern. Immer mehr hob sich der Mut der Franzosen; die Engländer aber empfanden ein Grauen vor der rätselhaften Jungfrau. Sie stehe mit dem Teufel im Bunde, meinten sie, und da war kein Halten mehr unter ihnen, wenn es hieß: „Die Jungfrau kommt!" Schon neun Tage nach Johannas Erscheinung mußte die Belagerung aufgehoben werden. Von dieser ihrer ersten Tat erhielt Johanna den Namen „Jungfrau von Orleans". 4. Krönung des Dauphins. Nachdem Johanna ihr erstes Ver¬ sprechen erfüllt hatte, schickte sie sich an, das zweite zu lösen. Sie begab sich zum Könige, kniete vor ihm nieder und sprach: „Wohledler Dauphin, kommt jetzt und empfanget die heilige Salbung und Eure königliche Krone zu Reims!" Nun waren alle Städte auf dem Wege nach Reims