92 Rücksicht: er ließ die Sabbatfeier bestehen und machte Jerusalem zur Kibla, d. H. zu dem heiligen Ort, nach welchem die Gläubigen ihr Antlitz im Gebet kehren sollten. Als aber die Juden in ihm so wenig wie einst in Jesus den erwarteten Messias erkennen wollten, vielmehr den neuen Pro¬ pheten zum Gegenstand ihres Spottes machten, wendete er sich wieder mehr dem alten arabischen Glauben zu. Er verlegte die Kibla nach Mekka, bestimmte den Freitag zum Tag der Andacht und religiösen Feier und schwang in der Folge die Geißel religiöser Verfolgung ohne Unterschied über Juden und Heiden. Um den ausgewanderten Mekkanern, die in der Fremde häufig von Krank¬ heiten und Heimweh befallen wurden, den Verlust ihrer Verwandten und Ange¬ hörigen zu ersetzen, stiftete Mohammed eine Verbrüderung zwischen 54 Gläubigen aus Mekka und der gleichen Zahl aus Medina, also daß zwei durch diese „G laubens- brüderschaft" verbundene Männer in allen Dingen, selbst in der Erbschaft, ein¬ ander näher stehen sollten als Blutsverwandte, eine Einrichtung, die jedoch nur so lange dauerte, bis die Fremdlinge sich eingelebt hatten. In Medina beginnt eine zweite Periode in der Entwickelungsgeschichte des Islam. Aber so glänzend und erfolgreich von da an Mohammeds prophetisches Wirken sich entfaltete, sein Charakter war während der Zeit seines Glückes weniger fleckenlos, seine Ueberzeugung weniger aufrichtig, seine Motive weniger lauter als in der dunkeln, leidensvollen Zeit der Verfolgung und Unterdrückung. Seine Offenbarungen, die er nach dem jedesmaligen Bedürfniß durch den Engel Gabriel empfing und die als „Sprüche der Begeisterung" theils durch mündliche Tradition theils in losen Blättern unter dem Volke sich verbreiteten, bis sie als Heilige Schrift (Koran) zu einem Ganzen vereinigt wurden, waren hie und da nicht ohne Anbequemung an die Zeitumstände und an seine Gelüste, eine Veränderung die sich auch in der Form und Sprache erkennen läßt. Denn während in den zu Mekka verfaßten Stücken die poetische Begeisterung oft bis zum Uebermaß vorherrscht, tritt in Medina mehr das oratorifche ^Element in den Vorgrund, da Mohammed, allzu sehr an das Positive gefesselt, sich nun nicht mehr so frei bewegen konnte. Er mußte auch bei dem eintretenden Mangel an eigener Ueberzeugung, wenn er sich noch über das Gewöhnliche erheben wollte, den innern Drang durch erkünstelte Belebtheit, tiefgefühlte Wahrheit durch leere Sophismen ersetzen, und man merkt es seiner Schreibart wohl an, daß seine Gedanken nicht mehr aus einem warmen Herzen her¬ vorsprudeln, sondern Erzeugung des kalten Verstandes sind. Jetzt konnte er nicht mehr, den Eingebungen des Gemüths folgend, feiner Rede ihren natürlichen Lauf lassen; jetzt mußte Alles vorher überdacht und berechnet werden, denn er war nicht mehr vom Geiste Gottes, sondern von feinern eignen Ich getrieben. Die erste Moschee, die bald nach seiner Ankunft in Medina errichtet wurde, ein einfaches, kunstloses Gebäude aus Holz von Dattelbäumen, wurde ein heiliger Mittelpunkt feiner Lehre. ^ Von dem Dache derselben rief Bilal, der standhafte Bekenner, täglich fünfmal die Gläubigen zum Gebet aus. Bisher war der Islam eine Religion des Friedens und der Steiße ge¬ wesen, und kein Gebot hatte Mohammed mehr eingeschärft als das der Milde in Wort und That. Nunmehr aber, da er sich an der Spitze einer ergebenen Schar von Anhängern sah, da ihm die Möglichkeit gegeben war, mit Waffengewalt feinen Feinden entgegen zu treten, mit Waffengewalt