— 27 — Nächsten sei dir so werth wie die deinige, sei nicht geneigt zum Zorne und bessere dich einen Tag vor deinem Tode; wärme dich an dem Feuer der Weisen, aber hüte dich vor ihren glühenden Kohlen, dass du dich nicht daran verbrennest.“ R. Josua, der seinem grossen Lehrer an Bescheidenheit und Kenntnissen am ähnlichsten war, stand in Bekiin einem von ihm gegründeten Lehrhause vor. Seines Gewerbes ein Kohlenbrenner und von abschreckend hässlichem Aeussern, stand er doch wegen seines Charakters und stets schlagfertigen Witzes in hoher Gunst bei dem kaiserlichen Hofe, bei dem er sich für seine Glaubensgenossen oft verwendete. § 2. R. Gamliel ü. und seine Zeitgenossen. Mit dem Tode R. Jochanan’s hörte auch die von ihm angestrebte und auf¬ recht erhaltene Einheit auf. Infolge der ausserhalb Lyddas gegründeten Lehr- häuser traten die früheren Streitigkeiten der hillel’schen und schammai’schen Schulen wieder stärker hervor, sodass der eine Lehrer für verboten hielt, was nach dem ändern gestattet war. Diese Streitigkeiten zu beseitigen und die Ein¬ heit wieder herzustellen, war R. Gamliel ü., auch R. Gamliel von Jabne ge¬ nannt, als Nachfolger R. Jochanan’s und als Nasi berufen (80). R. Gamliel, Sohn des von den Römern getödteten Simon, verband mit tiefer Kenntniss des Gesetzes auch allgemeines Wissen und war namentlich ein Freund der griechischen Sprache. Voll Milde und Nachgiebigkeit im Privatleben, hielt er mit aller Strenge auf die Autorität seiner Würde und führte im Drange nach Einheit den Bann ein, welchen er über die bedeutendsten Männer verhängte. Seine Strenge bewies er besonders gegen die früher genannten R. Elieser und R. Josua. Letztem forderte er auf, an dem Tage, der nach R. Josua’s Be¬ rechnung der Versöhnungstag, seiner eigenen Meinung nach aber ein gewöhnlicher Werktag war, mit Stab und Reisekleidern vor ihm zu erscheinen. R. Josua ge¬ horchte, aber die Mitglieder des Synhedrion waren über die harte, verletzende Weise, in der der Nasi ihm begegnete, so empört, dass sie ihn seines Amtes entsetzten und den jugendlichen, reichen R. Eleasar ben Asarja, der ein Ab¬ kömmling Esra’s und bei den römischen Behörden beliebt war, an seine Stelle wählten. R. Gamliel bot alsbald die Hand zur Versöhnung, suchte den von ihm beleidigten R. Josua in seiner ärmlichen Wohnung auf und lebte, wieder in sein Amt eingesetzt, in Eintracht mit den Mitgliedern des Synhedrion. Er traf mehrere wichtige Einrichtungen, ordnete das Kalenderwesen, führte be¬ stimmte Gebetformeln ein und liess von Simon aus Pikole das Achtzehngebet (Tephilla oder Sch’mone Esre) sowie von Samuel dem Elleinen das Gebet gegen die Angeber redigiren; auch steuerte er dem in seinei Zeit herrschenden Luxus bei Leichenbestattungen. Zeitgenosse R. Gamliel’s war Akylas oder Aquila (Onkelos), ein reicher Römer aus der Landschaft Pontus, der zum Judenthum übertrat und eine neue griechische Uebersetzung der heil. Schrift verfasste, von der übrigens nur noch Bruchstücke vorhanden sind; die aramäische Uebersetzung, welche ebenso wie die dem Jonathan ben Usiel zugeschriebene Paraphrase der Propheten erst in späteren Jahrhunderten entstanden ist, trägt mit Unrecht seinen Namen.