- 52 - der grösste Theil des Tischgebetes, die Danksprüche bei sinnlichen Genüssen, die Benedictionen bei Ausübung gewisser Ceremonien u. dgl. m. Im 3. Jahr¬ hundert traten Eab und Samuel, die früher erwähnten Stifter der babylonischen Akademien, als Gebetordner auf; von ersterem stammt auch die Mussafthefilla des Neujahrsfestes mit „Alenu“, einzelne Gebete des Versöhnungstages u. a. m. Die Sprache der altern Gebete ist hebräisch, einfach, klar und erhebend, nur wenige sind aramäisch, wie das Kaddisch, das, ursprünglich nur am Schlüsse der Predigt vorgetragen, erst später als Gebet aufgenommen und erweitert wurde. Mehrere in der damaligen Landessprache, der aramäischen, verfassten Gebete, wie „Jekum purkon“, stammen aus den babylonischen Akademien. Ueber die Einführung des „Kol nidre“, des Einleitungsgebetes zum Versöhnungstage, das Judenfeinden so oft Gelegenheit bot, die Juden und deren eidliche Treue zu verdächtigen, wurde schon in der Mitte des 9. Jahrhunderts gestritten. Gebetbücher (Siddurim) gab es in der talmudischen Zeit nicht. Die Ge¬ bete wurden von dem Vorbeter (Schliach-zibbur, Bevollmächtigter der Gemeinde, später Chasan), und als solcher konnte jedes kundige und fromme Gemeinde¬ mitglied fungiren, vorgetragen, und die Mitwirkung des Einzelnen beschränkte sich auf das „Amen“ und auf kurze Eesponsorien. Gelehrte Vorbeter pflegten die Gebete frei auszuschmücken, zu erweitern und neue Stücke anzufügen. Eine wesentliche Erweiterung erhielt der Gottesdienst an Sabbat-, Fest- und Busstagen durch die synagogalen Poesien, welche unter dem Namen Piutim (auch Kerobot und Jozerot) bekannt sind, und deren Verfasser Pai- tainin (Poetanim, Dichter) genannt werden. Zu diesen synagogalen Poesien ge¬ hören: Selichot, Gebete für Busstage, Hoschanot, für die Umzüge am Hütten¬ feste, Asharot, Aufzählung der 613 Gesetze für das Wochenfest, Aboda, Schilderung des Tempeldienstes am Versöhnungstage, Kinot, Klagelieder für den 9. Ab, Se¬ mirot, Gesänge für den Sabbat. Sie sind meistens in hebräischer, seltener in aramäischer Sprache geschrieben. Zu den ältesten Paitanim, deren Namen uns erhalten sind, gehören: Jose ben Jose, der wahrscheinlich im 8. Jahrhundert in Palästina lebte und von dem die in unserm Ritus am 2. Neujahrstage reci- tirte Tekiata „Aliallalo“ herrührt; Elasar ben Kalir, der fruchtbarste der Paitanim, der, vermuthlich selbst Vorbeter, c. 750 in Palästina lebte. Er ent¬ lehnte den Stoff seiner Poesien der Halacha und Hagada, und musste, um sprach¬ liche Schwierigkeiten zu überwinden, neue Wortbildungen schaffen, sodass seine Sprache oft dunkel und unverständlich ist. Seine poetischen Festgebete, welche den ganzen Jahrescyklus umfassen (Machsor), wurden in die Synagogen Italiens, Frankreichs und Deutschlands eingeführt. Seine Schule reicht bis c. 1100 und bildet die Blüte des paitanischen Zeitalters. Durch die synagogale Poesie, auf deren reiche Literatur wir noch zurück¬ kommen, wurde der Gesang in die Synagoge eingeführt und sowol die lange Zeit übliche Uebersetzung der in hebräischer Sprache vorgelesenen Perikope in die Landessprache, als auch der belehrende Vortrag oder die Predigt allmählich verdrängt.