— 86 — 15. Als der gute Markgraf Rüdiger all das unsägliche Leid auf beiden Seiten sah, mußte er bitterlich weinen. „Wehe!" rief er, „daß diesem großen Jammer niemand wehren kann." Dennoch wollte er es noch einmal versuchen, und er sandte nach Dietrich und ließ ihn fragen, ob sie es'nicht noch bei dem Könige wenden könnten. Aber Dietrich ließ ihm antworten: „König Etzel will von keiner Sühne mehr wissen." Da sah ein Hunne Rüdigern da stehen mit weinenden Augen, und er sprach zu der Königin: „Nun seht ihn doch, den der König Etzel vor allen andern erhöht hat, dem Land und Leute dienen und viele Burgen durch Etzels Gnade zu eigen sind! Er hat noch keinen Schlag in diesem Kampfe gethan. Mich dünkt, ihn kümmert wenig, was uns hier geschieht, wenn er nur nicht zu leiden hat. Große Kühnheit hat man stets ihm nachgerühmt, aber noch nichts hat er davon gezeigt in diesen schlimmen Tagen." — Das war zu viel für den guten Rüdiger. Mit geballter Faust lief er den Spötter an und schlug ihn mit solcher Kraft, daß er tot zu Boden stürzte. Da sprach Etzel zu ihm: „Ihr helft uns übel, Markgras Rüdiger! Wir hatten doch der Toten schon so viel im Lande, daß wir nicht mehr bedurften. Mit Unrecht habt ihr ihn erschlagen." Auch die Königin sprach mit weinenden Augen: „Womit verdienten wir das, daß ihr unser Leid auf solche Weise noch mehrt? Ihr habt uns doch gelobt, allezeit Ehre und Leben für uns zu wagen. Nun mahne ich euch der Treue, die mir eure Hand schwur, als ihr mich für Etzeln warbet, daß ihr mir dienen wolltet bis an den Tod und all mein Leid rächen." — „Ja," erwiderte Rüdiger, „ich wollte stets bereit sein, Ehre und Leib für euch zu wagen; allein die Seele zu verlieren, das habe ich nicht geschworen. Ich habe die edelen Fürsten vom Rheine zu diesem Fest hergeleitet und muß auch ihnen nun die Treue halten." Krimhild bat von neuem; auch Etzel begann, den Markgrafen um Hülfe anzuflehen. — Da kam der treue Rüdiger in große Ge¬ wissensnot, und klagend sprach er: „D weh mir Gottverlassenen, daß ich diesen Tag erleben muß! All meiner Ehren soll ich nun verlustig gehen. Wär ich doch lieber tot. als daß ich nun die Treue, die Gott mir gebietet, verletzen soll! Was ich auch thue, wem ich auch beistehen möge, so ist es immer böse gehandelt. Und stehe ich weder dem Könige noch meinen Freunden vom Rheine bei, so wird man mich von beiden Seiten treulos nennen. 0 Gott vom Himmel, erleuchte mich, daß ich wisse, was ich in dieser Not thun soll!" — Aber der König und die Königin ließen nicht ab von ihrem Bitten. Da bot ihnen Rüdiger Land und Burgen zurück und sagte, er wollte gern bloß und elend in die Verbannung gehen. Aber Etzel erwiderte: '„Alles, was du bis jetzt zu Lehen hattest, will ich dir zu eigen geben; ein reicher und gewaltiger König sollst du neben mir sein, wenn du mich an meinen Feinden rächen willst." — „Es ist nicht möglich," sprach Rüdiger dagegen; „gastfreundlich nahm ich sie in meinem Hause auf, den Fürsten gab'ich Geschenke wie auch ihren