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age unö Geschichte.
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Dr. K. Abicht.
Zweiter Teil:
Biographische Geschichtsbilder aus alter und neuer Zeit für den vorbereitenden geschichtlichen Unterricht ((Quinta).
Heidelberg.
Carl Winters Universitätsbuchhandlung. 1883.
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Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort.
Die Namen der Verfasser der biographischen Geschichtsbilder sind in der Inhaltsübersicht (S. 214 und 215) angegeben.
Kürzere Abschnitte sind ferner entnommen aus: Wernicke Geschichte der Welt, H. Dittmar Leitfaden der Geschichte, neu bearbeitet von G. Dittmar (namentlich in den Darstellungen Napoleons und Kaiser Wilhelms), Weltgeschichte in Biographieen, herausgegeben von den Oberlehrern der Annaberger Realschule (insbesondere in den Darstellungen: Epameinondas und Pelopidas, Hannibal, Zerstörung Karthagos, Gndruu, Karl der Große, Gustav Adolf), David Müller deutsche Geschichte
(S. 153. 180 des Lesebuchs), Georg Weber Weltgeschichte im Umriß
(S. 190 des Lesebuchs), K. Kappes Erzählungen aus der Geschichte
(S. 106. 167. 168 des Lesebuchs).
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Griechenland.
Die dorische Wanderung.
Das Volk der Hellenen zerfiel in vier verschiedene Stämme, welche 1104 sich nach den Söhnen und Enkeln seines Stammvaters Denkalion, Aioler, u' 61)1' Achaier, Joner und Dorer nannten. Unter diesen hatten die Dorer, ein tapferes Bergvolk der kleinen Landschaft Doris in Mittelgriechenland, anfangs das kleinste Gebiet inne. Etwa 80 Jahre nach dem trojanischen Kriege wanderte aber der größte Teil dieses Stammes nach dem Peloponnes und bemächtigte sich fast der ganzen Halbinsel. Dies geschah auf folgende Weife: Temenos, Kresphontes und Aristodemos, angeblich die Urenkel des Herakles, hatten, wie fchon ihr Vater und Großvater, seit langem auf die Herrschaft über den Peloponnes Anspruch gemacht, weil ihr Ahnherr Herakles dnrch Enrystheus aus demselben verdrängt war. Um das Jahr 1104 gelang es jenen drei Herakliden, die meisten Männer des dorischen Stammes zu einem Heereszug gegen den Peloponnes zu bewegen, den sie als eine von ihrem Ahnherrn Herakles hinterlassene Erbschaft betrachteten. Sie fetzten bei Naupaktos über die Meerenge, welche die Halbinsel vom griechischen Festlande trennt, und eroberten bald den größten Teil des Peloponnes. Darauf teilten sie das eroberte Laud und gründeten dort neue Reiche, unter denen Sparta, Meffene uni) Arges die bedeutendsten waren. In Sparta ging der Name der Stadt auf die Sieger über, die sich Spartaner nannten, während die unterworfenen Einwohner Lakedaimonier hießen. Diejenigen Ureinwohner, welche lange Widerstand geleistet hatten, wurden nach der eroberten Stadt Helos „Heloten" genannt. Über Sparta herrschten die beiden Söhne des vom Blitz getroffenen Aristodemos, Prokles und Eurystheues, die Stammväter der beiden spartanischen Königshäuser.
Abicht, Lesebuch. II.
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Lykurgos.
Lulruryos.
(Nach K. L. von Roth.)
880 Unter den Staaten Griechenlands gelangten bald zwei znr größten v. Chr. Bedeutung, Sparta (oder Lakedaimon) im Peloponnes und später Athen in Mittelgriechenland (oder Hellas).
Die Stadt Sparta lag kreisförmig am westlichen Ufer des Enrotas, welcher nach Süden vom Gebirge Taygetos herabströmt. Hier war der Wohnsitz der Spartiaten, der Nachkommen der dorischen Einwanderer. Jahrhunderte lang behauptete Sparta das größte Anseheu im Peloponnes; es verdankte die lange Dauer seiner Macht besonders den weisen Gesetzen des Lykurgos.
Nachdem nämlich der fortwährende Zwist der beiden spartanischen Königsgeschlechter, der Eurystheniden und Proklideu, einen Zustand der Gesetzlosigkeit hervorgebracht, der den Staat an den Rand des Verderbens führte, wurde durch Lykurgs Gesetzgebung die staatliche Ordnung wieder hergestellt.
Der Proklide Lykurg sollte nämlich an Stelle seines älteren kinderlosen Bruders Polydektes, der in einem Aufruhr umgekommen war, König in Sparta werden. Als aber die Witwe des Ermordeten bald darauf einen Sohn gebar, war Lykurg edel genug, diesem Knaben, dem er den Namen Charilaos (Freude des Nolks) gab, die Herrschaft zu uberlassen, indem er sich nur für die Zeit feiner Minderjährigkeit die Vormundschaft vorbehielt.
Weil ihn aber manche eigennütziger Absichten auf die Herrschaft beschuldigten, verließ er Sparta und hielt sich zehn Jahre laug im Auslande, vorzüglich auf der Insel Kreta (wo sich altdorische Sitte am reinsten erhalten hatte) und in Ägypten auf. Nachdem er sich so einen Schatz an Erfahrungen in Bezug auf Verfassung und Verwaltung der Staaten erworben hatte, kehrte er in die Heimat zurück und unternahm nun das große Werk, durch eine auf die alte dorische Eigentümlichkeit und Sitte gegründete Verfassung der herrschenden Verwirrung ein Ende zu machen.
Doch zuvor fragte er persönlich bei dem Orakel in Delphi an, ob sein Vorhaben, Gesetzgeber in Sparta zu werden, einen gesegneten Erfolg haben werde. Er bekam den ermutigenden Orakelspruch, daß die Verfassung, die er seinem Volke zu geben im Begriffe stehe, bei weitem die beste von allen Staatsverfafsungen sein werde.
Es gab in Griechenland mehrere berühmte Orakel. Das waren
Lykurgos.
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solche Anstalten, bei welchen die Menschen in wichtigen Angelegenheiten sich Rats erholten und den Willen der Gottheit und den Ausgang ihrer Unternehmung zu erfahren hofften. Jedes Orakel war einem Gotte geweiht und die Meinung des Volkes war, daß es eben dieser Gott sei, von welchem man den Orakelsprnch durch den Mund der zu seinem Dienst angestellten Priester oder Priesterinnen empfinge. Unter allen griechischen Orakeln hielt man das delphische für das untrüglichste und die Spartaner Pflegten immer bei diesem Rat zu suchen. Hier glaubte man, lasse Apollon, der Gott der Weissagung und der Dichtkunst wie auch der Arzneiwissenschaft, seinen Willen vernehmen. Es war eine Kluft an der Seite des Berges Parnafsos, aus welcher betankende Dünste emporstiegen. Über dieser Kluft war der Tempel zu Delphi und um den Tempel her die Stadt selbst gebaut. Unmittelbar aus die Kluft war ein dreifüßiger Sitz gestellt, aus welchem eine Frau aus Delphi, die man Pythia nannte, sich setzen mußte, wenn man das Orakel befragte. Durch die von unten aufsteigenden Dünste wurde die Pythia in eine Art verzückten Zustandes versetzt, und was sie in diesem Zustande aussprach, wurde für den Ausspruch des Gottes gehalten und denen, welche den Gott zu fragen gekommen waren, durch einen der Priester mitgeteilt, die man Propheten nannte.
Lykurgos brachte von Delphi nicht allein den für ihn so rühmlichen Ausspruch Apollons, sondern auch noch besondere Anweisungen wegen der neuen Staatsverfassung seines Landes mit, wodurch der Anfang seines Werkes bei dem festen Glauben der Spartaner an das Orakel gar sehr erleichtert wurde.
Um ein anderes Geschlecht von Menschen heranzuziehen, traf er solche Anstalten, bei denen zu erwarten war, daß es hinfort nur gesunde und kraftvolle Menschen in Sparta geben werde. Das neugeborene Kind mußte den Stammesältesten vorgezeigt werden, deren Urteil darüber entschied, ob es am Leben bleiben solle oder nicht. Sie befahlen das Kind aufzuziehen, wenn es kräftig und wohlgebildet war: ein mißgestaltetes und schwächliches Kind dagegen mußte nach ihrem Ausspruche in eine Kluft am Berge Taygetos geworfen werden. Die Erziehung der kleinen Kinder in den Häusern der Eltern war auch schon streng und abhärtend. Sie waren nicht warm eingehüllt; man gewöhnte sie frühe an geringe Kost, sie mußten lernen allein sein, ohne sich zu fürchten und ohne zu schreien. Sobald der Knabe sieben Jahre geworden war, durfte er nicht länger im elterlichen Hause bleiben: er kam jetzt unter die Aufsicht der Obrigkeiten und wurde öffentlich erzogen. Man
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Lykurgos.
vereinigte die Knaben gleichen Alters in Rotten, deren jede nach der Wahl der obrigkeitlichen Person, die mit der besonderen Aufsicht über das ganze Erziehungswesen beauftragt war, denjenigen aus ihrer Mitte zum Anführer bekam, welcher an Verstand und Mut sich vor den andern auszeichnete. Es war nun ihr ganzes Leben, ihr Unterricht, ihre Übungen und ihre Spiele, ja selbst auch ihr Nachtlager gemeinschaftlich. Man unterrichtete sie im Lesen und Schreiben, aber nur, damit sie im gewöhnlichen Leben davou Gebrauch machen könnten, nicht zur Vorbereitung auf eine wissenschaftliche Thätigkeit, welche bei den Spartanern durchaus nicht geachtet war. Sonst war aller Unterricht und die ganze Erziehung nur darauf berechnet, daß die Knaben willigen Gehorsam und Ausdauer lernen und einst dem Feinde mutig unter die Augen treten möchten. Schon kleinere Kinder führten zum Spiele einen kriegerischen Tanz auf. Die Knaben sodann mußten sich vornehmlich int Laufen, Ringen, Werfen üben; und zwar warfen sie teils mit runden metallenen Scheiben, teils mit dem Wurfspieß nach dem Ziele. Ihre Spiele waren wieder von derselben Art: sie rangen mit einander und suchten überhaupt iit der Gewandtheit und Stärke des Leibes einander den Vorrang abzugewinnen. Die älteren Männer waren gegenwärtig bei ihren Übungen und Spielen: keiner wollte unter ihren Augen erliegen oder der schwächere sein. Alle Tage badeten sie sich im Flusse Eurotas; warm zu baden und sich nach dem Bade zu salben war nur ein paarmal im Jahre gestattet. Sie hatten bis zum zwölften Jahr einen anliegenden Rock und darüber einen Mantel. Von diesem Jahre an durften sie nur noch den Mantel tragen, den sie alljährlich bekamen und der ein ganzes Jahr aushalten mußte. Schuhe waren ihnen nicht gestattet, wenngleich die Erwachsenen Sandalen trugen. Gingen sie ans der Straße, so mußten sie ihre Hände, was in jenen Zeiten auch bei anderen Völkern als ein Zeichen der Bescheidenheit angesehen wurde, mit ihrem Mantel bedeckt halten und gesenkten Blickes ihren Weg verfolgen. Umherzublicken war ihnen verboten. z Wie die Kinder überhaupt zur Bescheidenheit und zum Anstand in Worten und äußerer Haltung, so wurden sie insbesondere zur Ehrfurcht gegen das Alter, gegen die Götter und zu jeglicher bürgerlicher Tugend angehalten. Einst kamen zwei spartanische Gesandte zu Athen ins Theater; schon waren alle Plätze besetzt, als noch ein Greis eintrat, der keinen Sitz mehr fand. Sogleich erhoben sich die beiden Spartaner ehrerbietig, um ihm ihren Platz abzutreten. Die Athener riefen ihnen Beifall zu. Die Spartaner aber sprachen: „Die Athener wissen wohl, was gut ist, aber sie thun es nicht". Diese Antwort mag zugleich als ein
Lykurgos.
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Beispiel der Redeweise der Spartaner bienen, welche kurz und bündig und voll treffenben Witzes war.
Ihre täglicheKost war außerorbentlich kärglich, zum Teil auch beswegen, weil sie sich frühzeitig üben sollten in ben Gärten ober auf ben Tischen der Erwachsenen Nahrungsmittel auf eine verschmitzte Art zu entwenden. Denn obgleich das Stehlen nicht allgemein erlaubt war, begünstigte man dasselbe doch bei Knaben, weil man darin eine Vorbereitung zu listigen Anschlägen im Kriege erkannte. Wer mit Geschicklichkeit zu stehlen wußte, so baß er seinen Zweck erreichte, ohne entbeckt zu werben, ber würbe gelobt; bagegen würbe ein ertappter Dieb mit reichlichen Geißelhieben unb Hungern gestraft. Jeder Bürger hatte das Recht und die Verpflichtung, den Knaben, welchen er über einer Unart ertappte, zu züchtigen, wenn derselbe auch eines andern Bürgers Kind war; und der Vater, dem der gezüchtigte Knabe dies klagte, war verbunden, ihn dann nochmals darüber zu strafen. Wie sie zusammen lernten, spielten und aßen, fo schliefen sie auch rottenweise beisammen auf Schilfrohr, welches sie am Eurotas selbst abreißen mußten, ohne ein Messer dabei zu gebrauchen.
Mau gewöhnte die Knaben auf jede Frage schnell und mit Hin-zusügung eines Grundes zu antworten. Wenn also der Knabe gefragt wurde, wer ein wackrer Bürger sei, mußte er gleich einen wissen und zugleich angeben, warum er gerade diesen einen wackeren Bürger nannte. Alles, was man sprach, mußte kurz sein — wodurch „lakonisch sprechen" gleichbedeutend mit „kurz sprechen" geworden ist. Spottreden, gut und kurz gefaßt, wurden gelobt: schon der Knabe mußte sich gewöhnen, dergleichen ohne Erbitterung anzuhören und die Angriffe des Witzes nur mit Witz zu erwidern. Doch konnte jeder, der sich nicht in dieser Weise zu wehren wußte, sich einen solchen Angriff verbitten, woraus der Spott nicht weiter fortgesetzt werden durste. — Wie man von jedem Knaben verlangte, daß er bündig und treffend sprechen lerne, so mußte auch jeder singen lernen. Denn dem Gesänge schrieben die Spartaner eine besondere Kraft zu, Mannhaftigkeit und kriegerischen Mut zu wecken. Der Inhalt ihrer Gesänge war meistenteils das Lob edler Lanbsleute, welche int Kampfe für bas Vaterlanb gefallen waren, wohl auch Spott unb Hohn gegen felbflitchtige Bürger unb Schilberungen bes elenben unb verachteten Lebens, bas biese führten. Wie bie Knaben unb Jünglinge, so sangen auch bie Männer unb Greise. Es waren bei ihren Festen brei Chöre, einer ber Alten, einer ber Gereiften unb einer ber Jungen.
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Lykurgos.
Der Chor der Alten begann zu singen:
Wir waren einstmals starke Jünglinge; dagegen sang der Chor der Männer-.
Wir aber sind es: wenn du willst, versuche es! dann sang der Chor der Jungen:
Wir aber werden einmal noch viel wack'rer sein.
Der erwachsene Mann durfte ebensowenig nach eigenem Gutdünken leben als der Knabe und Jüngling. Lykurgos hatte dafür gesorgt, daß seine Bürger, ohne durch häusliche Geschäfte gehindert zu sein, ihre Zeit der Übuug in kriegerischen Fertigkeiten, der Aufsicht über das heranwachsende Geschlecht und dem öffentlichen Dienste widmen konnten. Zu einer Schlacht schmückten sie sich wie zu einem Feste. Sie kämmten ihre langen Haare, bekränzten sich und unter dem Schalle von Flöten und unter Anstimmung des Schlachtgesangs zogen sie in den Kampf. Für die größte Ehre galt es, Wunden auf der Brust zu haben. Dagegen wurde der, welcher auf dem Rücken verwundet war, als ein feiger Flüchtling betrachtet. Um den einfachen Sinn in seinem Volke zu bewahren, erschwerte Lykurg den Verkehr mit Fremden auf jede Weise. Keiner durfte ohne besondere Erlaubnis nach einem fremden Lande reisen, ebensowenig durfte sich ein Fremder anders als wegen dringender Geschäfte in Sparta aufhalten.
Keiner durfte ein Handwerk oder sonst ein Geschäft treiben, das auf Gelderwerb abzielte. Gleich zu Anfang der von Lykurgos vorgenommenen Umwandlung aller Verhältnisse soll das Feld um Sparta her in neuntausend Teile geteilt worden sein, wovon jeder Bürger, der seinen eigenen Hausstand gründete, einen Teil bekam; ebenso wurde nach einer Überlieferung der des Anbaues fähige Grund und Boden im ganzen übrigen Lande in dreißigtanfend Teile für diejenigen Bewohner Lakonikas, welche nicht Bürger der Stadt und in gewiffer Art Unterthanen der Spartauer waren, abgeteilt. Die Spartaner empfingen ihre Grundstücke, um davon zu leben, nicht aber, um sie selbst zu bearbeiten; dies mußten die Sklaven thun. Das Haus und der Hausrat mußte so einfach fein, daß auch diese Dinge dem Hausvater oder dem erwachsenen Sohne keine Sorge noch Arbeit verursachten.
Gold- und Silbermünzen setzte Lykurgos unter Androhung ernstlicher Strafe für denjenigen, bei welchem man solche fände, außer Umlauf und führte eisernes Geld ein, so groß und so schwer, daß man, um eine Summe von etwa siebenhundert Mark aufzubewahren, eines bedeutenden Raumes, und um sie in die Hände eines andern zu bringen,
Lygurgos.
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eines angespannten Wagens bedurfte. Dadurch bewirkte er, daß das Geld keinen Menschen zum Diebstahl oder Raub verlockte, daß auch keiner den andern mit Geld bestechen konnte, auch daß fremde Händler gar feine Last mehr hatten, kostbare und üppige Waren zu bringen. Um Weichlichkeit und Genußsucht im Essen und Trinken ferne zu halten, traf Lyknrgos die Veranstaltung, daß alle Männer öffentlich in Gesellschaft von je fünfzehn miteinander speisten. Trat einer derselben ab und ein anderer wollte eintreten, so wurde über seine Aufnahme oder Abweisung abgestimmt, und die Abweisung auch daun ausgesprochen, wenn nur eine einzige Stimme gegen die Aufnahme gewesen war. Die Tischgenossen gaben monatliche Beitrüge zur Besorgung ihrer gemeinsamen Mahlzeiten; dieselben bestanden in Gerste, Wein, Käse, Feigen und etwas Geld, um das nötige Fleisch, insbesondere Schweinefleisch, dafür zu kaufen. Das Hauptgericht war alle Tage die sogenannte schwarze Suppe, deren Haupt-bestandteile Schweinefleischbrühe, 23lut, Essig und Salz waren. Ein fremder König ließ sich einst diese berühmte Suppe von einem spartanischen Koch zubereiten, konnte ihr aber keinen Geschmack abgewinnen. „Kein Wunder", sagte der Koch, „diese Suppe schmeckt nur denen, die sich im Enrotas gebadet haben."
Nachdem Lykurg sein Werk vollendet hatte, berief er alle Bürger und fetzte sie in Kenntnis, daß er jetzt noch einen Orakelsprnch Apollons einholen müsse, ob seine Einrichtungen und Gesetze zum Heile Spartas gereichen würden. Bevor er nun abreise, um den Gott darüber zu befragen, sollten ihm alle schworen, daß sie bei den von ihm gegebenen Gesetzen bleiben, nichts ändern noch daran rütteln wollten, bis er von Delphi zurückgekehrt sei.
Alle schwuren willig und Lykurg begab sich nach Delphi. Dort angekommen befragte er das Orakel, ob feine Gesetzgebung geeignet sei, das Glück und die Sittlichkeit des Volkes zu begründen. Als der Gott dies bejahte und erklärte, das Volk werde groß und herrlich sein, so lange es bei Lykurgs Verfassung bleibe, schrieb er den Orakelspruch nieder und sandte ihn nach Sparta. Zugleich aber beschloß er Sparta sür immer zu meiden, damit seine Mitbürger durch den ihm geleisteten Eid für immer gebunden und eben damit nach dem Orakelspruch für alle Zeiten groß und glücklich sein möchten. Er begab sich nach Kreta, wo er den Abend seines Lebens zubrachte. Die Spartaner aber, durch ihren Eid gebunden, behielten seine Gesetze bei, die Jahrhunderte lan& znm Segen der Bürger unverändert fortbestanden.
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Des Kodros Opfertod. Solon.
DeF AodroF Opfertod (1068 v. Chr.).
(Von Ludwig Stacke.)
Alv die siegreichen Dorer sich des ganzen Peloponuefos Bemächtigt hatten, gingen sie auch über die Landenge, entrissen den Athenern Me-garis und drangen tief in das attische Gebiet ein, das sie mit Feuer und Schwert verheerten. Damals war Kodros König der Athener. Von den Feinden hart bedrängt, schickte er Gesandte nach Delphi und ließ das Orakel fragen, durch welches Mittel sein Vaterland von einem so schweren Kriege befreit werden könnte. Da soll der Gott geantwortet haben, daß das Volk, dessen König von feindlicher Hand falle, Sieger sein würde. Dieser Orakelfpruch ward nicht nur im athenischen, sondern auch im dorischen Lager bekannt. Die Dorer erließen daher ein Verbot, den Kodros im Kampfe zu verletzen, und hüteten sich vor einer Schlacht. Kodros aber legte die Zeiche» seiner königlichen Würde ab, verkleidete sich als Landmann und ging mit einem Bündel Holz auf dem Rücken und einer Axt in der Hand in das feindliche Lager. Hier sing er absichtlich mit einem Dorer Streit an, verwundete ihn mit seiner Axt und ward von dem Dorer, der sein Schwert zog, getötet. Bald aber erkannten die Dorer den Leichnam des Königs und zogen sich ans Scheu vor dem Orakelspruche ohne Tressen zurück. So wurde Attika durch den Mut seines edlen Königs, der sein Leben freiwillig zur Rettung seines Vaterlandes opferte, vom Kriege befreit.
J>oicm.
(Nach K. L. von Roth.)
Nach dem Tode des Königs Kodros (s. oben) wurde in Athen t>as Königtum abgeschafft und mit Einsetzung der Archonten eine Herrschaft der Edlen (Eupatriden) eingeführt. Um die Adelsherrschaft (Aristo -612 kratie) noch mehr zu befestigen, stellte der Athener Drakon eine Gesetzgebung aus, welche auch aus geringe Vergehen schwere Strafen setzte; man sagte daher von diesen Gesetzen, sie seien mit Blut geschrieben. Das Volk, über die Strenge dieser Gesetze erbittert, erhob sich in blutigen Ausstünden gegen die Adelsherrschaft, und langjährige Parteikämpfe zerrissen den Staat. Endlich machte der Kodride Solon als Archont 594 der Verwirrung ein Ende. Es gelang ihm in feiner Gesetzgebung die Unzufriedenheit der niederen Stände durch Nachlaß der Schuldenlast zu beschwichtigen und eine Versöhnung der Adels- und Volkspartei herbeizuführen. Durch die solonische Verfassung wurde der niedere Stand gehoben und ein neues Bürgertum geschaffen, das nun ebenfalls teil an der Staatsverwaltung erhielt (Demokratie).
Solon und Kroisos.
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Zolon und Kroisos.
Nachdem Solon seine Gesetze für Athen gegeben, nahm er Urlaub auf zehn Jahre und fuhr über See nach Ägypten, von da nach der Insel Kypern und zuletzt auf eine Einladung des Königs Kroisos nach Lydien. Dieses Reich war damals das reichste und blühendste in ganz Asien, und sein Beherrscher hatte den glänzendsten Hof weit und breit. Als Solon nach der lydischen Hauptstadt Sardes und in die Königsburg kam, fand er deren Vorhöfe, Gänge und Gemächer, durch welche man ihn zum Könige führte, voll von höheren und niederen Hofbeamten und Dienern und alle so herrlich gekleidet und von so stolzem Ansehen, daß er bald den einen, bald den andern derselben für den König ansah. Dennoch zeigte er keine Verwunderung oder Verlegenheit, als er endlich den Kroisos selbst sah, wie er da saß in lauter Pracht und Herrlichkeit. Dieser gebot nun seinen Dienern, den Gast in seinen Schatzkammern umherzusühren, damit er da die aufgehäuften edelrt Metalle und Kleinodien mit Muße beschauen könnte.
Nachdem Solon alles besehen hatte, mußte er wieder zu Kroisos kommen, welcher sagte, er habe von seiner Weisheit und von den weiten Reisen viel gehört, welche Solon mache, um seine Einsichten zu erweitern, und mm möchte er ihm sagen, ob er denn irgendwo einen so durchaus glücklichen Menschen gefunden habe. „Ja", antwortete Solon, „meinen Landsmann Tellos; fein Leben fiel in eine Zeit, da es unserer Vaterstadt gut ging; er hatte wohlgeratene Söhne, und von allen diesen erlebte er Enkel, deren keiner starb; ihm selbst mangelte nichts von dem,
was man zum Leben braucht, und sein glückliches Leben beschloß ein schöner Tod, da er in einer Schlacht zwischen den Unsern und denen von Eleusis durch seine Tapferkeit die Feinde zum Rückzug zwang und, dabei tödlich verwundet, umkam; worauf unfere Stadt ihn ans gemeinsame Kosten da begraben ließ, wo er gefallen war, und sein Andenken
aufs höchste ehrte." Der König hatte gemeint, Solon müßte ihn selbst
für den glücklichsten Menschen erklären, den er auf seinen Reisen gesehen habe. Nach dieser Antwort glaubte er, wenn er nochmals frage, wer nach Tellos der Glücklichste sei, werde Solon ihm doch wenigstens die zweite Stelle einräumen. Deshalb fragte er, wen Solon nach jenem Manne als den Glücklichsten befunden habe. Solon antwortete: „Die beiden Brüder zu Argos, Kleobis und Biton. Sie waren starke junge Männer, Söhne einer Priest er in der Hera und lebten in guten Umständen. Auch hatten sie zugleich mit einander schon Preise in Kampf-spielen davongetragen. Doch erwiesen sie ihre Stärke besonders einmal,
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Solon.
da ihre Mutter zum Gottesdienste auf einem Wagen fahren sollte und die Rinder, welche man für gewöhnlich vor den Wagen spannte, nicht znr rechten Zeit vom Felde hereinkamen. Sie spannten sich selbst vor den Wagen und zogen so ihre Mutter wohl eine Meile weit bis zum Tempel der Hera. Das ganze Volk von Argos stand umher und schante sie mit Verwunderung au. Die Männer priesen die ungemeine Stärke der Jünglinge, die Fraueu riefen, das sei eine glückliche Mutter, die solche Söhne geboren habe. Die Mutter selbst, voll Freude über die Ehre, welche ihr und ihren Kindern widerfuhr, und über die fromme Liebe ihrer Söhne, stellte sich vor das Bildnis der Göttin und betete zu ihr, daß sie diesen ihren Söhnen das bescheren möchte, was für den Menschen das Beste wäre. Kleobis und Biton verrichteten hierauf mit den andern Argivern ihr Opfer, schmausten mit ihnen und legten sich im Tempel nieder. Da schliefen sie ein und wachten nicht mehr auf. „Die Gottheit gab also zu erkennen, wie viel es für den Menschen besser sei zu sterben als zu leben. Denn eben das war die Erhörung des mütterlichen Gebetes, daß sie nicht mehr aufwachten. Ihre Mitbürger ließen von beiden Bildsäulen fertigen und im Tempel zu Delphi aufstellen."
Kroisos war unwillig darüber, daß Solon ihn, einen fo mächtigen und so reichen König, in Ansehung der Glückseligkeit nicht einmal gewöhnlichen Bürgern gleichstellen wollte. Solon antwortete, wenn ein Mensch fiebenzig Jahre lebe, so mache das sünsnndzwanzigtausend fünfhundert und fünfzig Tage ans, die Schalttage gar nicht mitgerechnet. Unter diesen vielen tausend Tagen sei kein einziger ganz wie der andere hinsichtlich dessen, was dem Menschen begegne. „Und so kommt", sagte er, „notwendiger Weise über jeden bei dieser Abwechselung der menschlichen Schicksale auch viel unerwartetes Mißgeschick. Daher pflegen wir Griechen keinen Menschen glücklich zu preisen, so lange sein gegenwärtiges Glück noch einen Wechsel erleiden kann. Ich sehe wohl, daß du im Besitze großen Reichtums und ein Herrscher über viele Menschen bist. Aber glücklich kann ich dich doch nicht nennen, bevor ich erfahre, daß du dein Leben auch glücklich beschlossen habest. Bei jedem Ding muß man auf den Ausgang achten. Biele Menschen hat Gott schon glücklich beginnen lassen und dann von Grund aus verderbt." Das kam dem Könige unverständig vor, daß Solon das einmal vorhandene Glück gar nicht wollte gelten lassen, sondern das Ende abwarten hieß.
Vierzehn Jahre war Kroisos König von Lydien gewesen, als der von Solon vorausgesagte Wechsel der Dinge eintrat und er dessen Weisheit erkannte. Nach der unglücklichen Schlacht bei Sardes nahmen
Solon und Kroisos.
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die Perser den König in seinem Palaste gefangen und brachten ihn unverletzt vor ihren König Kyros. Der aber befahl einen großen Scheiterhaufen aufzurichten nnb ließ beit gefangenen Lyberkönig gefesselt zusammen mit vierzehn jungen Lydern auf beuselben stellen nnb ihn anzünben. Hier auf bem Scheiterhaufen nnb im Angesichte eines entsetzlichen Tobes fiel ihm Solons Wort ein, baß niemanb glücklich zu nennen sei, ber noch lebe, und er empfand, daß ihm bas Wort bamals nach göttlicher Fügung gesagt worben sei. Nachbem er bisher ganz stille gewesen war, seufzte er bei biescm Gedanken tief auf unb sprach: „Solon, Solon, Solon!" Kyros hörte den unbekannten Namen unb befahl seinen Dolmetschern, den Kyros zu fragen, was das für ein Mann sei, dessen Namen er ausgesprochen habe. Anfänglich gab er keine Antwort auf diese Frage. Hernach aber, da man stärker in ihn brang, sagte er: „Es ist ein Mann, bert alle Gewalthaber hören sollten". Weil bas noch keine genügeube Auskunft war, wieberholte man bieselbe Frage noch bringenber. Unb so erzählte er enblich, wie ber Athenienser Solon zu ihm gekommen sei unb alle seine Herrlichkeit geschaut und sich nichts baraus gemacht habe; hinwiederum, was er selbst zu dem Manne gesprochen und wie ber ihm
eine Lehre gegeben habe, bie er jetzt erst als ganz wahr erkenne unb bie
jeben Menschen, insonberheit aber alle nahe angehe, welche sich für glücklich halten. Als Kyros von ben Dolmetschern vernahm, was Kroisos gesprochen hatte, reute ihn sein Verfahren gegen beuselben. Er bebachte, daß auch er ein Mensch sei, ber einen anbern bisher ebenso glücklich gewesenen Menschen lebenb wollte verbrennen lassen; baß kein menschlicher Besitz nnb Staub bleibeub sei unb bie Vergeltung auch über ihn kommen könne. Darum befahl er, ben schon an allen vier Ecken brennenben Scheiterhaufen zu löschen unb Kroisos mit ben vierzehn jungen Lybern herabzunehmen. Das geschah, unb Kyros fragte ihn, wer ber Mensch gewesen,
ber ihn ii&errebet habe, als sein Feinb aufzutreten unb gegen sein Land einen Angriff zu wagen. Kroisos erwiberte: „Das habe ich gethan bir zum Glück und mir zum Schaben; unb bie Schulb baran trägt ber Gott ber Griechen, ber mir zum Kriege Mut gemacht hat; benn niemanb ist so unverstänbig, baß ihm bet Krieg lieber wäre als ber Friebe, ba im Friebert bie Kinder ihre Väter begraben, im Kriege aber bie Väter ihre Kinber. So wie es gegangen ist, haben's einmal bie Götter gewollt". Kyros entlebigte ihn ber Fesseln, hieß ihn neben sich sitzen unb erwies ihm von ba an viele Hochachtung; wogegen Kroisos ihm unb später seinem Sohne Kambyses ein treuer Ratgeber lviirbe.
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Kyros.
Apro-S (558-529).
Nun aber suchet unsere Erzählung den Kyros auf und berichtet, wer der Besieger des Kroisos war und wie die Perser die Herren von Asien geworden sind.
Etwa um 1300 vor Christus waren Babylonier und Assyrer das herrschende Volk in Asien. In ihrem mächtigen Weltreich blüheten die Städte Babylon (am Euphrat) und Ninive (am Tigris). Die berühmtesten ihrer Herrscher waren die Königin Semiramis, Salma-nassar V (um 880), der Syrien und das Reich Israel verwüstete und sich Baktrieu uud Judien zinspslichtig machte, ferner Salmanassar VII (um 720 v. Chr.), welcher das Königreich Samaria unterjochte, und Sardauapal II, unter welchem das assyrische Reich durch einen babylonischen Statthalter Nabopolassar und den medischen König Kyaxares zu Grunde ging. Sardanapal verteidigte sich in seiner Hauptstadt Ninive drei Jahre lang; als es aber endlich den Belagerern gelang, in die 606 Stadt einzudringen, verbrannte er sich mit seinen Schätzen und Weibern.
Nach dem Fall des assyrischen Reichs machten sich zuerst die Babylonier unabhängig. Nabopolassar stiftete das sogenannte neubabylonische Reich, welches sein Sohn Nebnkadnezar zu einer Weltmacht erhob. Er machte das Königreich Juda den Babyloniern zinsbar und führte einen Teil der Einwohner (darunter Daniel) in die babylonische Ge-586 sangenschaft. Da aber Juda sich erhob, eroberte Nebukaduezar Jerusalem und zerstörte es von Grund aus.
Unter Nebukadnezar wurde die an beiden Ufern des Euphratflusses gelegene Stadt Babylon stark befestigt. Eine Mauer umschloß sic, die mit 256 Türmen versehen und so breit war, daß 16 Reiter nebeneinander auf ihr reiten konnten. Im Innern der Stadt befanden sich prachtvolle Paläste und als besonderes Wunderwerk im Osten des Euphrat die sogenannten schwebenden Gärten der Semiramis, die sicb terrassenförmig übereinander erhoben und durch künstliche Pumpwerke, welche das Wasser des Euphrat hinaufleiteteu, bewässert wurden.
Noch früher als die Babylonier hatten die gegen das kaspische Meer hin wohnenden Meder unter Arbiices die assyrische Oberherrschaft abgeschüttelt.
Als erster König der Meder wird der gerechte Deiökes genannt, der Gründer der medischen Hauptstadt Ekbatana. Sein Enkel Kyaxares machte im Buude mit dem babylonischen Unterkönig Nabopolassar durch die Zerstörung Ninives dem assyrischen Reiche ein Ende.
Er hinterließ den Thron seinem Sohn Astyages (um 580), unter welchem das Reich an die Perser fiel.
Die Jugendjahre des Kyrvs.
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Die Iugendjahre des Nyros.
(Nach Willmann.)
Astyages hatte eine Tochter Mandane, welche er mit einem vornehmen Perser namens Kambyses verheiratete.
Da träumte dem König, feine Tochter pflanze einen Weinstock, der sich über ganz Asien ausbreite. Als Astyages seinen Traum den Magiern mitteilte, welche zugleich Priester und Wahrsager waren, weissagten sie, seiner Tochter Sohn werde König werden an seiner Statt. Da ließ er sie ans Persien kommen, um ihr Kindlein zu töten.
Er übergab es dem Harpagos, seinem Vertrauten, der alle Ge-
schäfte verwaltete, auf daß er es umbringen lasse. Dieser ging darauf ein, gab aber aus Vorsicht das Kind nicht einem von seinen Leuten, sondern einem Rinderhirten des Astyages, der es in dem wildesten Gebirge aussetzen sollte. Allein als des Hirten Weib sah, welch' starkes und schönes Kind es war, fiel sie mit Thräueu ihrem Manne zu Füßen und bat, es doch nicht auszusetzen. Er that ihr nach Willen; das Hirtenweib behielt den Knaben und zog ihn groß, wie ihr eigenes Kind.
Aber als der Knabe zehn Jahre alt geworden, kam auf folgende
Weife ans Licht, wer er war. Er spielte einst in dem Dorfe, wo die
Rinderstände waren, mit anderen Knaben gleichen Alters am Wege. Und im Spiele wählten sie den vermeintlichen Sohn des Rinderhirten zu ihrem Könige. Da wies er jedem ein Geschäft zu: die einen mußten Häuser bauen, die andern Lanzenträger fein, diesen machte er zu seinem Späher, jener bekam das Amt Botschaften zu tragen.
Einer aber von den Knaben war der Sohn eines vornehmen Meders, und der wollte nicht thun, was Kyros gebot. Da hieß dieser ihn greifen und züchtigte ihn derb. Der vornehme Knabe aber lief, als sie ihn losgelassen, schwer beleidigt in die Stadt und klagte seinem Vater, was ihm von des Rinderhirten Kind widerfahren. Dieser ging flugs voller Zorn mit dem Knaben zn Astyages und sprach: „O König, von deinem Knechte, des Rinderhirten Sohne, erleiden wir solche Schmach!" Dazu wies er seines Sohnes Schultern. Als Astyages solches hörte und sah, wollte er dem Knaben Genugthuung schassen und schickte nach dem Hirten samt seinem Sohne. Als beide erschienen, blickte Astyages den Kyros an und sprach: „Du, eines geringen Knechtes Kind, hast gewagt, den Sohn eines Mannes, der bei mir unter den ersten ist, so schmählich zu behandeln?" Jener aber erwiderte: „O Herr, ich habe nur billig an diesem so gehandelt. Die Kinder des Dorfes und er darunter haben mich im Spiele zu ihrem Könige gemacht; denn sie meinten, ich tauge
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Kyros.
dazu am besten. Die andern Kinder nun thaten, was ich gebot; dieser aber war ungehorsam und hatte nicht acht darauf; dafür mußte er büßen. Habe ich deswegen eine Strafe verdient, stehe, hier bin ich".
Als der Knabe so sprach, ging es dem Astyages plötzlich auf, daß er ihn kenne: die Züge des Gesichtes bäuchten ihn wie feine eigenen und die Antwort wie eines Edlen Rede; die Zeit der Aussetzung stimmte mit betn Alter bes Knaben. Betroffen schwieg er etne Zeitlang still; eublich sammelte er sich unb sprach, um den Rinberhirten allein zu verhören, zu bent Kläger: „Ich werbe sorgen, baß bir unb beinern Sohne Recht geschieht".
So entließ er jenen, ben Kyros aber führten bie Diener auf Astyages' Befehl in bas Haus. Als Astyages so bett Hirten allein vor sich hatte, fragte er ihn, woher er bett Knaben habe, und wer ihm denselben übergeben. Der Hirt sagte zuerst, es wäre fein eigener Sohn; aber als Astyages bett Lanzenträgern winkte, baß sie ihn ergriffen, gestattb er alles, was vorgegangen, von Anfang bis zu Eube nach ber Wahrheit unb flehte um Verzeihung. Astyages aber zürnte bent Hirten nicht so sehr; er ließ bie Magier rufen unb fragte sie nach feinem früheren Traumgeficht. Sie aber sagten wieberum wie bantals, ber Knabe müsse König werben, wenn er ant Leben bliebe. Da erwiberte er ihnen: „Der Knabe lebt uttb ist erhalten, bie Kinder bes Dorfes haben ihn zum Könige gemacht; unb er hat ganz so gethan, wie bie wirklichen Könige; er hat Lanzenträger, Thürwächter unb Boten bestellt unb was sonst noch. Nun, wohin büttket euch bas zu zielen?"
Sprachen bie Magier: „Wenn ber Knabe erhalten ist und König war ohne jemandes Zuthun, so sei seinetwegen unbesorgt unb gutes Mutes; denn nun wird er nicht ein zweitenmal herrschen. Auf nichtiges ist manche unserer Wahrsagungen hinausgekommen, unb was auf Träumen beruht, ist erst recht hinfällig. Den Knaben aber fenbe fort, daß er dir aus den Augen komme, zu den Perfern und feinen Eltern".
Astyages freute sich über biefen Bescheib, rief ben Kyros uttb sagte ihm: „Mein Kittb, ich habe bir unrecht gethan um bes Traumgesichtes willen, beitt Geschick aber hat bich erhalten. Gehe nun in Frieben zu ben Perfern, ich werbe bir Geleit geben. Dort wirst btt einen Vater unb eine Mutter finben von anberer Art als ber Rinberhirt unb feine Frau".
Also sprach Astyages unb entließ ben Kyros in Frieben. Als biefer in Kambyses' Haus kam, nahmen ihn die Eltern auf, und als sie alles vernommen, herzten und küßten sie ihn; bettn sie hatten nicht mehr gehofft, ihn am Leben zu finben.
Kyros, der Perser und Meder König.
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Allein dem Harpagos verzieh Astyages nicht, daß er des Kindes Aussetzung auf einen von des Königs Leuten gewalzt, und ließ ihm den einzigen Sohn ermorden. Und seitdem sann Harpagos auf Rache und Verrat.
Nyros, der Perser und Meder König.
Als Kyros nun zum Manne gereift und der mannhafteste und beliebteste unter seinen Genossen geworden war, lag ihm Harpagos an, die Perser zur Empörung zu bereden und gegen die Meder zn ziehen, damit ihm selber Rache werde an Astyages. Nun sann Kyros nach, welches die klügste Weise sei, die Perser zum Abfall zu bestimmen. Und er fand, daß es so am besten gehen werde. Er schrieb nieder: „Kyros soll der Anführer der Perser fein“, rief die Perser zusammen, las ihnen das Geschriebene vor, als wäre es ein Brief des Astyages, und sprach: „Nun, o Perser, befehle ich euch, daß jeder sich einfinde mit einer Sichel". Und als sie sich einstellten, wie geboten, befahl Kyros, sie sollten eine Stätte voller Dornen, 18—20 Stadien groß nach Länge unb Breite, in einem Tage ausroden. Als die Perser die vorgeschriebene Arbeit vollbracht, so hieß er sie am andern Tage gebadet und geschmückt wiederkommen.
Nun brachte Kyros zusammen alle Ziegen, Schafe und Rinder feines Vaters, schlachtete sie und bereitete den Perfern ein Mahl samt Wein und Zukost vollauf. Als sie am folgenden Tage kamen, hieß er sie auf einer Wiese lagern unb schmausen.
Als aber bas Mahl vorüber, fragte sie Kyros, was sie vorzögen, wie sie es gestern gehabt ober wie sie es heute hätten? Da sagten sie, es fei ein großer Unterschieb; benn gestern hätten sie es sehr schlecht, heute hingegen sehr gut gehabt. Die Rebe ließ sich Kyros gefallen unb erklärte ihnen alles mit ben Worten:
„Ihr Männer von Persien, so steht es mit euch. Wenn ihr mir folgen wollt, so sollt ihr biefe unb taufenb anbere Güter haben unb keinerlei knechtische Arbeit mehr. Wollt ihr nicht, so bleiben euch unabsehbare Mühsale, ben gestrigen ähnlich. Damm folgt mir unb macht euch frei!
Ich meine durch göttliche Schickung bestimmt zu fein, euch dazu zu verhelfen, und ich halte euch nicht für schlechtere Männer als die Meder sind, am wenigsten im Kampfe. Da dem also ist, so fallet eilends von Astyages ab."
Die Perser nun, denen so ein Anführer erstanden, machten sich gern frei, da ihnen schon längst ber Meber Herrschaft lästig gewesen.
16 Kyros.
Als Astyages dieses vernahm, waffnete er alle Meder und machte, als hätte ihn ein Gott geschlagen, zu ihrem Führer den Harpagos, vergessend, was er diesem angethan. Als nun die Heere zusammenstießen, kämpfte ein Teil der Meder wacker, ein Teil ging mit Harpagos zu den Persern über, die meisten aber flohen böswillig. So wurde der Meder Heer zerstreut; Astyages aber bewaffnete alle, die in der Stadt Ekbatana daheim geblieben waren, und rückte gegen die Perser ans. Doch auch er wurde besiegt und lebendig gefangen genommen.
Also nahm Astyages' Herrschaft ein Ende, und die Perser herrschten von der Zeit an über Asien. Dem Astyages aber that Kyros fein Leid und behielt ihn bei sich bis an dessen Tod.
Dnrch viele glückliche Kriege unterwarf Kyros allmählich die meisten Stämme des Hochlandes am Iran; daraus dehnte er sein Reich nach Westen hin aus, nachdem er, wie oben S. 11 erzählt ist, durch Besiegung des Kroisos dem lydischen Reich ein Ende gemacht hatte (uni 550 v. Chr.).
Während darauf sein Feldherr Harpagos die freien griechischen Küstenstädte des vorderen Kleinasiens unterwarf, wandte Kyros sich selbst gegen die babylonische Weltmacht, welche er 538 v. Chr. durch die Eroberung von Babylon stürzte.
Die Einnahme der stark befestigten Stadt gelang ihm durch eine List. Er leitete den Euphrat durch Kanäle in einen großen See ab, der sich vor der Stadt befand, und nachdem das Wasser des Flusses auf diese Weise so weit gefallen war, daß man ihn durchwaten konnte, drangen die Perser in die Stadt ein.
Die Grenzen des persischen Weltreichs erstreckten sich nun vorn Lande der Baktrier im Osten bis zum Hellespont im Westen.
Kyros fand feinen Tod im Jahre 529 v. Chr. auf einem unglücklichen Feldzug gegen das fkythische Steppenvolk der Massageten, welche ihre Wohnsitze am kaspischen Meere hatten. Ihre Königin Tomyris überwand den Kyros in einer gewaltigen Feldschlacht. Da blieb der größte Teil der Perser auf der Walstatt und Kyros selber fiel, nachdem er 29 Jahre König gewesen war.
Ihm folgte sein Sohn Kambyses (529 — 522), der durch seine Grausamkeit berüchtigt ist. Er erweiterte das Reich nach Südwesten hin durch die Eroberung von Ägypten. Doch mißglückten feine weiteren Unternehmungen gegen Ober-Ägypten völlig; ein Teil feines Heeres wurde in der libyschen Wüste von Sandwirbeln verschüttet, er selbst mußte sich
Kyros, der Perser und Meder König.
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nach Theben und Memphis zurückziehen, wo er aufs grausamste gegen die Priester und ihre Religionsgebräuche wütete. Auf der Heimkehr nach Persien starb er infolge einer zufälligen Verwundung am Schenkel.
Hierauf bemächtigte sich der falsche Smerdis, ein Betrüger, der sich für einen jüngeren Bruder des Kambyses ausgab, des persischen Thrones, wurde aber in kurzem durch eine Verbindung der sieben vornehmsten Perser gestürzt, welche darauf aus ihrer Mitte den Dareios Hystaspis znm König erwählten. Unter ihm wurde Persien521-486 in 20 Satrapieen oder Statthalterschaften geteilt. Königssitze waren Babylon, Susa und Ekbatana.
Nachdem Dareios im Jahre 512 einen völlig erfolglosen Zug gegen die halbwilden Skythen unternommen hatte, welche jenseits der Donau im heutigen Südrußland wohnten, machten bie griechischen Städte Kleinasiens (barunter besonbers Milet), welche schon unter Kyros ber persischen Herrschaft unterworfen waren, unter Führung ber Milesierfürsten Histiaios unb Aristagoras einen Versuch, bas persische Joch abzuschütteln. Wiewohl bie ionischen Stäbte, bie größtenteils Kolonieen von Athen waren, bitrch 20 athenische Schiffe unterstützt würben, so mißlang boch ber sogen, ionische Anfstanb völlig. Die ionische Flotte würbe von ber persischen in einer großen Seeschlacht besiegt unb barauf bie Stabt Milet von Gumb ans zerstört (494 v. Chr.). Alle griechischen Städte Kleinasiens mußten sich wieber bem persischen Joch unterwerfen.
Jene Hilfe aber, welche Athen ben Jonern geleistet, hatte ben Zorn bes Perserkönigs gereizt nnb war bie Ursache zu ben Perserkriegen, welche Griechenland Kräfte zur vollen Entwicklung brachten.
Damit er ber Rache nicht vergäße, mußte ihm alle Tage bei ber Mahlzeit ein Diener zurufen: „Herr, gebenfe ber Athener". Unter bem Oberbefehl seines Schwiegersohnes Marbonios sanbte er im Jahre 492 ein Lanbheer unb eine Flotte gegen Griechenlanb ab. Allein bie Flotte scheiterte am Vorgebirge Athos, bas Lanbheer wnrbe im Kampf mit ben thrakischen Völkerschaften fast gänzlich aufgerieben.
Dieser mißlungene Versuch steigerte nur noch ben Zorn bes persischen Großkönigs. Er rüstete jetzt eine noch furchtbarere Macht. Eine gewaltige persische Flotte lanbete unter Führung bes Datis unb Arta-phernes an ber attischen Küste. Die Perser verwüsteten bas Laub unb lagerten sich in ber Ebene Marathon.
Die Athener rüsteten sich ihrerseits mutig zum Kampf, gebuchten aber boch zugleich sich nach Hilfe seitens anberer griechischer Völkerschaften umzusehen, weil ihnen bas Perserheer bebeutenb an Zahl überlegen war.
Abicht, Lesebuch. II. 2
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Milliades.
Sie entsandten daher den Schnellläufer Pheidippides mit der Bitte um Zuzug an die Spartaner ab, der mit erstaunlicher Geschwindigkeit den etwa 50 Wegstunden betragenden Weg nach Sparta in 2 Tagen zurücklegte. Allein die Spartaner ließen die Athener ohne Hilfe, weil es gerade Neumond war und sie nach einem alten Gesetz einen Kriegszug nicht vor Eintritt des Vollmondes beginnen durften. Nur die kleine Stadt Plataiai in Boiotien schickte 1000 Mann Hilfstruppen.
Miltiades.
(Schlacht bei Marathon 490 b. Chr.)
Es waren 9000 Athener und 1000 Plataier, lauter Fußvolk, welche sich am 29. September 490 einem Heere von 100,000 Fußgängern und 10,000 Reitern entgegenstellten. Oberfeldherr der Athener war der kriegserfahrene Miltiades. Er stellte sein Heer in Schlachtordnung, es so weit als möglich ausdehnend und griff darauf die über solche Kühnheit nicht wenig erstaunten Perser an. Leicht durchbrachen dieselben die schwache Mitte des atheniensischen Heeres; dagegen wurden sie auf beiden Flügeln geschlagen. Die Athener schwenkten schnell nach der Mitte ein, siegten auch hier und bestürzt suchten die Perser auf der Flotte Zuflucht und kehrten, ohne etwas ausgerichtet zu haben, nach Asien zurück.
Die spartanischen Hilfstruppen kamen erst nach Beendigung der Schlacht und konnten jetzt nur die großen Leichenhaufen der Feinde und die heldenmütige Tapferkeit der Athener bewundern.
Während die siegreichen Athener den fliehenden Feind verfolgten, eilte der Schnellläufer Pheidippides, welcher auf dem Heimweg von seiner Botschaft nach Sparta znm Heere nach Marathon gekommen war, in schnellem Laufe nach dem 2 Meilen entfernten Athen. „Athener, wir haben gesiegt", ries er auf den Marktplatz stürzend und fank entseelt zu Boden.
Die Athener hatten diesen glorreichen Sieg als Vorkämpfer für ganz Griechenland erfochten. Daß sie durch eigene Kraft den übermächtigen Feind zurückgeschlagen, erfüllte sie mit Mut, allen Gefahren, mit welchen sie die Zukunft bedrohen konnte, kühn entgegenzutreten. Miltiades erlangte durch diesen Sieg ungemeines Ansehen unter seinen Mitbürgern.
Auf dem Gemälde der Schlacht, das man in einer öffentlichen Halle an der Wand derselben fertigen ließ, stand seine Figur in der ersten Reihe der Kämpfer. Es war der Augenblick dargestellt, in welchem er die Krieger anredete und das Zeichen zum Altgriff gab.
Themistokles.
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Dennoch sollte Miltiades später die Undankbarkeit seiner Mitbürger erfahren. Auf seinen Vorschlag hatten nämlich die Athener eine Flotte ausgerüstet, um diejenigen griechischen Inseln zu bestrafen, die sich den Persern unterworfen hatten. Allein die Unternehmung scheiterte an der tapferen Verteidigung der reichen Insel Paros und Miltiades wurde deshalb von seinen Gegnern in Athen auf den Tod angeklagt, zwar freigesprochen, aber znr Erstattung der Kriegskosten (50 Talente) verurteilt. Da er bald darauf an einer Wunde starb, die er auf Paros erhalten, zahlte sein Sohn Kimon für ihn jene Strafe.
Lhennstokle^.
(Von Karl Friedrich Becker.) a) Beginn der Laufbahn.
Der glorreiche Sieg bei Marathon hatte den Athenern einen kühneren Schwung gegeben, und da ihre Stadt allein der gefürchteten Macht Asiens widerstanden hatte, schien sie sich berufen, für die Zukunft Vorstand der Staaten zu werden, die durch geringere Entschlossenheit die griechische Ehre und Freiheit den Barbaren preisgegeben hatten. Ein sühn aufstrebender Geist, Themistokles, war es, der nach des Miltiades Tode die den Athenern vorgezeichnete Richtung begriff und sich berufen fühlte, sie zu verfolgen. Schon als Knabe war er stolz, feurig, klug, nie den Spielen wie andere Kinder ergeben. Statt dessen hielt er aus dem Kopfe gerichtliche Reden, in welchen er seine Gespielen anklagte oder verteidigte; im Unterrichte zog ihn nichts so sehr an, als was auf Staat und Krieg Bezug hatte, in den schönen Künsten aber war er träge und begriff er nichts. Als daher in einer fröhlichen Gesellschaft, wo die Zither herumging, dieselbe auch an ihn kam, gab er sie zurück mit den Worten: „Spielen und Singen kann ich nicht, aber einen Staat berühmt und groß machen, die Kunst verstehe ich". Älter geworden, zeigte er feine glühende Ruhmbegierde auch in dem Streben nach äußerem Glanze. Bei den olympischen Spielen wetteiferte er mit dem jungen Kimon in der Pracht feiner Tafel, und als einmal ein berühmter Zitherspieler aus Argolis nach Athen kam, ließ Themistokles ihn in seinem Hanse spielen, um die Ehre zu haben, die vornehmsten Männer der Stadt bei sich zu sehen. Bei der Menge wußte er sich durch Freundlichkeit und Gefälligkeit einzuschmeicheln; er konnte die einzelnen Bürger bei Namen nennen und entschied ihre Streitigkeiten mit Gerechtigkeit. Die Kraft feiner feurigen und lebendigen Rede zog alles mit sich fort. Als der Sieg
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Themistokles.
bei Marathon des Miltiades Namen in aller Munde verherrlichte, war Themistokles meist in Nachsinnen vertieft und brachte die Nächte schlaflos zu. Seinen Freunden, die ihn um die Ursache fragten, erwiderte er: „Das Siegesdenkmal des Miltiades läßt mich nicht schlafen". Das Volk betrachtete die Niederlage der Barbaren als das Ende des Krieges und ruhte in stolzer Sicherheit. Der tiefschauende Themistokles sah darin nur deu Anfang größerer Kämpfe, für den Staat und sich selbst in der Zukunst eine neue Laufbahn und den Stoss zu großen Thaten. Nach dem Tode des Miltiades begann er den Plan desselben weiter fortzuführen, nämlich Athens Macht unb Einfluß auszudehnen. Themistokles sah es zuerst mit voller Deutlichkeit ein, baß eine sichere Herrschaft sowohl als eiu kräftiger Wiberstaud gegen bie Barbaren für Athen nur auf bem Meere zu finden fei und daß der Staat daher zu einer Seemacht gebildet werden müsse. Ein Krieg mit Aigina gab ihm eine gute Gelegenheit, für die Ausführung dieser Absicht zu wirken. Er machte nämlich den Vorschlag, die reichen Einkünfte aus ben laurifchen Bergwerken, bie man sonst unter bie Burger verteilt hatte, zur Erbauung von ljunbert neuen Schiffen anznwenben. Sein Rat warb befolgt unb baburch der Grund zu dem großen Siege über Terxes und zu der nachmaligen Größe des athenischen Staats gelegt.
Unter ben Gegnern bes Themistokles befanb sich Aristeibes, eiu Mann, ber sich burch seine unerschütterliche Reblichkeit unb Uneigennützigst schon bei seinen Zeitgenossen ben Beinamen bes Gerechten erworben hatte. Dies war so sehr anerkannt, baß einstmals bei ber Aufführung eines Trauerspiels von Aifchylos bei bem Verse: „Gerecht will er nicht scheinen, fonberit fein", alle Zuschauer aus Aristeibes hinblickten, gleich als wäre er mit diesem Verse gemeint. Mit Themistokles geriet er Balb in Kamps, ba er fürchtete, ber Athener alte Tugenb würde leiden, wenn sie von dem einfachen Landleben ihrer Vorfahren abgelenkt und auf dem treulosen Meere nach unsicherem Gewinn trachteten. Darum sah Themistokles in ihm seinen gefährlichsten Gegner und wußte es endlich in der Volksversammlung durchzusetzen, daß Aristeides als gefährlich für die Freiheit durch das Scherbengericht oder den Ostrakismos auf 10 Jahre ans der Stadt verbannt wurde. Jeder Bürger nämlich, der durch einen allzugroßen Einfluß oder Anhang der Freiheit des Volkes gefährlich werden zn können schien, konnte durch dieses Gericht auf 10 Jahre ans dem Staate verbannt werden. Es genügte dazu, daß bie Mehrheit ber Bürger feinen Namen auf Scherben schrieb, welche barauf in eine bazu bestimmte Urne geworfen wnrben. Dieses Schicksal traf auch ben Aristeibes. Währenb bes Anstimmens
Beginn der Laufbahn.
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trat ein Landmann an Aristeides heran und bat ihn, den er nicht kannte, den Namen Aristeides auf eine Urne zu schreiben. Aristeides that es und fragte ihn dann, was ihm Aristeides zu leid gethan hätte, daß er ihn verbannt wissen wollte. „Ich kenne ihn gar nicht", war die Antwort, „ich ärgere mich nur, daß man ihn immer den Gerechten nennt." Ohne Groll gegen seine Mitbürger verließ Aristeides seine Vaterstadt; ja, er flehte scheidend zu den Göttern, sie möchten nie eine Zeit kommen lassen, wo die Athener seine Verstoßung zu bereuen hätten. Themistokles aber konnte nun ungehindert seinen ganzen Einfluß daran wenden, die Seemacht der Athener zn verstärken und die Bürger im Seekrieg zu üben.
Bereits seit drei Jahren rüstete sich Dareios zn einem dritten Rachezug, starb aber vor dessen Ausführung (486).
Sein ©ohn und Nachfolger Xerxes (485—466) unternahm nun denselben und zog persönlich mit einem Landheer von säst einer Million Menschen und einer Flotle
von 1200 Schiffen gegen Griechenland aus.
Während die Flotte durch den Kanal fuhr, den L'erxes zur Vermeidung eines abermaligen Schiffbruchs durch das Vorgebirge Athos hatte graben lassen, durchzog er selbst mit dem Landheer Thrakien, Makedonien, Thessalien und rückte ohne Widerstand zu finden bis zum Engpaß von Thermopylai vor.
Leonidas.
(Schlacht bei Thermopylai 480 v. Chr.)
Am Engpaß von Thermopylai, wo ein morastiger Küstenstrich an der einen und das steile Oitagebirge an der anderen nur einen schmalen Steig gelassen haben, hielt der spartanische König Leonidas mit 300 Spartanern und etwa 5000 verbündeten Griechen Wacht. Als Terxes vernahm, daß dieses Häuslein seine gewaltige Übermacht auszuhalten
gedächte und sich zn dem Kampfe wie zu einem Feste schmückte, wollte
er nicht daran glauben, daß die Griechen im Ernst an Widerstand dächten; er ließ ihnen daher durch Boten sagen, daß sie ihm die Waffen ausliefern sollten. „Komm und hole sie", war die Antwort.
Wie wenig die Griechen vor der Übermacht zu weichen gesonnen waren, dafür zeugt auch das Wort eines Spartaners, der, als den Griechen gemeldet wurde, der Feinde seien so viel, daß die Sonne durch die Meuge ihrer Geschosse verdunkelt würde, unerschrocken ausrief:
„Um so besser, dann werden wir im Schatten kämpfen".
Zwei Tage lang hielt die Tapferkeit der Griechen die in den Engpaß
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Themistokles.
eindringenden feindlichen Massen ans und wars selbst die Schar der 10,000 Unsterblichen, d. i. die königliche Leibwache, zurück, bis endlich ein verräterischer Grieche (Ephialtes) den Persern einen Weg über das Gebirge zeigte, wo sie (20,000 an der Zahl) den Griechen in den Rücken fallen konnten. Da flohen die Phokier; Leonidas aber entließ die übrigen Griechen und bereitete sich mit seinen dreihundert Spartanern uud mit 700 freiwillig bleibenden Thespiern zum Weihetod fürs Vaterland.
Als Xerxes anf die Nachricht von dem gelungenen Gebirgsübergang den Sturm auf den Engpaß erneuerte, schlug ihn Leonidas mehrmals mit solchem Ungestüm zurück, daß die weichenden Barbaren von ihren Anführern nur mit Peitschen zum Stehen und zu erneuerten Angriffen gebracht werden konnten. Doch die kleine Zahl erlag endlich der Übermacht: Leonidas fiel und mit ihm die meisten der Seinen. Und als vollends der Angriff im Rücken begann, starben auch die übrigen den Heldentod. Die Stelle, wo Leonidas und seine Schar den Opfertod für das Vaterland gefunden hatten, bezeichnete später ein einfaches Denkmal mit der Inschrift:
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkünde den Bürgern, du habest Uns hier liegen gesehen, ihren Gesetzen getreu.
Nach der Eroberung der Therinopylen drang die persische Völkerflut nun unaufhaltsam vor und verheerte Boiotien und Attika. Auch Athen wurde verwüstet; doch hatten sich die Einwohner auf des Themistokles Rat vorher auf die kleine Insel Salamis geflüchtet, die Waffenfähigen aber zur Verteidigung die Schiffe bestiegen.
b) Themistokles, Griechenlands Retter durch den Zeesieg bei Salamis.
(480 v. Chr.)
Als ^erxes mit ungeheurer Land- und Seemacht gegen Griechenland heranzog, verschaffte Themistokles den Athenern den Ruhm der Rettung ber griechischen Freiheit. Sein Werk waren die lange vorbereiteten Schiffe, das große Rettungsmittel für Hellas; seine Entschlossenheit und sein Mut begeisterten die Eifrigen, befestigten die Wankelmütigen, verbanden die Getrennten. Denn wenige teilten mit ihm die kühne Hoffnung, das griechische Volk und seine Freiheit vor Persiens Übermacht retten zu können; selbst das Orakel zn Delphi erklärte den Widerstand für Thorheit. Aber die Athener flehten so lange, bis die Priesteriu eine wohl des Themistokles Plänen angepaßte günstigere Antwort gab, in welcher eine hölzerne Mauer als das einzig Unzerstörbare
Themistokles, Griechenlands Retter durch den Sieg bei Salamis. 23
bezeichnet wurde. Themistokles aber wußte seine Mitbürger zu überreden, diese hölzerne Maner bedeute nichts anderes als die Flotte, die man zum Seekriege rüsten solle.
Nach dem heißen Kampfe bei Thermopylai, der den Andraug der Perser nur zu verzögern, nicht zurückzuweisen vermochte, und nach der den Krieg nicht entscheidenden Seeschlacht bei Artemision hatte die griechische Flotte ihren Rückzug um Suuion herum genommen und stand, 370 Schiffe stark, zwischen der Stadt Eleusis und der Insel Salamis. In ihr sah Themistokles noch die einzige Hilfe. Vergebens hatte er gehofft, die Peloponnesier mit vereinter Kraft in Boiotien den Persern zur Schlacht entgegenrücken zu sehen. Sie waren nur um den Peloponnes besorgt und auf dem Jsthmos geschäftig, die schmale Landenge durch einen Wall zwischen beiden Ufern des Meeres zu sichern. Hinter diesem wollten sie die Halbinsel gegen die heranrückenden Perser schützen, welche jetzt gegen das wehrlose und verlassene Athen, das Hauptziel ihrer Rache, heranströmten. Themistokles sah für die ©einigen keine andere Rettung, als daß sie den Erdboden verließen und auf dem Meere ihre Heimat suchten. Allein es war nichts Kleines, die Menge zu einer solchen That zu bewegen. Sie hielt fester an den äußerlichen Dingen, an den Wohnnngen der Menschen und der Götter und an den Werken ihres Fleißes als an jener Kraft des Geistes, die dieses alles, wenn es auch vor der Zerstörungswut in den Staub sank, wieder erzeugen konnte. Wenn man den heimatlichen Boden einmal aufgegeben hätte, glaubte die Menge keiner Hilfe mehr bedürftig und keines Sieges mehr benötigt zu fein.
Indes kam der Macht des Themistokles über die Gemüter der religiöse Glaube mit seiner Allgewalt zn Hilfe. Die große Schlange, welche man für den göttlichen Wächter in dem Tempel der Athene auf der Burg hielt und der man gewöhnlich Opferspeisen darbrachte, verzehrte diesmal dieselben nicht wie sonst, zum Beweise, daß die Göttin selbst die Stadt verlassen hatte. Nun siegte die Meinung des Themistokles ob, die Steine und Mauern den Barbaren preiszugeben. Die Streitbaren gingen auf die Schiffe, die Weiber, Greife und Kinder flüchteten teils nach Trözen, welches sie besonders gastfreundlich aufnahm, teils nach Salamis und Aigina. Es war ein rührender Anblick, so viele Familien in die Fremde wandern zu sehen. Ja selbst die treuen Haustiere erweckten wehmütige Empfindungen; sie folgten ihren Gebietern bis an den Hafen und erhoben ein jämmerliches Gehenl, als sie zurückbleiben mußten und jene davonrudern sahen. Ein Hund stürzte sich
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Themistokles.
seinem Herrn nach ins Meer und folgte schwimmend dem Schifft; mit aller Anstrengung erreichte er Salamis, sank aber dort erschöpft sogleich tot zu Boden.
Themistokles war ganz erfüllt von dem Gebanken, Athen und ganz Hellas durch einen Kampf zur See bei Salamis zn retten, wo die Enge des Raums deu Griechen große Vorteile versprach; aber so dachten die übrigen nicht, Furcht machte die Menge ungehorsam und riß die Führer, bei denen auch Neid und Eifersucht herrschten, mit sich fort. Dazu kam die Nachricht, daß die Perser, die in Attika eingerückt waren, auch die Burg von Athen eingenommen und in Asche gelegt hatten. Alle wollten nun uach dem Jsthmos ziehen, weil sie im Falle einer Niederlage sich in der Nähe des Peloponnes sicher retten zu können hofften. Aber des Themistokles unbezwinglicher Geist dachte nicht an die Niederlage, sondern nur an Sieg, und er trug die Gründe für die Wahrscheinlichkeit desselben, wenn man hier fechten würde, in der Versammlung der Führer mit aller der Kraft vor, die aus dem Gefühle der Wahrheit entsprang. Hitzig rief ihm der Korinther Adeimantos zu: „In den Wettspielen bekommen diejenigen Ohrfeigen, welche vor der Zeit auf stehen". — „Ja", antwortete Themistokles, „aber die Zurückbleibenden werden nicht gekrönt". Und da Adeimantos ihn wiederum anfuhr und sagte, wer selbst keine Stobt mehr habe, dürfe nicht gehört werden, erwiberte Themistokles mit Winde unb Bebentung: „Wir haben zwar, bu Armseliger, unsere Häuser unb Mauern verlassen, weil wir um toter Steine willen keine Sklaven sein wollten. Aber biefe zweihnitbert wohlbemannten Schiffe sinb unsere Stabt unb bie größte aller hellenischen, bie euch jetzt Beistanb leisten wirb, wenn ihr euch burch sie retten wollt. Wenn ihr uns zum zweiten Male verräterisch verlasset, so ziehen wir nach Italien unb grünben bort einen neuen Staat".
Dies bestimmte enblich ben Spartaner Enrybiades nachzugeben,
indem die übrigen Schiffe ohne bie athenischen selbst beim Jsthmos sich
bem Feinbe nicht einmal würden haben zeigen können. Allein bald darauf, als bas persische Lanbheer wirklich ben Peloponnes bedrohte, regte sich in allen Verbünbeteu von neuem ber vorige Unmut, Athens wegen, wie sie wähnten, an biefer Stelle kämpfen zu müssen, unb in einer neuen Beratschlagung würbe nun ber Abzug in ber That beschlossen. Jetzt, wo alles Gegenreben nicht mehr half, faßte Themistokles einen
Entschluß, ber seinen kühnen unb sichern Geist zeigt; bie Furchtsamen
sollten luiber ihren Willen, ehe sie noch auseinanber gehen könnten, zum Kämpfen gebracht werben. Er sanbte einen treuen Diener, Sikinnos,
Themistokles, Griechenlands Retter durch den Sieg bei Salamis. 25
heimlich auf einem Bote zu Xerxes und ließ diesem mit der Miene des freundlichsten Wohlwollens sagen: die Griechen wären uneinig unter sich und gedächten zu entwischen; er könne sie daher, wenn er ihnen zuvorkomme, leicht umzingeln. Terxes fand den Rat gut und ließ alle feine Schiffe Bewegungen machen, die unbesorgten Griechen zu umgarnen. Aristeides, der, in dieser Zeit der Not von dem Volke herbeigewünscht, aus seiner Verbannung zurückkehrte und in derselben Nacht ans Aigina sich zur griechischen Flotte begeben wollte, bemerkte zuerst die feindliche Bewegung. Er vergaß in diesem Augenblicke alle persönliche Feindschaft, eilte zum Themistokles und teilte ihm mit, was er gesehen. Themistokles vertraute ihm, daß er selbst dies herbeigeführt, und bat ihn, nur den übrigen Griechen das Anrücken der Feinde als ein glaubwürdiger Augenzeuge zu melden. Das that er auch, fand aber doch bei den meisten keinen Glauben, bis endlich ein teutsches Schiff, welches trotz dieser Not zu den Griechen überging, ihnen allen Zweifel benahm. Nun, da keine Wahl mehr war, rüstete sich alles zur Schlacht und bestieg die Schiffe, der anrückenden feindlichen Flotte entgegenzugehen. An dem einen Ende derselben waren die Phoiniker als die Tapfersten den gewandten Athenern gegenübergestellt; das andere Ende nahmen die Joner ein, damit sie, denen die Perser nie trauten, nicht mit ihren Stammgenoffen zusammenträfen. Terxes, welcher glaubte, daß die Niederlage bei Artemifion nur wegen feiner Abwesenheit erfolgt fei, wollte dieses Mal von einem hohen Berge am Ufer zuschauen, damit er durch seine Gegenwart alles zur Tapferkeit ermuntere. Mit Tagesanbruch trafen die Flotten zusammen, und das Handgemenge ward allgemein. Die persische Seemacht kämpfte wirklich anfangs mit Mut, und selbst die Joner zeigten sich tapfer, aber dessenungeachtet entschied sich der Kamps sehr bald zum Nachteile der Perser. Ihre eigene Menge ward ihnen in den engen Gewässern hinderlich und stopfte sich bald so sehr, daß sie weder vor- noch rückwärts konnten. Viele persische Schiffe wurden in den Grund gebohrt, viele kamen wegen der Enge des Raumes gar nicht zum Gefecht, eins hinderte das andere. Mit jedem Augenblicke wuchs die Verwirrung in der feindlichen Flotte. Athener und Aigineten, die ausgezeichnetsten unter allen Griechen, wetteiferten mit einander; die ersteren vernichteten in dem Gedränge die feindlichen Schiffe, welche Widerstand leisteten, die letzteren lauerten allen, welche sich nach dem Hasen Phaleron unter den Schutz des Landheeres flüchten wollten, auf, so daß, wer den Händen der Athener entgangen war, in bie der Aigineten fiel. Die Königin Artemisia, welche betn Xerxes klüglich von einer Seeschlacht abgeraten hatte, war eben-
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Themistokles.
falls nahe baran, von einem athenischen Schiffe überwältigt zn werben. Da segelte sie auf ein persisches Schiff los unb Bohrte es in ben Grund. Der athenische Hauptmann, welcher glaubte, bas Schiff ber Artemisia müsse wohl ein bunbesverwanbtes sein, weil es ein persisches niebersegle, wanbte um, unb bie erschrockene Königin entkam.
So glorreich unb über alles glänzenb bieser Sieg ber Griechen bei Salamis war, so groß waren auch seine Folgen. Xerxes ließ noch in ber solgenben Nacht seine Schiffe nach bem Hellespont aufbrechen mit einer Eile unb Stille, baß bie Griechen, bie am solgenben Tage einen neuen Angriff erwarteten, voll Verwunberuug ben Abzug ber feinblichen Flotte erfuhren unb nun beratschlagten, was ferner zu thun fei. Des Themistokles Rat nnb ber Athener Wunsch war, sich eiligst bes Hellespoutes zu bemächtigen. Aber Eurybiabes wibersprach; er riet, ben Xerxes fliehen zu lassen, unb seine Meinung behielt bie Oberhanb. Diobor unb Plutarch erzählen, Themistokles habe nun burch eine List ben Perser-könig vollenbs aus Hellas hinweggefchredt. Er habe ihm nämlich sagen lassen, bie Griechen seien im Begriff nach bem Hellespont zu segeln, Themistokles aber, besorgt um ben König, rate ihm schleunigst nach Asien hinüberzugehen. Xerxes trat auch balb feinen Rückzug an.
c) Letzte Schicksale des Themistokles.
Enblich untersag auch ber große Themistokles bem Reibe, welchem in Republiken Mäuuer von Talent uub Verbieust selten entgehen können. Die am meisten gegen ihn ausgebrachten Spartaner bewirkten in Ver-binbuug mit feinen Feinben in Athen, baß er burch bas Scherbengericht verbannt würbe. Er hielt sich feitbem in Argos auf; aber auch bort-hin verfolgte ihn bie Anklage ber Spartaner, er habe Anteil an ber Verräterei bes perferfreunblicheu Panfanias gehabt. Zwar hätte es ben Athenern genügen sollen, was Themistokles gewiß mit Wahrheit auf biefe Beschnlbignng erraiberte: zu herrschen habe er immer gesucht, aber sich beherrschen zu lassen, bazu sei er Weber fähig noch geneigt unb nimmer würbe er sich mit bem ganzen Griechenlanb ben Barbaren preisgeben. Allein feine persönlichen Feinbe brangeit burch; es würbe beschlossen, ihn gefangen nach Athen führen zu lassen unb vor Gericht zu stellen. Dieser Gewaltthat entzog sich Themistokles burch Flucht zu bett Kerkyräern, welche aber bett Zorn Athens unb Spartas zu sehr fürchteten unb ihn nach Epeiros schafften. Auch bort verfolgt, beschloß er, zu Abmetos, bem Könige ber Molosser, ber nicht fein Freunb war, feine Zuflucht zu nehmen. Er faitb ihn nicht zu Haufe, fetzte sich abir
Letzte Schicksale des Themistokles.
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auf den Rat der Fürstin mit dem Kinde derselben als ein Flehender an den Herd und erwartete den König. Als dieser ankam, sicherte er gerührt dem edeln Flüchtling seinen Schutz zu und hielt sein Wort, auch als die Athener und Spartaner seine Auslieferung forderten. Er entließ ihn erst, als Themistokles selbst den Entschluß faßte, zum Könige von Persien zu gehen. Von Ephesos aus meldete er diesem seine Schicksale und berief sich auf die Wohlthaten, die er dem Lerxes in der Not erzeigt, und nachdem er während eines Jahres sich mit der persischen Sprache und Sitte hinlänglich bekannt gemacht hatte, begab er sich persönlich zu Artaxerxes nach Susa (464 v. Chr.).
Er fand beim Könige eine gute Aufnahme und erhielt nach persischer Sitte die Einkünfte dreier Städte angewiesen: Magnesia zum Brot, Lampsakos zum Wein und Myos zum Gemüse. Im Besitze dieser Güter lebte er noch längere Zeit und starb endlich zu Magnesia, nach einigen an einer Krankheit; andere aber erzählen, er habe selbst sein Leben durch Gift geendet; denn früher habe er dem Könige verheißen, ihm Hellas zu unterwerfen, nun aber an die Erfüllung gemahnt, habe er es als unausführbar angesehen und nicht znm Vaterlandsverräter werden wollen. Daß die Liebe zum Vaterlande nie in ihm erloschen war, scheint auch die Erzählung zu bestätigen, daß er seinen Angehörigen besohlen, seine Gebeine nach Attika zu bringen. Gewiß hat er auch in Asien seinem früheren Leben gemäß fing und würdig gedacht und gehandelt, er, von dem Thukydides sagt: „Durch die bloße Kraft seiner geistigen Natnr, ohne künstliche Ausbildung, war er der Fähigste, immer im Augenblicke das Rechte zu finden und das in der Zukunft Kommende zu sehen“.
Der Kampf um die heiligsten Güter des Lebens hatte in allen Griechen das Bewußtsein ihrer Nationalkraft geweckt und besonders in den Athenern, welche am meisten geopfert hatten, ein Bewußtsein der Überlegenheit erzeugt, so daß sie es wagten, selbst angreifend gegen die Perfer vorzugehen.
Die meisten Insel- und Küstenstaaten vereinigten sich mit Athen zu dem ätheuäischeu Bund, dessen Hegemonie Athen übernahm. Der gerechte Aristeides, der nach der Schlacht bei Salamis ans der Verbannung zurückgerufen war, leitete die inneren Bnndesangelegenheiten und verwaltete insbesondere die Bundeskaffe, die zu Delos war, mit großer Gewissenhaftigkeit.
Im Jahre 468 starb Aristeides in hohem Alter und von seinen Mitbürgern hoch geehrt. Ihm folgte in der Leitung der Staatsaugelegeu-
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Penkles.
feiten Kimon, des Miltiades Sohn. Sein Streben ging dahin, mit den Spartanern in friedlichem Einvernehmen zu bleiben und gemeinsam mit ihnen die Perser zu bekriegen. Auch brachte er diesen in der 466 Doppelschlacht am Eurymedon (Fluß in Pamphylien) eine schwere Niederlage bei. Obgleich er durch solche Thaten die Perser zur Ohnmacht erniedrigt und Athens Macht und Ruhm erhöht hatte, arbeitete ihm doch seiner mehr aristokratischen Gesinnung wegen die Volkspartei entgegen. An der Spitze derselben stand Penkles, der, obgleich selbst aus dem berühmten Adelsgeschlecht der Alkmaioniden entsprossen, dennoch der Volkspartei den größeren Einfluß auf Staatsleitung und Gesetz-gebnng zu verschaffen bemüht war.
PmitlcB.
Dnrch seine hinreißende Redegabe, durch feine ruhige Würde und unbestechliche Uneigennützigkeit, so wie durch seine hohe Bildung ist Penkles Griechenlands größter Staatsmann geworden. Er trachtete von Ansang an nach den höchsten Dingen und wollte ein vollendeter Staatsmann werden. Er fühlte aber, daß ihm dazu auch eine gründliche Bildung nötig sei. Darum wurde er ein eifriger Schüler des berühmten Philosophen Anaxagoras, welcher im Widerspruch mit dem griechischen Volksglauben die Gestaltung und Ordnung der Welt einem einzigen Wesen zuschrieb, welches er „Geist" nannte. Diesem Geist legte er alle göttlichen Eigenschaften bei. Perikles nahm die Lehren des Anaxagoras mit Begeisterung ans und blieb sein ganzes Leben lang voll Hochachtung und Liebe für den ernsten Philosophen. Die Einwirkung seiner Beschäftigung mit der Philosophie zeigten sich in seinem ganzen Wesen. Seine Gedanken waren vorzugsweise auf das Große und Erhabene gerichtet. Die Gewalt seiner Rede und den mächtigen Eindruck seiner ganzen Persönlichkeit erkannten die Zeitgenossen dadurch au, daß sie ihn den Olympier nannten und seine Beredsamkeit mit Donner und Blitz verglichen. Er kannte die Gewalt seiner Rede; gleichwohl sprach er nie unvorbereitet und betete znvor zu den Göttern, sie möchten ihm während der Rede kein Wort entschlüpfen lassen, das der vorliegenden Sache nicht angemessen wäre.
Als er in der Gunst seiner Mitbürger feststand, die bald erkannten, wie unter feiner Leitung der Wohlstand Athens durch Belebung des Handels und der Gewerbe und Athens Macht durch Befestigung der Seeherrfchaft immer mehr befördert wurde, trat er feinen Mitbürgern
Perikles.
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oft mit strafender Rede entgegen, ohne von seinem Einfluß etwas einzubüßen. Er übte die Macht eines Königs, ohne sich durch etwas Äußerliches von den übrigen Bürgern zu unterscheiden. Während er über einen Staatsschatz von Millionen schaltete, lebte er im Privatleben sehr eingezogen und seiu Vermögen vermehrte sich um nichts. Desto freigebiger war er gegen Arme und taufende rühmten seine Wohlthaten. Daneben war er darauf bedacht, die ungeheuren Summen, welche durch die Verlegung des Bundesschatzes von Delos nach Athen und durch glückliche Feldzüge gewonnen waren, darauf zu verwenden, daß Athen durch Aufstellung von Meisterwerken der Kunst, namentlich der Bau-uud Bildhauerkunst, und durch Herbeiziehung der größten Gelehrten und Künstler zum Mittelpunkt geistiger Bildung gemacht werde, so daß das perikleische Zeitalter zugleich als das goldene der griechischen Kuust und Litteratur gilt.
Durch die vorzüglichsten Meister der Bau- und Bildhauerkunst, vorzüglich durch den berühmten Pheidias, ließ Perikles herrliche Kunstwerke errichten, mit denen er vornehmlich die Akropolis, die Bnrg von Athen, schmückte. Zwei dieser Bauwerke werden in ihren Trümmern heute noch bewundert. Auf der Westseite des Felsens, auf welchem die Akropolis lag, ließ Perikles die Propyläen aufführen, einen herrlichen Bau, dessen rechten Flügel -ein Tempel der Siegesgöttin, dessen linken eine Halle mit einer Gemäldesammlung einnahm, während sich in der Mitte eine glänzende Säulenhalle befand, die aus weißem Marmor gebaut war und fünf hohe Durchgänge hatte. Zu diesem fünffachen Marmorthor führte von unten herauf eine breite marmorne Treppe. Der Bau der Propyläen nahm 5 Jahre in Anspruch und kostete gegen 9 Millionen Mark. Schon im Altertum wurde dieser im edelsten Stil ausgeführte Bau hoch gepriesen.
Durch die Propyläen gelangte man zum Tempel der Athene Par-thenos (d. h. der jungfräulichen Athene), welcher der Parthenon oder das Haus der Jungfrau hieß. Er hatte die Form eines länglichen Vierecks, war aus dem schönsten weißen Marmor erbaut und von einer marmornen Säulenhalle umgeben. Seine Giebelfelder waren mit den herrlichsten Bildwerken geschmückt. Im Innern stand die gegen 40 Fuß hohe, aus Gold und Elfenbein gearbeitete Bildsäule der Stadtgöttin Athene, ein Werk des Pheidias, des berühmtesten Bildhauers in damaliger Zeit, eines Freundes des Perikles.
Zwischen Propyläen und Parthenon stand aus der höchsten Spitze der Burg eine andere gegen 60 Fuß hohe Bildsäule derselben Stadt-
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Sokrates.
göttin von Athen; sie war von Erz gebaut und von Pheidias aus der marathonischen Bente gegossen. Man nannte das Bild auch die „vorkämpfende Athene" (Athene Promachos); denn ihr Schild war gehoben wie zur Abwehr von Geschossen. Ihr Helmbusch leuchtete beit Schiffern, die vom Vorgebirge Sunion her sich Athen näherten, meilenweit entgegen.
Aber auch die Stadt selbst war mit den herrlichsten Gebäuden, mit Tempeln, Altären, Theatern, Gymnasien geschmückt. Der besuchteste Platz Athens war der Markt, der Mittelpunkt des gesamten öffentlichen Lebens. Hier wurde nicht bloß gekauft und verkauft, sondern dort kam auch die Volksgemeinbe zusammen, um über bie Annahme neuer Gesetze zu beraten, hier versammelten sich auch bie Richter um Recht zu sprechen.
So gelangte Athen unter ber Leitung des Perikles auf ben Gipfel ber Macht und des Glanzes. Vierzig Jahre hindurch hat dieser bewunderungswürdige Mann nicht durch Tyrannei, sondern durch Klugheit und Gerechtigkeit Athen beherrscht. Allein sein großer Plan, alle Hellenen zu einem großen Bundesstaat zu vereinigen, dessen Haupt Athen sein sollte, scheiterte an der Eisersucht der Spartaner. Noch unter Perikles führte der lange unterdrückte Haß Spartas zwischen beiden Großmächten -404 ben Ausbruch bes peloponnesischen Krieges herbei, in welchem Sparta unb fast ber ganze Peloponnes 27 Jahre lang gegen Athen kämpften, und welcher mit dein Sturze Athens endigte. Perikles erlebte denselben nicht. Er, der edelste Bürger Athens, der größte Staatsmann aller Zeiten, starb bereits im Anfange des Krieges (429) als ein Opfer der damals die Stadt verheerenden Seuche.
SosiUilteF (von 469 — 399 v. Chr.).
(Von Ludwig Stacke.)
Nach dein Tobe bes Perikles, ber allein bas Volk zu zügeln ver-stanben hatte, trug bie Vermehrung ber Macht, welche betn Volke zu teil geworben, bie verberblichsten Folgen. Eigennützige Menschen warfen sich zu Volksführern auf, bie nicht für bas Wohl bes Staates, fonbern nur für ihre Macht unb ihr Ansehen zu wirken suchten und deshalb den Leidenschaften der Menge schmeichelten und ihr die Leitung der Staatsgeschäfte nach Willkür überließen. Die unheilvollsten Folgen einer zügelllosen Pöbelherrschaft blieben nicht ans. Das ehedem so mächtige Athen erlitt im peloponnesischen Kriege durch die Spartaner eine Demütigung nach der anderen und nach der völlig verunglückten See-
Sokrates.
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Unternehmung Athens gegen Sicilien, welche auf den Rat des Alkibiades ins Werk gesetzt wurde, eilte Athen unanfhaltsam in sein Verderben. Die völlige Vernichtung der Macht Athens erfolgte nach der Seeschlacht bei Aigospotamoi (405 v. Chr.), in welcher der spartanische Feldherr Lysander den Athenern eine entscheidende Niederlage beibrachte. Schon im folgenden Jahre mußte sich die Stadt Athen dem Sieger Lysander ergeben (404), ihre Mauern wurden geschleift, an Stelle der Volksherrschaft trat die von den Spartanern eingesetzte Regierung der dreißig Tyrannen, welche mit der größten Willkür über Leben und Eigentum ihrer Mitbürger schalteten.
Zwar wurde die Schreckensherrschaft der Dreißig durch Thrasy-bulos bald wieder gestürzt, die Volksherrschaft wieder hergestellt und die solomsche Verfassung erneuert. Aber die alten Formen konnten den entflohenen besseren Geist im Volke nicht zurückrufen. Schon zu tief war dasselbe sittlich herabgekommen, als daß die wenigen Edlen, die sich dem schmählichen Verfall entgegenzustellen versuchten, imstande gewesen wären, denselben aufzuhalten. Das Schicksal des edlen Sokrates, der in diesen Zeiten den Giftbecher trinken mußte, zeigt zur Genüge, wie tief das sittliche Gesühl gesunken, wie zerrüttet das Staatsleben war, wie an der Stelle von Weisheit und Gerechtigkeit Willkür und Leidenschaft herrschten.
Sokrates war der Sohn des Atheners Sophroniskos, eines Bildhauers, und erlernte die Kunst seines Vaters. Er nahm an einigen Feldzügen seiner Vaterstadt Athen teil und zeichnete sich durch Mut und Tapferkeit aus. Ebenso war er ein Muster in der Strenge der Lebensweise und in der Abhärtung des Körpers. Als er den Feldzug gegen Potidaia in Thrakien mitmachte, war der Winter so rauh, daß keiner ausging, ohne die Füße in Pelz oder Filz zu wickeln. Sokrates ging unbeschuht und in derselben Kleidung, die er immer trug. Doch weder die väterliche Kunst noch das Kriegshandwerk war es, wozu er sich hingezogen fühlte; vielmehr fand er den wahren Beruf seines Lebens darin, schöne und geistreiche Jüuglinge zu belehren und durch die Bande der Freundschaft an sich zu knüpfen. Seine Lehren erteilte er öffentlich, ohne sich dafür bezahlen zu lassen. Vor allem drang er auf Prüfung und Durchforschung des eigenen Geistes und stellte als erste Anforderung hin: „Erkenne dich selbst". Ebenso wollte er den Geist von der Herrschaft der Sinne, so wie der irdischen Güter möglichst befreien und lehrte daher: „Nichts bedürfen ist göttlich und am wenigsten bedürfen der Gottheit am nächsten". Der Grundstein aller Tugend war ihm die
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Sokrates.
Mäßigkeit. Durch ein mäßiges und tugendhaftes Leben ging er seinen Schülern mit dem würdigsten Beispiele voran in einer Zeit, wo in ganz Griechenland das größte Sittenverderbnis herrschte. Seine Schüler wußte er so für sich zu gewinnen, daß Antisthenes, der im Piräens wohnte, täglich den eine Meile weiten Weg in die Stadt ging, um den Sokrates zu hören. Noch Größeres that ein anderer seiner Schüler, Enkleides ans Angara. Als die Athener im peloponnesischen Kriege den Megarensern bei Todesstrafe den Besuch ihrer Stadt verboten hatten, wagte es Euklides, in Frauenkleidern von Megara nach dem vier Meilen entfernten Athen zu wandern, um nur einen Tag die Unterhaltung des Sokrates zu genießen. Doch wurden manche seiner Schüler, wie Alkibiades, Kritias und Theramenes, seinen Lehren untren, ja sie sind es gerade, die dem athenischen Staate so verderblich wurden.
Bis in sein siebenzigstes Jahr war Sokrates durch Lehre und Beispiel bemüht, seine Mitbürger zum Guten zu führen; dabei konnte es aber nicht fehlen, daß ihn viele, denen die Strenge seiner Lehren und die Rücksichtslosigkeit seines Tadels mißfiel, beneideten und haßten. Doch erst nach dem Sturze der dreißig Tyrannen erhoben einige Athener eine öffentliche Anklage gegen ihn, indem sie ihn beschuldigten, daß er die Jngend verderbe und die Verehrung nener Götter einführe.
Es war in Athen Sitte, daß sich die Angeklagten vor Gericht durch kunstvolle Reden verteidigten und durch Bitten und Thränen das Mitleid der Richter zu erregen suchten. Sokrates verschmähte diese niedrigen Mittel; in seiner einfachen Verteidigungsrede begnügte er sich, den Richtern ein Bild seines vergangenen Lebens darzustellen. Diese Verteidigung fand bei feinen Richtern kein Gehör, und sie verurteilten ihn zum Tode. Nach athenischer Sitte mußte jeder Verurteilte selbst angeben, welche Strafe er verdient zu haben glaubte. Auch Sokrates sollte sich jetzt selbst eine Strafe bestimmen, und er erklärte, er glaube verdient zu haben, daß er von dem Staate auf öffentliche Kosten ernährt werde, eine Ehre, welche den Siegern in den olympischen Spielen erwiesen wurde. Durch diese Antwort erbitterte er seine Richter noch mehr, und viele, welche zuerst gegen die Todesstrafe gestimmt hatten, sprachen sich jetzt für dieselbe aus. Er ward verurteilt, den Giftbecher zu trinken, und ins Gefängnis geführt.
Am Tage vor seiner Verurteilung aber ging gerade das heilige Schiff nach Delos ab, um dem Apollon ein Opfer zu bringen, und nach athenischem Gebrauche durfte vor der Rückkehr dieses Schiffes kein Todesurteil vollzogen werden. So lebte denn Sokrates noch dreißig Tage
Sokrates.
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im Gefängnis, wo ihn seine Schüler, niedergebeugt von Schmerz über den nahen Verlust eines solchen Lehrers, täglich besuchten und sich mit ihm unterhielten. Am lautesten jammerte Apollodoros; als dieser einst schluchzend ausrief: „Ach, daß du so unschuldig sterben mußt!" antwortete Sokrates lächelnd: „Wünschest du denn, daß ich schuldig stürbe?"
Einer seiner Schüler, Kriton, hatte durch eine Summe Geldes den Kerkermeister bestochen und forderte den Sokrates auf, in der Nacht durch die offene Thür des Gefängnisses zu entfliehen und nach Thessalien zu reifen, wo Kriton Gastfrennde hatte. Sokrates aber verschmähte diesen Vorschlag und bewies dem Kriton, daß es die Pflicht des Bürgers sei, den Gesetzen des Staates in jedem Falle zu gehorchen.
Am Morgen seines Todestages erschienen seine Freunde schon früh im Gefängnis. Auch seine Frau Xanthippe war da, das jüngste Kind auf den Armen tragend. Um ihr heftiges Wehklagen nicht länger anhören zu müssen, bat Sokrates sie wegzuführen, und nun begann er sein letztes Gespräch mit seinen Freunden, indem er sie über die Unsterblichkeit der Seele belehrte. So verging der Tag, und der Abend brach herein, als der Diener eintrat und ihm anzeigte, daß es nun Zeit fei. "Du wirst mir nicht fluchen", sagte er, „wie die anderen thun; ich thue ja nur, was mir die Oberen befehlen. Ich habe dich als den besten Mann kennen gelernt von allen, die je hierher gekommen sind. Lebe wohl und versuche die Notwendigkeit so leicht als möglich zu ertragen!" Weinend entfernte sich der Diener. „Wie brav der Mensch ist!" sagte Sokrates. „Auch während der ganzen Zeit hat er sich so bewiesen, wenn er mich besuchte. Aber geht und holt den Trank, wenn er schon gerieben ist!" Die Freunde baten ihn noch zu warten, aber er hielt es für lächerlich, jetzt noch mit dem Leben zu geizen. „Wie muß ich's machen?" fragte er den, welcher den Giftbecher brachte. „Du mußt trinfen und dann umhergehen, bis dir die Füße schwer werden, und dich dann niederlegen." Er nahm den Becher mit voller Heiterkeit und ohne eine Miene zu verändern; vielmehr sah er den Menschen mit feinem gewöhnlichen scharfen Blick an. „Ist es wohl erlaubt, den Göttern zu spenden?" fragte er. Man sagte ihm, es werde nur so viel Gift eingerieben, als zum Trinken notwendig fei. „Gut", erwiderte er, „so wollen wir wenigstens beten, daß der Übergang dorthin glücklich von statten gehe." Bei diesen Worten leerte er, fest anhaltend, den Becher.
Bei diesem Anblick konnten sich feine Freunde der Thränen nicht länger erwehren, sie weinten und rangen die Hände. Er aber hieß sie ruhig fein, denn darum habe er ja die Weiber weggeschickt. Er ging
Abicht, Lesebuch. II. 3
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Epameinondas und Pelopidas.
indes auf und ab, und als er Mattigkeit fühlte, legte er sich nieder und verhüllte fein Gesicht. Nach einiger Zeit befühlte ihm der, welcher das Gift gereicht hatte, die Füße, drückte sie stark und fragte ihn, ob er's fühle. „Nein", jagte der Sterbende. Dann ging jener prüfend aufwärts und zeigte den Umstehenden, wie er kalt und starr werde. Da nun schon der Unterleib anfing kalt zu werden, richtete er sich noch einmal auf uud sagte zu Kriton: „Wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig. Opfert ihn ja nnd versäumt es nicht!" Kriton fragte ihn, ob er noch etwas zu sagen habe, aber er antwortete nicht mehr. Dies war das Ende des besten, weisesten und gerechtesten aller Griechen.
Lpamemondap unb Pelopidas.
Nach Athens Fall wurde Sparta das Haupt Griechenlands. Bald aber artete sein Regiment über die griechischen Städte in eine unerträgliche Zwingherrschaft ans. Doch sollte auch sein Übermut eine tiefe Demütigung erfahren.
Ein spartanischer Feldherr, Phoibidas, führte nämlich einen Heer-hausen durch Boiotien. Als er in die Nähe von Theben kam, besetzte er auf die Einladung eines vornehmen, der Adelspartei ungehörigen Thebaners, namens Leontiades, mitten im Frieden die Burg Kadmeia in Theben und zwang die Anhänger der Volkspartei die Stadt zu verlassen. Die Vertriebenen, darunter Pelopidas, fanden in Athen Zuflucht, von wo sie mit ihren in Theben zurückgebliebenen Freunden eine geheime Verbindung unterhielten. Mit ihnen fetzten sie einen bestimmten Tag zur Ermordung der von den Spartanern eingesetzten Gewalthaber fest. Am Abend dieses Tages schlichen sich zwölf der Verbannten, als Bauern und Jäger verkleidet, unter Führung des Pelopidas in Theben ein, wo ihre Mitverschworenen der Verabredung gemäß die spartanischen Befehlshaber Archias und Philippos zu einem Gastmahl eingeladen hatten.
Während diese in den Genüssen der Tafel schwelgten, erschien plötzlich ein Eilbote ans Athen, der einen Brief an Archias überbrachte mit der Aufforderung ihn fofort zu lesen, da er wichtige Nachrichten enthalte. In der That betrafen diese die Einzelheiten der geplanten Verschwörung, die somit der Entdeckung nahe war. Aber der schon trunkene Archias schob den Brief unter das Polster, auf dem er faß, mit den Worten: „Ernste Dinge wollen wir auf morgen verschieben". Zugleich wandte er sich an feinen Nachbar mit der Frage, ob die thrafischen Tänzerinnen,
Epameinondas und Pelopidas.
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die zur Erhöhung der Freude eiugeladen waren, bald kommen würden. In demselben Augenblick traten die vermeintlichen Tänzerinnen in den Saal, von den Gästen mit Jnbel begrüßt. Es waren aber die Mitverschworenen, welche Weiberkleider über ihre Panzer gezogen und das Gesicht durch Oliven- und Fichtenkränze unkenntlich gemacht hatten. Sie setzten sich neben die Zechenden, zogen aber alsbald die verborgen gehaltenen Schwerter und töteten Archias und Leontiades samt ihren Genossen.
Am nächsten Morgen verkündeten die Befreier durch deu Mund des Pelopidas dem Volke das Geschehene und forderten es zur Vollendung des so glücklich begonnenen Werkes ans. Freudig folgte das Volk diesem Rufe und in kurzem ward die spartanische Besatzung aus der Burg Kadmeia getrieben (378).
Theben hatte sich nicht nur befreit, sondern es verstand auch, die errungene Freiheit gegen die Spartaner zu behaupten. Dies war namentlich das Werk von Pelopidas und Epameinondas. Diese beideu Männer befehdeten einander nicht wie Themistokles und Aristeides, sondern wirkten in Eintracht für die Erhebung ihres Vaterlandes.
Pelopidas stammte aus einem edlen Geschlechte und besaß großes Vermögen, von welchem er gern Notleidenden mitteilte. Er war ein Freund der Ringkunst und übertraf an leiblicher Gewandtheit alle The-baner. Sein feuriger, aufstrebender Geist machte ihn bald den spartanischen Gewalthabern verdächtig, und diese trieben ihn, zumal er wegen feines Reichtums um fo gefährlicher schien, in die Verbannung. Sein vertrautester Freund war Epameiuoudas, der für die Freiheit seiner Vaterstadt begeistert und bereit war, für dieselbe jeden Augenblick fein Leben zu opfern. Er war trefflich erzogen, stark, gewandt und tapfer wie Pelopidas, besaß jedoch einen reicheren Geist, tiefere Kenntnisse und das edelste Herz. Mäßigkeit, Bescheidenheit, Gerechtigkeit und Geringschätzung äußerer Güter hielt er für die vorzüglichsten Tugenden des Mannes, und die Wahrheit liebte er so, daß er sich auch im Scherze keine Unwahrheit erlaubte. Mit diesen herrlichen Eigenschaften vereinigte er die damals so seltene Tugend der Uneigennützigkeit. Seine Genügsamkeit und Unbestechlichkeit war allgemein bekannt. Wiederholt wies er das Anerbieten seines Freundes Pelopidas zurück, der alle Reichtümer mit ihm teilen wollte. Einen persischen Gesandten, der ihn durch Geld zu gewinnen versuchte, sagte er: „Mein Freund, wenn deines Königs Absichten meinem Vaterlaude heilsam find, so bedarf es deiner Geschenke nicht; wenn aber das Gegenteil der Fall ist, so wird mich nicht
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Epameinondas und Pelopidas.
alles Gold und Silber der Welt zum Verräter machen. Du aber verlasse sofort die Stadt, damit du nicht andere verführst!" Zwar hatte Epameinondas keinen Anteil an der gewaltsamen Befreiung Thebens genommen, weil er seine Hände nicht mit Bürgerblut beflecken wollte, doch schloß er sich sofort nach der That den Verschworenen an, mahnte zur Ruhe und Mäßigung und leitete mit Pelopidas die Verteidigung des Vaterlandes.
Dieser treffliche Mann erhielt den Oberbefehl in dem Kriege gegen Sparta. Denn nachdem die spartanische Besatzung aus Theben vertrieben war, rückte ein spartanisches Heer unter Führung des Königs Kleombrotos in Boiotien ein. Mit 11,000 Mann traf er bei dem Flecken Lenktra auf das nur 6000 Mann starke thebanifche Heer. Pelopidas befehligte die „heilige Schar", eine Anzahl thebanifcher Jünglinge, welche sich durch einen feierlichen Eid verbunden hatten, zu siegen oder zu sterben. Epameinondas leitete das Ganze. Trotz der Übermacht erfocht Epameinondas einen glänzenden Sieg. Der König Kleombrotos und 1400 Spartaner blieben aus dem Schlachtfeld; die übrigen wandten sich zur Flucht. Durch den herrlichen Sieg bei Lenktra (371 v. Chr.) ging die Hegemonie über Hellas von Sparta auf Theben über.
Auf einem späteren Kriegszug drang Epameinondas sogar in den Peloponnes ein und kam selbst bis ins lakonische Gebiet, das seit 500 Jahren keinen Feind gesehen hatte. Die Bestürzung in Sparta war groß, doch wurde die Stadt durch die Tapferkeit des greifen Königs Agefilaos glücklich verteidigt.
Als Epameinondas von diefem Feldzug nach Theben zurückkehrte, wurde er zur Rechenschaft gezogen, weil er den Oberbefehl 4 Monate über die gesetzliche Zeit geführt hatte. Seine Neider verlangten, daß er, wie das Gesetz vorschrieb, mit dem Tode bestraft würde. Schon wollten die Richter abstimmen, da rief Epameinondas: „Das Gesetz verurteilt mich; ich verdiene den Tod! Nur verlange ich, daß man das Urteil also abfasse: Epameinondas ist von den Thebanern ant Leben gestraft worden, weil er sie zwang, bei Lenktra die Spartaner zu besiegen, weil er sein Vaterland gerettet und Griechenland frei gemacht". Da verstummten die Ankläger und Epameinondas wurde einstimmig freigesprochen. Als einige Jahre später ein neuer Krieg mit Sparta aus-gebrochen war, wurde Epameinondas vom Volke wiederum zum Oberfeldherrn gewählt. Bei Mantineia in Arkadien kam es zu einer entscheidenden Schlacht (362). Mit gewohnter Kunst ordnete Epameinondas sein Heer und warf sich mit Ungestüm auf die Feinde: die
Epameinondas und Pelopidas.
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spartanischen Reihen wanken, werden durchbrochen und neigen sich zur Flucht. Da trifft ein feindlicher Wurfspieß die Brust des Epameinondas. Die Nachricht vom Fall des Feldherrn verbreitet Verwirrung im thebanischen Heer; man laßt vom Kampf ab und verfolgt eine Zeitlang den errungenen Vorteil nicht.
Bald aber dringen die Thebaner, erbittert über den Fall ihres Führers, mit Wut auf die Feiude ein und werfen sie zurück. Inzwischen war der sterbende Epameinondas noch lebend in sein Zelt gebracht, das Eisen in seiner Brust. Die Ärzte hatten erklärt, daß er sterben würde, sobald man das Eisen aus der Wunde zöge. Als ihm nun die Siegesbotschaft gemeldet wurde, sprach er heiter: „Ich habe genug gelebt, denn ich sterbe unbesiegt", und nun zog er selbst den Wurfspieß aus seiner Brust. Als feine Freunde klagten, daß er keinen Sohn hinterlasse, erwiderte er: „Ich hinterlasse euch zwei unsterbliche Töchter, die Siege bei Lenktra und Mantineia".
Schon 2 Jahre vor ihm war sein Freund Pelopidas im Kamps gegen einen thessalischen Tyrannen nach heldenmütiger Gegenwehr gefallen.
Mit dem Tode dieser beiden Männer erreichte die kurze Blüte Thebens ihr Ende.
Während die Griechen sich durch innere Kämpfe schwächten und überall der Geist der Zwietracht herrschte, benutzte diese Zeiten der Ohnmacht Griechenlands, dessen drei Hauptstaaten Athen, Sparta, Theben gleich entkräftet waren, der schlaue kriegslustige König Philipp von Makedonien, um das uneinige Griechenland seiner Macht zu unterwerfen. Die Griechen selbst erleichterten ihm sein Vorhaben, da sie ihn zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten ins Land riefen. Zwar warnte der vaterländisch gesinnte Demosthenes, der größte Redner des Altertums, seine Landsleute vor den ehrgeizigen Absichten des makedonischen Königs; doch sie hörten zu spät auf feine Ratschläge. Griechenland verlor durch die Schlacht bei Ehaironeia (338) seine Freiheit. Fortan mußten sich die Griechen in die Hegemonie Makedoniens fügen.
Doch behandelte Philipp die besiegten Griechen mit Schonung. Er berief Abgeordnete sämtlicher griechischer Staaten zu einer Nationalversammlung nach Korinth, in welcher er den Griechen einen gemeinsamen Kriegszug gegen das Perser reich vorschlug und durch seine Vorstellung, die vormals von den Persern an den Griechen verübten Frevel rächen zu wollen, es erreichte, daß er zum unbeschränkten Oberseld-herrn dieses Kriegszugs ernannt wurde.
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Alexander der Große.
Schon waren die Vorbereitungen zum Feldzug getroffen, als Philipp zu Aigai von einem seiner Leibwächter ans Privatrache ermordet wurde. (336 ü. Chr.).
Alexander der Grosze (336-323 v. Chr.).
(Nach Pfizer.)
Alexander war 19 Jahr alt, als er nach der Ermorduug seines Vaters Philipp den makedonischen Thron bestieg. Er war von der Natur mit einem schönen, kräftigen Körper und den trefflichsten Anlagen des Geistes ausgestattet, die sein Vater durch Leibesnbnngen und durch guten Unterricht ans das beste auszubilden bemüht war. Er berief deshalb den Griechen Aristoteles, den ausgezeichnetsten Weisen damaliger Zeit, an seinen Hof, um die Erziehung seines Sohnes zu übernehmen. „Wisse", schrieb er dem Aristoteles, „daß mir ein Sohn geboren ist. Zu vielem Dank fühle ich mich darum den Göttern verpflichtet, nicht sowohl weil er geboren ist, als weil dieselben ihn zu deinen Lebzeiten geboren werdeu ließen. Denn von dir erzogen uud gebildet, wird er, so hoffe ich, unser und der Größe des Reichs, zu dessen Regierung er berufen ist, würdig werden." Nie hat ein größerer Erzieher einen größeren Zögling gehabt.
Schon als Knabe sehnte sich Alexander nach ruhmwürdigen Thaten. So oft Siegesboten die Nachricht brachten, sein Vater Philipp habe diese oder jene Stadt eingenommen, ries er aus: „Ach, mein Vater wird noch die ganze Welt erobern uud mir nichts zu thun übrig lassen." Am liebsten hörte er Erzählungen über die Großthaten der alten Helden, von Krieg und Schlachten. Vor allem liebte er die Gesänge des Horner, die er stets bei sich hatte und selbst des Nachts unter sein Kopfkiffen legte. Insbesondere erregte der Held Achilleus seine Verminderung, ihn nahm er sich znm Vorbild. Wie dieser sich den Patroklos, so hatte Alexander sich den Hephaistion znm Herzensfreund gewählt, den er anch wohl seinen Patroklos nannte und stets au seiner Seite hatte.
Einst brachte ein Thessaler ein prächtiges, aber sehr wildes Streitroß, Bukephalos geuauut, zum Köuig Philipp und bot es ihm für die große Summe vou dreizehn Talenten an. Man begab sich anfs freie Feld, um es zu probieren, fand es aber wild uud gauz unbrauchbar, weil es uiemaud aussitzeu ließ und sich gegen jeden bäumte, der ihm nahe kam. Schon befahl Philipp, darüber unmutig, das scheue und unbrauchbare Pferd wieder wegzuführen, als der junge Alexander
Alexander der Große.
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sagte: „Um welch treffliches Pferd bringt man sich da, bloß weil man es aus Mangel an Mnt und Geschicklichkeit nicht zu behandeln weiß". Als er so zu wiederholten Malen sein Bedauern über den Verlust des Pferdes laut werden ließ, fragte ihn Philipp, ob er, der älteren Männern Vorwürfe mache, besser mit einem Pferde umzugehen wüßte als sie. „Mit diesem wenigstens", versetzte Alexander, „getraue ich mir besser umgehen zn können als ein anderer." Philipp erwiderte: „Wenn du es aber nicht kannst, welcher Strafe willst dn dich für deine vorlaute Keckheit unterwerfen?" — „Beim Zeus, ich will den Preis des Pferdes bezahlen." Darüber entstand ein großes Gelächter, uud nachdem sie wegen der Summe einig geworden, ging Alexander auf das Pferd zu, faßte es beim Zügel und kehrte es gegen die Sonne, vermutlich weil er bemerkt hatte, daß es vor dem neben ihm niederfallenden, hin und
her schwankenden Schatten scheute. So lief er eine Weile neben dem
Pferde her und streichelte es, so lange er es noch vor Zorn und Ungestüm schnauben sah; dann aber ließ er allmählich feinen Mantel fallen, fchwang
sich rasch und behende hinauf und fetzte sich im Sattel fest. Anfangs
faßte er den Zügel ganz kurz und hielt das Pferd, ohne es zu schlagen uud zu spornen, zurück; wie er aber merkte, daß es sein wildes Wesen ablegte und nur begierig war zu laufen, sprengte er mit verhängtem Zügel davon und trieb es jetzt mit Zuruf und mit den Fersen zum Lausen an. Philipp und feine Begleiter waren zuerst in großer Angst und stumm, aber als er umlenkte und voll stolzer Freude zurückkehrte, erhoben alle ein Freudengeschrei, und sein Vater sing vor Freude an zu weinen, küßte ihn beim Absteigen und sagte: „Mein Sohn, suche dir ein anderes Reich, das deiner würdig ist; Makedonien ist für dich zu klein!" So hat Alexander das Pferd, auf welchem er Asien eroberte,
sich selbst erobert, während kein anderer es bändigen konnte. Es ließ
sich nie von einem anderen Menschen als von Alexander besteigen, und
als es etwa im dreißigsten Jahre in Folge der Strapazen und des
Alters am Hydaspes in Indien gestorben war, gründete er dort zum Andenken an das treue Tier die Stadt Bukephala.
Nach dem Tode seines Vaters ließ auch er sich, wie früher dieser, von der griechischen Staatenversammlung zu Korinth die Würde eines unbeschränkten Oberbefehlshabers für einen Kriegszug gegen Persien übertragen.
In Korinth lernte Alexander damals auch den weisen Diogenes kennen. Den Grundsatz des Sokrates: „Der Mensch müsse so wenig als möglich bedürfen", trieb er auf das äußerste. Er trug einen langen
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Alexander der Große.
Bart, einen zerrissenen Mantel, einen alten Ranzen auf dem Rücken und wohnte in einer Tonne. Wenn Alexander alles, so wollte Diogenes nichts besitzen und warf sogar sein Trinkgeschirr entzwei, als er einen Knaben aus der hohlen Hand Wasser trinken sah. Alexander begehrte, den Sonderling kennen zu lernen und begab sich, von einem glänzenden Gefolge begleitet, zu ihm. Diogenes faß gerade in seiner Tonne und sonnte sich. Als er die Menge Menschen aus sich zukommen sah, erhob er sich ein wenig. Alexander grüßte ihn freundlich, sprach mit ihm und fand seine Antworten sehr verständig. Zuletzt fragte er ihn: „Kann ich dir eine Gunst erweisen?" ,.O ja", erwiderte Diogenes, „geh' mir
ein wenig aus der Sonne." Alexanders Begleiter brachen über dieses Wort des Diogenes in ein lautes Gelächter aus. Alexander aber sagte: „Wenn ich nicht Alexander wäre, so möchte ich Diogenes sein".
Zwei und zwanzig Jahre alt trat Alexander den Zug gegen Persien an.
Die Schlacht am Graiiikos (334).
Im Frühling des Jahres 334 landete Alexander mit einem aus-
erlesenen Heere von 30,000 Fnßsoldaten und 5000 Reitern in Kleinasien. Zunächst begab er sich aus die Stätte, wo einst Troja gestanden, bekränzte das Grab des Achilleus und pries ihn als den glücklichsten der Sterblichen, der im Leben einen treuen Freund, im Tod einen herrlichen Sänger feiner Thaten gefunden habe.
Darauf zog er mit feinem Heere dem Flüßchen Gramkos zu, denn er hatte von feinen Kundschaftern die Nachricht erhalten, daß die Perser
auf dem anderen Ufer des Granikos in Schlachtordnung ständen. Sein
Feldherr, der alte Parmenio, trat zu ihm und riet ihm, am Ufer des Flusses zu lagern; der Feind werde nicht wagen in ihrer Nähe zu übernachten, sich zurückziehen und so das makedonische Heer ohne Schwierigkeit den Übergang ausführen, ehe der Feind feine Aufstellung vollendet habe; jetzt aber sei der Übergang gefährlich, weil der Fluß an manchen Stellen tief, die Ufer steil feien und der Feind über sie herfallen könne; ein Unfall zu Anfang des Krieges aber wäre sehr nachteilig. Alexander antwortete: „Wohl sehe ich das ein, lieber Parmenio; aber ich würde mich schämen, nachdem ich ohne Mühe den Hellespont überschritten, wenn jetzt dieser Bach uns abhalten sollte sofort überzusetzen. Auch wäre es mit dem Ruhme der Makedonier und mit meiner Verachtung der Gefahr nicht vereinbar, und die Perser würden frischen Mut fassen, als könnten sie sich mit den Makedoniern messen".
Die Schlacht am Granikos.
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Er ordnete daher sein Heer zum Übergange, der zugleich ein Kampf sein sollte. Eine Zeitlang standen beide Heere in banger Erwartung der nächsten Ereignisse ruhig da, und tiefe Stille herrschte auf beiden Seiten. Endlich warf sich Alexander unter Trompetenschmettern uud Schlachtruf in die Wellen mit seinen schwerbewaffneten Reitern, voran aber zogen die leichten Reiter unter Sokrates und Amyntas. Die mit Borteil von oben herab streitenden persischen Reiter schleuderten teils ihre Geschosse von den höheren Stellen des Ufers auf sie, teils rückten sie ihnen an den niedrigeren Stellen ins Waffer entgegen; so wurden die ersten Makedonier durch die Übermacht der mit Vorteil Kämpfenden zurückgetrieben und trotz der tapfersten Gegenwehr alle niedergehauen, die sich nicht auf den nachrückenden Alexander zurückzogen.
Dieser, ausgezeichnet durch seinen Schild sowohl als durch den Haarbusch des Helmes, neben welchem zu beiden Seiten eine ungemein große Feder von blendender Weiße schwankte, und daher das Ziel feindlicher Schüsse und Stöße war, griff jetzt die dichteste Masse der Reiter an; ein furchtbarer Kampf entspann sich um ihn her, mit) inzwischen kam ohne Schwierigkeit eine Abteilung der übrigen Makedonier um die andere durch den Fluß.
Es war eine Reiterschlacht, sah aber vielmehr aus wie ein Kampf des Fußvolks; denn Roß gegen Roß und Mann gegen Mann kämpften, hier die Makedonier, um die Perser vom Ufer zu vertreiben, dort die Perser, um die Makedonier nicht ans Land zu lassen und in den Fluß zurückzuwerfen. Alexanders Speer zerbrach; der Korinthier Demaratos von seiner Leibschar gab ihm den seinigen. Mit diesem sprengte er gegen den Spithridates, den Schwiegersohn des Königs Dareios Kod0-mannos vor und wars ihn durch einen Stoß ins Gesicht vom Pferde; der Perser Rösakes rannte auf ihn los und hieb ihm mit seinem krummen Säbel nach dem Kopse, schlug ihm aber nur ein Stück vom Helm ab, und dafür durchbohrte ihm Alexander die Brust mit der Lanze. Spithridates hatte von hinten das Schwert gegen Alexander aufgehoben, aber Klitos kam ihm zuvor und trennte dem Perser mit einem Hiebe den Arm samt dem Säbel vom Leibe. Die Makedonier hatten neben der größeren Kraft und Übung den Vorteil der Stoßlauzen gegen die Wurflanzen der Perser, und so wurden die letzteren ans dem Punkte, wo Alexander selbst kämpfte, zuerst zurückgetrieben, und da dies der Mittelpunkt war, wichen bald auch die Reiter auf den Flügeln, und die Flucht wurde allgemein.
Ungefähr tausend persische Reiter fielen. Die Makedonier verloren
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Alexander der Große.
fünfundzwanzig Mann von den Edelscharen und neunzig andere Krieger, deren Hinterbliebene Alexander großmütig beschenkte.
Durch den Sieg Alexanders am Granikos wurden die kleinasiatischen Küstenstädte von der persischen Herrschaft befreit. Von der südlichen Küste aus zog Alexander nun nach Norden und drang in das Innere von Phrygien ein. Hier befand sich in der Stadt Gordion der Wagen eines alten phrygischen Königs, an welchem das Joch durch einen sehr künstlichen Knoten von Baumbast befestigt war. Nach einer alten Sage sollte dem, der diesen Knoten lösen würde, die Herrschaft Asiens zufallen. Als es Alexander nicht gelang, die künstlich verschlungenen Enden des Knotens zu finden, zerhieb er denselben mit seinem Schwert, um damit anzudeuten, daß er zum Herru Asiens bestimmt sei.
Hierauf zog er südlich nach Kilikieu und schickte sich eben an durch die Gebirgspässe des Tauros in Kilikien einzurücken, als er in der Stadt Tarsos gefährlich erkrankte, entweder infolge der abgestandenen Mühseligkeiten, oder weil er, noch ganz erhitzt, sich in dem jene Stadt durch-fließenden Kydnos gebadet, welcher, im Tanrosgebirge entspringend, einen sehr reinen Grund uud sehr kaltes, helles Wasser hat. Der König wurde von Krämpfen, gewaltiger Hitze und anhaltender Schlaflosigkeit befallen. Keiner der Ärzte getraute sich die Heilung zu übernehmen; überzeugt, daß jedes Heilmittel erfolglos bleiben werde, fürchteten sie im Falle eines schlimmen Ausgangs die Vorwürfe und Beschuldigungen der Makedonier. Endlich entschloß sich der Akarnanier Philippos teils im Vertrauen auf feine Freundschaft, teils weil er fich's zur Schande rechnete, wenn er nicht mit feinem Könige die Gefahr teilen und selbst mit Hintansetzung seines Lebeus das Äußerste versuchen wollte, für ihn ein Arzneimittel zu bereiten und beredete ihn, es ohne Bedenken zu nehmen, wenn ihm daran gelegen fei, zur Fortsetzung des Krieges bald wieder zu Kräften zu kommen. Inzwischen schickte der Feldherr Parmenio dem Könige ans dem Lager einen Brief und warnte ihn, dem Philippos zu trauen, weil er von Dareios durch große Schätze und das Versprechen einer Vermählung mit dessen Tochter bestochen fei, den Alexander aus dem Wege zu räumen. Alexander legte den Brief, nachdem er ihn gelesen hatte, unter fein Hauptpolster, ohne ihn einem feiner Freunde zu zeigen. Als Philippos eintrat und die Arznei in einem Becher brachte, gab ihm Alexander den Brief zu lesen, nahm aber den Becher aus feinen Händen und trank ihn aus, während jener las. Dann sahen beide einander an; Alexander gab durch eine heitere, zuversichtliche Miene dem Philippos
Die Schlacht bei Jssos.
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sein volles Vertrauen und feine Huld zu erkennen; dieser aber entsetzte sich über die gegen ihn erhobene Beschuldigung, rief, die Hände gen Himmel gestreckt, die Götter zu Zeugen seiner Unschuld an, legte sich über das Lager des Königs und beschwor ihn getrost zu seiu und sich ganz auf ihu zu verlassen. Die Arznei wirkte anfänglich mit großer Heftigkeit auf den Körper, fo daß der Kranke Bewußtsein uud Sprache verlor und nur sehr schwache Zeichen des Lebens von sich gab. Bald aber zeigten sich wohlthätige Wirkungen, der König wurde wiederhergestellt und erschien, sobald es ihm seine Kräfte erlaubten, wieder unter
den Makedoniern, welche nicht eher von ihrer Mutlosigkeit sich erholten,
bis sie den Alexander selbst gesehen hatten.
Schon am dritten Tage stand der Genesene an der Spitze seines
Heeres und zog nach Jssos, wo der Perserkönig Dareios Kodomannos mit einem ungeheuern Heere in Schlachtordnung stand. Auch in dieser Schlacht (333 v. Chr.) erlitten die Perser trotz ihrer Übermacht eine solche Niederlage, daß sich der Perserkönig nur mit Hinterlassung seines Schildes, Mantels und Wagens rettete, seine ganze Familie aber (Mutter, Gemahlin und zwei Töchter) in den Händen des Siegers lassen mußte, welcher diese indes ihrem Stande gemäß würdig behandelte.
Nun zog Alexander durch Syrien nach Phönikien, wo sich alle Städte sogleich ergaben und nur die feste und reiche Jnselstadt Tyros den verzweifeltsten Widerstand entgegensetzte. Erst nach sieben Monaten erfolgte ihre Eroberung und Zerstörung (332), die dem phönikischen Welthandel ein Ende machte.
Hierauf drang Alexander siegreich in Palästina ein, wo er im Tempel zu Jerusalem dem Jehovah ein Opfer nach jüdischem Gebrauch brachte, und wandte sich dann über die Landenge Suez nach Ägypten. Hier legte er an der westlichen Nilmüuduug die nach ihm benannte Stadt Alexandria an, welche bald an Stelle des zerstörten Tyros als Verbindungsplatz zwischen Indien und Europa der Sitz des Welthandels und der Mittelpunkt hellenischer Bildung wurde.
Westlich von Ägypten in der lybischen Wüste lag die Oase Ammonion (das heutige Sieva) mit dem Tempel und Orakel des ägyptischen Gottes Ammon. Dorthin unternahm Alexander einen Zug und erhielt, als er die Priesterin Über den Erfolg seiner Pläne befragte, die auf die Gründung eines Weltreichs gerichtet waren, die Antwort, daß er ein Sohn des Zeus und von diesem zum Beherrscher des Erdkreises bestimmt sei.
Im Frühjahr 331 kehrte Alexander über Phönikien und Syrien in das Innere Asiens zurück. Ungehindert überschritt er den Euphrat
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Alexander der Große.
und Tigris, hinter welchem ihn der Perserkönig Dareios, der noch einmal das Kriegsglück versuchen wollte, mit einem ungeheuren Heere erwartete.
331 Auf der weiten Ebene zwischen den Städten Arbela und Ganga-mela kam es zu einer furchtbaren Schlacht, in welcher durch die Niederlage und Flucht des Dareios Asiens Geschick entschieden wnrde und das persische Weltreich dem makedonisch-griechischen erlag.
Die nächste Folge des Sieges war, daß zuerst Babylon, die große Hauptstadt des persischen Reichs, und bald darauf auch die anderen Hauptstädte Susa, Persepolis und Ekbatana samt ungeheuren Schützen und Reichtümern in die Hände des Siegers fielen. Dareios, der ans der Schlacht entkommen war, wurde auf der Flucht uach seinen östlichen Provinzen von dem treulosen Satrapen Bessos, welcher nach der Herrschaft strebte, ermordet. Sobald Alexander dies erfuhr, setzte er dem Berräter mit einem Trupp Reiter nach. Einige derselben, die vorausgeeilt waren, fanden den unglücklichen König, mit Staub und Blut bedeckt, iu den letzten Zügen. Er bat sie um einen Trunk Wasser. Ein Makedonier brachte ihm etwas in seinem Helm. Erquickt sprach der Unglückliche: „Freund, ich empfinde es schmerzlich, daß ich dir deine Wohlthat nicht vergelten kann; doch Alexander wird dich belohnen. Ihm reiche ich dnrch dich meine Hand. Mögen ihm die Götter die Großmut vergelten, die er meiner Mutter, meiner Frau, meinen Kindern erwiesen hat". Als Alexander ankam, fand er den Dareios schon entseelt. Mit Wehmut deckte er seinen eigenen Mantel über ihn, ließ ihn nach Persepolis bringen und dort feierlich beisetzen. Nachdem Alexander auf einem späteren Zuge den Königsmörder Bessos in seine Gewalt bekommen hatte, ließ er ihn geißeln und darauf ans Kreuz schlagen.
Nach dem Tode des Dareios eroberte Alexander auch die östlichen Provinzen (Parthien, Hyrkanien, Arien, Drangiana, Arachosien) ohne Schwierigkeit.
Mehr als früher war jetzt fein Bestreben darauf gerichtet, eine größere Annäherung zwischen Makedoniern und Persiern anzubahnen, da er den Plan hatte, in seinem Weltreich Morgen- und Abendland zu verschmelzen. Darnm suchte er nach des Dareios Tod die persischen Großen dnrch Achtung und Vertranen zu gewinnen, räumte den Persern gleiche Rechte und Vorzüge mit den Makedoniern ein und suchte sie durch eigene Anbequemung an ihre Sitten und Gewohnheiten au seine Dynastie zu feffeln. So nahm er mehrfach persische Sitten an und heiratete die Tochter eines Gastrischen Fürsten, namens Roxane. Da er
Alexanders Zug nach Indien.
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aber auch die makedonische Tracht und Feldlagersitte mit persischer Kleidung und Hofhaltung vertauschte und an die Makedonier sogar die Forderung der (bei den Morgenländern üblichen) Kniebeugung stellte, so erregte er dadurch unter seinen Makedoniern große Unzufriedenheit, welche noch dadurch gesteigert ward, daß Alexander selbst bei geringfügigem Anlaß oft in einen maßlosen Jähzorn verfiel. Mehrmals entstanden geheime Verschwörungen gegen sein Leben, die er aber mit Strenge unterdrückte.
Zu Marakanda (in Sogdiana) erhoben einst bei einem Schmause Schmeichler die Thaten Alexanders über die glänzendsten Thaten der berühmtesten Helden des Altertums; auch verkleinerten sie das Andenken seines Vaters Philipp. Da rühmte Kleitos, derselbe, der einst am Granlkos dem Alexander das Leben gerettet hatte, die Thaten des Philippos und setzte sie über die des Alexander. Zuletzt wagte er sogar, von Wein und Streitsucht fortgerissen, den Feldherrn Parmeuio zu verteidigen, welchen Alexander vor kurzem durch Meuchelmörder hatte niederstoßen lassen, weil er ihn im Verdacht hatte, sich an einer Verschwörung beteiligt zu haben, die Philotas, des Parmenios Sohn, gegen Alexanders Leben angestiftet hatte. Alexander, dnrch die Reden des Kleitos aufs höchste gereizt, befahl ihm den Saal zu verlassen. Nnr mit Mühe gelang es den Aufgeregten wegzuführen. Allein während die übrigen den Zorn des Königs zu besänftigen fuchteu, trat Kleitos plötzlich wieder in den Saal und erhob neue Beschuldigungen gegen ihn. Da geriet der König, seiner selbst nicht mehr mächtig, in die äußerste Wut, riß dem zunächst stehenden Trabanten die Lanze aus der Hand und stieß den nieder, der ihm einst das Leben gerettet hatte. Bald aber, als der Zorn aus seinem Herzen gewichen war, bereute er aufs tiefte die Schreckensthat. Er riß die Lanze aus dem Körper des Entseelten und hatte sie schon gegen seine Brust gekehrt, als sie ihm die herbeieilenden Freunde mit Gewalt aus den Händen wanden. Drei Tage und drei Nächte lag er ohne Speise in seinem Zelt, unaufhörlich den Namen „Kleitos“ rufend. Endlich ließ er sich durch die Bitte des gesamten Heeres, er möchte den Tod eines einzigen nicht so sehr betrauern, daß er darüber alle ins Verderben stürze, erweichen, die Führung des Heeres wieder zu übernehmen.
Alexanders Zug nach Indien.
Ehe Alexander an eine völlige Umgestaltung der ganzen innern Reichsverwaltung ging, wollte er erst noch Indien erobern, an dessen Ostgrenze
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Alexander der Große.
er sich das Ende Asiens dachte, und da ihm ein indischer Fürst des Fünfstromlandes (des Pendschab), namens Taxiles, durch Gesandte ein Bündnis anbieten ließ, um sich mit feiner Hilfe gegen seinen mächtigen Nachbarn, den indischen Fürsten Poros, zu halten, so trat im Frühling des Jahres 327 Alexander den Zug nach Indien an, und zwar mit einem Heere v" 6in bon 120,000 Mann auserlesener Streiter aus den Völkern der östlichen Reichsteile, dessen Kern jedoch Makedonier bildeten.
Nach seinem Übergang über das Paropamisosgebirge und über die Flüsse Kophen (j. Pundschir) und Choaspes (j. Kerra oder Kara-Sn), wo er mit außerordentlich tapferen Völkern oft unter Lebensgefahr zu kämpfen hatte, gelangte er an den Judos, wo er eine Stromflotte bauen ließ, eins der er in der Nähe der Kabnlmüudung im Frühling 326 deu Jndos-Übergang bewerkstelligte. Nach seiner Vereinigung mit dem Fürsten Taxiles, den er im Besitze seiner Länder bestätigte, überschritt er in einem kühnen nächtlichen Übergang (ans seinem schwimmenden Bukephalos) den Hydaspes (den heutigen Dschelum), besiegte das von 300 betürmten Elephanten geschirmte Heer des mächtigen Poros in einer furchtbaren L-chlacht und bekam diesen tapsern greisen Fürsten in seine Gewalt. Als der gefangene Gegner, dessen Tapferkeit Alexander hatte schätzen lernen, vor den Sieger geführt wurde, redete ihn dieser zuerst an und hieß ihn sagen, was er wünsche. Daranf antwortete Poros: „Daß du mich königlich behandelst, Alexander!" Hierüber erfreut, versetzte Alexander wieder: „Das werde ich thun, Poros, um meinetwillen; verlange nun aber auch um deinetwillen, was ich dir freundliches erweisen soll".
Poros glaubte jedoch mit jener einen Bitte alles gesagt zu haben, und Alexander, dem dies sehr wohlgefiel, gab ihm nicht nur die Herrschaft über feine Inder zurück, sondern auch ein noch viel größeres Gebiet zu dem sinnigen. Dafür zeigte sich fortan Poros in allem als fein treuer Freund.
Als darauf Alexander nach Überschreitung der beiden folgenden Nebenflüsse des Judos (des Akefines und Hydraotes) an den Hyphafis (Sedletsch), den Grenzfluß des Pendschab oder Fünfstromlandes, gelangte, weigerten sich seine Makedonier, der unausgesetzten Anstrengungen müde, weiterzuziehen, so daß er sich zu feinem Schmerz genötigt sah, den Rückzug anzutreten.
Nachdem er zuvor am Hyphafis 12 turmhohe Altäre als Denkmäler der Grenze seines Zugs hatte errichten lassen, fuhr er unter gefahrvollen Kämpfen und Abenteuern mit einer neu erbauten Flotte auf dem Judos
Alexanders Tod.
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stromabwärts, bis er das Meer erreichte. Von da an suchte die Flotte unter der Führung Nearchs den Seeweg vom Jndos nach dem persischen Meerbusen und der Mündung des Euphrat, während Alexander mit dem Landheer den gefährlichen Rückweg durch Gedrosien (das heutige Beludschistan) unternahm, in dessen schauerlichen Sandwüsten das Heer vor Hunger und Durst, Hitze und Stanb, Krankheit und Entkräftung dem Untergang nahe war. Alexander selbst ertrug standhast alle Drangsalen dieses entsetzlichen Marsches. Als ihm einst in einer wasserlosen Wüste ein Krieger in seinem Helme etwas Wasser brachte, das er aufgefunden hatte, trank er es nicht, sondern schüttete es vor aller Augen aus, weil er vor keinem seiner Soldaten etwas voraus haben wollte.
Alexanders Tod (323 v. Chr.).
Nachdem Alexander endlich die Provinz Persis glücklich erreicht hatte, nahm er seinen Plan, die Perser mit Makedonien zu einem Volke zu verschmelzen, wieder auf. Zu diesem Zweck vermählte er sich selbst mit der ältesten Tochter des Dareios, zugleich heirateten 80 seiner Großen Töchter der vornehmsten Perser und 10,000 andere Makedonier und Griechen eben so viele Perserinnen. Das war die große Hochzeit von Susa.
Hierauf entließ er seine Veteranen, 30,000 an der Zahl, die alsdann, reichlich beschenkt, unter des Feldherrn Krateros Leitung den Weg in die Heimat antraten. Alexander selbst begab sich nach Babylon, welches er zur Hauptstadt seines Weltreichs ausersehen hatte. Hier gedachte er den Plan, Asien durch die griechischen Wissenschaften, Künste und Staatseinrichtungen mit Europa zu verbinden, zur Ausführung zu bringen. Allein mitten unter feinen großen Entwürfen erkrankte er plötzlich.
Eben war er durch den Tod feines Herzensfreundes Hephaistion, der, seit sie Makedonien verlassen, selten von seiner Seite gewichen war, in die tiefste Trauer versetzt, so daß er drei Tage lang weder Speise noch Trank zu sich nahm und jeglichen Trost zurückwies, da wurde er selbst von einem tödlichen Fieber befallen, welches teils durch jene Gemütsaufregung, teils wohl auch durch die beständigen Anstrengungen seines Körpers und Geistes, teils auch durch Unmäßigkeit, der er sich in letzter Zeit öfter hingegeben hatte, hervorgerufen fein mochte. Als feine Makedonier hörten, daß jede Hoffnung auf Genesung geschwunden sei, strömten sie zum Palast und baten dringend um Einlaß. Es wurde ihnen ge-
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Alexander der Große.
stattet, Mann für Mann durch sein Schlafzimmer zu gehen und ihrem sterbenden König zum Abschied die Hand zu reichen.
Von Makedoniern und Persern gleich tief betrauert, starb Alexander der Große zu Babylon im 33. Jahre seines Lebens (323 v. Chr.). Da er keine Nachfolger hinterließ, auch keinen Erben bestimmt hatte, so brachen unter seinen Feldherrn langjährige blutige Kämpfe um die Oberherrschaft aus. Endlich kam es zu einer Einigung, die zur Teilung des Weltreichs führte. Neue Reiche gingen aus den Trümmern desselben hervor, unter denen Makedonien, Syrien und Ägypten die bedeutendsten wareu. Aber auch ihr Bestand war nur von kurzer Dauer. Sie gerieten sämtlich unter die Botmäßigkeit eines kriegerischen Volkes des Abendlandes, das sich die Weltherrschaft erkämpfte.
Die Kömer.
Die Sage von der Gründung NomK.
Romulus.
In der fruchtbaren Ebene des alten Latiums wohnte das Volk der Latiner, die einen Staatenbnnd von 30 Städten hatten, unter denen Albalouga der Vorort war. Aus Parteikämpfen dieser Stadt läßt die Sage die Gründung der Stadt Rom hervorgehen, die sich am Tiberfluß auf sieben Hügeln erhob. Das Volk, das sie bewohnte, die Römer, sollte das mächtigste der Erde werden. Über den Ursprung der Stadt und des Volkes erzählt die Sage also:
Bei dem Untergang Trojas floh Äneas, der Sohn des Anchises, mit seinem Sohne Ascanins aus den brennenden Trümmern der Stadt. Er kam mit seinen Gefährten glücklich nach Sicilien und landete dann an der italischen Küste, wo er sich niederließ. Der König Latinns, der dort herrschte, zog mit bedeutender Heeresmacht gegen ihn. Es kam jedoch zu keiner Schlacht; vielmehr schloß Latinns mit Äneas ein Bündnis, räumte ihm und seinen Gefährten ein Stück Land ein und gab ihm seine Tochter Laviuia zur Gemahlin. Äneas gründete nun eine neue Stadt, die er seiner Gemahlin zu Ehren Lavininm nannte. Dort herrschte er als König, und nach dem Tode seines Schwiegervaters vereinigte er dessen Reich mit dem seinigen. Nach dem Tode des Äneas gründete sein Sohn Ascanins am Fuße des Albanergebirges die Stadt Albalonga, welche uuu die Hauptstadt des Reiches wurde, und über die er und seine Nachkommen regierten. — Einer derselben, der König Procas, hinterließ zwei Söhne, den Numitor und Amnlins, von denen der erstere, als der ältere, ihm in der Regierung folgen sollte. Amnlins verdrängte denselben jedoch vom Throne, und um sich die Herrschaft zu sichern, tötete er heimlich Nnmitors Sohn auf der Jagd und machte Nnmitors Tochter Rhea Silvia zu einer Vestalin, d. H. einer Priesterin der Göttin des Herdes, der Vesta. Er stellte sich, als thue er dies, um die Familie seines Bruders zu ehren, denn die Vestalinnen standen in hohem Ansehen; in der That aber wollte er dadurch
Abicht, Lesebuch. II. .
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Die Sage von der Gründung Roms.
nur verhindern, daß Rhea Silvia einen Sohn bekäme, der das seinem Großvater entrissene Reich einst wieder zurückfordern könnte. Die Vestalinnen dursten sich nämlich innerhalb dreißig Jahren nicht verheiraten. Dennoch vermählte sich Rhea Silvia heimlich, und zwar, wie die Sage erzählt, mit dem Kriegsgott Mars. Sie gebar Zwillingssöhne, den Romulus und Remus. Amulius geriet darüber in nicht geringe Bestürzung. Er ließ die Rhea Silvia töten, weil sie ihr priesterliches Gelübde gebrochen hatte, die beiden Kinder aber übergab er zuverlässigen Dienern, die sie in eine Mulde legten, um sie in den Tiber zu werfen. Der Fluß war indessen durch anhaltende Regengüsse stark angeschwollen und hatte weit und breit seine User überschwemmt. Da sie deshalb nicht bis an das Ufer kommen konnten, setzten sie die Mulde am Fuße eines Berges nieder, bis zu welchem das Wasser vorgedrungen war. Die Fluten trieben dieselbe eine Zeit lang umher, bis sie endlich an den Wurzeln eines Feigenbaumes umstürzte. Da das Wasser wieder fiel, blieben die Kinder auf dem Boden liegen und wurden am Leben erhalten. Eine Wölfin kam herbei und säugte sie, und ein Specht brachte ihnen Nahrung. So fand sie Faustulns, der Oberhirt der königlichen Herden, nahm die Kinder mit zu den Standhütten der Hirten und übergab sie seiner Frau Acca Larentia. Er nannte sie Ro mulus und Remus und erzog sie als Hirtenknaben. Einige nehmen an, Larentia habe bei den Hirten Lupa, Wölfin, geheißen und so sei die Sage entstanden. Sobald die Knaben heranwuchsen, durchstreiften sie die umliegenden Wälder mit dem Bogen und dem Jagdspieß, ohne darum auf der Viehweide lässig zu sein. Hierdurch an Kraft und Mut gestählt, wagten sie sich bald nicht bloß an wilde Tiere, sondern überfielen auch mit Beute beladene Straßenräuber, teilten den Raub unter ihre Genossen aus und wurden bald Führer einer mutigen Schar von Jünglingen.
Ein Zufall machte nach einiger Zeit diesem Leben aus der Weide und im Walde ein Ende. Die Beraubten nämlich ersahen sich den Zeitpunkt, wo die Hirten, an ihrer Spitze die beiden Brüder, ein Fest feierten, zu einem plötzlichen Überfall, um den Verlust ihrer Beute zu rächen. Romulus erwehrte sich ihrer mannhaft, den Remus aber nahmen sie gefangen und stellten ihn unter der Beschuldigung, daß er aus Numitors Besitzungen Plündereien begangen habe, vor den König Amnlins. Dieser lieferte ihn zur Hinrichtung an den Numitor ab. Niemand hegte bei diesem Vorgänge größere Besorgnis als Faustulns, der Pflegevater der beiden Jünglinge. Gleich von dem Tage an, wo er die Zwillinge gefunden, hatte er die Vermutung genährt, daß feine
Romulus.
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Zöglinge königlicher Abkunft wären. Er wußte, daß auf königlichen Befehl Zwillinge ausgefetzt waren, und die Zeit, in welcher er die Kinder zu sich genommen, traf genau mit der Zeit der Aussetzung überein. Doch wollte er fein Geheimnis nicht kund werden lassen, wenn ihn nicht die Not dazu drängte. In der Angst eröffnete er dem Romulus, was ihn beunruhigte. Auch dem Numitor, der den Remus gefangen hielt, fiel bei dessen Anblick der Gedanke an seine Enkel aufs Herz; er glaubte an dem Jünglinge die Züge feiner Tochter wieder zu erkennen, das zutreffende Alter und das kühne Benehmen desselben bestärkten ihn in seiner Ahnung. Schon war er geneigt, sich gegen den Remus darüber anszusprechen und denselben als seinen Enkel anzuerkennen; schon entwarf er, alle Gefahren prüfend, Pläne zu des Amulius Entthronung. Da gab des Romnlns Kühnheit dem Großvater zu entschlossenem Handeln den letzten Antrieb. An der Spitze seiner Gefährten, die er auf verschiedenen Wegen um eine bestimmte Zeit am königlichen Schlosse hatte zusammentreffen lassen, stürmte Romulus zum Könige Amnlins hinein, während der in Freiheit gesetzte Remus ihn von Nn-nütors Wohnung aus mit einem zweiten Haufen unterstützte. Amulius wurde ermordet; Numitor aber enthüllte nun feines Bruders Frevelthaten dem zusammenströmenden Volke und empfing zuerst von feinen Enkeln als König Begrüßung und Huldigung, in welche die versammelten Latiner jubelnd einstimmten.
Romulus und Remus sahen den Numitor auf diese Weise wieder im Besitze von Albalonga. Da stieg in ihnen der Wunsch auf, in der Gegend, wo sie ausgesetzt und erzogen worden waren, eine Stadt zu erbauen. Wer sie indes nach sich benennen und beherrschen sollte, darüber entstand ein Streit zwischen ihnen, bei welchem das Recht der Erstgeburt feinen Ausschlag geben konnte, weil sie Zwillinge waren. Götterzeichen sollten also entscheiden, und beide begaben sich zur Beobachtung des Vogelflugs auf zwei verschiedene Schauhöhen, Romulus auf den pala-tmifchen, Remus auf den aventinischen Berg. Dem Remus erschienen zuerst glückbringende Vögel, sechs vorüberfliegende Geier; kaum aber hatte er das triumphierend dem Romnlns melden lassen, als dieser die doppelte Anzahl, zwölf Geier, erblickte. Jetzt fchien der Wille der Götter zweifelhaft; jeder legte das ihm gewordene Zeichen zu seinem Vorteile aus und wurde von seinen Anhängern zum König erklärt. Aus dem Wortstreit wurde ein Handgemenge; erbittert schritten die Brüder zu blutiger That, und Remus sank, im Gewühle des Kampfes tödlich getroffen, zu Boden.
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Rom unter den Königen.
Romulus schritt nun zur Ausführung des bisher verhinderten Baues der neuen Stadt unter mancherlei frommen und heiligen Gebräuchen, zu welchen auch folgender gehörte. Er spannte einen weißen Stier und eine weiße Kuh vor einen Pflug und zog damit rings herum eine Furche, die den Umfang der neuen Stadt und die Linie der nachher zu errichtenden Mauern bezeichnete. Da, wo ein Thor stehen sollte, ward der
Pflug aufgehoben, weil dieser Ein- und Ausgang nicht heilig sein durste. Dann baute Romulus die Stadt auf dem palatinischen Berge. Nach
einer zweiten Sage fand Remns erst jetzt seinen Tod. Es heißt, er
sei seinem Bruder zum Spott über die niedrige Mauer gesprungen; da habe ihn der erzürnte Romulus erschlagen mit den Worten: „So sahre jeder dahin, der nach dir über meine Mauer setzt!" Als Geburtstag der Stadt wurde später der Tag der Hirtengöttin Pales, der 21. April, gefeiert.
Nom unter den Aünigen (753-510 v. Chr.). Romulus.
(Nach Oskar Jäger. Geschichte der Römer.)
In der neugegründeten Stadt waltete nun Romulus als König, umgeben von zwölf Liktoren oder Amtsdienern und unterstützt durch den Rat von hundert Senatoren. Um Ansiedler herbeizulocken, eröffnete er eine Freistätte, wohin aus der Nachbarschaft allerlei Volk, Verbannte, flüchtige Schuldner oder Verbrecher, entlaufene Sklaven und Wildfänge aller Art zusammenströmten. Der Stadt aber fehlten noch Frauen und damit das Behagen häuslichen Herdes. Vergebens wendete sich der König an die Nachbarstädte, um Eheverbindungen mit ihren Bewohnern schließen zu können; man verweigerte dem Volke von Abenteurern diese Gunst. Da griff Romulus zur List. Er lud die Bewohner der umliegenden Städte zu einer Festfeier, und während die Nachbarn aus der sabinischen Landschaft mit Weib und Kind aufmerksam den aufgeführten Rennspielen zusahen, gab er das Zeichen, und die römischen Männer raubten die anwesenden Jungfrauen, während die waffenlosen Zuschauer, den Bruch des Gastrechts verwünschend, nach allen Seiten auseinanderstoben. Darüber entbrannte Krieg mit den beleidigten Städten. Drei kleine Latinerorte wurden leicht überwältigt; schwerer jedoch wurde der Kamps mit den Sabinern, die unter ihrem König Titus Tatius mit Macht wider Rom heranzogen. Schon standen die streitenden Heere
Romulus. Numa Pompilius.
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in dem sumpfigen Thal zwischen dem kapitolinischen und Palatinischen Hügel; der Sieg schwankte. Das Gebet des Romulus hemmte die Flucht der Seinen, die ihn selber mitgerissen hatte; aber der Sieg zögerte sich Zn entscheiden, nnd der Kampf bauerte fort, bis eine wundersame Erscheinung ihn trennte. Die geraubten Sabinerinnen, jetzt beiben Völkern angehörenb, warfen sich zwischen bie Streitenden, unb ihrem Flehen beugten sich nachgiebig bie Feinbe aus beiben Seiten. An bie Stelle des Kampfes trat ein Vertrag, nach welchem bie beiben Völker künftig nur eines bilben unb ihre beiben Könige Titus Tatius unb Romulus über bas vereinigte Volk gemeinsam herrschen sollten, bas von bem sabinischen Wort für Lanze ben Namen Quiriten ober Lanzenmänner erhalten sollte. Hnnbert Sabiner würben in ben Senat aufgenommen.
An den Krieg mit den Sabinern knüpft sich die Sage von der Tarpeja, der Tochter des Spurius Tarpejus, welcher die Besatzung der römischen Burg befehligte. Als die Sabiner die Burg belagerten, war Tarpeja hinabgegangen, um Wasser zu holen, und den Feinden in die Hände gefallen. Titus Tatius beredete das Mädchen zu dem Versprechen, Sabiner in die Burg einzulassen, wenn sie ihr das gäben, was sie am linken Arme trügen; sie meinte die golbnen Armbänber unb Spangen. Nun trugen bie Sabiner am linken Arm auch ihre Schilde. Als daher Tarpeja den Feinden die Thore geöffnet hatte, warfen die Krieger ihre Schilde über die Verräterin und töteten sie dadurch. Nach ihr hieß der steilste Teil des Berges der tarpejische Felsen.
Einige Jahre nachher wurde Titus Tatius bei einer Opferfeier in Lavinium von den Laurentern, die er beleidigt hatte, erschlagen. Romulus aber bewirkte durch zwei glückliche Kriege gegen die Nachbarstädte, daß Rom bie nächsten vierzig Jahre hinburch eines sichern Friebens genoß. Als er einst eine Heerschau abhielt, brach plötzlich ein Gewittersturm aus, eine schwarze Wolke umhüllte unter Blitz unb Donner ben König unb entzog seinen Anblick für immer bem Volke, welches ihn fortan als Gott verehrte. Eine anbere, wenn auch bnnkle Kunbe berichtete indes, Romulus sei von den Senatoren, denen seine Herrschaft verhaßt gewesen, durch Mord beiseit geschafft worden.
ITurna Pompilius.
(Nach Oskar Jäger.)
Als eine hehre unb heilige Gestalt ragt der zweite der römischen Könige ans dem Nebel der Sagen hervor. Nach bem Tobe bes Helden-königs Romulus fiel die Wahl auf diesen frommen und gerechten Mann,
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Rom unter den Königen.
dessen Ruf weit im Sabinerlande verbreitet war. Er war der Sohn eines vornehmen Sabiners in der Stadt Cures und Schwiegersohn des Titus Tatius. Nach dem Tode seiner Gemahlin ging er in einen schattigen Hain, um sich in der Einsamkeit seinen Betrachtungen hinzugeben. Hier hatte er vertrauten Umgang mit einer Göttin, der Nymphe Egeria, vou der heilsame Gesetze und Einrichtungen ihm eingegeben wurden. Nachdem er sich durch Erkundigung der Vogelzeichen überzeugt hatte, daß seine Herrschaft in der That von den Göttern gewollt werde, waltete er, mit dem Ölzweig des Friedens geschmückt, dreiundvierzig Jahre friedlich über das Volk, das er an sanftere und menschlichere Sitten gewöhnte und in allerlei Gottesdienst unterwies. Auch die Nachbarvölker achteten und teilten den Gottesfrieden, der von dem gerechten und von den Göttern geliebten Könige ausstrahlte. Kein Geschäft sollte fortan ohne Gebet und fromme Gebräuche begonnen werden. Er ordnete das Priesterwesen und den Gottesdienst des Jupiter, des Mars, des Quirinus (Romulus), des Apollo, des Herkules und des Janus. Dem letzteren, einem zweiköpfigen Gotte, baute er einen Tempel, der in Kriegszeiten offen stehen, im Frieden aber geschlossen werden sollte. Auch Juno, Minerva, Diana, Ceres und Vesta wurden verehrt. Die Menschenopfer schaffte man ab. Auch teilte Numa das Jahr nach dem Mondlauf in zwölf Monate. Er starb im höchsten Alter, und die Nymphe Egeria zerfloß bei seinem Tode in Thränen zu einer Quelle im Hain der Kamenen oder Musen.
Tullus Dostilius.
(Nach Karl Friedrich Becker. Weltgeschichte.)
Nach Nnmas Tode fiel die Wahl eines Königs wieder auf einen Römer, den Tullns Hostilius, der an Sinnesart dem Romulus glich und große Lust am Kriege sand. Gegenseitige Plünderungszüge der Römer und Albaner veranlaßten bald einen Krieg zwischen Rom und der Mutterstadt Albalonga. Schon standen beide Heere, gerüstet znm Kampfe, einander gegenüber; da beschloß man nach uralter Sitte die Entscheidung des Streites auf den Zweikampf einzelner Männer aus beiden Heeren ankommen zu lassen. Der Teil, dessen Vorfechter unterliegen würde, sollte sich dem siegenden Teile unterwerfen.
Ein wunderbarer Zufall schien zu diesem Beschluß die Hand zu bieten. Im römischen Heere fanden sich drei Drillingsbrüder, deren Vater Horatius hieß, unb im albanischen drei andere ans dem Geschlechte der Cnriatier. Die verwandten Brüder, welche zwei Schwestern ent-
Tullus Hostilius.
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sprossen waren, an Jahren und Stärke einander nicht ungleich, von beiden Seiten auserwählt, den Kampf der nicht minder verwandten Völker zu entscheiden, weigerten sich nicht ihn zu übernehmen. Die Fetialen, von Nnma Pompilins eingesetzte Priester, denen es oblag, vor Ausbruch eines Krieges Genngthnnng zu fordern, den Krieg zu erklären und Bündnisse zu schließen, bekräftigten mit ihren heiligen Gebräuchen die Gültigkeit des Vertrages, und beide Heere stellten sich als erwartungsvolle Zuschauer um die Kämpfenden her, sie mahnend, daß die vaterländischen Götter und Mitbürger beiderseits nur auf ihre Waffen und Hände blickten.
Das Zeichen ward gegeben, und mit feindseligen Waffen stürzten die Jünglinge auf einander. Nach langem wütendem Kampfe sank endlich ein Römer und noch ein Römer zu Boden. Schwer verwundet standen alle drei Albaner dem einzigen noch übrigen Römer gegenüber. Ein Jubelgeschrei ertönte von der albanischen Seite, und der tiefgebeugte römische Stolz wagte keine Hoffnung mehr zu fassen. Da plötzlich wendete sich der Horatier zur Flucht und nötigte die drei Cnriatier ihm zu folgen. So trennte er die dreifache Gewalt, wohl voraussehend, daß die Feinde ihm nur mit ungleicher Schnelligkeit, nach dem Verhältnis ihrer schwereren oder leichteren Wunden, einzeln folgen würden. Nach kurzer Flucht blieb er stehen und blickte zurück. Da fah er die drei Feinde weit von einander getrennt und nur einen nahe hinter sich. Auf diesen stürzte er mit gewaltiger Wut, durchbohrte ihn und rannte auf den zweiten los. Durch die Lüfte schallte ber Zuruf der Hoffnung schöpfenden Römer, unb gestärkt durch die Ermunterung der Seinen, gab der Horatier auch bem zweiten Feinbe ben Tobesstoß. Das Geschrei ber Römer verdoppelte sich, unb als er auch ben brüten enblich, ber schwer verwundet unb atemlos herbeikeuchte, mit leichter Mühe zu Boden streckte, da lief alles auf ihn zu und umarmte und begrüßte ihn jauchzend als Sieger. Die Albaner unterwarfen sich ber römischen Herrschast.
Nachbem bie beiben Heere mit ungleichen Empfinbnngen bie Gefallenen bestattet, jeben auf bent Fleck, wo er niebergesunken war, kehrte ber Sieger Horatius, bie Rüstungen ber brei Cnriatier im Triumphe tragenb, an ber Spitze bes römischen Heeres stolz nach ber Stabt zurück. Am capenischen Thore begegnete ihm seine Schwester. Sie war einem ber gefallenen Albaner verlobt gewesen, unb ba sie nun bessert Waffenrock, von ihr selbst gewirkt, unter ben Siegeszeichen auf ber Schulter bes Brubers erblickte, sing sie laut zu jammern an; sie rang bie Hänbe, löste bas Haar unb rief schmerzlich klagenb ben geliebten Namen. Das
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Rom unter den Königen.
erbitterte bett wilben Sinn bes im Siegstaumel bahinschreitenben Britbers; ihm schien biese einzige Klage unter tausenb Freubenrnfen ein Verbrechen zu sein. Er fuhr bie Schwester toilb an unb stieß sie mit bettt Schwerte ttieber. „Geh' hin mit beiner unzeitigen Liebe zu beiitem Verlobten", sprach er, „bu Utttuürbige, bie bu ber toten Brüber unb bes lebenben unb beines Vaterlanbes vergessen kannst! So fahre jebe Römerin bcthin, bie einen Feinb betrauern wirb!"
So groß bas Verbienst des Schwestermörbers um bas Vaterlanb auch war, er würbe vor bas Gericht ber Zweimänner gestellt ttttb zum Tobe verurteilt. Die letzte Entscheibnng blieb jeboch bem Volke, ttttb bieses, gerührt bttrch bes Vaters flehentliches Bitten, ihn auch nicht seines letzten Kittbes zu berauben, sprach bett Horatius, ber seiner Vater-stabt bie Herrschaft erstritten, von ber Tobesstrafe frei. Doch mußten Reiuiguugsopfer zur Eutsüubigung bargebracht werben, ttttb ber Schulbige selbst warb von ben Liktoren mit verhülltem Gesicht unter einer Art von Galgen, einem auf zwei Pfählen ruhenben Balken, biirchgeführt. So glaubte man bie göttlichen unb menschlichen Gesetze zu beliebigen.
Die Albaner trugen bas römische Joch mit Unwillen, unb Mettus Fuffetius, ihr Felbherr, sann auf Mittel feine Vaterstabt zu befreien. Er hetzte bie Vejenter unb Fibenater, zwei andere Nachbarn Roms, gegen basselbe auf, unb als es zur Schlacht kam unb Tttllus sich auf bie Vejeuter stürzte, tvährenb Mettus Fussetius bie Fibenater angreifen sollte, zeigte bieser sich unthätig unb schwanken,), ittbem er seitwärts abschwenkte unb zu der Partei überzugehen gedachte, auf bereu Seite sich ber Sieg neigen würbe. Des Königs Geistesgegenwart rettete bett Römern bett Sieg. Als ihm nämlich gemelbet wurde, Fuffetius ziehe sich seitwärts, rief er laut, es geschehe auf feinen Befehl, bamit bie Fibenater umzingelt würben, unb warf bann beibe Feinbe in bie Flucht. Nach ber Schlacht stattete Fuffetius bem Tullus seinen Glückwunsch ab. Tullus stellte sich freuitblich ttttb bankte ihm. Am attbern Morgen aber versammelte er bie Römer ttttb Albaner, offenbarte bas treulose Spiel bes Fuffetius unb verkünbete bie Strafe bes verräterischen Führers unb bes Volkes. Fuffetius warb auf bes Tullus Wink zwischen zwei vierspännige Wagen gebttttbett, bereit Gespanne, nach verschiebenett Richtungen getrieben, seinen Körper in zwei Stücke zerrisfen. Die Stadt Albalonga wurde zerstört; die nach Rom übergeführten Einwohner erhielten das Bürgerrecht und bauten sich auf dem Mischen Berge an; die vornehmsten wurden in den Senat ausgenommen.
Noch andere Kriege führte Tullus, bis endlich ber Zorn ber Götter
Servius Tullius.
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wegen der Versäumnis ihres Dienstes erwachte und sich in Wunderzeichen und Seuchen kundgab. Erschrocken nahm der König zu geheimen Opfern seine Zuflucht, aber mitten in einer Beschwörung Jupiters fuhr ein Blitzstrahl herab, der ihn mit seinem ganzen Hause verbraunte. Er hatte zweinnddreißig Jahre regiert.
Dem Tnllus Hostilius folgte in der Herrschaft der Sabiner Ancns Marcins, der Gründer der Hafenstadt Ostia. Sein Nachfolger wurde Tarquiuius Priscus, der aus Etrurien eingewandert war. Er brachte die Latiner, Etrusker und Sabiner zur Anerkennung und führte aus der Kriegsbeute große Bauwerke aus. Unter seiner Regierung wurde mit der Erbauung der ungeheuren Kloaken oder Abzugsgräben begonnen. Durch diesen Riesenbau aus Quadersteinen, der an Umfang und Masse den ägyptischen Pyramiden gleichkommt, wurden hinreichend trockene Plätze gewonnen für den römischen Hauptmarkt (Forum Romanum), für Volksversammlungen (das Comitium), für Schauspiele und Volksbelustigungen (Circus maximus). Auch der kapitolinische Tempelbau (das dem Jupiter geheiligte Capitolium) wurde unter Tarqninins Priscns begonnen.
servius Tullius.
Nach ihm gelangte fein Schwiegersohn Servius Tullius zur Regierung, der feine Hauptthätigkeit den inneren Angelegenheiten zuwandte. Er ordnete eine allgemeine Schätzung des Volkes an, welche alle fünf Jahre vollzogen wurde. An dem dazu bestimmten Tage erschienen alle wehrfähigen Bürger auf dem Marsfeld; jeder mußte fein und feines Vaters Namen, Alter, Wohnort und Vermögen eidlich angeben. Nach der Verschiedenheit des Vermögens wurde die gesamte Bevölkerung Roms in fünf Klaffen eingeteilt. Nach dem 17. Jahre wnrde der Bürger in die Bürgerlisten eingetragen. Nach geendigter Schatzung stellte sich die ganze Bürgerschaft bewaffnet auf dem Marsfelde zur großen Heerschan; dann wurden unter Gebeten drei Tiere, ein Schwein, ein Schaf und ein Rind, um das ganze Volk dreimal herumgeführt und darauf zur Sühne aller Sünden, die das Volk in den letzten fünf Jahren begangen hatte, geopfert. Nach der Schatzung richtete sich die Steuer, die jeder Bürger zu entrichten hatte, und der Kriegsdienst. Alle Bürger waren kriegspflichtig; vom 17. bis 40. Jahre dienten sie im Feld, vom 40. bis 60. Jahre als Besatzung der Stadt. Die Bürger der ersten Klasse waren mit einem Helme, Panzer, großem Schilde und Beinschienen von Erz gerüstet und stritten mit Lanze und Schwert. In der Schlacht standen sie als die am schwersten Bewaffneten in der ersten Linie. Die
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Rom unter den Königen.
Bürger der zweiten Klasse hatten keinen Panzer und einen kleinen Schild, sonst alles wie jene; sie standen in der zweiten Linie. Die der dritten Klasse, welche in der dritten Linie standen, waren gerüstet wie die der zweiten, nur fehlten die Beinschienen. Die Bürger der vierten Klasse hatten außer einem kleinen Schilde gar keine Schutzwaffen, sie führten Lanze unb Wurfspieß unb standen in ber letzten Linie. Die ber fünften enblich bienten als Schleuberer unb stauben außerhalb ber Linie. Alle mußten sich Rüstung, Waffen unb Unterhalt aus eigenen Mitteln anschaffen; nur ben Rittern gab ber Staat Gelb zum Ankauf eines Streitrosses, sowie zur Unterhaltung besselben unb eines Reitknechts.
Dieses Verfaffuugwerk, welches an ben Namen bes Servius Tullius geknüpft wird, führt nach ihm den Namen
ferüianische Verfassung (578 v. Chr.).
Durch diese Verfassungsänderung hatte sich Servius bei der Adelspartei der Patrizier so verhaßt gemacht, daß eine Verschwörung gegen ihn entstand, infolge deren er von Tarquinius Superbus, feinem eigenen Schwiegersohn, gestürzt und ermordet wurde. Dieser hob die servianische Verfassung auf und führte eine willkürliche Militärregierung ein.
Tarquinius Zuperbus (510 v. Chr.).
(Von Ludwig Stacke. Erzählungen aus der römischen Geschichte.)
Tarquinius hat sich durch feine willkürliche, grausame Herrschaft ben Beinamen Superbus (ber Übermütige) zugezogen. Er bestieg ben Thron, ohne vom Volke gewählt unb burch bie Augurien bestätigt zu sein. Die Reichen brückte er durch willkürliche Auflagen, die Armen burch Fronbienste. Viele Vornehme, bie es mit betn vorigen Könige gehalten hatten ober ihm nur oerbächtig waren, bestrafte er mit Hinrichtung, Verbannung ober Verlust bes Vermögens. Den Senat berief er nicht mehr zu feinen Versammlungen, er selbst leitete bie Gerichte unb faßte Beschlüsse über Krieg unb Frieben unb über Bünbniffe mit anbern Völkern. Der Staat aber nahm unter ihm an Größe, Macht unb Ansehen nach außen zu. Er unterwarf bie latinischen Stäbte unb machte Rom zum Haupt bes latinischen Bunbes.
Der kriegerische König war zugleich prachtliebenb unb verschönerte Rom burch großartige Bauten. Von allen Seiten Etruriens würben Werkmeister herbeigeholt; bie Kosten lieferte ber Schatz unb bie Kriegsbeute, unb vorzüglich halfen bie harten Fronbienste bes gemeinen Volkes. Von seinen Bauten sinb am berühmtesten bie große Kloake unb bas
Tarquinius Superbus.
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Capitolium mit betn breifachen Tempel bes Jupiter, ber Juno unb ber Minerva, ber mit ehernen Götter- unb Königsbilbern geschmückt war. In einem nnterirbischen Gewölbe bieses Tempels würben in bleiernem Kasten bie sibyllinischen Bücher verwahrt, zn benen Tarquinius auf folgenbe Weise gelangt war. Einst kam eine unbekannte Alte von seltsamem Ansehen zum König unb bot ihm neun Bücherrollen zum Verkauf an. Dem König war ber Preis zu hoch, unb bie Frau würbe abgewiesen. Sogleich ging sie fort unb verbrannte brei von ihren Büchern, kam bann wieber unb bot bie übrigen sechs beut Könige zu bemselben Preis an. Sie würbe toieberum zurückgewiesen unb verbrannte abermals brei Bücher. Als sie bann zum britten Male erschien unb bie brei letzten Bücher zu verbrennen brohte, wenn sie jenen Preis nicht erhalte, würbe ber König aufmerksam unb ließ sie von Auguren untersuchen. Auf bereu Rat kaufte er bie Bücher, unb sofort verschwanb bie
Seherin. Diese Bücher, welche bie sibyllinischen heißen — Sibyllen nannte man im Altertum berühmte Wahrsagerinnen — vertraute Tarquinius ber Obhut zweier Priester an. Sie würben zu Rate gezogen, wenn bie Götter burch Wunberzeichen ihren Zorn funbgethan hatten ober wenn sich ber Staat in großer Bebrängnis befanb.
Böse Zeichen unb Träume ängstigten bas Gemüt bes Königs. Eine Schlange schlüpfte ans bem Altar bes königlichen Hanfes unb raubte bas bargebotene Opferfleisch. Der König beschloß, bas belphische Orakel, welches bamals im größten Ansehen staub, über bieses Wunber zu befragen, unb fanbte seine beiben Söhne, Titus unb Aruns, benen er ben
Junius Brutus als Begleiter gab, mit kostbaren Weihgeschenken ab. Letzterer war ein naher Berwanbter bes Königs unb ber Grausamkeit bes Tyrannen, ber schon seinen Vater unb Br über getötet hatte, nur baburch entgangen, baß er sich blöbsinnig stellte. Tarquinius hielt ihn wirklich für bumm, gab ihm ben Namen Brutus (ber Dumme) unb nahm ihn ber Kurzweil wegen an feinen Hof. Doch äußerte Brutus bisweilen Spuren ber in ihm versteckten Klugheit. Jetzt machte er betn Orakel einen Stab von Kornelkirschholz zum Geschenk; aber ber hölzerne Stab war hohl unb mit Golb angefüllt, unb so warb er bas Sinnbilb seiner selbst.
Als bie Jünglinge ben Auftrag bes Vaters vollzogen hatten, trieb sie bie Neugier, bas Orakel zu befragen, wer nach betn Vater in Rom herrschen würbe. Aus ber Grotte erscholl bie Stimme: „Der, welcher zuerst von euch seine Mutter küssen wirb". Die Prinzen, bie ihre Mutter, bie Gattin bes Tarquinius, verstauben, machten unter sich aus, ihre
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Rom unter den Königen.
Mutter zu gleicher Zeit zu küssen, um bann gemeinschaftlich zu regieren. Brutus aber verstaub unter ber Mutter bie Erbe, bie gemeinsame Mutter aller Menschen. Er stellte sich, als ob er mebersatle, unb berührte sie mit seinen Lippen, um bas Orakel zu erfüllen.
Wahrenb Tarquinius Arbea, bie Hauptstabt ber Rntnler, belagerte, suchten sich bie königlichen Prinzen bie Langeweile im Lager burch Gastmähler zu vertreiben. Als sie einst beim Sextus Tarquinius schmausten, fiel bie Rebe auch auf ihre Frauen, unb sie stritten, wer von ihnen bie preiswürbigste habe. Da jeber bafi'tr seine eigene ausgab, sagte Tarquinius aus Collatia zu ihnen: „Wozu bebarf es ber Worte? Laßt uus unsere Rosse besteigen unb unsere Frauen besuchen! Womit wir eine jebe beschäftigt fiubeu, banach mag ber Streit geschlichtet werben!" Alle waren mit bem Vorschlage znfrieben. Beim Anbruch ber Dunkelheit gelangten sie nach Rom, wo bie Frauen ber Königssöhne bie Zeit in Wohlleben verbrachten; von ba ging ihr Zug nach Collatia. Hier sanben sie Lncretia, bie Gemahlin bes Collatinns, noch in später Nacht unter ihren Mägben sitzen unb mit Wollarbeit beschäftigt. Ihr würbe ber Preis zuerkannt. Frennblich bewirtete sie ben Mann unb bie mitgebrachten Gäste, welche am anbern Morgen ins Lager zurückkehrten.
Einige Tage nachher kam Sextus Tarquinius ohne Wissen bes Collatiuus nach Collatia. Er warb von Lncretia gastlich ausgenommen, vergalt aber biese Ausnahme burch Mißhanblnng ber Lncretia. Nach seiner Abreise ließ sie ihren Vater unb ihren Gemahl in Begleitung einiger anberer, unter benen sich Junins Brutus befanb, zu sich nach Collatia entbieten. Sie kamen; jammernb erzählte sie ihnen ben erlittenen Schimpf unb wahrenb sie ihnen ben Schwur abforberte, ben Sextus Tarquinius, ihren Beleibiger, zu bestrafen, stieß sie sich vor ihren Augen ben Dolch in bie Brust. Brutus zog ben Dolch aus bei* Wuube bes entseelten Weibes unb ließ bie Frennbe bei bem Blute ber Lncretia schwören, bas Haus ber Tarquinier zu verbannen unb bie Königswürbe abzuschaffen. Die Leiche trugen sie bann auf ben Markt, wo sie bem zusammengelaufenen Volke bie That bes Tarquinius erzählten. Die Bürger von Collatia bewaffneten sich, besetzten bie Thore ihrer Stabt unb zogen, von Brutus unb ben anbern geführt, nach Rom. Hier berief Brutus bas Volk zusammen unb stellte ihm alle Frevelthaten vor, bie Tarquinius Superbus unb sein Weib vom Morbe bes Servius Tullius an bis zur Schanbthat seines Sohnes verübt hatten. Das Volk erklärte ben Tarquinius ber Königswürbe verlustig unb beschloß seine unb seines Geschlechtes Verbannung. Brutus zog mit einer Schar von Jünglingen
Rom ein Freistaat. Brutus, der erste Konsul der Römer.
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in das Lager von Ardea, jedoch auf einem Umwege, so daß er dem Könige, der auf bie erste Nachricht von dem Aufruhr nach Rom geeilt war, nicht begegnete. Freudig uahm das Heer den Brutus auf und verjagte die Königsföhne. In Rom ließ man den König nicht ein, sondern verschloß ihm die Thore und kündigte ihm feine Verbannung an. Auch das Heer nahm ihn nicht wieder ans. Vom Volk und Heer verlassen, floh er mit seiner Familie nach Cäre in Etrurien.
ßom ein Freistaat.
Brutus, der erste Konsul der Römer (510 v. Chr.).
So endete (510 v. Chr.) in Rom die Herrschaft der Könige, deren Verbannung jährlich durch ein Fest gefeiert ward. Nach der Vertreibung der Könige war Rom ein Freistaat (Republik). Die Regierung wurde zweien Beamten, die man Konsuln nannte, übertragen, welche jedoch ihr Amt nur ein Jahr lang bekleideten. Die ersten Konsuln waren Brntus und Collatiuus. Obschon die Vertreibung der Könige von den alten Geschlechtern (Patriziern) ausgegangen war, so waren doch nicht alle Patrizier damit zufrieden. Vorzüglich klagten einige Jünglinge von vornehmem Stande über die Änderung der Dinge und vermißten die Person des Königs. Sie waren deshalb zn einer Empörung geneigt, um den König Tarquinius zurückzurufen, wozu sich die Gelegenheit bald darbot. Als der König von dieser Stimmung Kunde erhalten hatte, schickte er sogleich Gesandte nach Rom, unter dem Vorwand, seine Güter zurückzufordern, in der That aber, um eine Empörung zum Sturz der Konfuln zustande zu bringen. Mehrere junge Patrizier, unter denen sich sogar die Söhne des Brutus befanden, stifteten eine Verschwörung, und viele edle Römer wurden zum Beitritt bewogen. Sie faßten den Entschluß, die Konsuln zu töten und den König heimlich wieder in die Stadt aufzunehmen. Um aber den Tarquinius zu überzeugen, gaben sie den Gesandten Briefe mit, in denen sie den König znr Rückkehr einluden. Allein ehe noch die Gesandten Rom verlassen konnten, wurde die Verschwörung entdeckt. Ein Sklave hatte die Verschworenen in ihrer Zusammenkunft belauscht und ihren Plan den Konsuln angezeigt. Diese ließen die Gesandten und Verschworenen alsbald ergreifen, und die vorgefundenen Briefe machten ihnen alle Rechtfertigung unmöglich. Die Gesandten wurden dem Völkerrecht gemäß unverletzt entlassen, die ganze Habe des Königs aber dem Volke preisgegeben, sein großer Acker zwischen der Stadt und dem Tiber dem Kriegsgott geweiht und Marsseld (Campus
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Rom ein Freistaat.
Martius) genannt. Die Verschworenen würben in Fesseln vor bie Konsuln geführt, welche ans ihren Amtsstühlen zn Gerichte saßen. Da sie nichts zn ihrer Verteibignng vorbringen konnten, so verurteilte sie Brntns, ber Vater bie Söhne, znm Tobe. Dies machte bem Collatinns, ber seinen Neffen zn retten wünschte, ein milberes Urteil unmöglich. Mit fester Miene unb unvemanbtem Blick sah Brutus seine Söhne mit Ruten geißeln unb bann mit bem Beil hinrichten. In einer nochmaligen Versammlung bewirkte er, baß alle Veroanbten bes Tarquinius verbannt würben. Zu ihnen gehörte auch Collatinns; er legte sein Konsulat nieber unb ging in bie Verbannung. An seine Stelle trat Publius Valerius.
Tarquinius suchte jetzt mit Waffengewalt bie verlorene Herrschaft wieber zu gewinnen. Er rückte mit einem Heere, bas bie etruskischen Stäbte Veji unb Tarquinii gestellt hatten, gegen Rom. Die Bürger zogen ihm entgegen. Am Walbe Arsia kam es zum Treffen. Als Brutus unb Aruns, beibe an ber Spitze ihrer Reiterei, einanber ansichtig würben, sprengten sie, von gleicher Kampfeslust entflammt, gegen einanber an. Beibe fielen, jeber vom anbern zum Tobe getroffen, im Zweikampf. Dann entbrannte bie Schlacht allgemein unb bauerte ununterbrochen bis gegen Mitternacht. Die Etrusker zogen sich zurück. Die Römer kehrten als Sieger nach Haufe. Den Brutus bestatteten sie auf bas ehrenvollste, unb bie römischen Matronen betrauerten ihn ein ganzes Jahr als ihren Vater.
Mratius Locles. Mucius Scävola. Llölia.
Tarquinius ließ bie Hoffnung, bie Königswürbe wieber zu erlangen, noch nicht fahren. Er begab sich in ben Schutz Porsenas, bes mächtigen Fürsten von Clusium in Etrurien. Dieser überzog Rom mit Krieg. Da bie kleine Festung auf bem Berge Janiculus beim ersten Angriff vom Feiube erobert warb, so zogen sich bie Römer vor ber Übermacht in bie Mauern ber Stabt zurück. Unaufhaltsam wäre Porsena über bie hölzerne Tiberbrücke in bie Stabt eingebrungen, wenn nicht Horatius Coeles burch seine Unerschrockenheit unb Tapferkeit Rom gerettet hätte. Als er sah, baß seine Lanbsleute nicht mehr stanbhielten, riet er ihnen selbst über bie Brücke zu eilen unb sie so schnell als möglich abzutragen. Währenb bies geschah, focht Horatius mit zweien feiner Gefährten gegen ben Anbrang von Tausenben. Da bie Brücke beinahe abgetragen war, entließ er auch seine Gefährten, um sich über bie noch stehenben Reste ber Brücke in bie Stabt zu retten. Hierauf stellte er sich allein bem
Horatius Cocles. Mucius Scävola. Clölia.
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Feinde entgegen, unb erst als bie letzten Balken krachten, sprang er, ben Stromgott um Schutz anflehenb, bewaffnet in bie Fluten. Unter einem Hagel feinblicher Pfeile schwamm er auf das anbere Ufer. Nun konnte Porsena nicht in bie Stabt einbringen, unb Rom war burch bie Tapferkeit bes Horatius Cocles gerettet.
Aber Porsena schritt jetzt zu einer Belagerung. Er schnitt ber Stabt alle Zufuhr ab, so baß Mb Mangel unb Not entstaub. Um Rom von bieser Bebrängnis zu befreien, beschloß Mucius Scävola, ein mutiger Jüngling, ben feinblichen König zu töten. In etruskischer Kleidung, mit einem Dolch unter bem Gewanbe, begab er sich ins Lager, als eben ein Schreiber, der in der Nähe des Königs saß und königlichen Schmuck trug, den Soldaten den Sold auszahlte. Mucius hielt ihn für den König und stieß ihn nieder. Er ward ergriffen und vor den König geführt, dem er unerschrocken sein Vorhaben bekannte. Als ihm Porsena mit Martern drohte, streckte er, um zu zeigen, daß er alle Drohungen verachte, seine Rechte in die Flamme des nahestehenden Opferherdes, ohne das geringste Zeichen von Schmerz zu verraten. Da verwandelte sich des Königs Zorn in Bewunderung; er schenkte dem Mucius das Leben, und dieser erklärte nun, gleichsam um den König für seine Milde zu belohnen, daß noch dreihundert römische Jünglinge sich zu gleichem Zwecke verschworen hätten, um durch den Tod des Königs ihre Vaterstadt zu befreien. Mucius, der vou dem Verluste feiner rechten Hanb ben Beinamen Scävola (ber links ist) erhielt, warb entlassen; ber König aber, ber sich von steten Gefahren umringt sah unb für fein Leben fürchtete, warb zum Frieden geneigt, unb biefer kam auch wirklich zustanbe. Er hob bie Belagerung auf unb verzichtete auf bie SBiebereinfetzung bes Tarquiuius; bie Römer traten bas rechte Tiber-ufer an ihn ab, unb stellten zehn Jünglinge unb eben so viel Jungsrauen als Geiseln.
Unter biesen Jungfrauen befanb sich bie eble Clölia. Sie täuschte bie Wächter unb schwamm mit ben übrigen Jungfrauen über ben Tiber. Vergebens schossen bie Feinde ihre Pfeile auf sie ab; sie kam mit ihren Gefährtinnen glücklich nach Rom. Aber der römische Konsul schickte die Clölia, deren Auslieferung Porsena dringend verlangte, in das etruskische Lager zurück. Der Heldenmut der Jungfrau erregte des Königs Bewunderung; er vergab der Clölia und schenkte ihr die Freiheit, ja er erlaubte ihr sogar, einige von den römischen Jünglingen, die als Geiseln im Lager waren, mit nach Hause zu nehmen. Sie wählte die jüngeren, deren zartes Alter am meisten ber Beleibigung ausgesetzt war.
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Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern.
Die Römer stellten der Clölia zu Ehren eine Statue, eine Jungfrau zu Roß, auf.
So war denn auch dieser Versuch des Tarquiuius, die Herrschaft wieder zu gewinnen, mißlungen. Er nahm hierauf feine Zuflucht zu den Latinern, und reizte sie zu einem Kriege gegen die Römer auf, der im Jahre 496 v. Chr. zum Ausbruch kam. Am See Regillns trafen beide Heere auf einander: es war ein Heldenkampf, in dem die Feldherren sich im Zweikampf begegneten, während die Menge ohne Entscheidung focht und der Sieg hierhin und dorthin sich wandte. Selbst der hochbejahrte Tarqninins nahm an der Schlacht Anteil und ward verwundet. Endlich siegten die Römer und nahmen das feindliche Lager; Tarqninins ging hoffnungslos nach Cumä, wo er im folgenden Jahre (495 t). Chr.) starb.
Wmpfe zwischen Patriziern und Weüejern.
Loriolan (4S9 v. Chr.).
(Nach Friedrich Nösfelt und Weiter.)
Es gab in Rom wie überall Reiche und Arme. Schon unter Romnlns war dieser Unterschied entstanden. Die Reichen wurden damals schon Patrizier, die Ärmeren Plebejer genannt. Wie der Reiche leicht anmaßend wird, so war es auch hier; die Patrizier setzten es dnrch, daß nur sie obrigkeitliche Würden bekleiden konnten. Überall, wo Ehre und Geld zu gewinnen war, drängten sie sich vor, während den armen Plebejern alle Last und Gefahr aufgewälzt wurde. Das war im Laufe der Jahre immer ärger geworden. Wenn es Krieg gab — und Rom hatte dessen immer — so mußten die Plebejer in den Krieg ziehen, indessen ihre Äcker unbebaut liegen lassen, und kamen sie endlich nach Hanse, so blieb ihnen nichts anderes übrig als von den Reichen zu borgen. Diese drückten sie immer härter, forderten schmähliche Zinsen, und so sanken die armen Leute in immer tieferes Elend. Denn in Rom waren damals äußerst drückende Gesetze in betreff der Schuldner. Wer seinen Gläubiger nicht bezahlen konnte, verfiel ihm mit Freiheit und Habe. Der Gläubiger hatte das Recht ihm alles zu nehmen und ihn dann noch als Sklaven zu verkaufen. Lange hatten die Gedrückten ausgehalten; endlich trieb sie die Not zum äußersten. Sie zogen zur Stadt hinaus, drei Stunden weit, bis auf den heiligen Berg. Die Verlegenheit der Patrizier war groß, und nur die Klugheit
Coriolan.
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und das Ansehen des Menenins Agrippa brachte jene dahin, daß sie zurückzukommen versprachen, wenn man ihnen die Schulden, die sie nicht bezahlen könuteu, erließe und ihnen erlaube, alle Jahre aus sich zwei Volkstribunen zn wählen. So hießen neue Magistratspersoueu, die darüber wachen sollten, daß der Senat nichts Nachteiliges für das Volk beschlösse. So war also der Friede wenigstens für einige Zeit hergestellt. Menenins Agrippa soll die Plebejer durch die Erzähluug einer Fabel zur Rückkehr bewogen haben. Die Glieder des Körpers, so sagte er, empörten sich einst wider den Magen, denn sie glaubten, daß er allein unthätig sei, während sie alle für ihn arbeiteten. Sie versagten ihm daher den Dienst. Die Hüude wollten keine Speise mehr in den Mund bringen, der Mund sie nicht aufnehmen, nnd die Zähne sie nicht zermalmen. Diesen Vorsatz führten die Glieder eine Zeit lang aus. Bald aber fühlten sie, daß sie sich selbst dadurch schadeten. Sie merkten nämlich, daß es der Magen sei, der die Kraft der empfangenen Speise durch alle Glieder verbreite und dadurch ihnen allen Kraft und Munterkeit verleihe. Sie gaben daher ihr Vorhaben ans und söhnten sich wieder mit dem Magen aus. So ist es auch, fuhr Agrippa fort, mit dem Senate nnd dem Volke. Beide zusammen machen einen Körper aus, der nur durch die Einigkeit der einzelnen Teile bestehen kann.
Ein großer Teil der Patrizier war jedoch unwillig, daß die Plebejer jetzt mehr sein wollten als ehedem, und sie lauerten nur aus eine Gelegenheit, ihrem Unwillen Lnft zu machen. Es lebte damals in Rom ein Patrizier, Guäus Mareius, der von der Eroberung der volskischen Stadt Corioli den Beinamen Coriolanns führte. Vornehme Gebnrt, Reichtum und Kriegsruhm machten ihn fo stolz, daß wenige so glühend die Plebejer haßten wie er. Nun entstand um diese Zeit eine große Hungersnot in Rom. Das Volk sing an zn murren, schob alle Schuld aus die Patrizier, und es verbreitete sich das Gerücht, daß diese Getreide genug in ihren Häusern hätten, es aber nicht herausgeben wollten. Einigermaßen beruhigte sich zwar das Volk, als der Senat einige Schiffe nach dem kornreichen ©teilten schickte und dort auf öffentliche Kosten aufkaufen ließ. Die Schiffe kamen reichbeladen zurück, und das Volk sah begierig der Austeilung entgegen. Nur wie man dabei verfahren wollte, darüber wurde noch im Senate beratschlagt. Die meisten Senatoren waren der Ansicht, man müsse einen Teil davon an das Volk verschenken, oder doch unt einen sehr geringen Preis verkaufen. Da aber trat der junge feurige Coriolauus auf und stellte den Antrag, man sollte es dem Volke nur unter der Bedingung geben, daß es die Tribunen
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Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern.
wieder abschaffe, die täglich anmaßender und herrschsüchtiger würden. „Mag doch der Pöbel", rief er unter anderem mit bitterem Hohne, „wieder nach seinem heiligen Berge oder nach einem sonst beliebigen Hügel ziehen; wir wollen sehen, wer ihn abermals zurückruft!" Hierüber geriet das Volk in Wut. Es verlangte Bestrafung des Mannes, der so freventlich die eben hergestellte Ruhe stören und den feierlich geschloffenen Vertrag brechen wollte. Coriolanus sollte als Hochverräter vor das Gericht der Volksgemeinde gestellt werden, deren Rechte er so unbesonnen verletzt hatte, und die Tribunen bestimmten ihm den Tag. Über eine- so unerhörte Forderung erschraken die Patrizier. Sie gaben jedoch nach; denn sie rechneten sicher ans die Lossprechung des Angeklagten, da so viele der Mitstimmenden den Patriziern verpflichtet nnd ergeben waren. Der Angeklagte blieb bei feinem Trotz und Hohn. Zu stolz, als daß er der Plebejergemeinde das Recht einräumen wollte, einen Patrizier vor ihr Gericht zu laden, erschien er auf die Vorladung nicht. Da sprach das Volk in seiner Tribnsverfammlung (comitia tributa) die Acht über ihn aus.
Diesem Volksbeschlusse war der tiefgekränkte Patrizier schon zuvorgekommen. Noch während der Abstimmung verließ er zürnend Rom nnd schwur schreckliche Rache seiner Vaterstadt. Er ging zu den erbittertsten Feinden der Römer, zu den Volskern, und reizte diese zu einem neuen Kriege gegen seine Vaterstadt auf. Er selbst ward an die Spitze eines Heeres gestellt und drang mit seinem Gewalthaufen stürmend in Latium ein und warf alles vor sich darnieder. Schrecken ging vor ihm her. Im Angesicht der zitternden Hauptstadt schlug er sein Lager auf und verwüstete ringsumher mit Fener und Schwert die Ländereien der Plebejer; die der Patrizier verschonte er. Die bedrängte Stadt schickte schnell eine Gesandtschaft der vornehmsten Patrizier an ihn ab, um ihn freundlich zu bitten, von der Belagerung abzustehen und uach Rom zurückzukehren; allein der gereizte Sieger gab eine herbe Antwort. Dann gingen die Priester selbst mit allen Zeichen ihrer Würde in feierlichem Zuge in das volskifche Lager. Coriolanus empfing sie mit aller Ehrfurcht, willfahrte aber ihren Bitten nicht. Da stieg die Verzweiflung aufs höchste. Die Männer liefen mit den Waffen nach der Stadtmauer, während die Weiber sich in den Tempeln vor den Altären der Götter weinend niederwarfen und um Rettung flehten. Endlich begaben sich die ehrwürdigsten Frauen Roms, Veturia, Coriolanus' Mutter, und Volumina, seine Gemahlin, mit ihren Kindern an der Spitze, zum Coriolanus, um den letzten Versuch auf das Herz des
Camillus.
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Siegers zu machen. Als man ihm meldete, jetzt komme dort unten sogar eine Schar Weiber angezogen, wendete er sich mit Unwillen weg.
Aber kaum hatte er gehört, daß auch seine Mutter, seine Gemahlin und
Kinder mit in dem Zuge seien, so ging er ihnen freundlich entgegen. Anfangs widerstaud er ihren Bitten und forderte sie auf, das falsche Rom zu verlassen und bei ihm zu bleiben. Als aber seine Mutter, wie verzweifelnd, sich bittend und flehend zu seinen Füßen warf, als Weib und Kinder weinend sich um seine Kniee schmiegten: da endlich
siegte die Stimme der Natur über das Herz des erzürnten Siegers.
Gerührt hob er die innig geliebte Mutter auf, und unter Thränen rief er an ihrem Halse: „O Mutter, Mutter, Rom hast du gerettet, aber deinen Sohn verloren!" Er entließ die Frauen, führte das Heer zurück und soll dafür von den getäuschten Volskern erschlagen worden sein. Die Römer aber errichteten, zum Andenken der schönen That der Franen, dem weiblichen Glück einen Tempel, und zwar an der Stelle, wo diese den Helden erweicht hatten.
Die Kämpfe der Plebejer mit den Patriziern um Rechtsgleichheit hatten noch längere Zeit ihren Fortgang, bis die Tribunen, freilich nach harten Kämpfen, die Einführung geschriebener Gesetze erreichten. Bisher hatten die Richter, die nur dem Patrizierstande angehörten, nach herkömmlichen Satzungen, oft auch nach Willkür entschieden und dabei ihre Standesgenossen öfter bevorzugt. Endlich mußte der Senat den Forderungen des Volkes, das mit abermaliger Verweigerung des Kriegsdienstes drohte, nachgeben und die ersten geschriebenen Gesetze auf zwölf Tafeln aufstellen. Man nennt diese Gesetzsammlung das Gesetz der zwölf Tafeln (451 v. Chr.).
Lamillus.
(Nach Karl Peter. Geschichte Roms.)
Über 40 Jahre (450 — 406) herrschte nun Friede zwischen der Adels- und Volkspartei, und in dieser Zeit erstarkte Rom so, daß Veji, die mächtigste Stadt Etruriens, freilich erst nach zehnjähriger Belagerung, durch den Diktator Camillus erobert wurde (396 v. Chr.). Die Römer warfen Wälle auf, errichteten Sturmdächer und führten endlich unter die Stadt einen unterirdischen Gang, durch welchen sie in das Innere der Stadt eindrangen.
Unermeßlich war die Beute, die mau in Veji fand. Nach Rom zurückgekehrt feierte der siegreiche Feldherr einen prächtigen Triumph,
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Kämpfe zwischen. Patriziern und Plebejern.
zog sich aber den Unwillen des Volkes zn, weil er mit weißen, dem Jupiter geheiligten Rossen das Kapitol hinauffuhr. Ja, bald darauf wurde er sogar angeklagt, einen Teil der vejeutischen Kriegsbente unterschlagen zu haben.
Zu stolz sich vor dem Volksgericht zu verantworten, giug Camillus in freiwillige Verbannung und bat die Götter, sie möchten seine undankbaren Mitbürger einst fühlen lassen, daß sie ihn zu ihrem Schaden vertrieben Hütten.
Sein Wunsch fand bald Erfüllung.
Einige Jahre später brachen nämlich die senonischen Gallier, die im Norden Ober-Italiens wohnten, da wo das Laud von deu hohen Alpen begrenzt wird, in Mittel-Italien ein uud belagerten die etrnrifche Stadt Clusium.
Als sich die Clusiuer von dem furchtbaren Feinde bedroht sahen, schickten sie, obgleich sie nicht im Bündnisse mit Rom standen, dennoch Gesandte dahin und baten um Hilfe. Die Römer wollten zunächst einen Versuch machen, ob sich nicht ans dem Wege der Unterhandlung etwas ausrichten ließe. Sie gaben daher den clnsinischen Gesandten drei Brüder, die Söhne des M. Fabius Ambustus, zur Begleitung, welche den Auftrag hatten, die Gallier im Namen der Römer zum Abzug aufzufordern. Diese verlangten indes Wohnsitze in Etrurien, uud als man darauf nicht einging, lieferten sie den Clnsinern eine Schlacht, an welcher auch die römischen Gesandten teilnahmen. Die Gallier bemerkten es, da einer der Römer, in den vordersten Reihen kämpfend, einen ihrer Anführer tötete, und brachen nun sofort die Schlacht mit den Clnsinern ab, um sich gegen die Römer zn wenden und an diesen für die von ihren Gesandten verübte Verletzung des Völkerrechts Rache zn nehmen. Zunächst setzten es indes die älteren unter den gallischen Anführern noch durch, daß vorher eine Gesandtschaft nach Rom geschickt werde, um Genugthuung, d. h. die Auslieferung der Gesandten, zu fordern. Als aber das Volk, dem der Senat die Entscheidung überließ, nicht nur diese Genugthuung verweigerte, sondern auch die Fabier wie zur Belohnung für den Frevel für das folgende Jahr 390 zu Konfulartribunen ernannte, brachen die Gallier auf und richteten ihren Marsch gerade auf Rom, alles andere bei Seite lassend und den Völkerschaften, deren Gebiet sie berührten, zurufend, daß sie nichts zu fürchten brauchten, da sie es lediglich mit Rom zu thun hätten. So kamen sie bis an die Allia, ein kleines Flüßchen auf der linken Seite des Tiber, im Gebiete von Eru-ftumerium, elf Millien von Rom. Hier stellten sich ihnen die Römer
Camillus.
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entgegen, um ihnen eine Schlacht zu liefern. Die Fabier aber hatten alle in diesen Zeiten erforderlichen, anßerordentlichen Maßregeln vernachlässigt. Ihr Heer war nicht größer, als es in gewöhnlichen Zeiten der Fall zu sein Pflegte, und wenn vielleicht mit der Kriegsknnst gegen die rohe Kraft der Feinde etwas auszurichten gewesen wäre, so war mich dies verabsäumt worden. Die Schlacht war also kaum begonnen — der Tag derselben war der 18. Juli und ist seitdem immer unter dem Namen des dies Alliensis als einer der unheilvollsten Tage betrachtet worden —, als sie sich in eine völlige Flucht der Römer verwandelte. Ein Teil schlug die Richtung nach Rom ein, ein anderer
Teil, welcher dem Tiber näher gestanden hatte, schwamm Über diesen Fluß und suchte in Veji eine Zuflucht. Die Gallier waren selbst über den geringen Widerstand erstaunt. Sie nahmen indes am anderen Tage ebenfalls ihren Weg nach Rom, wo sie am Abend ankamen. Da sie die Stadt aber ganz offen und von Verteidigern entblößt fanden, so fürchteten sie irgend einen Hinterhalt und beschlossen daher ihren Einzug bis zum andern Morgen zu verschieben.
In Rom hatte sich, wie sich denken läßt, zunächst ein gewaltiger
Schrecken aller Gemüter bemächtigt. Indes war doch allmählich einige Fassung gewonnen worden, und das Zögern der Gallier hatte der waffenfähigen Mannschaft die erforderliche Zeit gewährt, sich ans dem Kapitol Zn versammeln, wohin auch ein Teil derjenigen Sachen gerettet wurde, die durch ihre Kostbarkeit oder durch ihre Heiligkeit oder als Denkmäler der Vergangenheit einen besonderen Wert besaßen. Das übrige Volk hatte sich in der Umgegend zerstreut. Die meisten waren nach dem benachbarten Cäre geflüchtet und eben dahin auch von dem Priester des Quirinus und den vestalischen Jungfrauen die unter ihrer Hut stehenden Heiligtümer geführt worden, deren Reinheit es erforderte, daß sie von Brand und Blutvergießen entfernt gehalten würden, und die daher nicht wie andere Heiligtümer auf dem Kapitol oder durch Vergraben geborgen werden konnten. Nur die ältesten Senatoren, etwa achtzig an der Zahl, konnten es nicht über sich gewinnen, den Untergang der Stadt zu überleben. Sie legten daher ihren kostbarsten Schmuck an, nahmen ihren Sitz in den Vorhallen ihrer Häuser, die meist auf dem Forum gelegen waren, und erwarteten hier, mit ben äußeren Zeichen ihrer Würde auch das stolze Gefühl derselben bis auf den letzten Augenblick festhaltend, daß die Gallier kommen und ihnen den Tod geben würden.
Diese rückten nun auch wirklich am dritten Tage nach der Schlacht in die Stadt ein. Der gänzliche Mangel an Widerstand dämpfte vor-
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Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern.
erst einigermaßen die Kriegswut, die sich sonst bei Eroberung einer feindlichen Stadt zn entzünden pflegt. Sie zerstreuten sich, nachdem sie die geeigneten Vorsichtsmaßregeln getroffen hatten, plündernd durch die Stadt; dann sammelten sie sich größtenteils aus dem Forum uud stauuteu hier die in den Hallen sitzenden Bilder römischer Würde an, bis einer von ihnen den Bart dev 9N. ^apirins, eines der Senatoren, streichelte, wie es heißt, um sich zu überzeugen, ob es eine Statue oder ein lebendes Wesen sei, und von diesem einen Schlag mit seinem Scepter erhielt. Dies erregte den Zorn der Eroberer. Sie erschlugen die Senatoren und was sonst noch von Menschen in der Stadt war, plünderten die Häuser rein aus und zündeten die Stadt an. Nur ein Teil der Häuser wurde erhalten. Nach einigen Tagen machten sie auch einen Versuch, die Burg zu erstürmen. Sie wurden aber zurückgeschlagen uud begnügten sich sie einzuschließen, um sie doch endlich durch Hunger zur Übergabe zu bringen. Und dies schien allerdings das unvermeidliche Schicksal der Eingeschlossenen zu sein, wenn nicht irgendwoher von außen Hilfe kam; denn bei ihrer geringen Zahl war nicht daran zu denken, daß sie einen
Kamps mit den Belagerern hätten wagen können, und ihre geringen Vor-
räte mußten doch endlich ausgezehrt werden, während den Feinden alles Land ringsumher zur Sammlung vou Muudvorrat offen stand.
Mittlerweile aber erhob sich das, was von dem römischen Staate außerhalb der Stadt noch übrig war, wieder zn einigem Mut und
Selbstgefühl. Zuerst saud Camillus in Ardea, wohin er in die Ver-
bannung gegangen war, eine Gelegenheit, sich durch eine glänzende That hervorzuthun und dadurch in den Römern wieder einige Hoffnung zu erwecken. Ein Hanse Gallier war aus einem der Streifzüge, die sie zur Herbeischaffuug vou Lebensmitteln machen mußten, in die Nähe von Ardea gekommen und hatte sich dort sorglos gelagert, keines Angriffs gewärtig. Dies war dem Camillus besannt geworden, und es gelang ihm, die Bewohner von Ardea durch die Aussicht auf einen leichten Sieg zu einem Überfall zu bewegen, der den günstigsten Erfolg hatte. Hierauf führten auch die Römer, welche sich in Veji versammelt hatten, ein glückliches Unternehmen aus. Etrusker, welche von der traurigen Lage Roms Vorteil ziehen wollten, machten einen plündernden Einfall ins römische Gebiet und zogen fast unter den Augen der Römer, mit Beute beladen, vor Veji vorbei. Dies reizte den Zorn der letzteren. Sie übersielen also das nahe Lager der Etrusker und richteten daselbst eine blutige Niederlage an. Und ebenso glücklich war ein gleiches Unternehmen, das sie noch gegen einen zweiten Hausen Etrusker machten.
Camillus.
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Durch dies alles gewann man wieder so viel Selbstvertrauen, um an eine Befreiung des Vaterlandes zn denken. Indessen nur unter des Camillns Anführung konnte man auf eineu glücklichen Erfolg hoffen, und dieser mußte erst aus der Verbannung gerufen uud mit der erforderlichen amtlichen Vollmacht bekleidet werden. Eben dies konnte aber nur durch die höchste Behörde uud den Senat auf dem Kapitol geschehen, und es stellte sich also die große Schwierigkeit entgegen, wie die nötige Botschaft dahin ausgerichtet werden sollte. Doch auch hier sand sich eine Hilfe. Ein Jüngling, namens Pontius Comiuius, übernahm das kühne Wagestück. Er schwamm den Tiber hinab bis nach Rom, erstieg in der Nacht das Kapitol da, wo es am steilsten und deshalb unbewacht war, richtete seinen Auftrag aus, und nachdem der erforderliche Senatsbeschluß gefaßt und bestätigt worden war, brachte er die Botschaft anch ebenso wieder nach Veji zurück, worauf Camillus herbeigerufen und an die Spitze des Heeres gestellt wurde.
Allein beinahe wären alle Austreuguugeu im voraus durch die Eroberung des Kapitols vereitelt worden. Die Gallier hatten die Spur des Pontius Cominius entdeckt. Sie klommen in der Nacht den Felsen an derselben Stelle hinauf und waren schon beinahe, ohne bemerkt zu sein, auf der Höhe angelangt, da erhoben die heiligen Gänse der Juno, die man ungeachtet des Maugels an Lebensmitteln verschont hatte, ein lautes Geschrei. Ein edler Römer, der bereits das Konsulat bekleidet hatte, Maulius, erwachte von dem Lärm, eilte nach der bedrohten Stelle und kam noch zur rechten Zeit, um den ersten Gallier, der eben im Begriff war auf der Höhe festen Fuß zu fassen, mit dem Schilde hiunnterznstoßen. Mit ihm wurdeu auch die übrigen Gallier hinabgerissen, uud so ward diese Gefahr noch im letzten Augenblicke glücklich beseitigt.
Doch was Gewalt oder List nicht erlangen konnte, das schien endlich der Hunger zu erzwingen. Die Lebensrnittel waren jetzt gänzlich ausgezehrt, uud da die ersehnte Hilfe noch immer zögerte, so blieb zuletzt doch nichts übrig, als den Weg der Unterhandlung mit dem Feinde zu versuchen. Auch dieser hatte durch Hitze und Fieber viel gelitten und wünschte daher abziehen zu köuueu. Die Unterhandlung führte daher schnell znm Ziele. Die Gallier erklärten sich bereit um den Preis von 1000 Psnnd Gold Rom zu verlassen, und schon war der römische Befehlshaber, der Konsulartribun Q. Snlpicins, mit dem Golde erschienen, um es dem Brenuus zuzuwägeu und damit den Abzug zu erkaufen. Brenuus fügte zu der Schande noch den Hohn. Als sich Snlpicins über
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Die Heldenzeit der Republik.
falsches Gewicht beklagte, legte er noch sein Schwert dazu mit dem Ausrufe: „Wehe den Besiegten!"
Aber in eben diesem Augenblicke erschien auch endlich die Rettung. Camillus trat vor Abschluß des Geschäfts unter die Verhandelnden und erklärte jeden Vertrag für nichtig, der ohne feine, des obersten Magistrats, Genehmigung abgeschlossen worden. Hinter ihm war sein Heer, zur Schlacht bereit; dieses, nicht das Gold, so erklärte er, solle Rom befreien. Es kam auf deu Trümmern der Stadt zu einer Schlacht, in welcher die Feinde gänzlich geschlagen wurdeu. Auf der Flucht wurden sie auf der Straße nach Gabii, acht Millien von Rom, nochmals angegriffen und erlitten eine zweite so völlige Niederlage, daß auch nicht einer von ihnen als Bote ihres Unglücks am Leben blieb. So erzählt Livius den Ausgang der Sache, gewiß in der Weise, wie sich das Andenken daran im Munde der Römer gestaltet hatte.
Camillus starb im Jahre 365, nachdem er kurz vor seinem Ende noch den Anträgen der beiden Volkstribunen Licinius und Stolo Gesetzeskraft verschafft hatte, daß nämlich auch die Plebejer Anteil an den (eroberten) Staats-lün der eien haben und zunr Konsulat zugelassen werden sollten (366 v. Chr.).
Durch diese Gesetze war die Gleichberechtigung der Patrizier und Plebejer einen bedeutenden Schritt weitergekommen und den inneren Kämpfen für längere Zeit ein Ende gemacht. Nun verweigerte keiner mehr den Kriegsdienst: alle Römer fühlten sich als ein Volk. Erstarkt durch die innere Einigung breitete Rom durch ruhmreiche Kriege seine Herrschaft über Italien aus. Durch die Besiegung der Samniter, welche nach drei schweren Kriegen unterworfen wurden (343—290), errang es die Oberhoheit über Mittel-Italien, durch die Unterwerfung Tarents kam ganz Unter-Italien in die Gewalt der Römer (272).
Die tzeldenzeit der Kepuülür.
Eiserne Nriegszucht des Lucius papirius Lurfor.
(Von Karl Peter. Geschichte Roms.)
Im Jahre 324 v. Chr. wurde dem Diktator Lucius Papirius Cursor und dem Magister Equitum Q. Fabius Rullianus die Führung des zweiten Kriegs mit den Samnitern übertragen. Als sie bereits dem Feinde gegenüber standen, meldete der Pullarius dem Diktator, daß er durch seiue heiligen Hühner bedenkliche Anzeichen erhalten habe. Der Diktator eilte daher nach Rom zurück, um dort die Auspizien, welche hierdurch zweifelhaft geworden waren, zu erneuern, ließ aber seinem Stellvertreter, dem Fabius, den bestimmten Befehl zurück, daß er während
Eiserne Kriegszucht des Lucius Papirius Cursor. 73
seiner Abwesenheit jedes Zusammentreffen mit dem Feinde vermeiden sollte. Die Samniter hatten von der Entfernung und wahrscheinlich auch von dem Verbote des Diktators gehört; sie bewiesen sich daher, da sie nach ihrer Meinung nichts zu fürchten hatten, übermütig und höhnisch gegen die Römer und reizten dadurch den Fabins so lange, bis dieser eine günstige Gelegenheit ergriff, sie zu einer Schlacht zwang und ihnen eine entscheidende Niederlage beibrachte. Fabins kannte seinen Oberbefehlshaber, und in der wohlbegründeten Voraussetzung, daß er von ihm alles zu fürchten habe und eine Besänftigung bei ihm unmöglich sei, sandte er die Botschaft von dem errungenen Siege nicht an ihn, sondern an den Senat und suchte zugleich die Truppeu für sich zu gewinnen, um nötigenfalls an ihnen Rückhalt zu finden. Allein Papirius eilte auf die empfangene Nachricht fofort ins Lager, berief das Heer zu einer Versammlung, fetzte hier das Vergehen seines Magister Eqnitum auseinander und schloß seine Rede damit, daß er das Todesurteil über ihn verkündete. Das Heer murrte, die Unterbefehlshaber in der Nähe des Diktators baten, aber ohne andern Erfolg, als daß dieser nur noch mehr gereizt wurde. Zwar war mittlerweileu der Abend herangekommen und demnach an diesem Tage die Vollstreckung des Urteils unmöglich geworden; aber desto gewisser war es, daß der Diktator sie am andern Tage erzwingen würde. Da ergriff Fabins ein anderes Rettungsmittel; er floh in der Nacht nach Rom. Dort trat er am andern Tage im Senate auf und suchte seine Sache zu verteidigen. Allein auch hierher folgte ihm der Diktator, und Fabius hatte feine Rede noch nicht beendigt, als sein Gegner eintrat und mit allen Gründen, die ihm die Rücksicht auf die Kriegszucht eiugab, das ausgesprochene Todesurteil aufrecht hielt. Noch blieb ein Mittel übrig, die Berufung an das Volk, die ja feit dem Jahre 449 auch gegen den Diktator gestattet war. Auch dieses Mittel wurde versucht; allein Papirins behauptete auch dem Volke gegenüber seinen Willen. So sehr sich auch einige der Volkstribunen des Schuldigen annahmen und so geneigt das Volk selbst dem jüngeren Manne war, so wußte doch Papirius die Ansicht geltend zu machen, daß es sich hier lediglich um Gehorsam gegen den Vorgesetzten handle und selbst das ganze Volk hier nicht eingreifen dürfe, ohne seine Befugnisse zu überschreiten und die Zncht int Heere auszulösen, bis endlich Fabius selbst und sein Vater, um Gnade flehend, auf die Kniee fielen und auch die Volkstribunen mit dem Volke selbst ihre Bitten mit denen jener vereinten. Nun erst erklärte der Diktator ohne Schaden für das Vaterland nachgeben zu können; er nahm sein Todesurteil zurück, ge-
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Die Heldenzeit der Republik.
währte aber auch jetzt noch seinem Gegner keine Verzeihung; wenigstens enthob er thu seiner Würde und setzte einen andern an seine Stelle.
Labricius und pyrrhus.
Romnlus Stadt war von Tag zu Tag mächtiger geworden und von ganz Italien gefürchtet stand das kriegerische Rom da.
Besorgt vor der wachsenden Macht Roms trat im Süden Italiens ber mächtige Haudelsstaat Tarent mit einigen süditalischen Völkern, wie bett Lucauern unb Brnttiern, in eine Verbindung. Bald darauf reizten die Tarentiner die Römer dadurch zu einer Kriegserklärung, daß sie einige römische Schiffe, die im Hafen von Tarent lagen, zerstörten und einen ber Gesaubteu, welcher basür Genugthuung sorbern wollte, aus empörenbe Weise beschimpften. Als bie Römer mit einem Heere gegen bie übermütige Stabt anrückten, riefen bie bitrch Wohlleben verweichlichten Tarentiner bie Hilfe bes Königs Pyrrhns vou Epirus au. Dieser, ber kurz vorher bie Herrschaft über Makedonien verloren hatte und sich in Italien ein größeres Reich zu erkämpfen gebachte, leistete betn Ruf gern Folge unb kam mit einem stattlichen Heere über bas Meer. In ber ersten Schlacht (bei Herctclea 280) siegte er, hauptsächlich bitrch gewisse Tiere, welche bie Römer mit bent größten Erstaunen betrachteten: bentt noch nie hatten sie solche zu Gesicht bekommen.
Es waren Elefanten. Auf bent Rücken dieser ungeheuren Tiere waren hölzerne Türmchen befestigt, von welchen herab 16 Soldaten mit Lanzen unb Pfeilen stritten; auch bie Elefanten felbst, namentlich wenn sie erst bitrch Wimbett gereizt waren, packten mit ihrem Rüssel feinbliche Solbaten, schmetterten sie zu Bobeu unb zermalmten sie mit ihren Füßen, bie eher bicke Säulen als bewegliche ©lieber eines Tieres zu fein schienen. Trotz bes ungewohnten Anblicks, bes geheimen Grauens vor biesem unbekannten Feinbe, hatten bie Römer mit aller Tapferkeit Wiberstanb geleistet, unb Pyrrhus rief voll Bewunderung aus: „Mit solchen Solbaten wollte ich bie ganze Welt erobern!" — Mit einem solchen Feinbe wünschte er boch Frieben zu haben unb knüpfte Unterhanblungert an. Aber bie Römer, obschon besiegt, verlangten voll Stolz, baß er Italien räume, sonst könne von Frieden keine Rede sein. Und als Pyrrhus setneu Gesandten fragte, wie er Rom gefunden, antwortete ihm dieser: „Wahrlich! Rom kam mir vor wie ein großer Tempel und der Senat wie eine Versammlung von Göttern".
Bei diesen Verhandlungen kam auch ein Römer als Abgesandter in des Pyrrhus Lager, Fabricius mit Namen, der durch seine Recht-
Fabricius und Pyrrhus.
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schaffenheit sich die allgemeine Achtung erworben hatte. Da der König wußte, in welchem Ansehen er in Rom stand, so suchte er ihn zu gewinnen, um durch ihn den ersehnten Frieden zu bewirken. Er ließ ihn daher allein zu sich kommen und sprach zu ihm: „Ich weiß, lieber Fabricius, daß du eilt kriegserfahrener und tugendhafter Mann, aber dennoch arm bist: das thut mir leid. Erlaube mir daher, daß ich dir von meiueu Schätzen so viel gebe, daß du reicher seiest als die andern Senatoren. Denn das ist der beste Gebrauch, deu Fürsteu von ihren Reichtümern machen können, daß sie großen Männern damit aushelfen. Ich verlange von dir dafür nichts Entehrendes, sondern nur, daß du deinem Volke zum Frieden rätst. Ich brauche eiuen tugendhaften und treuen Freund und du einen König, welcher dich durch seine Freigebigkeit in den Stand setzt, mehr Gutes als bisher zu stiften". — War das nicht fein gesagt und lieblich zu hören? Und hatte nicht der König seine Absicht, den Fabricius zu bestechen, sehr prächtig verhüllt? Und was sagte Fabricins dazn? Er antwortete: „Ich danke dir, lieber König, sür die gute Meinung, die du von mir hast; aber ich wünsche auch, daß du sie behaltest, darum nimm dein Geld zurück. Du hast ganz recht, daß ich arm bin. Ich habe einen kleinen Acker und ein Häuschen uud lebe nicht von den Zinsen und der Arbeit von Sklaven; aber deuuoch bin ich glücklich, denn ich werde von meinen Mitbürgern geachtet, gehe mit den Reichsten uud Angesehensten als meinesgleichen um. Mein Acker giebt mir das Notwendige. Jede Speise schmeckt mir, weil sie der Hanger gewürzt hat, und nach der Arbeit lohnt mir sanfter Schlaf. Freilich kann ich Notleidenden nicht freistehen, aber ich gebe von dem Wenigen, das ich habe, gern so viel, als ich vermag. Ich habe oft Gelegenheit gehabt, als Konsul ohne Verbrechen Reichtümer zu sammeln ; aber ich zog es vor, meine Soldaten reich zu machen und selbst arm zu bleiben, weil ich mich so glücklich fühle. Behalte also dein Geld, und ich will meine Armut und meinen guten Namen behalten". — Der König hörte nicht ohne stillen Ärger, aber doch auch nicht ohne Bewnndernng die mannhafte und stolze Antwort. Er beschloß einen Versnch zn machen, ob denn Furcht ebenso wenig Gewalt über die Römerseele habe als der Reiz des Geldes. Am folgenden Tage ließ er daher seinen größten Elefanten hinter einen Vorhang stellen und sorgte, daß Fabricius gerade davor feinen Platz erhielt. Pyrrhus sprach laut und mit Unmut; da flog der Vorhang in die Höhe und brüllend streckte der Elesant seinen laugen Rüssel über den Fabricius hin. Aber Fabricius wandte sich unerschrocken um, sah das Tier von oben bis unten an und
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Die Heldenzeit der Republik.
sprach dann ruhig: „So wenig als mich gestern dein Geld rührte, schreckt mich heute dein Elefant".
Fabricius war wieder zurückgekehrt. Da erhielt er von dem Leibarzt des Pyrrhus eineu Brief, in welchem dieser sich erbot, seinen Herrn zu vergiften, wenn ihm der Römer dafür eine gute Belohnung geben wolle. Fabrieius schauderte vor einer solchen Schandthat zurück; er
wußte, jede Sünde fällt auf ihren Urheber zurück. Er sandte daher den
Brief an Pyrrhus selbst, damit dieser vor einem solchen Bösewicht sich sichere. Wer malt des Pyrrhus Erstaunen? Einen solchen Edelmut
von einem Feinde? „Wahrlich!" rief er aus, „eher wird die Sonne
von ihrer Bahn, als Fabricius von dem Pfade der Tugend weichen!" Den Arzt ließ er hinrichten; den Römern aber schickte er, um seine Dankbarkeit zu beweisen, die Gefangenen ohne Lösegeld zurück; und abermals ließ er die Friedensanträge erneuern. Die Römer sagten: „Für die auch dem Feinde schuldige Gerechtigkeit lassen wir uns nicht bezahlen", und sandten eben so viele Kriegsgefangene zurück; die Friedensanträge wurden verworfen.
In einer zweiten Schlacht siegte Pyrrhus abermals durch seine Elefanten, verlor aber so viel Leute, daß er ausrief: „Noch einen solchen Sieg, nnb ich bin verloren!"
In der dritten Schlacht wurde er geschlagen und floh voll Bestürzung in sein Land zurück. Die Römer waren jetzt Herren von ganz Italien. Ihr schönster Ruhm aber war die republikanische Einfachheit, die biedere Rechtschaffenheit und strenge Tugeudliebe, welche ihre obersten Beamten gerade am meisten zeigten.
Nach der Unterwerfung Unter-Italiens konnte es nicht fehlen, daß Roms Herrschbegierde auch nach dem Besitz von Sicilien trachtete. Darüber geriet es in Streit mit dem Volke der Karthager, das bereits einen großen Teil dieser Insel, der Perle des Mittelmeeres, unterjocht hatte.
An der Nordküste von Afrika, in der Gegend des heutigen Tunis, lag die reiche und mächtige Handelsstadt Karthago, eine Kolonie der phönifijchen Stadt Tyrns. Die Karthager, wegen ihrer Abstammung vou den Phöniciern auch Pitnier genannt, trieben nicht bloß Handel wie ihre Mutterstadt, sondern führten auch Kriege und machten Eroberungen. Sie unterwarfen sich allmählich das ganze umliegende Gebiet und dehnten dann ihre Herrschaft auch über Sardinien und Corsica und einen Teil Siciliens aus und gründeten zugleich zur Sicheruug ihres
Regulus.
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Handels an den Küsten von Spanien und Afrika zahlreiche Pflanzstädte.
So erlangten sie bald die Herrschaft des Meeres. Mit Neid und Besorgnis sahen sie jetzt, wie die Römer alle Küsten Italiens unterwarfen; als diese aber im Jahre 264 nach Sicilien hinüber gingen, um den räuberischen Mamertiueru gegen den König Hiero von Syracus Hilfe zu leisten uud bei dieser Gelegenheit festen Fuß aus der Insel zu faffeu, brach die Eifersucht zwischen Karthago und Rom in einen blutigen Kampf ans, der dreimal erneuert und stets mit der größten Erbitterung geführt 264-241 wurde. Man nennt diese Kämpfe die drei panischen Kriege. Sie218-201 endeten mit der völligen Vernichtung der Macht der Karthager. 149-146
Regulus.
Im ersten finnischen Krieg, der von 264—241 währte, waren die Karthager anfänglich im Vorteil, da sie im Besitz einer Kriegsflotte waren, welche den Römern ganz fehlte. Aber nachdem diese nach dem Muster eines gestrandeten karthagischen Schiffes binnen 60 Tagen eine Flotte von 120 Schiffen gebaut hatten, erfochten sie bald unter Führung des Duilius auch den ersten Seesieg und setzten unter Führung des Regulus sogar nach Afrika über. Er eroberte eine Stadt nach der anderen und stand schon nahe bei der Hauptstadt Karthago. In dieser Not erschien den Karthagern unerwartet ein Retter. Ein Spartaner, namens Lanthippns, der an der Spitze griechischer Soldtrnppen zu
ihnen gekommen war, erklärte sich bereit, den Oberbefehl über das Heer zu übernehmen. Er ordnete und übte darauf die Soldaten nach griechischer Weise, zog den Römern entgegen und brachte ihnen eine entscheidende Niederlage bei. Der siegesstolze Regulus selbst geriet in Gefangenschaft; von dem ganzen Heere aber entkamen nur wenige, da auch die Flotte, welche die Fliehenden aufnahm, dnrch einen heftigen Sturm säst ganz vernichtet wurde.
Während Regulus zu Karthago im Kerker saß, bauten die Römer eiligst eine neue Flotte und schickten andere Legionen nach Sicilien
hinüber. Hier gelang es dem Konsul Metellus, die Feinde in einer großen Schlacht zn besiegen und ihnen hundert und vier Elefanten, welche die Römer noch immer über alles fürchteten, abzunehmen.
Die Tiere wurden beim Triumph in Rom zum großen Jubel des
Volks aufgeführt. Die Karthager verurteilten, nach der barbarischen Sitte ihres Landes, ihren geschlagenen Feldherrn zum Kreuzestode und schickten Gesandte nach Rom, um unter billigen Bedingungen Frieden
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zu erhalten, jedenfalls aber die Auswechselung der Gefangenen zu bewirken. Um ihren Zweck desto sicherer zu erreichen, gesellten sie den Regulus der Gesandtschaft bei, nachdem sie ihn einen feierlichen Eid hatten schwören lassen, daß er, im Fall er nichts ausrichtete, wieder in die Gefangenschaft zurückkehren würde. Regulus wurde bei seiner Ankunft in Rom von seinen Freunden und Verwandten mit herzlicher Freude empfangen; doch ohne ihre Freude zu teilen, eilte er mit den Gesandten vor den versammelten Senat. Hier widerriet er zum Erstaunen aller Anwesenden die Auswechselung der Gefangenen. „Die Römer", sagte er, „die in Karthago im Kerker schmachten, sind keine Römer mehr. Die Ehre hat bei ihnen weniger gegolten als das Leben; sie könnt ihr also entbehren. Aber schmerzlich vermißt der Feind jene zahlreichen und wohlgeübten Scharen, die von euch den Krieg erlernt und im Kampfe mit euch abgehärtet sind. Solche Mietlinge findet Karthago nicht wieder. Gebt sie nicht los, wenn euch des Vaterlandes Wohl am Herzen liegt!" Schließlich bat er den Senat, auf thu, den kraftlosen Greis, keine Rücksicht zu nehmen. Umsonst flehten seine Freunde, seine Gattin und seine Kinder; er kehrte mit den Gesandten zurück, nachdem der Senat, seinem Rate folgend, sowohl den Frieden als die Auswechselung der Gefangenen verweigert hatte. Grenzenlos war die Erbitterung, mit der ihn die Karthager empfingen. Sie ersannen, wie einige Schriftsteller berichten, neue, unerhörte Martern zu seiner Hinrichtung; gewiß ist, daß er in Karthago die härteste Behandluug erfuhr und nie von dort zurückkehrte. Nachdem der Kampf noch mehrere Jahre gewährt, erfochten die Römer unter dem Konsul Lutatius Catulus bei den ägatischen Inseln (241) einen so glänzenden Seesieg, daß die Karthager um Frieden bitten mußten. Er wurde ihueu gewährt, doch mußten sie den Römern die Insel Sieilien abtreten, alle Gefangenen ohne Lösegeld zurückgeben und 3000 Talente an Kriegskosten zahlen (gegen 5 Millionen Mark). So ward Sieilien die erste römische Provinz.
Provinz nannten die Römer jedes eroberte Gebiet außerhalb Italiens, das durch einen vom Senat ernannten Prokonsul (t>. H. gewesenen Konsul) verwaltet wurde.
Bannibal. Gcipio.
a) feamtibals erstes Auftreten.
(Von Lndwig Stacke. Erzählungen ans der römischen Geschichte.)
Einige Jahre nach dem ersten punischeu Kriege ging Hamilkar Barkas, ein unversöhnlicher Feind der Römer, nach Spanien, um durch
Hannibal. , Scipio.
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die Reichtümer und großen Hilfsmittel dieses Landes seinem erschöpften Vaterlande wieder aufzuhelfen und neue Kräfte gegen Rom zu gewinnen. Als er im Begriff war abzureisen, bat ihu Hannibal, sein Sohn, ein Knabe von ungefähr neun Jahren, ihn auf diesem Zuge begleiten zu dürfen. Der Vater versprach es und suchte zugleich das Herz seines Sohnes mit unaustilgbarem Hasse gegen Rom zu erfüllen. Er führte ihn vor den Altar, auf welchem er eben opferte. Alle Zeugen wurden entfernt; dann hieß er seinen Sohn den Altar umfassen und schwören, daß er zeitlebens ein Feind der Römer sein wolle. Hannibal that es, und nie ist ein Schwur treuer gehalten worden. Nach abgelegtem Eidschwur ging er mit seinem Vater nach Spanien, wo er sich zum Krieger bildete.
Neun Jahre focht Hamilkar in Spanien mit großem Glück, machte im Süden und Westen des Landes reiche Eroberungen uud fiel in einer Schlacht. Den Karthagern hatte er neue Besitzungen und unermeßliche Schätze erworben. Nach seinem Tode übernahm sein Eidam Has-drnbal den Oberbefehl und setzte die kriegerischen Unternehmungen mit großem Glück fort. Die Römer wurden über diese Fortschritte so besorgt, daß sie in einem Vertrage mit Hasdrnbal den Ebro als Grenze der karthagischen Eroberungen feststellten und die Stadt Saguut in ihren Schutz nahmen. Znr Befestigung der karthagischen Herrschaft legte Hasdrnbal in der Nähe reicher Silberbergwerke die Stadt Neukarthago an.
Hannibal war nach des Vaters Tode nach Karthago zurückgekehrt; Hasdrubal ließ ihn wieder zu sich kommen und erzog ihn unter den Soldaten. Acht Jahre hatte Hasdrnbal den Oberbefehl in Spanien geführt, als er von einem Eingeborenen ermordet wurde. Jetzt rief das Heer den jungen Hannibal als Feldherrn aus, und der Senat und das Volk zn Karthago bestätigte die Wahl.
Im Lager ausgezogen, war Haunibal der Liebling des Heeres; die alten Krieger sahen in ihm des Vaters Ebenbild; dieselbe Lebhaftigkeit des Blickes, dasselbe Feuer in den Angen, dieselbe Gesichtsbildnng, dieselben Züge gewahrten sie. Sein Geist war zum Gehorchen uud Befehlen gleich geschickt. Wenn eine Unternehmung Mut und Rüstigkeit erforderte, stellte schon Hasdrnbal ihn am liebsten an die Spitze, und unter keinem Führer hatten die Krieger mehr Vertrauen und Siegeszuversicht. Mit der größten Kühnheit ging er in Gefahren, mit der größten Besonnenheit benahm er sich mitten in denselben; durch keine Beschwerde konnte sein Körper ermüdet, sein Geist gebeugt werden.
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Hitze und Kälte ertrug er mit gleicher Ausdauer, in Speise und Trank war er mäßig, uud zum Schlafe gönnte er sich nur die Zeit, die ihm die Geschäfte übrig ließen. Dazu bedurfte es keines weichen Lagers, noch der Stille der Nacht, und oft sahen ihn seine Krieger, mit einem kurzen Feldmantel bedeckt, zwischen den Wachen und Posten auf dem Boden liegen. Seine Kleidung war von der seiner Genossen in nichts unterschieden, nur Waffeu und Rosse kündigten den Feldherrn an. Er war bei weitem der beste Reiter wie der beste Fußgänger. Als vorderster ging er ius Treffen, als letzter kehrte er zurück. Aber neben diesen großen Borzügen besaß nach der Darstellung der Römer er auch gewaltige Fehler: unmenschliche Grausamkeit, maßlose Treulosigkeit; nichts war ihm heilig, er kannte keine Furcht der Götter, keinen Eid, kein Gewissen. Mit solchen Tugenden und solchen Fehlern trat Hannibal an die Spitze des Heeres.
Hasdrubal hatte den Vertrag mit den Römern, die Stadt Sagunt nicht anzugreifen, treulich gehalten. Hannibal kümmerte sich nicht darum; durch Eroberung suchte er Karthagos Gebiet zu erweitern und schritt zur Belagerung von Sagunt. Als die Römer von der Bedrängnis der mit ihnen verbündeten Stadt hörten, ordneten sie eine Gesandtschaft an Hannibal ab, um ihn an den Vertrag zu erinnern. Doch dieser ließ sie gar nicht vor sich und erklärte, daß er in so entscheidender Stunde keine Zeit habe, Gesandtschaften anzuhören. Ebenso erfolglos war diese Gesandtschaft in Karthago. Inzwischen erfuhren die Sagnntiner alle Schrecken einer Belagerung und leisteten den heldenmütigsten Widerstand; erst nach einer achtmonatlichen Einschließung und Bestürmung konnte Hannibal in die Stadt einziehen. Als den Saguntinern alle Hoffnung geschwunden war, brachten die Vornehmsten Silber und Gold aus ihren Häusern auf den Markt, warfen es in ein zu diesem Zwecke angeschürtes Fener uni) stürzten sich gleichfalls hinein. Schrecken uud Bestürzung bemächtigte sich der ganzen Stadt, als noch überdies ein Turm einstürzte und Hannibal mit gesamter Macht, eindrang und die Stadt eroberte. Alle Wehrhaften wurden getötet, viele hatten sich mit Weib und Kind in ihre Häuser verschlossen und diese über ihren Häuptern verbrannt. Die Beute in der eroberten Stadt war beträchtlich.
Nach diesem Erfolge schickten die Römer abermals Gesandte nach Karthago, an deren Spitze Qnintns Fabius stand. Diefe hatten den Auftrag die Auslieferung Hannibals zu fordern, oder wenn diese verweigert würde, den Krieg anzukündigen. Der Senat in Karthago war in zwei Parteien geteilt und konnte keinen entscheidenden Entschluß fassen.
Hannibal. Scipio.
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Er suchte daher Ausflüchte zu machen, allein Quintus Fabius forderte eine bestimmte Erklärung. Indem er mit seiner Toga einen Busen faltete, sagte er: „Hier ist Krieg und Frieden; nehmt, was ihr wollt!" — „Wir nehmen", antworteten die Karthager, „was ihr uns gebt." — „So nehmt den Krieg!" erwiderte Fabius und entfaltete seine Toga, gleich als ob er Waffen und Krieger herausschüttete.
So wurde der zweite punische Krieg angekündigt, der siebzehn Jahre (218—201 v. Chr.) dauerte, Italien, Spanien und Afrika verwüstete, Rom an den Rand des Verderbens brachte und zuletzt mit der Niederlage der Karthager endete. Nachdem Hannibal im Frühjahr die Truppen aller Völkerschaften gemustert hatte, fetzte er mit 90,000 Mann Fußvolk, 12,000 Reitern und 37 Elefanten über den Ebro uud bezwaug die Völkerschaften zwischen diesem Fluß uud den Pyrenäen. Um die Pässe dieses Gebirges und die neu eroberten Landschaften zu hüten, ließ er den Hanno mit 11,000 Mann zurück, und schickte noch andere 11,000 Mann, welche die Furcht vor einem Kriege mit Rom entmutigt hatte, nach Hanfe. Ihm selbst blieben damals 50,000 Mann zn Fuß und 9000 Reiter. Die Völker des südlichen Galliens gewann er durch List und Geschenke, und schon im Herbst überschritt er die Rhone, als man in Rom vernahm, er habe den Ebro überschritten.
b) Hannibals Übergang über die 2llpen (218 v. Chr.).
(Von Johann Friedrich Wilhelm Bötticher. Geschichte der Karthager.)
Zwischen der Rhone und den Alpen wohnte zu der Zeit, wo Hannibal das südliche Gallien durchzog, um auf diesem Wege nach Italien vorzudringen, das mächtige Volk der Allobroger. Sehr willkommen mußte dem Karthager der Umstand fein, daß gerade damals der Streit zweier Brüder um die Herrschaft des Laudes ihm den Durchzug erleichterte, der sonst leicht mit Schwierigkeiten hätte verbunden sein sönnen. Er ergriff nämlich, da man ihn zum Schiedsrichter in diesem Zwiste wählte, die Partei des älteren Bruders, welcher nun mit Hannibals Hilfe feinen Gegner leicht überwältigte. Eine Menge von Lebensmitteln, selbst von Waffen und Kleidungsstücken, die dem Heere sehr willkommen waren, und ein noch wertvolleres Geschenk, ein sicheres Geleit bis an den Fuß der Alpen, wurde den Karthagern als Dank zu teil. So zog Hauuibals Heer zehn Tage lang durch das Land der Allobroger, ohne angegriffen zu werden; da aber sah es sich am Fuße des riesenhaften Gebirges von den schützenden Begleitern verlassen und nicht bloß den Beschwerden des Marsches, sondern auch den Angriffen der hier Herr-
Abicht, Lesebuch. II. e
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schenden Häuptlinge ausgesetzt, welche mit vereinter Macht den Zug durch die Gebirgspässe verfolgten. Mehr als einmal schon waren die Gallier über die Alpen nach Italien gezogen nud kannten sehr wohl die dahin führenden Pässe, wie sich denn auch Hauuibal durch sie darüber hatte unterrichten lassen. Sie wußten also, welchen Weg die Karthager einschlagen mußten, und besetzten voraneilend die unwegsamsten Gegenden, um von den Höhen aus den Nachtrab derselben zu beunruhigen. Aber bald erfuhr Hannibal durch feine Kundschafter, daß die Feinde nur bei Tage die Berge besetzt hielten, in der Nacht aber sich in benachbarte Flecken und Dörfer zurückzögen. Er überlistete sie daher ohne Schwierigkeit, indem er sich in der folgenden Nacht mit einein Teile der ©einigen der Höhen bemächtigte, während das übrige Heer im Thale znrückblieb und durch angezündete Wachtfeuer die Gallier täuschte. Mit Anbruch des Tages setzten sich beide Heeresabteilungen in Bewegung; aber die Feinde, so überrascht sie waren, ihren Lagerplatz besetzt zu sehen, ließen doch nicht ab den Zug zu beunruhigen, während derselbe oft auf schmalen Pfaden neben unermeßlichen Abgründen fchon durch seine eigene Bewegung in Unordnung geriet. Keiner wollte der letzte sein; alles drängte sich zusammen, um, vor dem verfolgenden Feinde desto sicherer, dem Vortrabe schneller sich anschließen zu können. So konnte es nicht fehlen, daß besonders die Reiterei und das Gepäck ins Gedränge kam, indem die Pferde durch den verworrenen Schlachtruf der Gallier, durch das Geschrei der auf dem Zuge hin und her Gedrängten, durch den furchtbaren Wiederhat! der Felsen scheu gemacht, zumal wenn sie durch feindliche Geschosse verwundet wurden, oft ganze Massen in den Abgrund drängten und selbst mit allem Gepäck in die unabsehbare Tiefe hinabstürzten. Da zog Hannibal mit der auserlesenen Mannschaft, mit welcher er in der Nacht die Höhen besetzt hatte, den Galliern plötzlich entgegen, jagte sie in die Flucht und eroberte nebst mehreren Flecken auch die Stadt, welche der Hauptwaffenplatz der Feinde war.
Mit Lebensrnitteln auf mehrere Tage versehen, indem er in jenen Ortschaften bedeutende Viehherden erbeutet hatte, zog er nun drei Tage lang, ohne von Feinden beunruhigt zu werden, eine große Strecke weiter vorwärts, da auch der Weg wenig Hindernisse mehr verursachte. Am vierten Tage kam er in das Gebiet einer neuen bedeutenden Völkerschaft, welche, um ihn zu überlisten, sogleich Abgeordnete mit den üblichen Friedenszeichen, Kränzen und Zweigen, an ihn abschickte und außer der Verpflegung des Heeres auch Geiseln und Führer zu geben versprach. Hannibal traute zwar diesen Versprechungen nicht und traf, selbst als
Hanmbal. Scipio.
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sie erfüllt wurden, alle möglichen Vorsichtsmaßregeln, um sich vor einem Überfalle zu sichern; aber dennoch geriet er in die größte Gefahr, als er nach zwei Tagen in einer Bergschlucht, in welche sie selbst ihn geführt hatten, von den Galliern angegriffen wurde. Die Reiterei und die Elefanten, welche ihm in dieser Gegend keinen Nutzen gewährten, hatte er voranziehen lassen; die Schwerbewaffneten bildeten, von ihm selbst angeführt, den Nachtrab. Diese Vorsicht rettete ihn allein vor einer gänzlichen Niederlage. Doch verlor er nicht wenig Mannschaft und Gepäck, indem die Gallier das Heer von allen Seiten angriffen und ungeheure Felseumafseu ans dasselbe herabwülzten; ja er mußte die Nacht getrennt vou der Reiterei zubringen, da der Feind sich mitten zwischen beiden Heeresabteilnngen gelagert hatte. Am folgenden Morgen zogen sich jedoch die Gallier allmählich zurück und wagten nur noch einzelne Angriffe, um hie und da etwas zu erbeuten. Am meisten fürchteten sie die Elefanten, deren ungewohnter Anblick sie so in Schrecken setzte, daß sie sich stets in weiter Ferne von ihnen zu halten suchten.
So langte endlich am neunten Tage das Heer auf dem Gipfel der Alpen an, wo es zwei Tage rastete, um sich von den Beschwerden des Marsches zu erholen; ctnch wollte man hier diejenigen erwarten, welche sich verirrt hatten oder ans Erschöpfung hinter dem Zuge zurückgeblieben waren. Aber so viele Schwierigkeiten man nun auch schon überwunden hatte, so erfüllte doch der Schnee, welcher die Alpen bedeckte und der in der herbstlichen Jahreszeit in immer größeren Massen herabsiel, sowie der Gedanke, daß ein ebenso beschwerlicher Weg von den Bergen hinab noch bevorstehe, alle Truppen mit Mutlosigkeit. Nur die Schilderung, welche ihnen Hannibal, auf die unter ihnen liegenden Ge-silde hinweisend, von der Schönheit und Fruchtbarkeit Italiens, von der wohlwollenden Gesinnung der am Po wohnenden Gallier und von der Leichtigkeit, mit welcher man den Feind besiegen würde, zu machen wußte, vermochte sie wieder aufzurichten.
Hierauf fing man an, das Gebirge hinabzusteigen, welches nach Italien zu, wenn auch weniger ausgedehnt, doch desto steiler und abschüssiger ist, und so verloren auf diesem Wege, obwohl die Gallier nur unbedeutende Angriffe wagten, fast eben so viele ihr Leben, wie auf dem bisherigen Marsche. Die Menge des Schnees, welcher alles weit und breit bedeckte, so daß kein Psad mehr sichtbar war, machte jeden Tritt unsicher, und die Ausgleitenden stürzten sogleich in jähe Tiefen hinab, da sie an keinem Steine, an keinem Strauche sich festzuhalten vermochten. Welche Bestürzung ergriff aber die schon Ermattenden, als
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sie sich plötzlich vor einem Abhange befanden, der es wenigstens den Pferden und Elefanten unmöglich machte, auch nur einen Schritt weiter vorwärts zu thun. Hannibal wollte anfangs einen Umweg nehmen, um so den Abhang zu umgehen; aber der beständig diese Höhen bedeckende Schnee bildete unter dem neu gefallenen eine so unsicher zu betretende Eisrinde, daß das Zugvieh, indem es durchbrach, geradezu stehen bleiben mußte und auch die Menschen hin und her gleitend, mehr rückwärts als vorwärts kamen. So sah sich der karthagische Feldherr genötigt, wieder an den Rand des Abhanges zurückzukehren und einstweilen ein Lager daselbst aufzuschlagen, nachdem er den Schnee hatte wegschaffen lassen. Als dieses geschehen war, ließ er den Abhang ebnen, und so groß auch die damit verbundenen Schwierigkeiten waren, so gelang es ihm doch schon am ersten Tage, den Pferden und dem Zugvieh einen Weg zu bahnen, auf welchem sie in die unten gelegenen, schon nicht mehr mit Schnee bedeckten Thäler auf die Weide geführt werden konnten. Aber erst nach drei Tagen war er imstande, den Weg für die Elefanten zu ebnen, die während der Zeit der Hunger fast aufgerieben hatte, da weder Baum noch Strauch in jenen Gegenden zu finden war.
So langte er in der von den Nebenflüffen des Po bewässerten Ebene an. Sein Heer bestand noch aus 26,000 Mann, nämlich aus 12,000 libyschen und 8000 spanischen Fußgängern und aus 6000 Reitern; über die Hälfte hatte er auf dem Wege von den Pyrenäen aus durch Gallien über die Alpen verloren. Dennoch zog er um so mutiger in den Kampf, da die Truppen, welche er noch hatte, durch den fünfmonatlichen mit so mancher Gefahr verbundenen Marsch und selbst durch die mehrere Wochen fast ununterbrochenen Beschwerden während der Über-steigung der Alpen nur noch abgehärteter und furchtloser wurden.
Nach den beiden siegreichen Treffen am Tieinus und an der Trebia (218) unterwarf sich ganz Ober-Italien dem Sieger. Im Frühjahre des nächsten Jahres (217) drang Hannibal über die Apenninen in die Niederungen des Arno ein. Der Fluß war aus feinen Ufern getreten und hatte die Gegend überschwemmt. Vier Tage und drei Nächte mußten die Soldaten bis an die Kniee im Wasser waten. Den Pferden gingen die Hufe ab, die Lasttiere blieben im Schlamme stecken; Hannibal selbst verlor durch eine Entzündung ein Auge. Aber ungebeugt führte der einäugige Feldherr fein Heer weiter. Doch kaum hatte er die Anhöhen der Apenninen wieder erreicht, kaum war er auf dem Trockenen, so rückte ein großes römisches Heer gegen ihn an. Hannibal lockte dasselbe, indem er seitswärts zog, in das enge Thal am trasi-
Hannibal. Scipio.
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menischen See. Hier kam es im April 217 zur Schlacht: 15,000 Römer wurden erschlagen und 6000 gefangen. Hannibal zog weiter, Rom umgehend, und gelangte, am adriatischen Meere hinmarschierend, nach Süd-Italien. Eine ungeheure Bestürzung ergriff das römische Volk, als es die Nachricht von diesen furchtbaren Niederlagen erhielt. Es erwählte in seiner Not den Qnintus Fabius, einen bejahrten, allgemein geehrten Mann, zum Diktator^). Dieser beschloß, den Krieg nur verteidignngsweise zu führen und so lange als möglich eine Schlacht zu vermeiden. Vorsichtig hielt sich der Diktator mit seinem Heere auf den Bergeu, indem er den Feind nicht aus dem Auge ließ. Lagerte sich Hannibal, so lagerte sich Fabius auch; zog Hannibal weiter, so marschierte Fabins ans den Höhen ihm zur Seite. Die römischen Soldaten, unmutig über dieses, wie sie sagten, „müßige Hin- und Herziehen in den Wolken", schalten ihren Feldherrn feig und nannten ihn spöttisch den Zauderer oder Kunktator. Fabius ließ sich dadurch nicht irre machen, und es gelang ihm endlich, Hannibal mit seinem Heere in einem Thalkessel, nördlich von Capna, einzuschließen. Eine List rettete die Karthager. Hannibal ließ 2000 Ochsen zusammenbringen uud zwischen die Hörner eines jeden Tieres ein Reisigbündel befestigen. Als es Nacht geworden war, zündete man die Bündel an und jagte die dadurch wild gewordenen Tiere hinauf gegen die Römer. Letztere wußten nicht, was diese gegen sie anstürmenden Fackeln seien, und in der allgemeinen Verwirrung sührte Hannibal glücklich sein Heer aus dem gefährlichen Thale.
Hierauf zog Hauuibal bei des Fabius Landgütern vorbei; er ließ olles umher verwüsten, verschonte aber die Güter des Fabius. Seine Absicht gelang: bie unzufriedenen Soldaten begannen zu argwöhnen, daß Fabins ein geheimes Einverständnis mit dem Feinde habe, und als der Unterbefehlshaber Minucius einen kleinen Vorteil über die Karthager gewann, ward ihm gleicher Anteil an dem Oberbefehle gegeben. Fabius teilte mit ihm das Heer. Voll Freude eilte Minucius mit der ihm zugeteilten Heeresabteilung hinab in das Thal uud — fiel in einen Hinterhalt des Hannibal, der schon lange auf den Unbesonnenen lauerte. Zum Glück kam Fabius ihm zur Hilfe und kehrte mit den Geretteten auf die sicheren Höhen zurück. „Dacht ich's doch", rief Hannibal ärgerlich, „daß bie Wolke aus den Bergen uns ein Unwetter bringen würde!" Von nun an würbe „Kunktator" ber Ehrenname bes Fabius.
1) Der Diktator war unumschränkter Oberfeldherr und wurde auf sechs Monate erwählt, wenn der Staat sich in äußerster Gefahr befand.
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Nachdem die Amtszeit des Fabius abgelaufen war, übernahmen (216) die beiden Konsuln Ämilins Paulus und Terentius Varro den Oberbefehl uud zogen mit 80,000 Mann Fnßfoldaten und 6000 Reitern gegen Hannibal. Es kam zur Schlacht bei Caunä am 2. August 216, der fürchterlichsten im ganzen Kriege, die mit der völligen Niederlage der Römer endete. 45,000 römische Bürger, 80 Senatoren und 3000 Ritter sielen, 10,000 mürben gefangen. — Roms Macht schien dahin, der Glanz und Schrecken seines Namens vorbei zu sein, fast alle Völker Unter-Italiens huldigten dem Sieger. Nur Roms Bürger verzagten nicht und gaben den Gesandten Hannibals, die Friedensvorschläge machten, zur Antmort: „So lange noch ein Karthager in Italien sei, sollten sie an keinen Frieden denken". Diese heldenmütige Festigkeit rettete Rom. Denn auch Haunibal mar erschöpft und mußte neue Ver-stärkuugeu abmarten. Es hatte aber dieser große Mann zu Karthago viele Gegner, die, neidisch auf seinen Ruhm, es durchsetzten, daß ihm meder Geld noch frische Truppen geschickt murden. Hannibals Hoffnung, daß bie italischen Bundesgenossen Roms zu ihm übertreten würden, erfüllte sich ebenfalls nicht. Als er darauf im folgenden Jahre (215) durch den Konsul Marcellus (den die Römer ihr Schwert nannten, wie sie Fabius ihren Schild genannt hatten) bei Nola geschlagen und ihm die bereits eroberten Städte Capna und Tarent wieder entrissen wurden, blieb ihm nur eine Hoffnung übrig. Seiu Bruder Hasdrubal, den er mit einem Heere zur Beschütznng Spaniens zurückgelassen hatte, sollte ihm von dort ans Hilfe bringen. Glücklich hatte dieser mit einem großen Heere gleichfalls den bewunderungswürdigen Zng über die Pyrenäen und Alpen gemacht. Schon stand er in Mittel-Italien. Doch ehe er sich mit seinem Bruder, der im bruttischen Gebiet stand, vereinigen konnte, mard er von den Römern am Flnß Meta n r ns (207) angegriffen, geschlagen und getötet. Als dem Hannibal der Kopf seines Bruders ins Lager geschickt wurde, rief er im höchsten Schmerz aus: „Weh, jetzt erkenne ich das Geschick Karthagos!" Danach zog sich Hannibal nach Unter-Italien zurück, bis er zur Verteidigung seiner bedrängten Vaterstadt nach Afrika zurückgerufen mnrde.
Während nämlich Hannibal in Italien siegreich war, hatte Marcellus, das Schwert Roms, auf Sicilien das zu Haunibal abgefallene Syracus nach dreijähriger Belagerung erobert (212). Lange hatte ein Mann, der berühmte Mathematiker Archimedes, alle Angriffe der Römer vereitelt. Hinter der Mauer stellte er Wurfmaschinen auf, mit welchen er große Steine und Balken gegen die Schiffe der Römer
Hannibal. Scipio.
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schleuderte und sie zerschmetterte. Andere Maschinen faßten mit eisernen Haken die Schiffe, hoben sie in die Höhe und zerschellten sie an der Mauer. Endlich steckte er durch große Brennspiegel von der Mauer herab einen Teil der römischen Flotte in Brand. Erst int dritten -jähre (212) gelang die Eroberung der Stadt. In einer Nacht, da wegen der Feier eines Festes die Wachsamkeit der Bewohner nachgelassen hatte, erstiegen einige Römer die Mauern unb öffneten von innen die Thore. Der größte Teil der Einwohner wurde niedergehauen, auch Archimedes ward getötet. Er saß in Nachdenken vertieft über mathematischen Figuren, die er mit einem Stabe vor sich in ben Sanb gezeichnet hatte, als ein Römer eintrat. „Zertritt mir meine Zirkel nicht!" (noli turbare cir-culos meos!) rief er bem Störer zu; bieser aber, unwillig Über ben grämlichen Alten, stieß ihn nieber. — Sicilien warb bie erste römische Provinz.
Ndchbem sich bie Römer burch bie Unterwerfung ber Syrakusaner zu Herren von ganz Sicilien gemacht, gelang es ihnen, auch Spanien ben Karthagern zu entreißen. Hier hatten schon im Ansang bes Kriegs P. Comel. Scipio unb sein Bruder Gnäus glänzende Siege über Hanni-bals Brüder Hasdrubel und Mago erfochten. Als sie aber ihre Macht teilten, erlagen sie einzeln den Karthagern, so daß Spanien verloren schien. Allein bald erschien wieder ein Scipio, der Sohn des ersteren jener Brüder, auf spanischem Boden, erwarb sich ungeachtet seiner Jugeud durch sein edles Wesen das Zutrauen des Heeres, schlug die Karthager in mehreren Schlachten und brachte im Jahre 205 durch bie Eroberung von Gabes ganz Spanien in bie Gewalt ber Römer.
Nach Rom zurückgekehrt unb abermals zum Konsul erwählt, faßte er ben Entschluß, ben Krieg aus eine eben so kühne Art zu beenben, wie ihn Hannibal begonnen, nämlich burch einen Angriff auf Afrika. Mit einer bebeutenben Streitmacht lanbete er in Utica unb brachte bie Karthager burch Siege unb Eroberungen so ins Gebränge, baß sie ben Hannibal aus Italien zurückriefen. Mit Schmerz gab bieser Italien auf, welches sechzehn Jahre lang ber Schauplatz seiner Thaten gewesen war.
Schlacht bei 3ama (202 v. Chr.).
In Afrika angekommen führte er sein Heer nach Zama unb traf bafelbst auf bie Römer. Hannibal wußte, baß von ber nächsten Schlacht bas Schicksal seiner Vaterstabt abhänge; er suchte baher durch eine münb-liche Unterredung ben Frieben ohne Schlacht herbeizuführen. Scipio bewilligte bie Zusammenkunft. Auf einer Anhöhe in ber Mitte zwischen
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beibett Lagern saniert öie Felbherren zusammen, bie größten Männer i^er Zeit, bie Stellvertreter zweier Republiken, welche bie mächtigsten waren im ganzen Altertume. Schweigenb bliesten sie sich an, von gegenseitiger Bewunberung ergriffen; bann nahm Hannibal bas Wort unb riet unter ber Bebingung, baß ben Römern Spanien unb bie Inseln Zwischen Italien unb Afrika abgetreten werben sollten, zum ^rieben, indem er ben jungen Felbherrn, bem bisher bas Glück nur günstig gewesen war, auf ben Wechsel besselben aufmerksam machte, ben er auf eine so aufsallenbe Weise erfahren habe. Aber Seipio verwies ihn auf bte Ungerechtigkeit, mit welcher Karthago zweimal bett Krieg gegen Rom angefangen habe, unb wie nur fortgesetzter Kamps bas Schicksal beiber Republiken entscheiben körnte, ba Karthago ben Frieben unter ben von Rom angegebenen Bebingnngen selbst verschmähe. So zerschlugen sich bie Unterhanblungen, unb beibe Felbherren schieben von einanber, um sich zur Schlacht zu rüsten.
Am folgenben Tage rückten beibe Heere einander entgegen, um ben alles entfcheibenben Kamps zu kämpfen. Scipio orbnete seine Legionen so, baß er Zwischenräume ließ, bamit bie Elefanten, bereit sich achtzig beim feinblichen Heere besanben, keine Verheerungen anrichten könnten; Lälius staub mit ber italischen Reiterei auf bem linken Flügel, Massi-ttissa unb ein anberer afrikanischer Fürst mit ben Rumibiern auf bem rechten; bie gesamten Streitkräfte ber Römer mochten sich auf 40,000 Mann belaufen. Hannibal stellte bie Elefanten vor bie Front; bie erste Schlachtreihe bitbeten bie Ligurer unb Gallier, untermischt mit Balearen unb Maurusiern, im ganzen 12,000 Mann; bie zweite bestaub aus Karthagern unb Libyern, bertett 4000 Makebottier beigesellt würben; im Hintertreffen besanben sich bie italischen Truppen, welche mehr gezwungen als freiwillig mit nach Afrika geschifft waren. Auf bem linken Flügel staub bie numibische, auf betn rechten bie karthagische Reiterei; bas ganze Heer bestaub aus etwa 50,000 Mann, ein wunberbares Gemisch ganz verschiebenartiger Völker. Nachbetn bie Felbherren bie Ihrigen zum Kampfe ermutigt hatten, Scipio bttrch Hinweisung auf bas itahenbe Cntbe bes Kriegs unb auf bie reiche karthagische Beute, Hannibal, ittbent er bie mannigfach gemischten Truppen seines Heeres auf bie für alle so einflußreichen Folgen aufmerksam machte, welche bie Eittscheibuug bieses Kampfes herbeiführen würbe, begann bie Schlacht. Die Elefanten, burch ben furchtbaren Schlachtruf scheu gemacht unb von ben römischen Veliten verfolgt, brachten balb bie beiben Flügel bes karthagischen Heeres, auf welche sie sich warfen, in Uttorbnung, so baß es bem Lälius unb Massi-
Hamübal. Scipio.
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nissa nicht schwer wurde, auf diesen Punkten schon im voraus den Sieg zu entscheiden. Hierauf wurden die Gallier uud Ligurer, obwohs sie sich anfangs tapfer hielten, von den römischen Hastaten teils zu Boden gestreckt, teils auf die Karthager uud Libyer zurückgeworfen, welche nun, von allen Seiten angegriffen, nach mutiger Gegenwehr größtenteils den Tod auf dem Schlachtfelde fanden. Hauuibal, der nach Scipios eigenem Geständnisse auch in dieser Schlacht sein Feldherrntalent bewiesen hatte,
entkam mit wenigen Reitern und begab sich mit einem kleinen Heere
von etwa 6000 Mann, welches er wieder gesammelt hatte, nach Karthago, um hier öffentlich vor dem Senate zu bekennen, daß er nicht bloß die Schlacht, sondern den Krieg gegen Rom verloren habe und daß nur im Frieden noch Rettung zu fucheu sei. Über 20,000 Karthager und Bundesgenossen waren in der Schlacht gefallen, beinahe ebenso viele nebst 133 Feldzeichen und 11 Elefauteu gefangen genommen worden, während die Römer kaum 2000 Mann verloren hatten.
Als Seipio darauf mit einer Flotte von 150 Schiffen Karthago zu Wasser und zu Land angriff, kam ein Schiff mit den Zeichen des Friedens aus Karthago, und die zehn angesehensten Bürger der Stadt, Hanno an ihrer Spitze, von Hannibal selbst gesandt, flehten den Sieger um Schonung an. Scipio, die Schwierigkeit einer Belagerung Karthagos erwägend, gewährte ihnen ihre Bitte unter harten Bedingungen. In Rom, wo man nach Hannibals Abfahrt von Italien in neuer Besorgnis geschwebt hatte, verbreitete die Nachricht von der Beendigung des Krieges eine so große und allgemeine Freude, daß alle Tempel zu einem dreitägigen Dankfeste geöffnet wurden. Es wurde alles gut geheißen, was Scipio festgesetzt hatte, und ihm auch die Vollziehung über-
lassen. Viertausend Gefangene wurden ausgeliefert, hundert Geiseln von Scipio ausgewählt, die Elefanten teils nach Rom eingeschifft, teils dem Massinissa geschenkt; ferner 500 Schiffe aller Art, wahrscheinlich größtenteils kleinere Fahrzeuge, in die hohe See geführt und dort auf Scipios Befehl verbrannt. Das war ein so trauriger Anblick für die Besiegten, als hätte ihre eigene Vaterstadt in Flammen gestanden. Lautes Wehklagen aber erhob sich im Senate besonders bei der Beratung über die Herbeischaffung des Tributes von 10,000 Talenten, welche in einem Zeitraume von fünfzig Jahren den Römern bezahlt werden sollten. Scipio kehrte endlich nach Rom zurück. Überall, wohin er nur kam, wurde er mit lautem Jubel empfangen. Ein glänzenderer Triumphzug als der seinige, bei welchem 123,000 Pfund Silber in die öffentliche Schatzkammer gebracht wurden, war noch nie in Rom gesehen worden,
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und wie Scipio den Grund legte zur Weltherrschaft der Römer, so erhielt er auch zuerst von dem besiegten Lande einen ehrenden Beinamen, den Namen Asrieanns.
Der besiegte Hannibal ward ehrenvoll in Karthago aufgenommen, blieb einige Jahre daselbst und suchte durch nützliche Einrichtungen und durch Bündnisse mit den Feinden der Römer seine Vaterstadt von dem tiefen Falle zu erheben. Da verlangte Rom feine Auslieferung, und Hannibal floh (195) nach Ephesus zu dem Könige von Syrien, Antiochns,
der mit den Römern Krieg führte. Der klnge Feldherr wurde dessen
Ratgeber, aber der kurzsichtige König folgte lieber seiner eigenen Einsicht. Er wurde vou den Römern (190) bei Magnesia geschlagen und sollte Hannibal ausliefern. Da floh der ergraute Held zu Prusias, dem König vou Bithyuieu. Auch dahin folgte ihm Nachstellung und Verrat; es erschienen römische Gesandte, die seine Auslieferung verlangten. Man umstellte das Haus des Hauuibal mit Wachen und versperrte ihm alle Ausgänge. Der Verfolgte sah feine Rettung; da nahm er, um seinen Todfeinden nicht lebendig in die Hände zu fallen, Gift, das er in seinem ausgehöhlten Siegelringe bei sich führte, mit den Worten: „So will ich die Römer von ihrer beständigen Besorgnis befreien, da sie den Tod eines alten Mannes nicht erwarten können!" Also schloß Hannibal, 64 Jahre alt, sein sturmbewegtes Leben, im Jahre 183 v. Chr.
Um dieselbe Zeit endete anch sein großer Gegner, Scipio Asrieanns.
Zwei Tribunen hatten ihn im Jahre 187 angeklagt, daß er öffentliche
Gelder unterschlagen und ein fürstliches und herrisches Benehmen in den römischen Provinzen gezeigt habe. Aber Scipio beschämte und verwirrte seine Gegner durch eine unerwartete Wendung. Als der erste Tag mit Verteidigungsreden hingegangen war, erschien er am folgenden mit einem Siegerkranze geschmückt und sprach: „An diesem Tage, ihr
Tribunen und Quiriten, habe ich über Hannibal in Afrika einen herrlichen Sieg erfochten; heute sei kein Streit! Ich eile nach dem Kapi-tolinrn, um den Göttern zu danken, daß sie mir Geist und Kraft gegeben haben au diesem Tage sowohl als auch soust mein Amt würdig zu verwalten. Wem unter euch dies gefällt, ihr Quinten, der folge mir und bitte die Götter, daß sie euch Männer zu Führern geben, die mir gleichen". Und so ging er, von allem Volke begleitet, ans das Kapitol und in alle Tempel der Stadt und ließ die Tribunen allein und verlassen zurück. Darauf zog er nach seinem Landgute; hier starb er in demselben Jahre wie sein großer Gegner Hannibal (183) im 52. Jahre seines Lebens.
Hannibal. Scipio.
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Ein halbes Jahrhundert war seit dem Ende des zweiten panischen Krieges verflossen. In einer langen Friedenszeit hatten sich die Karthager wieder erholt und gekräftigt. Aber mit Eifersucht sah Rom das Wiederemporblühen der verhaßten Stadt und vor allen drang der ernste und strenge Cato bei jeder Gelegenheit im Senat auf die Vernichtung Karthagos („ceterum censeo, Carthaginem esse delendam“). Endlich gab der Senat seinem Drängen nach.
Schon längst hatte der den Römern befreundete König der Numidier, namens Massinissa, die Karthager wiederholt beleidigt und ihnen Land weggenommen, und immer waren diese in Rom mit ihren Klagen abgewiesen. Endlich verteidigten sie sich ohne Erlaubnis der Römer. Das erklärten diese für Friedensbruch und schickten ein 80,000 Mann starkes Heer nach Afrika. Um den Krieg abzuwenden, stellten die Karthager Geiseln uud lieferten den römischen Konsuln, nachdem sie in Afrika gelandet waren, auch sogar ihre Kriegsschiffe aus, die sofort vor ihren Augen verbrannt wurden. Darauf verlangten die Konsuln, daß sie alle Waffen und Kriegsgeräte an die Römer herausgeben sollten. Auch dazu verstanden sich die Bedrängten und 200,000 Kriegsrüstungeu, 2000 Wurfmaschinen und eine zahllose Menge von Wurfspießen und Pfeilen wurden in das römische Lager abgeführt. Nachdem die Karthager fo entwaffnet waren, lautete der dritte und letzte Befehl, daß sie ihre Stadt zerstören und sich drei Meilen von der Küste anbanen sollten.
Da aber ergriff das betrogene und entwaffnete Volk Witt und Verzweiflung. Alle verfluchten und verwünschten den römischen Namen; alle schwuren, mit der Vaterstadt unterzugehen. Sofort begannen die Anstalten zur Gegenwehr. Die Thore wurden verrammelt, der Hafen mit einer langen Kette gesperrt, die Giebel der Häuser abgedeckt, um das Gebälk zum Schiffsbau zu beuutzeu. Ganz Karthago glich einer großen Werkstätte, in allen Straßen wurde gehämmert, gehobelt, geschmolzen; alle Tage wurden Hunderte von Lanzen, Pfeilen, Schilden und Schwertern fertig. Freiwillig brachte man alles herbei, was zur Verteidigung dienen konnte, selbst die Frauen gaben ihr goldenes und silbernes Geschmeide Hin, um cs zu Pfeilspitzen eiuschmelzen zu lassen; sie schnitten ihr langes Haar ab, um Taue und Bogensehnen aus demselben zu flechten. Der Feldherr Hasdrnbal übernahm die Verteidigung der Stadt, und mit Löwenmut schlugen die Verzweifelten zwei Jahre alle Angriffe der Römer zurück.
Da endlich empfing der junge Scipio Ämilianns den Oberbefehl über das Römerheer. Er fchloß die Stadt ringsum ein. Den Hasen
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Julius Cäsar und seine Zeit.
sperrte er durch einen langen Damm, den er in das Meer hineinführte, und schnitt durch ein verschanztes Lager alle Verbindung mit dem übrigen Lande ab. Bald trat dadurch Mangel an Lebensmitteln in Karthago ein, und nun erst, im Frühjahre des Jahres 146, wagte Scipio den Sturm ans die ausgehungerte Stadt. Da endlich erlagen die Karthager nach heldenmütiger Gegenwehr dem Andrange der Feinde. Ein furchtbares Morden wütete an dem Hafen, in den Straßen, in den Häusern sechs Tage lang, mitten zwischen den Flammen und Trümmern der brennenden Stadt. Siebenzehn Tage lang dauerte die gräßliche Feuersbrunst, welche die einst so mächtige und reiche Stadt, die länger als ein halbes Jahrtausend das Meer beherrschte, in einen Schutthaufen verwandelte. Was des Römers Schwert verschonte, gab sich selbst den Tod; taufende stürzten sich in die Flammen, um den Untergang der Vaterstadt nicht zu überleben. Scipio sah dem furchtbaren Schauspiel von einem nahen Hügel zu, und unwillkürlich füllten sich feine Augen mit Thränen, denn er gedachte des Wechsels menschlicher Dinge uud der Vergänglichkeit irdischer Macht und Größe. Er gedachte der gewaltigen Reiche, die in Trümmer gesunken waren, und mit banger Besorgnis erfüllt durch den Gedanken an die Zukunft seines eigenen Vaterlandes rief er die Worte aus, mit welchen Homer dem Heftor den Fall Trojas ahnend vorhersagen läßt:
Einst wird kommen der Tag, wo die heilige Jlios hinsinkt,
Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs.
Karthago, die Handelskönigin der Welt, war vernichtet; ihr Gebiet aber wurde römische Provinz unter dem Namen Afrika. Der siegreiche Eroberer empfing den Ehrennamen Scipio Africauns der Jüngere.
Zuliils Cäsar und seine Leit.
(Von Haupt.)
Fünfzig Jahre waren feit diesen Ereignissen vergangen, da waren die Römer das mächtigste Volk der Welt. Auch im Osten hatten sie sich die Herrschaft errungen, Makedonien und Griechenland war römisch, Syrien und die Reiche Kleinasiens, Ägypten standen unter römischem Einfluß. Nicht nur das ganze südliche Europa, auch der Norden Afrikas und der größte Teil Vorder-Asiens war ihnen unterworfen. Roms Herrschaft hatte sich nach Osten und Westen zu einem Weltreich ausgedehnt uud umfaßte eine Menge von Provinzen, deren Reichtümer und Laster nach der Hauptstadt strömten und die alte Einfachheit der Sitten, Frömmigkeit und Rechtschaffenheit immer mehr verdrängten. Rom, das
Julius Cäsar und feine Zeit.
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einst durch bie sittliche Größe feiner Bürger so hohen Rn hm erlangt hatte, war im letzten Jahrhundert vor Christo lange nicht mehr bie Wohnstätte ber alten Tugenben. Durch bie bis in bas ferne Asien unb Afrika sich erstrecfenben Eroberungen waren ungeheure Schätze nach Rom geroanbert: bie alten, einfachen Sitten fchnmnben, unb grenzenlose Üppigkeit in Kleidung, Wohnung unb Lebensweise nahm überhand. „Wehe", rief einst ber strenge Cato, „wehe ber Stabt, in welcher ein Fisch mehr kostet als ein Ochse!" Unb biefer Zeitpunkt war für Rom längst gekommen. Die entlegensten Länber und Meere mußten ihre Erzeugnisse auf den Tisch der großen Herren liefern, nicht weil sie besser unb schmackhafter gewesen wären, fonbern weil sie mehr kosteten. Ein Römer that es bamals allen zuvor au üppiger Schwelgerei, es war ber berühmte Lncullus. Einst begegneten ihm Cicero unb Pompejus, zwei ber angesehensten Männer jener Zeit, unb luben sich bei ihm zu Gaste; um aber jebem unnötigen Aufioanb zuvorzukommen, gestatteten sie es burch-aus nicht, baß er feinen Sklaven befonbere Aufträge gebe; auch bestauben sie baranf, noch am gleichen Nachmittage bas Mahl bei ihm einzunehmen. Nur bas vermochte Lucullus von ihnen zu gewinnen, baß er feinen Sklaven sagen bürste, baß sie im Apollo — so hatte er einen Speifefaal genannt — speisen wollten. Wie groß aber war bas Erstaunen kiber Römer, als sie beffenungeachtet sich mit einem Male bewirtet sahen, bas 50,000 Drachmen, b. H. etwa 10,000 Thaler gekostet hatte! Lucullus hatte einem jeden feiner Speisezimmer einen besonderen Namen gegeben und für jedes einen bestimmten Aufwand festgesetzt.
Aber auch das ärmere Volk wollte nur prassen und nicht mehr arbeiten. Im Anfange, wenn sie ans dem Kriege zurückkehrten, konnten sie das aus ihrer eigenen Tasche — schenkte doch einst Cäsar nach einem glücklichen Feldzuge einem jeden feiner Soldaten 1000 Thaler — war das Geld jedoch durchgebracht, so suchte man sich anders zu helfen; waren sie nicht römische Bürger? und war nicht Rom die Herrscherin des Weltalls? wozu hätte man so viele reiche Städte und Länder besiegt, wenn nicht diese ihre Herren in den Stand fetzen mußten, stets in Herrlichkeit und Freuben zu leben? Dies fing man aber nun so an: Die römischen Bürger hatten in ihren Volksversammlungen bas Recht, alle öffentlichen Ämter zu vergeben, Richter, Statthalter ber Provinzen, Konsuln, Schatzmeister rc. zu ernennen. Das sicherste Mittel, zu einem berartigen Amte zu gelangen, waren nun nicht Kenntnisse, Talent, Reblichkeit, fonbern Gelb. Der Bewerber ging auf bent Markte umher, schmeichelte jebem, auch bem niebrigsten Bürger mit freunblichen Ge-
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Julius Cäsar und seine Zeit.
bürden und schönen Worten, und ein Sklave griff in den Beutel und gab Geld, bis der Empfänger zufrieden war und dem Geber seine Stimme in der Volksversammlung versprach. Wollte aber einer recht sicher gehen, so gab er dem Volke noch Spiele und Gastmähler. So ließ Cäsar einst alle römischen Bürger in 22,000 Sälen auf das köstlichste speisen. Die Spiele bestanden gewöhnlich in Tiergefechten; in einem ungeheuren Gebäude, Amphitheater genannt, wo das Volk rings anf erhöhten Sitzen, oft zn 80,000, zuschaute, kämpften nämlich reißende Tiere, ans Afrikas glühenden Sandwüsten geholt, miteinander, oder noch lieber mit Menschen, die besonders hierzu gehalten und Gladiatoren genannt wurden; so eiust 1200 Menschen gegen 40 Elefanten; eben so häufig fochten auch diese Gladiatoren mit den verschiedensten Waffengattungen gegen einander; und wie jubelte das Volk, wenn hier ein Löwe einen Gladiator zerriß, dort ein Fechter den andern mit einem Netze umschlang und erdolchte! Solche Schauspiele mußten ebenso zum Verderben der Sitten beitragen, wie die Bestechungen und Spenden. Doch, was fragten danach die selbstsüchtigen Menschen, welche Ämter suchten! Auch die Millionen Geldes, die sie zu solchen Bestechungen verschwenden mußten, brauchten sie nicht zn reuen; kamen sie in ihre Provinz, dann preßten sie den armen Einwohnern in einem Jahre so viel ab, daß der Schaden wieder ersetzt und noch Unermeßliches dazu gewonnen war. „O du feile Stadt, die du längst dich selbst verkauft haben würdest, wenn dn nur einen Käufer finden könntest!" hatte schon 50 Jahre früher der numidische König Jngnrtha voll der tiefsten Verachtung ausgerufen, als er aus Rom ritt und nach der Stadt zurückschaute, in der er, großer Verbrechen angeklagt und überwiesen, doch durch sein Geld sich völlige Straflosigkeit erkauft hatte.
Das war aus der Stadt geworden, die vor etwa 200 Jahren einem bewundernden Fremdling — dem Abgesandten des Pyrrhns, Kineas — ein großer Tempel, uud bereit Ratsversammlnng ihm eine Versammlung von Göttern geschienen. Rom führte noch ben Namen eines Freistaats; aber wie mag für frei gelten, wer ein Sklave aller Laster ist? wie mag ber anbere beherrschen, wer sich selbst nicht mehr zu bezähmen vermag? Zwar gab es noch einzelne würbige Römer, bie über beit Verfall des Vaterlanbes trauerten, unb bie feinen Untergang herannahen sahen, so gewiß, als jebes in Weichlichkeit, Sittenlofigfeit unb Laster versunkene Volk zum Verberben reif ist. Manche hielten es noch für möglich, biefem Znstanb ein Enbe zu setzen, wenn bem rohen Haufen feine Macht entrissen würbe, unb ein Mann mit Geist unb Krast sich au bie Spitze
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stellte, um die unbändigen Leidenschaften der Menge zu zügeln, Recht, Ordnung und Gesetz wieder zur Herrschaft zu erheben. Diese hielten sich mit vielen andern, denen es nur auf die Wiederherstellung der Optimatenherrschaft ankam, au den Pompejns, einen stattlichen, begabten, aber ruhmredigen Manu. Sein Nebenbuhler war Julius Cäsar, der sich au die Spitze der Volkspartei stellte, uud er hätte in der That es vermocht, durch die ausgezeichneten Gaben seines Geistes das Verderben Roms noch anzuhalten, hätte er nur der eigenen Herrschgier besser gebieten können.
Julius Cäsar besaß eine treffliche Mutter, welche ihm durch würdige Lehrer eine gute Erziehung geben ließ. Besonders verdankte er ihr die Frenndlichkeit im Umgang, durch die er sich hernach so beliebt zu machen wußte, und die sanfte, einnehmende Beredsamkeit, die ihn den ersten Rednern Roms au die Seite stellte. Seinen von Natur nicht starken Körper wußte er durch Mäßigkeit im Essen und Trinken und durch tägliche Übungen im Laufen, Reiten und Schwimmen so abzuhärten, daß er jede Beschwerde mit Leichtigkeit ertrug.
Rom verstand die Künste des Kriegs, aber nicht die des Friedens. Nach Griechenland und Kleinasien wandten sich deshalb die jungen Römer, wie unsere Jünglinge nach den Universitäten, um dort ihren Geist zu bilden. Auch Cäsar zog dahin. Unterwegs nahmen Seeräuber das Schiff, auf welchem er fuhr; unb da sie ihn für einen vornehmen Mann hielten, forberten sie 20 Talente (über 90,000 Mark) Löfegelb. „Was?" rief Cäsar, „für einen solchen Mann, wie ich bin, verlangt ihr nicht mehr? Fünfzig sollt ihr haben!" Unb sogleich schickte er seine Begleiter aus, bas Gelb zusammenzubringen. Er blieb inbes sechs Wochen in Gefangenschaft unb wußte sich bei bett Räubern so in Achtung zu setzen, baß er nicht ihr Gefangener, fonbern ihr Herr zu sein schien. Wenn er schlafen wollte, gebot er ihnen still zu sein. Zuweilen las er ihnen Gebichte vor, bie er gemacht, unb lobten sie bieselben nicht, so rief er: „Dafür sollt ihr mir büßen; komme ich los, so lasse ich euch alle zusammen ans Kreuz schlagen". Enblich brachten seine Leute bie 50 Talente Lösegelb. Kaum aber war er frei, so wußte er sich einige starkbemannte Schiffe zn verschaffen, holte bie Seeräuber ein, eroberte ihr Schiff, ließ sich fein Losegelb wieber geben unb führte bie Räuber nach ber Küste Kleinasiens, wo er sie zur Bestrafung auslieferte.
Einst trat er in Gabes (Cabix in Spanien) in einen Tempel, ber mit ben Bilbsäuleu berühmter Helbeu geschmückt war. Unter biesen bot sich seinem Blick zuerst Alexanbers Statue bar; Thränen stürzten ihm
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aus den Augen. „In meinem Alter", sagte er zu seinen Begleitern, „hatte er schon die halbe Welt erobert, und ich — ich habe noch nichts gethan."
Als er wieder nach Rom zurückkam, bewarb er sich auf das ernsteste um die Gnnst des Volkes. Mit unbegrenzter Freigebigkeit verschenkte er ungeheure Summen an dasselbe. 320 Paar Gladiatoren ließ er zum Vergnügen der Römer auftreten, alle in silbernen Rüstungen. Seine Bemühungen waren von Erfolg. Als er in seine Provinz abgehen sollte, sagte er: „Wenn ich 10,000 Talente (= 45 Millionen Mark) wiedergewonnen habe, dann erst kann ich sagen, daß ich nichts habe". Solche Schulden hatte er gemacht. Als er auf dem Wege nach Gallien durch ein kleines Alpenstädtchen kam, bemerkte einer seiner Begleiter, u)b denn auch wohl in diesem Städtchen Neid und Rangstreit herrsche? „Gewiß", antwortete Cäsar, „ich wenigstens möchte lieber in diesem Flecken der erste als in Rom der zweite sein." Und in der That liegt in diesen Worten der Wahlspruch seines ganzen Lebens.
In Rom hatte damals Pompejus gewaltigen Einfluß; da er aber dessenungeachtet nicht zu hindern vermochte, daß Cäsar durch die Gunst des Volkes emporgehoben wurde, suchte er sich mit ihm zn vereinbaren. In den Biutd, den beide Männer schlossen, wurde ein dritter, der durch feinen außerordentlichen Reichtum berühmte und einflußreiche Crassns, ausgenommen, und die Trinmvirn (Dreimänner), wie sie genannt wurden, entschieden jetzt über die Staatsangelegenheiten, ohne sich um Senat und Volk viel zu kümmern, und teilten gewissermaßen unter sich das Reich.
Casar hatte sich Gallien, das jetzige Frankreich, gewählt, und verfolgte unausgesetzt seine ehrgeizigen Pläne. Beständig führte er Krieg, teils gegen noch nnbezwnngene gallische Völkerschaften, teils gegen Britannien, teils gegen Deutschland. Er wurde der Abgott feines Heeres. Pompejns, dem Spanien zugefallen war, blieb in Italien in sicherer Ruhe, der Senat war ihm ganz ergeben. Dieser Zustand dauerte gegen 10 Jahre. Crassus war indessen in einem Kriege gegen die Parther, ein Volk Hochasiens, gefallen. Pompejns ließ sich von dem Senat seine Statthalterschaft in Spanien verlängern, wobei er jedoch immer in Rom blieb. Cäfar verlangte jetzt das Gleiche für sich; und da ihm dies durch den Einfluß des Pompejus abgeschlagen, ja da er, wenn er nicht augenblicklich abdanke und nach Rom komme, für einen Feind des Vaterlandes erklärt und den Konsuln der Auftrag gegeben wurde, mit den Waffen gegen ihn einzuschreiten: so war sein Entschluß gefaßt. Seine Soldaten hingen mit freudiger Begeisterung an ihm, und rasch überschritt
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er den Rubikon, den Grenzfluß seiner Statthalterschaft — der Bürgerkrieg war erklärt.
Pompejus war daranf nicht vorbereitet gewesen; in stolzer Sicherheit hatte er sich vermessen, „er brauche nur mit dem Fuße auf den Boden zu stampfen, um ganz Italien für sich zu bewaffnen". Jetzt ergriff er mit seinen Anhängern schleunig die Flucht. Er wandte sich nach Griechenland. Bei Pharsalns kam es endlich znr Schlacht; Cäsars Kerntruppen erfochten einen glänzenden Sieg, und Pompejus, der alle Besinnung verloren hatte, eilte nicht zn feiner Flotte, auch nicht zu dem unter Catos Befehl in Afrika stehenden und ihm ganz ergebenen Landheer; er floh auf einem Schiff, nur vou wenigen geleitet, nach Ägypten, wo er treulos ermordet wurde. Als Cäsar in Ägypten landete, überbrachten ihm die Mörder fein Haupt in der Hoffnuug, eine große Belohnung zu erhalten. Er aber wandte feiu Angesicht ab und weinte Thränen der Menschlichkeit. M. Portius Cato (der jüngere), ein durch Sittenstrenge und Bildung ausgezeichneter Anhänger der alten Staatsform, glaubte mit des Pompejns Tod uud Cäfars Sieg den Untergang der Freiheit Roms entschieden, und in erhabener Schwärmerei beschloß er, diesen Tag nicht zu überleben und entleibte sich selbst in der Stadt Utika, selbst von Cäsar beweint.
Doch war hiermit Cäsars Sieg noch nicht entschieden. In Spanien standen noch zwei junge Söhne des Pompejns an der Spitze tapferer Heere, und es galt noch einen heißen Kampf. Einst flohen fchon alle seine Soldaten. Da stemmte er sich den Fliehenden entgegen, jagte sie zurück in die Schlacht, und einen Fahnenträger, der im vollen Laufen war, drehte er mit den Worten um: „Dort sind die Feinde!" Der Sieg wurde errungen. Ein andermal nach verzweiflungsvollem Kampfe singen auch seine tapfersten Soldaten zu weichen an. Cäsar sprang vom Pferde, lief durch die Reihen und rief: „Schämt ihr euch nicht, den Cäsar, eitern Feldherrn, zweien Knaben in die Hände zu liefern?" Da auch das nicht mehr half, stürzte er mit Schwert und Schild auf die feindlichen Haufen los uud rief: „So fei denn dieser Tag der letzte meines Lebens!" Das wirkte; die Soldaten fochten wieder mit beispielloser Todesverachtung, bis der blutige Sieg gewonnen war. Und Cäsar gestand, in dieser Schlacht habe er zum erstenmal für fein Leben gekämpft.
Nach Rom zurückgekehrt, feierte der Sieger einen vierfachen Triumph über Gallien, Ägypten, Pontus und Afrika; mit den Namen der fremden Könige und Länder verschleierte man den Sieg von Bürgern über Burger. Daß es ein glänzendes Schauspiel war, versteht sich nach
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solchen Siegen von selbst. Statuen des Rheins, der Rhone, des gefesselten Oceans waren hier zu sehen; neben diesen goldenen und silbernen Bildwerken, den Kränzen, Geräten, die bei keinem Trinmphe zu fehlen pflegten, zogen auch hohe Gefaugeue au dem gaffenden Volke vorüber: der ritterliche Avernerkönig Vercingetorix, welcher den Tag nach der Feier getötet wurde, und die Schwester.der ägyptischen Kleopatra, Arsinoe.
Die Geschichte verweilt mit dem höchsten Interesse an dem Triumphator selbst. Er hatte als Parteiführer feine Laufbahn begonnen, hatte in Prozessen gesprochen wie viele, wenn gleich mit einer Beredsamkeit, welche frühzeitig Aufmerksamkeit erregte; und mit der klügsten und folgerichtigsten Politik hatte er Crassus und Pompejns benutzt, um zunächst neben dem letzteren sich eine Stellung zu gewinnen. So war er im Jahre neunundfünfzig, in seinem eiuuudvierzigsteu Lebensjahre, zum Konsulat gelangt und dann nach Gallien gegangen; in acht Jahren hatte er dieses Land bis an den Niederrhein bezwungen, beruhigt, hatte in die nördlichen Länder Europas den Keim zur Verbreitung römischer Bildung gelegt, und war zweimal über den Rhein uud über deu Kanal gezogen; den Ruhm der römischen Waffen hatte er nach den fernsten Ländern getragen; aber diese Erfolge gegen Germanen und Britannen verschwanden in den Augen des Volks vor seinen neuesten Siegen. Im Jahre nennnndvierzig war er, dieser wunderbare Mann mit dem kahlen Haupte, mit deu scharfen Zügen, den schwarzen, glänzenden Augen, über den Rubikon gegangen und hatte nun in drei Jahren in Italien, Spanien, Griechenland, Ägypten, Armenien, Afrika gekämpft und jedesmal durch seinen Sieg die feindliche Armee aufgelöst. Jetzt feierte er seine Triumphe; man erkannte ihre Bedeutung und man wnßte wohl, daß Cäsar die Macht, die ihm diese Siege verschafft hatten, ganz anders ausbeuten werde, als Pompejus oder Marius oder Sulla oder irgend ein anderer der Feldherren, welche vor ihm in diese Stadt triumphierend eiugezogeu waren.
Für den Augenblick konnte die gedankenlose Menge die große Veränderung, die nun eine vollendete Thatsache geworden war, noch einige Zeit über den lustigen Tagen vergessen, welche der freigebige Monarch ihr bereitete. An zweinndzwanzigtanfend Tischen war am vierten Tage dieser Festlichkeiten die gesamte Bürgerschaft bei Cäsar zu Gaste. Am folgenden Tage wurden zehn Scheffel Getreide und ebeu so viele Pfunde Öl an jeden Bürger verteilt und für arme Mieter der Mietzins eines Jahres aus Cäsars Kassen bezahlt. Glänzender noch wurde das Heer belohnt, dessen unvergleichliche Trefflichkeit ihn so hoch emporgehoben
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hatte. Jeder Soldat erhielt fünftausend Denare, die Centurionen das Doppelte, die Obersten und Reiteranführer das Vierfache; zugleich wurden den Veteranen Ländereien zugewiesen. Athletenspiele, Gladiatorengefechte, Tierkämpfe folgten sich; kanm faßte das weite Rom die Menge der Besuchenden, man mußte auf deu Straßen Zelte aufspannen, um sie unterzubringen. Nicht weniger als vierhundert Löwen und wilde Stiere, auch eine Giraffe, deren seltsame Gestalt man bei dieser Gelegenheit zum ersten Male in Rom sah, traten bei diesen Jagden (venationes) im Cirkus auf; mehr noch befriedigten die Menge die Seegefechte in dem großen Bassin, das man zu diesem Zwecke gegraben hatte, und die große Schlachtdarstellung, zu welcher auf beiden Seiten fünfhundert Manu zu Fuß, dreihundert Reiter, zwanzig Elefanten verwendet wurden.
Ohne Sorge mehr vor einem äußeren oder inneren Feind dachte er nur noch darauf, seinen Sieg dauernd zu machen und durch Weisheit und Milde zu behaupten, was er durch das Glück der Waffen gewonnen hatte. Die Machtfülle, welche ihm die immerwährende Diktatur, die Jmperatorwürde, die freie Verfügung über den öffentlichen Schatz gewährten, konnte wohl alle Wünsche der Herrschsucht befriedigen; dennoch trachtete der immer höher strebende Sinn, die höchste Gewalt, die er der That nach besaß, noch dnrch den Schmuck der Königskrone zu verherrlichen und zu befestigen.
Noch aber war eine Partei, an deren Spitze die ehrenwertesten Männer standen, welche die Wiederherstellung der früheren Verfassung der Republik für möglich und dem Staate heilsam hielten. Fanden sich diese Männer schon in ihrer stillen Hoffnung, Cäsar werde nach Beendigung der Kriege die übertragene Gewalt von selbst niederlegen, getäuscht, so wurden sie durch das wenig verhüllte Streben nach dem Ziel seiner Wünsche nur besorgter uud durch den Stolz seines Betragens gereizt. Als ihm ber gesamte Senat, die Konsuln an der Spitze, die Beschlüsse überreichte, welche die glänzendsten Ehrenbezeugungen ihm zuerkannten , empfing er sie auf seinem goldenen Ehrenstuhl sitzend, ohne aufzustehen. Als ihm der Konsul Antonius bei einer Festfeier auf öffentlichem Markte ein Diadem aussetzen wollte, nahm er es zwar nicht an, aber jedermann sah, daß er dabei nur der Stimme des Volkes nachgab, das seinen Unwillen laut zu erkennen gegeben hatte.
Wie nun durch solches Benehmen der Unwille und die Erbitterung immer allgemeiner wurde, entspann sich unter den angesehensten Männern eine Verschwörung, um durch Ermordung des Alleinherrschers die freie Verfassung wiederherzustellen. Noch fehlte ein Anführer. Nur einer
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schien dies sein zn können: Brutus, ein Nachkomme jenes, der einst die Könige vertrieben hatte; ein tapferer Feldherr und rechtschaffener Mann, vou dem Volke hochgeachtet, aber auch — ein Freund, ja sogar Pslege-sohn des Cäsar. Ja, von diesem wurde er so geschätzt, daß es nur von Brutus abhing, Cäsars große Gewalt zn teilen. Wie konnten für ihren Plan die Verschworenen einen solchen Mann gewinnen? Sie kannten des Brutus tugendhafte Liebe zum Freistaat, seinen Haß aller Tyrannei, seinen Schmerz über Cäsars Gewaltthätigkeit. Und hieraus bauten sie ihren Plan. Oft fand Brutus Zettel auf seinem Richterstuhl: „Du bist nicht Brutus!" „Brutus, schläfjt du?" — Unb an der Statue feines Ahnherrn, des alten Brutus, der den Tarquinins anstrieb, stand mehrere-mal: „O, daß dn jetzt lebtest!" Brutus kämpfte einen schweren Kampf. Auf der einen Seite zog ihn das Gefühl der Freundschaft und Dankbarkeit zu Cäsar; auf der andern Seite standen Vaterland, Freiheit und republikanische Tugendgröße. Endlich entschied er sich für die letztere und trat nun mit Cassius au die Spitze der Verschwörung. Cäsar ging damit um, sich die Königskroue aufs Haupt zu fetzen. Man beschloß dem zuvor zu kommen; der 15. Mürz sollte fein Todestag fein. — Cäsar wurde gewarnt uud hatte schon auf Bitten feiner Gemahlin, die einen schrecklichen Traum gehabt, beschlossen, an diesem Tage nicht in den Senat zu gehen. Einer der Verschworenen aber bestimmte ihn, teils durch Überredung, teils beinahe mit Gewalt, mitzugehen. „Er solle bedenken, wie es den Senat beleidigen müsse, so umsonst sich versammelt zu haben." Noch vor der Treppe gab ihm ein Grieche einen Brief, in welchem die ganze Verschwörung enthüllt war, mit der Mahnung, ihn sogleich zu lesen. Die Verschworenen hindern ihn daran, und Cäsar tritt in den Saal ein. Nachdem er sich niedergelassen, drängen sich die Verschworenen um ihm; einer tritt vor und bittet um die Begnadigung seines Bruders, die Verschworenen unterstützen das Gesuch. Cäsar, durch ihre ungestüme Zudringlichkeit unwillig gemacht, schlägt es ab. Da faßt ihn einer am Mantel und reißt ihm denselben von ber Schulter herab. „Dies ist Gewaltthätigkeit!" rüst Cäsar. Und wirklich war dies das Zeichen zum Angriff. Denn in dem Augenblicke zuckte Cafea feinen Dolch und brachte ihm eine Wunde im Nacken bei. Das Verhängnisvolle des Unternehmens hatte jedoch den Cafca ängstlich gemacht; er zitterte, als er stieß, und die Wunde war nicht gefährlich. Schnell fährt Cäsar von seinem Stuhle auf. „Verruchter Cafca, was beginnst du?" ruft er, stößt den vor ihm Stehenden zurück, greift nach Cafcas Dolch und sucht zu entfliehen. Aber in demselben Augenblicke trifft ihn
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ein anderer Stoß. Die Senatoren, bie nichts von bem Anschlag ber Verschworenen wussten, gerieten in bie größte Bestürzung, aber keiner wagte es, Cäsar beizustehen. Jnbessen haben alle Verschworenen bie Dolche gezückt unb bringen mit solcher Wut auf Cäsar ein, baß sich viele von ihnen in bem Getümmel selbst verwunbeten. Jetzt sieht er, daß es unmöglich ist zu entfliehen, gleichwohl öerteibigt er sich noch, so gut er kann. Als er aber ben Brutus, feinen vertrautesten Freunb, unter beu Verschworenen erblickt, ba sinkt fein Mut. „Auch bu, mein Sohn?" ruft er aus. Jetzt wiberfetzt er sich nicht mehr; er verhüllt sich in feine Toga unb giebt sich ruhig ben Stößen preis. Von 23 Wunden durchbohrt sank er an ber Bilbsäule bes Pompejus nieber. — Einen
großem Manu als ihn hat Rom nicht wieber hervorgebracht.
Aber bas eble Blut war umsonst vergossen; bas ungeheure Opfer
hatte Brutus ohne Erfolg gebracht - bie Freiheit warb nicht gerettet. Die Mörber mußten vor bem aufgebrachten Volke aus Rom fliehen. Oetaviau unb Antonius verfolgten sie. In Makebonien, in ben Ebenen von Philippi, kam's zur Schlacht. Das Heer bes Brutus unb Cafsius wirb geschlagen. Beibe stürzten sich verzweifelnb in ihr eigenes Schwert; Brutus mit ben Worten: „Xugenb, so bist bu also nur ein Scheinbilb aus Erben!" Der Unglückliche! Ec hatte vergessen, baß sein Volk ber Freiheit nicht mehr fähig war, nachbem es bie frühere Xugenb eingebüßt hatte.
Augustus.
Nach bem Tobe Cäsars würbe bas römische Reich aufs neue ben Stürmen bes Bürgerkriegs preisgegeben. Da bie Verschworenen im Volke keinen Anhang fauben, so bemächtigte sich Antonius, Cäsars kühnster Anhänger, ber obersten Gewalt; mit ihm verbanb sich Oeta-vianus (später Augustus genannt). Beibe begannen ben Rachekrieg gegen Cäsars Mörber Brutus unb Caffius, bie sich mit wohlgerüsteten Heeren in Makebonien vereinigt hatten, unb besiegten biefe beiben in ber Doppelfchlacht bei Philippi (42). Mit ihnen war ber Rest ber republikanischen Partei vernichtet.
Oetavianus kehrte hierauf nach Italien zurück unb warb Herr bes Westens, währenb Antonius ben Orient unterwarf unb ben Osten beherrschte.
So war bie römische Welt geteilt zwischen Antonius unb Oetavianus, allein batb brach unter ihnen ber Streit um bie Alleinherrschaft aus.
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Augustus.
Während der letztere in Rom alles that, durch versöhnende Maßregeln die Spuren des Bürgerkriegs zu verwischen, Abgaben erließ, Volk wie Staat durch zweckmäßige Einrichtungen für sich gewann, so daß Rom und Italien sich unter seiner Verwaltung glücklich fühlten, vergeudete Antonius in Ägypten an der Seite der ehrgeizigen Kleopatra in Schwelgerei seine Zeit und Kraft, verschenkte römische Provinzen an sie und ihre Kinder, führte einen unglücklichen Krieg gegen die Parther uiib beging andere Willkürlichkeiten und Thorheiten; auch zerfiel er mit Octavian dadurch, daß er die edle Oetavia, Oetavians Schwester, verstieß. Deshalb ließ ihn Octavian durch deu Senat aller Würden entsetzen und — um den Schein eines Bürgerkriegs zu vermeiden — der Kleopatra den Krieg ankündigen.
Anstatt nun den noch ungerüsteten Octavian in Italien rasch anzugreifen, durchschwelgte Antonius mit Kleopatra den Winter in Griechenland, bis Octavian im folgenden Jahre mit Heer und Flotte im Meerbusen von Ambracia (jetzt Arta) erschien und über seinen Gegner in der Seeschlacht bei Actiutn den Sieg und dadurch die Weltherrschaft errang.
Antonius floh mit Kleopatra nach Ägypten und entleibte sich selbst, da er alles verloren sah. Octavian aber zog durch Griechenland, setzte über die griechischen Inseln nach Syrien über und unterwarf von da aus Ägypten. Als Sieger zog er in Alexandria ein. Vergebens suchte Kleopatra auch ihn zn gewinnen. Als sie merkte, daß dieser die Absicht habe, sie zur Verherrlichung seines Triumphzugs als Gefangene nach Rom zu führen, vergiftete sie sich, wie einige sagen, durch deu Biß einer Natter, die ihr eine Freundin in einem Blumenkörbe gebracht hatte. Nach anderen tötete sie sich durch den Stich einer vergifteten Haarnadel.
Nach dem Tode des Antonius wurde Octavianus als Alleinherrscher des römischen Reiches anerkannt. Er nahm hieraus von seinem Großonkel den Namen Cäsar an (woraus das Wort „Kaiser" entstanden ist), während der Senat ihm den Namen Augustus, d. i. der Erhabene, beilegte.
So war nach vielen blutigen Kämpfen der Freistaat untergegangen und in ein Kaiserreich verwandelt.
Nachdem sich Augustus in seiner Macht befestigt hatte, war fein Streben darauf gerichtet, die Greuel der Bürgerkriege und seine eigenen Grausamkeiten in Vergessenheit zu bringen. Er gab Beweise von Güte und Milde, von Wohlthätigkeit und Herablassung. Mit dem größten Eifer sorgte er für die Wohlfahrt feines Reiches, und feine Zeitgenossen
Augustus.
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rühmen den Glanz der Künste und Wissenschaften unter seiner Regierung. Die Stadt Rom verschönerte er durch Ausführung der prachtvollsten Bauten fo sehr, daß er sich mit Recht rühmen konnte, er habe das aus Backsteinen gebaute Rom in ein marmornes verwandelt. In den Werken der Baukunst wetteiferte mit ihm der edle Agrippa, Augustus siegreicher Feldherr; er erbaute das Pantheon, einen für alle Götter bestimmten Tempel, und auf feinen Rat verschönerte Augustus die in 14 Quartiere geteilte Stadt, fowie ganz Italien durch herrliche Bauwerke. Außer Aarippa äußerte auch Mäeenas einen günstigen Einfluß auf den Kaiser Augustus, indem er ihn anfeuerte, Gelehrte, Geschichtschreiber und Dichter zu unterstützen und ihre Werke zu belohnen. Diefer Kreis von gebildeten Männern, der den Hof des Kaisers umgab, hat besonders dazu beigetragen, seiner Regierung Glanz und Ruhm zu verleihen. Bei aller Hoheit war er freundlich und gerecht, bei allem Reichtum einfach und fchlicht in Wohnung und Kleidung.
„Auch ließ der Kaiser Augustus ein Gebot ausgehen, daß alle Welt geschätzt werde. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher'in seiner Stadt. Da machte sich auch aus Joseph aus Nazareth in Galiläa und zog nach Bethlehem in Judäa, daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe. Und als sie daselbst waren, gebar sie Jesum Christum, unseren Herrn und Heiland." Dies geschah im 30. Jahre von Ausgustus' Regierung, 14 Jahre vor seinem Tod (14. n. Chr.).
Unter Augustus war das römische Reich zu einer ungeheuren Ausdehnung gelangt, indem es säst alle Länder des damals bekannten Erdkreises umfaßte (den ganzen Westen und Süden Europas, die Nordküste Afrikas, dazu Kleinasien und Syrien). Fast alle Völker der Erde erkannten Roms Oberherrschaft an, nur das Volk der freien Germanen hatte sich noch nicht unter das römische Joch gebeugt. Augustus beschloß, auch dieses Volk der Römerherrschast zu unterwerfen. Wie fein Versuch, Deutschland zu unterwerfen, völlig mißglückte, soll in den deutschen Geschichten erzählt werden.
Deutsche Geschichten.
Sitten und Einrichtungen der alten Deutschen.
In uralten Zeiten und unter Umständen, von denen keine Erinne-rung mehr im Menschengeschlecht erhalten ist, erhoben sich rüstige Stämme einev kühnen Hirtenvolkes im mittleren Asien und zogen mit Herden und Waffen aus ihrer Heimat ans. Sie wanderten durch die Psorteu des Kaukasus, stiegen nieder in die Fluren östlich vom Schwarzen Meere und ließen sich im mittleren Teile von Europa nieder. Es war das Volk der Deutschen, von den Römern, welche sie zuerst kennen lernten, mit dem Gesamtnamen Germanen (Germani), d. i. „Rufer im Streit" bezeichnet. Sie selbst nannten sich Deutsche (vou dem gotischen theo-disk, von thiuda = Volk). Ihre Wohnsitze erstreckten sich ursprünglich von dem Jnra, den Vogesen und dem Rhein bis znr Weichsel, von der ^.onan bis zu den Nord- und §Dstseeländern.
^ Deutschland war, als der Römer es kennen lernte, noch zum größten -icile mit Urwald bedeckt, vor dessen Schrecknissen der weichliche Bewohner des Südens zurückbebte. Das Klima war sehr rauh und feucht; der Boden, nur teilweise fruchtbar, trug nur wenig Getreide, gewöhu-liches Gemüse, Futterkräuter *c.; in seinem Inneren fand sich hie und da Silber, Eiseu, Kupfer, Salz. Während so der Ackerbau geringen, der Bergbau noch dürftigeren Ertrag bot, waren Viehzucht und Jagd desto ergiebiger. An Haustieren hatte man Rindvieh, Pferde, Ziegen, Schafe, Geflügel, Bienen; zu den Jagdtieren gehörten Bären, Hirsche, Eber, und von dem übrigen Wild, das in den deutschen Urwäldern hauste, reizte die alten Deutschen besonders das schnelle, dichtfellige Elenu und der wilde Ur oder das Wiefant (beffeu Hörner ihnen zu Trinkgefäßen dienten) zur Befriedigung ihrer Jagdlust. Schon frühe unude daher die Jugend zu dieser Art von Leibesübung angehalten, da ihnen die Jagd für die beste Vorschule zum Kriege galt. Deuu bie
Sitten und Einrichtungen der alten Deutschen.
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liebste unb fast einzige Beschäftigung ber freien Deutschen war Jagb unb Krieg. Der Ackerbau war ben Weibern unb Knechten überlassen.
Den natürlichen Anlagen nach zeichneten sich bie alten Deutschen vor allen anberen Völkern vorteilhaft aus, unb zwar körperlich: burch sehr weiße Haut, hochblonbes Haar, blaue, wilb unb feurig blickenbe Augen, ungewöhnliche Größe (meist von sieben Fuß), gewaltige Kraft, trotzige Haltung; geistig burch unMnbigen Mut, furchtlose Tapferkeit, uimertilgbaren Freiheitssinn, große Vaterlanbsliebe, ernste Gottesfurcht, keusche Zucht, Achtung gegen bie Frauen, Gastfreunbschaft, Treue unb Lieblichkeit, — so baß bei ihnen gute Sitten mehr vermochten, als anberswo gute Gesetze. Das Banb ber Ehe würbe bei ben alten Deutschen besonbers heilig gehalten, unb in ber Ehre, bie sie bem weiblichen Geschlecht erwiesen, kam ihnen kein Volk gleich.
In Nahrung unb Kleibung lebten bie alten Deutschen einfach. Fleisch unb Milch gehörte zu ihrer gewöhnlichen Speise; als Getränk liebten sie eine Art Bier aus Gerste unb Hafer, unb Met aus Honig unb Wasser. Waren sie vom Krieg ober von ber Jagb ennitbet, so pflegten sie ber Ruhe auf ihrer Bärenhaut ober wohnten Trinkgelagen bei, wobei ber Bragabecher kreiste unb ihre Sänger bie Thaten ber im ehrlichen Kampfe gefallenen Helben im Liebe priesen; benn bas „Helben-tum ber Tapferkeit" erschien ihnen als bas Höchste, unb burch Lieber Pflanzte sich bas Gebachtnis ber Vergangenheit fort.
Übrigens gehörten Trunkliebe unb Spielfucht zu ihren schlimmen Neigungen. Selbst bie wichtigsten Angelegenheiten besprachen sie bei Trinkgelagen, verschoben aber boch bie Beschlußnahme auf ben folgeuben Tag; sie ratschlagten also, sagt Tacitus, wenn sie sich nicht verstellen konnten, unb faßten ben Beschluß, wenn sie nicht irren konnten, b. h. wenn sie ruhiger Überlegung fähig waren. — Unter ben Spielen trieben sie bas Würfelspiel mit großer Leibenschaftlichkeit.
Ehe bie Deutschen Erz unb Eisen kannten, kleibeten sie sich in bie Felle wilber Tiere; boch hatten viele von ihnen bereits in sehr srither Zeit kunstvolle Rüstungen und Waffen von Eisen unb Stahl. Die Waffen galten ihnen für geheiligt; sie bestauben gewöhnlich aus ber Lanze (Frame genannt, zu Stoß unb Wurf), bem Schwerte unb einem bemalten Schilbe ans Weibengeflecht über Holz, mit Fell überzogen; nußerbem kamen auch Streithämmer (Donnerkeile), Streitäxte, Kolben, Bogen unb Pfeile, Schleubern unb Wurfspieße vor; ohne Waffen gingen sie nie aus; bei ben Waffen fchwuren sie ihre Eibe. — Der Frauen Schmuck war ihr langes Haar unb ihr selbstgewobenes, von einem Gürtel
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Sitten und Einrichtungen der alten Deutschen.
gehaltenes Linnengewand; auch ihren Gatten und Kindern verfertigten sie selbst die Gewänder. — Die an der See wohnenden Völker verwandten viel Fleiß aus Ausrüstung und Ausschmückung ihrer Schiffe, und manches nordischen Helden Reichtum bestand in seinem Schiff, auf dem er als sogenannter Seekönig aussuhr, sich ein Reich zu erobern. Von Künsten kannten die alten Deutschen nnr die Dichtkunst, die sie in Verbindung mit Gesang übten; ihre Lieder pflanzten sich durch mündliche Überlieferung fort. Sie hatten Schriftzeichen, Runen genannt, die sie entweder für deu gewöhnlichen Gebrauch in Holzstäbe schnitten oder für eine längere Dauer in Stein gruben. Es war eine heilige Schrift, die sie auch bei Aufstellung von Gesetzen anwandten. — Da sie nur Dörfer und Flecken bewohnten und ihre Häuser oder Hütten nur ans Holz oder Lehm, mit Stroh oder Rasen gedeckt, waren, selbst auch keine Tempel bei ihnen gefunden wurden, so kann von Baudenkmälern keine Rede sein.
Das Volk bestirnt), aus Freien und Unfreien. Die Freien zerfielen wieder in vornehme Geschlechter oder Adaliuge und gemeine Freie oder Freiliuge. Die Adaliuge (die Adeligen) waren die Besitzer von größeren Grundstücken (Allob); die Freilinge besaßen entweder nur ein kleines Gütchen als Eigentum ober erhielten von einem großen Grundbesitzer ein Stuck von dessen Gnt zur Bebauung, wofür sie sich dem Gutsherrn zu gewissen Dienstleistungen, besonders zur Heeresfolge, verpflichten mußten. Ein solches geliehenes Stück Land hieß Feod oder Lehen. — Die Unfreien waren entweder Hörige oder Knechte. Die Hörigen hatten kein erbliches Eigentum, fouderu mußten von den Äckern, welche ihnen pachtweise überlassen waren, an den Grundherrn Abgaben entrichten. Vollkommen unfrei waren die leibeigenen Knechte (Sklaven) als volles Eigentum des Herrn; doch wurden sie im ganzen milde behandelt. Zu ihnen gehörten auch die Kriegsgefangenen.
Aus den edleren Geschlechtern wurden die Fürsten und Vorsteher des Volkes gewählt und zwar die Tapfersten zu Heerführern oder Herzogen, die Ältesten und dabei Erfahrensten zu Gaurichtern oder Graven (d. i. Grauen). Könige gab es nur bei wenigen germanischen Völkern (z. B. bei den Goten).
Die Religion war nicht ein bloßer Natnrdienst, sondern Verehrung von Götteru, und in ihrer Götterlehre treten entschieden sittliche Richtungen hervor, wie schon ihr Glanbe an Unsterblichkeit beweist. Nach der Götterlehre der nordischen Germanen, die in ihren Gr und-anschaunngen auch für ihre übrigen deutschen Stammesbrüder Geltung
Sitten und Einrichtungen der alten Deutschen.
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haben mag, stand über dem ganzen All der unsichtbare sich selbst gleiche, ewige Schöpfer desselben, genannt Allsadnr, d. i. Allvater, ans welchem ein von ihm abhängiges Göttergeschlecht samt der Welt hervorging. An der Spitze dieser Götter stand Wodan (altnordisch Odin), auf den der Beiname Allfadnr überging, und der mit seinem einzigen Auge auf das Thun der Menschen herabschaut und ihre Geschicke lenkt, insbesondere Sieg verleiht. Wodans Gemahlin, die Göttermutter, hieß Frea oder Frigga, die Göttiu der Ehe uud Ordneriu des Hauses. Wodans zwei vornehmste Söhne hießen 1. Tyr (althochdeutsch Tiu oder Ziu), der Gott des Krieges oder Kriegsruhms, dessen Namen sich in Deutschland nur in Ziestag, Diestag, Dienstag, dies Maitis erhalten hat; man dachte sich ihn ohne Gemahlin und ohne Söhne. 2. Thor (statt Thonr, althochdeutsch Donar oder Thunar), der Gott des Donners, dessen Andenken sich erhalten hat in Donnerstag, Donnersberg. Von diesen drei Haupt- oder obersten Göttern nennt die nordische Lehre Wodan den Hohen, Tyr den Gleichhohen und Thor den Dritt-hohen. Zur zweiten Göttergruppe gehören Freyr, d. i. Herr, der srenndliche Sonnengott, Gott des Friedens uud der Fruchtbarkeit, dessen Hauptfest — Jol oder Jul — zur Zeit der Sommersouueuwende mit Eber-Opsern gefeiert wurde. Seine Schwester war Freja, d. i. die Herrin (gotisch Franja, Frau), die Göttin der Liebe; ihr war der Freitag gewidmet. — Wodans übrige Sohne find minder mächtig, unter ihnen aber ragen hervor Baldur oder Baldr, d. i. Held oder Fürst, der schönste, beredteste, weiseste und sanfteste unter den Äsen und Braga oder Bragi, der Gott der Dichtkunst und Wohlredenheit. — Als der zwölfte dieser Äsen, von denen jeder zugleich einem Monat vorgesetzt war, erscheint der hübfche, aber lug- und trughafte Loki.
Neben diesem Göttergeschlechte erscheint das Geschlecht der Riesen und das Geschlecht der Zwerge. Während die Götter geistige Gewalten sind, sind die Riesen die personificieren Elemente oder die großen Naturgewalten. Der Riesenheimat gehören auch die drei über die Menschen- und Götterwelt waltenden Schicksalsgöttinnen an, die Nomen, von welchen Urd die Vergangenheit, Verande die Gegenwart und Sknld die Zukunft darstellt. — Die Zwerge, kleine, kraftvolle, kluge Geister, sind die personificieren kleinern Regungen der Natur, besonders die im Schoße der Erde wirkenden Naturkräfte; sie bewohnen das Innere der Erde, besonders der Berge, wo sie die Metalle hüten und sich als Kobolde den Menschen verführerisch erweisen. — Verwandt mit den Zwergen, aber doch unterschieden von ihnen, sind die Elfen, gute Naturgeister.
108 Deutsche Heldensagen.
Die alten Deutschen glaubten an ein Jenseits. In dem Götterhimmel, Asgard genannt, befindet sich die schöne Himmelsburg Walhalla, in welche die im Kampfe ehrlich Gefallenen durch die Walküren (Kriegsgöttinnen) eingeführt werden, um unter Wodan selbst alle Tage ihre Kämpfe fortzusetzen und darauf beim Trinkgelage sich am Gesang der Skalden zu ergötzen; in die übrigen Himmelsräume kamen die Weiber und Kinder.
Eigentümlich tritt in dem Glauben der alten Deutschen die Lehre von dem Untergang der jetzigen sichtbaren Welt hervor. Wenn Loki, der böse Gott, von den übrigen Göttern unten in der Tiefe der Erde wird eingeschlossen sein, soll die Welt in Feuerflammen aufgehen, worauf Allvater einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird, in welcher kein Übel ist.
Deutsche tzeldensagen.
Siegfried.
(Nach Schöne und Bäßler.)
Zn Xanten am Rhein herrschte der mächtige König Siegmund; der hatte einen Sohn, namens Siegfried. Dieser war schon als Knabe stark und von unbändiger Kraft. Als er herangewachsen war, wollte er nicht mehr in seines Vaters Haus bleiben, sondern in die Welt auf Abenteuer ausgehen. Auf seiner Wanderung kam er in einen großen Wald, in dem er eine Schmiede traf. „Da gab es Eisen und Stahl genug, ein lustig Feuer Flammen schlug." „Ach Meister, liebster Meister mein, laß
du mich dein Geselle sein, und lehr' du mich mit Fleiß und Acht, wie
man die guten Schwerter macht!" — Der Meister nahm Siegfried an, als er ihn aber einmal züchtigen wollte, warf ihn Siegfried zu Boden, und ebenso die Knechte, die der Meister zu Hilfe rief. Um ihn wieder los zu werden, schickte er ihn in den Wald, Kohlen zu holen; in dem Wald aber hauste ein Drache, der sollte nach des Meisters Absicht Siegfried verschlingen. Siegfried riß einen Baum aus und warf ihn auf den Drachen, der sich mit seinem Schwänze in den Zweigen verwickelte; dann warf er noch mehr Bäume auf ihn, holte ans der Schmiede einen Feuerbrand und steckte die Bäume an, so daß der Drache verbrannte. Siegfried badete sich in dem herausfließenden Fette und Blute des
Drachen; davon ward seine Haut hart wie Horn, deshalb heißt er der hörnerne oder gehörnte Siegfried. Auf die Schulter war ihm beim
Baden ein Lindenblatt gefallen, deshalb konnte das Drachenblut da nicht
Siegfried.
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hinbringen, und diese Stelle blieb weich und verwundbar. Er ging nun in die Schmiede zurück; „den Hammer gar wohl er schwingen knnnt', er schlug den Amboß in den Grund, er schlug, daß weit der Wald erklang, und alles Eisen in Stücke sprang; und von der letzten Eisenftang' macht er ein Schwert so breit und lang." „Nun hab' ich geschmiedet ein gutes Schwert, nun bin ich wie andere Ritter wert, nun schlage ich, wie ein anderer Held, die Riesen und Drachen in Wald und Feld." Das Schwert war so scharf, daß Siegfried damit den Amboß spaltete.
Nach manchen Abenteuern betrat Siegfried das Land der Nibe-lungen1). Dort fand er vor einem Berge die Königssöhne Schilbung und Nibelung mit ihren Mannen; die waren eben daran, den Hort*) bei: Nibelungen zu teilen, den man ans einem hohlen Berge getragen hatte. Wie sie nun Siegfried sahen, der ihnen wohlbekannt war, empfingen sie ihn freundlich und baten ihn, daß er ihnen den Schatz teile, und baten so lange, bis er es ihnen gelobte. Er sah so viel Edelgestein, daß hundert ganze Wagen es nicht fortgebracht hätten, und noch weit mehr roten Goldes. Das alles sollte Siegfried teilen, darum gaben sie ihm, damit er willig wäre, Balmung, das gnte Nibelungenschwert, zum Lohn voraus. Das kam ihnen aber übel zu stehn. Denn da er die Teilung nicht so zustande brachte, wie fie's wünschten, gerieten sie in Zorn und riefen von ihren Freunden zwölf starke Riesen herbei. Was konnt’ es ihnen helfen? Siegfried erschlug sie mit dem guten Schwerte, das er ebeu empfangen hatte, und ihre beiden Herren dazu, so daß die übrigen Recken erschrocken sich ihm unterwarfen und Land und Burg übergaben. Nun kam Alberich, der zanberkrüftige Zwerg, herbei, um seine Herren zu rächen; aber Siegfried bezwang auch ihn und gewann ihm die wunderbare Tarnkappe ab, welche jeden, der sich darein hüllt, unsichtbar macht und ihm die Kraft von zwölf Männern zulegt. So wurde Siegfried des Nibelungenhortes Herr und ließ ihn alsbald wieder dahin bringen, woher ihn die Nibelungenmannen genommen hatten. Dem starken Alberich übertrug er, über ihn zu wachen, und nahm ihm eineu Eid ab, daß er ihm stets ein treuer Knecht sein wolle.
Nun zog Siegfried fort nach der Stadt Worms zum König Gnnther von Burgund. Der hatte eine liebreizende Tochter, Kriemhilde geheißen,
r) Nibelungen, d. i. Leute vom Nebelland (= Unterwelt). Nach der Sage wohnten sie im heutigen Norwegen.
2) Schatz.
8) Hehlmautel.
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Deutsche Heldensagen.
deren Schönheit und Edelsinn in den Landen weit umher berühmt war. Diese gedachte Held Siegfried sich zur Gemahlin zu gewinnen.
Der Hof des Königs Günther zu Worms war einer der glänzendsten weit und breit. Neben König Günther ragte hervor Hagen von Tronje, stark und klug, dann der Sänger Volker, welcher Speer und Schild ebenso geschickt wie den Fidelbogen zn führen verstand, ferner Dankwart, der Bruder Hagens, und des Königs Brüder Gernot und Gifelher.
Siegfried wurde am bnrgnndischen Hofe mit Ehren aufgenommen. Oft wurden ritterliche Spiele angestellt, in denen Held Siegfried der beste war. Keiner kam ihm gleich, so groß war seine Kraft, mochten sie nun Steine werfen oder mit Speeren schießen.
Die Sahrt nach Jsenlanb1).
Feru über der See hatte eine Königin ihren Sitz, die hatte nirgends ihresgleichen; sie war überaus schön und von sehr großer Kraft. Sie schoß den Speer, warf den Stein fern und sprang dann weit darnach; und auch im Ringen zeigte sie ihre hohe Meisterschaft. Wer ihrer Liebe begehrte, der mußte ihr ohne Zaudern diese Spiele abgewinnen; gebracht ihm an einem, so hatt' er sein Hanpt verloren. Davon gelangte die Kunde auch zu den Bnrguudeu.
Da sprach Günther, der Vogt vom Rheine: „Ich will an die See hin zu Bruuhilde, wie es mir auch ergehen mag; ich will um ihre Miuue mein Leben wagen, ja ich will es verlieren, sie werde denn mein Weib. Willst du mir helfen, um die Miuuigliche zu werben, edler Siegfried, thu' es, ich bitte dich darum; unb wo ich das liebliche Weib gewinne, so will ich auch wiederum deinetwegen Ehre uud Leben wagen". Darauf antwortete Siegsried, Siegmunds Sohn: „Giebst du mir deine Schwester, die schöne Kriemhilde, so will ich es thun und begehre für meine Arbeit keines Lohnes weiter". „Das gelobe ich, Siegfried, in deine Hand," sprach Günther; „wenn die schöne Brnnhilde in das Land kommt, so will ich dir meine Schwester znm Weibe geben." Das gelobten sich die hohen Recken mit Eiden. Nun rüsteten sich die kühnen Männer mit wenigen erlesenen Rittern zu der Fahrt. Siegfried nahm heimlich seine Tarnkappe mit sich. Die Diener trugen die goldfarbenen Schilde der Helden ans Ufer, brachten ihr Gewand und führten auch die Rosse herzn. Da standen an den Fenstern die lieblichen Kinder
i) Island.
Siegfried.
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und toeineten sehr; aber ein frischer Wind blähete das Segel des Schiffes, und die stolzen Heergesellen stiegen wohlgemnt ein und saßen ans dem Rheine. „Wer will Schiffmeister sein?" rief König Günther. Alsbald ergriff Siegfried eine Rnderstange und schob kräftig vom Gestade; der König Gnnther nahm selbst ein Rnder; so huben sich die lobsamen Ritter vom Lande. Sie führten reiche Speisen mit sich, dazu auch guten Wein, den besten, den man am Rheine finden konnte; ihre Rosse standen ruhig, das Schiff ging sanft dahin; und fo widerfnhr ihnen auf dem ganzen Wege wenig Leides.
Am zwölften Morgen hatten die Winde sie fern von dannen gen Jsenstein in Brunhildens Land getragen. Das war ihrer keinem bekannt außer Siegfried. Sechs und achtzig Türme sahen sie darinnen stehen, drei weite Paläste uud einen wohlgebauten Saal von edlem Marmelsteine, grün wie Gras, in welchem Brunhilde mit ihrem Ingesinde wohnete. Die Burg war weit ausgethau; Bruuhildens Mannen liefen ihnen entgegen, empfingen die Gäste im Lande ihrer Königin, führten ihre Roffe hinweg und ließen sich, bevor jene eintraten, auch die Waffen in Verwahrung geben. Als nun die Königin Siegfried sah, sprach sie züchtiglich zu dem Gaste: „Seid willkommen, Herr Siegfried, allhier in diesem Lande. Was bedeutet eure Reise? das möcht' ich gern wissen". Er sprach: „Hier ist Günther, ein reicher und hehrer König, der keinen Wunsch weiter kennen würde, wofern er deine Hand gewönne hätte. Um deinetwillen bin ich mit ihm hierher gefahren; wäre er nicht mein Herr, ich hätt' es nimmer gethan". Sie sprach: „Ist er dein Herr, und bist du sein Dienstmann, und will er die Spiele, die ich zuteile, bestehn und bleibt er darin Meister, so werd' ich sein Weib; gewinne aber ich, so geht's euch allen an das Leben. Den Stein soll er werfen und darnach springen, sodann soll er mir den Speer schießen und endlich sich mit mir im Ringen versuchen. Seid nicht zu jach! ihr könnt hier wohl Ehr' und Leben verlieren; das bedenkt euch wohl!" sprach das minnigliche Weib. Siegfried, der schnelle, trat zum König und bat ihn, seinen Willen der Königin frei zu sagen und ohne Angst zu sein: „Ich will dich vor ihr durch meine List behüten". Da sprach der König Günther: „Hehre Königin, teilet mir zu, was ihr gebietet; und wäre es noch mehr, so bestand' ich es alles, um nur euch zu erwerben; ich will mein Haupt verlieren, wo ihr nicht mein Weib werdet".
Als die Königin seine Rede vernahm, hieß sie, wie ihr geziemte, die Spiele beschleunigen; sie ließ zum Streite sich ihr Kriegsgewand bringen, einen Panzer von rotem Golde und einen guten Schild. Der-
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Deutsche Heldensagen.
weilen war auch Siegfried, der weidliche Mann, ohne daß es jemand wußte, znm Schiff gegangen, wo er seine Tarnkappe verborgen liegen hatte; darein schlüpfte er schnell und war nun niemandem sichtbar. Er eilte bald zurück; da sah er viele Recken um die Königin, die ihre hohen Spiele anordnete; heimlich ging er umher, da ihu niemand sah von allen, welche zugegen waren; das geschah mit List. Jetzt trug man der Frau einen schweren und großen, starken und gewaltigen Speer herbei, desseu sie sich immer zu bedienen Pflegte, und der an seiner Spitze schrecklich schnitt. Da sprach Hagens Schwestersohn, der kühne Ortwin: »Mich reuet diese Hofreise von Herzen. Sollen uns in diesem Lande die Weiber zu Gruude richten? es bekümmert mich hart, daß ich in dieses Land kani. Hatte mein Oheim Hagen seine Waffe bei der Hand und auch ich die meine, so möchten alle Brnnhildsmannen mit ihrem Übermute sanfter auftreten". „Wir sollten wohl unangefochten dieses Land räumen!" sprach Hagen. „Hätten wir unser Kriegsgewand, das uns so not ist, und die guten Schwerter, so würde der Übermut der schönen Frau wohl gesänstigt werden!" Wohl hörte die edle Maid die Worte des Ritters; mit spöttischem Lächeln sah sie über die Achsel: „Da er sich so kühn dünkt, so bringet ihnen ihr Kriegsgewand und gebet ihnen ihre scharfen Waffen". Als sie die Schwerter erhalten hatten, da ward der sühne Ortwin ganz rot vor Freude: „Nun mögen sie spielen, was sie wollen!" sprach er, „Günther ist nnbezwuugen, seit wir unsere Waffen haben".
Brunhildens Stärke erschien überaus gewaltig. Man trug ihr in den Kreis einen runden Stein, der war von unmäßiger Last und von ungeheurer Größe, so daß ihn kaum zwölf der kühnen, schnellen Recken tragen konnten. An ihren weißen Armen streifte sie die Ärmel empor, faßte den Schild mit der Hand und zuckte den Speer hoch; da ging es an den Streit. Die Fremden bangten vor Brunhildens Zorn, und wäre nicht Siegfried ba zu Hilfe gekommen, so hätte Günther sein Leben eingebüßt. Heimlich trat Siegfried heran und rührte feine Hand. Diese List machte Günther große Sorge; doch jener flüsterte ihm zn: „Den. Schild gieb von der Hand und laß mich ihn tragen uud nun merke wohl, was du mich sageu hörst: mache du die Gebärde, das Werk will ich bestehen". Da Günther ihn nun erkannte, war es ihm lieb. Jetzo« schoß die herrliche Maid gar krüftiglich auf den neuen, großen und breiten Schild, den Siegelindens Sohn an seiner Hand trug, so daß Feuer vom Stahle sprang, als wenn es der Wind wehte. Die Schneide des starkeu Speeres durchbrach völlig deu Schild, daß man das Feuer
Siegfried.
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aus beit Panzerringen lohen sah; vor bem Schusse strauchelten bie beiben kräftigen Männer, nnb ohne bie Tarnkappe wär' es um sie geschehen gewesen. Dem kühnen Siegsrieb brach bas Blut vom Muttbe; aber balb sprang ber gute Helb wieber auf, nahm ben Speer, welchen sie ihm burch ben Schilb geschossen, unb warf ihn mit starker Hanb wieber zurück. Das Feuer stob aus ben Ringen, so mit Kraft hatte Siegmnnbs Sohn ben Speer geschlenbert; auch konnte sie mit all ihrer Kraft vor bem Schusse sich nicht aufrecht erhalten: bas hätte ber König Gnnther nimmermehr zu bewirken vermocht. Aber bie schöne Bruuhilb sprang balb wieber aus bie Füße: „Ebler Ritter Günther", rief sie, „habe Dank für biefen Schuß!" benit sie meinte, baß er es mit feiner Kraft gethan. Da trat sie schnell hin, zornigen Mutes; hoch hob sie ben gewaltigen Stein empor unb schleuberte ihn kräftiglich fern von ber Hanb; bann sprang sie nach bem Wurfe, baß laut ihr Gewanb erklang. Der Stein war zwölf Klafter weit von bannen niebergefallen, nnb biefe Wurfweite maß mit einem Sprunge bie treffliche Jungfrau. Nun ging ber schnelle Siegfrieb hin, wo ber Stein lag; Gnnther wägte ihn, aber Helb Siegfried that beit Wurf; er schleuberte ben Stein viel ferner unb sprang auch weiter; burch feine feinen Künste hatte er Kraft genug, im Sprunge auch noch ben König Günther zu tragen. Zum britten begannen sie auch im Ringen an einanber bie Kräfte zu messen. Da zeigte bie kühne Maib betn König Günther ihrer Stärke Meisterschaft unb warf ihn nieber, baß ihm bas Haupt bröhnte. Mit ihrer Linken hielt sie feine Hänbe so fest umschlossen, baß ihm bas Blut burch bie Nägel brang; mit ber Rechten aber griff sie nach ihrem Gürtel von starker Borte, ihn bamit zu binben. Da kam ber reiche König in große Not. Aber Siegfrieb, ber feinen Fall nicht hatte Hinbern können, riß jetzt ben Dar-nieberliegenben wieberum empor unb fetzte ungesehen ber starken Jungfrau so zu, baß ihr bie ©lieber erfrechten. Da bekannte sie sich besiegt. Er aber zog ihr einen golbenen Fingerring von ben Hauben unb nahm ihr ben Gürtel, ohne baß sie es inne warb. Ich weiß nicht, ob er bas aus Übermut gethan; später, als Kriernhilbe mit ihm gen Nieberlaitb gezogen, gab er ihr beibes, was ihm nachher sehr leib werben sollte.
Die Königin rief nun ihr Hofgesinbe herzu unb sprach: „Kommet näher her, ihr meine Verwanbten unb Mannen, ihr sollt nun alle bem König Günther Unterthan werben". Da legten bie Kühnen bie Waffen von ber Hanb unb beugten sich vor Günther, bem reichen Könige von Bnrgnnbenlanb; bettn sie wähnten, er habe mit seiner Kraft bie Spiele gewonnen.
Abicht, Lesebuch. II. 8
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Deutsche Heldensagen.
Siegfried, der schnelle, trug weislich seine Tarnkappe wieder fort und trat dann in den Saal, wo die Ritter uud Fraueu versammelt waren. „Wohl mir um der Kunde willen", sprach er, „daß eure Hochfart also erlegen, und daß jemand lebt, der euer Meister ist! nun sollt ihr uns von hinnen an den Rhein folgen, edle Maid!"
Siegfrieds Tod.
(Bäßler, Die schönsten Sagen des Mittelalters.)
So ward Brnnhilde Günthers Gemahlin, Siegfried aber empfing als Lohn die schöne Kriemhilde zum Weibe und lebte manches Jahr mit ihr in Glück und Freuden daheim zu Xanten. Doch Brunhilde neidete die schöne Kriemhilde, daß sie Siegfrieds Weib geworden und wollte sie nicht Königin nennen, weil Siegfried gesagt hatte, er sei Günthers Mann. Darum zürnte ihr Kriemhilde uud ries einmal, als sie und ihr Gemahl nach Worms zu großen Festen eingeladen waren, im Zorn der Brunhilde zu, Siegfried habe sie im Kampfe bezwungen, nicht Günther, und Ring und Gürtel ihr genommen. Als Brnnhilde dies vernahm, daß sie von Siegfried betrogen sei, ward sie so ergrimmt über den stolzen Helden, daß sie beschloß, an seinem Leben sich zu rächen. Sie klagte Hagen ihr Leid. Der aber gelobte ihr Treue und versprach ihr, Kriemhildens Mann solle das büßen, oder er wolle nimmer fröhlich fein.
Kriemhilde aber ahnte nichts von dem bösen Vorhaben, ja als man einst vorgab, ein Krieg drohe mit den Sachsen und Dänen, und Siegfried sich erbot, mit in den Streit zu ziehen, da bat gar Kriemhilde den Hagen, er möge Siegfried beschützen im heißen Streite. Aus Liebe und Sorge um ihren Mann verriet sie ihm sogar ein Geheimnis, das besser verschwiegen geblieben wäre, und sprach: „Als mein Mann am Berge den Linddrachen schlug, badete sich der wohlgemute Recke in dem Blute desselben, daher ihn im Sturme keine Waffe verletzt. Gleichwohl bin ich in Sorgen, daß, wenn er im Streite steht, und die Speere von Heldenhänden fliegen, ich meinen lieben Mann verliere; ach, was für Sorge hab' ich um Siegfried! Ich melde dir auf Gnade, viellieber Freund, wo man meinen Gatten verwunden kann; das sollst du jetzt vernehmen, aber — es geschieht auf Gnade. Als von des Drachen Wunden das heiße Blut floß, und der gute Ritter sich darin badete, da fiel ihm zwischen die Schultern ein breites Lindenblatt und hinderte, daß das Blut ihn daselbst benetzte und hörnte; an selbiger Stelle kann man ihn verwunden, das macht mir so große Sorge". Da sprach Hagen von Troneck: „So näht mir ein kleines Zeichen auf sein Gewand;
Siegfried.
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daran werd' ich erkennen, wo ich ihn schirmen müsse, wenn wir im ©türme stehen". Sie wähnte sein Leben zu sichern, während es auf seinen Tod abgesehen war; sie sprach: „Mit seiner Seide nähe ich aus sein Gewand ein Kreuz, daselbst soll deine Hand, du Held, meinen Mann schirmen, wenn es zum ernstlichen Kampfe geht". „Das thu' ich, meine vielwerte Frau!" sprach Hagen, nahm Urlaub und ging fröhlich von dannen. Nun zogen die Burgunden nicht mehr aus zum Kriege, sondern rüsteten eine große Jagd.
Als Kriemhilde ihren werten Gatten zur Jagd im Wasgauwalde sich rüsten sah, und seine Gefährten edles Birschgewand ans die Saumtiere luden, da konnte ihr kein größeres Leid geschehen. Nun trat Siegsried heran uud küßte sie zum Abschied auf den Mund. „Gott gebe", sprach er, „daß ich dich, liebe Frau, gesund wiedersehe und auch deine Augen mich. Kürze dir indessen die Zeit mit deinen holden Verwandten, denn ich mag nicht daheim bleiben." Da gedachte sie an die Geschichte, welche sie Hagen erzählt hatte, und getraute sich doch nichts zu sagen, sondern beklagte, daß sie je geboren ward, und ohne Maß weinte das wunderschöne Weib. Sie sprach zu dem Recken: „Lasset euer Jagen sein! mir träumte heute Nacht ein Unglück, wie euch zwei wilde Schweine über die Heide jagten, und die Blumen wurden rot; ich habe wahrlich Ursache so sehr zu weinen. Ich fürchte gar sehr etlicher Leute bösen Rat, die uns feindlichen Haß zuwenden, weil man vielleicht ihrer einen einmal beleidigte. Bleibet, lieber Herr, das rat' ich euch mit Treue". — „Meine liebe Traute, ich komm' in kurzer Frist zurück. Ich weiß hier keine Leute, die mir Haß hegen sollten; alle deine Verwandten sind mir hold, auch hab' ich's um sie nicht anders verdient." — „O nein, Herr Siegfried; ja, ich fürchte deinen Fall! Mir träumte heute Nacht ein Unglück, wie über dir zwei Berge niederfielen, und ich sah dich nimmermehr; willst du von mir scheiden, so thnt's mir von Herzen weh." Er aber umfing mit seinen Armen das tugendreiche Weib und herzte sie; dann schied er rasch von ihr, und sie sah ihn leider nimmer gesund wieder.
Da ritten sie von dannen in den tiefen Wald, und mancher schnelle Ritter folgte zur Kurzweil Günther und Siegfried; Gernot und Gieselher aber blieben daheim. Viele beladene Rosse trugen für die Jagdgesellen Brot, Fleisch und Fische und mancherlei Gerät, wie es einem so reichen Könige zukommt. Man hieß die stolzen schnellen Degen vor dem grünen Walde gegen die Wildbahn, wo sie jagen sollten, auf einem breiten Anger Herbergen. Die Jagdgefellen stellten sich an allen Enden ans die
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Deutsche Heldensagen.
Lauer: da sprach der kühne Mann Siegfried, der starke: „Wer soll uns in den Wald nach dem Wilde weisen, ihr raschen Degeu?" — „Wir wollen uns scheiden", antwortete Hagen, „ehe wir hier zu jagen beginnen; dabei werden wir sehen, wer die besten Jäger bei dieser Waldreise sind. Seilte und Hunde wollen wir teilen, darauf gehe jedweder, wohin er am liebsten will; wer dann das Beste jagt, der soll den Dank dafür haben." Da verweilten die Jäger nicht lange bei einander. Herr Siegfried sprach: „Der Hunde kann ich entraten bis auf einen Bracken, der so genossenx) hat, daß er die Fährte der Tiere durch deu Tann hin spüre. Wir wollen schon etwas erjagen". Da nahm ein alter Jäger einen Spürhund und brachte den Herrn in kurzer Zeit dahin, wo sie viele Tiere sauden. So viel nun bereit aus ihrem Lager hervorkamen, die erjagten die Gesellen, wie noch heutzutage gute Jäger thun. Der Spürhund fand einen großen Eber, und als der fliehen wollte, kam alsbald der Meister in der Jagd und vertrat ihm den Weg. Das Schwein nahm zornig den kühnen Degen an; aber er fing es mit seiner guten Klinge ab, kein anderer Jäger hätte das so leichtlich gethan wie er. Als er nun den Eber erlegt hatte, band mau den Spürhund wieder an die Koppel.
Allenthalben hörte man Lärmen und Tosen von Leuten und Hunden; der Schall war so groß, daß ihnen Berg und Wald antwortete. Vierundzwanzig Hunde hatte man losgelassen, und eine Menge Wildes
wnrde erlegt; wohl mancher Jäger hoffte, daß man ihm den Preis der Jagd erteilen sollte, und fand sich getäuscht, als der starke Siegfried nachher zur Feuerstätte kam. Die Jagd war zu Ende. doch noch nicht gänzlich und die zur Feuerstätte kamen, brachten die Häute von mancherlei Tieren mit sich und Wildes genug. Ei, wie viel trug da das Gesinde zur Küche! Da befahl der König den edlen Jägern zu verkünden, daß
er Imbiß halten wollte; alsbald wurde laut in ein Horn geblasen; damit ward angezeigt, daß man den hohen Fürsten bei der Herberge
sände. Als Siegfried den Klang vernahm, sprach er: „Nnn räumen
wir deu Wald".
So eilten sie zurück; aber ihr Geräusch scheuchte ein schreckliches Tier, einen wilden Bären, hervor. Alsbald ries der Ritter hinter sich: „Ich will uns Jagdgesellett eine Kurzweil bereiten! Lasset deu Hund los; ich sehe einen Büren, der soll mit nns von hinnen zur Herberge
l) Ein alter Jügerausdruck; ein Hund hat genossen, wenn man ihn ein blutiges Stück von einem Wilde hat genießen lassen, damit er die Spur eines solchen durch die geschärfte Witterung desto sicherer auffinden und verfolgen könne.
Siegfried.
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fahren; wenn er nicht allzu hurtig flieht, so wird er sich davor nimmer bewahren können". Der Hund wurde losgelassen, der Bär sprang von dannen, nud Kriemhildens Mann gedachte ihn zu Roß zu ereilen; aber zuvor erreichte der Bär ein Geklüft, darin er sich zu bergen meinte, und glaubte sich schou vor dem kecken Jäger in Sicherheit. Doch der gute Ritter sprang von seinem Rosse und lief ihm zu Fuß nach, ergriff das Tier und fesselte es dergestalt, daß es weder kratzen noch beißen konnte; band es an den Sattel, saß schnell auf, und so bracht' es der kühne, gute Degen zu einer Kurzweil uach der Feuerstätte. Als er vom Rosse gestiegen, löste er dem Bären die Bande von Maul und Füßen, und alsbald wurden bei seinem Anblick alle Hunde laut. Das Untier wollte in den Wald zurück und verbreitete argen Schrecken umher; durch den wirren Lärm umhergescheucht, geriet es gar in die Küche; ei, wie stäubten da die Küchenknechte am Feuer auseinander! wie viele Kessel wurden umgestürzt und mancher Brand verschleppt, uud ach, wie viel gute Speisen fand man in der Asche liegen! Da sprangen die Herren und ihre Mannen vom Sitz; und der König befahl das ganze Gehünde, das an der Koppel lag, loszulassen. Es war ein lustig Spiel und wär' es gut beendet worden, so hätten sie einen fröhlichen Tag gehabt. Da war kein Säumen; mit Bogen und Spießen liefen die Schnellen dahin, wo der Bär ging; aber es drangen so viel Hunde auf ihn ein, daß niemand znm Schusse kam, und von dem lauten Schalle erlöste das ganze Gebirg. Der Bär floh vor den Hunden von dannen, und niemand vermocht' ihm zu folgen als Kriemhildens Mann; der holte ihn mit dem Schwerte ein und schlug ihn zu Tode. Hieraus trug man den
Bären wieder zum Feuer. Da sprachen alle, die das gesehen hatten,
Siegfried wäre ein kräftiger Mann.
Nun hieß man die stolzen Jagdgesellen zu Tische gehen; auf dem schönen Anger saßen sie zahlreich umher, und gute Speise, wie sie Rittern geziemt, trug man den edeln Weidmännern herzu; aber es fehlte der Wein, den man auf Hageus Rat aus böser Tücke zurückgelassen hatte. Da sprach Herr Siegfried: „Mich nimmt es wunder, da man uns von der Küche so manchen Vorrat giebt, warum uns die Schenken nicht
Wein dazu bringen; pflegt man der Jäger nicht besser, so mag ich nicht
Jagdgeselle sein! Ich weiß es ihnen Übeln Dank, daß sie des Weines vergessen; hätt' ich's vermuten können, so wären mir sieben Saumtiere mit Met und Würzwein gefolgt". Da sprach Hagen von Troneck: „Ihr edlen schnellen Ritter, ich weiß hier ganz nahe einen kühlen Bruuueu im Lindenschatten, dahin wollen wir gehen und unseren Durst löschen".
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Deutsche Heldensagen.
Alsbald sprang Siegfried empor und machte sich mit Hagen auf den Weg zur breiten Linde. Jener aber nahm wiederum das Wort und sprach: „Mir ward oft gefügt, daß niemand Kriemhildens Manne folgen könne, wenn er läuft; ei, wenn er uns das wollte sehen lassen!" „Das könnt ihr wohl versuchen", antwortete der Held von Niederland, „wenn ihr mit mir um die Wette zum Brunnen laufen wollt. Wer zuerst dort ankommt, der soll den Preis gewonnen haben." „Nun, so wollen wir's versuchen!" sprach Hagen. „Ich will noch ein mehreres thun", fuhr jener fort, „all mein Geräte will ich mit mir tragen, den Speer samt dem Schilde und mein Birfchgewand"; und sogleich band er sich den Köcher nebst dem Schwerte um; aber Günther und Hagen legten bis anf das Hemd ihre Kleider ab, und hurtig wie zwei wilde Pardel liefen sie durch den Klee; doch sah man den kühnen Siegfried viel eher bei dem Brunnen; denn in allen Dingen trug er vor allen Männern den Preis davon.
Alsbald löste er das Schwert, legte den Köcher und den Schild weg und lehnte den starken Speer an den Ast der Linde: so stand der herrliche Gast am rieselnden Brunnen, aber trank nicht eher, bis der König getrunken hatte; doch dieser gab ihm bösen Dank dafür. Der Brnnnen war kühl und lauter; da neigte sich Gnnther zur Flut hernieder, und als er getrunken, richtete er sich anf, und Siegfried bückte sich zum Trunke. Mittlerweile trug Hagen heimlich seinen Bogen und sein Schwert beiseit, sprang dann wieder zurück, wo er Siegfrieds Wurfspieß fand und erschaute den Ort, wo er auf dem Gewände des Helden das Kreuzesbild gesehen. Als nun Herr Siegfried aus dem Brunnen trank, zielte er und schoß dahin, daß das Blut seines Herzens aus der Wunde an Hägens Kleid emporsprang. Kein Mann begeht je wieder also große Missethat! Der Herr sprang tobend vom Brunnen empor, die lauge Speerstange ragte ihm von den Schultern; er wähnte Bogen oder Schwert zu finden, damit er Hagen nach seinem Dienste lohnen konnte; da er aber nichts mehr vorfand, als den Schild, nahm er ihn vom Brunnen auf und lief Hagen an, der ihm nicht entrinnen konnte. Wie todwund er auch war, schlug er doch so kräftig, daß aus dem Schilde viel Edelsteine lossprangen, und der Schild endlich gar zerbarst. Hagen stürzte vor der Gewalt seiner Hände darnieder, und der Anger erhallte laut von der Kraft des Schlages; hätte der Fürst fein Schwert zur Hand gehabt, so wär’ es Hagens Tod gewesen: so grimmig zürnte der Wunde, wozu ihn wahrlich Not zwang. Allein seine Farbe war bereits erblichen, er konnte sich nicht aufrecht erhalten, die Stärke feines
Siegfried.
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Leibes schwand dahin, da er des Todes Zeichen im bleichen Angesichte trug. Da fiel Kriemhildens Mann in die Blumen und das Blut rann stark aus der Wunde. Nun begann der Todwuude auf sie zu schelten, die voll Untreue seinen Tod geraten hatten: „Ihr zagen Bösen, was Helsen mir meine Dienste, die ihr mich erschlagen habt? 3ch war euch stets getreu, jetzt hab' ich's entgolten; ihr habt an euren Freunden sehr Übel gethan". Die Ritter alle liefen hin, wo er erschlagen lag, und ihrer vielen schien es ein Tag des Unheils, und die nur irgend Treue hatten, von denen ward er beklagt, wie auch der gute Ritter um alle verdienet hatte. Auch der König von Burgund beklagte mit lauter Stimme seinen Tod; da sprach der Sterbende: „Es thut nicht not, daß der über Schaden weint, der ihn gethan hat; viel besser ständ's ihm, das zu unterlassen". Da sprach der grimmige Hagen verdrossen zum Könige: „Ich weiß nicht, was ihr klagt; nun hat all unsere Sorg' und Leid ein Ende; wir finden ihrer fortan nur wenige, bie uns Bestehenx) dürfen. Wohl mir, daß ich seiner Herrschaft ein Ende gemacht!" „Ihr mögt euch leicht rühmen", sprach Herr Siegsried; „hätt’ ich an euch bie mörderische Art erkannt, so hätte ich wohl vor euch mein Leben behalten; mich dauert nichts so sehr als Frau Kriemhilde, mein Weib. Nun muß es Gott erbarmen, daß ich je einen Sohn bekam, dem man es mit der Zeit vorwerfen wird, daß seine Verwandten jemanden erschlagen haben; hätt' ich die Zeit dazu, so müßt' ich das billig beklagen." Da hub der todwuude Mann zu jammern an und sprach: „Wollt ihr, o König, noch irgend in der Welt an jemand Treue üben, so laßt meine liebe Traute eurer Gnade besohlen sein; laßt sie es genießen, daß es eure Schwester ist. Bei aller Fürstentugend beschwör' ich euch, pfleget ihrer mit Treue! — Mein Bater und meine Mannen müssen lange ans mich warten; nie ward an einem lieben Freunde übler gethan". Die Blumen wurden allenthalben vom Blute uaß; da rang er mit dem Tode; doch währte das nicht lange, da die tödliche Waffe zu tief eirtgebrungeit war. So mußte ber treffliche Ritter sterben.
Als bie Herren sahen, baß ber Helb tot war, legten sie ihn auf einen Schilb von rotem Golbe unb gingen zn Rate, auf welche Weife sie es verhehlen möchten, baß es Hagen gethan hätte. Da sprachen etliche: „Uns ist übel geschehen; ihr sollt es alle verhehlen unb überein aussagen: als Kriemhilbens Mann allein ans bie Jagb ritt, ba schlugen ihn im Walbe bie Mörber". Da sprach Hagen von Troneck: „Ich bring'
!) Im Kampfe stand halten.
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Deutsche Heldensagen.
ihn in das Land; mir gilt es ganz gleich, ob es ihr auch bekannt wird. Sie hat Brunhildens Seele so betrübt, daß ich es gering achte, wie viel sie nun auch weinen mag". Da erwarteten sie die Nacht und fuhren heimwärts. Nie haben Helden eine schlimmere Jagd angestellt; denn das Wild, das sie da schlugen, beweinten edle Weiber, und viele gute Kämpfer mußten es mit ihrem Leben entgelten.
Hagen ließ den toten Siegfried vor Knemhildens Kammer tragen. "Wenn sie dann morgen früh," sprach er, „in die Messe gehen will, wird sie ihn schon finden." Als am anderen Morgen Kriemhilde sich anschickte znr Kirche zn gehen, meldete ihr der Kümmerer: „Frau, stehet still, es liegt vor der Thür ein erschlagener Ritter". Ein Schrei des Entsetzens ist Kriemhildens Antwort: sie weiß, wer da erschlagen liegt, ohne daß man es ihr gesagt hat. „Es ist Siegfried, mein viellieber Mann! Brnnhilde hat's geraten und Hageu hat's gethan." So ruft sie wehklagend. Siegfrieds Mannen und der greise Vater Siegmund wurden geweckt. Da ward der Jammer von seinen Verwandten nnd Freunden so groß, daß der Saal nnd der Palast und die Stadt Worms von Wehklagen laut erhallten. Im Münster zu Worms wurde der Held mit großer Pracht begraben. Tranrig kehrte König Siegmuud uach Xanten znrück, Kriemhilde aber blieb da, wo ihr Siegfried bestattet war. Dreizehn Jahre lebte sie in der Stille in Worms, Tag und Nacht ans Rache sinnend, ohne ihren Bruder Guuther eines Wortes, ohne Hagen eines Blickes zu würdigen.
Zur Versöhnung der Schwester ließen die Brüder den großen Schatz, den Hort der Nibelungen, nach Worms bringen und der Schwester zur freien Benutzung ausliefern. Weil aber der mißtrauische Hageu fürchtete, daß Kriemhilde mit dem Schatz ein Heer anwerben möchte, so bemächtigte er sich des Schatzes und ließ ihn zwischen Lorsch nnd Worms in den Rhein senken. Dort ruht er bis auf den heutigen Tag.
Seitdem auf diese Weise der Hort der Nibelungen in die Gewalt der Burgunder gelangt war, werden letztere meist selbst Nibelungen genannt.
Aber durch den neuen Frevel wird Kriemhilde noch mehr zur Rache entflammt. Immer nur darauf sinnend, wie sie den Mörder Siegfrieds und den Räuber des Nibelungenhorts bestrafen könne, reicht sie, voll von Rachegedanken, dem Hunnenkönig Etzel ihre Hand. Sie ladet alle Burgunder ein zur Feier eines Festes nach Hunnenland zu kommen. Trotz der Warnung Hagens, der die Absicht der Königin merkte, leisten Günther und seine lmrgundischen Mannen der Einladung folge. Aber
Gudrun.
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beim Festmahl entsteht ein Kampf, in welchem alle untergehen. Gernot, Giselher, Günther fallen mit ihren Männern in Etzels Palast, nachdem sie viele Krieger desselben, sowie die Helden Dietrichs von Bern, der bei Etzel weilt, erschlagen haben. Hagen fällt zuletzt durch Kriemhildens Hand, die ihm, weil er das Geheimnis des Hortes nicht verraten will, mit Siegfrieds Schwert das Haupt abschlägt. Darüber ergrimmt Dietrichs Dienstmann, der alte Hildebraud, und tötete auch sie.
Die da sterben sollten, lagen alle umher;
Zn Stücke lag verhauen die Königstochter sehr,
Dietrich und Etzel huben zu weinen an
Und jämmerlich zu klagen mancher Freund und Unterthan.
Da waren auch die Stolzesten erlegen vor dem Tod,
Es hatten alle Leute Jammer und Herzensnot.
Mit Leide war beendet des Königs Lustbarkeit,
Wie die Liebe Leiden stets am letzten Ende beut.
Ich kann euch nicht bescheiden, was seitdem geschah,
Als daß man Frauen und Ritter immer weinen sah,
Dazu die ebelen Knechte, um lieber Freunde Tod,
Hie hat die Mär ein Ende, das ist der Nibelungen Not.
Mit diesen Worten endet unser Nationalepos, das Nibelungenlied, das den herrlichsten epischen Dichtungen der Völker des klassischen Altertums würdig zur Seite steht.
Sudrun.
TDie Silbe für Settel von Segelingen gewonnen ward.
(Nach Osterwald, Erzählungen aus der alten deutschen Welt.)
Hogert, der gewaltige König von Irland, hatte eine Tochter, welche nach ihrer Mutter Hilde genannt wurde. — Und sie wuchs im Laufe der Jahre so heran, daß sie noch schöner wurde als ihre schöne Mutter, -und der Ruf von der wunderbaren Schönheit der jungen Hilde von Irland ging aus in alle Welt und lockte viele reiche und edle Fürsten, sich um ihre Hand zu bewerben.
Aber Hagen gönnte sie keinem Manne, sondern fuhr jeden Werber mit zornigen Worten an. Niemand, sagte er, solle seine Tochter erhalten, der ihm nicht selbst an Macht und Stärke überlegen wäre.
Der Ruf vou Hildens Schönheit war auch zu dem deutschen Könige Hettel von Hegelingen gedrungen, der in den Landen an der Nordsee Herr der Friesen zn Wasser und zu Lande war. Und da er noch unvermählt war und die schöne Hilde von Irland für würdig hielt, neben ihm auf
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Deutsche Heldensagen.
dem Throne zu sitzen, berief er seine drei mächtigsten Lehnsträger, den sangeskundigen Horand, seinen Neffen, den starken Wate von Stormarn und den reichen Frute von Dänemark, und forderte sie auf, mit einem reichen Gefolge nach Irland zu fahren uud für ihn um die Hand der schönen Hilde zu werben.
Dazu waren die drei Helden bereit. Da sie aber die große Gefahr kannten, die mit solcher Werbung verbunden war, so beschlossen sie unter der Maske vou Landflüchtigen zu reisen, gleich als hätte sie der Zorn des Königs Hettel aus ihrer Heimat vertrieben; ihre Schiffe aber wollten sie mit reichen (Schätzen und Kausmaunsgüteru aller Art befrachten und in den unteren Schiffsräumen hundert wohlgesittete tapfere Helden verbergen, die ihnen, wenn es not wäre, beistehen tonnten.
Hettel billigte ihren Plan, und als alles zur Abreise bereit war, nahmen die guten Helden Abschied von ihrem Könige, stachen in See und kanten nach einer langen und schweren Fahrt glücklich an den Strand von Irland vor die Feste Balian, in der Hagen seinen Königssitz hatte.
Als sie ans Land gestiegen waren, glaubte man ihrer Aussage, daß sie Vertriebene wären, obgleich sie gar nicht darnach aussahen, daß sie sich leicht vou einem anderen vertreiben ließen. Allein sie stimmten von der gewaltigen Macht des Königs Hettel ein so langes und breites Lied au, daß man keinen Zweifel in ihre Rede setzte, sondern sie ruhig gewähren ließ, als sie am Strande ihre Zelte und Buden aufzuschlagen begannen.
Frute von Dänemark spielte nämlich den reichen Kansherrn und ließ in seinen Buden, vor denen er behäbig aus und ab ging, die kostbarsten Kleinodien und die seltensten Warengiiter; auslegen, über welche die in Scharen herznströmenden Einwohner der Stadt uni so mehr staunten, je billiger er sie verkaufte; ja zum großen Teil verschenkte er sie ganz umsonst. Vor allen Dingen aber hatte er dem König des Landes eine große Anzahl der kostbarsten Geschenke übersendet und ihn um seine Hnld und seinen Schutz wider ihren Verfolger, den mächtigen König Hettel von Hegelingen, gebeten.
In der ganzen Stadt wurde von nichts gesprochen als von den reichen Fremdlingen; der König kam selbst an den Strand und fand großes Gefallen an ihnen, namentlich au dem vielerfahrenen Frute und an dem alten Wate, dem das Haupt in vielen Kämpfen ergraut war, und der sich den ellenbreiten Bart mit vielen schönen Silberborten dnrchslochten hatte und ans seinen blitzenden Angen doch überaus klug und verständig und wiederum eben so gutmütig zu blicken verstand.
Gudrun.
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So konnte es nicht fehlen, daß anch die beiden Königinnen, die alte wie die junge Hilde, von den Fremden hörten und neugierig wurden, sie zu sehen. Darum baten sie den König, die Helden zu Hofe tommen zu lassen, und Hagen erfüllte ihre Bitte und lud die guten Helden ein, daß auch die Frauen sie sehen und sich von ihnen erzählen lassen könnten, wie es iu andern Ländern der Welt zuginge.
Und die Frauen des Hofes fanden großes Gefallen an den Erzählungen; Hagen aber schloß den alten Wate ganz besonders ins Herz und fragte ihn, ob in seiner Heimat auch die Sitte des Zweikampfes nach allen Regeln der Kunst bekannt sei.
Da stellte sich der alte schlaue Graubart, als verstände er von solchen Dingen gar nichts; meinte aber, wenn es ihm einer zeigen wollte, so würde er sich mit der Zeit ja wohl auch noch in die Sache finden können.
Das war dem Könige eben recht, und so lud er den alten Recken zu einem kunstgerechten Waffengange ein, zeigte ihm, wie man sich stellen und auslegen, die Hiebe ansteilen und sich decken müßte, und was sonst noch zu einem regelrechten Fechten gehört; mit) Wate hörte geduldig zu, als wenn ihm das alles völlig neu wäre, that auch ein paar ungeschickte Hiebe, über die der König herzlich lachen mußte, und machte dadurch seinen Lehrmeister nur um so sicherer in dem Glauben, daß er es mit einem völligen Neulinge in der Fechtkunst zn thun hätte.
Aber sobald es zu einem wirklichen Waffengange zwischen den beiden gekommen war, schienen ihre Rollen immer mehr umgetauscht zu werden; denn der alte Wate wußte sich eben so gut zu decken als Hiebe auszuteilen, und machte so kecke und dabei doch so kunstgerechte Ausfälle, daß der König, nachdem er durch den ganzen Saal getrieben war, endlich halb lachend, halb keuchend ausrief: „Laßt es gut sein, Herr Gran-bart; denn ich sehe nun wohl, ich kann mehr von euch lernen, als ihr von mir".
Doch gewann Hagen den Alten nur um so lieber und so stand denn die Sache der Hegelingen am irischen Königshofe gar nicht übel; aber in ihrem eigentlichen Vorhaben wären sie doch nicht sonderlich vorwärts gekommen, wenn nun nicht auch Horand seine Künste gezeigt hätte.
Es war aber Horand ein Sänger, der ans Erden seinesgleichen nicht hatte, und wer ihn hörte, der glaubte in eine Welt entrückt zu sein, in der ein ewiger Lenz die Herzen mit seliger Jugendlnst erfüllte, und holder Friede durch die Kette aller erschaffenen Wesen erklänge.
Voll süßen Entzückens horchten die Iren dem lieblichen Sänger zu,
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Deutsche Heldensagen.
wenn er seine wunderbaren Weisen erklingen ließ, und seine andächtigste Zuhörerin war die junge Hilde. Tag und Nacht hätte sie au ihrem Erkerfenster sitzen können, um im Anhören der süßen Lieder Horands sich und die Welt zu vergessen.
Darum ging sie, als Horand eine Zeit lang nicht gesnngen hatte, zum Könige, umfaßte schmeichelnd sein Kinn und sagte: „Lieb Väterchen, heiß' doch den lieblichen Sänger uns noch mehr singen".
Aber Hagen zuckte die Achseln. „Mir selbst", sagte er, „könnte
nichts Lieberes geschehen, als wenn der wunderbare Sänger alle Abende vor dir sänge; aber diese Fremdlinge sind gar Hochfürtiger Natur und wollen nichts anderes thun als aus freien Stücken".
Nun schickte die junge Königin heimlich zu Horand und ließ ihn
bitten, zu ihr zu kommen. Da ging Horand mit einem Edlen seines
Gefolges zur schönen Hilde, von dem Kämmerling geführt, den sie geschickt hatte, uud sang ihr auf ihre Bitten seine schönsten Weisen vor.
Als er geendet hatte, dankte sie ihm züchtig und gab ihm zum Lohne einen goldenen Ring von ihrem Finger und andere kostbare Geschenke.
Aber Horand behielt nichts davon als einen Gürtel, den er, wie er sagte, seinem Herrn bringen wollte.
„Wer ist denn dein Herr?" fragte sie rasch. „Wie heißt er? Trägt er eine Krone und herrscht er über ein eigenes Reich?"
Da sah sich Horand vorsichtig um und flüsterte ihr zu, seiu Herr heiße Hettel und sei der mächtigste König, und in seinem Aufträge sei er mit seinen Freunden gekommen.
„Vernimm", sagte er, „mein Herr entbietet dir, daß sein Herz von inniger Liebe zu dir erfüllt ist, und daß er die ganze Hoffnung seines Lebens einzig auf dich gestellt hat. Nun, junge Herrin, zeige auch du ihm zum Dank dafür deine volle Huld und Güte."
„Wenn ich fein Herz gewonnen habe", fagie Hilde, „so möge Gott es ihm lohnen; und weuu er mir ebenbürtig ist, so könnte ich ihn wohl zum Manne nehmen, wenn du mir nur alle Abende uud Morgen deine süßen Lieder singen wolltest."
Das versprach Horand gern und sagte, an Hettels Hofe lebten zwölf Meister, die es in der Sangeskunst weiter brächten als er, aber noch viel schöner als sie alle singe sein Herr, der König, selbst.
Da erklärte Hilde halb noch von Horands süßem Gesänge bethört und halb aus mädchenhafter Lust au dem ungewohnten Abenteuer, sie wolle einem solchen Könige gern seine Liebe lohnen und seinen Boten folgen, wenn sie nur vor ihrem Vater dürfte.
Gudrun.
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Da riet ihr Horand, sie solle nur ihren Vater um Erlaubnis Bitten, mit ihm und ihrer Mutter das Innere der fremden Schiffe zu besehen, da sie gehört hätte, daß die Gäste das Land wieder verlassen wollten; für alles andere wollten dann er und seine Freunde schon sorgen.
Hilde willigte ein, und Horand beurlaubte sich mit seinem Begleiter bei ihr, ging hocherfreut zu den Freunden und teilte ihnen mit, was er ausgerichtet hätte. Auch sie freuten sich darüber und billigten den Plan, den er mit der schönen Hilde verabredet hatte.
Daraus rüsteten sie alles zur Abreise und gingen dann zu Hofe, um Urlaub vom Könige zu begehren. Hagen war sehr betrübt, als er ihre Absicht vernahm; da sie aber aus ihrem Vorsatz beharrten, erteilte er ihnen den erwünschten Urlaub und wollte sie reich beschenken.
Aber sie nahmen nichts an, und Wate sagte: „Mehr als mit den reichsten Geschenken könnt ihr uns ehren, Herr König, wenn ihr auf unsere Schiffe kommt und unsere reichen Vorräte schauet unb zugleich eure Gemahlin und Tochter mitbringt, damit auch sie sehen können, wie es im Innern unsrer Schiffe aussieht. Das würde uns für unser ganzes Leben eine schöne Erinnerung bleiben und eine Ehre sondergleichen sein".
Das sagte Hagen zu, und hocherfreut gingen die kühnen Recken wieder au den Strand und ließen auf Frutes Rat vieles von den Vorräten aus den Schiffen aufs Land bringen, damit die Schiffe leichter und zur schleunigen Abfahrt bequemer würden.
Am nächsten Morgen kam Hagen mit feiner Gemahlin und Tochter und mit einem reichen Gefolge von Männern unb Frauen an ben Straub. Freuublich empfingen bie kühnen Recken ihre Gäste, führten sie auf bie Schiffe unb zeigten ihnen alle Kostbarkeiten. Sobalb aber der König auf ein kleineres Boot gegangen war, um beffen Einrichtungen kennen zu lernen, wußte Wate es so einzurichten, baß bie Frauen getrennt unb bie Anker gelichtet würben, unb ehe Hagen sich bes Dinges versehen konnte, fuhren bie kühnen Helben mit ber schönen Hilde davon.
Der betrogene Hagen eilte den Flüchtigen mit einem feiner Schiffe nach unb erreichte sie, als sie eben ans Land gestiegen waren. Es kam
zu einem harten Kampf. Allein bald folgte Versöhnung und fröhliche
Hochzeit, nachdem Hagen erkannt, daß nicht Räuber feine Gudrun geraubt hätten, sondern ein tapferer, mächtiger König sie zum Weibe be-
gehre. Hilde wurde Hettels glückliche Gemahlin.
Hettel und Hilde hatten zwei Kinder, Ortwin und Gudrun. Ort-Win wuchs unter des alten Wate Zucht zum Ritter heran; Gubrun aber erblühte zu einer Jungfrau von wunberbarer Schönheit. Um sie
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Deutsche Heldensagen.
warb Hartmut, der junge Normauneuköuig, Ludwigs Sohn, aber er wurde, wie andere Freier, von Hettel aus alter Feindschaft der Geschlechter abgewiesen. Darauf kam Herwig, der König von Seeland, und erkämpfte sich dnrch Heldenmut die Liebe der holden Maid; doch wurde die Hochzeit noch um ein Jahr aufgeschoben.
Bald darauf unternahmen Hettel und Herwig einen Kriegszug in ein fernes Land. Während ihrer Abwesenheit kam der verschmähte Hartmut uud führte Gudrun mit vielen Frauen uud Jungfrauen, unter letzteren die treue Hildburg, von dannen.
Sofort machten Hettel und Herwig mit ihren Feinden Frieden und setzten den Räubern nach. Anf dem Wnlpensande, einer Nordseeinsel, kam es zu einem furchtbaren Kampfe; bis unter die Arme im Wasser, stehend, fochten die Helden, und am Strande des Eilandes ward die Meeresflut vom Blute rot. Hettel fiel von Lndwigs Hand; doch Wate rächte seines Königs Tod nnd viele Normannen fielen unter seinen Streichen. Erst die anbrechende Nacht trennte den heißen Kamps. Aber während derselben entflohen die Normannen mit den geraubten Mädchen; der Königstochter uud ihren Gespielinnen wurde augenblicklicher Tod gedroht, wenn sie einen Hilferuf hören ließen. Trauernd kehrten Herwig und Wate — alle anderen waren erschlagen — nach Hause zurück. Gudrun dagegen ward von den Feinden auf Hartmuts festes Schloß entführt. Unterwegs suchte der alte König sie feinem Sohne geneigt zu machen; da sie sich jedoch kalt von ihm abwandte, ergriff er sie bei ihren schönen, blonden Flechten und schlenderte sie in den See; kaum rettete sie Hartwig noch. Da Gudrun, ihrem Verlobten treu, sich hartnäckig weigerte, Hartmut zu heiraten, mußte sie vvu dessen Mutter Gerlinde die härtesten Mißhandlungen erduldeu und dreizehn Jahre lang in Gemeinschaft mit der treuen Hildburg als Magd die niedrigsten Dienste verrichten. Endlich kam die Stunde der Erlösung.
Die Hegelingen hatten sich ausgemacht, die geraubte Königstochter in die Heimat zurückzuführen, und an demselben Tage, an welchem sie an dem Strande der Normandie gelandet waren, war auch Gudrun mit der treuen Hildburg au den Meeresstrand gegangen, um ihre harte Tagesarbeit, das Waschen der Gewänder, zu verrichten. Da kam auf den Wellen des Meeres ein Schwan zu ihnen geschwommen von wunderbar schönem Glanze. Er war Gndruu ein Bote des Frühlings, und bei seinem Anblick regte sich in ihrem Herzen die Ahnung der Freude, die die Sorge weudet und alles Leid mit sieghafter Gewalt bezwingt. Sie gedachte des Frühlings, sie gedachte des Glückes ihrer Kindheit,
Gudrun.
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ihrer Heimat und ihrer Lieben daheim und so redete sie den schönen Vogel an, der ihr die fröhliche Ahnnng geweckt hatte. Da begab sich das liebliche Frühlingswunder, daß der Schwan der herrlichen Jungfrau zu antworten begann, gleich als wäre er ein Mensch. „Gudrun", sprach er, „edle Jungfrau, ich bin dir ein Bote, von Gottes Güte gesandt, und wenn du mich fragen willst, so gebe ich dir frohe Kunde von deinen Freunden. Hoffe auf das Glück, du arme Heimatlose, das dir widerfahren wird. Frage mich nur uach dem Lande deiner Jugend; denn ich bin dir ein Bote der Deinen, den Gott dir zum Troste an diesen Strand gesendet hat." Da fiel Gudrun nieder auf ihre Kniee und dankte Gott für die Freude, die er ihr ankündigte und sagte zu dem wunderbaren Vogel: „Bist du uns armen Heimatlosen zum Troste in dieses Land von Gott geschickt, so lasse mich hören, guter Bote, ob Hilde noch am Leben ist, die Mutter der armen Gndruu". Da antwortete der wunderbare Bote: „Deine Mutter Hilde sah ich vor Tagen gesund und heil, als sie ein großes Heer dir zu Hilfe sandte".
Weiter erkundigte sich Gudrun nach dem Bruder Ortwiu und Herwig, ihrem Verlobten. Als sie hörte, daß auch diese wohlauf feien und bald zu ihrer Rettung erscheine« würden, jubelte sie laut. Auch von anderen Helden, wie von Horand, Wate und Frute vernahm Gudrun glückverheißende Kunde. Der Vogel schied von ihr mit der frohen Botschaft: Freude nahet dir, Gudrun, denn morgen in der Frühe kommen dir zwei wahrheitverkündende Boten, deren Worten du trauen darfst.
(Subruns letzte Prüfung und wiedersehen.
(Nach Osterwald, Erzählungen aus der alten deutschen Welt.)
Gudrun konnte kaum den Anbruch des folgenden Tages erwarten; denn sie dachte die ganze Nacht hindurch an die Botschaft, die ihr der wunderbare Vogel, der Gottesbote, verkündigt hatte. Kaum begann der Tag zu grauen, so erhob sich Hildburg und schritt ans Fenster. Da war die Gegend weiß bedeckt von frisch gefallenem Schnee — und doch sollten die Armen hinaus an den rauhen Meeresstrand. „Gott stehe uns bei", sagte sie, „wenn wir in diesem Wetter barfuß hinaus gehen müssen zum Waschen, so fürchte ich, daß wir noch vor Abend tot am Strande liegen." Nur der Gedanke, daß sie heute noch die Boten Hildens sehen sollten, hielt die Unglücklichen aufrecht. Gudrun aber rebete ihrer Freundin Hildburg zu, zur bösen Gerlinde zu gehen uud sie um Erlaubnis zu bitten, daß sie Schuhe anziehen dürften. Wohl fürchtete sich Hildburg vor diesem Gange, denn Gerlinde schlief noch in
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Deutsche Heldensagen.
ihrer Kammer, und es war ein schlimmes Wagestück die alte Teufelin zu wecken; doch trieb sie die Angst vor der Kälte und so faßten sich die beiden Mädchen ein Herz und gingen vor das Bett Gerlindeus uud brachten ihre Bitte an. Gerlinde horte sie halb im Schlafe und fuhr sie an: „Was geht ihr nicht an den Strand, ihr faulen Mägde, und waschet meine Kleider?" Hildburg antwortete: „Es ist in der Nacht ein tiefer Schnee gefallen, und wenn wir nicht mit Schuhen hinausgehen dürfen, fo müssen wir beide eines jämmerlichen Todes sterben". „Nichts da von Schnhen", antwortete die teuflische Wölfin, „ihr müßt barfuß hinaus und wenn ihr nicht fleißig wascht, so wißt ihr, was euch erwartet. Solltet ihr aber erfrieren, so ist an eurem Tode nichts gelegen." Weinend nahmen die armen Königstöchter die Kleider und gingen fort. „Gebe Gott", rief Gudrun der Teufelin zu, „daß Ihr nicht an diese Grausamkeit zurückdenken müßt." Darauf liefen sie mit bloßen Füßen durch den Schnee an den Strand und wuschen die Kleider, daß ihnen die schönen Glieder vor Frost und Kälte zitterten. Oftmals aber schickten sie Blicke auf die Flut vor sich, ob nicht die Boten nahten, welche Hilde ausgesendet hatte, um sie auszusuchen.
Nach langem Harren und Warten sah Hildburg auf dem Meere zwei Männer in einer Barke kommen. „Gndrun", sagte sie, „siehst du die beiden Männer, die auf uns zurudern? Sollten es wohl die Boten deiner Mutter sein?" Da klagte Gudrun: „Wehe mir Armen, daß mir alles Jammer schaffen muß, möge es nun Frende oder Leid sein. Denn wenn diese Männer Hildens Boten sind, so könnte ich nimmer die Schande überwinden, daß sie mich an dem Meeresstrande sollten waschen sehen. Was soll ich thun? Rate mir, liebe Hildburg, soll ich fliehen oder mich treffen lassen in schmachvoller Erniedrigung?" Hildburg antwortete: „In so hohen Dingen begehre nicht meinen Rat; was du auch thun wirst, ich folge dir und bleibe bei dir, es möge dir übel oder gut ergehen". Da machte sich Gudrun auf und floh davon, und Hildburg folgte ihr eilends nach. Doch waren die beiden Männer bereits fo nahe, daß sie der Frauen inne wurden und sahen, daß sie von ihren Kleidern flohen. Rasch sprangen sie aus der Barke, riefen den fliehenden Mädchen nach: „Ihr schönen Wäscherinnen, warum fliehet ihr doch? Fremde Leute sind wir, und wenn ihr den Strand verlasset, so werdet ihr die kostbaren Kleider verlieren". Erst nach Herwigs Vertrauen erweckendem Zureden kehrten die beiden Mädchen um. Ortwin aber sprach: „Nun lasset uns hören, gute Jungfrauen, wem diese kostbaren Kleider auf dem Strande gehören, oder in wessen Dienste ihr waschet. Möge es Gott
Gudrun.
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dein übel vergelten, der euch zu so harter Arbeit zwingt; denn ihr beide seid so schön, daß ihr wohl würdig wäret, eine Krone zu tragen und über die Länder eines reichen Königs mit Ehren zu herrschen."
Traurig antwortete Gudrun: „Ach, fragt uus nicht zu viel und haltet uns nicht zurück; beim sieht unsere Herrin von der Zinne uns mit euch sprechen, so möchte uns schlimm vergolten werden". Während der Gespräche, die nun zwischen Ortwin und Gudrun stattfanden, hatte Herwig oftmals die herrliche Jungfran forschend angesehen, und als er ihre schöne Gestalt und ihre seinen Züge sah, seufzte er von Herzen; denn sie erinnerte ihn lebhaft an bie eine, an bie er oft in treuer Liebe bachte. Wieber fragte Ortwin: „Sollte euch nicht ein frembes Ingesinde bekannt sein, das in dieses Land gebracht ist, darunter eine war mit Namen Gudruu?" „Wohl habe ich das erfahren", sagte die Liebliche, vor langer Zeit kam ein fremdes Gesinde hieher, das man nach einer starken Heerfahrt in dieses Land brachte. Wohl habe ich auch gesehen, wie großer Jammer das Antlitz ber geraubten Frauen bleichte, uitb ich kenne bie Gubrun, nach welcher ihr fragt, nnb habe sie nicht selten in großer Drangsal erblickt." Als Gubrun bas gesagt hatte, sprach Herwig zu seinem Gefährten: „Sieh', Ortwin, wenn deine Schwester Gudrun noch in irgend einem Lande der Erde leben sollte, so wollte ich schwören, daß diese es sei; denn nie sah ich ein Weib, das ihr so gleich wäre von Antlitz und Gestalt". Ortwin antwortete: „Sie ist lieblich anzusehen, doch meiner Schwester kann sie sich nicht vergleichen; beim wohl gebenke ich an die Zeit, in der ich mich selbst überzeugen konnte, daß sie alle Jungfrauen der Welt an Liebreiz übertraf. Als Gudrun hörte, baß Herwig seinen jungen kühnen Gefährten mit bem Namen Ortwin an-rebete, sah sie ihn an, unb bas Herz schlug ihr höher bei bem Gebanken, daß der junge Held ihr Bruder sein könnte. Daher wandte sie sich
wieder an die beiden und sagte zu dem Könige von Seeland: „Wie Ihr
auch heißen möget, Ihr seid untadelig und gleichet wunderbar einem, den ich vordem kannte, der war Herwig geheißen und König von Seeland. Wahrlich, wenn er noch am Leben wäre, so könnte ich armes Mädchen hoffen, aus meinen Banden erlöst zu werden. Denn ich bin auch eine von denen, die von dem Heere Hartnmts im Streite gefangen
und über das Meer hieher geführt sind. Wenn Ihr aber'Gudrun suchet,
Hildens edle Tochter, so ist Eure Mühe vergeblich, denn das große Leid, das sie erdulden mußte, hat sie in den Tod gebracht". Als Ortwin das hörte, thränten ihm seine lichten Augen, und er weinte mit Herwig zusammen über die traurige Kunde, die sie vernommen hatten. Gudrun
Abicht, Lesebuch. II. g
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aber sprach weiter: „Ihr benehmt euch also bei dieser Trauerbotschaft, ihr guten Helden, als wäre euch die edle Gudrun verwandt". Da sprach der König Herwig: „Wohl traure ich um die Jungfrau, die mein Weib gewesen ist auf alle Lebenszeit, denn als solche war sie mir mit treuen und festen Eiden zugeschworen, nun aber ist sie mir durch den bösen Rat des alten Ludwig entrissen und verloren". „Ihr wollt mich betrügen", sagte Gudrun, „denn oft hat man mir vom Tode Herwigs erzählt. Ich sollte in ihm die höchste Freude auf Erden erwerben; lebte er noch, so hätte er mich längst von hinnen geführt." Herwig streckte der Jungfrau seine Hand hin. „Seht", sagte er, „ob Ihr das Gold erkennet; mein Name ist Herwig, und mit diesem Malschatz ward mir Gudrun versprochen. Seid Ihr beim meine Gattin, wohlan, so führe ich Euch iu treuer Liebe von hinnen." Als Gudrun nach der Hand und dem Ringlein schaute, sah sie in dem Golde den edlen arabischen Stein, den kostbarsten, den irgend jemand gesehen hatte, sie hatte ihn selbst vor Zeiten an ihrer Hand getragen. Als sie ihn erkannte, lächelte sie vor Wonne und sprach: „Wohl erkenne ich das Gold, das ich vor Zeiten mein nannte. Nun sollt Ihr auch das sehen, was mir mein Geliebter schickte, als ich armes Mädchen noch mit Freuden im Lande meines Vaters wohnte". Da blickte Herwig nach ihrer Hand und erkannte den Ring und sprach zu ihr: „Ja, du bist wahrlich aus fürstlichem Blute geboren, wie mein Herz mir sogleich sagte, als ich dich wieder erblickte, und nach langem Leid und bösen Tagen sehe ich nun wieder Freude und Wonne".
Da umschloß er die herrliche Jungfrau mit feinen Armen unb herzte sie unb bie treue Hilbbnrg, bie er nun auch wieder kannte, aufs innigste.
Nun hätte Herwig ant liebsten Gudrun gleich mit sich genommen, aber dem trat Ortwin entgegen, da er zugleich auch die übrigen Gefangenen befreien wollte und es für unrühmlich hielt, Gudrun heimlich zu entführen. Noch einmal mußten die Verlobten, so schwer es ihnen wurde, sich von einander trennen. Doch versprachen die beiden Helden schon am anderen Morgen mit einem Heere wiederzukommen und Gudrun samt allen übrigen Gefangenen aus der Knechtschaft zu befreien.
Im Frohlocken über die nahende Hilfe warf Gudrun Gerlindens Linnen, statt es zu waschen, ins Meer. Wütend wollte für solchen Frevel die Alte sie mit Schlägen bestrafen; da erklärte sie sich zum Scheine bereit, Hartmut ihre Hand zu reichen. Damit wandelte sich auf einmal der Sturm in Sonnenschein, der Haß in Huld, und alles geschah von Stund an ber edlen, frommen Dulderin zu Liebe und Gefallen.
Arminius, der Befreier Deutschlands.
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Aber in der Frühe des andern Morgens waren die wackern Freunde mit ihren Meerschiffen schon da und vor der Burg; es hob ein heißer Kampf au. Unter Herwigs Streichen fiel König Ludwig, Hartmut ward gefangen und Gerlinde starb trotz Gndruus hochherziger Fürsprache durch des grimmen Wate Schwert. Hatte sie doch noch eine Stunde zuvor einen treulosen Knecht gedungen, welcher der Armen das Schwert ins Herz stoßen sollte, und nur Hartmuts Drohen hatte dem Frevel gewehrt.
Damit war die blutige Arbeit der Rache gethan. Nun gings an ein Grüßen und Danken und Fragen und Sagen und Freuen und Jubeln. Der herrlichen, jetzt hochbeglückten Gndrnn Sinnen und Sorgen aber stand dahin, wiederum Friede und Sühne zu stiften zwischen den Völkern und Fürsten. Sie wußte es zu erreichen, daß an demselben Tage, an welchem ihre Vermahlung mit Herwig stattfand, eine dreifache Hochzeit gefeiert wurde. Gndruus Bruder Ortwin hatte sich Hartmuts Schwester Ortrun zur Gemahlin erkoren, während Hartmut selbst Hildburg, die treue Leidensgefährtin Gndrnns, heimführte.
Arminius, der Befreier Deutschlands.
(Die Freiheitsschlacht im Teutoburger Walde, 9 n. Chr.)
Noch unter der Regierung des römischen Kaisers Augustus hatte der Kampf mit den Germanen begonnen, einem Volke, das dazu berufen war, das römische Weltreich zu zertrümmern, neue christliche Staaten zu gründen und der Träger einer neuen, vom Christentum durchdrungenen Bildung zu werden. Schon ein Jahrhundert vor Augustus hatten einige Stämme dieses Volkes, die Kimbern und Teutonen, die Römerwelt zittern gemacht. Damals befreite der berühmte Feldherr Marius den römischen Staat von dem „kimbrifchen Schrecken". Auch Cäfar hatte, als er Gallien unterwarf, mehrfach mit den benachbarten germanischen Völkerstämmen gekämpft und selbst zweimal germanisches Gebiet auf dem rechten Rheinufer betreten. Seitdem war der Rheinstrom als Grenze gegen die Germanen festgehalten. Da sie aber öfter in das römische Gebiet einfielen, so erachtete Augustus die Unterwerfung Deutschlands für die Sicherheit des römischen Reichs als notwendig. Er sandte seinen Stiefsohn Drusus mit einem starken Heere über den Rhein, der in mehreren Feldzügen die deutschen Völkerschaften zwischen Rhein und Weser siegreich unterwarf. Auf dem vierten Zuge gelangte er bis zur Elbe. Als er schon im Begriff stand, diesen Fluß zu überschreiten, soll ihn eine germanische Wole (d. i. Seherin), die auf dem jenseitigen Ufer stand, au weiterem Vorschreiten durch die Worte zurückgeschreckt haben:
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Arminius, der Befreier Deutschlands.
„Wohin, Unersättlicher? Nicht alles zu schauen hat dir das Schicksal beschieden. Weiche zurück, denn schon bist du am Ziele deiner Thaten und Tage". Auf dem Rückzug stürzte Drusus vom Pferd und starb an den Folgen eines Schenkelbruchs.
Nach seinem Tode übernahm sein Bruder Tiberius den Oberbefehl gegen die Deutschen. Ihm gelang es weniger durch Tapferkeit als durch Arglist und Tücke das nordwestliche Deutschland vom Rhein bis zum Unterlauf der Elbe zu unterwerfen und schon schienen sich die Deutschen dem römischen Joch fügen zu wollen, welches ihnen die römischen Statthalter durch milde Behandlung annehmlich zu machen suchten. Eine Zeitlang bestand zwischen beiden Völkern ein freundschaftliches Verhältnis und mehrere deutsche Fürsten traten sogar in römische Kriegsdienste und wurden dafür mit Würden und Ehrenstellen belohnt.
Ganz anders gestalteten sich die Dinge, als Kaiser Angnstus den Qnintilins Varns als Statthalter nach Germanien sandte, einen übermütigen und hochfahrenden Mann, der die Deutschen mit einem Male zu Römern umgestalten wollte.
Der saß unter den Germanen zu Gericht, als wäre es auf dem römischen Marktplatze gewesen, und richtete die Männer in einer Sprache, die sie nicht verstanden, und nach Gesetzen, die sie nicht kannten, und die nicht für sie paßten. Da ergrimmten die Männer und sahen sich nach einem Manne um, der sie anführen könnte, und die Völkerschaften thaten sich zusammen, damit sie widerstehen könnten. Und Gott wollte nicht, daß die Germanen Knechte werden sollten, und er hatte einen Jüngling erweckt unter ihnen, der sie erlösen sollte, und dieser Jüngling hieß Arminius oder Hermann.
Es war aber Arminius ein Fürst ans dem Volke der Cherusker, welche in dem Lande zwischen dem Harz und der Weser wohnten, und er hatte einen hohen und sühnen Mut und verstand auch den Krieg, wie die Römer ihn führten; denn er war als Kriegsmann unter ihnen gewesen und Freund und Ritter genannt worden von ihnen, und er war ein gewandter, geschickter und kluger Jüngling. Der ergrimmte in seinem Herzen, als er sah, wie sein freies Volk unterdrückt ward, und wie freie Männer, die nichts fürchteten als Gott, vor römischen Sachwaltern und Beilen zittern mußten. Und er entwich in bie Orte unb redete zu den Fürsten unb Ältesten, wie sie sich verbinden möchten und die Römer erschlagen und die Schmach der Knechtschaft abthun von ihrem Lande. Da traten sie zusammen unb ratschlagten unb schlossen eine Eibgenossenschaft auf Not unb Tob, unb alle hielten für gut, bie
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stolzen Römer durch erheuchelte Demut eiue Weile noch immer sicherer zu machen. Dies Vorhaben gelang ihnen. — In seinem Sommerlager an der Weser saß Varus, als er die Kunde erhielt, ein deutscher Stamm an ber Ems habe sich erhoben und alle Römer, die in seinen Marken wohnten, erschlagen. Also war's verabredet gewesen zwischen den Eidgenossen. Denn Armin, die Seele des Bundes, hatte zuvor bedacht, daß Varus in solchem Falle nicht säumen werde, mit aller Macht ins Feld zu ziehen. Und so kam's auch. Der Römer beschloß, ohne Verzug aufzubrechen und Rache zu nehmen. Stolzen Mutes zog er mit drei erprobten Legionen in die Berge an der Weser. Rasch bot Armin den Heerbann ans, und freubig hoben die Eidgenossen ihre Schwerter, die Freiheit zu rächen. Ans wohlbekannten kürzeren Wegen führte Armin sie hinter den Römern her und fiel plötzlich deren Nachhut au. Noch ahnte Varus nicht den Umfang der Gefahr und hielt für Übermut einzelner, was Plan und kluge Vorsicht war. Denn schwächen und zerbröckeln wollte Armin die römische Heeresmacht zuerst, um dann die Trümmer desto sicherer zermalmen zu können. Es kamen und schwanden die Rächer, wie Schatten der Nacht. Jetzt hier, jetzt dort fiel ein Römer im Engpasse. Die Toten zn zählen, die im Dunkel des Waldes verröchelten, vermochte Varus nicht. Da befahl er, geschlossenen Marsch zu halten; doch war's in der Wildnis unmöglich. Endlich neigte sich der Tag, und Varus gebot dem Heere, halt zu machen, sich zu verschanzen, so gut es ginge, und zu verbrennen, was von Gepäck überflüssig sei und im Zuge nur hindern könnte. Am andern Tage rückte das Heer, immer von den Deutschen umschwärmt, doch in besserer Ordnung, in einer Ebene weiter und kam in ein dicht bewaldetes, sumpfiges Thal. Da ward auf einmal jeder Bnfch lebendig; ans jeder Bergschlucht raschelte es wie von viel hundert Schlaugen empor, und die uralten Bäume schüttelten, wie sonst nach dem Wetter Regentropfen, jetzt Pfeile ohne Zahl auf die Römer herab. Der Himmel wollte auch nicht feiern und half den Deutschen mit Sturm und Regen. Von den Güssen unterwühlt, sank die deutsche Erde unter den Füßen des Römers ein; im losen Erdreich schwankend, vom Sturme gerüttelt, stürzten die deutschen Eichen über die Unterdrücker hin und zermalmten sie im Falle. Jetzt nahmen die Deutschen in Weidmannslust sich erst recht die fremden Eber aufs Korn, die ihnen die heilige Erde des Vaterlandes so lange ausgewühlt. Pfeil an Pfeil, Fall an Fall! Schritt für Schritt kämpft der Feind um den Boden, auf dem er steht, um den Weg, um jeden Stein, und kommt nicht eher zu Atem, als bis die Nacht hereinbricht.
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Da läßt Varus abermals Lager schlagen, und ermattet sinken die Römer hin; in jedem Augenblick scheucht der Deutschen Kriegsgeheul sie aus der kurzen Nachtruhe empor. Wie der dritte Tag sich lichtet, entdecken sie erst, wie licht es in ihren Reihen geworden. Mann an Mann geschlossen brechen sie auf und kommen anfs offene Land. Da sehen sie mit Grausen die ganze Macht aller Eidgenossen vor sich entfaltet. Ringsum Deutsche, nirgends, nirgends ein Ausweg! Für alle Tapferkeit ist nichts mehr feil als der Tod. Jauchzend stürzen die Eidgenossen in der verzweifelten Römer starre Reihen. „Die Freiheit! die Freiheit!" schallt's wie Donner des Himmels den Römern in die Ohren. Wie die Saat unter Hagelschlossen sinken die Tapfersten unter den deutschen Hieben hin. Armin selbst ist überall; hier ordnet er als Feldherr die Schlacht und ruft: „Drauf, Brüder, drauf!" Dort kämpft er mit der Kraft von zehn Männern, Stirn an Stirn; kein Eidgenosse, der nicht mit ihm um den Preis wetteifert! Des Feindes Scharen sind zersprengt, nur wenige wilde Haufen ragen noch aus dem Meere der Schlacht empor. Jetzt wird die Flucht allgemein; doch wer sich retten will, rennt wie blind grad recht in die Spieße der Deutschen. Da faßt den Barus Verzweiflung und um fein Unglück nicht als Schmach überleben zu müssen, stürzt er sich in fein Schwert. Nur wenige von dem ungeheuren Römerheere entrinnen glücklich nach der Feste Aliso, die meisten liegen aus dem Walplatze. — Wer in Gefangenschaft kam, ward entweder den Göttern zum Danke für die wieder errungene Freiheit geopfert, oder zu gemeinem Frondienste in die Gaue der Eidgenossen geschleppt. Am grausamsten rächte das Volk die lange erduldete Fremdherrschaft an den Sachwaltern und Schreibern, die ihm, statt des guten alten Rechts, das spitzfindige neue aufgedrängt.
Das war die große Schlacht im Teutoburger Walde, die geschlagen ward im neunten Jahre nach Christi Geburt. Als der Kaiser Augustus die Kunde erhielt, daß die drei Legionen gefallen, stieß er in Verzweiflung die Stirn an die Wand seines Palastes und rief aus: „O Varus, Varus, gieb mir meine Legionen wieder!" Ganz Rom war voll Entsetzens vor den Deutschen und glaubte mit jedem Tage, sie kämen in ungeheuren Heerscharen, wie einst die Kimbern und Teutonen, gen Welschland heran. Im Lande Gallien und am Rheine ward zur Notwehr gerüstet. Grundlose Furcht! Nicht 'an Eroberung dachten die Sieger; die teure Freiheit erlöst zu haben, war ihnen genug; stolz legten sie die Hände in den Schoß, als sie die Zwingburgen im Lande gebrochen hatten, als an dem Rhein kein Römer mehr zu schauen war.
lNach Dulle r.)
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Durch diesen Sieg wurde Deutschland für immer von der römischen Herrschaft frei; denn wenn auch die Römer noch einige Male über den Rhein vordrangen, um die Niederlage des Varus zu rächen, so schlug Arminius doch alle ihre Angriffe siegreich zurück und es gelang den Römern nicht, sich jenseits des Rheinslnsses zu behaupten.
Armins aber gedachte sein Volk lange in seinen Heldenliedern und von einer dankbaren Nachwelt wird er noch heute als der Befreier Deutschlands und als der Erhalter deutscher Sprache, Sitte und Art gepriesen.
Erst in unseren Tagen hat unser deutsches Volk dem Retter der deutschen Freiheit den geschuldeten Tribut der Dankbarkeit entrichtet. Zu Ehren Armins, der das Römerjoch gebrochen, ist auf der Groten-bnrg im Teutoburger Walde in der Nähe von Detmold das herrliche Hermannsdenkmal errichtet, das am 16. August 1875 in Gegenwart des deutschen Kaisers Wilhelm I. und des Kronprinzen Friedrich Wilhelm enthüllt wurde.
Nach Verlauf eines Jahrhunderts, als unter der verderblichen Regierung despotischer Kaiser der Verfall des römischen Reichs unaushaltsam hereinbrach, wurden die Deutschen der angreifende Teil und endlich wurde die ganze westliche Hälfte des römischen Reichs eine Beute der Deutschen.
Die nächste Veranlassung hiezu gab der Einbruch der Hunnen, eines asiatischen Volks, jenes weltgerichtliche Ereignis, das mit den Stößen eines lang fortbrausenden Sturmwindes den Fall des römischen Staatsbaus herbeiführen sollte, dessen scheinbarer Felsgrund zu Sand verwittert war.
Attila.
(Die Schlacht auf den katalaunischen Feldern bei Chalons, 451 n. Chr.)
Unter den deutschen Stämmen waren im 4. Jahrhundert die mächtigsten und gesittetesten die Ost- und Westgoten, die von der Ostsee bis an das schwarze Meer herrschten. Sie nahmen zuerst von allen Deutschen römische Bildung und das Christentum an; ja, der westgotische Bischof Ulsilas übersetzte schon die Bibel ins Deutsche. Da brachen aber um 375 aus den Steppen Asiens die ursprünglich in der Mongolei heimischen Hunnen hervor, ein wildes Hirtenvolk, das nur in Zelten zu wohnen pflegte und von Ort zu Ort wanderte, um Weide für sein Vieh zu suchen. Die Hunnen waren widerwärtig von Gestalt: klein, sehr breit-
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schulterig, kräftig an den Armen; dagegen waren ihre Beine, weil sie fast unablässig auf ihren kleinen Pferden saßen, krumm und schwach. Sie hatten eine gelbe Gesichtsfarbe und sehr dünnen Bart; die Augen waren klein und schräggeschlitzt. die Nase breitgedrückt, die Lippen dick und ausgeworfen, die Ohren abstehend, der Hals kurz und fleischig. Sie nährten sich von Wurzeln der Steppen und halbrohem Fleisch; Milch gab ihnen ihre Herde im Überfluß. Ihre Art zu kämpfen war wild und regellos; mit furchtbarem Geschrei überfielen sie den Feind, stoben aber sogleich wieder auseinander, um im nächsten Augenblick sich dahin zu werfen, wo sie eine Blöße bemerkten. Ihre abschreckende Häßlichkeit, ihre ungeheure Menge und die Geschicklichkeit, mit welcher sie ihre kleinen Pferde zu tummeln und Pfeil und Bogen zu handhaben wußten, flößte den tapfern Goten, die vorzugsweise mit dem Schwerte und zu Fuß kämpften, Furcht und Grauen ein. Sie vermochten daher ihnen nicht stand zu halten und warfen sich ihrerseits auf das immer mehr wankende römische Reich; der Westgotenkönig Alarich eroberte sogar im
Jahre 410 die Stadt Rom, die er drei Tage lang seinen Truppen zur
Plünderung preisgab. Die Hunnen aber ließen es sich einstweilen in
den von ihnen verlassenen Wohnsitzen am schwarzen Meere und in Süd-rnßland gefallen. Solange sie nur in vereinzelten Horden umherschweiften, waren sie für Europa nicht gefährlich; furchtbar aber wurden sie wieder, als der gewaltige Attila oder Etzel sie alle zu einem Reiche vereinigte und weiter nach Westen vordrang.
Dieser merkwürdige Mann, den die Römer mit Grauen die Gottesgeißel nannten, weil er gesandt zu sein schien, um das ganze Abendland zu züchtigen, stand in der ganzen Häßlichkeit seines Stammes dennoch als Gebieter unter den hochgewachsenen Kriegsfürsten der Deutschen. Seine Haltung war stolz und vornehm, aus seinem scharf umherspähenden Auge leuchtete ein verschlagener Geist, sein starker Wille machte manchen kühnen Helden erbeben. In dem heutigen Ungarn hielt er bald hier, bald da in hölzernen Hütten sein Hoflager; seine Umgebung führte vou der reichen Beute, welche die Hunnen allenthalben machten, ein schwelgerisches Leben, aber er selbst war in Tracht und im täglichen Genusse von altertümlicher Einfachheit. Wenn er Gäste empsiug, ließ er diesen leckere Gerichte ans silbernen Scheiben vorlegen, und sie tranken aus goldenen und silbernen Bechern; er selbst aber, der mongolischen Hirtensitte getreu, aß von seiner hölzernen Tafel nichts als Fleisch, und sein Trinkgesäß war von Holz. Gewöhnlich thronte er in erhobener Abgeschlossenheit, nur wenigen Vertranten war es erlaubt, ihn anzn-
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reden; sein Volk aber, das er von Sieg zu Sieg und von Raub zu Raub führte, verehrte ihn fast abgöttisch. Über seinen Getreuen waltete er gnadenvoll; höflich, freigebig, gastfrei, verstand er, aufs neue sie an sich zu fesseln. Ein halbe Million Krieger folgte seinem Ruf. Als Feldherr aber und Staatsmann war er rücksichtslos und kannte kein Erbarmen.
Seine wandernde Hofhaltung in der ungarischen Ebene war die größte, bunteste und reichste jener Zeit. Häuptlinge und Königskinder deutscher und slavischer Stämme bildeten neben den Fürsten der Hunnen und der stammverwandten Völker seinen Hofstaat. Unter der Leibwache, die im Ringe um den schön geschnitzten Zaun seines Hofes lag, dienten Männer ans fast allen Völkern zwischen Persien und den Pyrenäen; edle Gotenfürsten neigten ehrfurchtsvoll ihr Haupt vor seinem Befehl; Königskinder aus Thüringen und fränkischen Landen wurden als Geiseln an seinem Hofe erzogen neben Sprößlingen der Wanderstämme an der Wolga und der tatarischen Ebene; unterworfene Völker der Ostsee führten ihm Zobel- unb Otternfelle aus dem Eise des Nordens zu; Gesandte aus Rom und Konstantinopel harrten furchtsam am Hofthor, um seine Zornigen Befehle entgegenzunehmen oder ihm demütig kostbare Geschenke zu Füßen zn legen.
Nachdem er zuerst sich gegen Osten gewandt uud Griechenland verwüstet hatte, aber durch ein unermeßliches Lösegeld zum Abzüge bewogen war, zog er im Jahre 451 durch Deutschland nach Gallien (dem heutigen Frankreich), in dessen südlichem Teile inzwischen die Westgoten nach gewaltigen Wanderungen ein geordnetes Reich gegründet hatten. Deutschland ward auf diesem Durchzuge der Hunnen furchtbar verwüstet, wie ein Henschreckenfchwarm verheerten sie alles Land. Am Rheine warfen sich 10,000 Burgunder dem Weltstürmer Attila entgegen, aber vergeblich: im heldenmütigen Kampfe gingen sie ruhmvoll unter. Nun aber vereinigten sich die Westgoten und die Römer, um durch gemeinsame Anstrengung die Bildung des Abendlandes und das Christentum zu schützen. Der römische Feldherr Aetius und der Gotenkönig Theodorich brachten ein gewaltiges Heer zusammen und trafen in den weiten Ebenen von Ehalons an der Marne, wohin Attila sich gezogen hatte, um für feine zahllose Reiterei Raum zu gewinnen, mit dem Feinde zusammen. Dort sammelten sich die Völker des Morgenlandes und die Völker des Abendlandes und standen sich gegenüber in heißer Erwartung des Kampfes, der das Schicksal Europas entscheiden sollte. Attila hatte die Übermacht der Maffe, der Einheit und der Feldherrngabe; aber auf
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der Seite der Abendländer stritt die Begeisterung für alles Große der alten Welt, für das Christentum, für die Freiheit und den eigenen Herd. Deutsche aber fochten auf beiden Seiten, ja, der Kern aller deutschen Völker stand hier feindlich gespalten sich gegenüber, und welches Heer den Sieg gewann, die Deutschen wurden immer geschlagen. Das mörderische Schlachten begann; mit der höchsten Erbitterung kämpften beide Heere. Der tapfere Theodorich kam ums Leben, aber sein Sohn Tho-rismuud nahm blutige Rache. Die Westgoten entschieden die Schlacht. Nachdem schon gegen 200,000 Menschen gefallen waren, wich Attila zurück, und das Abendland war gerettet. Attila hatte schon einen großen Scheiterhaufen von Pferdesätteln errichten lassen, um sich darauf
zu verbrennen, wenn er verfolgt worden und unterlegen wäre. Aber
er entkam. Thorismuud ward auf den blutigen Schild erhoben und unter dem Jauchzeu der Sieger zum Könige der Westgoten ausgerufen. Aber die, welche das Unglück verbunden, trennte das Glück. Aetius, auf feinen Rnhm uud feine Macht eifersüchtig, schied sich von Thoris-mund und bewog diesen, in sein Land zurückzugehen. Zur Entschädigung für die Beute, die Aetius sich vorweggenommen, erhielt Thorismnnd eine fünf Zentner schwere Schüsfel von Gold, mit den köstlichsten Edelsteinen besetzt, die man für die Tafel des berühmten, von den Römern aus dem Tempel zu Jerusalem geraubten salomonischen Tisches gehalten hat.
Im Jahre 452 zog Attila über die Alpen nach Italien. Honoria, des römischen Kaisers Schwester, soll sich ihm zur Gemahlin angeboten und ihn eingeladen haben, nach Rom zu kommen. Sie schmachtete deshalb zu Rom im Gefängnis. Drei Monate lang hielt Aquileja die Hunnen auf; endlich eroberten sie die Stadt und zerstörten sie gänzlich. Damals flohen viele Römer auf die kleinen, fnmpsigen Inseln des adriatischen Meeres und legten daselbst den ersten Grund der Stadt
Venedig. Attila zog gen Rom. Schon war man ans den Untergang
bereitet, als plötzlich Rettung vom Himmel kam. Leo, Bischof von Rom, ein gottbegeisterter Greis, zog an der Spitze der römischen Geistlichkeit, in priesterlichem Schmuck und mit feierlichem Gesänge, einer Taube des Friedens oder einem gottgesanbten Engel gleich, den wilden, mordbegierigen und bluttriefenden Hunnen entgegen. Niemand wagte, die frommen Priester anzutasten. Sie kamen ungehindert vor Attila selbst, und dieser ward durch den Anblick und die Worte Leos bewogen, Rom zu verschonen und sogleich den Rückweg einzuschlagen. Die innere geistige Gewalt, durch welche die Erscheinung des heiligen Greises auf den Helden
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wirkte, ist in der Sage dergestalt bezeichnet worden, daß Attila über dem Hanpte des Greises einen ungeheuren Riesen gesehen, der ihn drohend zurückgeschreckt habe.
Auf dem Rückzüge ans Italien starb Attila plötzlich. Da erhob das Hunnenvolk große Wehklage. Sie schoren die Häupter und verwundeten sich die häßlichen Gesichter, damit der Held nicht mit weibischen Thränen, sondern mit männlichem Blute betrauert werde. Als die Leiche mitten im Lager in einem seidenen Zelte ausgestellt worden, ritt das Heer um seine Leiche und pries das Geschlecht Attilas, seine Thaten und seinen schmerzlosen Tod. Die Leiche wurde daun in einen goldenen Sarg gelegt, dieser in einen silbernen, der letztere wieder in einem eisernen verschlossen und mit kostbarer Beute im Dunkel der Nacht begraben. Damit niemand die Stätte erfahre, erschlugen die Hunnen alle, welche beim Begräbnis thätig gewesen waren.
Nach Attilas Tod fiel sein Reich bald auseinander und noch einmal war das weströmische Reich von dem drohenden Untergang gerettet. Aber bald brachen neue Stürme über dasselbe herein, die seinen Untergang herbeiführten.
Seitdem die germanischen Völker in größeren Völkerbündnissen zusammengetreten waren, unter denen als die mächtigsten die der Alamannen, Goten, Franken, Sachsen hervorragen, hatte das morsche römische Reich sich nur mit Mühe ihrer immer wiederholten Angriffe erwehren tonnen; als es daraus durch die Hunnenbewegung tief erschüttert und seine Widerstandskraft vollends gebrochen war, erlag es endlich den Angriffen germanischer Völkerschaften.
Nachdem bereits im Jahre 455 der Vandale Geiserich Rom erobert und elf Tage auf das schrecklichste verheert hatte, führte 21 Jahre später Odoäker, ein Heerführer deutscher Völkerschaften, das Ende des weströmischen Reichs herbei. Doch bestand seine Herrschaft nur 476 17 Jahre, da ihn der König der Ostgoten, Theodorich der Große, bei Verona besiegte und im Jahre 493 das Ostgotenreich in Italien gründete (493—555).
Ein anderes Germanenreich, das der Franken, war um dieselbe Zeit durch König Chlodwig im nördlichen Gallien und am Niederrhein gegründet, nachdem der letzte römische Statthalter (Aetius) durch Chlodwig bei Soissons völlig geschlagen war. Wie die Ostgoten in Italien, die 486 Franken am Niederrhein, so hatten in dieser Zeit der Völkerwanderung die Vandalen in Afrika, die Westgoten in Spanien, die Burgunder
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Bonifacius.
am Oberrhein, die Angelsachsen in Britannien die Römerherrschaft gebrochen und auf ihren Trümmern deutsche Reiche gegründet.
Bonifacius.
(Das Christentum unter ben Deutschen.)
Z"r Zeit der großen Völkerbewegungen, welche vom 4.-6. Jahrhundert stattfanden, waren fast alle deutschen Völkerschaften noch dem Heidentum zugethan; nur bei den Goten, welche im 4. Jahrhundert am schwarzen Meere wohnten, hatte das Christentum früh Eingang gefunden, besonders seitdem der gotische Bischof Ulfilas die Evangelien in die gotische Sprache übersetzt hatte. Nach den Goten nahmen auch Vandalen, Burgunder, Frauken, Longobarden im 5. und 6. Jahrhundert das Christentum an. In den beiden folgenden Jahrhunderten gelangte es zu den Baiern, Alamannen und Thüringern, unter welchen fromme Männer aus England und Irland, die meistens dem Stamme der germanischen Angelsachsen angehörten, als christliche Sendboten den Samen des Evangeliums ausstreuten.
Unter ihnen hat das meiste der Angelsachse Winfried (d. i. Kampffried, einer der Frieden schafft durch Kampf) für die Bekehrung der Deutschen gethan. Deshalb wird er der Apostel der Deutschen genannt. Bei seiner Bischofsweihe erhielt er vom Papst den Ehrennamen Bonifacius (d. i. Wohlthäter). Im Anfang des 8. Jahrhunderts drang er in die Wälder des inneren Deutschlands vor und brach namentlich bei den Hessen durch die Predigt vom Kreuz die Macht des heidnischen Aberglaubens. Bei dem Dorfe Geismar in der Nähe von Fritzlar in Hessen stand eine Eiche von wunderbarer Größe, die sogen. Donnereiche; sie war dem Donar (Thor), einem Gott der heidnischen Deutschen geweiht. Unter diesem Baume wurden die heiligen Versammlungen der Heiden gehalten und angesichts des Donnergottes die wichtigsten Entscheidungen getroffen; Hier brachten sie ihm ihre Opfer dar. Unverletzlich, fest und treu, wie ihr Glaube an die alten Götter, galt ihnen die Donnereiche als Heiligtum. Aber Bonifacius sprach: „Wenn eure Götter allmächtig find und euer Gott in diesem Baume ist, so soll er mich zerschmettern; denn ich lege jetzt Hand an ihn!" Und mit Grausen sah das Volk den fremden Christen die Axt ergreifen und an das Heiligtum legen. Als er aber mit kräftigen Hieben den Banm zn Falle brachte und Krone, Äste und Stamm wie aus einen Hauch von oben splitternd zusammenbrachen, ohne daß Donner und Blitz den Frevler
Bonifacius.
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zermalmt hätten, da erkannten die Hessen die Ohnmacht ihrer Götzen und öffneten ihre treuen Herzen dem Christentums.
So wirkte Bonifacius bei den Sachsen, Hessen und Thüringern überall, wo er noch Heiden und heidnische Gebräuche fand. Der Papst machte ihn zum Erzbischof von Mainz und ordnete seinem Stuhle alle diejenigen Bischofssitze unter, die Bonifacius selber anlegen würde.
Zur Befestigung des Christentums unter den Deutschen hatte Boni-sacius an den verschiedenen Orten seiner Wirksamkeit Bistümer (z. B. Würzburg, Regensburg, Passau), zur Heranbildung tüchtiger Lehrer in der Religion Klöster und Schulen gegründet. Die wichtigste aller seiner Schöpfungen aber ward das Kloster Fulda in Hessen; hier war später eine Zeitlang die berühmteste Schule Deutschlands. Diese Klöster und Schulen waren in der damaligen Zeit nicht nur von dem wohlthätigsten Einfluß auf die Befestigung der christlichen Lehre, sondern überhaupt auf Gesittung und Bildung, sowie aus die Anbauung des Bodens. Die Klosterbrüder lichteten die Wälder, trockneten die Sümpfe, machten das Land urbar, sie gewährten den Unwissenden Unterricht, den Verfolgten Schutz, den Armen und Kranken Unterhalt und Pflege. Um die neu gestifteten Kirchen und Klöster erhoben sich bald zahlreiche Ansiedelungen, aus denen später Dörfer und Städte entstanden. Häufig war mit den kirchlichen Festen auch ein Markt verbunden, woraus die Kirchmeffen entstanden sind.
Selbst in hohem Alter wollte sich Bonifacius der wohlverdienten Ruhe nicht hingeben, sondern sein Werk mit der Bekehrung der Friesen krönen, unter welchen er schon im Beginn seiner Laufbahn das Christentum gepredigt hatte. Er bestellte seinen Landsmann Lullus zu seinem Nachfolger im Erzbistum Mainz, empfahl diesen und seine Schöpfungen dem mächtigen Schutze des damaligen Frankenkönigs Pipin und trat mit der Begeisterung eines Jünglings, in Begleitung von Freunden und Dienern, seine letzte Missionsreise nach Norden an. Den Rhein hinab ging die Fahrt; an der friesischen Grenze begann er zu predigen und zu taufen. Am Osterfeste 755 erhoben sich seine Zelte am Flüßchen Bürde. Ehrfurchtsvoll sammelten sich da viele der Friesen, von denen ein Teil bereits getauft war, der andere noch der Bekehrung harrte. Alle sahen zum ersten Male in dem ehrwürdigen Greise mit dem Schmucke der priesterlichen Gewänder den blendenden Glanz der römischen Kirche. Aber was diese kraftvollen Männer am meisten sesselte, das war das Geheimnisvolle, mit welchem die Priester den Glauben umgaben, und die Wunder der Reliquien, deren sie sich rühmten. — Am Ostermorgen
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Karl der Große.
sollte die Taufe vieler Neubekehrten stattfinden. Aber statt ihrer erschienen Scharen wild erregter Heiden mit drohendem Geschrei nnd geschwungenen Waffen. Mit Gewalt drangen sie auf die christlichen Priester ein; die Diener des Bonifaeius wollten sich zur Wehr setzen; doch im festlichen Gewände, mit dem heiligen Buche im Arme, tritt er unter sie und spricht: „Lasset ab vorn Streite; die heilige Schrift heißt uns Böses mit Gutem zu vergelten. Lange habe ich mich nach diesem Tage gesehnt. Seid stark und vertrauet dem Herrn!" Nun gingen sie dem wütenden Haufen entgegen. Mit Keulenschlägen von den Heiden überfallen, empfing einer nach dem andern den Todesstreich, zuletzt Bouisacius. — Sein Leichnam ward später, einem oft geäußerten Wunsche gemäß, in Fulda begraben.
So endete der Mann, dem Deutschland zwar uicht das Christentum, aber doch die Ordnung seines Kirchenwesens zu verdanken hat.
Rarl der Grosze.
(Nach Werner.)
Unter den deutschen Völkern, welche nach der Völkerwanderung neue Reiche gründeten, war das Volk der Franken das mächtigste. Von ihren Wohnsitzen am Niederrhein waren sie gegen das Ende des 5. Jahrhunderts in das nördliche Gallien (Frankreich) eingefallen, hatten unter ihrem König Chlodwig (481—511) eine Völkerschaft nach der anderen unterworfen (Alemannen, Burgunder, Westgoten), so daß sich ihr Reich über fast ganz Frankreich erstreckte.
Zn hoher Macht gelangte das Frankenreich im 8. Jahrhundert unter 768-814 Karl dem Großen, der anfänglich 3 Jahre mit seinem Bruder Karlmann zusammen regierte, aber nach dessen Tode im Jahre 771 Alleinherrscher der Franken wurde.
Ein gewaltiger Geist, ernst und besonnen, umsichtig und tapfer, fest und durchgreifend, dabei mild und fromm, war er ein ebenso großer Regent und Gesetzgeber, als Kriegs- und Glanbensheld.
Zur nächsten Aufgabe hatte er sich gemacht, den heidnischen Volksstamm der Sachsen, welche zwischen dem Niederrhein und der Elbe, zwischen Nord- uud Ostsee wohnten, zu unterwerfen und zur Annahme des christlichen Glaubens zu zwingen. Er erfocht über sie manchen blutigen Sieg, zerstörte die große, von ihnen göttlich verehrte Jrmeu-säule — die unweit des heutigen Paderborn auf dem Hauptversammlungsplatze ihres heidnischen Gottesdienstes stand und einen völlig bewaffneten Mann mit einer Fahne in der rechten und einer Lanze in der linken
Karl der Große.
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Hand vorstellte — führte ihre Edelsten als Geiseln hinweg, erbaute Festungen mitten in. ihrem Lande, gab ihnen Statthalter und Feldherrn aus seinem eigenen Volke unb ließ sie scharenweise mit Gewalt zur christlichen Taufe hintreiben. Dennoch aber konnte er ihren Glauben und ihre Liebe zu ben alten heibnischen Göttern nicht bezwingen. Kaum war auch ber erzwungene Friebe geschlossen, unb Karl zu neuen Siegen nach Italien geeilt, als bie Sachsen, burch ihre alten Priester bebroht, sich aufs neue empörten. Sie warfen bas verhaßte Joch bes ihnen auf-gebrungenen Christenglaubens ab, erschlugen bie fränkischen Felbherrn, fielen unter Einführung Wibnkinbs, Herzogs von Engern, in bie Länber bes Frankenkönigs ein unb verheerten sie mit Feuer unb Schwert. Da beschloß Karl, eine blutige Rache zu nehmen unb sie mit Gewalt zu dem Glauben zurückzuführen. Er flog ans Italien herbei, schlug die Heere seiner Feinde, ließ, um ein furchtbares Beispiel feines Zorns zu geben, auf einer Stelle 4500 der gefangenen Sachsen enthaupten und späterhin gegen 10,000 Einwohner aus ihren Wohnungen zusammentreiben und an andere Orte versetzen. Karl vertraute auf feine Macht, der noch nichts widerstanden hatte, und meinte, vor einem so furchtbaren Beweise derselben müßten die Ungehorsamen wohl erzittern und sich beugen. Aber er bewirkte gerade das Gegenteil. Das ganze Volk der Sachsen erhob sich aus seinen entlegensten Sitzen und schwur ben Reinheit seiner Freiheit unb seines Glaubens eine gemeinschaftliche unb furchtbare Rache.
Im Jahre 783 kam es hierauf bei Detmolb zur Schlacht, in welcher Karl gezwungen warb, sich bis nach Paderborn zurückzuziehen. In einem zweiten Treffen an der Hase im Osnabrückischen blieb er Zwar Sieger, dennoch aber stillte sich die Empörung nicht, obgleich in beiden Schlachten gegen 80,000 Sachsen gefallen waren. Da sah Karl endlich ein, daß er andere Waffen gebrauchen müsse als das Schwert, und ließ deshalb den furchtbarsten Anführer der Sachsen, Widukind, zu verschiedenen Malen freundlich zu sich entbieten.
Endlich leistete der tapfere Sachsenherzog der Aufforderung folge. Karl empfing ihn mit hohen Ehren und wußte ihn von der göttlichen Kraft des christlichen Glaubens so eindringlich zu überzeugen, daß er sich ber Taufe unterzog (786). Viele taufenbe ber Sachsen hulbigten feitbem ben fränkischen Gesetzen unb ben Orbnungen ber christlichen Kirche. Zur Befestigung bes Christentums grünbete Karl im (Sachsen-lanbe 8 Bistümer, unter welchen Paberborn, Münster, Osnabrück, Minbeit bie bebeutenbsten waren.
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Karl der Große.
Freilich gab sich der alte Freiheitstrotz der Sachsen noch einige Mal in einzelnen Aufstanden fund, bie Karl indes leicht dämpfte.
Die langwierigen Kämpfe gegen die Sachsen wurden durch mehrere andere Kriege Karls unterbrochen. Gleich nach dem Beginn des Sachsenkriegs zog Karl gegen ben germanischen Volksstamm der Langobarden, welche (um 568) unter ihrem König Alboin im nördlichen Italien ein Reich gegründet hatten.
Nach ihnen hieß später Norditalien auch „Lombardei".
Da die Longobarden auch nach Mittelitalien vordrangen, so rief Papst Hadrian I, der Beherrscher des Kirchenstaats, den mächtigen Frankenkönig zu Hilse. Karl zog mit Heeresmacht heran und rückte vor Pavia, die Hauptstadt ber Longobarben. Hier stanb Desiberins, ber König ber Longobarben, auf einem hohen Turm, um ben Anmarsch ber Franken zu beobachten. Ihm zur Seite stanb Dtfer, ein Dienst-mairn Karls, ber bei diesem in Ungnade gefallen und zu den Longobarden geflohen war. Als man von fern den Troß des fränkischen Heeres herannahen sah, fragte Desiderius, ob das Karl sei? „Noch nicht", antwortete Dtfer. Darauf kam das Frankenheer herangezogen, Desiderius that dieselbe Frage und erhielt dieselbe Antwort. Da wurde der König unruhig und rief: „Was sollen wir thun, wenn mehrere kommen?" Jetzt zeigte sich ein anderer Haufe Bewaffneter. „Aber unter diesen ist er gewiß?" fragte Desiderius erschrocken. „Immer noch nicht!" war die Antwort. Daraus nahten die Bifchöfe, die Äbte, die Priester. Bei ihrem Anblicke sprach Desiderius mit bebender Stimme: „Laß uns hinabsteigen uud Schutz suchen vor dem Anblicke des grimmigen Feindes". Kaum hatte er ausgesprochen, als sich's vom Abend her wie eine düstere Wolke zeigte, die den hellen Tag verdunkelt. Allmählich kam der Haufe näher und weithin glänzte das Gefilde von blanken Waffen. Da erschien Karl, bedeckt mit einem eisernen Helme und Brust-panzer, mit eisernen Arm- unb Beinschienen. In ber linken Haub trug er einen langen Speer, bie rechte ruhte am Schwertgriffe. Am Schilbe sah man nichts als Eisen; auch sein Roß war bepanzert. Sein ganzes Heer war gleichmäßig gerüstet, so baß Felb unb Straße mit Eisen wie bebeckt war unb bie Schwerter in ber Sonne blitzten. „Das ist er", rief Otker aus, „ben bu zu sehen begehrt hast!" Desiberins aber erbleichte vor Schrecken unb stieg verzagenb vom Turme.
Sechs Monate belagerte Karl ber Große Pavia, bann ergab sich bie Stadt. Desiderius geriet in Gefangenschaft, das Longobardenreich wurde mit dem fränkischen vereinigt (774).
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Auch nach dem Westen hin trug Karl seine siegreichen Waffen. Er unternahm im Jahre 778 einen Zug nach Spanien, wohin ihn moha-medanische Große gegen den Kalifen Abderrahman zu Hilfe gerufen hatten.
Damals waren die Araber das herrschende Volk in Spanien. Unter ihnen war um 622 n. Chr. der Prophet Moharned aufgetreten, der, um seine Stammgenossen der Vielgötterei zu entreißen, den Glauben an einen Gott lehrte. Seine Lehre führte den Namen Islam (t>. i. Hingebung in Gottes Willen); ihr erster Glaubenssatz lautete:
„Es giebt nur einen Gott und Moharned ist sein Prophet". Im Islam wurde auch der Glaube an ein unabänderliches Verhängnis gelehrt. „Alles, was in der Welt geschieht, ist von Gott unabänderlich vorherbestimmt. Wem der Tod nicht bestimmt ist, der ist vor ihm sicher auch im dichtesten Schlachtgewühl, wem er aber bestimmt ist, ber wird ihm nicht entgehen, auch wenn er vorsichtig alle Gefahren meidet". Durch diese Lehre unterstützte Mohameb sein Gebot, ben Islam mit Feuer unb Schwert unter allen Völkern auszubreiten, wofür er seinem Volk bie Weltherrschaft in Aussicht stellte. Diesem Befehle gemäß unterwarfen bie Araber unter ber Führung ber Kalifen zuerst ihre Nachbarvölker in Palästina, Syrien, Phöniziern darauf stürzten sie das Perserreich, breiteten alsbanu ihre Herrschaft über Ägypten unb Norbafrika ans, von wo aus sie sogar nach Spanien übersetzten. Hier zerstörten sie im Jahre 711 burch ben Sieg bei Leres be la Frontera bas Westgotenreich unb unterwarfen fast bie ganze Halbinsel bem Islam. Als sie aber auch in bas Frankenreich einzudringen suchten, wurden sie im Jahre 732 von dem Feldherrn der Franken, Karl Martell, gänzlich besiegt und wieder über die Pyrenäen zurückgedrängt.
Nach siegreichem Kampf gelang es Karl das eroberte Land zwischen Pyrenäen und Ebro als spanische Mark mit dem Frankenreich zu vereinigen (778). Doch wurde die Nachhut seines Heeres, als er selbst auf
dem Heimweg die Pyrenäen bereits wieder überschritten hatte, im Thal von Roncevalles von den feindlichen Bergvölkern überfallen und fast gänzlich aufgerieben. Viele Helden fanden da ihren Tod, unter ihnen auch Graf Rutlaud, der in der Volkssage gefeierte tapfere Ritter Roland.
Nachdem Karl der Große ferner den abgefallenen Baiernherzog Thaffilo mit Absetzung gestraft und Baiern mit dem fränkischen Reich vereinigt hatte, unterwarf er die Slaven an der Elbe, züchtigte die Normannen in Dänemark, zog gegen die räuberischen Avaren in Ungarn und schlug ihr Land zwischen Donan und Theiß als Ostmark (Österreich)' zum Frankenreich.
So gebot nun der große Karl vom Ebro bis zur Raab und Elbe, vom Tiber bis zur Eider und alles beugte sich vor seinem mächtigen Geist. Den Gipfel menschlicher Größe überstieg er im Jahr 800. Der 800 Papst hatte ihn zum Schutzherrn der Christenheit angenommen.
Es war zu Rom am Weihnachtsfeste, als der Papst, während Karl im Festgewand eines römischen Patricius in der Kirche des heil. Petrus
am Altar zum Gebet niederkniete, vor ihn trat und ihm eine goldene
Abicht, Lesebuch. II.
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Karl der Große.
Krone auf das Haupt setzte, worauf das versammelte Volk in den Jubelruf ausbrachCarolo Augusto, dem von Gott gekrönten, großen, friedfertigen Kaiser der Römer, Leben und Sieg. Nach dreimaliger Wiederholung dieser Worte berührte Leo mit der einen Hand den Mnnd, mit der andern die Hand des Gekrönten, salbte ihn zum Kaiser und verbeugte sich gegen ihn.
Das war der Ursprung und Anfang des römischen Kaisertums deutscher Nation, das 1000 Jahr (bis zum Jahr 1806) bestanden hat.
In seinem weiten Frankenreich gebot Karl mit unumschränkter Gewalt, nachdem er, um die Einheit des Reichs zn vermehren, überall die Macht der Stammesherzöge abgeschafft hatte. Wenn die Wucht seines Schwertes obgesiegt hatte, so wahrte er freilich wohl die Sicherheit seiner Herrschast durch einen mächtigen Heerbann und durch Markgrafen zum Schutze der Reichsgrenzen; aber er sicherte auch Freiheit und Recht der unterworfenen deutschen Völker. Auf dem Maifelde durften fie selber (ihre Stände) die Einrichtungen und Gesetze beraten, die er ihnen vorschlug. Gaugrafen fetzte er ein, das Recht zu handhaben, und damit diese nie wagen möchten, es zu beugen und das Volk zu drucken, so mußten seine „Sendboten" die verschiedenen Bezirke jährlich durchreisen und dem Kaiser über den Zustand des Landes Bericht erstatten. Und Dome erhoben sich über den heidnischen Runensteinen, Opferaltären, Jrmenfänlen; Klöster wurden erbaut und wurden mit ihren Schulen eine Pflanzstätte des Christentums und der Bildung. Daß aber das heilige Wort recht verkündet und durch gutes Beispiel besiegelt würde, dafür wirkte der Kaiser durch sorgsame Auswahl der Geistlichen und durch strenges Gericht über die ungöttlichen unter ihnen. Er ließ Sänger kommen, damit seine Deutschen, deren Gesang er mit dem Wagengerassel auf einem Knüppeldamm verglich, lernen möchten, durch geistliche Lieder den Gottesdienst verherrlichen.
Gleich groß war Karls Sorge für nationale Bildung durch Pflege der Wissenschaften und deren Begründung in Schulen. Er umgab sich mit den tüchtigsten Gelehrten des In- und Auslandes, ließ sich von ihnen selbst vielseitig belehren und beraten und durch sie wesentliche Verbesserungen in Kirchen und Schulen vornehmen. Unter diesen Männern ragte der Angelsachse Aleuin (geb. um 735 zu Aork), Abt von Tours, als sein vertrautester Freund und Berater hervor. Durch ihn besonders ließ Karl die vorhandenen Schulen verbessern und neue anlegen, um auch auf diesem Wege die gefunkene Zucht des Volkes zu heben und nützliche Kenntnisse zu verbreiten.
Karl der Große.
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Auch Karl selbst übte sich in mancherlei Wissenschaft und nötigte oft sogar bei Nacht seine au Kriegsarbeit gewöhnte Hand zum Schreiben. Auch au seinem Hofe legte er für die Söhne seiner Ministerialen (Beamten und Hofdiener) eine Schule an, die schola palatina. Einmal trat er selbst in die Schulstube und fand, nachdem er dem Unterricht eine Zeitlang zugehört, daß die Söhne der Vornehmen den Kindern der Geringen an Fleiß und Sittsamfeit nachstanden. Da mußten sich diese zu seiner Rechten, jene aber zu seiner Linken stellen. Dann sagte er zu deu armen: „Ich danke euch, meine Kinder, ihr habt ganz meinen Wünschen entsprochen, euch zur Ehre und zum bleibenden Nutzen!" Zürnend wandte er sich hierauf an die vornehmen: „Ihr aber, ihr Hoch-geborenen, ihr Fürstensöhne, ihr zierlichen und hübschen Leutchen, die ihr, bei eurem Reichtum meinem Befehl ungehorsam, die Wissenschaften vernachlässigt und im Nichtsthun und leeren Treiben die Zeit verbracht habt — beim Herrn des Himmels! ich gebe nicht viel auf euren Adel und euer hübfches Aussehen: seid versichert, wenn ihr nicht eiligst eure Nachlässigkeit durch Anstrengung wieder gut macht, so habt ihr von Karl nie etwas Gutes zu erwarten!"
Eine große Sorgfalt verwandte er ferner ans die Ausbildung der deutschen Sprache; er selbst gab deu Winden und Monaten deutsche Namen, ließ eine Grammatik ausarbeiten und eine Sammlung alter Helden- und Sagenlieder veranstalten, die aber verloren gegangen ist. Überhaupt lag ihm die Erhaltung deutscher Art und Sitte sehr am Herzen.
Über dieser tiefgehenden Sorge für das Wohl des Staates und der Kirche versäumte Karl nicht, auch die äußere Wohlfahrt feiner Völker zu erhöhen. So erleichterte und belebte er deu Handelsverkehr dnrch Einführung gleichen Maßes und Gewichts, durch Gründung von Handelsplätzen, Erbauung von Brücken und Kanälen; den Ackerbau und die Landwirtschaft hob er durch Einrichtung von Musterwirtschaften auf den Meiereien seiner 128 Königshöfe oder Pfalzen, welche ihm feine Einkünfte gewährten.
Über den großen Angelegenheiten des Reichs vergaß Karl nicht die kleinen seines Hauses. Sorgfältig verglich er die Rechnungen seiner Verwalter über Einnahme und Ausgabe, in welchen selbst die Anzahl der Eier eingetragen sein mußte.
Die Kunst endlich förderte er durch Aufführung von Kirchen, Palästen und Landhäusern. Auch in Aachen, seinem gewöhnlichen Regierungssitze, ließ er einen fchönen Palast und eine Hauptkirche bauen; desgleichen einen Palast zu Ingelheim und einen zu Nymwegeu; ferner einen Leuchtturm zu Boulogue, eine hölzerne Rheinbrücke bei Mainz, eine Badeanstalt in Aachen.
In allen diesen Beziehungen bewies sich Karl als ein weiser und mächtiger Geist, der auf feine Zeit einen umgestaltenden Einfluß übte, so daß er als Mensch und Christ, als Feldherr und Regent hoch über seiner Zeit stand. Und wie ihn bei seinem Leben alle ausländischen
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Karl der Große.
Fürsten ehrten, und selbst entfernte Fürsten, besonders der große Kalif von Bagdad, Harnn-al-Raschid, durch Gesandte und Geschenke ihn ehrten, so erfrischten und hoben sich noch späte Zeiten und Herrscher in bewundernder Erinnerung an seine Größe.
Die Verbindung mit dem Kalifen unterhielt Karl besonders deshalb, um dadurch seinen Untertanen für den Handel nach dem Morgenlande Schutz zu verschaffen. Unter den Geschenken, die der Kalise dem Könige sandte, befand sich ein Elefant von außergewöhnlicher Größe mit Namen Abulabaz (der Verwüster) und eine künstliche Uhr, welche die Stunden dadurch anzeigte, daß auf ein metallenes Becken so viele goldene Kügelchen herabfielen, als es Stunden waren; zu gleicher Zeit traten oben an dem Werke aus Fensteröffnungen so viele Reiterfiguren heraus, als die Zeit Stunden angab. König Karl schenkte dem Kalifen dagegen große Jagdhunde, die zum Fang auf wilde Tiere abgerichtet waren, und kostbare friesische Mäntel von den feinsten Fellen.
Karl war ein echt deutscher Mann, von hoher Gestalt und kräftigem Körperbau. Keiner kam ihm an Stärke gleich; einen gewaffneten Ritter hob er mit einer Hand von der Erde, und ein Hufeisen auseinander zu brechen war ihm ein leichtes. Er liebte Körperübungen, erholte sich gern am Reiten, Jagen und Baden, und im Schwimmen that er's allen zuvor. In Schlaf und Speise war er mäßig, in der Kleidung einfach. Zwar bei feierlichen Angelegenheiten, oder wenn Gesandte von fremden Fürsten da waren, ließ er seine kaiserliche Herrlichkeit sehen; eine goldene Krone schmückte sein Haupt, von Gold und Edelsteinen starrte sein Mantel, funkelte fein Schwert; aber für gewöhnlich trug er Kleider, die seine Frau oder feine Tochter selbst gesponnen und gewebt hatten. Von Leinwand waren seine Unterkleider, darüber trug er einen Rock mit seidenen Borden eingefaßt; im Winter verwahrte er Brust und Schultern mit einer Weste von Otternpelz; sein Oberkleid war ein dunkelgrüner Mantel.
Seine Gesundheit war vorzüglich, außer daß er in den letzten vier Jahren vor seinem Tode öfter von Fieberanfällen geplagt wurde.
Am Abend seiner Tage saß Kaiser Karl endlich in Ruhe in seiner schönen Pfalz zu Aachen, konnte an feinem Werke vollenden, was noch der Vollendung ermangelte, und konnte der Fülle feiner Herrlichkeit genießen. Aber nnabweislich drängte sich der Gedanke an die Vergänglichkeit aller irdischen Hoheit herzu. Seine beiden tapferen Söhne, Pipin und Karl, hatte er bald nach einander (810 und 811) ins Grab gelegt, seine eigene Kraft war im Verlöschen, und oft erwog er mit schwerem
Heinrich I.
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Herzen, ob das mühsam vollendete Werk seines ganzen Lebens nach seinem Tode wohl Bestand haben würde. Da berief er im Jahr 813 die Großen des Reichs gen Aachen in seine Pfalz, zu ihnen seinen Sohn Ludwig aus Aquitanien, stellte ihnen denselben vor und ermahnte sie, ihm fortan treu zu gehorchen. Im kaiserlichen Schmuck ging er dann mit allen in die Kirche, wo er eine goldene Krone auf den Altar hatte legen lassen. Er verrichtete sein Gebet, ließ darauf seinen einzigen Sohn Ludwig hervortreten und ermahnte ihn mit lauter Stimme vor allem Volk, Gott zu fürchten und zu lieben, den christlichen Glauben zu beschützen, gerecht und milde zu sein gegen sein Volk, getreue und gottes-fürchtige Beamte anzustellen. „Willst du das alles erfüllen, mein lieber Sohn?" fragte dann gerührt der Greis. Ludwig versprach es mit Thränen. „Nun wohl, so setze dir selbst die Krone auf, und stets erinnere sie dich an dein Versprechen." Er that es unter lautem Weinen und Rufen des Volkes: „Das ist Gottes Wille!" - Bald hernach im Anfange des Jahres 814 wurde Kaiser Karl krank, und acht Tage darauf faltete er die Hände zusammen, betete: „Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist!" und verschied im 72sten Jahre seines Alters nach 47jähriger ruhmvoller Regierung. Da war große Bestürzung im ganzen Reiche; alle fühlten, daß die mächtige Säule, die das Reichs-gebän getragen hatte, gebrochen sei; die Armen und Bedrückten aber wehklagten, daß sie in ihm ihren Vater verloren. Die Leiche wurde kostbar balsamiert, im vollen Kaiserschmuck aufrecht auf einen goldenen Stuhl gesetzt und auf diesem hinabgesenkt in die Gruft der Liebfrauenkirche zu Aachen, welche er erbaut hatte. Dort saß nun Kaiser Karl, als wäre er noch lebendig, im golddurchwirkten Mantel, mit der Krone auf dem Haupte, goldene Schuhe au ben Füßen, das Schwert und die Pilgertasche um bie Leudeu, Schild uub Scepter zu seinen Seiten und das Evangelienbuch auf deu Knieen. Daun ward das Gewölbe mit Spezereien erfüllt und verschlossen. Sein Ruhm blieb auf Erden unversehrt, und mit Recht haben alle Völker ihn „Karl den Großen" genannt.
Aonig Heinrich I (919-936).
(Nach Stoll.)
Nachdem der letzte der deutschen Herrscher aus dem Hause der Karolinger im Jahre 911 gestorben war, wählten die Fürsten des Reichs den Herzog Konrad von Franken zum König. Dieser empfahl auf seinem
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Heinrich I.
Sterbebett den Sachsenherzog Heinrich zum Reichsnachfolger. Mit ihm beginnt das Geschlecht der sächsischen Kaiser').
Als der Frankenherzog Eberhard, dem letzten Willen seines Bruders, des verstorbenen Königs Konrad, und dem Beschlusse der Fürsten folgend, dem Sachsenherzog Heinrich die Reichskleinodien überbrachte, war dieser, wie eine Sage erzählt, gerade im Harz am Vogelherd mit Vogelfang beschäftigt. Daher haben spätere Geschichtschreiber ihm den Beinamen „der Vogelsteller" oder „Finkler" gegeben; aber besser hätten sie ihn den „Großen" genannt. Denn Heinrich hat Großes für Deutschland gethan. Er war ein mutiger, thatkräftiger Manu, ein Schrecken der Feinde des Reichs, während er durch Leutseligkeit und Milde die Herzen seines Volkes unwiderstehlich an sich fesselte. Mit richtigem Blick erkannte er, daß das erste, was dem deutschen Volk not that, die Herstellung der Einheit fei. Darum fuchte er sich zunächst bei allen deutschen Stämmen nnd bei den ihm widerstrebenden herzoglichen Gewalten Anerkennung zu verschaffen und bald erhob sich das durch thu glücklich geeinigte Reich unter feiner weisen Leitung aus dem früheren Verfall.
Kaum hatte Heinrich Ruhe und Ordnung im Innern des Reichs hergestellt, als demselben von äußert Gefahren drohten, die feine ganze Thätigkeit in Anspruch nahmen. Im Südosten des Reichs erneuerten die Ungarn ihre Ranbeinfälle in Deutschland, durch welche sie schon früher in den Zeiten der letzten Karolinger das Reich hart heimgesucht hatten. Als sie im Jahre 924 wieder nach Norddeutschland kamen, hatte Heinrich das Glück einen ihrer vornehmsten Anführer gefangen zu nehmen. Durch dessen Auslieferung erlangte er nun einen neunjährigen Waffenstillstand, doch mußte er einen jährlichen Tribut zahlen. Denn die Ungarn waren ein Reitervolk, gegen welches der nur zu Fuß kämpfende deutsche Heerbann nicht bestehen konnte, unb in Norbbentschlanb waren nur wenige Stäbte unb Burgen, welche bie Ungarn auf ihren raschen Zügen hätten aufhalten unb bas bebrängte Lanbvolk aufnehmen können. In Sübbentschlanb bagegen waren schon seit ber Römerzeit nicht wenige Städte. Heinrich hatte daher zunächst für Norbbentschlanb ZU sorgen. Die bort vorhanbeuen festen Plätze, wie Merseburg, Quebliu-burg, Meißen, würben mit stärkeren Befestigungen umgeben unb dazu neue Burgen erbaut, wie Goslar, Dnderstedt n. a. Jeder neunte Mann mußte als Dienstmann in bie Bnrg ziehen, währeub bie acht übrigen
’) Heinrich I 919-936. Otto I der Gr. 936—973. Otto II 973-983. Otto III 983-1002, Heinrich II 1002-1024.
Heinrich I.
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draußen das Land bebauen und den dritten Teil des Ertrages in die Burg liefern mußten. Bei einem Einfall des Feindes sollten sie mit ihrer Habe uud ihren Herden hinter den Mauern der Burg Schutz suchen. Diese festen Plätze, in welche der an die freie Natur gewöhnte Deutsche nur ungern einzog, erwuchsen in der Folge zu bedeutsamen Städten, iu denen sich ein reges Verkehrsleben entwickelte, und deshalb erhielt Heinrich den Beinamen „der Städteerbauer". Zu gleicher Zeit wurde das Heereswesen verbessert, das Fußvolk im Widerstand gegen Reiter geübt und eine tüchtige Reiterei geschaffen.
Nach drei Jahren erprobte der König die Stärke seines jungen Heeres zuerst in einem Kriege gegen die Slaven, welche den Einfällen der Ungarn sich anzuschließen pflegten. Er drang im Jahre 928 in bas Land der Heveller ein und eroberte, indem er mitten im Winter auf dem Eis der Havel sein Lager ausschlug, ihren Hauptort Brennabor (Brandenburg). In den folgenden Jahren wurde der größte Teil des Landes zwischen Elbe und Oder unter deutsche Herrschaft gebracht. Auch der Herzog von Böhmen unterwarf sich. Zur Sicherung der eroberten Länder wurden zahlreiche sächsische Ansiedler borthin verpflanzt und die Markgrafschafteu Nordsachsen, später die Altmark genannt, und Meißen gestiftet.
Indessen nahte der Waffenstillstand mit den Ungarn seinem Ende. Heinrich suhlte sich jetzt stark genug, es mit den Bedrängern des Vaterlandes aufzunehmen und war entschlossen die lang getragene Schmach abzuwerfen. Er berief daher die Sachsen zu einem Landtage und fragte sie, ob er, nachdem er sie Jahre lang geschätzt, um des ^eiudes Beutel zu füllen, nun auch noch die Kirchen Gottes berauben solle, damit das Volk von Knechtschaft erlöst werde, oder ob sie allzumal zu deu Waffen greifen wollten. Laut rief die Versammlung: „Der lebendige Gott mache uns frei von unsern Banden!" und schwur ihm Treue in allen Gesahren. Bald daraus erschienen die Gesandten der Ungarn, um den Tribut in Empfang zu nehmen; aber sie wurden mit Hohn abgewiesen, ja man erzählt, Heinrich habe ihnen einen räudigen und verstümmelten Hund reichen lassen. Sofort kam rachefchnanbend ein ungeheures Heer ber Ungarn ins Land geritten. Nachdem während des Winters Thüringen verheert worden war, drang ein Teil weiter gegen Nordoften vor, während der größere in den Elbgegenden zurückblieb. Jene Schar wurde von Sachsen und Thüringen fast ganz vernichtet, der Rest kam durch Frost und Hunger um oder ward gefangen. Der im Osten zurückgebliebene Teil stieß am 15. März 933 bei Riade (wahrscheinlich Rietheburg
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Heinrich I.
an der Unstrut) auf ben König selbst. Die Ungarn, durch eine kleine thüringische Schar in die Nähe des Heeres gelockt, wandten sich zur Flucht, sobald sie die glänzenden deutschen Reitergeschwader vor sich sahen und jagten in solcher Hast davon, daß nur wenige getötet oder gefangen werden konnten. Dagegen wnrde ihr Lager erstürmt und in demselben eine ungeheure Beute und eine große Zahl gefangener deutscher Männer und Frauen gefunden. Der Sieg erfüllte das ganze Land mit Jubel, und der Ruhm des Sachsenkönigs verbreitete sich über alle Welt. Aber Heinrich gab Gott die Ehre, den Tribut aber, ben er den Ungarn hatte zahlen müssen, ber Kirche unb ben Armen. So lange Heinrich lebte, wagten bie Feinbe nicht mehr ben teutschen Boden zu betreten.
Zum Andenken an diesen Sieg ließ er ein Gemälde der Schlacht im Speisesaal der Merseburger Pfalz anbringen. Noch heute wird das Andenken an diese Errettung in dem Dorfe Keuschberg, unweit Merseburg, jährlich durch eine Predigt und durch Vorlesung einer alten chronistischen Darstellung jener Schlacht gefeiert.
Ein Jahr nachher ließ König Heinrich die deutsche Kraft auch die
Dänen fühlen, die unter ihrem christenfeindlicheu König Gorm die
Slaven unterstützt und in Sachsen geplündert hatten. Er drang bis
Jütland vor, stellte die von Karl dem Großen errichtete Markgrafschaft
Schleswig wieder her unb verpflanzte sächsische Kolonisten bahin.
Heinrich war noch nicht 60 Jahre alt, als er auf feiner Harzpfalz zu Botfelb, wo er sich an ber Jagb erfreute, durch einen Schlaganfall an ben Tob gemahnt würbe. Rasch berief er bie Reichsfürsten nach Erfurt, um sich von ihnen bie Nachfolge feines ältesten Sohnes zusichern zu lassen. Daraus eilte er nach feiner Pfalz Memleben an ber Unstrut, wo er kurze Zeit nachher starb mit bem Ruhm herrlicher Thaten unb gerechter Gesinnung. Er würbe zn Queblinburg in ber von ihm bort gegrünbeten Klosterkirche beigesetzt.
Der sächsische Chronist Wibukinb schließt bie Lebensgeschichte bieses Königs mit ben Worten: „Er war ein großmächtiger Herr, ber größte ber Könige Europas, an jeglicher Tugeitb Leibes unb ber Seele keinem nachstehen!); er hinterließ einen Sohn, noch größer als er selbst, unb diesem Sohne ein großes weites Reich, das er nicht von seinen Vätern geerbt, sondern durch eigene Kraft errungen und Gott allein zu danken hatte".
Heinrich war ein kraftvoller, verständiger Herrscher, ber burch bie Grünbung ber beutfchen Reichseinheit unb bie Niederwerfung ber feinblichen Greuznachbarn (Slaven unb Magyaren), welche er burch bie
Otto der Große.
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Steigerung der deutschen Wehrkraft und die Anlage von festen Plätzen und Städten erreichte, ein deutsches Reich ausgerichtet hat.
Orro der Grosze (936-973)*
Wie die Fürsten es Heinrich gelobt hatten, so wählten sie nach seinem Tod seinen Sohn Otto zum König. Mit nie gesehener Pracht und Herrlichkeit wurde Otto I ober der Große zu Aachen gesalbt und gekrönt. Nachdem ihm im Dome die Fürsten gehuldigt hatten, erflehte das gesamte Volk Heil und Segen dem neuen Herrscher. Hierauf überreichte der Erzbischof vou Mainz dem jungen König die auf dem Altar liegenden Reichskleinodien. Zuerst gab er ihm Schwert und Gürtel, dann Armspangen und Königsmantel, zuletzt Scepter und Herrscherstab. Alsdann nahm er das Ölhorn, salbte ihn, setzte im die Krone ans und führte ihn auf deu Thron, worauf ein feierliches Te deutn angestimmt wurde.
Nach vollendeter Feier folgte ein prächtiges Krönungsmahl im Palaste Karls des Großen, bei welchem die Herzöge den Ehrendienst übernahmen. Herzog Giselbert sorgte als Erzkämmerer für Beherbergung und Bewirtung, Herzog Eberhard von Franken hatte als Erztruchseß die Obhut der Tafel, Herzog Hermauu von Schwaben sorgte als Erz-muudscheuk für die Getränke, Herzog Arnulf von Baiern als Erzmarsch all für die Unterbringung des Gefolges. So verwalteten die Fürsten hier zum ersten Male die sogenannten Erzämter.
Otto war im Jahre seiner Krönung noch nicht 24 Jahre alt; ein schöner, kräftiger Jüngling, von hoher gebieterischer Gestalt, großen, klaren Augen, roten Wangen, lang wallendem blonden Haar, mächtiger breiter Brust, raschem Gange, würdevoll und königlich in seiner ganzen Erscheinung. Auch Vorzüge des Geistes zeichneten ihn von andern ans. Er erkannte mit scharfem Blicke, was feinem Reiche fromme und voll kriegerischen Mutes wußte er das als gut Erkannte auch gegen jede feindliche Macht durchzuführen.
Nachdem er zunächst den Widerstand einiger Herzoge gebrochen und die königliche Macht befestigt hatte, unterwarf er in langen Kämpfen die Wenden dem Christentums und deutscher Sitte. Die weiten Gebiete zwischen Elbe und Oder wurden kolonisiert. Otto verfuhr, wie einst Karl der Große bei den Sachsen, indem er in den unterworfenen Landschaften Bistümer gründete: fo Brandenburg, Havelberg, Merseburg, Meißen, Zeitz; ja, im fernen Osten wurde auch unter ben Polen das
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Otto der Große.
Bistum Posen gegründet. Alle diese Bistümer stellte er unter das Erzbistum Magdeburg.
Gefährliche Kümpfe hatte Otto auch im Innern gegen seine eigenen Verwandten zu bestehen, die mehrfach Verschwörungen und Aufstünde gegen Ottos Persou und Macht anstifteten.
Diese Zeiten der schweren Wirren im Innern hielten die Ungarn, zu einem Einfall in Deutschland für günstig.
Sie fielen im Jahre 955 in großen Heerscharen unter Morden und Brennen in Baiern ein, übermütig drohend, daß ihre Rosse die
deutschen Ströme austrinken sollten. Zunächst legten sie sich vor Augsburg. Da eilte Kaiser Otto I, der Sohn des Königs Heinrich, der die Ungarn schon einmal ans Deutschland vertrieben hatte, mit seinem Heere der Stadt zu Hilfe. Als die Ungarn das deutsche Heer in Schlachtordnung erblickten, schwammen sie voll Ungeduld auf ihren Rosfen durch den Lech ans linke Ufer. Dort umringten sie die Deutschen und warfen sich plötzlich mit wildem Geheul auf die nächsten Haufen. Diese hielten den Pseilregeu nicht lange aus nnd flohen. Als der König diese große Gefahr sah, winkte er dem Herzog Konrad von Franken. Wie ein
gereizter Löwe sprang dieser den Ungarn entgegen, warf sie zurück, befreite alle Deutschen, welche sie gefangen hatten, und brachte sie dem König. Am andern Morgen betete der König inbrünstig zu Gott nnd
gelobte, wenn Christus ihm die Feinde des Glaubens uud des Vater-
landes überwinden helfe, ein Bistum in Merseburg zu stiften. Dann las der Bischof Ulrich dem Heere die Messe und reichte dem knieenden Könige den Leib des Herrn. Als sich Otto wieder erhoben, sprach er zu beit Deutschen: „Sehet um euch! Zahllos sind die Haufen der Heiden; aber mit uns ist der mächtigste Helfer, Christus, mit feinen Scharen. So laßt uns aushalten und lieber sterben als weichen!" Hoch zu Roß, den Schild am Arm, sprengt der Kaiser jetzt im Glanz der Morgensonne seinen Deutschen voran. Nun beginnt die Schlacht. Unwiderstehlich rückt das deutsche Heer, Mann an Mann, gegen die Ungarn heran. Schon weichen diese auseinander. Aber um so heißer wird ihre Wut. Endlich werden die Haufen der Ungarn zersprengt. Die weite Ebene wimmelt von Flüchtigen. Heulend springen sie in den Lech; Leichen füllen das Flußbett. So wird das übermütige Volk vernichtet. Nur wenige entrinnen dem heißen Tage. Noch am Abend zieht Otto glorreich in Augsburg ein und dankt dein Herrn für Deutschlands Befreiung. — Nur sieben von den hunderttausend Feinden, die gekommen waren, sollen die Botschaft der Niederlage nach Hanse gebracht haben.
Heinrich IV und Gregor VII. *0
— Die Ungarn wagten sich seit der Zeit nicht mehr in das deutsche Land.
Überall erkannte man jetzt in dem deutschen König Otto den ersten Fürsten des Abendlandes. Bereits gebot Otto der Große mit gewaltiger Macht von den Alpen bis zum Belt, von dem Jura bis zur Weichsel, und es bedurfte nur uoch einer Stufe, um die deutsche Nation und ihr Oberhaupt auf den Gipfel der Macht zn erheben und ganz Europa mit Ehrfurcht vor demselben zu erfüllen. Auch dazu fand sich bald die Gelegenheit.
Papst Johann VII, von dem Markgrafen Berengar von Jvrea hart bedrängt, rief die Hilfe des deutschen Königs Otto au. Dieser folgte dem Hilferuf, zog über die Alpen, schlug Berengar in mehreren Schlachten und rettete den Papst von seinem Bedränger. Hierauf hielt er am Weihnachtsfest feinen Einzug iu Rom, wo er am 2, Febr. 962 unter dem Jubelruf des römischen Volkes vom Papst zum römischen Kaiser-gekrönt wurde. Von nun an blieb die römische Kaiserwürde ununterbrochen bei dem deutschen Reich, das späterhin den Namen „heiliges römisches Reich deutscher Nation" erhielt. Damit war die deutsche Nation an die Spitze der Völker Europas getreten.
Otto der Große starb im Jahre 973 nnd wurde im Dom des Erzbistums Magdeburg, der vou ihm erbaut war, beigefetzt. Iu ihm war das deutsche Kaisertum zu seiner höchsten Erscheinung gekommen.
Nach dem Erlöschen des sächsischen Kaiserhauses (1024) folgte die Reihe der falisch-fränkischen Kaiser (Konrad II 1024 —1039, 1024-1125 Heinrich III 1039—1056, Heinrich IV 1056 — 1106, Heinrich V 1106 bis 1125).
Heinrich IV und Gregor VII.
(Nach Berthold.)
(Jfiampf des Kaisertums und des Papsttums.)
Seitdem die Bischöfe über die von den Gemeinden gewählten Ältesten sich erhoben und das oberste Vorsteheramt in den christlichen Gemeinden errungen hatten, wurde auch unter ihnen selbst der Rangstreit rege. Die Bischöfe der Hauptstadt wollten mehr sein als die der kleineren Städte, und die Bischöfe der größten Städte suchten sich zu Aufsehern über alle übrigen emporzuschwingen. Aber auch unter
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Heinrich IV und Gregor VII.
diesen begann der Kampf, wer der vornehmste unter ihnen und der Herr der gesamten Christenheit sein sollte. Dem Bischose von dem
weltbeherrschenden Rom gelang es, den Sieg in diesem Streite zu erringen. Die Sage, daß der Apostel Petrus der Stifter der römischen Gemeinde nrtd der erste Bischof daselbst gewesen sei, erleichterte ihm sein stolzes Streben. Und als endlich die Apostel der Deutschen, vor-
nehmlich Bonisaeius, mit dem Christentnme zugleich des Papstes Ansehen in Deutschland predigten, und Pipiit, der Frankenkönig, und
Karl der Große durch Schenkungen weltlicher Besitztümer den Grund
zum Kirchenstaate legten, da war die Herrschaft der Päpste über die abendländische Christenheit begründet und eine lange schmachvolle Zeit für unser deutsches Vaterland herbeigerufen. Mochten auch nachher ein ganzes Jahrhundert hindurch die unwürdigsten, ja sogar ruchlosesten Brenschen auf dem Stuhle des Apostels Petrus fitzen, einst sogar ein 12jähriger Knabe der Stellvertreter Christi heißen, und später zu gleicher Zeit drei für Geld erwählte Päpste den heiligen Stuhl entweihen — das Ansehen der päpstlichen Würde war nicht mehr zu vernichten. Dazu kam noch, daß auch eine Reihe solcher Päpste regierte, die mit Klugheit und eisernem Willen die Herrschaft über Könige und Kaiser und über alle Länder der Christenheit zu erhalten strebten; die da lehrten, was Gott im Himmel sei, das seien sie ans Erden, und sie allein hätten das Recht, den Fürsten die Kronen zu geben und zu nehmen. Einer der ersten war Gregor VII, der Sohn eines Schmiedes, der von 1073 bis 1085 die päpstliche Macht zum höchsten Gipfel führte. Er lehrte öffentlich, er sei der sichtbare Stellvertreter Gottes aus Erden; er habe Macht, den Königen ihr Reich zu nehmen und anderen es zu geben; er sei der Richter über alle Menschen, aber er selbst stehe nur unter Gott. Er sagte weiter, gleich wie es am Himmel zwei große Lichter gäbe, die Sonne und den Mond, so habe auch die Christenheit zwei große Beherrscher, den Papst und den Kaiser. Aber der Papst sei die Sonne; und so wie der Moud kein Licht habe von sich selber, so habe auch der Kaiser keine Gewalt, wenn sie ihm nicht vorher vom Papste verliehen worden sei. An alle Höfe Europas gingen feine Gesandten mit stolzen Briefen, in denen er Unterwerfung und Gehorsam forderte. Er war es, der den Fürsten das Recht der Investitur entriß (d. h. die Ernennung und die Belehnung der Bischöfe mit den Ämtern), und der mit aller Strenge die Ehelosigkeit der Geistlichen einführte, um diese einzig und allein an den päpstlichen Willen zu fesseln.
Zu dieser Zeit regierte in Deutschland Heinrich IV, der schon als
Heinrich IV und Gregor VII.
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sechsjähriger Knabe mit der Kaiserkrone geschmückt worden war, aber eine sehr verderbliche Erziehung von den Bischöfen, die ihn den Mutterhänden entrissen, erhalten hatte. Gegen diesen war besonders der Übermut Gregors VII gerichtet. An ihm wollte er zeigen, daß niemand des Papstes Befehle ungestraft verachten dürfe, und er war deshalb hoch erfreut, daß die von Heinrich schwer gekränkten Sachsen ihre Klagen vor ihm ausschütteten. Schnell sandte er an Heinrich seine Boten und ließ ihm andeuten, vor seinem Richterstnhle in Rom sich zu stellen, sonst werde der apostolische Banusluch ihn aus der christlichen Kirche stoßen. Voll Zoru vernahm der Kaiser diese Botschaft und beschloß, gegen den anmaßenden Kirchensürsten eine harte Züchtignng ergehen zu lassen. Aber Gregor ließ sich nicht schrecken und erfüllte in folgenden Worten feine Drohung: „Vonseiten des allmächtigen Gottes untersage ich dem Könige Heinrich, der sich gegen die Kirche mit einem unerhörten Hochmut aufgelehnt hat, die Regierung des deutschen und italienischen Reiches und spreche alle Christen von dem Eide los, den sie ihm geleistet, und verbiete, daß ihm jemand als König diene, und an Statt des heiligen Petrus belege ich ihn mit dem Bannflüche, damit die Völker erfahren sollen, daß Petrus der Fels sei, auf den der Sohn Gottes feine Kirche gebaut hat". — Dennoch hätte Heinrich sich nicht zu fürchten brauchen, wenn nicht in Deutschland die Zahl seiner Feinde so groß gewesen wäre und nicht selbst seine Freunde ihn verlassen hätten. Auch die deutschen Fürsten erklärten ihn sür abgesetzt, wenn nicht der Bannfluch wieder von ihm genommen werde. Da sah endlich Heinrich keine andere Rettung, als durch schmachvolle Demütigung den stolzen Papst zu versöhnen. Im Januar 1077 wurde die beschwerliche Reise über die hohen Alpengebirge nach Italien angetreten. Die Kaiserin selbst mußte, in Ochsenhäute gewickelt, von den mit Schnee und Eis bedeckten Bergen hinabgeschleist werden. Heinrich wandte sich zunächst an die Gräfin Mathilde, auf deren Schlosse Canossa der Papst eben sich aushielt. Lauge ließ Gregor sich bitten, ehe er dem Kaiser den Eintritt in das Schloß gestattete. Aber unter was für einem schimpflichen Aufzuge! Nur mit einem wollenen Hemde bekleidet, in bloßen Füßen, wurde er in den äußeren Schloßhof eingelassen. Drei Tage ließ man ihn hier stehen, ohne daß er wußte, welches sein Schicksal endlich sein werde. Alle in dem Schlosse waren gerührt, nur Gregor nicht. Mit heißen Thränen bat Mathilde sür den Büßenden um Gnade, und Heinrich selbst verlangte, man solle ihm nur wenigstens zur Rückkehr wieder die Thore öffnen. Am vierten Tage endlich ließ der Papst ihn vor sich und erlösete ihn von dem Banne, jedoch mit der Bedingung,
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Friedrich Barbarossa.
daß er nicht eher die königliche Gewalt wieder ausübe, als bis er selbst darüber werde entschieden haben. — Mit gerechter Entrüstung eilte Heinrich uctch Deutschland zurück, um den Papst zu strafen für die Schmach von Canosfa. Es gelang ihm auch, den Papst ans Rom zu vertreiben, der bald darauf vom Schauplatze des Lebens abtrat. Aber dennoch dauerte es noch Jahre hindurch, daß die ganze verderbliche Macht des Papsttums über unserem teuren deutschen Vaterlande richte und schweres Unheil über Deutschlands Fürsten und Deutschlands Völker brachte.
Nach dem Aussterben des sränkisch-salischen Königshauses wurde zunächst Lothar der Sachse zum Kaiser gewählt (1125—1137). Nach seinem Tode gelangte mit dem schwäbischen Herzog Kourad das Haus der Hohenstaufen zur Herrschaft, aus welchem sechs Kaiser hervorgingen:
Konrad III 1137—1152, Friedrich I Barbarossa 1152—1190, Heinrich VI 1190—1197, Philipp von Schwaben 1198—1203, Friedrich II 1215—1250, Konrad I V 1250—1254.
Friedrich Barüarossa (1152 -1190).
In der Mitte von Schwaben (im Süden des heutigen Königreichs Württemberg) erhebt sich der hohe Staufen, ein kegelförmiger Berg. Auf dessen Gipfel stand einst die Stammburg eines berühmten deutschen Kaiserhauses, das den Namen Hohenstaufen führt. Heute ist eine niedrige, wenige Fuß lange Mauer der Überrest dieses ehemals so glänzenden Stammsitzes.
Aus diesem Geschlecht entsproß Friedrich Herzog von Schwaben, welchen die deutschen Fürsten im Jahr 1152 zum deutschen Kaiser erkoren.
Friedrich I, genannt Barbarossa, stand im 31. Jahre, als er den Thron bestieg (1152). Er war von mittlerer Große und wohlgebaut, sein Haar blond, kurz abgeschnitten und nur auf der Stirn gekräuselt, seine Haut weiß, seine Wangen rot und sein Bart rötlich, weshalb die Italiener ihn Barbarossa nannten. Er hatte schöne Zähne, feine Lippen, blaue Augen, einen heiteren, aber durchdringenden und der inneren Kraft sich gleichsam bewußten Blick. Sein Gang war fest, die Stimme rein, der Anstand männlich und würdevoll, die Kleidung weder gesucht noch nachlässig. Keinem stand er auf der Jagd und in Leibesübungen nach, keinem an Heiterkeit bei Festen; nie aber durfte der Aufwand in übermäßige Pracht, nie die gesellige Lust in Völlerei ausarten. Seine Kenntnisse konnten in jener Zeit, zumal bei der mehr weltlichen Richtung seines Lebens, nicht umfassend sein; doch verstand er Lateinisch und las
Friedrich Barbarossa.
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gern und fleißig die römischen Schriftsteller. Ungeachtet großen Feldherrntalentes sah er im Kriege immer nur ein Mittel für den höheren Zweck, den Frieden. Fnrchtbar und streng zeigte er sich gegen Widerstrebende, versöhnlich gegen Reuige, herablassend gegen die Seinen, doch verlor er weder in der Freude noch im Schmerze jemals Würde und Haltung. Selten trog ihn sein Urteil, fast nie sein Gedächtnis. Gern hörte er Rat; die Entscheidung aber kam, wie es dem Herrscher gebührt, stets von ihm selbst. Andächtig an heiliger Stätte und ehrfurchtsvoll gegen Geistliche als Verkünder des göttlichen Wortes, verstand er doch, den übertriebenen Forderungen der Kirche mit Nachdruck entgegenzutreten. Rücksichtslos die Gesetze vollziehen, hielt er für die erste Pflicht des Fürsten; ihnen unbedingt zu gehorchen, für die erste des Unterthans. Überall unternahm er nur das, was nach seiner Überzeugung dem Recht und den Gesetzen gemäß war, und gern blickte er dabei auf große Borbilder früherer Zeiten, namentlich auf Karl den Großen, mit der Be-geisteruug hin, welche selbst ein Zeichen der Tüchtigkeit ist.
Das Hanptstreben seiner Regierung ging dahin, das unter seinen Vorgängern gesunkene kaiserliche Ansehen wiederherzustellen, namentlich auch in Italien, wo der Papst und die lombardischen Städte seit den Zeiten Heinrichs IV dem Kaiser weigerten, was ihm gehörte.
Er machte 5 Römerzüge, um in Italien die kaiserliche Hoheit zur Anerkennung zu bringen und den Widerstand der lombardischen und der sie unterstützenden Städte zu brechen. Weit fich namentlich das mächtige Mailand ihm widersetzlich gezeigt hatte, belagerte er die Stadt und zerstörte sie im Jahre 1162; nut die Kirchen und größeren Gebände, Denkmäler der alten Kunst, blieben stehen.
Aber bald erhob sich die Stadt aus ihren Trümmern; wenige Jahre später legten die Lombarden, von Papst Alexander III aufgereizt, die Festung Aleffandria an, um dem Kaiser die Wiederkehr zu erschweren.
Vergebens belagerte der Kaiser das feste Alessandria ans seinem fünften Zug; ja er ward sogar im Jahre 1176 bei Legnano von den Städten gänzlich anfs Haupt geschlagen. Den unglücklichen Ausgang des Krieges schrieb Friedrich dem Treubruch seines Vasallen Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Baiern, zu, welcher dem Kaiser zu diesem Zuge Beistand und Heeresfolge verweigert hatte.
Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen uud Baieru, stammte aus dem mächtigen Hanse der Welsen, welches viele Jahre mit dem der Hohenstaufen Mutige Kriege geführt hatte. Unter Friedrich Barbaroffa war zwischen beiden Häusern eine Aussöhnung herbeigeführt, da Friedrich
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Friedrich Barbarossa.
und Heinrich Geschwisterkinder waren. Seitdem hatte sich Heinrich seinem kaiserlichen Vetter auf allen seinen Heereszügen angeschlossen und ihm manchen Sieg erkämpfen helfen.
Es war im Jahre 1155, als König Friedrich mit glänzendem Heer-haufeii nach Rom zog. Hier schmückte in der Peterskirche des Papstes Hand das königliche Haupt mit der römischen Kaiserkrone; da überfielen die treulosen Römer nach vollzogener Krönung gewaffnet den Arglosen. Aber wie ein Wetter braust der wachsame Heinrich mit seiner Schar herbei, seine Brust schützt den Kaiser, sein Schwert hält fürchterliche Ernte unter den Verrätern; 1000 Römer liegen erschlagen vor ihm an der Tiberbrücke, ihrer viele verderben in den Fluten des Stromes. Der Kaiser ist gerettet. Er nimmt dem Löwen den Helm vom Haupte und trocknet das Blut, welches diesem ans tiefen Wunden entströmt. Mit festen Banden der Freundschaft umschlungen stehen sie jetzt nebeneinander, der majestätische, blonde Ghibelline mit dem blauen Auge voll Macht und Milde, mit den braunen, funkelnden Augen der schwarze, markige Wels. In höchster Macht strahlte der 27 jährige Sachsenherzog. Längst hatte er sein Lieblingsland, das Sachsenland, hoch emporgehoben. Nach außen hin hatte er dessen Grenzen erweitert. Jenseits der Elbe hatte er die slavischen Völker, die heidnischen Obotriten, unterworfen. Nicht mit Gewalt hatte er ihre Tempel zerbrochen, nicht mit dem Schwert sie zur Taufe getrieben, sondern durch treue, würdige Priester ihnen das Evangelium lieb und wert machen lassen; auch hatte er viele sächsische Ansiedler unter sie gemengt, und so befestigte er hier nach und nach seine Herrschaft. Auch im Innern 'hatten seine Lande an Macht zugenommen. Er duldete nicht Fehden und Unordnung. Der Handel Bardewiks erblühte unter Heinrichs Schutz und füllte die Stadt mit Reichtum, und mehr noch geschah dies bei Lübeck, als der Herzog diese neuerworbene Stadt wegen ihrer günstigern Handelslage bevorzugte (worüber freilich Bardewik ihm gram wurde). Das von den Slaven eingeäscherte Hamburg war unter ihm herrlich erstanden, in Baiern aber erhob sich München unter seiner Pflege. Er sah mit Freuden feine Werke, erkannte mit Hochgefühl die Macht feines Willens; so wollte er feinen Willen auch vor niemand beugen, wollte allein Herr sein in seinem Reiche. Was bisher nur dem Kaiser vergönnt war, das that er jetzt; er gründete neue Bistümer (jenseits der Elbe), er setzte Bischöfe ein nach eigenem Ermessen. Da wurden die mächtigen geistlichen Herren rings umher ihm gar feind; in den Herzen der weltlichen Nachbarherrscher aber lag der Neid auf der Lauer.
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Selbst Kaiser Friedrich schien den mächtigen Leuen mit besorgtem Blick zu betrachten, und als er Heinrichs schwelgerischem Oheim, Wels VI, die Besitzungen abkaufte, die nach dessen Tode von rechtswegen als Erbe Heinrich hätten zufallen müssen, da wandte dieser sich kalt von seinem Waffenbruder ab. Italien hatte die Bande der Freundschaft geschlungen, Italien zerriß sie wieder. Der Kaiser wollte die aufrührerischen Städte der Lombardei züchtigen. Sie standen wider ihn mit großer Macht. Er konnte Heinrich nicht entbehren. Heinrich wollte wohl Unterstützungen an Geld und Volk gewähren, aber selber mitziehen, das wollte er nicht. „Es hat dich Gott im Himmel," so redete der Kaiser, „über andere Fürsten erhoben, daß alle Macht des Reiches auf dir allein beruht; so ist es billig, daß du jetzt des Reiches Ehre rettest." Heinrich forderte die kaiserliche Reichsstadt Goslar mit ihren Bergwerken zum Lohn. Die konnte der Kaiser nicht geben. Aber er sah im Geiste sein kleines Heer von den Lombarden vernichtet, sah Deutschland mit Schmach beladen; er bat, er flehte, er — warf sich seinem Vasallen zu Füßen. Die Umstehenden erblaßten; der tief erschütterte Heinrich beugte sich zum knieenden Kaiser hinab. „Laß immerhin die Krone da liegen," sprach sein Begleiter einer, „einst wird sie dein Haupt schmücken." Die Kaiserin Beatrix aber erhob sich mit Würde, richtete den Gemahl aus, und sprach: „Stehe ans, Herr, und gedenke dieser Stunde, wie Gott ihrer gedenken wird". — Heinrich zog trotzig von dannen. Als Friedrich die furchtbare Niederlage bei Legnano erlitten hatte, lud er, nach Deutschland zurückgekehrt, Heinrich vor feinen Richterftuhl auf mehrere Reichstage. Allein Heinrich erschien auf keinem. Da zog Friedrich mit den Fürsten gegen ihn; ihrer vereinigten Macht war Heinrich auf die Dauer nicht gewachsen. Geschlagen eilte er nach Erfurt, warf sich dort seinem Kaiser zu Füßen und flehte um Gnade. Da gedachte Friedrich des Tages, als er zn Heinrichs Füßen lag, und des Wechsels der menschlichen Schicksale; er sah die Narbe auf Heinrichs Stirn und gedachte der Tiberbrücke. Gerührt und mit Thränen in den Augen hob er den alten Waffengefährten auf. Er begnadigte ihn und sicherte ihm fein väterliches Erbe Brannfchweig und Lünebnrg unter der Bedingung, daß er drei Jahre lang den deutschen Boden verlasse. So zog Heinrich nach der Heimat seiner Gattin Mathilde, zum König Heinrich von England. Von dort nach 3 Jahren nach Deutschland zurückgekehrt, verlebte er den Abend seines Lebens ruhig in Braunschweig, wo er im Jahre 1195 starb.
Schon 12 Jahre vorher (1183) hatte Kaiser Friedrich mit den Lombarden Frieden gemacht, in welchem er im wesentlichen ans die
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Friedrich Barbarossa.
Hoheitsrechte über Italien Verzicht leistete. Zuletzt krönte der alte Barbarossa sein thatenreiches Leben mit einem Krenzzng in das gelobte Land, auf dem er aber in Kleinasien seinen Tod fand (1189).
Frühe schon waren Bet- oder Wallfahrten nach dem heiligen Grabe Christi aufgekommen, und dort seine Andacht zu verrichten wurde bald als ein Verdienst vor Gott angesehen und von der Kirche als Buße für schwere Sünden auserlegt. Selbst als die Araber Palästina mit Jerusalem einnahmen, hörten diese Fahrten nicht auf, da sie die christlichen Pilger ungestört ließen. Seit indes im 11. Jahrhundert Jerusalem unter die Herrschaft der Seldschucken, d. i. der mohamedanischen Türken oder Sarazenen kam, wurden die christlichen Pilger von ihnen so sehr gedrückt und mißhandelt, daß ihre Klagen ganz Europa mit Mitleid und Entrüstung erfüllten und der Wunsch entstand, das heilige Land den Ungläubigen zu entreißen. Schon Gregor VII hatte gemahnt, zum Schutz der Pilger die Waffen zu ergreifen. Aber erst die feurigen Schilderungen des aus dem Morgenlande zurückgekehrten französischen Pilgers Peter von Amiens von den Leiden der Christen hatten Erfolg. Durch seine Beredsamkeit kam unter der Teilnahme vieler durch Tapferkeit ausgezeichneter Fürsten und unter Führung Gottfrieds von Bouillon der erste Kreuzzug zustande (1096—1099). Nach unendlichen Mühsalen erreichten und eroberten die Kreuzfahrer nach 39tägiger Belagerung im Sturm Jerusalem (1099), wo sodann das Königreich Jerusalem gegründet ward, dessen erster Beherrscher Gottfried von Bouillon unter dem Titel „Beherrscher des heiligen Grabes" wurde. Bald wurden auch die benachbarten Gebiete den Sarazenen entrissen und als Lehenssürstentümer dem Kronland Jerusalem untergeben. Allein die Uneinigkeit derselben (der Fürsten von Edessa und Antiochiaj und ihre Unbotmäßigkeit dem König des Kronlandes gegenüber machte es etwa 90 Jahre später dem durch Tapferkeit, Tugend und Bildung ausgezeichneten Sultan der Mohamedaner Saladin möglich, nach einem großen Sieg über das Christenheer Jerusalem den Christen zn entreißen und der Herrschaft des Kreuzes ein Ende zu machen.
Die Schreckenskunde vom Fall Jerusalems veranlaßte den Kaiser Friedrich noch in seinem hohen Alter einen Krenzzng zu unternehmen. Siegreich durchzog er auch Kleiuasieu, aber er erreichte nicht das heilige Land. Als er am Kalykadnos oder Saleph, einem Flusse im südöstlichen Kleinasien, angekommen war, führte sein Sohn den Vortrab, das Gepäck folgte, er selbst befand sich beim Hintertreffen. Weil aber die Brücke über den Strom nur schmal war, so ging der Zug sehr langsam vorwärts. Deshalb beschloß der Kaiser, der schnell zu seinem Sohne zn kommen wünschte, den Fluß zu durchschwimmen. Zwar warnten ihn die Seinen, er möge sich nicht dem ihm unbekannten Wasser anvertrauen; allein furchtlos, wie immer, sprengte er mit dem Pferde in den Strom. Der Greis aber hatte nicht fo viel jugendliche Kraft als jugendlichen Mut; die Wellen ergriffen ihn gewaltig und rissen ihn fort, und als man endlich zu Hilfe kam und ihn aufs Laud brachte, war er bereits entseelt. Das war am 10. Juni 1190. Die Bestürzung, der Jammer,
Rudolf von Habsburg.
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die Verzweiflung überstieg jedes Maß: der Kaiser, der Feldherr, der Vater sei verloren, nun könne ihnen kein Glück mehr aufblühen.
Mit dem Heere trauerte ganz Deutschland über den Tod seines geliebten Kaisers. Das Volk glaubte, er lebe im Kyffhäuser verzaubert und werde einstmals wiederkommen als Wiederhersteller des alten Reiches und seiner Herrlichkeit. Diese Zeit ist jetzt gekommen. Nachdem der Engel unseres deutschen Volkes Jahrhunderte getrauert, hat er in unseren Tagen die Macht und Herrlichkeit des neu erstandenen deutscheu Reiches durch alle Lande verkündigen können. —
Zwei Jahre nach dem Tode des letzten Staufenkaisers, Konrads IV, trat das Interregnum ein (1256—1273), jene traurige Zeit, darin das kaiserliche Ansehen so gesunken war, daß kein deutscher Fürst die Krone annehmen wollte. Bei dem Mangel eines Oberhauptes stieg in Deutschland die Unordnung anfs höchste. Das Übel des Faustrechts nahm so überhand, daß ein Teil der Ritterschaft sich zum Raubleben erniedrigte. Die immer mehr steigende Gesetzlosigkeit und Unsicherheit erregte im deutschen Volke die Sehnsucht nach einem tüchtigen Kaiser, der dieser Verwirrung ein Ziel setzen könne. Die Wahl der deutschen Fürsten fiel auf Rudolf von Habsburg, einen in der Schweiz und im Elsaß begüterten Grafen, der durch Biedersinn und Frömmigkeit, Klugheit und Tapferkeit sich in seinem Ländchen als ein Hort nnd Schirm der Schwachen nnd Unterdrückten erwiesen hatte.
Üubolf von tzaüMurg (IM-1291).
(Nach Grube.)
Die kaiserlose Zeit war eine schreckliche Zeit gewesen für das arme Deutschland; kein Recht und keine Sitte hatte mehr gegolten, nur das Faustrecht Hatte geblüht. Rudolf zog nun selber gegen die Raubritter aus und schleifte ihre Burgen. In Thüringen allein zerstörte er 60 solcher Raubuester. Die adeligen Räuber ließ er insgesamt hängen. — Den Zollanffehern schrieb er: „Ich Höre, daß ihr Reisende zu ungebür-lichen Abgaben zwingt und unerträgliche Lasten ihnen auflegt; aber ich sage euch, haltet eure Hände rein von ungerechtem Gut und nehmt nur, was euch zukommt, denn ihr sollt wissen, daß ich mit aller meiner Macht mich bestreben werde, Gerechtigkeit zu üben und Ordnung und Ruhe zu erhalten". — Den trotzigen Herzog von Niederbaiern und die
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Rudolf von Habsburg.
Grafen in Schwaben und Burgund zwang er mit den Waffen in der Haud znr Unterwerfung. Aber vor allem richtete er feine Macht gegen den mächtigen, stolzen und kampflustigen Ottokar, König von Böhmen und Mähren und Herrn von Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain. Dieser war ergrimmt, daß er nicht zum deutschen König erwählt worden war, und wollte dem neuen Kaiser nicht huldigen. Dreimal forderte ihn Rudolf auf, vor ihm zu erscheinen unb ben Lehnseid abzulegen; aber Ottokar kam nicht. Da griff Rudolf zum Schwert und zog mit Heeresmacht gegen den Widerspenstigen aus. Auf dem Marchfelde, einige Meilen von Wien, kam es im Jahre 1278 zur entscheidenden Schlacht. Auf beiden Seiten wurde mit gleicher Erbitterung und gleicher Tapferkeit gefochten. Selbst des Kaisers Leben kam in Gefahr. Ein polnischer Ritter sprengte in wildem Ungestüm mitten durch die feindlichen Scharen gerade auf Rudolf zu und hatte schon dessen Pferd zu Fall gebracht, als noch zum Glück habsbnrgische Reiter herbeieilten unb ihren Herrn aus der nahen Gefahr erretteten. Ottokar selbst focht an der Spitze der ©einigen mit einer Tapferkeit, die ein besseres Schicksal verdient hätte; allein das Gluck verließ ihn, feine Scharen wichen überall zurück, er selbst ward im Gedränge niedergestoßen. Zwei steiermärkische Ritter, bie er einst hart behanbelt hatte, versetzten ihm ben Tobesstreich. Sein Leichnam warb nachher in der Prager Schloßkapelle beigesetzt. Auf der Walstatt fand man auch noch jenen polnischen Ritter schwer verwundet uud wollte ihn feinen Frevel mit dem Tode büßen lassen; aber Rudolf sprach: „Das wolle Gott verhüten! Einen so herzhaften Ritter töten, hieße dem ganzen Reiche einen unersetzlichen Schaden zufügen!“ und ließ ihn ans bas sorgfältigste pflegen. Ebenso großmütig zeigte er sich auch gegen Ottokars unmündigen Sohn, bem er bas Königreich Böhmen ließ, bie österreichischen Länber aber (Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain) gab er mit Bewilligung ber Kurfürsten feinem Sohne 1283 Albrecht unb wurde so der Stammvater des habsburg-vstcrrcichischen Hauses.
Bei so großer Macht verschmähte Rubolf ben Prunk ber römischen Kaiserkrone; er ging nicht nach Italien wie seine Vorfahren, welche bie Kraft beutscher Jugeub ber römischen Hinterlist opferten; er unternahm auch keinen Krenzzng, wie Papst Gregor X wünschte. Wohl aber brachte er mit starker Hanb bie königliche Macht in Ehren unb bie Gesetze wieder in Achtung. Darum sagte auch ein gleichzeitiger Schriftsteller: „Ruhe unb Friebe folgte auf Krieg unb Zerrüttung. Der Land-mann nimmt ben Pflug wieder zur Hand, der lange Zeit ungebraucht im Winkel lag; der Kaufmann, der aus Furcht vor Räubern zu Hause
Die Vorboten der neueren Zeit.
blieb, durchreiset jetzt das Land mit großer Sicherheit und die Räuber und Bösewichte, die zuvor öffentlich und ohue Scheu herumschwärmten, suchen sich in wüsten Gegenden zn verbergen".
Rndols starb im Jahre 1291, vom Volke tief betrauert; im schönsten Sinne war er ein Mann desselben gewesen. Im Dom zu Speier wurde er beigesetzt. Seiue Gerechtigkeit und Treue waren sprüchwörtlich geworden, und von einem Manne, der sein Wort nicht hielt, pflegte man zn sagen: „der hat Rudolfs Redlichkeit nicht". Lange lebte er fort im Andenken des Volks, das sich viele Züge von seiner schlichten Einfachheit, Milde, Herablassung, Klugheit und Gerechtigkeit erzählte.
Für Deutschland war seine Regierung segensreich gewesen. Wie er als Graf einfach und anspruchslos, bieder uud gerecht war, so hatte er sich auch als Kaiser mit Erfolg bemüht, Friede und Ruhe zn stiften und die schmerzlich vermißte Ordnung im deutschen Reiche wieder herzustellen. _____
Die Vorboten der neueren Zeit.
In dem 14. und 15. Jahrhundert hatte sich auf allen Gebieten des geistigen uud materiellen Lebens eine neue Zeit vorbereitet, welche sich gegen das Ende des Mittelalters durch folgenreiche Erfindungen und Entdeckungen einleitete.
Zn den ersteren gehört die Erfindung des Schießpulvers, durch welche das Kriegswesen eine völlige Umgestaltung erfuhr. Der Aus-gang der Schlachten wurde nun nicht mehr wie bisher durch die schwere Reiterei, sondern durch das im Gebrauch der Feuerwaffe geübte Fußvolk entschieden.
Das Schießpulver (odereine demselben ähnliche Mischung von Salpeter, Kohle und Schwefel) war schon den Chinesen, Indern und Arabern bekannt. Auch in Deutschland bediente man sich schon im 12. Jahrhundert im Rammelsberg (bei Goslar) einer Art Schießpulver zum Sprengen des Gesteins. Als Erfinder des Schießpulvers gilt der Mönch Berthold Schwarz aus Freiburg im Breisgau (um 1350).
Anfänglich wurde es nur beim schweren Geschütz, den Kanonen (sogenannten Donnerbüchsen oder Kartannen oder Feldschlangen) angewandt: erst gegen das Ende des 14. Jahrhunderts kamen Handbüchsen und Musketen in Gebrauch.
Unter allen Erfindungen des ausgehenden Mittelalters war aber die Buchdruckerkunst die wichtigste und zugleich die schönste Zierde des deutschen Namens.
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Die Vorboten der neueren Zeit.
Johann Gutenberg.
Die Erfindung der Buchdruckerkunst.
(Von Walter.)
Früher gab es nur geschriebene Bücher. Die Mönche vorzüglich beschäftigten sich mit dem Abschreiben, und es ist zum Erstaunen, wie weit sie es in der Schönschreibekunst gebracht hatten. Die großen Anfangsbuchstaben wurden sehr schön mit bunten Farben angemalt, auch wohl mit Gold ausgelegt, oft sogar mit niedlichen Bildchen umgeben. Solche Abschriften kosteten viele Zeit und vielen Fleiß und waren deshalb auch sehr teuer. Eine einzige schöne Bibel kostete 900 Mark.
Der Buchdruckerkunst ging die Formschneidekunst voraus. Es wurden nämlich in hölzerne Täfelchen allerlei Bilder von Heiligen geschnitten, mit Farbe bestrichen und dann auf Pergament abgedruckt. Bald schnitt man nicht nur einzelne Wörter dabei, sondern auch ganze Bibelstellen; zuletzt schnitt man sogar ganze Seiten in Holz. Sollte nuu ein geschriebenes Buch gedruckt werden, so mußten gerade so viele Holztafeln da fein, als das Buch Seiten Hatte; nach dem Abdrucke aber hatten diefe Tafeln, die so viele Mühe und Arbeit gekostet, keinen Wert mehr. Da kam ein deutscher Edelmann, Johann Gensfleisch aus der ritterlichen Familie Sorgenloch, der von seinem Hanse zum guten Berge in Mainz, wo er 1401 geboren war, Johann Gutenberg genannt wird, zu Straßburg auf den Gedanken, lieber einzelne Buchstaben in bucheneu Stäbchen — woher ihr Name Buchstaben — auszuschneiden, mit Fäden zu Zeilen an einander zu reihen, mit Tinte und Lampenruß zu schwärzen und abzudrucken. Der erste Versuch gelang nicht nach Wunsch, weil die hölzernen Lettern leicht zersprangen; daher nahm er bleierne, dann zinnerne. 1439 wurde auch die Presse erfunden; doch kam in Straßburg noch kein gelungener Abdruck eines Buches zustande.
Nach Mainz zurückgekehrt, trat Gutenberg 1450 mit Johann Faust, einem reichen Goldschmiede, und Peter Schöffer, Pfarrer in Germersheim, in Verbindung. Der letztere gab den Rat, die Buchstaben einzeln zu gießen, statt sie mühsam zu schneiden. Auch erfand er eine bessere Druckerschwärze aus Kienruß und Leinöl. Nun war man imstande, ein ganzes Werk zu drucken. Das erste war eine lateinische Bibel in drei Bänden, die wahrscheinlich 1456 vollendet wurde. Dem edlen Erfinder der Kunst aber ward nicht einmal die Freude, zur Vollendung derselben mitzuwirken. Faust hatte ihm zu dem Unternehmen 2000 Gulden vorgestreckt, welche dieser ihm nicht sogleich zurückgeben konnte. Er verklagte ihn deshalb und bekam zum Ersatz Gutenbergs Lettern
Johann Gutenberg.
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und Gerätschaften; Gutenberg selbst wurde sogar von dem Unternehmen ganz ausgeschlossen.
Die ersten Werke setzten alle in Erstaunen. Sie hielten das Gedruckte für Geschriebenes unb konnten nicht begreifen, wie man in so kurzer Zeit so unzählige Blätter auf einmal unb so ähnlich beschreiben konnte, baß nicht ber minbeste Unterschieb wahrzunehmen war. Insbesondere waren bie Mönche erbittert unb nannten Faust, ber mit seinen Bibeln auf Universitäten nnb Märkten umherzog, einen Schwarzkünstler. Die Kunst selbst blieb ein Geheimnis, bis 1462 Mainz erobert unb Fansts Werkstätte zerstört warb. Die Gesellen, vorher säst wie Gefangene gehalten, flohen jetzt nach allen Gegenben Dentfchlanbs unb Europas unb legten Druckereien an.
So warb biese wichtige Erfinbuug noch vor bem Enbe bes Jahr-hnnberts nicht nur über ganz Deutschland verbreitet, sonberrt auch über bie meisten europäischen Länder, namentlich über Italien, wo man zuerst die alte nachgeahmte Mönchschrift, aus welcher unsere jetzige Druckschrift entstanden ist, in die einfachere und zierlichere sogenannte lateinische Schrift umänderte und mancherlei Verbesserungen einführte. Faust starb 1466 zu Paris an der Pest; zwei Jahre später starb auch Gutenberg zu Mainz, fast vergessen.
Die Buchdruckerkunst ward gleichsam das Thor, durch welches alle Bilbung unb Aufklärung sich schnell nach allen Gegenben verbreitete. Alles Große unb Schöne, das einzelne Männer gedacht und erfunden hatten, konnte durch sie in kurzer Zeit zu einem bleibenden Gemeingute aller Völker der Erde werden. War in früherer Zeit eine Handschrift vernichtet, so war in der Regel das ganze Werk verloren; jetzt können mehrere hundert Exemplare zerstört werden, ohne daß darum das Werk vernichtet ist. Jetzt war es möglich, Kenntnisse zu sammeln, auch ohne in betn Hörsale eines Lehrers zu sitzen, ober in ben Bücherfchatz eines Klosters sich zu vergraben. Gleichwie aber bie Sonne neben bem guten Samen auch manches Unkraut aus bem Schoße ber Erde hervortreibt, so hat auch die Buchbruckerkunst manches Schäbliche und Sittenverderbende zu Tage gefördert.
In den Ausgang des 14. Jahrhunderts fallen auch eine Reihe folgenreicher Entdeckungen, durch welche dem Welthandel eine neue Richtung gegeben, das Gebiet der Naturwissenschaften (Erdkunde, Naturgeschichte u. s. w.) um ein bedeutendes erweitert wurde, auch europäische Kultur, Sitte und Lebensweise durch Einführung der
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Die Vorboten der neueren Zeit.
amerikanischen und indischen Kolonialerzeugnisse, wie Kaffee, Zucker, Tabak, Kartoffel u. a. eine große Veränderung erfuhr.
Schon seit den Kreuzzügen im 12. und 13. Jahrhundert waren dem Handelsverkehr des Abendlandes neue Wege eröffnet; besonders lebhaft war der Handel mit indischen Waren, welchen damals vor allen die Städte am Mittelmeer, unter ihnen besonders Genua, Venedig und Pisa, betrieben. Seitdem aber das christliche Reich in Palästina untergegangen war und die Türken sich im Osten des Mittelmeers festgesetzt hatten, wurden die ostindischen Waren sehr verteuert und der europäische Handel ging zurück. Daher erwachte der Gedanke, einen anderen Weg nach Indien aufzufinden. Zuerst versuchten dies die Portugiesen. Sie entdeckten zunächst auf ihren Seefahrten die Westküste von Afrika, umschifften darauf die Südspitze desselben Erdteils, das Vorgebirge der guten Hoffnung, und so fand endlich der kühne See-
1498 fahrer Vasco de Gama den Seeweg nach Ostindien (1498). An der Südwestküste erhoben sich bald zahlreiche Niederlassungen (z. B. Calicnt) durch welche die portugiesische Herrschaft in Ostindien begründet wurde.
1492 Nicht minder folgenreich war die Entdeckung Amerikas durch den Genuesen Christoph Kolumbus.
Kolumbus, der Entdecker Amerikas.
Christoph Kolumbus stammte ans der italienischen Stadt Genna und hatte sich von früher Jugend an dem Seewesen gewidmet. Mit Eifer bestrebt, seinen Geist auszubilden, hatte er sich alle Kenntnisse, welche zu diesem Berufe gehören, nt vorzüglichem Grade angeeignet. Was er von der großen Entdeckung der Südspitze Afrikas durch die Portugiesen hörte, erfüllte ihn mit Begeisterung. Um sich genauer mit derselben bekannt zu machen, begab er sich nach Portugal. Hier kam er ans den Gedanken, daß man doch, da die Erde eine Kugel fei, wenn mau gegen Westen durch das atlantische Meer schiffe, wiederum Land treffen müsse, und daß dieses Land vielleicht das im fernen Osten gelegene Indien sein könne. Wer weiß, dachte er, ob dieser Weg nicht kürzer ist als der um Afrika herum? Auch manche Erzählungen portugiesischer Seeleute schienen darauf hinzuweisen, daß im Westen Land zu finden sei. Man habe, hieß es, zuweilen ungewöhnlich großes Schilfrohr, künstlich bearbeitetes Holz, ja einmal sogar zwei Leichname von ganz eigentümlicher Körperbildung von Westen her übers Meer schwimmen und ans Land treiben sehen. Es wurde daher der feurigste Wunsch des Kolumbus, eine Entdeckungsfahrt nach Westen hin zu unternehmen. Zuerst
Kolumbus, der Entdecker Amerikas.
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machte er feiner Vaterstadt Genua das Anerbieten und verlangte einige Schiffe. Allein man erwiderte ihm: „Du bist ein Träumer", und wies ihn ab. Hierauf wandte er sich an den König von Portugal; doch ebenfalls umsonst. Nun ging er nach Spanien; aber auch hier dauerte es acht lange Jahre, bis der beharrliche Mann mit seinem Vorhaben durchdrang. Endlich gab ihm die Regierung im Jahre 1492 drei kleine Schiffe und 90 Mann, um die große Reife anzutreten.
Voll sühnen Mutes fuhr nun Kolumbus ins wilde, unbekannte
Meer hinaus. Der Wind blies günstig, und pfeilschnell flogen die Schiffe dahin. Aber wo fand sich das gesuchte Land? Sechzig Tage hatte die Fahrt schon gedauert, und noch immer sah man nichts als die unendliche Wasserwüste ringsum und darüber die weite Himmelsdecke. Da ergriff Angst auch die beherztesten unter den Schiffslenten. „Was soll aus uns werden?" fragten sie zitternd. „Er führt uns in den gewissen Untergang." Nur Kolumbus verlor keinen Augenblick den Mut. „Seid getrost", rief er den Verzagten zu, „bald ist das Ziel erreicht." Und unermüdet stand er Tag und Nacht aus dem Verdeck und beobachtete und leitete alles. Aber endlich versagte ihm die verzweifelnde Mannschaft den Gehorsam. In wilder Wut stürzen die Matrosen aus ihn los und drohen, ihn über Bord zu werfen, wenn er nicht alsbald umkehre. „Nur drei Tage noch fordere ich", erwidert Kolumbus; „sehen wir dann kein Land, so fahren wir heimwärts." Das nahmen die
Empörten an. Und siehe, schon am folgenden Tage erreichte das Senkblei den Meeresgrund; Rohr und ein Baumast mit roten Beeren schwammen auf sie zu, und Landvögel flogen auf die Masten. Die Sonne ging unter; noch sah man nichts. Doch ließ Kolumbus die
Segel einreffen, um nicht etwa bei Nacht auf Klippen getrieben zu werden. Gegen Mitternacht erblickte man ein Licht in der Ferne. „Land, Land!" erscholl es jetzt aus jeder Brust; man stürzte einander in die Arme, alle meinten vor Freude und baten knieend den Kolumbus um Verzeihung. Als der Morgen anbrach — es war am 7Osten Tage nach der Abfahrt — sahen sie eine schöne, grüne Insel vor sich liegen.
Mit Sonnenaufgang ruderten sie nun unter kriegerischer Musik
ans Land; Kolumbus-, eine Fahne in der einen Hand, einen Degen in der andern, war der erste, der die neue Welt betrat. Nachdem er mit der ganzen Mannschaft Gott auf den Knieen gedankt, nahm er die Insel feierlich für den König von Spanien in Besitz. Die Inselbewohner, welche von allen Seiten am Ufer zusammengeströmt waren, betrachteten mit Erstaunen die weißen Männer, ihre Kleidung, Schiffe und Waffen.
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Die Vorboten der neueren Zeit.
Niemals hatten sie solcherlei gesehen. Sie selbst waren nackt, von kupferroter Hautfarbe; viele trugen als Zierat Goldbleche in Nase und Ohren. Ihre Jufel nannten sie Guanahani; Kolumbus aber gab ihr deu Namen San Salvador, d. t. Erlöserinsel. Nach kurzem Verweilen setzte er dann seine Entdeckungsfahrt weiter fort und fand die großen Inseln Kuba und Hayti (San Domingo). Sie waren mit dem üppigsten Pslanzenwuchse bedeckt, aber von Anbau zeigte sich feine Spur; Herden nackter Menschen rannten tierühnlich umher und flohen beim Anblick der fremden Menschen wie schüchterne Rehe. Allmählich jedoch wurden sie zutraulicher und brachten Wurzeln, Früchte, Papageien und Fische herbei. Was sie au Goldblechen hatten, gaben sie den gierigen Spaniern für gefärbte Scherben und blinkendes Glas gern hin. Kolumbus ließ auf Hayti eine kleine Festung erbauen, in welcher 38 Spanier zurückblieben; mit seinen übrigen Gefährten trat er dann die Heimreise au, um die wichtige Entdeckung in Europa zu verkünden.
Ungeheurer Jubel begrüßte deu Helden, als er in Spanien landete; der König und die Königin überhäuften ihn mit Ehren; das ganze Land war in Bewegung gesetzt durch die Nachricht von einer neu entdeckten Welt. In kurzer Zeit hatten sich gegen 1500 Menschen zusammengefunden, die an einem neuen Zuge teilnehmen wollten, und schon sechs Monate nach seiner Rückkehr trat Kolumbus mit 17 Schiffen seine zweite Reise an. Er entdeckte auf derselben abermals mehrere Inseln, hatte aber auch manche Widerwärtigkeiten und Drangsale zu erdulden. Wie erschrak er, als er, in Hayti angekommen, die dort erbaute Festung zerstört und von seinen zurückgelassenen Gefährten keinen mehr übrig fand! Das grausame Betragen der Spanier gegen die armen Inselbewohner hatte diese zu gerechter Notwehr gereizt; sie hatten alle ihre Peiniger erschlagen, die Feste zertrümmert und sich in das Innere der Insel geflüchtet. Kolumbus gründete eine neue Niederlassung; allein seine neuen Gefährten, die gemeint hatten, in der neuen Welt Gold wie Sand auflefen zu können, verwünschten ihn, als sie nun Wildnisse urbar machen und Äcker bauen sollten; viele von ihnen kehrten nach Spanien zurück; und ans ihre Anklagen erschien endlich ein Abgesandter des Königs, der über das Verhalten des Kolumbus eine Untersuchung anstellen sollte. Das war dem edlen Helden zuviel; mißmutig verließ er die Insel und eilte nach Spanien. Dort erkannte man auch seine Unschuld; doch vergingen zwei Jahre, ehe er die nötigen Schiffe zu einer neuen Fahrt erhalten konnte.
Auf dieser dritten Reise entdeckte Kolumbus zuerst das feste Land
Kolumbus, der Entdecker Amerikas.
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des neuen Erdteils. Er kam an die Küste von Südamerika, wo der Orinokostrom sich in das Meer ergießt. Ans der Größe dieses Stromes merkte er, daß er ans keiner Insel kommen könne. Er fuhr eine Strecke der Küste entlang und wandte sich dann nach seiner Lieblingsinsel Hayti. Aber hier standen die Dinge höchst traurig. Wüste Unordnung und Zwietracht zerrüttete die spanische Niederlassung; frecher als je zuvor erhoben die Feinde des Kolumbus das Haupt. Und als er nun mit Kraft gegen die Friedensstörer einschritt, da wandten sich diese von neuem an den König und erhoben wider ihn die ärgsten Beschuldigungen. Abermals kam ein Gesandter aus Spanien, ein hochmütiger, gewalttätiger Mensch. Der mißbrauchte seine Macht so sehr, baß er ohne nähere Untersuchung ben Kolumbus gefangen nehmen, wie einen Verbrecher in Ketten legen unb nach Europa abführen ließ. So sah (Spanien ben großen Weltentbecker in Fesseln! Freilich gab man ihn sogleich wieber frei; allein bie Belohnungen, welche man ihm früher zugesagt hatte, würben ihm nicht zu teil. Dennoch unternahm ber kühne Mann noch eine vierte Reise. Auf berselben hatte er furchtbare Gefahren zu bestehen. Nachbem alle seine Schiffe zu Grunbe gegangen waren, schmachtete er mit seiner Mannschaft acht Monate lang auf einer Insel mitten unter ben Wilben in ber äußersten Not, bis enblich ein Schiff erschien unb ihn nach Spanien zurückführte.
Kolumbus starb, 59 Jahre alt, in der spanischen Stabt Vallabolib. Sein Leichnam würbe nach Hayti unb später nach Kuba gebracht; bie Kette, mit welcher er einst gefesselt war, würbe ihm, wie er verorbnet hatte, mit ins Grab gelegt. Der von ihm entbeckte Erbteil aber erhielt nicht nach ihm, sonbern nach bem Italiener Amerigo, ber ihn zuerst beschrieb, ben Namen Amerika. (Andrä.)
Nachbem schon im Zeitalter ber Hohenstaufen bas christliche Glaubensleben burch bie Gleichstellung menschlicher Satzungen mit bem Worte Gottes, burch bas Überhanbnehmen bes Aberglaubens und durch das verweltlichte Leben eines großen Teils der Geistlichkeit mehr in Abnahme gekommen war, wurden am Ausgang des Mittelalters die Klagen über den häufigen Mißbrauch der päpstlichen Gewalt, die Verweltlichung ber Geistlichkeit unb über ben allgemeinen Verfall ber Sitten immer lauter. Daher würbe bas Verlangen nach einer „Verbesserung ber Kirche an Haupt unb ©liebern" immer stärker. Zwar würben nun burch bie großen Kirchenkonzilien einige Mißbrauche beseitigt, allein dies reichte
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nicht hin, um die Gebrechen zu heben, nach deren Abstellung alle Wohlgesinnten so lange her sich sehnten. Denn groß war die in die Kirche eingedrungene Sittenverderbnis, arg die Unwissenheit vieler Geistlichen, äußerst vernachlässigt die Kenntnis der heil. Schrift und die Führung des Predigt- und Seelsorgeramts, entsetzlich der überall verbreitete Aberglaube (Hexenprozesse, Ablaß).
Das Bedürfnis einer Reformation machte sich zwar in allen Kreisen der Christenheit, namentlich in Deutschland, auf eine unwiderstehliche Weise geltend, doch zum Handeln fühlte sich der Glaubensmut uur eines Mannes gedrungen, der in der Hand der göttlichen Vorsehung bald das Werkzeug zur Reinigung der Kirchenlehre, zur Abschaffung der schreiendsten Mißbrünche werden sollte.
Martin Luther.
(Nach Hennig.)
Es wohnte ein armer Bergmann in dem Torfe Möra bei Eisenach, der hieß Hans Lnther und feine Frau Margareta. Beide führten ein frommes, stilles Leben und standen in gutem Rufe bei ihren Nachbarn. Später zogeu sie nach Mansfeld. Nun trug es sich zu, daß sie einst nach Eisleben gingen zum Jahrmarkt, und hier ward ihnen am 10. November 1483 ein Söhnlein beschert. Andern Tages brachten sie das Kind zur heiligen Tanse, und da es gerade der Tag des heiligen Martin war, so wurde der Knabe Martin geheißen. — Seinen ersten Unterricht erhielt der kleine Martin in der Schule zu Mausfeld. Später brachte ihn der Vater nach Magdeburg und endlich nach Eisenach. Hier ging es ihm aber nur sehr kümmerlich; denn die Eltern konnten ihm nicht viel geben, und so mußte er denn, um nicht zu hungern, mit andern armen Schülern sich sein Brot auf den Straßen ersingen. Wie er nun ein gar schönes, srommes Gemüt hatte, so ward er anch dnrch den Gesang zur tiefsten Andacht gestimmt. Das bemerkte die Frau eiues Mauues, namens Konrad Kotta. Sie fühlte sich dadurch so fehr zu betn Knaben hingezogen, daß sie ihn zu sich nahm und ihm Wohnung und Unterhalt gab. Jetzt war der kleine Luther aus aller Not. Freudig überließ er sich nun dem Lernen und machte solche Fortschritte, daß er schon nach 4 Jahren die hohe Schule zu Erfurt beziehen konnte. Hier
fand er einst in der Bücherfammlnng der Schule eine vollständige lateinische Bibel. Er hatte noch keine gesehen. Mit hoher Freude nahm
er sie in die Hand, und je länger er darin las, desto höher stieg seine
Martin Luther.
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Ehrfurcht vor dem heiligen Buche. Kaum konnte er sich davon trennen, und so oft es seine Zeit erlaubte, kehrte er zurück und las in seiner Bibel. Wie gern hätte er fein ganzes Leben der Erforschung dieses Schatzes gewidmet; aber sein Vater wünschte, daß er ein Rechtsgelehrter werden solle, und er gehorchte. Da geschah es, daß er einst mit seinem Freunde Alexius spazieren ging. Ein schweres Gewitter zog herauf, ein Blitzstrahl zuckte herab, und Alexius lag erschlagen am Boden. Das machte auf Luther einen solchen Eindruck, daß er auf seiue Kniee sank und gelobte, ein Mönch zu werden. Er hielt sein Gelübde und trat in das Augustinerkloster zu Erfurt. Da hatte er anfangs einen schweren Stand. Gleich andern Neneingetretenen mußte er mit einem Sack auf dem Rücken umhergehen und für das Kloster betteln. Sein frommer Sinn ließ ihn auch dies überstehen. Nachdem er die Priesterweihe empfangen und sich durch Betteln und Fasten und eifriges Lernen schon ganz siech gemacht hatte, erhielt er endlich vom Kurfürsten Friedrich dem Weifen von Sachsen einen Ruf uach Wittenberg, um an der dortigen Universität zu lehren. Hier erwarb er sich die Würde eines Doktors der heiligen Schrift und machte durch feine Lehren und Predigten, bei denen er immer von der Bibel ausging, ein solches Auffehen, daß die Jünglinge von nah und fern herbeieilten, um den außerordentlichen Mann zu hören. — Auf einer Reise, die er in einer Angelegenheit seines Ordens nach Rom machte, hatte er Gelegenheit, die Gebrechen der Kirche an ihren Dienern kennen zu lernen. Wie erstaunte er über die unglaubliche Unwissenheit der Priester und Mönche! Selten fand er einen, der die heilige Schrift auch nur dem Namen nach kannte. Und was für ein sittenloses Leben führten sie! Und wie sah es in den Kirchen ans. Da war keine Spur vou einer Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit. Die öffentlichen lateinischen Gebete verstand kaum der Priester; man begnügte sich daher, den Rosenkranz herzuplappern und überließ das übrige den Heiligen und dem Ablaß.
Tiefes Leid im Herzen über den grenzenlosen Verfall der Kirche und über die himmelschreiende Unwissenheit und Verwahrlosung des armen Volkes, hatte Luther einst einige Leute in der Beichte zur Buße ermahnt. Wie erstaunte er aber, als sie ihm erklärten, sie brauchten nicht Buße zu thun, denn sie hätten ja Ablaßbriefe von Tetzel! Nun vermochte er nicht länger zurückzuhalten. Er fetzte sich hin und schrieb 95 kurze Sätze aus, in denen er bewies, daß der Ablaßhandel ganz gegen die heilige Schrift und gegen alle Vernunft und fogar eine Gotteslästerung fei; daß niemand das Recht, noch die Macht habe, Sünden
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zu vergeben, außer Gott, und daß allein wahrhafte Besserung durch wirkliche Reue und Buße dahin führen könne n. s. w. Diese Sätze schlug er den 31. Oktober 1517 in Gegenwart vieler Studenten und anderer Leute an die Schloßkirche zu Wittenberg. Das war der Anfang der Reformation, der Grundstein, auf welchen Luther nach und nach die evangelische Kirche gebaut hat, die Kirche, welche alle Satzungen des Papstes verwarf und allein auf die heilige Schrift sich gründete. Die Satze machten unerhörtes Aufsehen. Als wären die Engel selbst Botenläufer gewesen, so waren sie in 14 Tagen durch ganz Deutschland, in 4 Wochen durch ganz Europa verbreitet. Man staunte und bewunderte ben Mut des Mannes, der es wagte, die Macht des Papstes anzugreifen, eine Macht, vor welcher man die mächtigsten Fürsten hatte zittern sehen.
Bald genug erschien denn auch der Bannfluch des Papstes gegen Luther. Dieser aber, dadurch zu größerem Widerstände gereizt, ließ ein Feuer anzünden und übergab in Gegenwart der staunenden Menge die Bannbulle mit kühner Hand den Flammen. Dadurch hatte er sich nun gänzlich vom Papste losgesagt; man zitterte für sein Leben, und viele hielten ihn für verloren. Er aber kannte keine Furcht. Auch hatte er schon mächtige Freunde, die sich seiner annahmen. Da war vor allen der edle Kurfürst Friedrich der Weife, welcher entschlossen war, ihn zu schützen; dann Ulrich von Hutten, ein rechter deutscher Mann, kühn und scharf mit dem Schwerte und mit der Feder. Wie er einst vier Franzosen zu gleicher Zeit zum Zweikampf forderte und alle besiegte, weil sie vom Kaiser unehrerbietig gesprochen hatten, so war er auch mächtig mit dem Worte. Mit Begeisterung ergriff er Luthers Sache und hätte gern das Schwert für ihn gezogen. Franz von Sickingen, ein tapferer Ritter in Franken, und mit so außerordentlichen Eigenschaften begabt, daß man ihn der Kaiserkrone für würdig hielt, bot Luther einen sichern Aufenthalt in feiner Burg Landstuhl. Wie mächtig er war, zeigte er in einer Fehde gegen den Erzbischof Richard von Trier, den er mit 12,000 Mann überfiel.
Zu seinen eifrigsten Gegnern gehörte unter den Fürsten der Kurfürst Albrecht von Mainz und sein Bruder Joachim I von Brandenburg; vor allen auch Kaiser Karl V, welcher gelobte, „alle seine Macht daran zu setzen, um dies gottlose Unternehmen zu verhindern".
Im Jahre 1521 wurde Luther vor den Reichstag zu Worms gefordert. Dort sollte seine Sache gerichtet werden. Obgleich Friedrich der Weise ihm sicheres Geleit vom Kaiser erwirkte, so baten ihn doch seine Freunde, nicht nach Worms zn gehen. Er aber sagte: „Und wenn
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sie ein Fener machten, das von Worms bis Wittenberg reichte, so wollte ich dennoch mich nicht fürchten". Von seinem geliebten Freunde Melanchthon nahm er mit den Worten Abschied: „Komme ich nicht wieder, und morden sie mich, so beschwöre ich dich, lieber Bruder, laß nicht ab zu lehren und bei der Wahrheit des göttlichen Wortes zu beharren; du kannst es noch besser als ich, und darum ist's auch nicht viel schade um mich". — Mit Thränen sahen die Wittenberger ihn scheiden und sandten ihm die heißesten Segenswünsche nach. — Neben ihm im Wagen saß der kaiserliche Herold, welcher ihn sicher geleiten sollte. Wie nötig das war, ersah man aus den vielen päpstlichen Verhastsbesehlen, die man an allen Ecken in den Straßen angeschlagen erblickte. Es glich aber die Reise fast dem Zuge eines Kaisers. In Scharen strömte ihm das Volk entgegen, um den kühnen und geliebten Mann noch einmal zu sehen. „Lieber Bruder Martin," hieß es da oft, „gehe nicht hin! denke an Huß!" Als ihn noch kurz vor Worms einer seiner Freunde zum Umkehren bewegen wollte, da sagte er: „Und wenn so viel Teufel in Worms wären wie Ziegel auf den Dächern, so wollte ich dennoch kommen". Am 16. April fuhr er zur Stadt hinein nach dem deutschen Hofe, wo der Kurfürst von Sachsen wohnte. Von allen Seiten strömte das Volk zu lausenden herbei, und kaum konnte der Wagen sich langsam durch die Menge dahinbewegen. Gleich am folgenden Tage ward er vor die Versammlung geladen. Wegen der außerordentlichen Volksmenge, die sogar die Dächer besetzt hatte, um ihn zu sehen, führte man ihn durch Gärten und verborgene Gänge nach dem Bischofshof, wo der Reichstag gehalten wurde. Als Luther eben eintreten wollte, trat ein grauer Kriegsheld, Georg von Frunsberg, an ihn heran, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Mönchlein, Mönchlein, du gehst jetzt einen Gang, dergleichen ich und mancher Oberster auch in unserer ernstesten Schlachtordnung nicht gethan haben. Bist du auf rechter Meinung, so sei getrost, Gott wird dich nicht verlassen!" — Jetzt rauschten die Flügelthüren auf. Festen Schrittes trat Luther in den Saal und stand dem Reichstage gegenüber. Da faß der Kaiser Karl V und sein Bruder, der Erzherzog Ferdinand; da waren 6 Kurfürsten, 24 Herzöge, 8 Markgrafen, 30 Bischöfe und Prälaten und viele andere. Aller Augen richteten sich auf den kühnen Mann, als ihn nun der Kanzler Johann von Eck fragte, ob er jene Bücher, die auf einer Bank lagen, für die feinen erkenne und ob er sie widerrufen wolle? — Die erste Frage bejahte er; für die zweite bat er sich Bedenkzeit aus. Und als man nun am folgenden Tage eine kurze, entschiedene Erklärung verlangte, da hob er mit fester
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Stimme also an: „Weil denn Ew. Kaiserliche Majestät, Kurfürstliche und Fürstliche Gnaden eine schlichte, einfache und richtige Antwort begehren, so will ich eine geben, die weder Hörner noch Zähne haben soll, nämlich also: Dem Papst und dem Konzil glaube ich nicht; widerrufen mag ich nicht; hier stehe ich; ich kann nicht anders; Gott helfe mir; Amen!" - Diese Worte brachten einen tiefen Eindruck auf die Versammlung hervor, und manches Herz ward für ihn gewonnen. Man führte ihn hinaus. Vergeblich bemühten sich Kurfürst Joachim I und Richard von Trier, die Sache gütlich auszugleichen; Luther verharrte bei seinem Entschluß. Die Anhänger des Papstes aber drangen in den Kaiser, dem Beispiele Sigismunds zu folgen und dem Ketzer sein Wort nicht zu halten, sondern ihn sogleich verbrennen zu lassen. Voll edlen Unwillens entgegnete der jugendliche Kaiser: „Und wenn nirgends in der Welt Treue zn finden wäre, so soll man sie bei dem deutschen Kaiser finden". — Obwohl er nun gegen Luther die Acht aus sprach, so bewilligte er ihm doch freies Geleit auf 21 Tage.
Als Luther nun auf dem Heimwege in den Wäldern von Thüringen dahinfnhr, siehe, da sprengten plötzlich fünf verkappte Ritter aus ihn zn, zogen ihn ans dem Wagen und schleppten ihn mit sich in das Gebüsch. Hier kleideten sie ihn wie einen Ritter, setzten ihn aus ein Pferd und brachten ihn auf die nahe Wartburg. Es war das Werk Friedrich des Weisen, welcher deu Geächteten den Augen seiner Feinde zu entziehen suchte. Indes nun niemand wußte, wo Luther geblieben war, saß er ruhig auf der Wartburg und arbeitete an dem größten und wichtigsten feiner Werke. Er übersetzte die Bibel in die deutsche Sprache und diese erste deutsche Bibelübersetzung, welche 1534 vollendet wurde, fand, da kurz vorher die Buchdruckerkunst erfunden war, rafche Verbreitung. Sie war nicht nur für die Beförderung der lutherischen Lehre, sondern auch für die Ausbildung der deutschen Sprache von höchster Bedeutung. Denn von jetzt ab bildete sich nach dem in Luthers Bibelübersetzung gegebenen Muster eine allgemeine hochdeutsche Schriftsprache aus. Wesentliche Unterstützung bei dieser Übersetzung hatte Luther durch seinen gelehrten Freund Philipp Melanchthon gefunden. Derselbe hatte int Jahre 1530 auch die Augsburger Konfession ausgearbeitet, die von den Protestanten — so hießen damals die Anhänger der Reformation — als ein Bekenntnis ihres Glaubens dem Kaiser Karl V auf dem Reichstag zu Augsburg übergeben wurde.
Nachdem Luther zunächst in den sächsischen Landen die Kirche nach den Grundsätzen der Reformation eingerichtet hatte, verbreitete sich die-
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selbe bald durch ganz Deutschland. Da aber der Kaiser Karl V hartnäckig ein Gegner der neuen Lehre blieb, so beharrten noch manche andere Fürsten bei dem alten Glauben. So geschah es, daß das religiöse Bekenntnis bald das ganze deutsche Volk in zwei feindliche Heerlager spaltete, in welchen die Anhänger der neuen Lehre und die des Papstes einander gegenüber standen. Luther selbst erlebte den Ausbruch des Kampfes nicht mehr; er starb am 18. Februar 1546 in einem Alter von 63 Jahren in seiner Vaterstadt Eisleben, noch im letzten Todes-kampse bezeugend, wie er freudig sterbe auf alles, was er gelehrt. Sein Leichenzug nach Wittenberg ward ein Trauerzug des ganzen Volkes.
Alle fühlten, daß an Hoheit des Geistes, an unerschütterlicher Kraft des Glaubens wie an nachhaltiger Wirkung auf Deutschlands innerstes Leben nie seines Gleichen gewesen in unserer Geschichte.
„Zum Andenken an den großen Reformator ist in der Stadt Worms, wo er im Jahre 1521 das mutige Bekenntnis abgelegt hat, im Jahre 1868 das Lutherdenkmal errichtet. Auf einem hohen steinernen Postament erhebt sich die Bildsäule des Reformators; unter ihm sitzen die vier Vorläufer der Reformation: der Böhme Huß, der Italiener Sa-vonarola, der Engländer Wikles und Petrus Waldus aus Lyon.
Links uni) rechts sind je 2 Standbilder. Der Kurfürst von Sachsen,
Friedrich der Weise, hat das Kurschwert zum Schutze der heiligen Sache erhoben; hinter ihm steht der gelehrte Reuchlin, dazwischen sitzt eine Frauengestalt, das Sinnbild der Stadt Augsburg, mit einer Rolle, der augsburgischen Konfession. Auf der anderen Seite steht der Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen, auf das Schwert gestützt, hinter ihm Melanchthon, und zwischen beiden eine trauernde Frauengestalt, das Sinnbild des zerstörten Magdeburg. Das Ganze ist mit Mauern und Zinnen umschlossen, auf welchen sich die Wappen der Städte befinden, welche sich zuerst zur Reformation bekannten." (Bock.)
Wenn auch die Evangelischen freilich nach schwerem Kampf es endlich erreichten, daß ihnen im Augsburger Religionsfrieden (1555) die freie Ausübung ihrer Religion gewährt wurde, so rief doch auch späterhin der Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten viele Streitigkeiten hervor. Eudlich sührte die Spannung beider Parteien zu einem neuen blutigen Religionskrieg, dem 30jährigen Krieg, der 1618-1648 ein MeNschenalter hindurch Deutschland auf eine solche Weise verwüstete, daß ein Jahrhundert nicht alle Spnren desselben verwischen konnte.
Im zehnten Jahre dieses furchtbarsten aller Kriege, der 1618 mit der Ausrottung der evangelischen Kirche in Böhmen begonnen hatte,
Abicht, Lesebuch. II. 12
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Gustav Adolf, König von Schweden.
war Kaiser Ferdinand II (1619 —1637) durch die Heere Tillys und Wallensteins Herr im ganzen protestantischen Norddeutschland und die evangelische Kirche sah sich schwer bedroht. Da erschien ihr als Retter in der höchsten Not der fromme Schwedenkönig Gnstav Adolf, der am 24. Juui 1630 mit 15,000 Mann tapferer Schweden in Pommern landete, um seine evangelischen Glaubensgenossen aus ihrer Bedrängnis zu retten.
43itstab Adolf, LLonig bau Schweden.
Gnstav Adolf war ein schöner Mann von großer, stattlicher Gestalt, weißer Hautfarbe, blondem Haar uud Bart, lebhaften blauen Augeu. In den edlen Zügen feines Antlitzes spiegelte sich Heiterkeit und Herzensgute, die, mit inniger Frömmigkeit gepaart, den Grundzug seines Charakters bildete. Doch fehlte ihm nicht Ernst und Strenge, wo es not that. In seinem Heere hielt er auf Mannszucht und Ordnung und bestrafte nachsichtslos jede Gewaltthätigkeit. Dennoch waren ihm alle seine Krieger mit voller Liebe zngethan; denn er sorgte für sie wie ein Vater, erkannte freudig jedes Verdienst an und teilte mit feinen Soldaten alle Mühseligkeiten. Bei aller Frömmigkeit, die er auch auf fein Heer zu übertragen bemüht war, war er doch fern von religiöser Unduldsamkeit. Er bitte Gott, sagte er, die Menschen durch Liebe zu vereinigen. Ebenso groß als Staatsmann wie als Feldherr war er zugleich ein warmer Verehrer der Wissenschaften und sprach vier Sprachen mit großer Fertigkeit.
Als der König die pommersche Küste betrat, fiel er im Angesicht seines ganzen Heeres anf die Kniee uud flehte im Gebet um Gottes Beistand. Da er in den Angen einiger Hanptlente Thränen der Rührung bemerkte, sagte er: Weinet nicht, meine Freunde, sondern betet! Jemehr Betens, je mehr Siege! Fleißig gebetet ist halb gefochten und gesiegt.
Leicht vertrieb Gustav Adolf die Kaiserlichen ans Pommern und Mecklenburg. Allein bald sah er sich in seinen Fortschritten gehemmt, und da mehrere protestantische Fürsten, namentlich die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen, ihm den Zug durch ihre Länder verweigerten, so vermochte er die Zerstörung Magdeburgs am 20. Mai 1631 nicht zu hindern.
Nach dem Falle Magdeburgs überschwemmte der kaiserliche Feldherr Tilly Kursachsen. Da endlich schloß der Knrfürst von Sachsen ein Bündnis mit den Schweden und Gustav Adolf gewann einen Herr-
Gustav Adolfs Sieg und Tod bei Lützen.
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lichen Sieg über den bis dahin nie besiegten Tilly in der Schlacht bei Leipzig (oder Breitenfeld); nun öffnete sich das ganze protestantische Deutschland freudig dem Sieger.
Darauf zog Gustav Adolf durch Mitteldeutschland über Frankfurt om Main nach dem Rhein, nahm Mainz ein, wandte sich dann nach Baiern, erzwang den Übergang über den Lech, wobei Tilly tödlich verwundet wurde itnb hielt feinen Einzug in München. In dieser Not schuf der kaiserliche Feldherr Wallenstein ein neues großes Heer, zog nach Baiern und verschanzte sich auf der Anhöhe bei Zirndorf (unweit Nürnberg). Nachdem Gnstav Adolf einen vergeblichen Sturm aus Wallensteins Schanzeu unternommen hatte, wandte sich dieser nach Sachsen, um dieses Land von dem schwedischen Bündnis abzubringen. Unverzüglich folgte ihm der König dorthin nach und zwang ihn am 16. November 1632 zur Schlacht bei Lützeu (in der Nähe von Leipzig).
Gustav Adolfs Sieg und Tod bei Lützen.
Am Morgen des 16. November verhüllte ein dichter Nebel die Gegend. Als der Nebel gefallen war, bliesen die schwedischen Trompeten: „Eine feste Bnrg ist unser Gott"; das Heer kniete zum Morgengebet nieder, und der König stimmte das von ihm gedichtete Lied an: „Verzage nicht, dn Häuflein klein". Daranf ritt er aus seinem weißen Leibroß durch die Reihen seiner Krieger. „Ihr lieben Spießgesellen", sprach er zu ihnen, „zielt recht und schießt gewiß; mit dreier Stunden Werk und Arbeit werdet ihr mich zum ersten König der Welt machen". Um elf Uhr, als der Nebel völlig gefallen war, sprengte er vor und rief: „Nun wollen wir dran, das walt' der liebe Gott! Herr Jesu, Jesu, hilf mir heute streiten zu deines Namens Ehre!" Die Schweden drangen unter des Königs Führung siegreich vor; als er aber horte, daß sein Mitteltreffen zurückweiche, wollte er demselben Hilfe bringen. An der Spitze eines Reiterregiments sprengte er so rasch dorthin, daß nur wenige ihm folgen sonnten. Der Nebel war wieder dichter geworden, der König überdies kurzsichtig, und so geriet er mitten unter die feindlichen Reiter. Da traf ein Pistolenschuß sein Pferd durch den Hals und zerschmetterte ihm den Arm. „Es ist nichts", rief er den inzwischen nachgekommenen Reitern zu, „folgt mir!" Aber gleich darauf erhielt er auch einen Pistolenschuß in den Rücken. Mit dem Seufzer: Mein Gott, mein Gott! sank er tödlich getroffen vom Pferde.
Doch fein Fall erbitterte die Schweden zur Rache und unter der Anführung des tapferen Herzogs Bernhard von Weimar warfen sie die
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Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst.
Kaiserlichen wieder zurück. Da sprengte ein Reiteranführer derselben, der tapfere Pappenheim, an der Spitze von 8 Reiterregimentern heran und stürzte sich mit Ungestüm auf die siegreichen Schweden, die er über die Landstraße zurückwarf. Aber auch er sinkt, von zwei Kugeln tödlich getroffen, vom Pferd herab. Da beginnen die Reihen der Kaiserlichen zu wanken und bald wendet sich ihr ganzes Heer zur Flucht.
Die Schweden brachten die Nacht auf dem Schlachtfelde zn: Erst am folgenden Morgen fanden sie den Leichnam des Königs ganz entkleidet und entstellt. Der Schwedenstein bei Lützen bezeichnet die Stelle, wo Gustav Adolf gefallen. Über ihm erhebt sich ein Denkmal, welches ihm das dankbare Deutschland gesetzt hat.
Die Schweden hatten für die evangelische Sache einen herrlichen Sieg errungen, aber er war mit dem Tode Gnstav Adolfs, welcher das ganze protestantische Deutschland in die tiefste Trauer und Bestürzung versetzte, fast zu teuer erkauft. Auch brachte er deu ersehnten Frieden noch lange nicht, da der Krieg sich noch 16 Jahre bis 1648 hinzog. Wenn endlich der westfälische Frieden den Protestanten völlige Religionsfreiheit gewährte, so war dieser günstige Ausgang ganz besonders durch Gustav Adolf vorbereitet. (Nach Wernicke.)
Friedrich Wilhelm, der grosse Aurfürst (1640-1688).
Die Grundlage der preußischen Monarchie bildet die Mark Brandenburg, welche im Jahre 1415 dem Burggrafen Friedrich von Nürnberg, aus dem Hause Zollern, durch den Kaiser Sigismund erb- und eigentümlich übertragen wurde.
In einem der schönsten Teile Schwabens, nicht fern von den Stammsitzen der Staufen und Welfen, stand und steht noch heute in erneuter Pracht die Burg Hohen-zollern, die Geburtsstätte eines der mächtigsten und ruhmvollsten Herrscherhäuser der Welt. Ein Zweig dieser Zollern — von Hechingen und Sigmaringen — blieb in der Heimat, der Hauptstamm aber, zu großen Dingen berufen, bekam 1150 das kaiserliche Amt eines Burggrafen von Nürnberg. Allmählich verschafften sich die Burggrafen von Nürnberg eine größere Bedeutung durch Erwerbung eines Hausbesitzes, den sie durch Kauf, Erbschaft und durch kaiserliche Schenkungen, namentlich in Franken, bedeutend erweiterten. Bald gelangten sie durch Klugheit und Tüchtigkeit im Rat der deutschen Fürsten zu hoher Geltung. Der eifrigen Bemühung eines hohenzollernschen Burggrafen (Friedrich II von Nürnberg) dankte Rudolf von Habsburg seine Krone und gab deshalb seinem Hause die Erblichkeit des Burggrafenamts. Unter den späteren Burggrafen ist besonders Friedrich VI von Bedeutung, welcher durch Klugheit und Kühnheit die Erhebung Sigismunds zum deutschen Kaiser (1410—1437) förderte. Da er dem Kaiser stets treu zur Seite stand, verlieh ihm dieser 1415 die Mark Brandenburg nebst ber Kur- und Erzkämmererwürde. Eine bedeutende, folgenreiche Erweiterung erfuhr das Kurfürstentum Brandenburg unter Johann Sigismund
Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst.
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(1608—1619), welcher im Jahre 1618 durch Erbschaft in den Besitz des Herzogtums Preußen gelangte, das seitdem ununterbrochen mit den brandenburgischen Landen vereinigt geblieben ist und endlich sogar dem gesamten Reich den Namen verliehen hat. Auf Johann Sigismund folgte Georg Wilhelm (1619—1640), auf diesen Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst, der Begründer der neuen deutschen Großmacht.
(David Müller.)
Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst von Brandenburg, wurde im Jahre 1620 geboren; seine Jugend fällt also in die Zeit des dreißigjährigen Krieges. Als der Knabe sieben Jahre alt geworden war, ließ ihn sein Vater, der Kurfürst Georg Wilhelm, der Kriegsunruhen wegen, in die schützende Festung Küstrin bringen. Allein fünf Jahre später hatten die Kriegsverhältnisse einen so bedrohlichen Charakter angenommen, daß selbst Küstrin nicht mehr sicher schien; man flüchtete mit dem Prinzen daher nach Pommern. Hier sah er die Leiche seines Onkels, des Schwedenkönigs Gustav Adolf, als sie gerade eingeschifft wurde, um nach Schweden überführt zu werdeu. Der traurige Anblick machte auf das Gemüt des Knaben einen unauslöschlichen Eindruck. Einige Jahre später bezog er zn seiner weiteren Ausbildung die berühmte niederländische Universität Leyden. Von hier ging er nach dem Haag, der niederländischen Residenz, und ließ sich von den dort weilenden Gesandten der fremden Mächte in die Staatskunst einweihen. Den Versuchen, ihn zu einem üppigen, ausschweifenden Leben zu verleiten, entzog er sich dadurch, daß er Haag verließ und zu seinem Vetter, dem Prinzen Heinrich von Oranien, eilte, welcher gerade die von den Spaniern besetzte Festung Breda belagerte. Oranien erkannte sofort mit klarem Blick, daß diese That des Jünglings ein Vorzeichen künftiger Größe sei und sprach die prophetischen, bedeutungsvollen Worte: „Vetter, ihr habt einen schöneren Sieg erfochten, als wenn ich Breda eroberte! Ihr habt das gethan, ihr werdet mehr thun!"
Im Jahre 1640 starb der Kurfürst Georg Wilhelm, und nun bestieg der Prinz den Thron. Das Land, welches er regieren sollte, war durch den blutigen Krieg entvölkert, verwüstet und gänzlich verarmt. Allein der junge Fürst verzagte nicht. Zunächst suchte er seinem Lande den Frieden wiederzugeben; er schloß daher mit den Schweden einen vorläufigen Vertrag, nach welchem ihnen das Besatzungsrecht in einigen festen Plätzen seines Landes zustehen sollte. Dann wirkte er für die Herbeiführung eines endgiltigen Friedens, der auch endlich im Jahre 1648 zustande kam und dem furchtbaren dreißigjährigen Kriege ein Ziel setzte. Die eingetretene Friedenszeit benutzte der Kurfürst, um in seinem Lande Ordnung zu machen, den widerspenstigen Adel zu bändigen und den darniederliegenden Gewerben auf jede Weife aufzuhelfen. Er gab zu
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Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst.
dem Ende weise Gesetze, die sich trefflichst bewährten. Nebenbei richtete er auch sein Augenmerk auf die Vergrößerung des Kurfürstentums, und es gelang ihm auch mit Hilfe seines tapferen, von ihm herangebildeten Heeres, sowie durch kluges Verhandeln mit anderen Fürsten, diesen Zweck zu erreichen. Namentlich erwarb er die große und wertvolle Provinz Ostpreußen, die seinem Reiche später den Namen geben sollte, durch die Schlacht bei Warschau (1656) von den Polen als unabhängiges Herzogtum.
Das hervorragendste Ereignis in dem Leben des großen Kurfürsten war die Schlacht bei Fehrbellin. Als er nämlich im Vereine mit anderen deutschen Fürsten gegen die Franzosen ins Feld gerückt war, fieleu die Schweden, durch den französischen König Ludwig XIV dazu bewogen, in Brandenburg ein. Furchtbar waren die Verwüstungen, die sie in den Ländern an der Havel anrichteten. Der Kurfürst ersuhr diese Vorgänge mit tiefem Schmerz, doch ohne sich dadurch in seiner Entschlossenheit beugen zu lassen. Durch einen Brief ermahnte er die Brandenburger, nur noch eine Zeitlang geduldig auszuharren; er werde bald kommen. Die Brandenburger kamen seinem Wunsche nach. Tausende von Bauern rotteten sich zur Notwehr zusammen und ließen ihre Fahnen wehen; auf den Fahnen aber stand: „Wir sind Bauern von geringem Gut und dienen unserm Kurfürsten mit Leib unb Blut!" Der Kurfürst rückte nun rasch mit 15,000 Mann heran. Magbebnrg würbe besetzt, ein schwebisches Heer, bas bei Rathenow an ber Havel lagerte, burch eine List bes Felbmarschalls Derslinger überrumpelt unb zersprengt. Am 18. Juni 1675 stießen bie Braubenburger bei Fehrbellin auf bie Hauptmacht ber Schweben. Der Lanbgraf von Hessen-Homburg, welcher bie branbenburgische Vorhut führte, griff beu Feinb gegen Befehl vorzeitig an; er kam babet hart ins Gebränge unb schickte um Hilfe. Nun war ein rascher Entschluß nötig, es warb also gleich Kriegsrat gehalten. Derslinger war gegen bie Schlacht. Der Kurfürst aber meinte: „Weil wir bem Feinbe so nahe sinb, so muß er Febern ober Haare lassen". Da gab Derslinger nach unb allsogleich entwickelte sich auch bie Schlacht. Anfänglich gerieten bie Braubenburger in Nachteil. Als bies ber Kurfürst gewahrte, eilte er an ben gefährbeten Platz. Nach ber Chronik glichen seine Augen „zween fnnkelnben Kometen". Er stellte sich an bie Spitze ber Schwabronen unb rief: „Getrost, tapfere Solbaten, ich, euer Fürst unb nun euer Kapitän, will siegen ober ritterlich mit euch sterben". Dann ging es vorwärts. Nun ritt ber Kurfürst ein weißes Roß, barem erkannten ihn bie Schweben unb begrüßten ihn mit
Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst.
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einem Hagel von Kugeln. Sein Stallmeister Frobeu, der die Gefahr, in welcher der Kurfürst schwebte, rasch erkannte, ritt herzn und sprach: „Herr Kurfürst, ich sehe, euer Schimmel ist scheu geworden; gebt ihn mir und besteigt meinen Braunen". Kaum waren die Rosse gewechselt, so sank der edle groben, von einer Kugel getroffen, zur Erde. Gleich darauf ward der Kurfürst von den Schweden, die mit oft bewährter Tapferkeit fochten, umringt; aber neun brandenburgische Reiter ließen ihre Klingen sausen und hieben ihn wieder heraus. Noch eine Weile schwankte die Schlacht. Da nahm die brandenburgische Reiterei, an deren Spitze die Gestalt Derslingers hervorstach, einen wuchtigen Anlauf. Das brachte die Entscheidung: die Schweden wankten, wichen, flohen. Anfangs fanden die Fliehenden in Fehrbellin Schutz. Als man zu einer Beschießung der Stadt riet, sagte der Kurfürst: „Ich bin nicht gekommen, mein Land zu verwüsten, sondern es zu retten". Bald gelang es vollständig, die Schweden aus dem Lande zu vertreiben. Mit der ihnen abgenommenen Kriegsbeute wurden die geplünderten Einwohner entschädigt.
Was dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm aber zu noch höherem Ruhm gereicht als die vielen von ihm erworbenen Kriegslorbeeren, das ist die weise Fürsorge, die er dem Wohlergehen seiner Unterthanen, überhaupt der inneren Entwickelung seines Reiches widmete. So zog er aus der Schweiz und den Niederlanden tüchtige Kolonisten ins Land, nahm die gewerbfleißigen Hugenotten, welche durch eine schmachvolle Maßregel aus Frankreich verbannt waren, mit kluger Bereitwilligkeit auf; ferner begünstigte er die Gewerbe und den Handel, ja er schuf sogar eine kleine Flotte und erwarb an der Küste Afrikas einen Kolonialbesitz, der später freilich wieder ausgegeben wurde. Mtt vollem Rechte konnte fein berühmter Enkel Friedrich der Große später von ihm sagen: „Der hat viel gethan“. (Nach Deinhardt.)
Sein Erbe und Nachfolger, Kurfürst Friedrich III, nahm unter Zustimmung des Kaisers als Friedrich I den Königstitel an. Seine Krönung zum König von Preußen fand am 18. Januar 1701 unter großer Pracht in Königsberg statt. Preußen war nun in die Reihe der europäischen Königreiche eingetreten, um fortan feine wohlerworbene Stelle mit immer steigendem Ruhme zu behaupten.
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Friedrich II der Große.
Friedrich II der Große (1740-1786).
Friedrich II, geboren am 24. Januar 1712, war der Sohn Friedrich Wilhelms I (1713—1740). Eine rauhe, derbe Natur, die aller ferneren Bildnug und Gelehrsamkeit abhold war, hatte der Vater durch feine gesunde Einsicht und feinen sparsamen Haushalt dem jungen preußischen Staat Halt und Festigkeit verliehen. Besondere Sorgfalt hatte er dem Soldatenwefen zugewandt, ohne indes die anderen Zweige der Staatsverwaltung zu vernachlässigen. Er hinterließ seinem Nachfolger einen baren Schatz von 9 Millionen Thalern und ein von dem Fürsten Leopold vou Dessau trefflich eingeübtes, schlagfertiges Kriegsheer. Bei feiner echt deutschen und kirchlichen Gesinnung, bei seiner gründlichen Abneigung gegen alles französische Wesen wollte Friedrich Wilhelm aus feinem Sohne einen tüchtigen Soldaten und frommen Christen machen. Allein der reiche Geist des jungen Prinzen verlangte eine mehrseitige Ausbildung und gewann infolge seiner Erziehung durch französische Lehrer mehr Geschmack an französischer Bildung, beschäftigte sich zum Verdruß des Vaters mit französischen Schriftstellern und mit dem Flöteu-fpiel, das er leidenschaftlich liebte. Die Verschiedenheit ihrer Natur entfremdete beide einander in einem Grade, daß Friedrich, um sich dem Drucke des Vaters zu entziehen, der ihn mit Strenge von der eingeschlagenen Richtung abbringen wollte, sich durch die Flucht der väterlichen Gewalt zu entziehen versuchte. Aber der Plan wurde entdeckt und Friedrich auf der Festung Küstrin gefangen gesetzt und vor ein Kriegsgericht gestellt. Geschreckt durch die Hinrichtung des Lieutenants v. Kalte, der um seine Flucht gewußt, gab der Prinz solche Zeichen der Reue, daß er begnadigt wurde und Schloß Rheinsberg angewiesen erhielt, wo er fortan im Kreise geistreicher, geliebter Freunde ein heiteres Leben führte, worin Witz, Scherz und muntere Unterhaltung mit ernsten und vielseitigen Studie» abwechselten. (Müller.)
Noch in demselben Jahre, in welchem Friedrich II zur Regierung gelangte (1740), geriet er mit der Kaiserin Maria Theresia von Österreich, welche in demselben Jahre den Thron bestiegen hatte, in Krieg. Friedrich erhob auf Grund früherer Verträge, die feine Vorfahren mit den schlesischen Herzögen abgeschlossen hatten, Ansprüche auf Schlesien. Da Maria Theresia dieselben nicht anerkannte, kam es zu den drei schlesischen Kriegen. Am Ende der beiden ersten hatte Friedrich nach den Siegen bei Mollwitz, Hohenfriedberg, Sorr und Keffels-dorf ganz Schlesien erobert, dessen Besitz ihm im Frieden von Dresden bestätigt wurde (1745).
Friedrich II der Große. 185
Aber Maria Theresia konnte Schlesien nicht verschmerzen und unterhandelte, um es wieder zu bekommen, insgeheim mit Frankreich, Rußland und Sachsen über ein Bündnis znr Vernichtung der preußischen Macht. Da Friedrich auf geheimem Wege von diesem Plane erfuhr, beschloß er, feinen Feinden zuvorzukommen. Nachdem er England zn einem Bündnisse bewogen hatte, fiel er plötzlich in Sachsen ein und eröffnete auf diese Weise den siebenjährigen Krieg, den man auch 1756-1763 den dritten schlesischen nennt, in welchem sich Friedrichs Feldherrngroße im Kampfe mit halb Europa glänzend bewährte.
Man hätte glauben sollen, daß Friedrich, dem nur England bei-ftand, der Übermacht seiner Feinde erliegen werde. In der That war er einige Male dem Untergang nahe, so nach der Niederlage bei Kollin in Böhmen (1757), bei Hochkirch in Sachsen (1758), bei Kunersdorf in der Nähe von Frankfurt a. O. (1759). Aber aus alle feine Niederlagen folgten rasch noch größere Siege, unter denen ihm besonders die Tage von Roßbach (5. Nov. 1757) und von Leuthen (5. Dezember 1757) den höchsten Ruhm brachten.
Nach dem Siege bei Kollin war der Jubel in Österreich groß und auch den Verbündeten wuchs der Mut. So fielen die Russen in Ostpreußen ein und ein französisches Heer drang, mit der Reichsarmee verbunden, nach Thüringen vor. Schnell entschlossen wandte sich der König zuerst gegen die Franzosen.
Ehe er selbst erschien, stattete sein Reiterregiment Seidlitz den Franzosen in Gotha einen Besuch ab. Diese Stadt hatte der Generalstab der Frauzoseu mit ihrem Heerführer Soubise an der Spitze mit 8000 Mann zu seinem Erholungsort ansersehen. Es war am herzoglichen Hofe große Tafel, uud auf dem Schlöffe hatte man gewaltige Zurüstungen gemacht, die bewaffneten hohen Gäste wohl zu bewirten; die Tische waren gedeckt, und die Franzosen zeigten den besten Appetit, als der preußische General Seidlitz mit 1500 Reitern vor den Thoren erschien. Die 8000 Franzosen dachten an keinen Widerstand; sie verließen die rauchenden Schüsseln und eilten aus der Stadt. Nur wenige ihrer Soldaten wurden zu Gefangenen gemacht, aber desto mehr Kammerdiener, Lakaien, Köche, Haarkünstler und Schauspieler, die damals vou einer französischen Armee unzertrennlich waren. Das Gepäck vieler Generale fiel den Preußen in die Hände, darunter ganze Kisten voll wohlriechender Wasser und Salben, desgleichen eine Menge Pudermäntel,
Haarbeutel, Sonnenschirme, Schlafröcke und Papageien. Seidlitz ließ sich mit feinen Offizieren den Rest der Speisen wohl schmecken, übergab
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Friedrich II der Große.
einen Teil der Beute seinen Husaren, den gefangenen Troß aber schickte er ohne Lösegeld zurück.
Inzwischen erschien Friedrich mit 22,000 Mann an der Saale, um den Kampf gegen die französische Armee zn wagen, die 64,000 Mann stark war (darunter 10,000 Mann deutsche Reichstrnppeu). Friedrich ging bei Weißeufels über die Saale und bezog ein Lager. Darauf änderte der französische Feldherr, Marschall Sonbise, seine Stellung und verschanzte sich hinter steilen Abhängen. Da der König das feindliche Lager so stark fand, daß er seine Leute nicht bei einem Sturme opferu wollte, fo bezog er ein neues Lager zwischen Roßbach und Nebra. Diese Lagerveräuderung Friedrichs sahen die Franzosen für einen Rückzug an und kanonierten, jubilierten und spotteten viel, daß man „dem Marquis de Brandenbourg bie Ehre anthue, mit ihm une espece de guerre zu führen". Und als Sonbise beim Recognoscteren die geringere Zahl der Prenßen gewahrte, sagte er zu seinen Offizieren: „Messieurs, ce n’est qiVun dejeuner!“
Hierauf nahm er mit dem Heere den Weg nach Reinhardtswerben,, um von dort dem König in den Rücken zn fallen. Der König faß eben an der Mittagstafel im Roßbacher Edelhof, als er den Aitzng der Feinde erfuhr. Sogleich gab er dem General Seidlitz den Befehl zu einem Reiterangriff; er selbst übernahm die Führung des Fußvolks. Plötzlich bracheu die Preußen ihre Zelte ab und setzten sich hinter einem langen Höhenrücken, der sie den Blicken der Feinde verbarg, in Marsch. Diese hatten den Abzug der Preußen wahrgenommen, aber nicht die von denselben eingeschlagene Richtung sehen können, so daß sie keine anderen Sorgen hatten, als der König möchte ihnen mit seinem Häuflein gegen Merseburg hin entrinnen. Während sie, in dem Wahn den König zu verfolgen, unter lustiger Feldmusik dahinzogen, empfing sie von jenen Hohen, welche der König inzwischen besetzt hatte, eine Kanonade, und aus einem Hohlwege hervor brach Seidlitz im Sturm mit seinen Husaren in ihre Reiterei ein, die mit Schrecken sich überflügelt sah nnd nach sck)wachetn Widerstände sich in Flucht auslöste. Daraus erfolgte die Jnfanterieschlacht. Friedrich überfiel mit feinem Bruder, dem Prinzen Heinrid) und dem General Keith, das heranziehende feindliche Fußvolks welches, zugleich von Seidlitz im Rücken bedroht, sich gleichfalls in wilde Flucht ergoß. So befand sich nad) anderthalb Stunden die ganze Armee auf der Flucht; 7000 Mann mit 9 Generalen und 320 andern Offizieren wurden gefangen, während die Preußen diese Franzosenjagd nur 91 Tote und 274 Verwundete kostete. Ganz Deutschland freute sich
Schlacht bei Leuthen.
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dieses Sieges über die Franzosen, den man als einen Triumph des Vaterlandes ansah. Die Reichsarmee, schon lange zum Spott geworden, hieß seit Roßbach nur „die Reißausarmee". Überall sang man:
„Und wenn der große Friedrich kommt,
Und klopft nur aus die Hosen,
So läuft die ganze Reichsarmee,
Pandureu und Franzofen".
Nun aber galt es Schlesien von den Österreichern zu retten, das diese während Friedrichs Abwesenheit fast ganz erobert hatten.
Schlacht bei Leuthen, am 5. Dezember jjsj.
Als Friedrich der Große die Franzosen bei Roßbach geschlagen hatte, eilte er nach Schlesien, wo der Herzog Karl von Lothringen inzwischen mit seiner überlegenen Macht große Fortschritte gemacht hatte; die wichtige Festung Schweidnitz war in die Hände der Österreicher gefallen, der Herzog von Bevern geschlagen worden, und selbst die Hauptstadt Breslau hatte sich dem Feinde ergeben. Schlesien schien verloren, wenn die Österreicher den Winter über dort bleiben konnten. Da zog Friedrich mit 14,000 Mann aus Sachsen herbei, vereinigte diese mit den 16,000 Mann, welche von dem geschlagenen Heere des Herzogs von Bevern übrig waren, fest entschlossen, die Feinde anzugreifen, wo er sie nur fände, „und wäre es", wie er sagte, „hoch auf dem Zobtenberge".
Bei Leuthen, zwischen Breslau und Neumarkt, stieß er auf den Feind. Der Herzog Karl, an der Spitze von 80 — 90,000 Mann, sah mit Geringschätzung auf die kaum 30,000 Mann zählende preußische Armee, die er spöttisch „die Berliner Wachtparade" nannte. Friedrich aber berief feine Generale und Offiziere zusammen, schilderte in begeisterter Rede die Größe der Gefahr, in welcher das Vaterland schwebte, und bei welcher er nur von ihrem Mute, ihrer Standhaftigkeit und Vaterlandsliebe die Rettung erwarten könne. „Ich werde gegen alle Regeln der Kunst", fügte er dann hinzu, „die beinahe dreimal stärkere Armee des Prinzen Karl angreifen. Es ist hier nicht die Frage von der Anzahl der Feinde, noch von der Wichtigkeit ihrer Stellung: alles dies, hoffe ich, wird die Herzhaftigkeit meiner Truppen und die richtige Befolgung meiner Anordnungen zu überwinden suchen. Ich muß diesen Schritt wagen, oder es ist alles verloren; wir müssen den Feind schlagen oder uns vor seinen Batterien begraben lassen. So denke ich, — so
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Friedrich II der Große.
werde ich handeln. Machen Sie diesen meinen Entschluß in der Armee bekannt, bereiten Sie den gemeinen Mann zu den Auftritten vor, die bald folgen werden. Jin übrigen, wenn Sie bedenken, daß Sie Preußen sind, so werden Sie sich gewiß dieses Vorzuges nicht unwürdig machen; ist aber der eine oder der andere unter Ihnen, der sich fürchtet, alle Gefahren mit mir zu teilen, der kann noch heute seinen Abschied erhalten, ohne von mir den geringsten Vorwurf zu leiden!"
Aus aller Augen leuchtete ihm auf diese Anrede nur tiefe Rühruug und feuriger Kriegsmut entgegen, und so fuhr er fort: „Schon im voraus hielt ich mich überzeugt, daß keiner von Ihnen mich verlassen würde, — ich rechne also ganz auf Ihre treue Hilfe und auf den gewissen Sieg. Sollte ich bleiben und Sie für Ihre geleisteten Dienste nicht belohnen können, so muß es das Vaterland thun. Gehen Sie nun ins Lager und wiederholen Sie den Regimentern, was sie jetzt von mir gehört haben". Einen Augenblick hielt er inne, dann fügte er mit ernstem Ausdruck hinzu: „Das Regiment Kavallerie, welches nicht gleich, wenn es befohlen wird, sich nnaufhaltfam in den Feind stürzt, lasse ich gleich nach der Schlacht absitzen und mache es zu einem Garnifonregi-mente! Das Bataillon Infanterie, das, es treffe, worauf es wolle, nur zu stocken anfängt, verliert die Fahnen und die Säbel und ich lasse ihm die Borten von der Montierung abschneiden! Nun leben Sie wohl, meine Herren, in kurzem haben wir den Feind geschlagen, oder wir sehen uns nie wieder".
Die Begeisterung, welche Friedrich durch diese Rede deu Offizieren eingeflößt, ging bald auf die gesamte Armee über: im ganzen Lager ertönte lauter Jubel. Die alten Krieger reichten sich wechselseitig die Hände und beschworen ihre jungen Kameraden, dem Feinde mutig unter die Augen zu treten. Frohe Siegesbegeisterung durchdrang alle Herzen.
Am Morgen des 5. Dezember (1757) zog Friedrich an der Spitze der „Berliner Wachtparade" dem übermütigen Feinde entgegen. Ehe er die Schlacht begann, rief er einen Offizier mit 50 Husaren zu sich und sagte zu demselben: „Ich werde mich heute bei der Schlacht mehr aussetzen müssen wie sonst. Er mit seinen 50 Mann soll mir zur Deckung dieueu. Er verläßt mich nicht und giebt acht, daß ich nicht der Canaille in die Hände falle. Bleib' ich, so bedeckt er den Körper gleich mit feinem Mantel und läßt einen Wagen holen. Er legt den Körper in den Wagen und sagt keinem ein Wort. Die Schlacht geht fort, und der Feind — der wird geschlagen."
Schlacht bei Leuthen.
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Seine Soldaten rückten unter dem Gesänge frommer Lieder mit Begleitung der Feldmusik dem Feinde entgegen. Ein Kommandeur wollte ihnen Schweigen gebieten; Friedrich aber sagte: „Nein, laß er das: mit solchen Leuten wird Gott mir heute gewiß den Sieg verleihen". Die feindliche Schlachtlinie war fast eine ganze Meile lang; Friedrich konnte nur siegen, wenn er es verstand, seine geringe Truppenzahl durch schnelle und kräftige Verwendung gleichsam zu verdoppeln. Er täuschte den Feind, indem er einen versteckten Angriff anf dessen rechten Flügel machen ließ, während er den Hauptangriff gleich darauf auf den linken Flügel richtete. Dieser wurde durch deu heftigen Stoß der preußischen Infanterie über den Haufen geworfen, und bald geriet darüber das ganze österreichische Heer in Unordnung. Nach drei Stunden war die verhängnisvolle Schlacht entschieden: in wilder Flucht eilte die feindliche Armee davon; ganze Haufen, zusammen wohl 20,000 an der Zahl, ergaben sich als Gefangene.
Es war einer der glorreichsten Siege, von welchen die Weltgeschichte erzählt: ein Sieg des überlegenen Scharfsinns und der begeisterten Hingebung über die scheinbar furchtbarste Übermacht.
Der Lärm der Schlacht war verklungen. Der kalte Nordwind strich schaurig über das Schlachtfeld, das vom Ächzen und Wimmern der Verwundeten erfüllt war. Da stimmte ein alter Grenadier inmitten des Schlachtfeldes das Lied an: „Nun danket alle Gott", und sogleich stet die ganze Armee mit Begleitung der ganzen Feldmusik in den schönen Lobgesang ein. Wie aus einem Muude erscholl es:
„Nun danket alle Gott
Mit Herzen, Mund und Händen,
Der große Dinge thut An uns und allen Enden".
Das ganze preußische Volk nahm bald an der schönen Siegesfreude teil und fang:
Es lebe durch des Höchsten Gnade Der König, der uns schützen kann,
So schlügt er mit der Wachtparade Noch einmal achtzigtausend Mann".
Wiewohl Friedrich auch in den folgenden Jahren noch manchen glänzenden Sieg über seine Feinde errang, so zog sich der Krieg doch noch bis 1763 hin. In diesem Jahre kam endlich auf dem Schlosse zu Hubertsburg in der Nähe von Leipzig der Frieden zustande. Dieser sicherte dem König für immer den Besitz von Schlesien und gab Preußen seine Stellung als Großmacht. (Nach Hahn.)
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Friedrich II der Große.
Friedrich II als Landesvater.
Friedrich der Große war nicht bloß ein gewaltiger Kriegsheld, sondern auch ein rechter Landesvater. Hatte er durch die Entschlossenheit und Standhaftigkeit, Schnellkraft und Ausdauer, die er als Feldherr bewies, ganz Europa in Bewunderung versetzt, so erwarben ihm nicht minder seine unermüdliche Thätigkeit in der Selbstregierung seines Landes, insbesondere seine strenge Ordnung und Sparsamkeit im Staatshaushalt und seine Bemühungen um unparteiische Rechtspflege die größte Bewunderung. Der Beiname des Großen drückt die Stimmung seines Zeitalters ans. Durch sein Beispiel angeregt, entstand von nun an unter deu besseren deutschen Fürsten ein Wetteifer für das „Wohl der Völker" thätig zu sein.
„Als der siebenjährige Krieg beendet war (1763), lag das Land schwer darnieder. Die Provinzen waren verheert, die Bewohner verarmt. Nicht bloß die Feinde hatten ihnen ihr Eigentum genommen, auch der König hatte seinem Volke viele und schwere Lasten zumuten müssen, um sich seiner Feinde zu erwehren. Nun galt es, die Wunden des Landes zu heilen. Die Landleute hatten kein Korn zur Aussaat; der König öffnete feine Magazine und ließ Getreide verteilen. Große Summen Geldes wurden in die einzelnen Provinzen gesendet, um den Bewohnern wieder aufzuhelfen. „Ich habe kein größeres Vergnügen", sprach der König, „als wenn ich dem armen Mann ein Hans bauen kann." Besonders begünstigte er den Ackerbau. Er meinte mit Recht, daß auf demselben seines Landes Wohlfahrt ruhe. Die Landleute wurden angehalten, fleißig Kartoffeln zu bauen, die Franz Drake, ein englischer Weltumsegler, 1580 aus Amerika nach Europa gebracht hatte. Auch fremde Kolonisten zog der König in sein Land und schenkte ihnen Ländereien, damit sie dieselben bebauten. Mit vielen Kosten ließ er das Oderbruch trocken legen. Als er später einmal die schönen Felder und Wiesen desselben sah, rief er erfreut aus: „Da habe ich mitten im Frieden eine Provinz gewonnen".
Auch der Gewerbestand erfreute sich der väterlichen Fürsorge des Königs. Wie sein Vater, wünschte auch Friedrich, daß das Geld im Lande bleibe, und daß man Waren ins Ausland verkaufe. Die Leinwand, welche in Schlesien verfertigt wurde, war bald weit und breit berühmt. Damit der Seidenbau betrieben werden könne, ließ er Maulbeerbäume anpflanzen. Ju Berlin legte er eine Porzellanfabrik an. So viel er es vermochte, begünstigte er den Handel. Der Segen blieb nicht ans. In wenigen Jahren 'fing der Wohlstand seines Volkes an zu
Friedrich II als Landesvater.
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steigen. Der König hatte keine größere Freude, als wenn er bei seinen jährlichen Reisen mit eigenen Augen sah, wie wohl alles im Lande stehe. Eigene Sparsamkeit, ein geregeltes Steuersystem und ein gut geordneter Staatshanshalt bewirkten, daß die öffentlichen Kassen sich mit jedem Jahr mehr füllten." (Bocks Lesebuch.)
Den geringsten Aufwand verursachte sein Hof, der höchst einfach und bürgerlich eingerichtet war und nicht mehr als 220,000 Thaler jährlich im Durchschnitt erforderte, während kleinere Fürsten das Zehnfache dafür verschwendeten. Die größere Hälfte des Einkommens erforderte das Heer, das den preußischen Staat auf diese Höhe gehoben hatte und ihn durch beständige Schlagfertigkeit anf derselben erhalten sollte. Während im Heere der Adel bevorzugte Stellung vor den andern Ständen einnahm, galt in bürgerlichen Ämtern der Grundsatz der vollkommensten Gleichberechtigung aller Unterthanen.
Zur Einführung einer gleichförmigen, dabei einfachen, raschen und uneigennützigen Rechtspflege ließ er neue Gesetze entwerfen, aus denen nachher das „preußische Landrecht" erwuchs. Unter ihm galt vor Gericht kein Ausehen der Person.
Ein Zug von der Gerechtigkeit des Königs ist geschichtlich geworden. Derselbe wünschte das Grundstück einer Windmühle zu kaufen, welches an den Park seines Schlosses zu Sanssouei angrenzte; aber der Besitzer wollte es nicht abtreten, weil es ein Familienstück war. Da sagte der König endlich ungeduldig: „Wenn du es nicht verkaufen willst, so bin ich dein König nnd kann es nehmen". „Ja, wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!" gab der Windmüller zur Antwort und behielt seine Windmühle, welche noch heute steht und zum Andenken erhalten wird.
Seine große Vorliebe für die französische Sprache, in der er in der Regel sprach und schrieb, ja selbst als Dichter und Schriftsteller glänzte, sowie überhaupt seine Vorliebe für französische Bildung uud Geistesrichtung, ließ ihn leider das Gute, welches sich in der deutschen Sprache und Bildung damals bereits durch Lessing und Klopstock zu entwickeln begonnen hatte, ganz übersehe». Dem Grundsatz christlicher Toleranz verschaffte Friedrich allgemeine Geltung in seinen Staaten. Bekannt ist sein Wort: „In meinen Staaten kann jeder nach seiner Fa^on selig werden". Auch übte er dieselbe gleichmäßig gegen Protestanten und Katholiken, welch letzteren er den Platz zu einer Kirche, der Hedwigskirche, schenkte.
Die Ehrfurcht und Bewunderung, die dem Könige stets seine Preußen bewiesen, wurde ihm auch im übrigen Deutschland und selbst im Ausland bis an sein Ende gezollt. Obgleich zuletzt die Kraft seines Körpers
mehr und mehr schwand, blieb doch sein Geist unverändert thätig und frisch-
Noch ein Jahr vor seinem Tode (also in seinem 73. Jahre) hielt
der „alte Fritz", wie ihn sein Volk traulich nannte, während eines
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Napoleon.
sechsstündigen Regensturmes eine Heerschau ab. Selbst in seinen letzten Krankheitsleiden hörte man keine Klagen aus seinem Munde, und noch
zwei Tage vor seinem Tode besorgte er Kabinettsgeschäfte mit derselben
Geistesgegenwart wie in seinen gesnnden Tagen. „Es wird mir zwar schwer", sagte er, „aber noch habe ich Kräfte zu arbeiten, und auch meine letzten Kräfte gehören dem Staat."
@i' starb zu Sanssouci am 17. Angnst 1786 in seinem 74. Jahre noch einer 46jährigen Regierung. Sein Tod erfüllte alle preußischen Herzen mit tiefster Trauer und in ganz Europa erneuerte sich bei der Nachricht davon das Gefühl der Bewunderung und Hochachtung für ihn.
Das Testament, welches er hinterließ, schließt mit den Worten:
„Meine letzten Wünsche in dem Augenblicke, wo ich den letzten Hauch
von mir gebe, werden für die Glückseligkeit meines Reiches fein. Möge es stets mit Gerechtigkeit, Weisheit und Nachdruck regiert werden; möge es durch die Milde seiner Gesetze der glücklichste, möge es in Rücksicht auf die Finanzen der am besten verwaltete, möge es durch ein Heer, das nur nach Ehre und edlem Ruhme strebt, der am tapfersten verteidigte Staat sein! O möge es in Blüte bis an das Ende der Zeiten fortdauern!"
Durch die Erwerbung von Schlesien (1763), von (poln.) Westpreußen (1772) unb von Oftfriesland (1744) hat er den Umfang des von feinem Vater ererbten Reichs um 1325 □ M. erweitert, so baß basselbe nun 3625 □ M. umfaßte.
Oapoleon.
Nachbem in Frankreich Ludwigs XIV Eroberungssucht unb Glanzliebe, sowie Ludwigs XV thöricht geführte Kriege eine ungeheure Schulbenlast angehäuft unb einen Abgabendruck verursacht hatten, der den Bürger- und Bauernstand mit um so größerer Unzufriedenheit erfüllte, weil Adel und Geistlichkeit steuerfrei waren, kam es zu einer gewaltsamenStaatsumwälzuug, der französischen Revolution (1789), durch welche das Königtum abgeschafft und Frankreich für eine Republik erklärt wurde. Des unglücklichen Königs Ludwigs XVI schuldloses Haupt fiel am 21. Jau. 1793 durch die Guillotine.
Nun führten Männer wie Marat, Robespierre u. a., die ans den untersten Schichten des Volkes hervorgegangen waren, eine Schreckensherrschaft ein, welcher taufende zum Opfer fielen. Erst nach 2 Jahren bekamen die Gemäßigten die Oberhand. Aber auch ihr Regiment, die
Napoleon.
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sogenannte Direktorialregiernng (aus fünf Männern bestehend), 1795 vermochte sich nur mit Mühe zu behaupten und die wiederholt aus-
brechendeu Aufstände zu dämpfen.
Als sich einst in den Straßen von Paris ein ernsterer Aufstand gegen die republikanische Regierung entspann, da bekleidete diese einen jungen General, der sich bereits durch Mut und Entschlossenheit einen Namen gemacht hatte, mit ausgedehnten Vollmachten. Ihm gelang es die aufgeregten Volksmassen zu zerstreuen, nachdem er Hunderte durch einen Kartätschenhagel erbarmungslos niedergeschmettert hatte.
Seitdem stieg sein Ansehen mehr und mehr und staunend blickte
die Menge zu dem jungen General empor.
Es war Napoleon Bonaparte (Sohn eines Advokaten, geboren am 15. Aug. 1769 in Ajaccio ans der Insel Corsica).
Wir begleiten den jungen Helden auf das Schlachtfeld. Alle Re-
gierungen Europas hatten sich gegen die verderblichen Grundsätze, welche im Laus der französischen Revolution aufgekommen waren, erhoben, und England hatte eben jetzt ein furchtbares Bündnis zustande gebracht. Österreich, Rußland, Sardinien und ganz Italien erhoben sich gegen Frankreich. Bonaparte wurde als Obergeneral nach Italien geschickt, um die Österreicher anzugreifen und wo möglich zu vernichten. Aber wie sollte das zugehen? 80,000 Österreicher standen gegen 30,000 Franzosen; jene gut bewaffnet und bezahlt, diese ohne Geld, zerlumpt, hungrig, säst ohne Waffen. Aber siehe, das Unglaubliche geschah. Die kleine Zahl schlägt die weit größere, und der französische Adler fliegt siegreich von Schlachtfeld zu Schlachtfeld. Bei Lodi durchzuckte den kleinen General zum erstenmal der Gedanke, daß er bestimmt sein werde, die Geschicke Europas zu lenken. Bei Arcole wurde drei Tage lang gekämpft. Am ersten Tag wäre er fast selbst ein Opfer seines kühnen Muts geworden.
Eine Brücke sollte genommen werden; aber das Feuer des Feindes war schrecklich. Fast alle Generale waren schon verwundet. Die Soldaten selbst wollten sich der mörderischen Stelle nicht mehr nähern. Da sprengt Bonaparte vor und ruft: „Grenadiere, seid ihr nicht mehr die Tapfern von Lodi?" Damit springt er vom Pferd, ergreift eine Fahne und stürzt mit dem Ruf: „Folget eurem General!" auf die Brücke; die Soldaten ihm nach. Allein von einem mörderischen Feuer empfangen, machen sie aufs neue halt und — weichen. Schon sinken Bonapartes wenige Begleiter, von feindlichen Kugeln getroffen; der Feind dringt vor, und Bonaparte stürzt über die Brücke hinunter in den Sumpf. Jetzt war er von den ©einigen abgeschnitten und schien verloren. Da sahen ihn die
Abicht, Lesebuch. II. 13
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Napoleon.
Grenadiere, und mit dem lauten Ruf: „Rettet den General!" stürzten sie auf die Brücke zurück; diesem wütenden Angriff widersteht der Feind nicht länger, und — Bonaparte ist gerettet. — Der Friede von Campo Formio (1797) machte dem ganzen Krieg ein schnelles Ende, und Frankreich, soeben noch am Rand des Abgrunds, war durch die Thatkraft eines Mannes nicht bloß gerettet, es empfing noch von Österreich das reiche Belgien als Siegeslohn. Aber Bouapartes Name wurde alleuthalbeu nur mit Bewnuderuug, in Frankreich mit Entzücken genannt.
Englaud allein hatte an dem Friedeu feinen Teil genommen, und ein kühner, fast unglaublicher Plan reifte in der Seele des stolzen Siegers. Ostindien, ein englisches Besitztum und Hauptquelle von Englands Reichtum, sollte erobert werden, und rasch und unvermutet setzte Bouaparte mit einem Heer nach Ägypten über. Im Augesicht der Pyra-mideu kam es zur entscheidenden Schlacht mit den Mameluken. „Franzosen", rief Bonaparte seinen Soldaten zu, „vergeht nicht, daß von den Höhen dieser Denkmäler vier Jahrtausende auf euch herabschauen!" Glänzend war der Sieg, aber eben so fürchterlich die Niederlage, welche die französische Flotte durch den englischen Admiral Nelson bei Abukir erlitt. Zwar eroberte Bouaparte noch Syrien und Palästina; aber der Hauptzweck war verfehlt, zumal in Frankreich selbst die Dinge sehr-übel standen. Österreich und Rußland hatten wieder den Krieg begonnen, und alle Heere Frankreichs waren geschlagen; im Innern selbst herrschte Verwirrung und Parteiung. Da besteigt Bouaparte heimlich ein Schiff, entgeht wie durch ein Wunder den verfolgenden Engländern, landet in Frankreich, zieht wie int Triumph in Paris ein, stürzt die von niemandem geachtete Regierung, entwirft eine neue Verfassung und macht sich zum ersten Konsul. Niemand widersetzte sich. Nur von ihm erwartete mau Rettung. Und er brachte sie. Er ging mit seinem Heer über den Gotthard, faßte die Österreicher unvermutet im Rücken und schlug sie gänzlich bei Marengo, so daß sie gedemütigt in den Frieden willigten. — Aber auch im Frieden zeigte sich Bonaparte groß. Er verschaffte der Religion das so gesunkene Ansehen wieder, ließ ein vortreffliches Gesetzbuch entwerfen, prachtvolle Straßen und Kanäle anlegen, beförderte Handel und Gewerbe, und bewirkte dadurch, daß man thu 1802 zum lebenslänglichen Konsul und 1804 sogar zum Kaiser von Frankreich ausrief. So wunderbar waren die Schicksale dieses Mannes, daß er in dem kurzen Zeitraum von acht Jahren vom armen Lieutenant bis zum Kaiser eines großen Reichs emporstieg. Als solcher schlug er die vereinigten Österreicher und Russen in der Dreikaiserschlach t bei Austerlitz
Deutschlands Demütigung und Errettung.
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(1805). Mit gewaltiger Hand lenkte er nun alles nach seinem Willen, vergab Länder und Kronen, wie es ihm gut dünkte. So machte er seinen Brnder Ladwig zum König von Holland, seinen Bruder Joseph zum König von Spanien, seinen Schwager Murat zum König von Neapel, seinen Stiefsohn Engen zum Viceköuig von Ober-Italien und endlich seinen Bruder Hieronymus zum König von Westfalen — so nannte er nämlich ein Reich, das er ans Kurhessen, Braunschweig und Hannover zusammengeschmolzen hatte. Denn mit dem Jahre 1806 hatte er das deutsche Reich, nach einem mehr als tausendjährigen und in früheren Zeiten ruhmvollen Bestand, aufgelöst und an seine Stelle den Rheinbund gesetzt, dessen Protektor (Schirmherr) er selbst sein wollte. Darauf wurde auch Preußen von ihm niedergeworfen.
Deutschlands Demütigung und Errettung.
Vom Kaiser Napoleon durch willkürliche Behandlung schmählich verletzt, erklärte nämlich Preußen, wo eben Friedrich Wilhelm III (1797 — 1840) regierte, demselben den Krieg, hatte aber, in Bezug auf seine Kriegsverfassung noch auf Friedrichs II Lorbeeren ruhend, feine Kraft über- unb die des Gegners unterschätzt. Es verlor (14. Oktober 1806) bie Doppelschlacht bei Jena unb Auerstäbt.
Noch schlimmer als bie Nieberlagen von Jena unb Auerstäbt waren ihre Folgen. Au die Stelle bes Übermuts trat nun eine völlige Mutlosigkeit unb Verzagtheit. In unwürbiger Verzweiflung beeilte man sich, bem Feinbe ohne Gegenwehr alles bahinzngeben. Die meisten Festungen würben bem Feinbe ohne Verteidigung überliefert. Schon am 27. Oktober hielt Napoleon seinen feierlichen Einzug in Berlin.
Auf bie Kmtbe von biefem Schlag bot Kaiser Alexanber von Rnß-lanb bem König feine Hilfe an. Aber auch im Bunbe mit ihm erlitt Friebrich Wilhelm III, nach ber unentschiebenen Schlacht bei preußisch Eylau (8. Februar 1807), in ber Schlacht bei Frieblanb eine völlige Nieberlage und mußte im Frieden von Tilsit die größere Hälfte seines Besitzstandes (zwischen Elbe und Rhein, 2693 □ M. mit fast 5 Mill. Einw.) dem Sieger überlassen und in der andern Hälfte fortdauernde französische Besatzung dulden. Nur Graudeuz uud Kolberg hielten sich, ersteres von Conrbiere, letzteres von Gneifenan, Schill und Nettelbeck heldenmütig verteidigt.
Zn all dem Unglück traf den gebeugten Herrscher Preußens, Friebrich Wilhelm, noch ber härteste Schlag; es würbe ihm im Jahre 1810 seine geliebte Gemahlin Lnise burch ben Tob entrissen.
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Napoleon.
Der gute Engel Preußens war in der Zeit der tiefsten Erniedrigung die Königin Luise, die Mutter unseres jetzigen Königs und Kaisers. Je tiefer ihr Herz unter der Wucht des eisernen Verhängnisses gebeugt wurde, desto erhabener richtete sich ihr Geist auf, und während ringsum alles den Kopf zu verlieren schien, war es das ursprünglich so weich geschaffene Gemüt Luisens, welches fast allein noch festen Mut offenbarte, noch sichern Glauben hielt.
Mit ihrem einfach klaren Urteil schaute die edle Fürstin tief ans den Grund der Dinge. „Die göttliche Vorsehung", schrieb sie 1809 an ihren Vater, „leitet unverkennbar neue Weltzustände ein, und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns. — Offenbar ist Napoleon ein Werkzeug in des Allmächtigen Hand, um das Alte, welches kein Leben mehr hat, das aber mit den Außendingen fest verwachsen ist, zu begraben. Gewiß wird es besser werden, das verbürgt der Glaube an
das vollkommenste Wesen. Aber es kann mir gut werden in der Welt
durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon fest und sicher ans seinem, jetzt freilich glänzenden Thron ist. Fest und ruhig ist allein Wahrheit und Gerechtigkeit, nnd er ist nur klug, er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie nun eben sind."
Die eheliche und häusliche Innigkeit des hohen Paares wurde
durch das Unglück nur befestigt. „Du, liebe Luise, bist mir im Unglück noch werter und lieber geworden", sagte der König oft zu ihr, und es war der Königin Stolz, Freude und Glück, „die Liebe des besten Mannes zu besitzen". Ihre Kinder waren ihre Schütze, und ihre Augeu ruhten voll Zufriedenheit und Hoffnung auf denselben. Von ihrem zweiten
©ohn, Wilhelm, unserem jetzigen glorreichen Kaiser, schrieb sie in jenem Briese an ihren Vater: „Unser ©ohn Wilhelm wird, wenn nicht alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig. Auch in seinem Äußern hat er die meiste Ähnlichkeit mit ihm".
An allem, was zur Vorbereitung von Preußens Wiedererhebung, zur Pflanzung eines besseren Geistes im Volke geschah, nahm die Königin den lebhaftesten Anteil.
Dnrch das Unglück zu heilsamer Erkenntnis dessen geführt, was dem Staat not that, legte der König im Vertrauen auf Gott und unter-
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stützt von tüchtigen, von glühender Vaterlandsliebe beseelten Männern Hand an die Wiedergeburt Preußens und in der Stille bereitete sich von innen heraus durch des Freiherrn vom Stein Verbesserungen der Verwaltung (durch Aufhebung der Leibeigenschaft, durch Verbesserung der Gemeinde- und Städteordnung) ein neuer Staatsbau, durch Scharu-horsts und Gneisenans Geist eine neue Heereseinrichtung vor, welche auf dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht beruhte. Daneben erweckten deu nationalen Geist und den Haß gegen die Fremdherrschaft die vaterländischen Freiheitsdichter, so namentlich Arndt, Körner, Schenkendors, Rückert. Nur mit Mühe konnte die preußische Regierung vorzeitige Ausbrüche der gesteigerten Volkskraft zurückhalten. Schills kühner Auszug zur Entzündung des Freiheitskampfes endete mit dem Falle des Helden und seiner Sechshundert bei Stralsund. Auch der kühne Erhebungsversuch des von Napoleon aus seinem Erbe vertriebenen tapferen Herzogs Friedrich Wilhelm von Braunfchweig-Öls mißglückte.
Die sich überall in Preußen vorbereitende Erhebung wurde dadurch begünstigt, daß Napoleon in den Jahren 1808 und 1809 auch die pyreuäifche Halbinsel zu unterwerfen versuchte. Aber der dort entbrannte Volkskrieg machte seine Eroberungspläne zu Schanden. Glücklicher war er in einem neuen Krieg gegen Österreich (1809), dessen Heer er in der furchtbaren Schlacht von Wagram besiegte. Auch der Ausstand der freiheitsliebenden Tyroler wurde, freilich nur mit äußerstem Kraftaufwand, endlich bezwuugeu, Hofer selbst gefangen genommen und in Mantua erschossen.
Jetzt hatte Napoleon fast alle Fürsten und Völker Europas bezwungen und schwer lastete seine Hand aus den besiegten Ländern.
Damals stand Napoleon in der That aus dem Gipsel seines Ruhms, und er selbst träumte sich unbezwingbar. Um den europäischen Fürsten sich mehr gleich zu stellen und mit Österreich sich selber zu verbinden, verstieß er seine Gattin, die treue Josephine, indem er sich von ihr scheiden ließ, und heiratete Marie Luise, die Tochter des österreichischen Kaisers Franz (1809). Diese gebar ihm einen Sohn, Napoleon II, den er noch in der Wiege zum König von Rom erhob. Wer war je höher gestiegen als Napoleon, und wer hätte jetzt noch dem Mächtigen widerstehen können? Und doch war er gerade jetzt seinem Fall ganz nahe.
Von unersättlichem Ehrgeiz getrieben, gelüstete ihn auch Rußland seiner Herrschaft zu unterwerfen.
An der Spitze von mehr als einer halben Million Krieger, zu denen
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Napoleon.
alle von Frankreich abhängigen Staaten ihre Kontingente stellen mußten, trat er den Zug nach Rußland an, überschritt den Niemen, siegte bei 1812 Smolensk, gewann die Mutige Schlacht bei Borodino au der Moskwa und zog in Moskau eiu, das die Russen freiwillig geräumt hatten. Schon wähnte Napoleon Herr des Zarenreichs zu fein!
Da wandte sich's. — Der Braud von Moskau, das die Russen ititter Rostopschiu in aufopferndster Vaterlandsliebe selbst augezüudet hatten, sein eigner Verlnst und die drohende Haltung des unbeugsamen russischen Heeres uuter Kutusow zwaugeu ihn, Friedeusauträge zu stellen, ans deren Annahme er vier Wochen lang im Kreml vergeblich wartete, bis der früh mahnende russische Winter ihn zum verderblichen Rückzug aus Rußland nötigte, ans welchem Hunger, Frost nnd Feindesschwert, besonders bei dem schrecklichen Übergang über die Beresina (26. Nov.), sein ganzes Heer vernichtete, so daß von den 600,000 seines stolzen Völkerheeres nur 58,000 Mann in die Heimat zurückkamen. In dem Untergang der großen Armee erkannte das niedergebeugte Europa die Hand des Allmächtigen, „der die Gewaltigen vom Stuhle stößt und die Niedrigen erhebt".
Nun hielt auch Prenßens König Friedrich Wilhelm III den Zeitpunkt für gekommen, um Freiheit und Unabhängigkeit wiederzugewinnen.
Der König schloß mit dem Kaiser Alexander das Bündnis zu Kalisch zur Befreiung Deutschlands und Europas von der Fremdherrschaft und erließ am 17. März den denkwürdigen „Aufruf an mein Volk", welcher mit den Worten schließt: Ihr wißt, was ihr feit sieben Jahren erduldet habt, ihr wißt, was euer trauriges Los ist, wenn wir den beginnenden Kamps nicht ehrenvoll enden. Erinnert euch an die Vorzeit, an den großen Kurfürsten, an den großen Friedrich. Bleibet eingedenk der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blutig erkämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft. Gedenkt des großen Beispiels unserer mächtigen Verbündeten, gedenkt der Spanier nnd Portugiesen; selbst kleine Völker sind für gleiche Güter gegeu mächtigere Feinde in den Kampf gezogen und haben den Sieg errungen. Welche Opfer auch von einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten nnd siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu fein. Es ist der letzte entscheidende Kampf, den wir bestehen für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unsern Wohlstand. Keinen andern Ausweg giebt es als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem
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würdet ihr getrost entgegen gehen, weil ehrlos der Deutsche nicht zu leben vermag. Allein wir dürfen mit Zuversicht vertrauen: Gott uud uuser fester Wille werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen, mit ihm einen sichern, glorreichen Frieden und die Wiederkehr einer glücklichen Zeit.
Dieser Aufruf wurde mit einer Begeisterung aufgenommen, die einzig in der Geschichte dasteht. Alles eilte zu deu Waffen, um das deutsche Vaterland von seinem welschen Dränger zn befreien. Die Landwehr wurde errichtet, der Landsturm gebildet und taufende von Freiwilligen strömten herbei (darunter Th. Körner, Schenkendorf, der Turnvater Jahn), worans das Lützowsche Freikorps entstand. Als vollends des Königs Kriegserklärung gegen Frankreich erschien, erhob sich mit Jauchzen alt uud jung, vornehm und gering und eilte zu den Sammelplätzen; wer Alters oder Geschlechts halber die Waffen nicht führen konnte, opferte Hab und Gnt der großen deutschen Vaterlandssache.
Das Kreuz auf der Mütze des Landwehrmanns mit dem vom König selbst gegebenen Wahlspruch: „Mit Gott für König und Vaterland" wurde von nun an die allgemeine Losung aller preußischen Vaterlandsfreunde. Mit demselben schönen Wort war am Geburtstag der Königin Luise (10. März) das eiserne Kreuz als Auszeichnung für die Helden der Befreiungskriege gestiftet.
In den ersten Schlachten der Befreiungskriege gewann zwar Napoleon noch Vorteile über die Heere der Verbündeten (bei Lützen und Bautzen), ja auch die Österreicher, die bald auf die Seite der Verbündeten getreten waren, wurden in der großen Schlacht bei Dresden durch Napoleons Feldherrntalent gänzlich geschlagen.
Napoleons Siegesfreude wurde aber anderwärts fast zu gleicher Zeit durch drei bedeutende Siege der Verbündeten gedämpft; denn der preußische General von Bülow schlug die Franzosen bei Großbeeren und Dennewitz und Blücher besiegte mit dem schlesischen Heer den Marschall Macdonald in der Schlacht an der Katzbach (26. Aug. 1813) zwischen Jauer und Liegnitz und rettete dadurch Schlesien.
Die Schlacht an der Katzbach begründete Blüchers Feldherrnruhm. Als die anrückenden Franzosen über den vom Regen angeschwollenen Fluß drangen und ihn größtenteils überschritten und einen Berggrund zu ersteigen angefangen hatten, rief Blücher: „Nun, Kinder, hab' ich genug Franzosen herüber! nun vorwärts!" und nun ging's unaufhaltsam aus den Feind. Weil wegen des Regens viele Flinten nicht losgingen, so drehten die Soldaten eines brandenbnrgischen Bataillons die Gewehre um und erschlugen den größten Teil eines französischen Bataillons buchstäblich mit dem Kolben. Als darauf die französische Reiterei vorbrach und der Sieg sich aus ihre Seite wenden wollte, da zog Blücher seinen Säbel und stürmte an der Spitze eines Geschwaders mit dem Ruf: „Vorwärts! Hurra!" in den Feind. Bald waren die Franzosen den steilen Rand hinab gegen die wütende Neiße geworfen, wo sie entweder ertranken oder erschlagen oder gefangen wurden. Blücher eroberte 300 Kanonen und
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Napoleon.
nahm 3 Generale mit 18,000 Mann gefangen; überdies bedeckten 12,000 tote oder verwundete Franzosen das Schlachtfeld. Seit dem Siege fingen selbst die Russen an, vor Blücher Respekt zu bekommen, und gaben ihm den Namen „General Vorwärts". Sein König erhob ihn in der Folge wegen dieser That zum Fürsten von Wahlstatt (nach dem Namen eines Dorfes, das dem Schlachtfeld von Katzbach nahe liegt).
Nachdem die Vereinigung der drei Armeeen der Verbündeten glücklich erreicht war (zusammen 500,000 Mann), und sich Napoleon von allen Seiten umstellt sah, da zog er seine gesamten Streitkräfte auf Leipzig zusammen, wo sodann die große Völkerschlacht vom 16. bis 18. Oktober 1813 geschlagen wurde, welche der Herrschaft Napoleons über Deutschland mit einem Schlage ein Ende machte und die deutschen Völker wieder zu einem Brudervolk vereinigte.
Die Völkerschlacht bei Leipzig, in der die Völker von den fernen Grenzen Asiens, vom mittelländischen, vom atlantischen Meere zusammentrafen, begann am 16. Oktober. So furchtbar war der Donner von mehr als 1000 Kanonen, daß die Erde in weitem Umkreis erbebte. Auf drei Seiten zugleich entbrannte der Kamps; im Südosten der Stadt bei Wachau, im Westeu bei Liudeuau, im Norden bei Möckern, wo Blücher mit den Preußen eine besondere Schlacht schlug. Bei Wachau und Lindenan errang Napoleon Vorteile, aber zu zeitig war seine Siegesfreude, denn bei Möckern gewann Blücher den Sieg, freilich nach schwerem Kampf. Dreimal nahmen die Preußeu das Dorf, dreimal mußten sie es wieder räumen, aber zuletzt behielten sie dennoch den Sieg, der namentlich der Tapferkeit des Jorkschen Korps verdankt wurde. Am Nachmittag trat bei Güldengossa ein entscheidender Moment ein. König Murat von Neapel, Schwager Napoleons, machte mit 9000 Reitern einen wütenden Angriff. Der Anprall dieser schweren Reiterei war furchtbar. Da stellte sich Fürst Schwarzenberg, der Oberfeldherr der Verbündeten, selbst an die Spitze zweier Reiterregimenter (es waren Kosaken und preußische Dragoner) uud schlug deu Feiud glücklich zurück. Am 17. Oktober machte Napoleon Friedensvorschläge, welche aber von den Verbündeten verworfen wurden.
Am 18. Oktober erfolgte die Hauptschlacht, die sich in ihrem Verlauf vornehmlich auf Napoleons rechtem Flügel bei Propstheida entwickelte. Hier entbrannte ein heißer, blutiger Kampf, der auf beiden Seiten unzählige Opfer kostete. Ungeachtet der heldenmütigsten Tapferkeit, mit welcher die französische Garde den Lindenaner Paß den ganzen Tag über mit Erfolg verteidigte, sah sich Napoleon infolge der furchtbarsten Verluste am Abend genötigt, den Befehl zum Rückzug zu erteilen, den er beim Schein der Wachtfeuer seinen Marschälleu diktierte.
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Im ganzen verloren die Franzosen in jenen Tagen 38,000 Tote und Verwundete und 30,000 Gefangene, aber auch die Verbündeten hatten ihren Sieg mit 42,000 Toten uud Verwundeten erkaufen müssen.
Am 19. Oktober erstürmten die Verbüudeten Leipzig. Unter dem Donner der Geschütze zogen um Mittag Alexander und Friedrich Wilhelm mit dem Gefolge ihrer Feldherrn unter lautem Siegesgruß ihren tapferen Scharen und dem Freudeugeschrei der Einwohner in die nun errettete Stadt ein. Bald nachher kam auch Kaiser Franz als der dritte im Bunde. Es war eiu erhebender Anblick, als sich die drei nun die Rechte reichten und zu der Errettung Deutschlands und der Begründung einer neuen Ordnung in Europa Glück wünschen konnten.
In der Neujahrsnacht von 1813 aus 1814 auf deu Schlag zwölf setzte Blücher mit den Preußen bei Kaub über den Rhein und rückte in Frankreich ein. Nach harten Kämpfen, die hauptsächlich Blücher zu bestehen hatte, hielten am 14. März 1814 Kaiser Alexander und König Friedrich Wilhelm III ihren Einzug in das gedemütigte Paris. Napoleon wurde des Thrones entsetzt. Eine kleine Insel, Elba, im mittelländischen Meere wurde dem stolzen Gebieter, vor dem einst Europa gezittert hatte, als Aufenthalt und Besitz überwiesen.
Während aber die Monarchen Europas auf dem Wiener Kongreß beschäftigt waren, die europäischen Angelegenheiten neu zu ordnen, verließ Napoleon plötzlich Elba und kehrte nach Frankreich zurück, wo ihn das Heer mit Begeisterung empfing und ihm zur Wiederherstellung des Kaisertums verhalf.
Allein er wurde von den europäischen Mächten in die Acht erklärt. Von den Engländern (unter Wellington) und den Preußen (unter Blücher) bei Belle-Alliauce (oder Waterloo) am 18. Juni 1815 völlig geschlagen, mußte er nach hundert Tagen seine Herrschast abermals aufgeben.
Seine Niederlage war eine so völlige, daß es ihm nur unter dem Schutze der Nacht gelang, der Gefangenschaft zu entrinnen. Sein Wagen, sein Hut und Degen fiel in die Hände der Sieger.
Am 7. Juli 1815 rückten die Verbündeten zum zweiten Male in Paris ein, und jetzt sorgte man besser dafür, daß er nicht wieder nach Frankreich zurückkehren könne. Nachdem sich Napoleon in den Schutz der Engländer begeben, wurde er von diesen nach dem Beschluß der Verbündeten als Europas Gefangener nach der einsamen kleinen Insel Sankt Helena im atlantischen Ocean gebracht, wo er am 5. Mai 1821 starb.
202 Wilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen.
Wilhelm I,
Kaiser von Deutschland und Röntg von Preußen.
Nach dem Tod des kinderlosen Friedrich Wilhelm IV (regierte von 1840—1861), bestieg sein Bruder Wilhelm als König Wilhelm I den preußischen Thron. Geboren den 22. März 1797 als zweiter Sohn Friedrich Wilhelms III (1797—1840) und der Königin Luise war er in seiner Kindheit Zeuge der tiefen Demütigung Preußens durch Napoleon I gewesen und hatte seine Eltern bis in die äußerste Ecke der Monarchie nach Memel begleitet. Das Unglück des Vaterlandes, der Schmerz der Eltern hatten auch sein Herz mit tiefster Betrübnis erfüllt. Es war in diesen schweren Tagen (1807), als die Königin ihren beiden ältesten Söhnen Friedrich und Wilhelm gegenüber über die bittere Demütigung des preußischen Königtums Ausdruck gab in den schmerzlichen Worten: „Ihr seht mich in Thränen. Ich beweine den Untergang der Armee. Sie hat den Erwartungen des Königs nicht entsprochen. An einem Tage sehe ich ein Gebände zerstört, an dessen Erhöhung große Männer zwei Jahrhunderte hindurch gearbeitet haben. Ach, meine Söhne, ihr seid schon in dem Alter, wo ener Verstand diese schweren Heimsuchungen fassen kann. Ruft künftig, wenn eure Mutter und Königin nicht mehr lebt, diese unglückliche Stunde in euer Gedächtnis zurück, weiuet meinem Andenken Thränen, wie ich sie jetzt in diesem unglücklichen Augenblicke über den Zusammenbruch des Vaterlandes weine. Aber begnügt euch nicht mit Thränen allein; arbeitet, entwickelt eure Kräfte: vielleicht senkt Preußens Schutzgeist sich auf euch nieder; befreiet dann euer Volk von der Schande, dem Vorwurfe der Erniedrigung, in der es fchmachtet. Suchet den jetzt verdunkelten Ruhm eurer Vorfahren von Frankreich zurückzuerobern, wie euer Großvater, der große Kurfürst, einst bei Fehrbellin die Niederlage und Schmach seines Vaters an den
Schweden rächte. — Ach, meine Söhne, lasset euch nicht von der Ent-
artung dieses Zeitalters hinreißen, werdet Männer und trachtet nach dem Ruhme großer Feldherrn und Helden. Wenn euch dieser Ehrgeiz fehlte, würdet ihr des Namens von preußischen Prinzen und Nachkommen des großen Friedrich unwürdig fein".
Solche Worte der Königin, der Mutter, in solcher Stunde gesprochen, mußten einen tiefen Eindruck auf die Seele des kindlichen Prinzen
machen; sie bilden gleichsam den Wegweiser für das spätere Leben des Kaisers Wilhelm. Welche Hoffnungen die Mutter gerade auf diesen Sohn fetzte, ist schon oben S. 196 erwähnt; wie er sie im vollsten
Maße erfüllte, hat die Zukunft gelehrt.
Wilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen.
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Wenige Jahre später, am 19. Juli 1810, erlag die hartgeprüfte Königin ihrem Kummer Der tiefste Schmerz des Gatten, der Kinder, des ganzen Volkes begleitete den Leichenzug nach Berlin und nach Charlottenburg, wo ihr der edle Gemahl eme würdige Ruhestätte bereitet hat.
Als Jüngling erlebte Wilhelm die Erhebung des Vaterlandes in den Freiheitskriegen. Da er wegen seiner Jugend den Anstrengungen eines Feldzugs noch nicht gewachsen schien, so gestattete der Vater erst nach der Schlacht bei Leipzig dem nun 16 jährigen Jüngling den Feldzug mitzumacheu. Bei Bar-snr-Aube (26. Februar 1814) erwarb er sich das eiserne Kreuz, beim Einzug in Paris war er an der Seite der Monarchen. Erst nach Beendigung des Kriegs empfing seine Jugeud-bildnng ihren Abschluß und es erfolgte seine Konfirmation. Damals schrieb er in seinem Glaubensbekenntnisse, welches er selbst aufgesetzt hatte: „Meine Kräfte gehören der Welt, dem Vaterland; ich will daher unablässig in dem mir angewiesenen Kreise thätig sein, meine Zeit auf das Beste anwenden und so viel Gutes stiften als in meinem Vermögen steht". In diesem Sinne strengster Pflichterfüllung reifte er heran und besonders war es der Dienst des Heeres, dessen er sich annahm und dessen höhere Stellen ihm vom Vater, dessen Gesamtbefehl ihm schließlich von dem regierenden Bruder, König Friedrich Wilhelm IV, übertragen wurden. Am 11. Juni 1829 vermählte sich Prinz Wilhelm mit der Prinzessin Augnsta von Sachsen-Weimar. Am 18. Oktober 1831 wnrde ihnen Kronprinz Friedrich Wilhelm, am 3. Dezember 1838 Prinzessin Luise (seit 1856 Großherzogiu von Baden) geboren.
Als im Jahre 1848 mißverstandene Freiheitsideen zu unheilvollen Unruhen führten, richtete sich die Abneigung des irregeleiteten Volkes wie gegen das Heer so auch gegen den Prinzen Wilhelm, als den eifrigsten Beförderer des ganzen Heerwesens, weshalb er sich eine Zeitlang nach England begab. Von dort zurückgekehrt führte er im Jahre 1849 mit Umsicht den Oberbefehl über die preußischen Truppen, welche den Aufstand in Baden unterdrückten.
Als im Jahre 1857 König Friedrich Wilhelm IV von unheilbarer Krankheit befallen wurde, ernannte er feinen Bruder, den Prinzen Wilhelm von Prenßen, zunächst zn feinem Stellvertreter, aber schon im folgenden Jahre übertrug der kranke Herrscher dem Prinzen von Prenßen die Rechte eines uuumschräukteu Regenten. Nach dem Tode Friedrich Wilhelms bestieg dieser am 2. Januar 1861 als König Wilhelm I selbst den Thron.
Der neue Herrscher begann feine Regierung damit, eine nene Heereseinrichtung durchzuführen, durch welche er die Kraft der Armee
Wilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen.
zu erhöhen suchte, damit diese auch dem größereu deutschen Vaterlaud dessen Heeresversassuug eine maugelhafte war, Stütze und Haud bieten fornte. Ein hervorragendes Verdienst um diese Reorganisation des Heeres erwarb sich vor allen der damalige preußische Kriegsminister Graf von Roon.
Bald fand sich Gelegenheit die Vorzüglichkeit der neuen Heeres-einrichtuug zu erproben.
Der Krieg in Schleswig-Holstein.
-bte Herzogtümer Schleswig uud Holstein, zwei ursprünglich deutsche Gebiete, standen damals unter der Herrschaft der Dänen. Wiewohl die Herzogtümer nach altverbrieftem Recht ungeteilt (up ewig ungedeelt) sein sollten, so hatte doch König Christian IX von Dänemark, ber im Jahre 1863 zur Regierung gekommen war, die bereits von seinem Vorgänger verfügte Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staat bestätigt.
Dem entgegen schloß König Wilhelm aus bett Rat seines ersten Ministers, bes Graseu Bismarck, ein Bünbnis mit Österreich, um ben deutschen Brnberstamm in Schleswig vor baltischer Vergewaltigung zu schützen. Unter beut Oberbefehl bes greisen preußischen Felbmarschalls vou Wraugel führte Priuz Friebrich Karl, ber Neffe König Wilhelms, bie Preußen; Felbmarschall-Lieutenant von Gablentz bie Österreicher. Nach bem Einmarsch in Schleswig vertrieben bie Verbündeten die Dänen Zunächst aus ihrem ersten Bollwerk, dem stark befestigten Dauewerk und darauf erstürmten sie ihre zweite Verteidigungslinie, die Düppeler Schanzen.
Nachdem bie Dänen balb barauf auch aus ber Insel Alsen ver-tiiebeu waren, sahen sie sich zum Frieben genötigt, in welchem sie Schleswig-Holstein unb San eit bürg an Preußen unb Österreich abtraten.
So war en blich eine alte Schulb eingelöst unb bie beut scheu Schleswig-Holsteiner vom baltischen Joch befreit.
Der deutsche Krieg Mö.
Aber ber Doppelbesitz ber beibeit Herzogtümer war bie Veranlassung Zu Zwistigkeiten unter beit beibeit Großmächten selbst. Ju erster Linie erschien ber Prinz Friebrich von Augusten bürg erbberechtigt zu ber Regierung in beit Herzogtümern. Aber Preußen zeigte sich nur unter ber Bebingung bereit, bie Ansprüche bes Augustenburgers anzuerkennen, wenn sich bas neue Herzogtum, besten hohe Wichtigkeit für bie Entwicklung
Der deutsche Krieg 1866.
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der preußischen Seemacht klar zu Tage lag, möglichst eng an Preußen anschließe. Diese Forderung wies der Augustenbnrger zurück, indem er sich auf Österreich verließ, welches sich wenig geneigt zeigte, die Vereinigung der Herzogtümer mit Preußen zu begünstigen.
Während nun Österreich die Entscheidung der schleswig-hol-steinischen Frage dem deutschen Bundestag übertragen sehen wollte, in welchem es selbst nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses (1815) die erste Stelle einnahm, arbeitete der prenß. Ministerpräsident von Bismarck, getragen von der Mehrheit der nationalen Partei in Deutschland, darauf energisch hin, Preußen die Führerschaft in Deutschland zu verschaffen.
So drängte auf der einen Seite die Frage der Herzogtümer, anderseits forderte von Bismarck, weil er klarerkannte, daß das Verlangen nach einer festeren Centralgewalt, als sie im alten Bundestag gegeben war, sich in der ganzen Nation unwiderstehlich gelten machte, die Ein-bernsnng eines deutschen Parlaments (Volksvertretung). Als nun Österreich wirklich die schleswig-holsteiuische Frage vor deu Bund brachte, legte von Bismarck den Entwurf einer neuen Bundesverfassung vor, in welchem Österreich vom Bunde ausgeschlossen war.
Sofort beschloß der deutsche Bund auf Österreichs Antrag (14. Juni 1866) das Bundesheer gegen Preußen mobil zu machen; Preußen erklärte seinen Austritt aus dem Bund und die norddeutschen Staaten, anßer Hannover, Sachsen, Knrhessen, schlossen sich ihm an.
Über die Zukuust Deutschlands mußte das Schwert die Entscheidung bringen.
Auf Seite Österreichs stauben die bedeutendsten Mittelstaaten: Sachsen, Baiern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt, Nassau, Hessen-Kassel und Hannover. Die österreichische Nordarmee, der sich die Sachsen angeschlossen hatten, stand unter dem Oberbefehl des FZM. Benedek in Böhmen an der schlesischen Grenze.
Ungesäumt schritt Preußen zur kriegerischen Aktion, welche von dem Kriegsminister v. Roon uud dem Chef des Generalstabs v. Moltke trefflich vorbereitet war, und ließ seine Armeeen in Sachsen, Hannover und Hessen-Kassel einrücken. Bis zum 19. Juni hatte der General der Mainarmee, Vogel von Falckenstein, Hessen-Kassel, bis zum 22. Juni auch Hannover besetzt. Der von den Ereignissen überraschte König von Hannover wollte sich zu den verbündeten Bundestruppen durchschlagen, kapitulierte aber nach der Schlacht bei Langensalza (27. Juni) und mußte sein Laud meideu.
Inzwischen war auch ganz Sachsen von den Preußen besetzt worden (20. Juni). Ans drei Punkten überschritten die preußischen Armeeen
206
Wilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen.
(unter General Herwarth von Bittenfeld, dein Prinzen Friedrich Karl und dem Kronprinzen von Preußen) von Sachsen und Schlesien aus die böhmische Grenze und erreichten nach zahlreichen, blutigen Gefechten mit den Österreichern (bei Podol am 26., bei Nachod 27., Münchengrätz, Trantenan, Skalitz 28. Jnni) glücklich ihre Vereinigung bei Gitschin (29.). Sodann rückte die ganze Heeresmacht gegen die Festung Königgrätz, vor welcher sich die österreichische Nordarmee concentriert hatte, und hier erfolgte unter der persönlichen Leitung des Königs Wilhelm von Preußen am 3. Juli 1866 die mörderische Schlacht bei Königgrätz (oder Sadowa), in welcher die österreichische Armee (unter Benedek) von den Prenßen vollständig niedergeschmettert wurde.
Als darauf die Preußen in unaufhaltsamem Siegeslauf bis in die Nähe von Wien vordrangen und inzwischen auch die süddeutschen Verbündeten der Österreicher (Vatern, Württemberger, Badenser, Hessen) von der preußischen Mainarmee besiegt waren, entschloß sich der Kaiser von Österreich zum Frieden, welcher am 23. August in Prag zustande kam.
Durch den Prager Frieden schied Österreich ans dem deutschen Bunde aus, erfamite an, daß Preußen einen engeren Bund deutscher Staaten nördlich von der Mainlinie, den norddeutschen Bund, errichte und willigte ein, daß Preußen Schleswig-Holstein, Hannover, Kur Hessen, Nassau und Frankfurt in Besitz nehme. Der Umfang der netterworbenen Gebiete betrug 1325 □ M., so daß der gesamte preußische Staat damals 6387 QM. umfaßte (mit 24 Millionen Einwohnern).
Am 24. Febr. 1867 versammelte sich der erste norddeutsche Reichstag, durch welchen die Verfassung des norddeutschen Staatenbundes festgesetzt wurde. Dem König von Preußen wurde der Oberbefehl über die ganze, nach gemeinschaftlichem Plan organisierte norddeutsche Wehrkraft und die diplomatische Vertretung des Bundes im Ausland übertragen.
In der Eröffnungsrede des Reichstags konnte König Wilhelm mit Stolz sagen: „Tie Zeit ist herbeigekommen, wo unser deutsches Vaterland durch seine Gesamtkraft seinen Frieden, seine Macht, seine Würde zu vertreten imstande ist".
Die Wahrheit dieses Wortes bestätigte wenige Jahre später der
durch deu Übermut des mißgünstigen Nachbars herbeigeführte französisch-deutsche Krieg.
Der französisch-deutsche Krieg (1870-1871).
Die Erfolge Preußens, die wachsende Macht dieses Staates, die
in naher Aussicht stehende Einigung der deutscheu Stämme hatte die
Der französisch-deutsche Krieg.
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Eifersucht und den Neid Frankreichs erregt. Hatten es doch die Franzosen seit den Zeiten Ludwigs XIV al2 ein Voi recht ihrer' „ großen Nation" angesehen, daß sie in Europa die gebietende Macht seien. Über Frankreich herrschte damals seit 1852 der Kaiser Napoleon III, ein Nesse des großen Napoleon I. Durch mehrere glücklich geführte Kriege hatte unter ihm Frankreich wiederum ein großes Übergewicht in Europa erlangt. Nun schien auf einmal der kriegerische Glanz des französischen Namens durch Preußens Waffenerfolge verdunkelt. Das konnten die Franzosen nicht ertragen; laut riefen sie nach „Rache für Sadowa", verlangten mit Ungestüm von Deutschland die Rheingrenze und machten eine unbedeutende Streitfrage zum Kriegsfall.
Die spanische Regierung hatte den erledigten Thron dem Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen angeboten, der sich nach langem Sträuben auch bewegen ließ, die Krone anzunehmen. Hieraus machte die französische Regierung der preußischen den Vorwurf, sie wolle dadurch, daß sie einen preußischen Prinzen auf den spanischen Thron setze, das europäische Gleichgewicht gefährden. Vergebens versicherte die preußische Regierung und der spanische Gesandte, daß die preußische Regierung von der Sache gar keine Kenntnis habe. Um nun nicht den Weltfrieden zu stören, so verzichtete der Erbprinz Leopold freiwillig auf die spanische Krone, und alle Welt glanbte, Frankreich werde jetzt zufrieden gestellt
sein. Aber die französische Regierung wollte um jeden Preis einen Krieg mit Preußen. Daher ließ sie, in der Absicht, den König von Preußen, der gerade in Bad Ems zur Kur weilte, durch Beleidigung zu reizen, an diesen die Forderung stellen, er solle dem Erbprinzen auch für die Zukunft die Annahme der spanischen Krone verbieten und den Kaiser Napoleon in einem öffentlichen Schreiben um Entschuldigung bitten. Da aber König Wilhelm, seine und seines Volkes Würde wahrend, diese schamlose Forderung abwies, so erklärte die französische Regierung, sie sei beleidigt und zum Krieg gezwungen. Am 19. Juli wurde die Kriegserklärung an Preußen — denn nur mit diesem wollte
es die französische Regierung zu thun haben — in Berlin überreicht.
Die Kunde von der dem allgeliebten greisen König in Ems wider-
fahrenen Beleidigung hatte in allen deutschen Herzen, die sich in ihrem König beleidigt suhlten, einen heiligen Zorn, eine sittliche Entrüstung wachgerufen, welche von dem neu erwachten Nationalgefühl der Deutschen ein herrliches Zeugnis ablegte. Aller Orten, aber namentlich in der Hauptstadt, gab sich die höchst denkbare Begeisterung für den mannhaften König kund, der das kostbare Kleinod der deutschen Ehre gegen fränkische
Drilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen.
Anmaßung so ritterlich gewahrt hatte. Auch die süddeutschen Staaten, aus deren Neutralität Napoleon gerechnet hatte, erklärten einmütig, daß sie ihie gesamten otreitfräfte znm Schnee des Vaterlandes unter den Oberbefehl König Wilhelms stellten.
Wohl noch niemals, felbst 1813 nicht, war ganz Deutfchlaud von so einmütiger Begeisterung ergriffen, seit tausend Jahren zum ersten Male wieder ein einig Bundesvolk in Waffen. War es doch seit Jahr-hnuderteu der erste nationale Kampf, den Deutschland selbständig und ganz allein mit eigener Kraft führte. Überall Begeisterung in Wort, Schrift und That; ein Gedanke, ein Wille, ein für allemal mit dem anmaßenden Nachbar abzurechnen; überall durchglühte eine heilige Begeisterung das deutsche Volk. Jung und alt, hoch und niedrig war fest entschlossen, mit Gut und Blnt zu seinem glorreichen Kriegsherrn zu stehen und nicht eher zu ruhen, bis der französische Übermut für alle Zukunft gedemutigt und Deutschland in seiner alten Größe hergestellt iind gesichert sei. In allen deutschen Gauen erschollen, der gehobenen Stimmung Ausdruck gebeud, patriotische Klänge, unter ihnen vor allen Schneckenburgers herrliches Vaterlandslied:
„Lieb' Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein."
Noch an dem Tage der Kriegserklärung erneuerte König Wilhelm den Orden des eisernen Kreuzes für das gesamte deutsche Heer.
Aufs neue wie schon 1866 bewährte sich die Vortrefflichkeit der von dem preußischen Kriegsminister von Noort ins Leben gerufenen Wehrverfassung und Heeresorganisation, die seit 1866 in alle Staaten des norddeutschen Bnndes übertragen war und nach und nach auch in Süddeutschland Eingang gefunden hatte. Vierzehn Tage genügten, um 3 Heere in einer Stärke von 400,000 Mann an den Grenzen aufzustellen; das erste stand unter dem Befehl des Generals von Steinmetz, das zweite befehligte Prinz Friedrich Karl, das dritte der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm. Die Oberleitung der vereinigten deutschen Heere übernahm König Wilhelm selbst. Ihm stand als Chef des großen Generalstabes der schon vorher als bedeutender Stratege bewährte Graf von Moltke zur Seite, deffeu geniale Schlachtpläne, von einer Reihe vorzüglicher Generale (Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, Prinz Friedrich Karl von Preußen, Kronprinz Albert von wachsen, Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg, von Steinmetz, Dort Mauteuffel, vou Werder, vou Voigts-Rhetz, von Göben, von Kirch-bach u. ct.) im Verein mit dem Heldenmut und der Ausdauer der deut-
Der französisch-deutsche Krieg.
209
schen Heere ausgeführt, Erfolge erzielten, die in der Kriegsgeschichte fast beispiellos dastehen. — In der Umgebung des Königs befanden sich auch der Bundeskanzler Graf von Bismarck und der Kriegsminister Graf von Roon.
Die deutschen Heere drangen in Elsaß und Lothringen ein, erkämpften sich durch die Siege bei Weißenburg, Wörth (6. August) und Spichern den Einmarsch in Feindesland, besiegten die Franzosen in der furchtbaren dreitägigen Königsschlacht um Metz (14. bis 18. Aug.) und warfen sie in die Festung Metz zurück, wo das französische Heer eingeschlossen wurde.
Als darauf ein neu gebildetes französisches Heer die in Metz eingeschlossene Armee befreien sollte, wurde dieses, ehe es seinen Plan ausführen konnte, in der furchtbaren Schlacht bei Sedan (1. Sept.) von dem deutschen Heere, welches König Wilhelm persönlich leitete, völlig geschlagen. Der Rest der französischen Armee zog sich hinter die Mauern der Festung Sedan zurück, sah sich aber ohne jede Möglichkeit eines Auswegs genötigt zu kapitulieren und wurde kriegsgefangeu nach Deutschland abgeführt. Napoleon, der sich für seine Person König Wilhelm ergab, erhielt nach einer denkwürdigen Zusammenkunft der beiden Monarchen eine ehrenvolle Gefangenschaft auf Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel.
So hatte sich vor Sedan ein weltgeschichtlicher Vorgang vollzogen,
der fast einzig dasteht in der Geschichte aller Zeiten. Der Kaiser der
Franzosen kapitulierte mit einer Armee, deren Größe noch nie bei einer andern Kapitulation erreicht war. Außer den 25,000 in der Schlacht von Sedan gefangenen Franzosen kamen durch die Kapitulation vom 2. Sept. 83,000 kampffähige Soldaten (darunter 4000 Offiziere) in deutsche Gefangenschaft. Außerdem fielen dem Sieger 400 Feldgeschütze (die Festuugskanonen ungerechnet), 70 Mitrailleuseu, 11,000 Pferde zu. Ein in der Geschichte beispielloser Erfolg war errungen: die eine Hälfte der feindlichen Armeeen war in Metz eingeschlossen und für die Operation
int Felde lahm gelegt, die andere kriegsgefangen und das alles in vier
Wochen! Einen unbeschreiblichen Siegesjubel erregten die Botschaften des 2. September, die vielen wie ein Märchen klangen, im ganzen deutschen Vaterland. Deutschland erlebte einen Siegestag, wie noch keinen zuvor.
Während in Deutschland der Siegesjubel durch alle Gaue brauste, brach in Paris bei der Nachricht von der Gefangennahme Napoleons eine Revolution ans. Der Kaiser wurde abgesetzt und die Republik eiu-gerichtet, die entschlossen war, den Krieg bis aufs äußerste fortzusetzen.
Abicht, Lesebuch. II. . ,
210 Wilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen.
Derselbe nahm von jetzt an eine ganz andere Gestalt an; statt der Feldschlachten, welche die ersten vier Wochen ausgefüllt hatten, begann jetzt die Zeit des Belagerungskriegs, welcher die Ausdauer, Beharrlichkeit und stete Wachsamkeit der deutschen Truppen in vollstem Maße in Anspruch nahm. Straßburg, Metz, Paris, Toul, Verdun, Bitsch, Schlett-stadt, Neu-Breisach, Psalzbnrg, Thionville, Longwy, Montmedy, Meziöres, Soissons wurden gleichzeitig belagert. Bon diesen Festungen fiel zuerst (am 23. Sept.) Toul; fünf Tage später, am 28. Sept., erfolgte die Eroberung von Straßburg, das sich 7 Wochen lang mit Heldenmut verteidigt hatte.
Der 28. Sept. gab Deutschland eine seiner ehrwürdigsten Städte wieder und mit dem Falle der Hauptstadt und Festung wurde ein getrennter Gau wieder mit Deutschland vereinigt, der so viele Jahrhunderte in innigstem Kulturzusammenhang mit ihm gestanden hatte. Was Jahre der Schmach ihm geraubt, Zeiten der Schwäche ihm entfremdet hatten, gaben ihm Tage der Größe und Erhebung wieder. Und es gab säst kein Her; in Deutschland, das nicht freudig mitjubelte, als die frohe Botschaft kam: Straßburg ist wieder unser.
Vier Wochen später fiel nach unendlich mühseliger, anstrengender Belagerung auch das Hanptbollwerk Frankreichs, das stark befestigte Metz in die Hände der Deutschen (27. Oktober).
173,000 Mann, 3 Marschälle (Bazaine, Canrobert, Leboeuf), über 50 Generale, mehr als 6000 Offiziere folgten kriegsgefangen ihren vorausgegangenen Kameraden nach Deutschland. Somit befand sich die ganze reguläre Armee Frankreichs in deutscher Gefangenschaft.
Der Fall dieser noch nie bezwungenen („jungfräulichen") Festung war eines der großartigsten Ereignisse des ganzen Kriegs. Um den Höchstkommandierenden der Belagerungsarmee, Prinz Friedrich Karl, und eben diese Armee „für so große Leistungen zu ehren", ernannte ihn König Wilhelm zum Feldmarschall, eine Auszeichnung, welche er auch seinem Sohne, dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm, verlieh.
Der gauze folgende Teil des Kriegs dreht sich hauptsächlich um die Einnahme von Paris, das von dem deutschen Heer eng umschlossen gehalten wurde. Nachdem alle Ausfälle der Belagerten von den Deutschen zurückgeschlagen unb 4 ueugebildete französische Feldarmeeen, die znr Entsetzung von Paris bestimmt waren, eine nach der anderen durch die deutschen Heere ihren Untergang gefunden hatten, ermattete endlich die Widerstandskraft der Pariser. Das stolze Paris ergab sich am 28. Januar 1871. Im Frieden (der definitiv erst am 10. Mai zn Frankfurt ab-gefchloffen wurde) mußte Frankreich den Elsaß und einen Teil von Lothringen (mit Metz) an Deutschland zurückgeben.
So war denn die ungeheure Kriegsarbeit rühmlich für die Deutschen beendet. In dem kurzen Zeitraum von 6 Monaten war in diesem
Der französisch-deutsche Krieg.
211
Kriege ohne gleichen die gesamte Wehrkraft des größten Kriegsstaates zerbrochen; 156 Gefechte, 17 Schlachten waren geliefert, 3 große Heere in Festungen gedrängt und zur Übergabe gezwungen, in Summa fast eine Million bewaffneter Feinde getötet oder entwaffnet (100,000 getötet, 363,000, darunter 11,600 Offiziere, gefangen nach Deutschland geführt, gegen 400,000 in Paris entwaffnet, 83,000 nach der Schweiz gedrängt); außerdem waren 26 feste Plätze zur Übergabe genötigt, darunter Metz und Paris, welche beide zu den stärksten und größten Festungen der Erde gehören, über 6700 Geschütze, 120 Adler und ein unermeßliches Kriegsmaterial war erbeutet.
Aber von all den glänzenden Erfolgen dieses ruhmreichsten aller Kriege, durch welchen zwei uralte deutsche, uns durch französische Raublust entrissene unb zwei Jahrhunderte lang vorenthaltene Provinzen dem deutschen Vaterlande wiebergewounen stnb, war bie herrlichste Errungenschaft die Wiederaufrichtung des ehrwürdigen, von französischem Hochmut frevelhaft zertrümmerten, deutschen Kaisertums, als Zeichen der neu aufsteigenden Größe und Macht Deutschlands.
Aus den blutgetränkten Feldern Frankreichs legte das siegreiche Schwert der tapferen deutschen Heere den Grundstein zu dem neuen deutschen Reich, defseu Führung nach dem gemeinsamen Willen von Deutschlands Fürsten und Völkern Preußens König als erblicher Kaiser von Deutschland übernahm.
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit war durch das Baud der Waffenbrüderschaft und die gemeinsame Vollführung fo herrlicher Waffen-thaten in den Völkern nnd Fürsten des Südens mit solcher Stärke emporgewachsen, daß der Süden dem Norden in aufrichtigem Bruderbund bie Hand über den Main hinüber reichte.
Mit Ende des Jahres 1870 wurde durch den Beitritt von Baden, Hessen, Württemberg, Baiern der Nordbund zum neuen deutschen Reich, zum Bunb ber vereinigten Staaten von Deutschlanb erweitert, welche auf Preußens König Wilhelm ben Siegreichen bie neu aufgerichtete Kaiferwürbe übertrugen, bie erblich bei bem preußischen Königshause verbleiben sollte.
Am 18. Januar 1871, an welchem Tage gerabe 170 Jahre verflossen waren, seit Kurfürst Friebrich III von Braubeuburg sich bie preußische Königskrone aufs Haupt fetzte, faub im Spiegelsaale bes Schlosses zu Versailles, in Gegenwart einer großen Anzahl von bentschen Fürsten unb Deputationen, ber ewig benkwürbige Akt statt, in welchem sich König Wilhelm zur Annahme ber ihm übertragenen Kaiserwürbe
Wilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen.
bereit erklärte. Ganz Deutschland, Norden wie Süden, stimmte tiefbewegten, dankerfüllten Herzens in die Bitte seines Kaisers ein, die den Schluß der kaiserlichen Proklamation bildete: „Uns aber und unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung".
Glänzende Ziele, die vor wenigen Jahren auch den kühnsten Wünschen unerreichbar erschienen, stehen greifbar vor uns und in nächster Nähe. ^as deutsche Volk ist von den Alpen bis zum Meere geeinigt und steht in Eintracht unter einer Führung, wehrkräftig wie kein anderes, nur in deu Künsten des Friedens das Gedeihen des Vaterlandes erkennend, aber^ jeden von Ruhm und Eroberungssucht getriebenen Friedensstörer in feine Grenzen zurückweisend. In allen Teilen unseres deutschen Vaterlandes haben Ackerbau, Gewerbe, Künste und Wissenschaften einen erneuten Aufschwung genommen, alle Kräfte des deutschen Volkes find zu höherer Energie entfaltet. Nachdem schon längst deutsche Handelsschiffe den Samen deutschen Kunstfleißes und deutscher Gesittung in fernen Zonen verbreitet haben, wächst allmählich immer mehr auch die deutsche Kriegsflotte heran, um mit erzgepanzerten Fahrzeugen den deutschen Küsten in gesicherten Kriegshäfen Schutz zu verleihen und im Donner ihrer Geschütze die Erhaltung und Ehre des deutschen Namens bis in die fernsten Länder zu tragen.
Ehre dem deutschen Heer, das durch Mut und Ausdauer, durch Tapferkeit und Todesverachtung so glänzende Siege errungen und die dentsche Nation zu so großen Erfolgen geführt!
Ehre den deutschen Heerführern und Staatsmännern, die im Felde wie im Kabinett den Gang der Ereignisse mit Umsicht und Geschicklichkeit leiteten!
Ehre den deutschen Fürsten ihrer vaterländischen Gesinnung halber, Ehre aber vor allen Kaiser Wilhelm I, dem Siegreichen, der durch fein hohes Beispiel dem ganzen Heere als Muster treuster, gewissenhaftester Pflichterfüllung vorangeleuchtet, ihm denselben Geist eingehaucht und allen Teilen des Heeres die einsichtigste Führung zu geben verstanden hat. Als wahrhafter Mehrer des Reichs hat er uralte deutsche Gebiete, die uns in Zeiten der Schmach von dem räuberischen Nachbar entrissen waren, für Deutschland wieder gewonnen, hat das schwere Werk der Einigung Deutschlands zustande gebracht, hat das neue dentsche Reich zu einer Höhenstufe des Glanzes und der Machtfülle erhoben, wie sie
Der französisch-deutsche Krieg.
213
dasselbe selbst unter den mächtigsten unb glänzenbsten Kaisern bes Mittelalters niemals besessen hat.
Möge unser teures deutsches Vaterlanb fortan, indem es bie Segnungen bes Friebens preist unb bie Werke bes Friebens baut, unter göttlichem Beistanb einig im Innern, stark nach außen sein! Möge unsere vaterländische Jugend, eingedenk dieser großen Zeiten, von benen bie spätesten Geschlechter werben zn erzählen wissen, von bem heiligen Entschluß beseelt sein, fortan als Deutschlands echte Söhne ihre unerschütterliche Treue unb Liebe zum Vaterlanbe, wenn es sein müßte, auch mit ihrem Blute Zu besiegeln; möge sie es als ihre ernste unb größte Pflicht erkennen, die kostbaren Errungenschaften bes großen Entscheidungskampfes dem Vaterland zu bewahren, festhaltend an den Stammestugenben unseres Volkes, an Frömmigkeit, Tapferkeit unb Treue.
Inhalt.
Griechenland.
Die dorische Wanderung (nach Dieiitz)........................................................ 1
Lykurgos (nach fi. L. von Roth).............................................................. 2
Des Kodros Opsertod (von Ludwig stade) ......................................... 8
6oton (nach K. L. von Roth).................................................................. 8
Solon und Kroisos...................................................................... 9
Kyros....................................................................................... 12
Die Jugendjahre des Kyros (nach Willmann)............................................. 13
Kyros, der Perser und Meder König (nach Biamann)................................. 15
Miltiadks (nach SZÖernide).................................................................. 18
Dhemistokles (von Karl Friedrich Beder)..................................................... 19
a) Beginn der Laufbahn................................................................ 19
Leonidlls (nach Wernide)........................................................... 21
b) Themistokles, Griechenlands Retter durch den Seesieg bei Salamis . . 22
c) Letzte Schicksale des Themistokles................................................. 26
Perikles (nach von Roth und Dielitz)........................................................ 28
Sokrates (VON Ludwig Stade)................................................................. 30
Epümeinondas und Pelopidas (nad) der „Weltgesd-ichte in Biographieen" unb Wernide) . 34
Alexander der Große (nach Pfitzer).......................................................... 38
Die Schlacht am Granikos.............................................................. 40
Alexanders Zug nach Indien............................................................ 45
Alexanders Tod........................................................................ 47
Die ßümcr.
Die Sage von der Gründung Roms (nach Wcrnide)
Rom unter den Königen................................
Rvmulus (nach Oskar Jäger) ....
Numa Pompilins (nach Oskar Jäger) .
Tullus Hostilius (nach Karl Friedrich Beder)
Servius Tullius......................
Tarquiuius Superbus (von Ludwig stade)
Rom ein Freistaat.............................................
Brutus, der erste Konsul der Römer (von stade) . . . Horatius Cocles. Mueius Scävola. Clölia (von stade)
(a. d. Lesebuch v. Hopf u. Paulsiek)
49
52
52
53
54
57
58 61 61 62
Inhalt.
215
Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern ....................................................... 64
ßoriolari (von Friedrich Nösselt und Wetter) .............................................. 64
Camillus (von Karl Peter).................................................................. 67
Die Heldenzeit der Republik...................................................................... ^2
Eiserne Kriegszucht des Lucius Papirius Cursor (von Karl Peter)............................ 72
Fabricius und Pyrrhus (von Haupt).......................................................... 75
Regulus (von Dielitz)...................................................................... 77
Hannibal. Scipio......................................................................... 78
a) Hannibals erstes Auftreten (von Stacke,
b) Hannibals Übergang über die Alpen
(von Joh. Friedr. Wilh. Bötticher) . .
Schlacht bei Zama........................
Julius Cäsar und seine Zeit (von Haupt u. Jäger)................................................. 92
Augustus (nach Stacke)...........................................................................101
.................................................. 78
(a. d. Lesebuch v. Hopf u. Paulsiek)
81
.................................................. 87
Deutsche Geschichten.
Sitten und Einrichtungen der alten Deutschen (nach Dittmar)................................... 104
Deutsche Heldensagen...........................................................................108
Siegfried (nach Schöne und Bäßler).......................................................108
GlldrUN (nach Osterwald auS dem Lesebuch von Kohts, Meyer und Schuster)................. 121
Arminius, der Befreier Deutschlands («ach Duller)..............................................131
9lttila (aus dem Lesebuch herausgegeben vom Lehrerverein der Stadt Hannover)...................135
Bonisacius (von Werner)........................................................................140
Karl der Große (nach Quitmeyer u. Dittmar).....................................................142
König Heinrich I (nach Stoll, aus dem Lesebuch von Hops und Paulsiek)......................... 149
Otto der Große (nach Dav. Müller und dem Lesebuch von Bock)................................... 153
Heinrich IV und Gregor VII (von Berthold)......................................................155
Friedrich Barbarossa (nach Raumer und Quitmeyer) ^ (a. d. Lesebuch herausgegeben vom 158
Rudolf von Habsburg (nach Grube)........................j Lehrerverein der Stadt Hannover) 163
Die Vorboten der neueren Zeit................................................................. 165
Johann Gutenberg (von Weiter)............................................................166
Kolumbus, der Entdecker Amerikas (von Andrä).............................................168
Martin Luther (nach Henmg).....................................................................172
Gustav Adolf, König von Schweden (nach Wermcke)................................................178
Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst (von Temhardy............................................180
Friedrich II der Große........................................................................ 184
Schlacht bei Leuthen, am 5. Dezember 1757 (nach Hahn)....................... 187
Friedrich II als Landesvater (nach dem Bockschen Lesebuch und Dittmar).............190
Napoleon (nach Haupt u. Dittmar).............................................................. 192
Deutschlands Demütigung und Errettung....................................................195
Wilhelm I, Kaiser von Deutschland und König von Preußen (nach Eylert u. Dittmar) 202
Der Krieg in Schleswig-Holstein 1864 ................................................... 204
Der deutsche Krieg 1866 ................................................................ 205
Der französisch-deutsche Krieg (1870 — 1871)....................................- . 207
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