162. Der deutsch - französische Krieg von 1870—1871. 359 Nach diesen unerhörten Siegen stand Preußen so mächtig da wie noch niemals, und die fremden Mächte konnten sich gar nicht von ihrem Staunen erholen. Das war alles so gar rasch gekommen. Keiner war neidischer als Louis Napoleon. Der hatte sich wohl die Hände gerieben, als der Krieg entbrannte, und gedacht: „Preußen und Österreich sind ungefähr gleich stark; sie werden sich gegenseitig aufreiben; zuletzt trete ich dann da¬ zwischen und helfe dem, der mir den reichsten Gewinn zahlt." Nun hatte Preußen durch rasche, wuchtige Schläge seine Feinde zu Boden geworfen und stand so gewaltig da, daß dem bösen Nachbar selber zu grauen begann. 162. Der deutsch-französische Krieg von 1870—1871. 1. Der böse Nachbar. Nach 1866 stand der größte Teil von Deutschland als norddeutscher Bund unter preußischer Führung festgeeint da. Man konnte voraussehen, daß der norddeutsche Bund sich mit der Zeit zu einem deutschen Bunde mit preußischer Spitze erweitern, vielleicht auch der Übergang zu einem deutschen Reiche mit einem hohenzollernschen Kaiser sein werde. Geschah das, so stand im Herzen von Europa eine ge¬ bietende Macht, die fortan im Rate der Völker ein sehr gewichtiges Wort reden konnte. Da nun die Deutschen eine friedliebende Nation sind und nicht auf Krieg und Eroberung ausgehen, so hätten alle Völker ihnen solches Glück wohl göunen mögen. Das thaten sie aber nicht, am wenigsten der böse Nachbar im Westen. Die Franzosen dachten: „Wir müssen Preußen und den norddeutschen Bund zerschlagen, ehe Deutschland ganz einig wird und uns über den Kopf wächst." Wie unsinnig schrieen sie in ihren Zeitungen: „Rache für Königgrätz!" als ob nicht Österreich, sondern Frankreich dort geschlagen wäre. 2. Frankreichs Vorwand zum Kriege. Wer Streit will, findet bald einen Vorwand. Im Sommer 1870 suchten die Spanier für ihren erledigten Thron einen König und wählten den Prinzen Leopold von Hohenzollern, einen entfernten Verwandten König Wilhelms. Da erhob Frankreich ein furchtbares Geschrei: nimmermehr dürfe es zugeben, daß ein Hohenzoller den spanischen Thron besteige! Der französische Ge¬ sandte, Graf Benedetti, mußte sich sofort zu König Wilhelm begeben, der friedlich zu Ems seinen Brunnen trank, uud von ihm fordern, daß er dem Prinzen die Annahme der spanischen Krone verbiete. Ruhig er¬ widerte Wilhelm: „Das muß der Prinz selber wissen; ich habe als König von Preußen mit der Sache nichts zu schaffen." Was that nun Leopold? Er erklärte den Spaniern: „Damit nicht vielleicht aus dieser Sache ein blutiger Krieg entsteht, verzichte ich auf die spanische Krone und nehme meine Zusage zurück." So hatte nun Frankreich seinen Willen. Doch nein, es hatte ihn nicht; denn es wollte ja Krieg. Deshalb mußte Benedetti abermals zu König Wilhelm gehen und verlangen, er solle nun einen Brief an Napoleon schreiben, in demselben sein Bedauern über das von seiten Leopolds Vorgefallene ausdrücken und versprechen, daß der-