während der
lirait und Völkerwanderung.
Schilderungen und Geschichten,
zur Stärkung vaterländischen Sinnes
der Jugend und dem Volke dargebracht
von
Druck und Verlag von C. Bertelsmann.
1 8 9 3.
Dem edlen vaterländischen Dichter
Martin Greis
widmet dieses anspruchslose Werkchen
in herzlicher Verehrung und Freundschaft
der Verfasser.
Vorwort
das vorliegende Büchlein verdankt fein Dasein
einem Wunsche, der mir von mehreren Seiten aus-
gesprochen worden ist: aus den drei ersten Banden
meiner für reifere Leser bestimmten „Geschichtsbilder"
dasjenige auszuheben, was auch Knaben von zarterem
'Alter verständlich und interessant erscheinen könne.
Also ein Auszug aus jenem größeren Werke war
beabsichtigt, und doch kein Auszug im gewöhnlichen
Sinne. Alles, was der Jugend und dem Volke ge-
fallen will, muß frische, gesättigte 8arbe und ab-
gerundete 8orm haben; mit dürftigen Notizen ist
hier nichts gerban. Nicht eine karg bemessene, gleich-
mäßige Darstellung der wichtigsten Ereignisse, sondern
eine Reihe lebensvoller Einzelbilder, in denen allein
Geschichtliches der Jugend verständlich und anziehend
ist, sollte geliefert werden. Das historisch Bedeutende
mußte nicht selten gegen das ethisch wertvolle zurück-
treten. Daher habe ich einerseits viele Abschnitte
ganz gestrichen, andrerseits die breite, behagliche Er-
zählung oder Schilderung nicht abgekürzt, sondern
sie durch Vereinfachung des Verwickelten und kräftiges
Hervorheben des menschlich 8esselnden, durch ver-
VI
Vorwort.
änderte 8arbe, 8orm und Gruppierung den ge-
ringeren Kenntnissen und der weniger entwickelten
8assungskraft meiner Leser anbequemt. Ich hoffe,
es ist mir gelungen, ein Volks- und Knabenbuch
zu schreiben, das dem auf dem Titel angegebenen
Hauptzwecke entspricht, wenn diese Hoffnung sich
erfüllt, so soll ein zweites Bändchen mit Darstellungen
aus der Kaiserzeit von Karl dem Großen bis zum
Ende der Hohenstaufen in Jahresfrist Nachfolgen.
Daß der vorliegende Teil mit den beiden letzten Ab-
schnitten eigentlich über den zeitlichen Rahmen der
Völkerwanderung hinausgreift, bedarf wohl keiner
Entschuldigung. Es schien mir nicht ratsam, die hier
berichteten Begebenheiten einer Schablone zuliebe aus
ihrem natürlichen Zusammenhänge zu reißen.
Die Probe der Zuverlässigkeit wenigstens wird
das Büchlein bestehen; denn es gründet sich auf die
(Quellen selbst und die besten wissenschaftlichen Werke
der Neuzeit und verschmäht den in der Jugend-
lirteratur üblichen romanhaften Aufputz, durch den
der Leser nur in Verwirrung gebracht wird, da er
niemals weiß, wo die Geschichte aufhort und die Er-
dichtung anfängr. Ich bin der Meinung, daß die
alte vaterländische Geschichte auch ohne solche Zieraten
empfängliche Gemüter zu fesseln und zu begeistern
vermag.
Bautzen, im September 1892.
Dr. Rlee.
Inhaltsverzeichnis.
1. Land und Volk der alten Deutschen......................
2. Haus und Hof...........................................
3. Haustiere, Speise und Trank............................
4. Kleider, Waffen und Gerätschaften......................
5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit .
6. Tageslauf eines germanischen Hausherrn in Friedenszeiten
7. Alter, Tod und Bestattung..............................
8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen .
9. Aus dem öffentlichen Leben in Friedenszeiten . . . .
10. Aus dem germanischen Kriegsleben......................
11. Die Kimbern und Teutonen..............................
12. Casars Kampf mit Ariovist.............................
13. Drusus und Tiberius in Deutschland....................
14. Armin, der Befreier Deutschlands, und die Schlacht im
Teutoburger Walde....................................
15. Armin im Kampfe mit Germanicus........................
16. Armin im Kampfe mit Marbod und das Ende des Helden
17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung................
18. Die Goten bis zum Einfall der Hunnen; Ulfilas . .
19. Ermanarich und die Hunnen.............................
20. Die Westgoten im oströmischen Reich; Fridigern . . .
21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere Kämpfe . .
22. Die Westgoten und Theodosius der Große................
23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho . . .
24. Alarichs Siegeszug und Ende...........................
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1
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108
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126
137
145
149
154
160
163
174
Vili
Jnhaltsverzeichnis.
Sette
25. Tagesleben eines westgotischen Konigs, fiinfzig Jahre
nach Alarich ...........................................180
26. Attila, der Hunnenkonig..................................185
27. Die Volkerschlacht auf ben katalaunischen Gefilden . . 193
28. Attilas letzte Thaten und sein Tod.......................201
29. End e des westromischen Reiches; Odowaker .... 204
30. Theoderich der Grohe als Kriegsheld......................211
31. Theoderich der Grohe als Friedensfurst...................218
32. Die Franken vor Klodwig..................................229
33. Klodwig, der Grunder des Frankenreiches..................237
34. ©elimer, der letzte Wandalenkonig........................253
35. Der Ostgotenkonig Witichis...............................264
36. Totila, ber grohe Gotenheld..............................274
37. Teja, der letzte Konig der Ostgoten......................288
38. Alboin, ber Langobardenkonig.............................293
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage von Authari
bis Grimwald............................................305
40. Der Fall des Langobardenreiches und die Sage von
Desiderius..............................................321
1. Land und Volk der allen Deutschen.
Es war etwa dreihundertunddreißig Jahre vor unsers Hei-
landes Geburt, als ein gelehrter griechischer Kaufmann Namens
Pytheas aus seiner Vaterstadt Massilia, die fetzt Marseille
heißt und in Südsrankreich an der Mündung der Rhone liegt,
mit etlichen Schiffen fortfuhr, um eine kühne Seefahrt zur
Erforschung des unbekannten Nordens von Europa zu unter-
nehmen. Er segelte um die spanische Halbinsel herum und
Weiler die Küste von Frankreich entlang und kam bis über
England und Schotrland hinaus. Erst die Schrecken des Eis-
meers zwangen den kühnen Mann zur Umkehr. Da fuhr er
südwärts in die Nordsee, bis er an den westlichen Strand des
heutigen Schleswig-Holstein gelangte, und er fand hier ein
halbwildes Volk von riesigem Körperbau, mit blonden Haaren
und blauen Augen. das nannte sich die Teutonen. Vor der
Küste lagen zahlreiche Inseln, die seitdem zum größten Teil
die See verschlungen hat; von den ärmlichen Bewohnern dieser
Eilande kauften die Teutonen den schönen gelben Bernstein,
den kostbaren Auswurf des Meeres. Reich an Erfahrungen
und Gewinn kehrte Pytheas von seiner abenteuerlichen Reise
heim und schrieb einen Bericht über all das Wunderbare, das
er im unbekannten Ocean und im schaurigen Norden gesehen
und erlebt hatte. Aber die Leute glaubten ihm nicht recht, ja
sie lachten ihn aus oder schalten ihn; denn sie hielten ihn für
einen Aufschneider und sagten, seine Erzählungen seien Wind-
beuteleien. So kümmerte sich denn auch niemand um jene
Teutonen. Aber nach mehr als zweihundert Jahren erkannte
man, daß Pytheas doch nicht lauter Lügen berichtet hatte;
Klee, Die alten Deutschen. p
2 1. Land und Volk der alten Deutschen.
denn da kamen dieselben Teutonen mit ihren Nachbarn, den
Kimbern, an die Grenze des römischen Reichs und lehrten die
stolzen Römer zuerst vor den Deutschen zittern; denn jene
Teutonen waren das erste deutsche Volk, dessen Name im
Altertum genannt worden war, und zugleich neben den Kim-
bern das erste, das den Herren der Alten Welt den Untergang
drohte. Zwar gelang es den Römern für diesmal noch die
furchtbare Gefahr abzuwenden und jene beiden deutschen Stämme
in zwei blutigen Schlachten zu vernichten; aber wenige Jahr-
zehnte später erfuhren sie bereits zu ihrem Schrecken, daß die
Vernichteten nur einen ganz geringen Teil einer unermeßlichen
Völkermenge von unglaublicher Tapferkeit und Körperstärke ge-
bildet hatten, die hinter dem Rhein und der Donau bis zur
Nord- und Ostsee und bis über die Weichsel hauste. Und
diese Völkerflut, von der sich in den folgenden fünf Jahr-
hunderten immer und immer wieder einzelne Wogen lösten und
gegen das Reich der Römer wie eine stets wiederkehrende Meeres-
brandung anprallten, bis sie es endlich zertrümmerten, das
waren eben die Deutschen, unsre Vorfahren, oder, wie man
sie im Altertum nannte, die Germanen.
Einst, in grauer Vorzeit, waren sie aus Mittelasien, der
großen Völkerwiege, in Europa eingewandert. Vor ihnen her
zogen die Kelten, die den Westen und die Mitte Europas
einnahmen; hinter ihnen die Slaven, denen der Osten zufiel.
Der Süden war bereits von andern Völkern besetzt, aus denen
die Griechen und Römer hervorgingen. So blieb den Ger-
manen eigentlich nur der Norden des Weltteils. Sie unter-
warfen oder verdrängten die Ureinwohner dieser Gegenden an
der Ostsee; aber in langen harten Kämpfen eroberten sie sich
auch die Mitte. Denn wenn auch die hier hausenden Kelten
tapfer und stark waren, so waren die Germanen doch noch
tapferer und stärker und drangen allmählich nach Westen bis
zum Rheine und nach Süden bis zur Donau siegreich vor.
Die Römer, die in den warmen, fruchtbaren und wohl
angebauten Gegenden am schönen Mittelmeere lebten, haben
viel Abschreckendes von der Beschaffenheit des deut-
schen Landes erzählt; sie nannten es ein ungestaltes und
1. Land und Bolk der alten Deutschen. 3
rauhes Land. Und freilich sah es namentlich im Norden
zwischen Ems und Niederelbe traurig aus. Ungehindert konnten
dort die wilden Meeresfluten oft aus viele Meilen den flachen,
öden Strand überströmen, und weiter landeinwärts folgte ein
schauerliches Durcheinander von Sümpfen und Urwald. An
den Ufern der Ströme wuchsen riesige Eichen. Wenn diese
vom Wasser unterwühlt oder durch Stürme losgerissen wurden,
stürzten sie um und kehrten ihre weitverzweigten Wurzeln gen
Himmel. Manchmal trieben sie auch samt großen Stücken
des Bodens die Flüsse hinunter ins Meer und setzten niit
ihrem ungeheuren Geäste, das sich wie Maste und Takelwerk
ausnahm, die fremden Schisse in Schrecken. Urwald bedeckte
überhaupt den größten Teil Germaniens; aber deshalb sah es
doch nicht überall grausig und wild aus. All die schönen
deutschen Ströme, der Rhein, die Donau, der Main, die
Weser, die Elbe und wie sie alle heißen, wälzten reichlicher
und klarer als heutzutage ihre grünlichen Wogen dem Meere
zu; alle die zahllosen Bäche und Quellen plätscherten, nur
ungetrübt und ungehindert, durch Wald und Weiden. Der
liebliche Wechsel wischen Thälern und Hügeln, der namentlich
die mittleren Gegenden unseres Vaterlandes so reizend macht,
bestand damals wie jetzt. Der wunderherrliche deutsche Wald
war auch nicht allenthalben so schauerlich und undurchdringlich,
wie die Römer behaupteten, und wenn er auch die Feuchtig-
keit erhöhte und Schnee und Regen anzog, so gewährte er
dafür auch wohlthätigen Schatten im Sommer und hemmte
die Gewalt des Sturmes im Winter. Außer feuchten,
finsteren Eichenwäldern gab es trockene Waldung von Buchen
und Nadelholz, herrlich duftend, mit schlank aufstrebenden
Bäumen und weichem Moosgrund, auch hie und da schöne
Lichtungen mit prächtigem Grün. Städte fehlten freilich
gänzlich, stattliche Bauwerke ragten nirgends empor, und eben-
sowenig gab es wohlgeebnete Straßen, aus denen man bequemlich
reisen konnte. Aber wenn der Wanderer auf gewundenem
Waldpfad dahinschritt, so stieß er doch nicht selten auf Menschen-
wohnungen, von wo er schon aus der Ferne die Hunde bellen
und die Gänse schreien hörte. Es waren niedrige Holzhäuser
1*
4
1. Land und Volk der alten Deutschen.
mit hohen Strohdächern, ein jedes von einem eingehegten Hof-
raum umgeben, die entweder ganz einzeln in der Einsamkeit
oder in weiteren Lichtungen als regellos angelegte, weitläufige
Dörfer dalagen. Die Wege waren freilich selten genug und
nur durch allmähliches Festtreten, nicht durch künstliche Anlagen
entstanden. Oft erschwerten ungeheure Wurzeln oder gestürzte
Baumstämme den Pfad. Und in dem Dickicht des Urwaldes
hausten allerlei dem Wanderer unheimliche Gäste, vor denen
er auf der Hut sein mußte; so das riesige Wisent, die stärkste
und bösartigste Büffelart, und der kaum weniger furchtbare
Ur- oder Auerochs, dazu grimmige Bären und Eber und
gefräßige Wölfe. Ferner, wenn auch nicht gerade gefürchtet,
der gewaltige Schelch oder Riesenhirsch, das häßliche Elen und
das wilde Pferd. Aber noch häufiger zeigten sich doch die
freundlichen Gestalten des Edelwilds und des sanften Rehs.
In der Lust kreisten Adler und Geier, Habichte und Falken;
im Sumpfrohr lebten Schwärme von wilden Gänsen, Schwänen
und Enten; in den feuchten Thalgründen stolzierten Kranich
und Storch. Neben den krächzenden Raben ließen Waldtauben,
Drosseln und unzählige kleinere Singvögel ihre traulichen
Stimmen erschallen. Und wenn der Wind durch die hohen
Wipfel der tausendjährigen Eichen und Buchen, Tannen und
Fichten strich, wenn all die heimlichen Stimmen des deutschen
Waldes flüsterten, summten und rauschten, dann glaubte der
Wanderer mit frommem Schauer das Raunen und Weben der
heimischen Götter zu vernehmen. Außer Sümpfen und gähnenden
Abgründen, außer hungrigen und blutgierigen Tieren konnten
ihm allerdings auch habsüchtige, ruchlose Menschen gefährlich
werden. Aber die Furcht vor feindseligem, lauerndem Gesindel
war im allgemeinen nicht sehr groß; denn im ganzen Lande,
überall, wo Germanen lebten, hielt man das Gastrecht heilig,
und der Fremde war ein Gegenstand frommer Scheu. Er
stand ja unmittelbar unter dem Schutze der Gottheit, und
diese zu erzürnen trug selbst der rohe Gesell Bedenken.
Die Herren dieses Landes zwischen Meer und Donau,
zwischen Rhein und Weichsel, zeigten schon durch ihr Äußeres
sowie durch besondere Vorzüge und Fehler, daß sie ein
1. Land und Volk der alten Deutschen. 5
unvermischtes, selbständiges, nur sich selber ähnliches Volk
waren. Oft genug beschreiben die alten römischen Geschicht-
schreiber bewundernd die ungeheure Körpergröße, die ge-
waltigen und geschmeidigen Leiber, die trotzigen blauen Augen,
das volle, rotblonde, langherabwallende Haar, die weiße Haut-
farbe und hohe Schönheit der Germanen. Boll Staunen be-
richten sie, daß deutsche Gefangene, wenn sie im Triumph zu
Rom aufgeführt wurden, oft die Adlerstangen und Sieges-
zeichen überragten, daß deutsche Jünglinge mit Leichtigkeit über
sechs nebeneinanderstehende Pferde springen konnten, daß deutsche
Helden nicht selten halbe und ganze Tage lang im Schlacht-
gewühl stand hielten und unzählige Einzelkämpfe bestanden,
daß sie Bäume samt den Wurzeln aus der Erde rissen oder
Stämme von vierzig Fuß Länge auf den Schultern trugen,
daß sie die reißendsten Ströme durchschwammen, beim Aufsitzen
stets ohne Steigbügel aufs Pferd sprangen, die schneebedeckten
jähen Alpenabhänge lachend aus ihren Schildern hinunter-
rutschten, ohne der gähnenden Klüfte zu achten, daß sie leicht
die grimmigste Kalte, nicht aber die Hitze, trefflich den Hunger,
ungern aber den Durst ertrugen. Durch das tausendjährige
Urwaldleben, durch beständige Abhärtung, durch Jagd und
Krieg, durch einfache und keusche Sitte hatte dieses Heldenvolk
die angeborene Kraft und Geschmeidigkeit von Jugend auf
genährt, es hatte gelernt aller Gefahren und des Todes zu
lachen, und darum roar es überall unwiderstehlich, wo es auf
Stärke, körperliche Gewandtheit und ungestümen Mut ankam.
Außer der Tapferkeit treten uns unter den geistigen Eigen-
schaften der Germanen noch manche als gemeinsames Gut und
Kennzeichen der ganzen Nation entgegen, so ein stolzes, männ-
liches Selbstbewußtsein, eine Freiheitsliebe, die zuweilen in
spröden Eigensinn und unbändigen Trotz ausartete, und da-
neben eine rührende, hingebende Treue, von der wir manches
schöne Beispiel kennen lernen werden. Den deutschen Mann
zierte ferner ein offener, biederer Sinn, ein ehrliches, gerades
Wesen in That und Wort; nur im Kriege, dem Feind gegen-
über war Schlauheit und List erlaubt, ja sie galt sogar für
rühmlich, wenn sie nur mit gefahrvollem Wagnis und kühner
6 I. Land und Volk der alten Deutschen.
Thal verbunden war. Feige Tücke aber und boshafte Lüge
war aufs tiefste verachtet. Eine herrliche Tugend, die den
Germanen schmückte, war die Keuschheit. Römische Frauen
sahen sich in deutscher Gefangenschaft sicherer und geehrter als
daheim in Italien. Aufs Strengste wurde alle Sittenlosigkeit
und Liederlichkeit bestraft; ja so ekelhaft waren den Deutschen
lüsterne, unsittliche Menschen, daß sie diese ganz und gar den
Augen der andern entzogen, indem sie sie lebendig in Moor
und Sümpfe versenkten und Reisigbündel darüber warfen.
In großartigem Maße übte man die Gastfreiheit. Irgend
einem Menschen den Eintritt ins Haus zu wehren galt als
gottlos. An einem Fremdling sich zu vergreifen hätte wohl
niemand gewagt; vielmehr schützten sie jeden Gast, der zu
ihnen kam, vor Unbill und teilten mit ihm das Beste, was
sie zu bieten hatten. Wenn es vorkam, daß der Vorrat auf-
gezehrt war, so nahm der Wirt den Gastfreund an der Hand
und führte ihn zu einem andern Obdach, und hier wurden
sie mit derselben freudigen Bereitwilligkeit ausgenommen. Beim
Abschied durfte sich der Gast vom Wirte eine Gabe ausbitten,
die niemals verwehrt wurde. Oft spendete der Gast dem
Wirte ein Gegengeschenk. Über solche Geschenke freuten sie sich
kindlich.
Alle diese Tugenden, zu denen wir noch die gutmütige
Schonung gegen Schwächere, die menschliche Behandlung der
Haustiere, die warme Heimatsliebe, den regen Familiensinn,
die innige Neigung zu Dichtkunst und Gesang und ein tiefes
religiöses Gefühl rechnen, waren dem gemütvollen Volke der
Germanen gemeinsam. Doch standen auch einige Fehler diesen
Vorzügen gegenüber. Vor allem tadeln die nüchternen Römer
die Trunksucht unsrer Ahnen und sie haben diese Schwäche
leider oft genug dazu benutzt, um Deutsche ins Verderben zu
stürzen. So wurde, uni nur e i n Beispiel anzuführen, einmal
eine deutsche Kriegerschar in Köln von den römisch gesinnten
Bürgern durch ein reichliches Gastmahl bis zur Bewußtlosigkeit
trunken gemacht; dann aber verschlossen die tückischen Wirte
die Thüren des Saales, legten Feuer an das Gebäude und
verbrannten die Unglücklichen. Kaum weniger bekannt als die
1. Land und Volk der alten Deutschen. 7
Trunksucht der Deutschen war ihre sogenannte Bärenhäuterei.
Wenn die Männer nämlich von Jagd oder Krieg heimkehrten,
so ergaben sie sich ganz dem Nichtsthun; sie lagen auf der
Bärenhaut, schmausten oder schliefen und überließen alle Sorgen
den Frauen oder Knechten. Ein großer römischer Geschicht-
schreiber. dem wir für seine schöne Schilderung des germani-
schen Landes und Volkes zu ewigem Danke verpflichtet sind,
der berühmte Tacitus, wundert sich über den seltsamen Zwie-
spalt der Natur, daß dieselben Menschen im Kriege so un-
ermüdlich und rastlos, im Frieden so träge seien. Aber jener
Faulheit ergaben sich eben nicht alle Germanen, sondern
nur die, welche dem Kriegsleben ausschließlich oblagen, und
daß diese Männer nach ungeheuren Mühsalen, nach Ent-
behrungen und Großthaten das Bedürfnis fühlten, sich recht
gründlich anszuruhen und behaglich der langentbehrten Ruhe
und des fröhlichen Schmauses zu genießen, das ist gewiß
natürlich. Auch im Frieden waren sie nicht immer unthätig:
sie lagen ja in einem fast unaufhörlichen Kampfe mit den
gefährlichen Tieren des Urwaldes und stärkten auf der Jagd
Kraft und Mut. Doch selbst außer der Jagd gab es noch
ernste friedliche Beschäftigungen, die eines Mannes würdig
waren, vor allem die Teilnahme an den Versammlungen des
Volkes, von denen wir später berichten werden. So gar schlimm
und unverzeihlich kann also die Bärenhäuterei nicht gewesen
sein, um so tadelnswerter aber war die Streitsucht der Ger-
manen. Namentlich entstanden bei den beliebten Trinkgelagen
oft Zwistigkeiten, die nicht selten mit Totschlag und Verwun-
dung endigten. Am verderblichsten wurde dieser Fehler, wenn
Uneinigkeit zwischen ganzen Stämmen oder Völkerschaften
entstand. Solcher innerer Hader hat leider häufig genug großes
Unglück über Deutschland heraufbeschworen. Schon ein schlauer
Römer meinte, man solle die Germanen nur ihrer eigenen
Zwietracht überlassen, sie würden sich schon untereinander selbst
zerfleischen. Ach, wie oft haben noch in neuerer Zeit die
Völker des Auslandes hohnlachend zugeschaut, wenn Deutsche
gegen Deutsche kämpften. Gott sei gedankt, daß seit der
Wiederaufrichtung des deutschen Reiches im Jahre 1871 solche
8 1. Land und Volk der alten Deutschen.
Zeiten hoffentlich auf ewig vergangen, daß wir nun wirklich ein
einzig Bolk von Brüdern geworden sind! Möchte aber auch das
Leben im Innern des Staates, in Familie, Schule und Kirche,
in Stadt und Dorf immer mehr vom Geiste christlicher Bruder-
liebe erfüllt werden und der grimmigen alten Streitlust ent-
sagen !
Nennen wir nach der Trunksucht, der Bärenhäuterei und
der Streitsucht als einen vierten alten Erbfehler die unsinnige
deutsche Spielwut, die das Albernste als etwas ganz Ernst-
haftes betrieb und zuweilen die ganze Habe eines Mannes,
ja seine Familie und persönliche Freiheit kostete, so sind das
freilich schlimme Flecken, die dem deutschen Charakter anhaften,
und die wir zu meiden allen Grund haben; nur eines darf
uns trösten: unter diesen Fehlern ist keiner, der eine niedrige,
gemeine, verächtliche Sinnesart verriete. Eine unbändige Maß-
losigkeit im Guten wie im Schlimmen zeichnete von jeher
den Deutschen aus; bei einem Naturvolke von reinen, aber
rauhen Sitten, das vom Schicksal in die härteste Schule ge-
nommen wurde, ist solche Maßlosigkeit entschuldbar, ja un-
vermeidlich und verträgt sich ganz wohl mit einer hohen und
edlen Sinnesart. Zeigen sich dagegen die erwähnten Fehler
noch jetzt nach zweitausend Jahren bei uns, die wir uns
rühmen hochgebildete Menschen und Christen zu sein — so
verdienen sie allerdings keine Nachsicht und müssen ohne Scho-
nung bekämpft werden.
Was unsere Vorfahren außer ihrer allgemeinen Leibes- und
Geislesbeschaffenheit gemeinsam besaßen, das war ihre herrliche
Sprache, ihre althergebrachten Sitten und Gebräuche und ihre
ehrwürdige Religion, die zwar noch weit von der erhabenen
Reinheit des Christentums entfernt, aber doch großartig, schön
und edel war. Außer diesem vierfachen Bande aber, das alle
Germanen umschlang, gab es keines weiter. Man darf nicht
denken, daß sie zusammen einen großen Staat bildeten, wie
etwa heutigen Tages der größte Teil ihrer Nachkommen im
deutschen Reiche vereinigt ist; sie teilten sich vielmehr in zahl-
reiche kleinere Völkerfchasten, von denen jede auf eigne
Faust sich regierte und, wenn es not that, Krieg führte.
1. Land und Volk der alten Deutschen. 9
Einige der berühmtesten unter diesen deutschen Stämmen mögen
hier angeführt werden.
An der Nordsee, östlich von der Rheinmündung bis zur
Ems wohnten die wackeren, fleißigen Friesen, deren Nach-
kommen noch heute ihre alten Sitze inne haben. Sie trieben
schon in ältester Zeit nicht nur Fischfang, sondern auch Vieh-
zucht und Ackerbau emsig. Friesen waren es, die zuerst den
Römern ein schönes Wort von der später so oft gepriesenen
deutschen Treue sagten. Einst kamen zwei Fürsten dieses
Volkes als Gesandte wegen einer Grenzstreitigkeit nach Rom,
der glänzenden Hauptstadt des römischen Weltreiches. Da
nun der Kaiser Nero, der damals herrschte und mit dem sie
reden wollten, gerade andre Geschäfte vor hatte, so führte
man sie in das große, offene Theater, um ihnen die Herrlich-
keit Roms recht zu zeigen; denn hier waren viele Tausende
von geputzten Leuten versammelt, und die Aufführungen waren
mit der höchsten Pracht ausgestattet. Das Schauspiel konnte
indes die Deutschen nicht ergötzen, denn sie verstanden es nicht.
Darum guckten sie sich zum Zeitvertreib im Zuschauerraum
um und erkundigten sich nach dem Unterschied der Plätze, nach
den Rittern, den Senatoren und dem andern Volke. Da
bemerkten sie ganz vorn unter den Senatoren, welche die
Vornehmsten waren, einige Männer in ausländischer Tracht.
Neugierig fragten sie, wer die wären, und man sagte ihnen,
das seien Gesandte von einem Volke, das sich durch Tapferkeit
und Treue auszeichne; darum genössen sie solche Ehre. Da
riefen die wackern Friesen: „Kein Volk steht den Germanen
voran, wo es Tapferkeit oder Treue gilt." Sprachen's, stiegen
hinunter und setzten sich mitten unter die Senatoren. Die
Römer aber freuten sich über die rauhe Biederkeit und den
edlen Stolz der Fremden vom fernen Nordseestrande und
riefen ihnen Beifall zu.
Von den Friesen östlich wohnten am flachen Meeresufer
bis zur Elbe die CHauken. Die armen Leute führten ein
entbehrungsreiches Dasein und liebten doch ihre Heimat ebenso
sehr wie ihre Freiheit. Ein römischer Schriftsteller kam einmal
in das Land der Chauken und wußte dann nicht genug Trauriges
10 1. Land und Volk der alten Deutschen.
davon zu erzählen. Dort überflutet der Ocean, so berichtete
er, zweimal im Lauf eines Tages einen breiten Landstrich, so
daß man nicht weiß, ob man diesen Raum Land oder Meer
nennen soll. Inmitten dieser Gegend hat nun das bedauerns-
werte Volk kleine Hügel aufgeworfen, die so hoch sind, daß
sie zur Zeit der höchsten Flut gerade eben noch ein wenig
aus dem Wasser hervorragen. Darauf stehen ihre Hütten,
und von ihnen aus machen sie Jagd auf die Fische, die mit
Eintritt der Ebbe nach dem Meere zurückgespült werden.
Sich Vieh zu halten und von Milch zu leben ist ihnen unter
solchen Umständen nicht möglich. Ja nicht einmal Wild
können sie erlegen, denn es giebt bei ihnen keines, weil weit
und breit kein Strauch wächst. Aus Schilf und Wasser-
binsen flechten sie Stricke, aus denen sie Netze für den Fisch-
fang machen. Da sie kein Holz haben, so kneten sie mit den
Händen die schlammige Torferde, trocknen sie an der Luft,
kochen damit ihre Speisen und wärmen daran ihre vom Nord-
wind erstarrten Glieder. Ihr einziges Getränk ist das Regen-
wasser, das sie in Gruben vor ihren Häusern sammeln. —
An der Unterelbe saßen auf dem linken Ufer, südöstlich von
den Chauken, in der Gegend des heutigen Lüneburg, die sagen-
berühmten Langobarden d. h. Langbärte, die nicht stark
an Zahl, aber wegen ihrer Heldenhaftigkeit sehr angesehen
waren; in Rom sagte man von ihnen, sie seien wilder als
die germanische Wildheit selbst. Von diesem tapfern Helden-
vvlke wird noch viel die Rede sein. Ihnen gegenüber, auf
dem rechten Elbufer bis zur Oder hin, hauptsächlich in der
heutigen Mark Brandenburg war die Heimat der Semnonen,
wie mau glaubt der Vorfahren der Alemannen oder Schwaben.
Schleswig-Holstein und Jütland war in der ältesten Zeit von
den schon erwähnten Teutonen und den Kimbern be-
wohnt, die aber beide schon sehr frühe auswanderten, woraus
das Land von andern Völkerschaften besetzt wurde. Die Nach-
barn der Langobarden im Südwesten waren die tapferen
Cherusker, ein mächtiger und volkreicher Stamm, dem
der hochberühmte Held Armin angehörte. Sie hausten im
Wesergebirge und bis über den Harz hinaus. An ihr Gebiet
1. Land und Volk der alten Deutschen. 11
grenzte das der Hermunduren, von denen die Düringer
oder Thüringer abstammen. Das Land der Hermunduren dehnte
sich von der mittleren Elbe und dem Erzgebirge nach Süd-
westen ein gutes Stück über den Main hinaus. Ferner
wollen wir die Katten, die Vorfahren der Hessen, nennen,
die sich von dem Rhein und der Lahn über die Fulda bis zur
Werra und südlich bis zum Main ausbreiteten. Sie nannten
sich „die Helden" (das bedeutet ihr Name), und die Römer
rühmten ihre besonders große Abhärtung, ihren mächtigen
Gliederbau und ihre bedeutende Kriegszucht. Wenn die Jüng-
linge unter ihnen herangewachsen waren, thaten sie einen
Schwur, nicht eher Haar und Bart zu verschneiden, bis sie
einen Feind getötet hätten. Viele ließen sich auch einen eisernen
Ring an den Arm schmieden, den legten sie nicht eher ab,
als bis es ihnen gelungen war, einen Feind zu erschlagen.
Endlich seien noch die Markomannen erwähnt, die bis um
die Zeit vor Christi Geburt am oberen Main, dann in
Böhmen mächtig waren. Diese Völker, die wir bis jetzt ge-
nannt haben, gehörten zu den Westgermanen oder den Deut-
schen im engeren Sinne des Wortes; von ihnen durch mancherlei
Einrichtungen im Staate und durch die Mundart, in der
sie sprachen, unterschieden waren die Ostgermanen, die haupt-
sächlich die weiten Ebenen des heutigen Nordost-Deutschland
anfüllten. Die berühmtesten unter diesen waren die Bur-
gunden in Süd-Pommern und auf der Insel Burgundaholm
oder Bornholm d. h. Burgundeninsel, die Rügen auf der
Insel Rügen und den benachbarten Küsten, die Goten an
der unteren Weichsel und die Wandalen, die anfangs als
Nachbarn der Burgunden in Nord-Pommern und Mecklenburg,
später in Schlesien und der Lausitz saßen. Von diesen ost-
germanischen Stämmen ist vom vierten Jahrhundert an viel
zu erzählen, denn sie haben hauptsächlich die große Völker-
wanderung ins Werk gesetzt und das Römerreich zerstört; in
der ältesten Zeit ist dagegen von ihnen nur selten die Rede,
und wir wissen von ihnen gar wenig, Noch viel später er-
fahren wir erst etwas Genaueres über die Nordgermanen oder
Skandinavier, die über die Inseln der Ostsee bis nach Schweden
12 2. Haus und Hof.
und Norwegen vorgedrungen waren, und von deren Leben und
Thaten wir ein andermal erzählen wollen.
2. Haus und Hof.
Unsre Vorfahren lebten in den alten Zeiten, von denen
wir reden, nicht in zusammenhängenden Ortschaften. Städte
gab es in Germanien gar nicht; denn die Deutschen haßten
das Leben hinter Mauern, sie wollten nicht von ihrem lieben
grünen Wald geschieden sein und von der goldenen Freiheit
des Landlebens. Ganz allein in die Waldeinsamkeit baute der
Germane sein Blockhaus und fühlte sich heimisch und behaglich
dort. Als geeignete Stelle benutzte er wohl eine kleine Lich-
tung, die Umgebung eines heiligen Duells, das Thal eines
muntern Baches oder die Nähe einer Flußfurt. Das Haus
wurde mit einem großen Hosraum umgeben, der innerhalb
seines festen Zaunes das ganze Heimwesen einer Familie barg.
Und wenn auch aus einem einzelnen Gehöfte zuweilen mehrere
hervorgingen und sich Dörfer bildeten, indem Söhne oder
andre Verwandte neue Wohnstätten in der Nähe der alten
anlegten, so vermied man doch gänzlich enge Gassen oder
aneinanderstoßende Häuser. Jeder baute nur für seinen Haus-
halt und benutzte die Vorteile des Geländes, niemand achtete
auf einen gemeinsamen Plan. Rasenplätze und Baumanger
trennten die Einzelhöfe von einander. Kaum daß ein kreuz
und quer laufender Landweg, der sich gewöhnlich neben einem
Bache hinschlängelte, eine Art naturwüchsiger Dorfstraße bildete.
Die meisten Gehöfte lagen davon abseits, winkelige Sack- und
Nebenpfade führten zu ihnen.
Als die Germanen noch ein Wandervolk waren, hatten
ihre Häuser in einfachen Hütten bestanden, die man in wenigen
Minuten auseinander nehmen und auf Wagen laden konnte.
In der Zeit um Christi Geburt dagegen war man wenigstens
im Westen, zwischen Elbe und Rhein, schon weiter fortgeschritten
zu einem vollkomnmeren Hausbau, der allerdings noch immer
auf platter Erde, ohne Ausgrabung eines Grundes errichtet
wurde. Auch dieses altdeutsche Haus wurde nicht ge-
2. Haus und Hof.
13
mauert, sondern gezimmert; denn den Gebrauch von Bau-
steinen kannte man nicht. Es war also ein Blockhaus und
zwar aus unbehauenen, aufrecht stehenden und nur zum Teil
eingerammten Balken, welche auswendig mit Lehm verschmiert
und mit farbiger Erde bemalt, inwenig mit Brettern ver-
schlagen waren. Die vier Umsassungswände, die ein längliches
Viereck umschlossen, waren nur mannshoch; über ihnen lag ein
hohes, nach allen Seiten gleich tief hinabgehendes, zeltförmiges
Dach aus Stroh oder Schilf. Gern errichtete man das Ge-
bäude um einen mächtigen Baum herum, so daß er mit Stamm
und Wurzeln im innern Raum stand und mit seiner Krone
das Dach überschattete. Man that dies, um dem leichten Bau
eine größere Festigkeit zu verleihen, und auch weil man von
einem solchen Baume glaubte, er stehe im Schutze irgend einer
Gottheit. Das Haus war ein sogenannter Embau, d. h. es
barg unter seinem Dache alle wesentlichen Räume für Wohnung
und Wirtschaft. Der Dachraum war von dem darunterliegenden
durch keine Zwischendecke getrennt. Wenn man durch die
einzige Thür, die auf einer Schmalseite lag, in das ziemlich
dunkle, rauchgeschwärzte Innere hereintrat, so kam man zunächst
in den Flur oder die sogenannte Diele, die aber keineswegs mit
Brettern gedielt war, sondern, wie alle anderen Räume, die bloße,
festgetretene Erde zum Fußboden hatte. Diese Diele war der
größte und, da sie unter der Mitte des Daches lag, auch der
höchste Teil des Hauses. Hier wurde die Ernte abgeladen,
um auf die Balken und Bretter des Dachstuhls hinauf be-
fördert zu werden; hier wurde das Getreide ausgedroschen, hier
nahm man alle Geschäfte und häuslichen Verrichtungen vor,
für die ein besondres Gelaß nicht vorhanden war. Rechts
und links von der Diele, nur durch Holzpfeiler und niedere
Verschläge unvollkommen von ihr getrennt, zogen sich die Ställe
für das Vieh hin, das im Sommer des Morgens aus-, des
Abends eingetrieben wurde und mit den Köpfen in die Diele
hineinguckte. Weder die Diele noch die Ställe reichten aber
bis zu der Wand, die der Thür gegenüber lag; denn im
Hintergründe des Hauses, etwa ein Viertel des ganzen ein-
nehmend, lag von einer Seilenwand bis zur andern der eigent-
14
2. Haus und Hof.
liche Wohnraum des Hausherrn und seiner nächsten Angehörigen,
die Halle oder der Saal genannt. Vorn nach dem Flur zu
stand er offen, und auch von den Ställen war er nur durch
Verschlüge geschieden. Mitten in dem Saale lag der sehr
niedrige, heilig gehaltene Herd, auf dem fortwährend das
Herdfeuer unterhalten wurde. Die Frau des Hauses, unter
deren Obhut der Herd stand, verhütete mit ängstlicher Sorg-
falt das gänzliche Verlöschen des Feuers. Um den Brand
auch über Nacht zu nähren, bedeckte man einen großen Eichen-
block, der an einem Ende glimmte, mit Asche und wußte ihn
so geschickt zu legen, daß er oft das ganze Jahr hindurch
nicht verlosch. Da das ganze Haus keine Fenster hatte und
der Herd beständig rauchte, so hätte bei geschlossener Thür
der Qualm alles erfüllt, wäre nicht gerade über dem Herde
eine viereckige Öffnung im Dache angebracht gewesen, das
sogenannte Windauge, durch das der Rauch abzog und am
Tage das freundliche Himmelslicht hereinlugte. Gegen Schnee
und Regen versperrte man es durch ein vorgespanntes Tier-
fell, das doch nicht so dicht schloß, daß der Rauch nicht noch
einen Ausweg gefunden hätte.
Rings um die Wände der Halle liefen Bänke, auf deren
breiten Sitzen sich die Hausgenossen und Gäste zum Mahle
an kleineren oder größeren Tischen niederließen. Der Ehren-
platz war der Hochsitz des Hausherrn, der gerade hinter dem
Herde sich erhob, gegenüber der Thür, die der Hausvater im
Auge behielt, so daß niemand ohne sein Wissen ein- oder aus-
ging. Hie und da stand in einem Winkel eine schwere hölzerne
Truhe, in der Kleidungsstücke, Schmuck und andere wertvolle
Gegenstände aufbewahrt lagen. Aber es fehlte dem inneren
Hausraum auch nicht ganz an Schmuck. Manche Stellen des
Gebälkes waren mit wunderlichem Schnitzwerk, meist Menschen-
oder Tierfratzen, verziert; die Verschlüge färbte man hie und
da bunt; aus Gesimsen und Brettern stand bei wohlhabenden
Hauswirten mancher schöne, blanke Kessel und ausländischer
Becher oder Krug. An den Wänden der Halle und den
hölzernen Pfeilern, die das Dachgebälke stützten, hingen die
Waffenstücke des Herrn und der Söhne des Hauses. Mit
2. Haus und Hof.
15
Wohlgefallen mag der Blick auch in die Höhe geschweift sein,
wo von den Dachsparren an starken Haken die Schinken und
Würste herniederhingen.
Schlafstellen waren nicht zu erblicken; denn die Bänke
dienten zugleich als Nachtruhestätten für die Hauseltern und
die unverheirateten Kinder. Stroh, Mäntel und Pelze ver-
traten, wenn es not that, die Stelle der Polster und Decken.
Knechte und Mägde schliefen, soweit sie im Herrenhose wohnteu,
zuweilen im Flur und in den Ställen, im Sommer auch im
Freien, gewöhnlich aber in eigenen unterirdischen Räumen.
Auf dem Hofe nämlich befanden sich außer dem Hause noch
kleinere, eigentümliche Nebengelasse, welche Dunge genannt
wurden. Da diese keinen Herd hatten, so schützte man sie
dadurch gegen die Kälte, daß man sie kellerartig in die Erde
eingrub und oben mit Viehdünger belegte. Sie waren trichter-
förmig und ziemlich tief, in der Mitte durch eine Balkenanlage
in eine obere und untere Abteilung geschieden. Der obere
Raum diente zu Schlafstätten für das Gesinde, am Tage
wurde in ihnen das Geschäft des Webens und andere Arbeit,
die nicht im Freien verrichtet werden konnte, betrieben. Die
untere Abteilung benutzte man zur Aufbewahrung des Frucht-
vorrates während des Winters. Drohte ein feindlicher Überfall,
so versteckte man auch andere Habe in den Dung, machte diesen
oben der Bodenfläche gleich und bedeckte ihn mit Erde und
Rasen.
Um das Haus selbst gegen frevelnde Feindeshand zu schützen,
war, wie gesagt, ein jedes mit einem weiten H o f r a u m um-
geben , um den ein fester Zaun, zuweilen auch wohl eine
Dornenhecke oder ein Bollwerk aus Geflecht, Rasen und Erde
lief. Bei besonders stattlichen Gehöften glich die Umzäunung
nicht selten einer Befestigung, die sogar eine feindliche Belage-
rung auszuhallen vermochte. Zwar gab es nicht Gärten in
unserem Sinne, aber hin und wieder wurde ein Winkel des
Hofes zur Anpflanzung der wenigen damals bekannten Küchen-
gewächse z. B. der schön blühenden Bohne und des unent-
behrliäien Lauchs, vielleicht auch einiger Beerensträucher benutzt.
Ein solcher Winkel stand unter der besonderen Obhut der
16
3. Haustiere, Speise und Trank.
Hausfrau und war wohl zuweilen besonders eingehegt. In
dem übrigen Hofraum aber tummelten sich Hühner, Enten und
Gänse, wenn sie nicht im Freien ihre Nahrung suchten, wohl
auch zuweilen ein Teil des vierfüßigen Kleinviehs, da es weder
an Rasen noch an Wasserpfützen gefehlt haben wird. Knechte
und Mägde saßen oder standen hier und dort oder gingen
ab und zu, wie es das Tagewerk eines jeden mit sich brachte.
Zuweilen schlugen die Hunde an, die treuen Wächter des Hofes.
Dazwischen spielten, lachten und schrien die meist nackt umher-
laufenden, slachsköpfigen Kinder der Herrschaft und der ver-
heirateten Knechte, mit ihren unschuldigen blauen Augen und
hübschen, weiß und roten Gesichtern. Und über all dem
Treiben wachte das nimmer müde Auge der Hausfrau.
Nur Haus und Hof war erbliches Grundeigentum der
Familie, nicht so das Feld. Jeder Hausvater nämlich erhielt
durch Gemeindebeschluß einen Teil des Gemeindelandes zum
Anbau des nötigen Getreides bei der Äckerverteilung auf
gewisse Zeit angewiesen. Weideland wurde gar nicht verteilt
und nicht einmal vom Walde abgegrenzt, sondern es bildete
mit diesem zusammen den allgemeinen Änger, wo die Herden
aller Dorfbewohner weiden durften, und zugleich den gemein-
samen Jagdgrund. Diese Gemeindetriften und -wälder hießen
daher die Allmende d. h. der allgemeine Wald- und Weide-
boden, der allen Mitgliedern der Gemeinde zum Nießnutz
offen stand.
3. Haustiere, Speise und Trank.
Eine Anzahl von Haustieren war dem Deutschen von
jeher unentbehrlich, so der wachsame „Hoswart", der Hund,
dessen Anhänglichkeit, Klugheit, Schnelligkeit und Stärke ihn
in Haus und Hof, in Feld und Wald, ja selbst aus Kriegszügen
und Volkswanderungen zum hochgeschätzten Gefährten machten.
Dagegen galt die Katze, die nur in der Wildnis lebte, als ein
unheimliches, zauberkundiges Tier; ihre Stelle im Hause als
Mäuse- und Rattenvertilgerin vertrat das Wiesel. Die Pferde
der Germanen waren weder groß noch schön, dafür aber be-
3. Haustiere, Speise und Trank.
17
saßen sie grüße Schnelligkeit und Ausdauer. Ein gut zuge-
rittenes Pferd galt als eine wertvolle Gabe; wenn der Vater
starb, so erbte der tapferste Sohn gewöhnlich dessen Streitroß.
Sättel und Steigbügel gab es nicht; sich ihrer zu bedienen
hielt man für unmännlich. Nur während des Winters standen
die Pferde in Ställen, sonst weideten sie als Herden auf um-
zäunten Rasenflächen im Walde. Gewisse schneeweiße Rosse
verehrte man als heilige Tiere; sie wurden aus Staatskosten
ernährt und gepflegt und zu gewissen Zeiten des Jahres im
Lande feierlich herumgeführl. Dabei versuchte man aus ihrem
Wiehern und Schnauben zu weissagen. Auch als wertvolle
Opsertiere wurden die Pferde benutzt. Das Fleisch aß man,
die Köpfe wurden den Göttern geweiht, an Stangen gesteckt
oder an geheiligten Stätten angenagelt, namentlich oft über
den Thüren der Häuser. Man glaubte, diese Pferdehäupter
schützten vor allerlei Ungemach, und daher findet man noch
heute in Norddeutschland an den Giebeln vieler Bauernhäuser
Pferdeköpfe aus Holz geschnitzt.
Den Hauptreichtum des deutschen Hofherrn bildete das
Rind, und die Zucht desselben stand in hohem Ansehen. Auf
den fetten Weidetriften, der „Waldweide", fanden zahllose
Rinder die köstlichste Nahrung, erst abends wurden sie heim-
getrieben. Natürlich genoß man nicht nur das Fleisch des
Rindes, sondern auch die Milch, die man am liebsten in
geronnenem Zustande als Sauermilch aß. Auch Butter und
weißer Käse oder Quark waren bekannte und beliebte Nahrungs-
mittel. Schafe, Ziegen und Schweine hielt man gleichfalls
als Haustiere. Besonders die Schweinezucht war beträchtlich,
weil die mästenden Früchte der Eichen und Buchen im Über-
fluß den Boden des Gemeindewaldes, in den man die Schweine
trieb, bedeckten. Die Kunst des Einsalzens, Räucherns und
Dörrens verstand man gar wohl.
Nahrung boten außer den Haustieren die eßbaren Arten
des Wildes, von denen der Wald wimmelte, wie der Bär,
das Renntier, der Eber, der Schelch, der Hirsch, das Reh,
das Wisent, der Auerochs und das Wildschwein, ferner Hasen,
Biber, Fischottern und anderes Kleinwild. Selbstverständlich
Klee, Die alten Deutschen. Z
18
3. Haustiere, Speise und Trank.
aß man auch Fische, die in unglaublicher Menge die Bäche
und Flüsse, Teiche und Seen anfüllten. Dazu gab es zahmes
und wildes Geflügel im Überfluß. Auf jedem Hofe waren
Gänse zu finden, die für schöne, liebliche Tiere galten und
an denen besonders die Hausherrin ihre Freude hatte. Nicht
minder ließ der „Hossänger" d. h. der Hahn mit seinem
lärmenden Völkchen vom ersten Morgengrauen an seine weit-
hinschallende Stimme ertönen. Schnatternde Enten ergötzten
sich in Pfützen und Teichen; auf dem Dachfirst wie in den
Bäumen des Waldes girrten die Tauben. Sogar Störche,
Schwäne und Kraniche wurden zuweilen als eßbare Haustiere
gehalten. Zur Jagd der wilden Vögel bediente man sich des
gezähmten Habichts, Sperbers oder Falken.
Aus Milch und Fleisch bestand zum größten Teil die
Nahrung unsrer Ahnen im deutschen Urwalde. Aber auch
einige Pflanzen lieferten ihnen Speise. Der Ackerbau konnte
freilich nur spärlich betrieben werden, weil man die Düngung
nicht kannte und der Boden fast überall mit Wald bewachsen
war. Die älteste und verbreitetste Getreideart, die man an-
pflanzte, war der genügsame Hafer. Das Hafermus war ein
alltägliches und beliebtes Gericht. Weizen, Roggen und Hirse
baute man nur selten, wogegen die Gerste weitverbreitet war,
aus der die deutschen Hausfrauen schmackhaftes Bier zu brauen
verstanden, und zwar ohne Hopfen, man weiß nicht, mit welcher
Würze. Das Backen war schon in der Urzeit bekannt. Freilich
aber hat man sich das altdeutsche Brot eigentlich nur als einen
gerösteten Mehlbrei, als flachen, ungesäuerten Kuchen vorzustellen.
Die ausgedroschenen Getreidekörner wurden von Knechten oder
Mägden auf Handmühlen, die aus zwei runden Steinen be-
standen, zerrieben, eine mühselige und verhaßte Arbeit.
Von Wurzelfrüchten wurde wenigstens am Rhein die
Mohrrübe oder Möhre und der Rettich gegessen, die beide
trefflich gediehen. Die Rettiche sollen manchmal die Größe
eines kleinen Kindes erreicht haben. Der Kaiser Tiberius ließ
sich alljährlich eine Sendung deutscher Möhren vom Nieder-
rhein kommen und brachte dadurch diese Wurzel in Rom zu
3. Haustiere, Speise und Trank.
19
Ansehen. Hülsenfrüchte waren den Germanen unbekannt, außer
der Bohne, die angeblich hie und da auch wild wuchs.
Die Zubereitung der Speisen war sehr einfach. Das
Fleisch aß man meist gesotten, seltener am Spieße gebraten.
Als Gewürz kannte man nur den Lauch und das Salz. Un-
zubereitet wurde natürlich das Obst verspeist. Anbau von
Edelobst war unbekannt; nur was der Wald ohne besondere
Pflege darbot, aß man, z. B. Erd- und Himbeeren, Heidel-
und Brombeeren, Haselnüsse und vielleicht wilde Äpfel, die
freilich sehr sauer gewesen sein müssen.
Von Getränken haben wir das Bier schon erwähnt.
Außerdem war sehr beliebt und seit ältester Zeit bekannt der
Met, ein gegorenes, also berauschendes Getränk aus Honig
und Wasser. Den Honig lieferten die in Waldbäumen bauenden
wilden Bienen. Den Wein lernte man erst von den Römern
am Rhein kennen, und zwar die südländischen, süßen Arten;
auf deutschem Boden, nämlich am Rhein, wurde der Weinbau
erst gegen dreihundert Jahre nach Christi Geburt durch den
römischen Kaiser Probus eingeführt.
An Küchengeräten gab es eherne Kessel, die auf Drei-
füßen über dem Herdfeuer standen oder an starken Haken
darüber hingen und in denen Fleisch, Fisch, Mus und Gebräu
gekocht wurde. Der Spieß, der Schürhaken, Töpfe, Becken
und Krüge waren allenthalben in Gebrauch. Beim Essen selbst
bedurfte jeder einer Schüssel, die von Thon oder Holz, in
reichen Haushaltungen auch von Metall war. Daraus führte
man flüssige Nahrung mit Löffeln zum Munde; zum Zerlegen
des Fleisches bediente man sich langer Messer; die Stelle der
Gabel vertraten bis in die neuere Zeit hinein die Finger.
Deshalb mußte man sich vor und nach der Mahlzeit, bei
größeren Gelagen auch zwischen den einzelnen Gängen, die
Hände waschen. Das dazu nötige Wasser wurde nebst den
Handtüchern in den Häusern der Vornehmen den Gästen durch
Mägde oder Knechte dargereicht, die auch als Aufwärter ab-
und zugingen und einem jeden die verlangte Speise vom Herde
her zutrugen. In der Nähe des Herdes aber saß die Haus-
herrin und achtete sorglich darauf, daß jedem Eßlustigen sein
2*
20 4. Kleider, Waffen und Gerätschaften.
gebührendes Teil an Speise und Trank zukomme. Als
Trink gef äße dienten die gewaltigen Hörner der Auerochsen,
die man am Rande mit schönen Silberbeschlägen zu schmücken
verstand, aber auch metallene Becher, welche von Italien und
Gallien (deni heutigen Frankreich) her eingeführt wurden. Am
liebsten hatte man die geräumigen Humpen, die erst spät
kleineren Gefäßen Platz machten. Eine wilde, uralte Sitte
kannte endlich noch eine besondere Art Trinkschalen, nämlich
die vom Schmied prächtig verzierten Hirnschüdel aus den
Häuptern erschlagener Feinde.
4. Kleider, Waffen und Gerätschaften.
Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, die Germanen
wären in der Urzeit nackt einhergegangen. Bei dem kühlen,
feuchten, teilweise sogar rauhen Klima ihres Landes wäre das
gar nicht möglich gewesen. Zur Kleidung der Männer
gehörte stets ein ungefärbter wollener Mantel, der kaum bis
zum Oberschenkel reichte, auf einer Schulter mit einer Metall-
spange oder einem Dorn zusammengehalten wurde und zuweilen
mit einem roten Saumstreifen geziert war. Den Stoff dazu
stellten Frauen und Mägde her; selbst Fürstinnen schämten
sich der Kunkel oder Spindel nicht. Zur Winterszeit vertrat
die Stelle des Mantels der kurze Pelz, der auch wie der
Mantel als Schlafdecke diente. Darunter trug der Germane
ein kurzes Wams oder Untergewand aus Wolle, seltner aus
Leinen, das ziemlich eng anlag und mit langen Ärmeln ver-
sehen war. Den unteren Teil des Körpers bedeckten Hosen,
die nicht sehr weit waren und gewöhnlich bis auf den Fuß
hinabreichten. Bei einigen Volksstämmen trug man sie kurz
bis unter das Knie, das untere Bein war dann in der Regel
mit leinenen Binden umwickelt. Die Füße schützte man durch
derbe Lederschuhe, bei denen Sohle und Oberleder aus einem
Stücke bestanden und die kaum bis zu den Knöcheln reichten.
Über der Fußspanne wurden sie mit Riemen zugeschnürt. Vor
der Schlacht pflegten die Krieger den Mantel, der sie an freier
Bewegung der Arme hinderte, oft auch das Wams abzulegen;
4. Kleider, Waffen und Gerätschaften. 21
ebenso that man im Hause, wo man gelegentlich auch barfuß
ging. Die Tracht der Frauen unterschied sich von der
der Männer nur dadurch, daß das Untergewand keine Ärmel
hatte und bis auf die Füße herabwallte; Mantel und Schuhe
fehlten nicht. Die Frauengewänder waren indes häufiger von
Leinwand und mit bunten Streifen geschmückt. Zur Frauen-
tracht gehörte endlich noch der Gürtel, der aus Leinwand oder
Leder bestand und oft schön mit Erzbeschlägen verziert war.
Einer Kopfbedeckung bedurfte man nicht, denn das
volle, frei herabwallende, aber wohlgekämmte und gepflegte
Haar machte sie entbehrlich. Nur verheiratete Frauen bedeckten,
wenn sie sich öffentlich zeigten, das Haar mit einem Schleier.
Bei strenger Kälte und bei Regen zog man den Mantel teil-
weise über den Kopf. Die Männer ließen außer dem Haupt-
haar auch den Bart lang wachsen, beschnitten aber beides von
Zeit zu Zeit unmerklich. Einige Stämme banden vor der
Schlacht das Haupthaar auf dem Scheitel in einen Knoten
zusammen, um sich ein schrecklicheres Aussehen zu geben.
S ch m u ck g e g e n st ä n d e aus Edelstein, Gold und Silber,
Eisen und Erz, Bernstein und Glas gab es mancherlei. Sie
bestanden in Stirnreifen für die Frauen, in Finger- und
Armringen, Nadeln und Spangen, Schnallen und Beschlägen,
Scheiben und Platten für beide Geschlechter. Die oft kostbaren
und sehr beliebten Armringe umschlossen nicht selten, schlangen-
förmig gewunden, den Unterarm und wurden auch am Oberarm
getragen. Viele dieser Schmuckgegenstände wurden nicht im
Lande verfertigt, sondern von den südlichen und westlichen
Grenznachbarn erhandelt.
Wir gedenken hier sogleich noch des schönsten Schmuckes
der Krieger, der Waffen, von denen sich wie von den
Schmucksachen eine große Menge in den Gräbern unsrer Vor-
fahren findet. Zum Teil von Stein waren Streithämmer
und -beile, ganz kurze Schwerter und lange Messer, Pfeil-
und Speerspitzen. Ganz aus Holz bestanden die Schlag- und
Wurfkeulen. Als der römische Kaiser Mark Aurel zwei Löwen
über die Donau jagen ließ, um die Deutschen zu schrecken,
hielten diese die Bestien für große Hunde und schlugen sie mit
22 4. Kleider, Waffen und Gerätschaften.
ihren Keulen tot. Die meisten Waffen waren ganz oder
teilweise von Erz oder Eisen. So hatten die Sperre gewöhnlich
Metallspitzen, während der Schaft aus Eichenholz bestand. Es
gab lange Spieße oder Gere, die verbreitetste Waffe der Fuß-
streiter, und Kurzspeere oder Frameen, die gewöhnliche Waffe
der Reiter, oft aber auch der Fußgänger. Außerdem gab es
noch kleinere Wurfgeschosse oder Wurfpfeile, die in großer An-
zahl und auf weite Entfernung geschleudert wurden, während
der Ger und die Framea in der Regel nur zum Stoße dienten.
Bogen und Pfeile gebrauchte man nur zur Jagd. Die vor-
nehmste, kostbarste und geehrteste Waffe aber war das Schwert,
das in ältester Zeit nur von Fürsten und Edeln, allgemeiner
nur bei einzelnen Volksstämmen geführt wurde. Die Schwerter
waren von verschiedener Größe und Gestalt, lang oder kurz,
gerade oder stammenähnlich züngelnd, immer aber zweischneidig
und scharf zugespitzt. Das Schwertgehänge lag auf der linken
Schulter und ging quer über Brust und Rücken bis oberhalb
der rechten Hüfte, wo die Klinge in der ledernen Scheide hing.
Die Schutzwaffen der alten Deutschen waren sehr mangel-
haft. Panzer wurden nur höchst selten getragen; sie waren
ursprünglich aus Leder verfertigt, später nähte man eiserne
Ringe darauf, endlich flocht man Ring in Ring, so daß der
Panzer nur aus solchen Ringen bestand. Ebenso selten waren
Helme aus Leder oder Erz. Manche Krieger trugen auch
Pelze erlegter Bären und Wölfe so, daß der Kopf des Un-
tieres mit den starrenden Zähnen des Oberkiefers eine Art
Helm bildete; die Vordertatzen wurden über der Brust zu-
sammengebunden, das übrige Fell hing wie ein Mantel den
Rücken hinab. Allgemein verbreitet war der Schild, die
wichtigste Schutzwehr. Er war mächtig groß, hielt aber gegen
römische Waffen keinen Stand; denn er bestand nur aus Holz
oder Flechtwerk. Gern bemalte man ihn mit bunten Farben
und allerlei Schnörkeln. Wenn ein Mann seinen Schild in
der Schlacht im Stiche gelassen hatte, so war er so allgemein
verachtet, daß er seinem schmachvollen Leben oft selbst ein Ende
machte. Den Helden dagegen, der in der Schlacht gefallen
war, trugen die Seinigen auf seinem Schilde von der Walstatt.
4. Kleider, Waffen und Gerätschaften. 23
Von den Gerätschaften, die man zu friedlichen
Zwecken brauchte, war der Pflug, der nur aus einem haken-
förmig gebogenen Baumast bestand und keine Räder hatte,
vorhanden; ferner hatte man Dreschflegel und Sensen,
Schaufeln. Hacken und Beile, Sägen und Zangen. Küchen-
und Tafelgerätschaften sind schon oben erwähnt worden. Es
gab auch Eimer, Zuber und Melkkübel. Bänke und Tische
waren sehr einfach und unterschieden sich voneinander fast nur
durch die Höhe. Die Bänke bedurften keiner Lehnen, da sie
längs der Wände des Saales standen.
Im Krieg wie im Frieden war der Wagen unentbehrlich,
der stets von Rindern, nie von Pferden gezogen wurde.
Es gab zwei- und vierrädrige, schwere, große Karren, die
meist ganz aus Holz gebaut und mit Fellen überspannt
waren, so daß sie — namentlich auf Wanderungen — auch
als Wohnung dienten. Die Räder bestanden aus dicken
Holzscheiben, hatten also keine Speichen. Im Kriege schob
man diese schweren, viereckigen Wagen dicht aneinander und
bildete auf diese Weise eine Wagenburg, mit der man den
Lagerplatz wie mit einer hölzernen Mauer umgab. Außerdem
gab es natürlich auch leichtere, kleine Wagen zu allerlei Zwecken
in Hof und Feld.
Der freie Mann kümmerte sich wenig um die Werke
des Friedens, nur die oberste Aufsicht führte der Hausherr;
das genauere Zusehen, Raten und Befehlen war Sache der
Frau, die auch selbst den ganzen Tag geschäftig die Hände
regte. Leichtere Arbeit verrichteten außer ihr die Schwachen,
Kinder und Greise, schwerere die Knechte und die derberen
Mägde. Daß die deutschen Frauen und Mägde das Spinnen
und Weben und die Anfertigung aller Gewänder verstanden,
ist schon erwähnt worden. Zu den alltäglichen Werken des
Hauses und Feldes wie Spinnen, Weben und Nähen, Be-
stellung der Äcker, Besorgung des Viehes u. s. w. gehörte
auch die Töpferei und Zimmermannsarbeit. Ein besonderes
Gewerbe, das von eigens dazu Gebildeten betrieben wurde,
und einer besonderen Werkstatt, eines eigenen Gebäudes be-
durfte, war eigentlich nur die Schmiedekunst. Diese
24 4. Kleider, Waffen und Gerätschaften.
stand im höchsten Ansehen und galt sogar eines freien
Mannes für würvig, da sie auch im Kriege unentbehrlich
und dem Helden sein liebstes Eigentum, seine Waffe, schuf
und sie, wenn sie schartig geworden oder verhauen war,
wieder herstellte. Aber nicht nur Eisen und Erz zu allerlei
Wehr, sondern auch herrlichen Schmuck bearbeitete der Schmied,
und daher wußten auch Fürstinnen den rußigen Künstler zu
schätzen. Und doch war auch dies noch nicht alles, was des
Schmieds geschickte Hand schuf. Er war unentbehrlich beim
Hausbau, er maß und richtete, bildete Haken und Nägel und
allerlei Werkzeug. Er faßte die Trinkhörner mit Silber und
Gold ein, er verfertigte die Harfe des Sängers und die
Drommete des Kriegers, die heiligen Tierbilder, die als Feld-
zeichen dienten, und die riesigen ehernen Weihkessel und
Opferbecken, in die das Blut der todgeweihten Kriegs-
gefangenen und der Opfertiere floß. Er schmiedete dem
Roß das Gebißzeug und nagelte ihm die Hufeisen aus. Er
verfertigte zahlreiche Haus- und Feldgerätschaften ebenso wie
die prächtig bemalten, mit Beschlägen verzierten Holzschilde
des Fürsten. Zu einer so vielseitigen Thätigkeit gehörte
sichere Hand, scharfer Blick und kluger Sinn, Kraft wie
Gewandtheit; und darum sehen wir in der Sage selbst
Helden aus göttlichem Blute, wie den herrlichen Siegfried,
die Schmiedekunst erlernen, ohne daß dies ihrer Würde
Eintrag thut; und von dem unvergleichlichen Schmied Wie-
land erzählte man sich Wundergeschichten wie von einem
überirdischen Wesen.
Da die wichtigsten Gegenstände für den Bedarf des
täglichen Lebens in jedem Dorfe, ja in jeder Haushaltung
hergestellt wurden, so konnte der Handel nur gering sein.
Er wurde fast nur von römischen oder keltischen Kaufleuten
betrieben, welche die deutschen Länder durchzogen. Sie brachten
Wein, Gewürze, bunte Stoffe, Schmuck-, Trinkgefäße und
allerlei Plunderkram und führten dagegen Sklaven, Pelzwaren,
Gänse, Hunde, Pferde, Mohrrüben und Rettiche, vor allem
aber den hochgeschätzten Bernstein von der Nord- und Ostsee
her aus. Als Zahlungsmittel dienten außerdem Vieh, Arm-
4. Kleider, Waffen und Gerätschaften. 25
ringe und römisches Geld. Die Deutschen standen in dem
Ruhm, ihren Vorteil beim Abschluß eines Geschäftes klug zu
wahren. Ein verschlagener Kaufmann zu sein und überhaupt
Handel zu treiben, galt auch dem Edelmann nicht für Schande.
Als Verkehrswege für den Handel und zu andern Zwecken
gab es nur sehr wenig Straßen, und auch diese waren keine
Kunststraßen, sondern nur breitgetretene Heerwege, durch deren
Schlamm während der Winterszeit ein Verkehr unmöglich war.
Die meisten späteren Straßen verdanken ihren Ursprung den
Römern, die überall, wohin sie erobernd vordrangen, mühsam
ihre Kunststraßen und Bohlenwege anlegten. Dagegen wurde
von den Deutschen die Schiffahrt auf Flüssen und Seen
seit der Urzeit geübt. Ja, auch auf das. wilde Meer wagten
sich die Kühnen hinaus. Und wie wenig Schutz boten ur-
sprünglich ihre einfachen Fahrzeuge! Es waren die aus-
gehöhlten Stämme riesiger Urwaldeichen, die sogenannten
„Einbäume", wie man sie noch vor kurzer Zeit auf einigen
oberbayrischen Seen schwimmen sah. Auf solchen ungefügen
Kähnen, ohne Segel und Steuer, fuhren die beherzten Nord-
seeanwohner des Seeraubes halber in das brandende, tobende
Meer hinaus. Auf Strömen, Flüssen und Teichen konnte man
sie überall erblicken. Aber neben diesen einfachsten und ur-
wüchsigsten Fahrzeugen lernten die Deutschen im Laufe des
ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt schon schnellere,
gelenkigere, vorn und hinten zugespitzte Schiffe bauen, die
auch zuweilen mit Segeln versehen und bald noch mehr ver-
vollkonimnet wurden. Im Jahre 1863 hat man ein trefflich
gebautes Segelschiff, etwa aus dem dritten Jahrhundert, in
einem Moor bei Flensburg in Schleswig, wohin früher die
See reichte, gefunden. Es wird jetzt in Kiel aufbewahrt, ist
70 Fuß lang und hat fünfzehn Ruderbänke. Da es ein
Loch im Boden hat, so ist es jedenfalls dort von der Mann-
schaft verlassen worden und versunken. Ohne Zweifel gehörte
es Seeräubern. Seeraub zu treiben galt nämlich für eine
heldenhafte Beschäftigung; jahrhundertelang waren die deutschen
Seeräuber, oder wie sie sich nannten die Wikinger, d. h.
Helden, Krieger, an allen Küsten Europas gefürchtet.
26 5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit.
6. Leben der Rinder und Frauen in der
deutschen Urzeit.
Es hat einen eigenen Reiz, in das häusliche Leben
unsrer Ahnen im Urwalde einen Blick zu thun und zu sehen,
wie sie durch Kindheit und Jugendalter die Männer wurden
und werden mußten, als die wir sie kennen lernen werden.
Dem Vater, dem starken und weisen Manne, waren die
Schwachen und Unweisen, d. h. die Frau und das Gesinde
und vor allem die Kinder unterthan. Er besaß das Recht,
unbeschränkte Macht über sie auszuüben, aber er hatte auch
die Pslicht, sie mit seinem Schutze zu schirmen. Diese Ver-
einigung von Recht und Pslicht bezeichnete die alte Sprache
mit dem Worte „Mund", das in „Vormund" noch erhalten
ist. Der Hausvater war der „Mundwalt" aller seiner
Hausgenossen, und diese waren ihm gegenüber „unmündig".
Dieses Verhältnis bekundete sich schon unmittelbar nach der
Geburt eines Kindes. Wenn nämlich ein Kindlein geboren
worden war, so wurde es auf die Erde gelegt, und es hing
vom Willen des Vaters ab, ob er es aufhob oder liegen
ließ. Thal er das letztere, so verweigerte er gleichsam dem
hülflosen kleinen Wesen seinen Schutz, und dann wurde es,
wie bei allen Völkern des Altertums, ausgesetzt. Doch ge-
schah dies wohl nur, wenn das Kind schwächlich oder ver-
krüppelt war oder wenn schlimme Weissagungen über sein
Leben Unheil verkündeten oder wenn der Vater in schwerer
Not war und es nicht zu ernähren vermochte. Auch durfte
das Kind nur ausgesetzt werden, ehe es etwas genossen,
z. B. Milch, Honig oder auch nur Wasser genippt, und die
Augen geöffnet hatte. Hatte der Vater es einmal aufgehoben
und befohlen, ihm Nahrung zu reichen, so erklärte er es da-
mit für seinen rechtmäßigen Sprößling und nahm es unter
seinen Schutz.
Hierauf wurde dem Neugeborenen ein Name gegeben
und zwar unter altheiligen Zaubersprüchen und in Gegenwart
gültiger Zeugen. Das Kind wurde dabei mit kaltem Wasser
begossen oder darein getaucht, und man brachte den Göttern,
5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit. 27
insbesondere den Schicksalsgöttinnen oder Nornen Opfer und
Gelübde dar, damit sie dem Kinde einen guten Lebensfaden
spännen. Der Zeuge, welcher es bei dieser feierlichen Hand-
lung hielt, verlieh ihm zugleich den Namen und ein Paten-
geschenk. Gern ehrte man einen lieben Verwandten, besonders
einen Oheim oder Großvater, dadurch, daß man das Kind
nach ihm benannte. Die altdeutschen Personennamen —
Familiennamen gab es damals noch nicht — zeichnen sich
durch tiefe Bedeutung aus und spiegeln die stolze, kriegerische
und edle Gesinnung unsrer Vorfahren wieder. Welch ein
Volk von Helden muß es gewesen sein, das selbst weibliche
Wesen mit Namen belegte wie Siegrun (Siegzauberin),
Thusnelda (Riesenbekämpferin) oder Hildgund (Kriegskampf)!
Daß in den Männernamen das Heldenmütige vorherrscht,
kann nicht wunder nehmen. Wir erinnern nur an Hildebrand
(Schlachtenfeuer), Bernhard (Bärenstark), Ludwig (ruhmvoller
Krieger) u. s. w. Doch deuten andere auf Höheres als
bloße Kraft und Kühnheit; man denke an Siegfried (sieg-
reicher Friedenbringer), Hugbald (kluger Held), Ewald (Ge-
setzeshüter), Friedrich (Friedensfürst). Und wie zart und
sinnig klingen Frauennamen wie Liebtrut (Freudenliebling),
Liutgart (die Leute beherbergende oder Gastliche), Winiberga
(Freundeszuflucht) u. a.
Nach dem ersten Bade wurde das Neugeborene in Tier-
felle eingehüllt, oft auch mit Binden und Bändern umwickelt.
Als Wiege diente zuweilen der große Schild des Vaters,
oder man legte das Kindlein in eine Holzmulde, die wie eine
Hängematte oder Schaukel an Stricken befestigt war und
geschwungen werden konnte. Zum Schutz gegen böse, feind-
selige Geister oder Zauberkünste ritzte man der Ruhestatt des
Kindes geheimnisvolle Zeichen, sogenannte Runen, ein. War
die Mutter krank oder tot, so mußte der Säugling einer
Amme übergeben oder mit Kuhmilch aufgezogen werden.
Bald folgte nun die Zeit, wo das Kind stehen, laufen
und reden konnte und sich unter der Obhut der Mutter
sorglos und ungezwungen aus Hof und Feld, in Haus und
Wald herumtrieb. Ein großer Unterschied zwischen den
28 5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit.
Kindern von Herren und Knechten wurde nicht gemacht. In
der Regel liefen und krochen die Kleinen nackt umher, wobei
sie sich gewiß sehr oft rechtschaffen schmutzig machten. Wir
wissen zwar, daß die Germanen von Jugend auf fleißig
badeten, und zwar kalt und warm, und daß sie den Gebrauch
der Seife kannten; aber freilich mögen die frischen, kleinen
Wildsänge, sobald sie der Hand der Mutter entschlüpft
waren, die Spuren der Reinigung bald wieder vertilgt
haben, wenn sie zwischen den Haustieren herumkrochen, in
Pfützen patschten und in allen Winkeln des Hofes, auf der
Dorfslur und im Walde ihre fröhlichen Spiele trieben. Ab-
härtung war das Ziel aller Knabenerziehung. Die
Jungen sollten auf das vorbereitet werden, was sie als
Männer einmal leisten mußten. Während daher die Mädchen
mit roh zugeschnitzten Holzpuppen spielten und mehr dem
Beispiele der Mutter folgten, ohne doch dem muntern Herum-
tummeln ganz fern zu bleiben, betrieben die Knaben das als
Spiel, was ihnen später Ernst wurde; sie übten sich im
Schwimmen und Lausen, im Springen und Wersen, Ringen
und Heben, Fechten und Reiten. Schon früh prüfte der
Vater die Kraft und Gewandtheit seiner Buben und belohnte
den Stärksten, Flinksten und Klügsten, sei es daß er ihn mit
in den Wald zu fröhlicher Jagd nahm, oder daß er ihm
eine Gabe schenkte, etwa ein Hündchen, einen zahmen Vogel,
ein Tierfellchen zur Winterbekleidung, ein paar Würfel, ein
Schüsselchen zum Wasserschöpfen, einen kleinen Wurfspeer oder
sonst ein Gerät zum Kriegspielen. Erwachsene Brüder oder
Vettern unterrichteten oft die Kleineren in mannhaften Künsten;
zuweilen mag auch ein Mann in der Hofstatt gelebt haben,
dem die Ausbildung der Jungen besondere Freude machte,
etwa ein Greis oder ein Gebrechlicher, der nicht mehr selbst
in den Kamps ziehen konnte, oder ein bevorzugter Knecht von
redlichem Sinn und bewährter Treue.
So wuchsen die Kinder ohne lästigen Zwang, aber nicht
ohne Zucht und Gehorsam heran. Soweit ihre kleinen Kräfte
es gestatteten, verwendete man sie bisweilen zu leichten körper-
lichen Arbeiten. Vergehen, die eine bösartige Sinnesart ver-
5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit. 29
rieten, wie Lüge, Schadenfreude, Verhöhnung des Alters,
freche Widersetzlichkeit gegen den Willen von Vater und
Mutter, wurden streng bestraft. Auch Schläge gab es da,
aber nicht zu häufig. Man hütete sich vielmehr sorglich, einen
freigeborenen oder gar adeligen Knaben an Prügel zu ge-
wöhnen ; denn man meinte, wer sich als Kind vor der Rute
gefürchtet habe, könne als Mann kein tapferer Krieger werden.
Vom siebenten Jahre an that man den Knaben gern auf
einige Zeit aus dem Hause und zwar in der Regel zu Ver-
wandten der Mutter, besonders gern zum Mutterbruder.
Oheim und Neffe traten dadurch oft in ein sehr inniges Ver-
hältnis. In dieser Zeit sammelte der Knabe mancherlei
Erfahrungen. Er lernte sich in andere Menschen schicken, er
wurde selbständiger; er lernte die Bande der Blutsfreundschast
schätzen, aber auch das Gute, was ihm das Vaterhaus bot.
Zugleich wurde auf solche Weise ein Übergang geschaffen von
der Stellung, die er als Kind eingenommen hatte, zu der,
die ihm als Jüngling den Knechten und Knechtssöhnen gegen-
über zukam. Endlich erleichterte eine solche längere Abwesen-
heit von Hause auch der Mutter die Veränderung, die in
ihrem Verhältnis zum Sohn eintrat. Denn wenn dieser
nun ins Vaterhaus zurückkehrte, kam er ganz unter die
unmittelbare Zucht des Vaters, der ihn zu männlicher
Thätigkeit anhielt. Waren dann wiederum mehrere Jahre
vergangen, und schien der zum Jüngling erwachsene Sohn
dem Vater reis, alle Pflichten eines freien Kriegers zu er-
füllen, so wurde er wehrhaft gemacht, d. h. in feierlicher
Volksversammlung, unter den Augen der Edelsten und Besten,
überreichte ihm der Vater mit Genehmigung der Gemeinde
die ersten Waffen, Schild und Speer oder Schild und Schwert.
Dadurch wurde der Jüngling frei und mündig, er konnte nun
an den Versammlungen andrer freier Männer teilnehmcn, mit
ihnen in den fröhlichen Kampf ziehen und über sich selbst
und über andre Schutz und Gewalt ausüben. Mancher
blieb noch ledig und begab sich freiwillig in den Dienst eines
vornehmen Mannes, um dessen Gefolgsmann zu werden;
mancher aber gründete sich mit Bewilligung der Gemeinde
einen eignen Herd und nahm ein Weib zur Ehe.
30 5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit.
Die Frau als der körperlich schwächere Teil war vor
allem auf das Walten in Haus und Hof angewiesen, der
Mann fühlte sich schon durch seine Kraft aus den engen
Grenzen des friedlichen Alltagslebens hinausgedrängt, aber
er schützte auch das Haus nach außen und war der Herr im
Hause. Durch Sitte und Gesetz hing das Weib gänzlich von
ihm ab. Während der Sohn ungefähr im Alter von ein-
undzwanzig Jahren der Kindschaft und Unfreiheit völlig ent-
wuchs, blieb die Tochter immer eine Unfreie, und wenn sie
heiratete, so tauschte sie eigentlich nur den Dienst einer Tochter
mit dem einer Gattin. Sie mußte dann, zum Zeichen, daß
diese neue Abhängigkeit enger war als die frühere, ihr bisher
offen wallendes Lockenhaar, wenn sie sich öffentlich sehen ließ,
mit dem Schleier oder Kopftuch bedecken, während umgekehrt
der Jüngling es frei über die Schultern fallen ließ, nachdem
es ihm in der Kindheit abgeschnitten worden war.
Wenige, Männer wie Jungfrauen, alterten unvermählt.
Manche Männer gelobten sich dem Kriegsgotte ganz und gar
zu eigen; diese saßen dann ihr ganzes Leben lang zu Friedens-
zeiten an fremdem Herd, am Hofe eines Edlen oder Fürsten,
ohne Sorge um Weib und Gut, aber doch hochgeehrt als
harte Kampfgenossen. Auch Mädchen gab es, die sich der
Gottheit weihten. In ewigem Jungfrauenstande lebend, ge-
nossen auch sie der höchsten Verehrung. Sie begleiteten als
„weise Frauen" die Heere, verbanden und besprachen die
Wunden der Krieger, schauten in die Zukunft und erforschten
die zum Kampfe günstige Zeit. Ja man glaubte sogar, ihr
Blick reiche bis in die himmlischen Gaue. Sie kündeten
dem lauschenden Volke, wie die Welt entstanden sei, wie die
Götter lebten, wie Welt und Götter zu Grunde gehen
würden. Aber trotz der hohen Ehrfurcht, die man solchen
Jungfrauen zollte, blieb die Germanin doch nur selten und
ungern unvermählt. Freilich wußte sie, wenn sie sich ver-
mählte, daß sie in eine dauernde Abhängigkeit vom Manne
trat, also eigentlich in die Unfreiheit; aber sie fühlte sich doch
als Herrin, nicht nur des Gesindes, sondern des ganzen
Hausstandes, und sie war es wirklich, wenn sie sich durch
5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit. 31
Milde und Güte, unermüdlichen Fleiß und sanfte Klugheit,
durch hohen Sinn und freundliches Wesen die Herzen des
rauhen Mannes wie der trotzigen Knaben zu unterwerfen
verstand.
Schön ist das Lob, das der große römische Geschicht-
schreiber Tacitus unfern Vorfahren und ihren reinen Sitten
spendet. „Spät lernen die Jünglinge die Liebe kennen," so
sagt er, „und deshalb ist ihre frische Manneskraft uner-
schöpflich. Auch mit der Vermählung der Jungfrauen eilt
man nicht, und darum bleiben sie jugendlich wie jene und
auch an schlankem Wuchs ihnen ähnlich. Der Eltern Kraft
und Gesundheit vererbt sich auf die Kinder. Streng und
heilig wird unter den Deutschen die Ehe gehalten, und in
keiner Beziehung verdienen ihre Sitten höheren Preis. Fast
allein von allen Barbaren begnügen sie sich mit einer
Gattin. In edler Reinheit der Sitten leben sie einfach hin.
Niemand lacht bei ihnen über Laster, und nicht wird ein
leichtsinniger Lebenswandel dort zum guten Ton gerechnet."
Zwar war die Eheschließung bei den alten Deutschen im
Grunde nichts weiter als ein Kaufvertrag. Der Freier ent-
richtete dem Vater der Braut einen Preis, den sogenannten
Mahlschatz, dafür daß nun das Recht über die Braut vom
Vater auf ihn überging. Für den Mahlschatz wurde dem
Bräutigam die. Braut angelobt und übergeben und zwar in
Gegenwart der nächsten Verwandten. Und doch hat kein
Volk das Wesen der Ehe höher aufgefaßt als das deutsche;
jener Vertrag war kein Handel im alltäglichen Sinne, wie
etwa der Kauf eines Knechtes oder Pferdes, es war zugleich
ein Vertrag, durch den Mann und Weib sich für das ganze
Leben zu herzlicher Gemeinschaft aneinander fesselten, um sich
zu lieben mit einer Treue, die den Tod noch überdauerte.
Hatte der Freier seine Werbung beim Vater der Braut
angebracht und günstige Aufnahme gefunden, so ging der
Brautkauf vor sich, und dann erfolgte die Übergabe der
Braut in den Besitz des Bräutigams. Fast immer erhielt
dabei die Braut von ihren Eltern eine Aussteuer oder Mit-
gift. Waren die Eltern tot, so übernahmen die Brüder die
32 5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit.
Verpflichtung, die Schwester auszustatten. Diese Mitgift blieb
stets das eigne Vermögen der Frau, über das zu verfügen
der Mann kein Recht hatte. Bei der Verlobung trat das
junge Paar in einen „Ring", d. h. in den Kreis der an-
wesenden Verwandten, und der Vater fragte die Braut, ob
sie den Freier zum Mann haben wolle. Darauf antwortete
sie auf des Vaters Rat mit „Ja", und die Verlobten legten
die Hände ineinander. Sobald dies geschehen war, durfte
der geschloffene Bund nicht mehr gebrochen werden, und es
wurde nur noch die Zeit verabredet, wo der Bräutigam die
Braut heimführen sollte.
Die Heimführung oder der „Brautlauf" erfolgte gewöhn-
lich im Herbst, weil um diese Zeit die Dachräume und Dunge
mit dem Erntesegen gefüllt waren und der Bauer, der Krieger
und der Seefahrer von den Arbeiten des Sommers ausruhen
konnten. Am verabredeten Tage holte der Bräutigam mit
einem Wagen die Braut aus dem väterlichen Hause ab.
Während die Eltern leise einen Reisesegen über das scheidende
Kind sprachen, nahm sie Abschied von den Ihrigen. Dann
bestieg sie den Wagen, auf dem auch ihre Aussteuer Platz
fand, umgeben von den Brautjungfern. Der Verlobte mit
seinen Gesellen ging oder ritt zur Seite. Unter den Klängen
eines Brautgesanges bewegte sich der festliche Zug, von der
schaulustigen Menge freundlich begrüßt, nach der Hofstätte
des Bräutigams. Hier wurde die junge Frau feierlich über
die Schwelle gehoben und zum Herde geführt, den sie dreimal
umwandelte. Ein fröhliches Gastmahl beschloß den Tag.
Am Morgen nach der Hochzeit empfing die Neuvermählte
von ihreni Manne eine „Morgengabe", d. h. ein Geschenk,
das ebenso wie die Mitgift ihr bleibendes Eigentum wurde
und zu ihrer Sicherung als Witwe bestimmt war.
Die deutsche Frau war nicht bloß die Hausgenossin des
Mannes, die verständig waltende Herrin des Hauses und die
Mutter der Kinder, sie war auch in jeder Sorge des Lebens,
ja in Kampf und Todesnot seine unzertrennliche Gefährtin.
Viele ergreifende Beispiele edelster Gattentreue hat uns
die Sage und die Geschichte aufbewahrt; nur eines sei hier
5. Leben der Kinder und Frauen in der deutschen Urzeit. 33
erwähnt, das zugleich beweist, daß leidenschaftliche Liebe sich
damals schon zuweilen über die Vorschriften der herkömmlichen
Sitte hinwegsetzte. Der große Held Armin, von dem wir
noch vieles zu erzählen haben, freite um die edle Thusnelda.
Aber der Vater verweigerte sie. Da raubte der Held die
Geliebte aus der Gewalt des unbilligen Vaters und führte
sie heim als sein eheliches Gemahl. Grimmiger Haß ent-
brannte aus dieser Verletzung des Rechtes, und beide, Mann
und Weib, mußten dafür büßen. Durch ein widriges Ge-
schick fiel Thusnelda in die Hände der Römer und ward mit
einem noch ungebornen Söhnlein ihrem lieben Hauswirt auf
immer entwendet. Da ergreift den starken Mann unbändiger
Schmerz; zu wahnsinniger Wut reizt ihn der schreckliche
Gedanke, daß seiner Gattin Leib die Sklaverei tragen solle.
Unablässig spornt er die Seinen zum Kampfe gegen das
Volk, das ihm sein Weib entwendete. Es gelingt ihm nicht,
die Geliebte wieder zu erlangen. Sie aber erträgt stumm
und thrünenlos das unsägliche Leid; fern vom Gemahl ver-
trauert sie in der Gefangenschaft ihre Jugend, durch die
Hoheit, mit der sie das Ungeheure erträgt, selbst die Herzen
der kalten Römer rührend. Wie viel Germanenfrauen, von
denen keine Überlieferung meldet, mögen Ähnliches erduldet
haben! Ja, die edlen deutschen Weiber waren es wert, daß
das ganze Volk ihnen eine hohe Ehrfurcht zollte. Deshalb
sah der Germane auch in seinen Göttinnen lauter Urbilder
weiblicher Hoheit, Schönheit, Klugheit und Güte. Deshalb
galt es ihm für ein Zeichen schändlichster Roheit, ein Weib
ohne Grund zu mißhandeln. Deshalb kam er im Kriege selbst
feindlichen Frauen mit achtungsvoller Scheu entgegen. Wie
dankbar aber mußten auch die Helden ihren verständigen und
aufopfernden Frauen sein, die sie sogar in den mörderischen Krieg
begleiteten, um ihnen nahe zu sein mit Hülfe und Zuspruch,
die sich sogar in das wildeste Schlachtgewühl wagten, um die
Verwundeten in Sicherheit zu bringen und zu pstegen. Wohl
hatte man damals noch keinen Begriff von ärztlicher Wissen-
schaft. Nur die Wunden verstand man, dank der reichen
Erfahrung, eigentlich zu behandeln. Aber auch den Siechen
Klee, Die alten Deutschen. Z
34 6. Tageslauf eines germanischen Hausherrn in Friedenszeiten.
und Kranken kam die Thätigkeit der Frauen zu gute. Was
glückliche Hand, natürlicher Scharfblick, redliche Sorgfalt,
weibliche Geduld und langjährige Übung vermögen — und
das ist wahrlich nicht wenig —, das leistete die germanische
Frau als Krankenpflegerin.
6. Tagrslauf eines germanischen Hausherrn
in Friedrnszeitrn.
Früh am Morgen erhob sich die fleißige Hausfrau, um
den nötigen Luftzug für das Herdfeuer zu schaffen, indem sie
Windauge und Thür öffnete; früh begann sie als unermüdliche
Herrin, als treue Gattin, als strenge verständige Mutter, als
kluge, wachsame Gebieterin über das Gesinde, für das Wohl
des ganzen Hauswesens zu sorgen und zu schaffen. Spät
dagegen verließ in Friedenszeiten der Hausherr, wie jeder
freie Germane, sein Lager, um zunächst ein warmes B a d zu
nehmen. Eine Wanne, die in die Nähe des Herdes gestellt
und von diesem aus mit dem nötigen Wasser versorgt wurde,
bildete dabei die ganze Zurüstung. Neben den warmen
Bädern waren zwar die kalten Bäder in den Flüssen ebenso
beliebt, wobei sich Kinder und Erwachsene fröhlich durcheinander
tummelten, und die Schwimmkunst wurde mit großem Eifer
betrieben; aber das warme Bad im Hause gehörte zur Leibes-
notdurft und wurde deshalb auch jedem Fremden, der als
Gast das Haus betrat, als erste Wohlthat angeboten.
Nach dem Frühbade nahm man einen Imbiß ein, meist
aus Haferbrei bestehend, um die Nüchternheit zu vertreiben.
Hierbei wie bei der Hauptmahlzeit hatte, wie es scheint, jeder
seinen besondern Sitz und Tisch. Bei festlichen Schmausereien
saßen etwa je vier bis fünf an einem Tische. War der
Imbiß beendet, so ergriff der freie Mann, nachdem er sich
angekleidet und Haupthaar und Bart sorgfältig geordnet hatte,
Speer und Schild und ging mit Muße seinen Geschäften
nach. Vielleicht war seine Gegenwart bei der Ratsversammlung
des Gaues, in dem er wohnte, nötig, oder eine Gemeinde-
angelegenheit sollte beim Dorfältesten beraten werden. Wenn
6. Tageslauf eines germanischen Hausherrn in Friedenszeiten. 35
nicht, so gab es wohl am Haus oder Hofzaun zu bessern,
wobei der Herr selber nur selten zugrifs, vielmehr die Knechte
anwies, lobte oder zum Fleiße antrieb. Oder er schaute eine
Weile mit behaglichem Lächeln den Kriegsspielen seiner Knaben
zu, oder er ging hinaus aufs Feld, den Stand der Saaten
zu prüfen, oder aus die Viehweide, um sich am Anblick seiner
Pferde, Rinder, Schafe und Schweine zu freuen, vielleicht
auch um einem Gaste selbstgefällig die stattlichen Herden zu
zeigen. Oder er zog mit Hunden und Knechten in den
grünen Wald, dem edlen Weidwerk obzuliegen, den Bären
aufzuspüren, der neulich ein Kalb geraubt, den Wolf zu
fällen, der unter den Schafen Vernichtung angerichtet, den
Ur zu erlegen, der lüstern nach leckerer Gerste den Acker
zerstampft hatte. Sowohl die Jagd aus Vierfüßler (Tier-
weide) wie die auf Vögel (Vogelweide) wurde mit Leiden-
schaft gepflegt. An den Jagden vornehmer Männer, zu
denen oft ein größeres Gefolge mitzog, beteiligten sich nicht
selten die edlen Frauen als Zuschauerinnen und Wirtinnen,
die im Waldesschatten den hungrigen Jägern ein fröhliches
Mahl bereiteten. Manche verstand wohl auch selbst Bogen
und Jagdspeer und den abgerichteten Falken zu lenken.
Die meisten dieser Beschäftigungen ließen sich freilich nur
bei freundlicher Witterung vornehmen; bei schlechtem Wetter,
namentlich im Winter, kam es öfters vor, daß der Hausherr
nach dem Imbiß sich verdrossen wieder aufs Lager streckte
und so auf der Bärenhaut liegen blieb, bis die Zeit der
Hauptmahlzeit hcrankam, die etwa um die Mitte des
Nachmittags, nicht allzulange vor Sonnenuntergang gehalten
wurde. „Es freuen sich die Hunde, und das Haus öffnet sich
von selbst, wenn ein Gast kommt." So lautet ein alt-
nordisches Sprichwort und bezeichnet damit schön und bündig
die Herzlichkeit, mit der der Deutsche den Gast willkommen
hieß. Und das that er gar oft. Außer solchen, die unter
seinem Dache übernachteten, kamen noch häufiger andere, die
geladen oder ungeladen an seiner Mahlzeit teilnahmen. An
ein solches Mahl schloß sich gewöhnlich ein scharfes Trinken,
stets, wenn der Wirt ein Gastgebot erlassen hatte. Die
3*
36 6. Tageslauf eines germanischen Hausherrn in Friedenszeiten.
Tischgenossen blieben dann oft bis tief in die Nacht hinein
zusammen. Da lösten sich die Zungen; auch der Verdrießliche
vergaß der Übeln Laune, der Verfolgte seiner gefahrvollen
Lage, wenn die Hausfrau sich erhob und das Trinkhorn in
den Reihen der Gäste herumreichte. Die wichtigsten Fragen
des Geschlechtes, der Gemeinde, des Volkes wurden beim Met
und Bier besprochen. Aber dem ernsten Gespräch folgte das
heitere; fröhliche Reden flogen hin und her; Scherz- und
Neckgespräche, die bisweilen zu Handgreiflichkeiten führten,
wurden laut oder Rätsel aufgegeben. Diese jedes Mannes
würdige Lustbarkeit gab Gelegenheit, nicht nur Witz und
schnellen Verstand zu zeigen, sondern auch genaue Kunde der
alten Sagen und Lieder von Göttern und Helden und
Kenntnis von allerlei Merkwürdigem zu bewähren. Die
Rätselreden wurden in ältester Zeit nicht gesprochen, sondern
gesungen, wobei man die altehrwürdige Form des Stabreims
anwendete, von der ein andermal die Rede sein wird. Und sie
waren nicht die einzige Poesie, die bei den Gelagen und Festen
der Germanen sich hören ließ. Es gab hochgeehrte Sänger, die
zum Klang der Harfe von den Geschicken der Götter, nament-
lich den Fahrten des Donnergottes, wie von den Thaten der
Väter zu singen und die Herzen der Hörer zu bewegen ver-
standen. Man hatte auch gesellige Lieder, die im Chor oder
Wechselgesang vorgetragen wurden; dem Saitenspiel gesellte
sich dann der fröhliche Klang der Schwegelpfeife. Gesungen
wurde überhaupt viel im deutschen Urwalde. Sogar die
Nächte vor Schlachttagen brachten die Germanen bei frohem
Gelage mit schallendem Gesänge zu, der in Berg und Wald
schaurig widerhallte, so daß die lauschenden Römer ein
Grausen ankam. Bei Opfern und Familienfeierlichkeiten,
namentlich dem Brautlauf, beim Beginn der Schlacht, bei
Siegesfesten, bei Bestattungen ertönte nicht minder Gesang.
Erhalten ist uns von allen diesen Gesängen, in denen die
Deutschen ihre Götter und halbgöttlichen Helden und die
großen Männer der Geschichte feierten, nicht eine Zeile, und
das müssen wir lebhaft beklagen; denn aus den ältesten
Resten unsrer Sprache aus dem vierten Jahrhundert nach
6 . Tageslauf eines germanischen Hausherrn in Friedenszeiten. 37
Christus — es ist die gotische Bibelübersetzung des Wulfila
— erkennen wir die wunderbare Kraft und klangreiche
Anmut dieser Sprache und aus Heldendichtuugen späterer Zeit
die dichterische Schönheit, die in jenen uralten verklungenen
Liedern sich bekundet haben muß. Sie gingen verloren, weil
niemand sie aufschrieb. Lesen und Schreiben waren noch in
viel späterer Zeit bei den Deutschen selten geübte Künste.
Man hatte allerdings in der Urzeit eine Art Schrift, die
sogenannten Runen. Das Wort Rune bedeutet eigentlich
Geheimnis. Es waren große Zeichen, im ganzen etwa
vierundzwanzig, die man auf buchene Stäbchen einritzte, wo-
her das Wort „Buchstab" entstanden ist. Aber nicht zum
Schreiben und Lesen in unserm Sinne, zu größeren Aus-
zeichnungen benutzte man sie, sondern zum Wahrsagen und Los-
werfen. Man schüttelte nämlich die mit Runen bezeichneten
Stäbchen durcheinander und warf sie dann auf ein ausgebreitetes
Tuch. Der Hausvater, der den göttlichen Willen oder die
Zukunft erforschen wollte, griff darauf mit abgewendetem
Antlitz mehrere der Stäbchen auf, wobei er Beschwörungs-
formeln raunte, und las sie zusammen. Da jede Rune
zugleich die Bedeutung einer Sache hatte, z. B. Sieg, Rot,
Kriegsgott, Auerochs u. s. w., so konnte man aus den auf-
gelesenen Stäbchen eine Weissagung zusammensetzen.
Es fehlte, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, auch
den geselligen Vergnügungen der Germanen nicht an der
Weihe der Poesie und Musik. Daneben ward freilich, ab-
gesehen vom Trinken, auch weniger erhabenen Freuden ge-
huldigt, namentlich dem Würfelspiel, das man mit großem
Ernste trieb, übrigens nicht immer aus Spielwut oder Ge-
winnsucht, sondern auch oft, um mit Hülfe der Würfel die
Zukunft zu erforschen. Wie hoch das Spiel in Ansehen
stand, beweist der Glaube, daß der höchste Gott Wodan die
Würfel erfunden habe zur Kurzweil der Götter und Göttinnen
in seinem himmlischen Saale Walhall. Das Trinken selber
wurde mit Gründlichkeit und einer gewissen Feierlichkeit be-
trieben. Es gab eine Art Zechrecht, man wechselte Trink-
grüße ; lässigen Zechern wurden Straftrünke auferlegt. Ein
38
7. Alter, Tod und Bestattung.
tieferer, echterer Ernst aber ging durch die Versammlung,
wenn man die „Minne", d. h. das Andenken eines teuren
Toten oder eines verehrten Abwesenden trank. Auch die
Minne der Götter wurde durch Leeren der Becher gefeiert,
und beim Auseinandergehen trank man „des Abschieds Minne".
Freilich kann dies wohl erst am nächsten Tage geschehen sein;
denn in der Regel mögen die oft fernwohnenden Gäste nach
so ausdauerndem Trinken nicht mehr imstande gewesen sein,
den Heimweg durch die finstere Nacht zu finden.
Die Frauen blieben den Zechereien der Männer nicht
immer fern. Zu Anfang des Gelages verlangte es sogar die
Sitte, daß die Hausfrau, die den Männern den Met und
das Bier bereitet hatte, ihnen den ersten Trunk auch selber
darreichte. Wie nach dem Volksglauben in Walhall die
schönen Walküren oder Wunschmädchen unter den seligen
Helden mit dem Trinkhorn umhergingen, so thaten auf Erden
die Frauen. Auch die Töchter waren schon von alters her an
diesem Schenkenamte beteiligt.
Getrunken und geschmaust wurde bei allen Festen der
alten Deutschen, auch bei den größten, die sie begingen, dem
Winter-Sonnenwendfest, wo der Sieg des Tages über die
Nacht, der guten Götter über die finstern Geister gefeiert
wurde, und der Sommer-Sonnenwende, wo der Tod des
Lichtgottes beklagt und seine Wiederkunft erfleht wurde. Aber
dieses edle Volk wußte seine Götter noch weit schöner zu
feiern als mit Essen und Trinken. Unendlich reich waren
die religiösen Gebräuche der Urzeit, und viel Gutes und
Sinniges enthielten sie. Davon soll später noch verschiedenes
berichtet werden. Hier wollen wir an die Betrachtung des
häuslichen Lebens sogleich einige Mitteilungen über das
Dasein der Greise, über Tod und Bestattungsarten anreihen.
7. Aller, Tod und Bestallung.
Wenn der Vater körperlich nicht mehr fähig war, die
Waffen zu tragen oder gar geistig kindisch wurde, so trat er
mit der Mutter unter die Vormundschaft des Sohnes. Von
7. Alter, Tod und Bestattung.
39
diesem hingen sie dann dem Rechte nach ebenso ab, wie das
unmündige Kind vom Vater, das Weib vom Manne, der
Knecht vom Herrn; sie aßen das „Gnadenbrot" des Sohnes.
Da mag denn wohl mitunter ein liebloser Sohn den Greisen
vergolten haben, was diese selbst vielleicht in kräftigen Jahren
an-Milde und Liebe fehlen ließen; im allgemeinen aber standen
die ergrauten Eltern in der höchsten Verehrung. Wie tief das
Volk eine herzlose Behandlung der ehrwürdigen Alten verabscheute
und wie es die göttliche Strafe für so schwere Sünde fürchtete,
das mag uns ein uraltes Kindermärchen bezeugen, das also
lautet: Es war ein steinalter Mann, dem waren die Augen
trüb geworden, die Ohren taub und die Knie zitterten ihm.
Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten
konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floß
ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und
dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte sich der
alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen,
und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen
und noch dazu nicht einmal satt. Da sah er betrübt nach
dem Tisch, und die Augen wurden ihm naß. Einmal auch
konnten seine zitternden Hände das Schüsselchen nicht festhalten,
es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er
aber sagte nichts und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein
hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus mußte er
nun essen. Wie sie so dasitzen, trägt der kleine Enkel von
vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was
machst du da?" fragte der Vater. „Ich mache ein Tröglein."
antwortete das Kind, „daraus sollen Vater und Mutter essen,
wenn ich groß bin." Da sahen sich Mann und Frau eine
Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten
Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mit
essen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete. —
Mit der Verrichtung leichterer Hof- und Feldarbeit suchte der
Greis sich nützlich zu machen; er flickte wohl am Hause, er-
neuerte hier die Verschlagslatten im Innern, dort den bunten
Anstrich der Außenwand, schnitzte Gerätschaften und verfertigte
hölzerne Waffen. Er und die Alte, die Ahne, welche spann und
40
7. Alter, Tod und Bestattung.
nähte, beschäftigten sich, wie Großeltern thun, gern mit der
jüngern Enkelschar, bei der sie gewiß schon damals besondere
Liebe genossen. Wie lauschten die Kleinen, wenn der Groß-
vater seine Abenteuer auf der Jagd und im Kriege oder die
Großmutter Sagen und Märchen erzählte! Wie freuten sie
sich, wenn sie mit ihnen hinaus in den benachbarten Wald
gehen und von den kundigen Alten die eßbaren, heilkräftigen
und giftigen Pflanzen unterscheiden oder auf kleine Tiere
Jagd machen lernten!
Fehlte es also auch dem Greisenaltcr nicht an bescheidenen
Freuden, so war es doch wenigstens den Männern verhaßt.
Wer den schönen Tod auf dem Schlachtselde fand, der zog
nach dem Glauben der Vorfahren zu Wodan und den seligen
Göttern ein; nicht so der, welcher aus dem Siechbette starb.
Viele Greise mögen daher nur deshalb in den letzten Kampf
gezogen sein, um ruhmvoll streitend zu fallen, und die Über-
lebenden priesen den Tod der auf solche Weise Gestorbenen
als ein hohes Glück. Mancher aber, dem dies Glück nicht
vergönnt ward, tötete sich, wenn Krankheit ihn niederwarf,
selbst oder ritzte sich wenigstens die Haut mit dem Schwerte,
um mit einer Wunde vor den Götterkönig treten zu können.
Die Bestattung, das letzte Ende der irdischen Lauf-
bahn, wurde, wenn ein Hausvater oder gar ein Fürst gestorben
war, mit besonderer Feierlichkeit begangen, aber auch bei andern
Toten niemals versäumt; denn die Ruhe der Dahingeschiedenen
hing davon ab. Selbst erschlagene Feinde pflegte das edel-
mütige Volk nicht unbestattet liegen zu lassen, und wo dies
doch geschah, da war es ein Zeichen des allergrimmigsten,
unversöhnlichsten Hasses. So ließen die erbitterten Sieger
im Teutoburger Walde die Leichen der gefallenen Römer aus
Volksbeschluß unbegraben vermodern.
Drei Arten der Bestattung waren den Deutschen bekannt,
die eine nur denjenigen Stämmen, die der Seeküste nahe
wohnten. Diese legten nämlich oft den Leichnam eines vor-
nehmen Toten in ein Schiff, das mit vollen Segeln und
ohne Steuer aufs Meer gestoßen oder den Wellen eines
wasserreichen Stromes anvertraut wurde. Jenseits des Meeres
7. Alter, Tod und Bestattung.
41
nämlich wähnte man den Eingang des Totenreiches. Bis-
weilen zündete man das Fahrzeug an, stets gab man dem
Toten volle Bewaffnung mit. So bestatteten die kühnen
Wikinger ihre Seekönige. Großen Helden besorgte, wie die
Sage berichtet, bisweilen Wodan selber die Überfahrt. Des
geliebten Sohnes Leiche in den Armen, wandelte der greise
König Siegmund gramvoll durch den Wald und kam an eine
Meeresbucht. Da erblickte er auf dem Wasser einen alten
Mann in einem kleinen Nachen. „Willst du übergefahren
sein?" fragte der hohe Greis. „Ja", antwortete Siegmund.
Wie er aber die Leiche ins Boot gelegt hatte, da war kein
Raum mehr übrig für ihn selbst. „Ich will," sprach der
Fährmann, „zuerst den Toten hinüber fahren. Du warte
inzwischen am Ufer hier." Damit stieß er vom Ufer ab und
verschwand alsbald mit Schifflein und Leiche. Und Sieg-
mund merkte, daß Wodan es war, der den toten Helden zu
sich nahm, um ihn in seinen Himmelssaal zu führen.
Überall bekannt war das Verbrennen und das Begraben
der Leichen. Stets wurde der Tote sauber gewaschen, gekämmt
und wohl bekleidet. Was ihm im Leben besonders lieb
gewesen war, das gab man ihm gern mit, dem Kinde sein
Spielzeug, dem Weib seinen Schmuck, dem Mann seine
Waffen. So wurden auch bei der Verbrennung auf dem
geweihten Holzstoß neben der Leiche des Hausherrn seine
liebsten Waffen, mitunter sein Leibroß, in der ältesten Zeit
sogar einer oder mehrere seiner vertrautesten Knechte ver-
brannt. Und darin erblickte man nicht etwa eine Strafe,
sondern den höchsten Lohn für bewährte Treue; denn man
glaubte, daß allein im Geleite seines Herrn auch der Knecht
zu Wodan eingehe. Suchte doch selbst die Gattin des Ver-
storbenen zuweilen den Tod in den Flammen, die ihren
Hausherrn verzehrten, um noch nach dem Tod seine Genossin
zu sein. Dem Vornehmen warfen die umstehenden Freunde
die letzten Geschenke, Waffen und Schmuck, nach und nährten
den Brand durch wertvolle Hölzer. Je höher der Rauch der
Flammen emporstieg, desto ehrenvoller war der Empfang, den
Wodan dem Helden in Walhall bereitete. Das Roß ritt
42
7. Alter, Tod und Bestattung.
er auf dem Luftritt dorthin, Gattin und Diener waren seine
Begleiter, die Waffen führte er bei den festlichen Kämpfen in
den Himmelsgefilden. Dem weniger Begüterten, der kein
Roß besessen hatte, zog man doch schöne, feste Schuhe an,
damit er den Weg nach Walhall ohne Beschwerde wandte.
Waren die Flammen erloschen, so sammelte man die Asche
des Toten in eine Urne und setzte sie in einem Hügel bei.
Je berühmter und geehrter der Verstorbene bei Lebzeiten
gewesen war, desto höher schichtete man seinen Hügel, in
welchem die Aschenurne auf den Boden gestellt wurde.
Beim Begraben legte oder setzte mau den Toten ent-
weder in die bloße Erde oder in eine steinerne Grabkammer
oder in einen Holz- oder Steinsarg. Die einfachste Art des
hölzernen Sarges war der „Totenbaum", d. h. ein der Länge
nach gespaltener, ausgehöhlter Baumstamm. Auch einfache
längliche Kisten und Särge, die nach dem Fußende hin
schmaler und niedriger werden, hat man in altdeutschen
Gräbern gefunden. Schmuck und Waffen fehlten auch hier
nicht. Ebenso wenig der Grabhügel. Der Bau dieser ein-
fachen und doch großartigen Grabstätten, denen man durch
dareingemischte Steinblöcke einen festeren Halt gab, nahm
gewöhnlich mehrere Tage in Anspruch. War der Hügel
vollendet, so umwandelten oder umritten ihn die Blutsfreunde
und Dienstmannen unter Gesängen, in denen sie den Dahin-
geschiedenen priesen und seinen Tod beklagten, und solche
Feierlichkeiten wiederholten sich bis zum siebenten Tag. Zum
Schluß wurde ein Gastmahl gehalten, bei dem es ernst und
ruhig herging und die Minne, das Andenken des Verstorbenen
getrunken wurde.
War er der Vater des Hauses gewesen, so sammelte sich
nun erst die Familie um ein neues Haupt. Der Erbe konnte
nur ein Blutsverwandter sein, zunächst der Sohn. Nach dem
Minnetrunk setzte sich dieser auf den verlassenen Ehrensitz.
Frau und Töchter hatten kein Anrecht aus Erbschaft, es war
aber Ehrensache des Erben, um ihren Unterhalt, wenn es
not that, zu sorgen. Waren mehrere Söhne da, so teilten
sie das Erbe gleichmäßig unter sich. Doch erhielt der älteste
7. Alter, Tod und Bestattung.
43
in der Regel das Schwert und das Streitroß des Vaters.
Überlebte kein Sohn den Hausvater, so siel die Erbschaft dem
nächsten Verwandten vom Mannesstamme zu.
Schön sagt Tacitus, der edle Römer, von unsern Vor-
fahren : „Klage und Thränen um die Dahingeschiedenen stillen
sie bald, doch lange hegen sie Schmerz und Gram. Trauer
geziemt den Frauen, den Männern treue Erinnerung." Das
Stillen der Thränen hatte seine tiefe Bedeutung; uralter
Volksglaube war es nämlich, daß die Ruhe der Verstorbenen
durch allzu lange fließende Thränen gestört werde. Das
rührende Märchen vom Thränenkrüglein, das noch setzt in
verschiedenen Gegenden Deutschlands erzählt wird, bezeugt
diesen alten Glauben. Es soll den Schluß dieses Abschnittes
bilden. Einer jungen Mutter, so heißt es, war ihr ein-
ziges Kind gestorben. Sie weinte über alle Maßen und
konnte sich über ihren Verlust nicht zufrieden geben. In
jeder Nacht lief sie hinaus auf den Friedhof und jammerte
auf dem Grabe, daß es Steine hätte erbarmen mögen, als
solle und müsse ihr die Erde das Kindlein wieder heraus-
geben. So wehklagend weilte sie dort auch in der Nacht, da
die Göttin Berchtha, welche die Seelen der verstorbenen
Kinder behütet, mit ihrem Gefolge von Seelchen nicht weit
von ihr vorüberzog. Da gewahrte die Weinende zuletzt im
Zuge, den andern Kindern hinterdrein, ein Kleines, mit
einem ganz durchnäßten Hemdchen angethan; es trug in der
Hand einen Krug mit Wasser und konnte, matt geworden,
kaum den übrigen folgen. Ängstlich blieb es eben vor einer
hohen Umzäunung stehen, über welche die Göttin hinweg-
geschwebt und ihre kleinen Unterthanen geklettert waren.
„Ach," dachte die jammernde Mutter, „sieht doch das Kleine
gerade aus wie mein verlorenes Kind!" Ünd sie lief hinzu
und hob es in die Höhe. Während sie es nun in ihren
Armen hielt, sprach das Kind: „Mutterarm, ach, wie warm!"
Dann aber bat es: „O liebe Mutter, weine nicht so sehr
um mich! Sieh, hier im Kruge sind deine Thränen, und
wenn du noch länger weinest, wird er gar zu schwer und
voll. Da sieh! Ich habe mir mein Hemdlein schon ganz
44 8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen.
damit beschüttet." Nach diesen Worten zog es weiter. Die
Mutter aber ging heim, trug hinfort still ihr Leid und
weinte nicht mehr.
6. Vom Glauben und Götterdienst der alten
Deutschen.
Ein schlichtes, unverdorbenes Heldenvolk waren unsre
Ahnen, ausgestattet mit den edelsten Gaben des Geistes und
Herzens und von der Gottheit zu hohen Dingen ausersehen.
Deshalb hatte ihnen auch Gott einen wundersamen Glauben
ins Herz gelegt, der freilich durch menschliche Irrtümer viel-
fach wieder entstellt und von der Erhabenheit des Christen-
tums weit entfernt war, der viel Wildes und Unheimliches
enthielt, der aber doch auch beweist, wie tief und innig der
Deutsche fühlte, wie ernsthaft er grübelte über die wunderbaren,
geheimnisvollen, unerklärlichen Erscheinungen in der gewaltigen
Natur, die ihn rings umgab. Wie sind Erde, Sonne, Mond
und Sterne entstanden? wer hat sie geschaffen? wer erhält
sie? wer gebietet der Sonne zu leuchten? wer dem Blitze zu
zünden, dem Donner zu krachen? wer dem Leben zu entstehen
und zu vergehen? Wer läßt den Regen herniederrauschen?
den Sturm heulen? Licht und Finsternis, Wärme und Kälte
wechseln? Vernehmlich sprach es im Herzen des einfachen
Menschen: „Das müssen geheimnisvolle, unsichtbare Mächte
sein, Wesen, größer und gewaltiger als wir Sterblichen."
Im Donner vernahm der Mensch die Stimme des zürnenden,
im Säuseln des Windes den leisen Schritt des segnenden
Gottes. Die Wolke bildete sein lebhafter Geist zu gespenstigen,
riesigen Gestalten, zum verhüllenden Mantel oder zum flie-
genden Rosse der Gottheit, deren ewig klares Auge als
Sonne herniederschaute. Der Wechsel von Tag und Nacht,
von Sonne und Winter erschien als ein ewiger Kampf
zwischen hellen und finsteren, guten und bösen Mächten, zwischen
Göttern und Dämonen. So hat sich aus kindlich unwiflender
Naturbetrachtung aller Götterglaube entwickelt und unter allen
Heidenvölkern ist keines zu einer so großartigen, sinnvollen,
8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen. 45
ernsten und würdigen Auffassung über Götter- und Menschen-
schicksal, über Tod und Leben und das Ende aller Dinge
gelangt, wie das germanische.
Wir lassen die seltsam dunkle Sage von der Welt-
schöpfung hier beiseite und berichten zunächst, wie unsre Bor-
fahren sich den vollendeten Weltbau gestaltet dachten. Die
Mitte des Weltbaues — so glaubten sie — nimmt die runde
Erdscheibe ein, die Heimat der Menschen, daher Mannaheim
genannt. Außerhalb der bewohnbaren Erde, an den äußersten
Grenzen des Meeres hausen die Riesen in Riesenheim. Jen-
seit der See im eisigen Norden liegt Nibelheim, d. h. Nebel-
heim, ein schauriges kaltes Schattenland, von finstern Wäldern
umgürtet, bedeckt von düstern Nebeln. Hier ist der Sitz der
Totengöttin Hella. Am entgegengesetzten Ende der Welt
glüht im Süden Muspelheim, die Welt der Flammen, ge-
hütet von dem Rauchriesen, der der „Schwarze" heißt und ein
leuchtendes Schwert in der Hand trägt. Von hier aus er-
hebt sich einst der furchtbare Brand, der der ganzen Welt
den Untergang bringt. Unter der Erde liegen hie und da
weit ausgebreitete, liebliche Auen, und einzelne Götter wohnen
dort. Die meisten Götter aber und die vornehmsten hausen
hoch oben über der Erde in der Mitte des gewölbten
Himmels, der Asenheim oder Asgart genannt wird, weil die
Mehrzahl der Götter dem Geschlecht der Äsen, d. h. der
Großen angehört. Regenbogen und Milchstraße sind die
Wege, die dahin führen. Hier haben alle Hauptgötter ihre
besondere Hallen. Die herrlichste von allen aber ist die
Wodans, Walhall, wohin die in der Schlacht Gefallenen
oder an Wunden Gestorbenen durch die Walküren, d. h.
Totenwählerinnen getragen werden. Diese Halle ist von
ungeheurer Ausdehnung und glänzt über und über von
Golde. Die Decke ist so hoch, daß kein Auge sie genau
zu erblicken vermag, die Thore so weit, daß durch jedes
achthundert Helden nebeneinander einschreiten können. Hier
nämlich erfreuen sich die seligen Helden, Einherier genannt, auf
langen Bänken sitzend an Wodans Tischen des Mahles, während
göttliche Sänger zum Klang der Harfe ihre Thaten singen.
46 8. Bom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen.
Die Germanen, dieses Volk von Helden, konnten sich
keinen Gott denken, der nicht irgendwie am Kriege beteiligt
war. Dies gilt natürlich auch von ihrem höchsten Gotte
Wodan, dem „Allvater" und „allherrschenden Gott". Er
ist der Beherrscher der stürmenden, brausenden Luft, des
rasenden Sturmes, der Führer des wütenden Heeres oder
der wilden Jagd. In heiligen Nächten fährt er nämlich,
aus weißem Rosse sitzend, mit seinem Gefolge von seligen
Helden und Schlachtjungfrauen über die Wipfel der vom
Sturmwind geschüttelten Bäume hinweg. Dann hört man
Wasfenlärm und Rossewiehern, Husschlag und Hundegebell.
Noch heute heißt in Mecklenburg der wilde Jäger „der
Wode". Aber die wehende Luft ist auch ein Abbild des
Geistes, der nicht an Ort und Zeit gebunden umherschweift,
und darum erscheint Wodan zugleich als der alles durch-
dringende Weltgeist. Er heißt der grübelnde, sinnende Ase,
der Zauberkundige; er hat die Runen, d. h. die Weissagung
und die Zeichen derselben erfunden, aber auch die Dicht-
kunst und die geistige, edle Liebe. Man dachte sich ihn als
einen hehren Greis, von einem blauen Mantel umhüllt, in
der Rechten einen langen Speer, einen breitkrämpigen Hut
auf dem Haupte, der ihm über das eine fehlende Auge tief
herabhängt; denn Wodan hat nur ein Auge, wie der Himmel
nur eine Sonne. Das Volk wußte, wie der Gott sein
zweites Auge verloren hatte. Unermüdlich suchte er die Zu-
kunft der Welt, das letzte Schicksal der Menschen und Götter
zu erforschen, und um den Preis des Wissens gab er das
eine seiner Augen her. Doch nichts erwarb er damit als die
düstere Kunde voni schließlichen Untergang. Der Gott des
Geistes hat aber seine Lieblinge, die Deutschen, auch die
siegbringende Schlachtordnung, „den Eberkopf" oder Keil,
gelehrt und ihnen die kriegerische Begeisterung - eingehaucht,
durch die sie die Welt erobern sollen. Nicht persönlich
kämpft er in den Schlachten mit, aber er bestimmt durch
seinen Willen den Ausgang des Kampfes. Deshalb heißt er
„Heervater" und „Siegvater". Auch „Walvater", Vater
der Schlachttoten, wird er genannt; denn in seinem Aufträge
8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen. 47
heben die schönen Walküren die auf der Walstatt Gefallenen
nach Walhall empor, wo ihnen an Wodans Tischen die
holden Wunschmädchen — das sind eben die Walküren —
Bier und Met in goldenen Hörnern darreichen und vom
Fleisch eines unsterblichen, immer wieder sich ergänzenden
Ebers zu essen geben, während Wodan keine Speise zu sich
nimmt. Diese seligen Helden ziehen mit Wodan auch im
Himmel Tag für Tag zu fröhlichem Kampfe aus auf ein
weites Gefilde, sie sind des „wilden Jägers" Gefolge. Wolf
und Rabe, die Tiere des Schlachtfeldes, sind dem Wodan
geheiligt, ebenso das dem Krieger teuerste Tier, das Roß,
und die unentbehrlichste Waffe, der Speer, sowie der Baum,
von dem er gefertigt ist, die Esche. Auf des Gottes Schultern
sitzen zwei weiße Raben, die ihm alles ins Ohr raunen, was
sie aus ihrem täglichen Flug durch die Welt gesehen und
gehört haben. Von seinem goldnen Hochsitz in Walhall
überschaut Wodan die ganze Erde. Oft aber steigt er aus
herzlichem Mitgefühl hinab und betritt als „Wanderer"
gütig die Wohnungen der Menschen, um ihre Tugend,
besonders ihre Gastfreundschaft zu prüfen. Hier erlaubt er
dann denen, die er als gut erfand, sich etwas zu wünschen.
Denn alles Wünschenswerte stammt von ihm; die Berührung
seines Speeres erfüllt jeden Wunsch. In der Wünschelrute,
die aus unfern Märchen bekannt ist, lebt Wodans Wunsch-
speer noch fort. Wodan verleiht dem Schiffer günstigen
Wind, dem Würdigen Reichtum, dem Spieler glücklichen
Wurf, dem Hofherrn Gedeihen des Viehes und völlige Reife
der Feldsaat. In der niederländischen Bezeichnung des großen
Bärengeftirnes als Wodanswagen und den englischen und
niederländischen Namen des Mittwochs als Wodanstag und
in manchen Sagen und Volksgebräuchen lebt das Andenken
an den höchsten germanischen Gott noch fort.
Alle übrigen Götter waren diesem größten und obersten
unterthan, sie achteten feinen Willen und scheuten seinen Zorn.
Ihm zunächst steht sein kraftvollster, ältester Sohn Donar,
der Donnergott. Die verderblichen Blitze, die er schleudert,
gelten nicht den guten Sterblichen, sondern den Riesen, den
48 8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen.
Feinden der Götter und Menschen, die er eifrig verfolgt.
Dann fährt er auf einem schweren, rollenden Wagen daher,
welcher von riesigen Böcken, die blitzartig im Zickzack laufen,
gezogen werden, in der Rechten hält er den zerschmetternden
Hammer, vor dem die Riesen zittern und der nach jedem
Wurfe von selbst in seine Hand zurückkehrt. Ehrfurchtsvoll
läßt auch der Mensch Arbeit und Mahlzeit stehen, solange
der gütige Gott blitzt und donnert. Dann aber, wenn der
erquickende, befruchtende, reinigende Regen herniederströmt,
dann eilt er hinaus, um seinem Wohlthäter freudig zu danken.
So war Donar ein Gott des Ackerbaus und der Leute,
welche die Feldarbeit bestellen, der Knechte. Auch die Grenzen,
Wege und Brücken, waren ihm heilig, unter den Bäumen die
Eiche, auch viele Berge, die daher den Namen Donnersberg
oft noch heute führen, und unter den Tieren das Eich-
hörnchen, weil es rasch und im Zickzack wir der Blitz springt
und rotes Haar hat wie der lange Bart Donars. Von
keinem Gotte wußten die Sieger so viele Thaten zu berichten
wie von diesem; als tapfrer und gewaltig starker Bekämpfer
aller schädlichen Mächte, besonders der Riesen und Ungeheuer,
hatte er die wunderbarsten Abenteuer bestanden.
Während Wodan von seinem Wolkensitz aus die Geschicke
der Kämpfer lenkt, stürzt sich sein zweiter Sohn Ziu mitten
ins wildeste Schlachtgewühl. Man dachte sich ihn einhändig,
weil das Schwert nur mit einer Hand geführt wird. An
seinen Namen erinnert noch der Dienstag, der ihm heilig
war; denn dieses Wort ist aus Ziustag entstellt, und daher
nennen die Schwaben noch heute den Dienstag Zischtig.
Diesem grimmigen, harten Gotte, den die Sachsen Sachsnot
d. h. Schwertgenoß nannten, steht der schönste, mildeste, fried-
lichste gegenüber: Balder, der Lichtgott, auch ein Sohn
Wodans, den ihm seine Gemahlin Frija oder Frigga geboren
hatte. Diesen Gott dachte man sich merkwürdigerweise eigent-
lich als einen Gestorbenen. Warum, das geht aus folgender
schönen Sage hervor. Friedlich lebte der von allen geliebte
Balder mit seiner treuen Gattin Nanna in seinem lichten
Palaste. Da träumte ihm einst, sein Leben sei in Gefahr.
8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen. 49
Er erzählte den Traum seiner göttlichen Mutter. Voll ängst-
licher Sorge um Balder nahm Frija allen Wesen und Dingen
der Welt Eide ab, daß sie ihm nicht schaden wollten, nur
von einer kleinen Staude, der Mistel, nicht, die ihr zu jung
und ungefährlich schien. Nun waren die Götter froh, ihren
Liebling sicher zu wissen, und in übermütiger Heiterkeit er-
götzten sie sich damit, nach Balder zu schießen und zu werfen,
denn kein Geschoß verletzte ihn oder that ihm weh. Das sah
der Anstifter alles Bösen, Loke, der einzige Gott, dessen Sinn
dem Guten abgewandt ist, und er trachtete danach, Balder zu
verderben. Leider erfuhr er von jener Mistelpflanze, riß sie
aus und gab sie dem blinden Bruder Balders, dem Hadu,
daß er damit nach jenem werfe. Hadu nahm, ohne Loke
zu erkennen, den Zweig und schoß nach der Gegend, die Loke
ihm wies und wo Balder stand. Getroffen sank dieser zur
Erde. Das war das größte Unglück, das Götter und Men-
schen treffen konnte. Hella, die Todesgöttin, empfing den
Liebling der Welt und hielt ihn unerbittlich fest. Nannas
Herz aber zersprang vor Jammer, sie starb und wurde mit
ihm von den Göttern verbrannt. So folgte sie ihm nach
Hellas Reich. Nun flehte Frija die Götter an, daß einer
zu Hella reite und sie bewege, ihren Sohn herauszugeben.
Herimut erbot sich zu der Fahrt, ritt ins Totenreich und
brachte von dort Hellas Bescheid: wenn Balder wirklich so
geliebt sei, daß alle Wesen um ihn weinen wollten, so werde
sie ihn freigeben. Die Götter sandten nun in der ganzen
Welt herum, und wirklich weinten alle um Balder. Nur
eine finstre Riesin, die in ihrer Höhle saß und die niemand
anders war als der verwandelte Loke, weigerte sich eine
Thräne um Balder zu vergießen. So niußte dieser bei Hella
bleiben. Und doch wird er einst wiederkehren, wenn die alte,
böse Welt in Flammen versunken ist und eine bessere, ewige
aus den Trümmern emportaucht. Am Tage der Sommer-
sonnenwende, wenn die Nächte und die Tage abnehmen, feierte
man das ernste Fest von Balders Tod. Die Leiche des
schönen Lichtgottes, der für ein halbes Jahr dem Dunkel
erlag, wurde sinnbildlich auf Scheiterhaufen verbrannt, und
Klee, Die alten Deutschen. 4
50 8. Pom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen.
daher flammen noch heute auf den süddeutschen Bergen in der
Zohannisnacht alljährlich die mächtigen Feuer, die für heilig
gehalten wurden, weil sie den Leib des reinen Lichtgottes
verzehrten. Aber auch die nahende Wiederkehr des sonnigen
Gottes wurde gefeiert, und zwar zur Wintersonnenwende,
dem fröhlichen „Zul", von den Christen später als Weih-
nacht gefeiert. Auch dann wurden Scheiterhaufen geschichtet,
und auf ihnen verbrannte man unter lustigen Gebräuchen den
finstern, blinden Hadu, den Winter. Wie bei jedem Feste
wurden Opfer gebracht und fromme Gelübde gethan, schmau-
send saß man in weitem Kreise um die Opferstätte und be-
ging ein heitres Gelage, zu dem jeder Hausvater des Dorfes
oder Gaues etwas mitbringen mußte: Festbrote von wunderlicher
Form, Federvieh, Ferkel, Mehl, Butter, Met oder Bier.
Wie Balder unter den Äsen, so war Fro unter den
Wanen der Sonnengott. Einst war nämlich Fehde entbrannt
zwischen den Äsen und einem andern Göttergeschlecht, den
Wanen. Der Streit aber wurde mit völliger Versöhnung
und dauerndem Frieden beschlossen, und zwei der vornehmsten
Wanen, Fro und seine Schwester Freia wurden von den
Äsen als mitherrschende Götter in ihren Kreis ausgenommen.
Fro lenkt das wärmende, befruchtende Licht aus die Saaten
der Menschen. Unter seinem besondern Schutze steht die Blüte
des Getreides. Während der Zeit der Getreideblüte reitet
Fro auf seinem goldborstigen Eber — die Borsten bedeuten
die Sonnenstrahlen — im Abendwind leise über die wogenden
Halme hin, die ehrfürchtig ihre Häupter vor ihm neigen.
Segen fließt aus den Fingern seiner ausgebreiteten Rechten.
Bon diesem Eber rührt es her, daß dem Fro die Schweine
geweiht waren; aber auch der Stier und von den Pflanzen
der Rosmarin war ihm heilig. In hohen Ehren stand der
freundliche Gott bei Mädchen und Frauen; denn er segnete
auch den Bund liebender Menschen und schenkte den schönsten
Segen des Hauses, die Kinder. Von den übrigen guten
Göttern ist noch Forseti (d. h. Vorsitzer) zu erwähnen, ein
Sohn Balders, der Gott der Gerechtigkeit, der weise jeden
Streit schlichtet und die Hadernden versöhnt. Die Insel
8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen. 51
Helgoland führte von diesem den Namen Forsetisland. Dorr
war ein Tempel mit einem dem Forfeti geweihten Brunnen.
Alle Tiere in der Umgebung dieses Heiligtums waren un-
verletzlich , und aus dem Brunnen durste nur schweigend
Wasser geschöpft werden. Mit solcher Verehrung wurde das
Heiligtum des Gottes, ja die ganze Insel betrachtet, daß nicht
einmal Seeräuber es wagten, dort etwas zu entwenden. Der
Tempel wurde später von den Christen zerstört, aber die alte
Heiligkeit der Insel lebt noch heute in ihrem Namen fort;
denn Helgoland bedeutet Heiligland.
Den guten Göttern steht ein böser gegenüber, der schon
genannte Loke, Balders Mörder. Er ist der Herr des zwar
wohlthätigen, aber auch höchst verderblichen, tückischen Feuers,
der Lohe. Von ihm wird folgendes berichtet. Als der schöne,
aber böse Gott nach Balders Tode die Strafe und den Zorn
der Götter fürchtete, floh er aus Asgart und versteckte sich,
in einen Fisch verwandelt, ins Wasser. Aber Wodan. er-
schaute ihn von seineni Hochsitz aus, und die Götter zogen
aus, den Bösen zu sangen. Donar übernahm den Fischzug.
Doch immer wieder wußte der Schlaue zu entschlüpfen, so oft
Donar ihn zu haben meinte. Endlich bekam er ihn dicht
hinter dem Kopf zu fassen und hielt ihn fest, worauf Loke
seine eigentliche Gestalt wieder annehmen mußte. Und nun
fesselten ihn die Götter und legten ihn gebunden über die
scharfen Spitzen dreier Felsen. Da liegt er nun bis zum
Weltende. Uber seinem Haupte hängt eine giftige Schlange,
die ihren Geifer ihm ins Gesicht träufelt. Aber des Bösen
ungleiches Weib, die edle Sigyn, steht in unerschütterlicher
Treue neben dem Gefesselten und hält eine Schale unter den
Rachen der Schlange, um das Gift aufzufangen. Freilick,
wenn die Schale gefüllt ist, muß sie sie ausgießen, und wäh-
rend dies geschieht, tropft der Geiser dem Unglücklichen ins
Antlitz. Dann windet und reckt er sich vor Schmerz so un-
gestüm, daß die Erde zittert, und dies nennen die Menschen
ein Erdbeben.
Als mütterliche Segenspenderinneu sorgen gütige Göttinnen
treu und liebevoll um die Menschen. Sie haben sie gelehrt,
4*
52 8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen.
dem Ackerboden die Feldfrucht abzugewinnen, aus dem Getreide
wohlschmeckendes Brot zu backen, Flachs und Hanf zu feinen
Fäden zu spinnen und diese in köstliche Leinwand zu ver-
weben. Helfend, segnend und prüfend ziehen sie durch die
Lande, sehen zum Rechten in der Wirtschaft und erteilen wert-
volle Lehre für Haushalt und alle weibliche Arbeit. So
traten sie dem Menschen näher als die hohen Götter, das
Berhältnis zu ihnen war traulicher und heimlicher. Manche
Namen von Göttinnen werden uns genannt, so der der Erd-
göttin Nerthus, die auf einer Insel der Ostsee in einem
Hain neben einem See ihr Heiligtum hatte. Dort war auch
ein geweihter Wagen, mit Tüchern überdeckt. Ihn anzu-
rühren war allein dem Priester erlaubt. Er erkannte aus
geheimnisvollen Anzeichen, wenn die Göttin unsichtbar den
Wagen bestiegen hatte, und er geleitete sie, von weißen Kühen
gezogen, durch die Lande. Dann war überall Frieden und
Freude, festlich schmückten sich alle Stätten, die die Göttin
ihres Besuches würdigte. Wenn sie aber des Umgangs mit
den Sterblichen satt war und der Priester sie ins Heiligtum
zurückführte, wurden der Wagen und die Tücher in jenem
See gewaschen, der die dienstleistenden Sklaven sogleich ver-
schlang. Nicht minder geheimnisvoll sind die drei Nornen
oder Schicksalsfrauen. Sie sitzen an einem heiligen Brunnen,
wo sie die Schicksalsfäden der Menschen spinnen und weben.
Deutlicher und heller stehen vor uns zwei hohe Gestalten, die
beiden vornehmsten Göttinnen Frija und Freia.
Frija ist die Gemahlin Wodans, die Mutter der Äsen.
Neben ihm thront sie auf dem Hochsitz. Sie ist weise wie
ihr Gatte und kennt das Schicksal der Sterblichen. Als
Hausfrau des Göttervaters gilt sie für das Vorbild aller
irdischen Hausfrauen, sie schützt die Ehre des Herdes und
wacht streng über der ehelichen Treue. Als Hausmutter er-
scheint sie selbst mit Schleiertuch und Spinnrocken. Ihr zur
Seite waltete ihr verjüngtes Ebenbild, Freia, die Göttin
der Liebe und Schönheit. Eine liebliche Sage erzählt, sie
sei vermählt gewesen, aber ihr Gatte hätte sie verlassen. Da
sei sie aufgebrochen, ihn zu suchen bei allen Völkern der Welt,
8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen. 53
immerfort weinend. Sie fand den Treulosen nicht. Ihre
Thränen aber wurden zu Gold; daher wurde sie selbst die
Thränenschöne genannt. Der schönste Baum, die Linde, und
das zierlichste Tier, die Katze, waren ihr geheiligt; ein Katzen-
par zog ihren Wagen. Oft aber ritt sie auch auf einem
herrlichen Rosse, denn sie liebte den fröhlichen Kampf der
Männer und war die oberste der Walküren. In manchen
deutschen Gegenden nannte man sie Holda, die holde, freund-
liche. Gern hauste sie in Seen und Brunnen. Um Mitter-
nacht im Mondenschein sahen manche die wunderschöne Göttin
aus der Flut tauchen und sich am Bade ergötzen. Tief unter
dem Wasser liegt ihr herrlicher Palast, in dem sie mit den
Seelen der noch ungeborenen Kindlein scherzt. Daher rührt
der Kinderglaube, daß der Storch, der heilige Vogel der
Freia, die kleinen Erdenbürger aus Brunnen oder Teichen
hole. Holda erscheint ferner als besondre Schützerin der weib-
lichen Künste des Spinnens und Webens. Fleißige werden
von ihr belohnt, Faule bestraft. Beides thut sie noch in
dem Märchen von Frau Holle d. i. Holda, wo freilich die
blühende Göttin zu einem alten Mütterchen zusammen-
geschrumpft ist. Einige Gegenden verehrten die Freia unter
dem Namen Berchtha d. h. die Leuchtende. Man glaubte,
sie habe die Aufsicht über die Seelen der jung gestorbenen
Menschenkinder. Als eine hehre, große Frau schwebt sie einer
zahlreichen Schar von Kindern voran, die einen goldenen
Pflug mit sich führen; denn der Pflug ist Freias heiliges
Gerät. Das finstre Gegenbild zu diesen schönen, lichten
Göttinnen bildet die unerbittliche Beherrscherin der Unterwelt
Hella, in deren Behausung die Seelen derer hinabfahren,
die nicht an Wunden gestorben sind. Sie ist eine Tochter
des schlimmen Loke; ihr Saal heißt Elend, ihr Knecht Träge,
ihre Schüssel Hunger, ihr Messer unersättliche Gier. Was
sie einmal festhält, läßt sie nicht mehr los; Barmherzigkeit
kennt sie nicht. Hellas Name ging von ihr selbst auf ihre
Wohnung über, und daher stammt das Wort Hölle.
Hella ist nicht die einzige Erbschaft, die Loke der Welt
vermacht hat. Zu seinen Kindern gehört auch die ungeheure
54 8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen.
Mittgartschlange, die auf dem Grunde des Meeres lauert
und die ganze Erdscheibe (Mittgart d. h. Mittelgarteu) um-
schlingt. Nur die Furcht vor Donar hält sie in der Tiefe.
Auch der gräßliche Fenriswolf ist ein Sohn Lokes. Mit
Mühe wird er von den Göttern in Banden gehalten. Doch
nicht immer wird ihnen das gelingen. Denn wenn die
Sünde der Welt sich auch auf die Götter erstreckt und auch
sie reif sind zum Untergang, dann bricht die Götter-
dämmerung oder der Weltbrand an. Alle bösen Wesen
reißen dann ihre Fesseln entzwei und ziehen zum Streit
wider die Götter. Ein Wolf verschlingt die Sonne, ein
andrer den Mond. Die Sterne fallen vom Himmel; die
Erde erbebt, daß die Berge zusammenstürzen und alle Bäume
entwurzelt werden. Der Fenriswolf bricht los, und die Mitt-
gartschlange sucht das Land, so daß das Meer die Erde
überflutet. Mit klaffendem Rachen fährt jener umher; sein
Oberkiefer berührt den Himmel, sein Unterkiefer die Erde,
Feuer glüht ihm aus Augen und Nase. Ihm zur Seite
windet sich die gräßliche Schlange, Gift speiend und Feuer
schnaubend. Von dem Getöse, das sie erheben, birst der
Himmel auseinander. Das hören in Muspelheim die Feuer-
riesen. Der Schwarze reitet ihnen mit blitzendem Schwerte
voran. Wenn sie über die Regenbogenbrücke ziehen, bricht
diese zusammen. Unterdes sind auch die Frostriesen von
Riesenheim gekommen, und auch Loke ist seiner Bande ent-
ledigt. Mit ihm zieht Hellas ganzes Gefolge heran. Auf
einer Ebene, hundert Tagereisen breit und ebenso lang,
kommt es zur Schlacht mit den Göttern. Heimdall, der
Wächter von Asgart, hat ins Horn gestoßen. Rasch hält
Wodan mit den übrigen Göttern Rat, und gewappnet ziehen
sie samt den seligen Helden aus Walhalls Thoren. Allen
voran reitet Wodan mit goldenem Helm und Harnisch; den
heiligen Speer schwingend beginnt er den heißen Streit mit
dem Fenriswolf, während Donar ihm zur Seite gegen die
Mittgartschlange kämpft. Fro streitet wider den Schwarzen
in grimmigem Zweikampf, bis Fro erliegt. Ein greulicher
Hund stürzt jetzt auf Ziu los; nach langem Ringen töten
8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen. 55
sich beide gegenseitig. Dem Donar gelingt es die Mittgart-
schlange zu erlegen; aber kaum ist er neun Schritte davon-
gegangen, da fällt er zur Erde, getötet von deni Gift, das
der Wurm auf ihn spie. Nun verschlingt der entsetzliche
Fenriswolf den verzweifelt kämpfenden Wodan. Aber indem
Wodan verschlungen wird, zerreißt er dem Wolfe den Rachen.
So sterben beide. Auch Loke und Heimdall töten einander.
Inzwischen haben die Flammen von Muspelheim die ganze Welt
ergriffen. Himmel und Erde und alle Unholde verschlingt
der ungeheure Brand. Aber aus den Wogen des Meeres,
durch die der Brand schließlich erlöscht und die alles über-
fluten, taucht eine neue Erde auf, grün und schön, und Korn
wächst daraus ungesät. Und nun kehren die guten Götter
wieder, verklärt und von aller Schuld gereinigt. Auch Balder
wohnt nun wieder unter ihnen. Und sie sitzen vereint auf
dem Felde, wo einst Asgart stand, und raunen zusammen von
den schaurigen Dingen, die sich vordem ereignet. Und auf
der Erde entsteht eine neue Menschheit, geistiger und besser
als die alte; Morgentau ist ihr Trank. Und vom Himmel
strahlt eine neue Sonne, eine Tochter der alten. Nicht
minder schön als jene, wandelt sie die Bahn der Mutter.
Heiliger Friede waltet unter allen lebenden Wesen. Ihr
seliges Dasein stört keine Sünde und kein Tod.
Zwischen den Göttern und den Menschen stehen nach dem
Glauben der Vorzeit vier Arten von halbgöttlichen Wesen:
Riesen und Zwerge, Helden und Walküren. Die Riesen,
auch Hünen oder Thursen genannt, sind zwar von ungeheurer
Größe und Kraft, aber an Verstand übertrifft sie der Mensch.
Nicht alle Riesen sind so bösartig und selbst den Göttern
gefährlich wie die Frost- und Feuerriesen. Manche vereinigen
mit der Dummheit eine große Gutmütigkeit, so lange nichts
ihre Ruhe stört. Gereizt aber werden sie leicht von un-
bändiger Wut ersaßt und sind dann furchtbar in ihrer rohen
Raserei. Weit unter dem menschlichen Wachstum bleiben die
kleinen Zwerge, Wichte, Alben oder Elsen, aber dafür sind
lie mit geistigen Kräften begabt, die den Menschen in solchem
Maße versagt sind. Ihr Außeres ist gewöhnlich alt, häßlich
56 8. Vom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen.
und verschrumpft, aber es giebt auch Alben von holder Ge-
statt. Zwergkönige regieren unter ihnen, vor allem Alberich,
dessen Name „Albenkönig" bedeutet. Ungeheure Schätze halten
die Zwerge in unterirdischen Höhlen verborgen und schmieden
aus ihnen köstlichen Schmuck. Manche zeigen sich gutmütig
und hülfreich gegen die Menschen, doch behalten sie vor diesen
immer eine gewisse Scheu, weil die Menschen ihnen ihre
Freundschaft oft mit Undank lohnen. Dann ziehen sich die
Kleinen zürnend zurück, und bald merkt der Mensch ihren
Zorn an dem mannigfachen Mißgeschick, das seinen Haushalt
trifft. Auch sonst üben sie zuweilen Tücke gegen die Men-
schen, indem sie ihnen z. B. nachts die Kinder aus den Wiegen
stehlen und ihre garstigen „Wechselbälge" hineinlegen. Viele
können sich unsichtbar machen oder ihre Gestalt verwandeln,
besitzen die Gabe der Weissagung und verstehen sich auf die
geheimen Kräfte heilender oder schädlicher Pflanzen und
Steine. Auch die Kobolde oder Heinzelmännchen gehören zu
ihnen. Sie sind im ganzen gutartig, namentlich sorgen sie
um das Wohl des Hauswesens und werden oft faulen Knechten
und Mägden empfindlich. Leicht sind sie gekränkt. Dann verlassen
sie das Haus auf Nimmerwiedersehen, und mit ihnen schwindet
der Segen, den sie dem Haushalte brachten. In das Reich
der Alben gehören endlich die Nixe oder Wassergeister. Die
männlichen Nixe dachte man sich unschön, mit grünen Zähnen
und behaartem Gesicht, die weiblichen Nixen dagegen von zau-
berischer Schönheit. Um die stille, schwüle Mittagszeit steigen
sie zuweilen aus der Flut, wiegen sich auf den Wellen und
kämmen mit goldenem Kamme ihr langes, dunkles Haar.
Unter dem Wasser haben sie prächtige Wohnungen, in denen
sie ganz nach Menschenart wirtschaften und wohin sie zuweilen
Sterbliche verlocken.
Aus Verbindungen zwischen Göttern und Menschen ent-
stehen die Helden, die mancherlei besitzen, was sie über die
gewöhnliche Menschennatur erhebt. Sie sind von ungeheurer
Körperkraft und hochragender, übermenschlicher Gestalt, aus
ihren Augen leuchtet ein wunderbarer, göttlicher Glanz.
Manche können fliegen, sich verwandeln, verschwinden oder be-
8. Nom Glauben und Götterdienst der alten Deutschen. 57
sitzen sonst eine übernatürliche Gabe. Manche sterben nicht,
sondern werden auf geheimnisvolle Weise den Augen der
Menschen entrückt. Neben den Helden stehen die schon er-
wähnten Walküren, die herrlichen Totenwählerinnen des
Schlachtfeldes, die Schildjungfrauen oder Wunschmädchen Wo-
dans in Walhall, die Schutzgeister und himmlischen Schen-
kinnen der Helden. Wenn sie, von unwiderstehlicher Sehn-
sucht nach Kampf getrieben, sich auf ihre Rosse schwingen und
nach der Walstatt fliegen, dann leuchten ihre goldnen Helme,
unter denen die blonden Locken hervorquellen, dann blitzen
ihre Lanzen und Schilde. Wenn sich ihre schäumenden
Rosse schütteln, träuft Tau von den Mähnen in die Thäler.
Über den Reihen der Kämpfenden schwebend, schützen sie ihre
Freunde, entscheiden die Schlacht und geleiten die Gefallenen
hinauf nach Walhall, wo sie ihnen beim Mahle den Met
schenken. Zuweilen entbrennt das Herz einer Walküre von
zärtlicher Liebe zu einem irdischen Helden. So liebte die
herrliche Brünhild den gewaltigen Siegfried. Will die Wal-
küre im Frieden sich irgendwohin begeben, so besteigt sie nicht
das Schlachtroß und trägt nicht Helm und Schild, sondern sie
zieht das Schwanenhemd über den edlen Leib d. h. sie wan-
delt sich in Schwangestalt. So findet der berühmte Schmied
Wieland am Seegestade drei wunderschöne Frauen, die Flachs
spinnen, nachdem sie im Meer gebadet haben. Neben ihnen
liegen ihre Schwanenhemden. Wieland nimmt eines der Hemden
und bringt dadurch die Eigentümerin in seine Gewalt. So-
gleich verbirgt er das Hemd, und als treues Weib beglückt
sie den Mann. Wie sie aber durch Zufall das Schwanen-
gefieder findet, da erwacht die Walkürennatur; unwiderstehlich
zieht sie der Drang nach dem alten Beruf, und sie entfliegt.
Schier zahllos waren die göttlichen und halbgöttlichen
Wesen, mit denen die Einbildungskraft der alten Deutschen
die ganze Schöpfung belebte, und nicht ohne ernsten Sinn
und tiefere Bedeutung war die Art, wie sie ihre Götter ver-
ehrten. Nicht an Tempel von Menschenhänden gemacht band
sich der Götterdienst. Der Tempel, den sich die Gott-
heit selber erbaut hatte, das war der ernste Wald mit seinen
58 8. Vom Glauben und Götterdienst der allen Deutschen.
himmelanstrebenden Bäumen. In heiligen Hainen und an ge-
weihten Bäumen wurden die deutschen Götter verehrt. Man
betete zu ihnen und brachte ihnen Gaben dar, um ihnen für
ihre Güte zu danken oder ihren Zorn zu versöhnen. Fröh-
liche Dankopfer konnte jeder Familienvater bei jedem Anlaß
darbringen. Beim Mahle und bei der Ernte gedachte man
dankbar der spendenden Gottheit; das glücklich erlegte Wild,
das Gedeihen des Viehes, die Vermehrung der Familie, und
noch vieles andere, waren Beweise göttlicher Huld, die dankend
empfangen wurden. Der Betende richtete die Augen und
die ausgebreiteten Arme nach oben. Ernster, ja düster war
das Sühnopfer. Dürre, Mißwachs, Seuche, Hungersnot,
Unglück im Kriege waren Zeichen, daß die Götter zürnten.
Um sie zu versöhnen, mußte Blut fließen, zuweilen sogar
Menschenblut. Doch war das Menschenopfer selten, und man
nahm dazu meist Kriegsgefangene, Sklaven oder schwere Ver-
brecher. Auch Tiere wurden zur Sühne, ebenso gut aber
auch zum Danke dargebracht. Nur makellose, eßbare, männ-
liche Tiere durften geopfert werden. Nur ein Teil des Tieres
wurde gewöhnlich geopfert, namentlich der Kopf, das übrige
wurde in großen Kesseln gekocht und beim feierlichen Opfer-
schmaus verzehrt. Das Pferd war das vornehmste Opfertier,
dann das Rind, der Eber, der Widder, der Bock, das Ferkel,
von den Vögeln der Hahn. Das Fruchtopfer war bescheidner
und wurde nicht von der ganzen Gemeinde oder dem Volke
dargebracht, sondern vom einzelnen Menschen oder Hausstand.
Auch der Miunetrunk, durch den man der Götter Gedächtnis
trank, war ein Opfer. Endlich sind noch die Opferkuchen zu
erwähnen. Zu hohen Götterfesten buk man nämlich Backwerk,
dem man etwa die Gestalt eines Götterbildes oder eines hei-
ligen Tieres zu geben suchte. Von dem angefertigten Kuchen
brachte man einen oder mehrere der gefeierten Gottheit dar.
Bei allen Opfern wurden Gebete gesungen, und zwar im
Einzel- und Chorgesang. Zünftige Priester gab es nicht.
In der Familie leitete der Hausvater, in der Gemeinde-
versammlung der Dorfälteste, in der Volksversammlung ein
Fürst den Götterdienst. Daß keine wichtige Handlung im
9. Aus dem öffentlichen Leben zu Friedenszeiten.
59
menschlichen Leben ohne religiöse Gebräuche vor sich ging, haben
wir früher schon hervorgehoben. Hier sei noch der feierlichen
Umzüge gedacht, die beim Anlegen einer Waldlichtung, beim
Bau eines Gehöftes, beim Abstecken der Grenzmarken nicht fehlen.
In ernstem Zuge, Gebete singend, schritt, fuhr oder ritt man
einher, besondre Gebräuche wurden dabei sorgfältig beobachtet.
Mit der lebhaftesten Teilnahm,., mit Freude und Sorge,
mit Spannung und Dankbarkeit begleiteten die Deutschen,
diese Kinder des Urwaldes, das ganze Leben der Natur, deren
geheimnisvolles Walten für sie so wichtig war und sie tag-
täglich in unmittelbarer Nähe umgab. Wie freute man sich,
wenn das Tageslicht zunahm, wenn die Vorboten des Früh-
lings sich nahten! Wie unbehaglich mochte im Winter das
Leben im dunklen Holzhaus oder gar im unterirdischen Tung
sein! Der Aufenthalt im Freien mar das, wonach man sich
sehnte. Mit innigem Dank gegen die guten Götter und
Göttinnen, die nun wieder ins Land zogen, begrüßten unsre
Ahnen die Rückkehr der Singvögel, die ersten Blumen, den
ersten warmen Sonnenblick. Nein, sie waren nicht roh und
blutdürstig, nur auf Kampf erpicht, sie empfanden auch tief und
fein. Daß sie Geist und Gemüt besaßen, hat uns diese
kurze Betrachtung ihres häuslichen Lebens und ihrer Religion
gezeigt. Auch was wir noch von ihrem Leben im Staate
und im Kriege zu berichten haben, wird dem nicht widersprechen.
9. Nus dem öffentlichen Leben ;u Frirdens-
zriten.
Die Zwanzig bis vierzig Haushaltungen eines Dorfes oder
der in einer Gegend liegenden Einzelhöfe waren untereinander
vielfach durch Bande des Blutes verbunden und bildeten daher
große Familien im weitern Sinne. Ein solches Geschlecht
wurde eine Sippe genannt. Ihre wehrhaften Männer
standen im Heere wie in den Volksversammlungen zusammen.
Der älteste und weiseste unter den Hausvätern übte über die
Sippegenossen durch sein persönliches Ansehen eine Art Lei-
tung aus. Mehrere solche Sippen, die Einwohner eines grö-
60
9. Aus dem öffentlichen Leben zu FriedenSzeiten.
ßeren Landesteiles, bildeten einen Gau. Die Krieger eines
Gaues, die stets unter einem eignen, selbstgewählten Fürsten
standen, machten eine größere Heeresabteilung und eine Gruppe
in der Landesgemeinde aus. Alle Gaue endlich, die sich zu
einem Volksheer und einer Volksversammlung vereinigten,
bildeten zusammen einen Staat oder eine Völkerschaft.
An der Spitze einiger solcher Völker, namentlich im östlichen
Deutschland, standen schon in der ältesten Zeit Könige, aber
bei den westlich wohnenden finden wir nur sehr selten ge-
meinsame Herrscher, die über den Fürsten der Gaue ge-
standen hätten.
Sehr wichtig waren die Volksversammlungen oder
Volksthinge. Obgleich nämlich jeder Gau regelmäßig seine
eignen Versammlungen unter dem Vorsitz seines Fürsten hielt,
so gab es doch oft Angelegenheiten, die eine ganze Völkerschaft
angingen und daher nur im allgemeinen Volksrate verhandelt
werden konnten. Große Volksversammlungen fanden jedes
Jahr zu bestimmten Zeiten, besonders im Frühling, statt.
Jeder Waffenfähige hatte sich ohne besondre Aufforderung
Jahr für Jahr zu diesem regelmäßigen Landtag einzufinden.
Gab es aber etwas Unvorhergesehenes von großer Wichtigkeit
zu beraten, so mußte ein außerordentliches Thing abgehalten
werden. Dann eilten Boten durch das Land, welche die freien
Männer zur Versammlung luden. Waren alle Thinggenossen
beisammen, so ordneten sie sich nach den Sippen und Gauen,
ohne die Waffen abzulegen, denn jedes Thing war zugleich
eine Heerschau. Einer der Fürsten bekleidete das Amt eines
Landespriesters für die Dauer des Things, er sprach die
feierliche „Hegung" aus, d. h. er gebot andächtiges
Schweigen und warnte vor Störung des Thingfriedens.
Wer diesen Frieden, der unter dem besondern Schutz der
Götter stand, brach, wurde als Beleidiger der Gottheit vom
Priester schwer bestraft. Zuerst berieten die Fürsten das, was
verhandelt werden sollte; außer ihnen redeten und rieten nur
die ältesten und weisesten Männer der Gemeinden. Die
übrige Menge gab nur entweder ihren Beifall durch klirrendes
Zusammenschlagen der Waffen, oder ihr Mißfallen durch un-
9. Aus dem öffentlichen Leben zu Friedenszeiten. 61
williges Murren zu erkennen. Man verhandelte über Krieg
und Frieden, über Wahl der Fürsten, über Knüpfung von
Bundesgenossenschaften, über Verteilung der Kriegsbeute, über
Verleihung des Waffenrechtes an Zöglinge und Frei-
gelassene u. s. w. Auch einzelne Rechtsfragen über Ver-
brechen gegen den ganzen Staat wurden entschieden z. B.
über Landesverrat, feige Flucht und Heiligtumsschändung.
Wurde ein Krieg beschlossen, so hatte das Thing auch einen
Herzog d. h. einen Heerführer oder Feldherrn für die Dauer
des Krieges zu wählen. Den Erwählten, der stets aus der
Reihe der Fürsten erkoren wurde, hob das Volk auf einen
Schild und trug ihn unter Jauchzen und Waffengetöse durch
die Reihen der Versammelten. Das Zeichen seiner Würde
war ein Speer.
Bei diesen feierlichen Zusammenkünften, die alle freien
Männer einer Völkerschaft vereinigten, wurden natürlich auch
festliche Mahle gehalten. Über die wichtigsten Angelegenheiten
ratschlagte man beim Gelage. Dann öffneten sich die arg-
losen Herzen zu geraden, einfachen Gedanken und begeisterten
sich für große Thaten. Aber am folgenden Tage wurde bei
klarer, ruhiger Überzeugung das, was man zwanglos besprochen
hatte, nochmals beraten und nun erst darüber ein Beschluß
gefaßt. Doch nicht nur durch Schmaus und Zechgelage ge-
staltete sich der Volksthing zugleich zum Feste. Die prächtigste
und festlichste Schaustellung, die unsre Vorfahren kannten, der
kunstvolle Schwertertanz, fehlte niemals bei diesen Versamm-
lungen. Vor der ganzen Gemeinde tanzten freie, oft adelige
Jünglinge zum Klang der Harfen, Flöten und Hörner und
zum Gesang von Altersgenossen nackt zwischen starrenden
Schwertern und Kurzspeeren umher, selbst mit Schild, Speer
und Schwert bewaffnet. Der Tanz war ein anmutiges Ab-
bild des Kampfes in der Schlacht. Der einzige Preis des
kühnen Spieles bestand in dem herzlichen Beifall der Zu-
schauer.
Nur die freien Männer nahmen an solchen Versamm-
lungen teil. Die ganze Masse der Germanen schied sich
nämlich in zwei große Schichten oder Stände: in Freigeborne
62
9. Alls dem öffentlichen Leben zu Friedenszeiten.
und Unfreie oder Knechte. In der Mitte zwischen beiden
standen die nicht zahlreichen Freigelassenen. Nur die Frei-
geborenen , die nach der Vornehmheit ihrer Abstammung in
Adelige und Gemeinsreie zerfielen, zählten im Staate mit,
hatten teil am Heer und an der Volksversammlung. Die
verschiedene Schätzung der Würde drückt sich am klarsten in
der Höhe des Wergeldes aus d. h. der Summe, die als
Buße für die Tötung eines Mannes hinreichte. Ein solches
Wcrgeld (d. h. Manngeld) betrug nämlich nicht in allen
Fällen gleich viel; die Tötung eines Adeligen wurde minde-
stens mit dem Doppelten gebüßt als die eines Gemeinfreien;
das Wergeld für einen Freigelassenen betrug nur halb so viel
wie für einen Freigebornen. Für Unfreie gab es gar kein
Wergeld, da sie nicht als Personen, sondern als Eigentum
ihrer Herren, also als Sachen angesehen wurden. Trotzdem
war das Los der Knechte bei den Deutschen lange nicht so
hart wie etwa das der Sklaven bei den Römern. Als
Kinder wuchsen Freie und Unfreie einträchtig zusammen auf.
Ein rechtlicher Unterschied trat erst vom Jünglingsalter an, wo
der Freie ein Krieger ward, während der Knecht kein Recht
hatte Waffen zu tragen, außer im Dienst seines Herrn, etwa
zur Jagd. Die deutschen Knechte wurden nur selten geschlagen
oder zu Zwangsarbeiten genötigt; und wenn der Herr einmal
einen tötete, so geschah dies nicht aus grausamer Härte, son-
dern in leidenschaftlichem Ungestüm. Die meisten Knechte
waren Landsiedler, angesiedelte Eigenleute, d. h. der Herr
überließ ihnen ein Stück Boden zu eigner Bewirtschaftung
und begnügte sich mit einem Teil des Ertrages, mit einer
Abgabe in Getreide, Vieh oder Kleidungsstücken. Eignen
Besitz hatte der Knecht nicht. Was er erübrigte, mochte er
zwar mit Weib und Kind benutzen, aber verkaufen oder ver-
erben durfte er es nicht. Starb er, so fiel sein Gut wieder
dem Herrn anheim. Auch heiraten durfte er nur mit Ein-
willigung seines Herrn, und zwar nur eine Unfreie; die
Kinder wurden wieder Knechte. Als äußeres Zeichen seiner
Unfreiheit trug der Knecht stets kurzgeschornes Haar.
Ein Knecht, der sich durch besondre Treue, Bieder-
9. Aus dem öffentlichen Leben zu Friedenszeiten.
63
feit und Mannhaftigkeit ausgezeichnet und dadurch sich die
Liebe seines Gebieters erworben hatte, konnte von seinem
Herrn durch Freilassung belohnt werden, doch nur mit Ge-
nehmigung des Things. Nur sehr selten aber war diese
Freilassung eine vollständige, so daß der bisherige Knecht alle
Rechte eines freigebornen Germanen erwarb; weit häufiger
trat er nur in den Mittelstand der Hörigen oder Frei-
gelassenen im engeren Sinne. Er genoß nur gewisse per-
sönliche Rechte, durste namentlich vor Gericht als Ankläger
oder Zeuge erscheinen, aber im Heer und in der Volks-
versammlung zählte er nicht mit. Die Dienste, die er seinem
Herrn leistete, waren nun keine Gesindepflichten, sondern bloß
Abgaben für geliehenen Grund und Boden. Immerhin gehörte er
noch mit Weib und Kind seinem Herrn an und durfte ohne
dessen Genehmigung seinen Aufenthalt nicht wechseln; er war,
wie man sagte, an die Scholle gebunden, so gut wie der Knecht.
Verheiratung mit einer Freien war dem Hörigen nicht immer
untersagt; aber die Kinder aus solcher Mischehe wurden
wieder Hörige, Nur wer von freigebornen Eltern entsprossen
war, der war sein eigner Herr und hieß ein Freier, sobald
er wehrhaft geworden war. Die große Masse des Volkes
bildeten die Gemeinsreien oder Heermannen. Über ihnen standen
noch die Adeligen oder Edelinge. Es waren die Angehörigen
der vornehmsten, ruhmvollsten Geschlechter, aus denen die
Fürsten, die Führer des Volks, gewählt wurden. Die Zahl
der Adelsgeschlechter war im Vergleich zur Zahl der Gemein-
sreien gering und schmolz im Laus der Zeiten noch mehr zu-
sammen. Das höchste Adelsgeschlecht hieß das königliche.
Aus ihnen wurden in Monarchien vom Volksthing die Könige
erkoren und wie die Herzöge aus den Schild gehoben. Die
Rechte des Königs waren durch das Volksthing vielfach be-
schränkt; er wirkte besonders durch sein erhabenes Beispiel.
Steuern erhob er nicht; doch brachte ihm jeder Freie beim
großen Landesthing alljährlich eine Gabe dar. Seine Person
war durch Gesetze besonders geschützt, und sein Grundbesitz
war größer als der eines andern im Staate. Dafür ver-
langte das Volk, daß der König seine Würde zu wahren. wisse
64
9. Aus dem öffentlichen Leben zu Friedenszeiten.
und seine Macht nicht mißbrauche, und vor allem, daß er ein
ganzer Mann d. h. ein Held sei.
Der Häuptling eines Gaues war der Fürst, d. h. der
Erste, der vom Landesthing aus dem Adel aus Lebenszeit
gewählt wurde. Alle Gaufürften einer Völkerschaft zusammen
bildeten den Fürstenadel, der den Volksversammlungen seine
Beschlüsse zur Genehmigung oder Abweisung vorlegte. Von
ihm konnte ein hochbegabter, stattlicher Fürst oft zu großem
Einstuß im Staate gelangen. Daß die Herzoge aus der
Reihe der Fürsten gewählt wurden, ist schon gesagt worden.
Die andern Fürsten waren zwar dem Herzog im Heere während
des Krieges untergeordnet, aber sie behielten noch immer
Selbständigkeit genug und verfochten ihre Meinung im Für-
stenrat oft nicht zum Besten des ganzen Heeres, wie wir in
der Geschichte Armins erfahren werden.
Auch im Frieden hatte ein Fürst ein bedeutsames und oft
schwieriges Amt. Er leitete die Äckerverteilung, und bei dem
starken Selbstgefühl der Germanen war es gewiß nicht leicht,
die verfügbare Feldflur so zu verteilen, daß jeder mit seinem
Anteil zufrieden war. Strenge Gewissenhaftigkeit und kluge
Besonnenheit waren nötig, um niemanden zu kränken. Das
wichtigste Amt eines Fürsten aber war unstreitig sein Richter-
amt. Allmonatlich versammelten sich an umfriedeter, altheiliger
Stätte, am Stamm eines Götterbaums oder an einer ge-
weihten Quelle, unter freiem Himmel die wehrhaften Gau-
genoffen zum Gerichtstag. Den womöglich etwas erhöhten
Ort nannte man die Malstatt d. h. Spruchstätte, weil dort
Recht „gesprochen" wurde. Der Fürst weihte die Versamm-
lung, er wachte über den Gerichtsfrieden, er „fand" oder
„schöpfte" das Urteil, das zum rechtskräftigen Beschluß wurde,
sobald die Gerichtsgenossen ihm zustimmten. Endlich vertrat
der Fürst noch bei vaterlosen, unmündigen Jünglingen seines
Gaues, die keine zur Vormundschaft berufenen Verwandten
hatten, in allen Rechtsangelegenheiten die Stelle des Vaters;
er schützte sie vor Unbill und reichte ihnen auch bei der Wehr-
haftmachung vor der Landesgemeinde den Speer und Schild.
Für alles das erhielt der Fürst keinen Sold. Aber seine
9. Aus dem öffentlichen Leben zu Friedenszeiten. 65
Gaugenossen zollten ihm nicht nur Liebe und Achtung, sondern
brachten auch jedes Jahr allerlei Gaben vom Ertrag ihrer
Herden oder Felder zum Geschenke dar, die so gern an-
genommen wie geboten wurden.
Geschriebene Gesetze gab es bei den Deutschen vor dem
sechsten Jahrhundert nicht. Aber trotzdem kannte ein jeder
ganz genau die uralten Satzungen, die für Recht galten, und
hielt sie mit treuem Gedächtnis fest. Denn sie waren in einer
volkstümlichen, kräftigen, allgemein verständlichen Ausdrucks-
weise abgesaßt. Aus dem Volke selbst hervorgegangen barg
das alte deutsche Recht ebensoivohl eine Fülle von
frischer Poesie in sich wie der alte Götterglaube oder das
Volkslied.
Man unterschied im germanischen Strafrecht zwischen
todeswürdigen Verbrechen und sühnbaren Freveln. Jene, dw
sämtlich mit dem Tode bestraft wurden, hießen auch Mein-
thaten d. h. falsche Thaten. Dazu gehörten alle Verbrechen,
die eine gottlose Gesinnung verrieten, also Schändung eines
Heiligtums, Verhöhnung einer Gottheit, Störung des Thing-
friedens, Bruch eines feierlichen Gelöbnisses, oder solche, die das
Gemeinwesen gefährdeten, wie Landesverrat, Brandstiftung, Räu-
berei im eignen Lande; oder endlich Frevel, die aus ehrloser, ver-
ächtlicher Sinnesart hervorgehen, wie feiger Mord, schändliche
Unzucht, gemeiner Diebstahl, feige Flucht. Der Tempelschänder
wurde ertränkt, der Feigling wie der Unzüchtige in einen Sumpf
versenkt, dem arglistigen Mörder wurde das Rückgrat zer
Krochen; den Landesverräter und den gemeinen Dieb knüpfte
man auf. Alle anderen Missethaten waren sühnbare Frevel,
selbst der ohne niedrige Tücke verübte Totschlag. Die Par-
teien konnten sich versöhnen, ohne daß das Gericht sich ein-
mischte. Weigerte der Schuldige das geforderte Wergeld, so
konnte der Verletzte oder dessen Sippe vor dem Gericht die
Klage erheben. Es konnte aber auch, wenn es sich um Tö-
tung handelte, zur Fehde geschritten werden, falls nicht der
Totschläger derselben Sippe wie der Getötete angehörte. Die
Verwandten nämlich hatten das Recht, ja oft sogar die Pflicht,
Blutrache zu nehmen d. h. den Tod ihres Verwandten zu
Klee, Die alten Deutschen. 5
66 9. Aus dem öffentlichen Leben zu Friedenszeiten.
rächen, und dabei durften sie sich nicht nur an den Mörder,
sondern auch an dessen Verwandten vergreifen. Die Fehde
mußte übrigens ehrlich sein, d. h. sie mußte feierlich vor
Zeugen dem Schuldigen angekündigt und ohne Hinterlist ge-
führt werden. Auch genoß der Befehdete alle Rechte eines
freien Mannes weiter; sein Hausfriede mußte gewahrt werden,
gewisse heilige Stätten boten auch ihm eine von allen an-
erkannte Zuflucht. In den meisten Fällen kam schließlich eine
Versöhnung der Sippen zustande, die beschworen und heilig
gehalten wurde.
Wer weder Fehde annahm, noch die verlangte Buße zahlte,
noch sich dem Gericht stellte, der wurde friedlos und geächtet.
Er hieß Wolfesgenoß, weil er wie ein schädliches wildes Tier
von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen war, das Auge
der Menschen stiehen mußte und wie ein Wild des Waldes
getötet werden durfte. Jede Unterstützung des Friedlosen,
etwa Gewährung von Obdach oder Nahrung, war untersagt;
aber heimliche Ermordung galt auch ihm gegenüber als Mein-
that. Die Tötung mußte offen, nicht hinterrücks vorgenommen,
auch alsbald dem Gerichte angezeigt werden.
Kam es nicht zur Fehde, so begann das Verfahren vor
dem Gaugericht. Wer eine widerrechtliche Handlung begangen
hatte, der wurde durch den Kläger, nicht durch den Richter,
gemahnt oder vorgeladen. Die Malstätte war von einer
niedrigen Einfriedigung, den Schranken umgeben, die einen
weiten Kreis oder Ring bildeten. In dem Ringe saß auf
erhöhtem Sitze der Fürst als Richter, zu seinen Seiten auf
Bänken die Ratmannen, freie Männer des Gaues. Schild
und Schwert wurden an der Gerichtsstatt aufgehängt. Die
Klage trug der Kläger selbst vor, wobei er sich uralter, streng
vorgeschriebener Wendungen und Worte bediente, wie denn
überhaupt alles Sprechen und Verhalten vor Gericht an genau
abgemessene feierliche Bräuche und Ausdrücke gebunden war.
Oft bewegte sich die Sprache wie in einem Gedichte in der
altheiligen Form des Stabreims. Dieser bestand darin, daß
gewisse bedeutsame Worte in einem Verse mit denselben Kon-
sonanten oder mit Vokalen anfingen. Einzelne dieser alter-
10. Aus dem germanischen Kriegsleben. 67
tümlichen Formeln, die den Stabreim zeigen, haben sich noch
erhalten, wie z. B. Erb' und Eigen, frank und frei, Haut
und Haar, hoch und heilig, Leib und Leben, Schutz und
Schirm, Wunsch und Wille u. f. w. Auf die Klage ant-
wortete der Verklagte. Dann bat der Kläger das Gericht,
den Urteilsspruch zu fällen. Es war die Sache des Richters,
das Urteil zu finden oder zu schöpfen; bei schwierigeren Fällen
beriet er sich zuvor mit den weisesten unter den Ratmannen.
Der Richter schlug darauf das Urteil vor, und die Rat-
mannen stimmten darüber ab. Sprach sich die Stimmen-
mehrheit für den Spruch aus, so galt dieser für rechtskräftig
d. h. das Urteil konnte nun sofort vollzogen werden, außer
wenn der Verklagte sich erbot, seine Unschuld bis zu einer
vom Richter bestimmten Frist zu beweisen. Er konnte dies
thun, indem er Zeugen beibrachte, oder, wenn solche fehlten,
indem er den Reinigungseid leistete; denn man glaubte fest
an die Wahrhaftigkeit jedes unbescholtenen Mannes. Aber
er mußte Eideshelfer stellen d. h. redliche Männer, welche
beschworen, daß sie den Verklagten keines falschen Eides für
fähig hielten. Wenn nun aber auch der Kläger sich zum Eid
erbot und Eideshelfer stellte, so daß Eid gegen Eid stand, so
konnte der Kläger ebenso wohl wie der Verklagte das Gottes-
urteil anrufen. Es wurde dann entweder das Los unter
feierlichen Gebeten geworfen, oder der Kläger und der Ver-
klagte begannen den Zweikampf mit den Waffen. Der Ge-
rechtigkeit des Gottesurteils glaubte man unbedingt, der Ent-
scheidung desselben unterwarf sich jeder; denn über allem Ver-
trauen auf Menschen stand das Vertrauen auf die Wahr-
haftigkeit der Götter.
10. Aus dem germanischen Kriegsleben.
Hatte der freie deutsche Jüngling die Waffenweihe er-
halten, so schaute er sich, wenn er keinen eignen Hausstand
begründen wollte oder konnte, nach einem angesehenen Manne
von ausgezeichneter Tapferkeit, in der Regel einem Fürsten,
um, den er sich zum Herrn erwählen und in dessen Gefolge
5*
68 10. Aus dem germanischen Kriegsleben.
er eintreten möchte. Freiwillig lud er die Pflicht aus sich,
diesem Herrn sich zu allen Diensten, die eines freien Mannes
würdig waren, hinzugeben. Ein feierlicher Vertrag wurde
vor der versammelten Landesgemeinde abgeschlossen, wobei der
Mann durch Handschlag den Treueid leistete, der Herr dem
Manne Speer und Schild darreichte. Von diesem Tage an
folgte er seinem Herrn und saß unter den übrigen Mannen
in der großen Halle des Herrn, der nun sein „Wirt" war;
denn diesem lag die Sorge ob für Lebensunterhalt und Aus-
rüstung seiner Bankgenossen. Er als der „Alte" spendete
seinen „Degen" d. h. Knaben, Speise und Trank, Obdach
und Kleidung, und beschenkte sie für treue Dienste mit
Waffen, Rossen und Armringen. Im Frieden bildeten sie
sein stattliches Geleite zum Thing und zur Jagd und auf
Reisen zu befreundeten edlen Herren. Auch als vertraute
Boten, als Herolde, Sänger, Truchsessen oder Rossebändiger
versahen sie wichtige Dienste. Aber sie zehrten dafür auch
von des Wirtes Gut, zechten mit ihm von seinem Met und
Bier und lärmten bei seinen Gelagen. Brach Krieg oder
Fehde aus, so zogen dieselben Bankgenossen mit dem Wirte
auf ihren flinken Rossen in den Kampf. Sie waren seine
Leibwache, sein Heergesinde, das einzig darauf bedacht war,
den Herrn zu schirnien im wilden Handgemenge und es ihm
gleichzuthun an Heldenmut und gewaltigen Thaten. Nicht ohne
den Herrn durften sie aus dem Felde heimkehren. Fiel er
von Feindes Hand, so suchten die Mannen seinen Tod zu
rächen, und eine hohe Ehre und ein erwünschtes Los war es,
in solchem Rachekampf selber das Leben zu lassen. Mit
großem Geleite ritt dann, nach dem Glauben aller, der Herr
zu Walhalls Thoren ein. Geriet aber der Wirt in die
Gewalt der Feinde, so folgten ihm auch seine Degen, wenn
sie ihn nicht befreien konnten, in die Gefangenschaft. Wer
seinen Herrn im Streite verließ oder ohne ihn heimkehrte,
der war ehrlos und schmachbedeckt für das ganze Leben und
endete meist mit eigner Hand sein schimpfliches Dasein.
Ruhm und Beute kam nicht den Gefolgsmannen, sondern
dem Herrn zu gut. Aber dieser hatte die Pflicht, Dank und
10. Aus dem germanischen Kriegsleben. 69
Lohn zu spenden, mit warmen Worten Treue und Tapferkeit
zu Preisen und Beutestücke mit vollen Händen unter die Ge-
treuen nach Würdigkeit zu verteilen. Waren sie heimgekehrt
aus siegreichem Kampfe, so begann wieder jenes festliche Leben
in der Halle des Herrn und währte in der Regel, bis
ein neuer Streit ausbrach oder dem „Alten" die Norne
den Schicksalsfaden durchschnitt. Dann bestatteten sie den
lieben Gebieter, legten ihm leuchtenden Schmuck in den Hügel,
sangen von seinen Heldenwerken und rühmten seine Güte und
Freundlichkeit.
In langen Friedenszeiten schwanden manchem Herrn die
Mittel, ein großes Gefolge zu ernähren. Da war es denn
für ihn wie für die Mannen ein Glück, daß ihr gegenseitiges
Verhältnis nicht unlösbar war. Stets trennte man sich in
gütlichem Einvernehmen; ohne Genehmigung des Wirts durfte
kein Degen das Gefolge verlassen. Oft mag einen jungen
Helden die Liebe zu einem Weibe bewogen haben, das
unsichere Leben am fremden Herde mit einem schöneren Da-
sein auf eigner Hofstätte zu vertauschen. Mancher aber suchte
einen andern Herrn und zog, wenn er in der Heimat keinen
fand, aus dem Lande zu einem andern Stamm, wo es gerade
Krieg gab, um dort von neuem als Degen zu dienen. Wohin
die kühnen Gesellen kamen, überall, selbst unter fremden Nationen,
faßten sie das Verhältnis zum Herrn im Sinne der heimischen
Sitte auf, und mancher ausländische Herrscher lernte die uner-
schütterliche Treue der tapfern Recken mit dem Riesenwuchs, dem
wallenden rötlichen Haar, den blitzenden Augen und nervigen
Fäusten schätzen und suchte ihrem stolzen Gefühle wohl zu
thun, indem er sich ihrer Sitte anbequemte. Und wie in der
Halle des Herrn, im Kaiserpalaste zu Rom, so gab es auch im
blutigen Schlachtgewühl keine treueren und kühneren Gesellen
als die im römischen Heere dienenden Germanen, die besonders
als Reiter — alle Gefolgsmannen waren beritten — das
Beste thaten.
Von den großen Volksheeren der Deutschen bildeten
die Gefolgsschasten der Edlen immer nur einen kleinen Teil.
Weil jeder Freie, sobald er die Wasfenweihe empfangen hatte,
70 10. Aus dem germanischen Kriegsleben.
zum Kriegsdienst berechtigt und verpflichtet war, so war das
Heer nichts andres als das ganze Volk in Waffen, natürlich
nur der männliche und freie Teil desselben, und daher be-
deutet das Wort „Volk" ursprünglich nichts andres als Heer.
Leibeigne und Hörige zählten im Staate nicht mit und waren
deshalb auch von der Heeresfolge ausgeschlossen. Weiber und
Kinder aber blieben oft genug in unmittelbarer Nähe der
Kämpfenden. Ihr Zuruf, ihr Jauchzen und Wehgeschrei
spornte die Helden zu übermenschlichen Thaten. Brachten die
hochherzigen Frauen ihnen doch sogar mitten ins Schlacht-
gewühl, wenn es not that, Speise und ermunternden Zuspruch.
Krieg konnte gewöhnlich nur aus dem großen Volksthing
beschlossen werden. Wenn es aber galt, das Land vor einem
unerwarteten Angriff zu schützen, so eilten schnelle Boten aus
der zunächst bedrohten Gegend von Gau zu Gau, unl die
Gefahr zu melden und die Wehrhaften zu den Waffen zu
rufen. Dann wurden die Dörfer und Höfe verlassen, die
Feldfrüchte soviel als möglich in die Tunge versteckt; Kinder,
Weiber und die meist bewegliche Habe in den Wäldern ver-
borgen, die durch Verhaue noch unwegsamer gemacht wurden.
Alle Waffenfähigen aber sammelten sich schleunigst unter ihren
Gaufürsten an bestimmten Orten, um von da aus gegen den
Feind zu ziehen. War die Gefahr nicht so dringend, so
wartete man gern die heiligen Zeiten des vollen oder neuen
Mondes ab, die für alle Kriegsuuternehmungen als besonders
günstig galten.
Unter den Augen der Schlachtgötter zog man wie zu
einem Feste in den Kampf. Heilige Zeichen, meist Tierbilder,
wurden an Stangen dem Heereszug vorangetragen. Es er-
klangen die grausen Töne der Stierhörner und Drommeten,
vor allem aber der feierliche, wilde Schlachtgesang, den man
Barditus d. h. Bartgesang nannte, wobei die Schilde vor
den Mund gehalten und gewaltige Töne hineingesungen wur-
den. Offenbar waren es Lieder, in denen die kriegerischen
Götter gepriesen und um ihren Beistand angefleht wurden.
Hoch oben über dem Gewoge des Kampfes sah der begeisterte
Blick des Kriegers die Walküren reiten, die gewappneten, Herr-
10. Aus dem germanischen Kriegsleben. 71
lichen Jungfrauen, die im Auftrag des höchsten Gottes die
Streitenden musterten und ihre kühnen Thaten sich merkten.
Wer fiel, dessen Seele wurde von einer der Jungfrauen aufs
Roß gehoben und durch die Lüfte zu Wodans Saale getragen.
Aber auch auf Erden blieb ihm sein Lohn: das Volk, seine
Kinder und Enkel, sangen von ihm in preisenden Liedern. Auch
bei den Fürsten galten herrliche Waffenthaten, Kraft und
Heldenmut mehr als die kalt berechnende Kunst des Feldherrn,
was freilich für den Ausgang der Schlacht nicht immer günstig
war. Denn indem der deutsche Feldberr, der Herzog, stets
im heißesten Getümmel focht, verlor er viel leichter den freien
Überblick über den Gang des Kampfes als z. B. der römische
Imperator, der alles ruhig überschaute und die Bewegungen
seines Heeres kühlen Herzens lenkte.
Das Heer war nach Gauen gegliedert und innerhalb der-
selben nach Sippen oder Geschlechtern. So kämpften Väter
und Söhne, Brüder und Vettern Schulter an Schulter, und
solche Nähe wurde zugleich ein neuer Sporn zur höchsten
Tapferkeit. Jeder Gau stand unter der besondern Führung
seines Fürsten, der zunächst von seinem berittnen Gefolge um-
geben war; aber das Fußvolk bildete den Kern des ganzen
Heeres. Seine dicht gescharten Haufen waren in Form eines
abgestumpften Keils, des sogenannten Eberkopfes, gegen den
Feind aufgestellt. Außerdem stellte jeder Gau fünfzig aus-
gezeichnete Reiter und ebenso viele besonders tüchtige Fußstreiter
für das Vortreffen. Diese „Hunderte", wie sie hießen, bil-
deten eine auserlesene Schar von eigentümlicher Aufstellung.
Es stand nämlich neben jedem Reiter ein Fußgänger, und so
zogen sie, ehe die eigentliche Schlacht begann, untermischt in
den Kampf. Während des Getümmels traten die Fußstreiter
etwas zurück. Wo es aber besonders scharf herging, eilten sie zu
Hülfe. Wenn ein Reiter schwerverwundet vom Rosse sank,
stellten sie sich um ihn und retteten ihn aus dem Gewühl.
Oft flohen die Hunderte zum Schein, um sogleich umzukehren
und den überraschten Feind zurückzuschlagen. Bei raschem
Vorrücken oder eiligem Rückzug hielten sich die Fußgänger an
72 10. Aus dem germanischen Kriegsleben.
den Mähnen der Rosse fest und liefen so, halb fliegend,
neben her.
Der Schlachtkeil und überhaupt die ganze germanische
Kriegskunst mar auf den Erfolg des ersten wuchtigen Angriffs
berechnet. Wie ein Bergstrom brauste die eng gescharte Masse
der halbnackten Helden her und durchbrach fast immer die beiden
ersten Treffen oder Reihen der dreifachen römischen Schlacht-
ordnung. Anfangs unterlagen alle römischen Heere. Gelang es
aber einem schlauen Feldherrn die Deutschen vor der dritten
Schlachtreihe eine Weile aufzuhalten, durch eine rasche Schwen-
kung von der Seite her zu überflügeln und in die Mitte zu
nehmen, so wurde den tapfern Helden ihre Todesverachtung
und ihr ungestümer Schlachtenmut selbst zum Verderben.
Denn dann konnten sie ihre großen und schwerfälligen Waffen
im Gedränge nicht anwenden, ja sich nicht rühren, und fielen zu
Tausenden unter den kurzen Schwerten der weitläufiger auf-
gestellten und mit handlichen Waffen und trefflichen Rüstungen
versehenen Römer. Eine andre Angriffsart als diese, die
eigentlich nur beim großen Massenkampf in Feindesland an-
gewendet werden konnte, war die beim Verteidigungskrieg im
eignen Lande übliche. Hier löste sich nämlich oft das ganze
Heer in eine Anzahl getrennter Abteilungen auf, die den
Feind von allen Seiten umschwärmten, ihn von Verstecken
und Waldschluchten aus überfielen, durch fortgesetzte Angriffe
ermüdeten und zuletzt im Handgemenge zu vernichten suchten.
Durch diese Kampfesweise, die der große Held Armin aus-
gebildet hat, haben die Deutschen den Römern die schwersten
Niederlagen beigebracht und ihre eigne Selbständigkeit gerettet.
Es war auch die einzige Art, wodurch die ungeheuren Vor-
teile ausgeglichen werden konnten, welche die Römer durch
bessre Bewaffnung, strenge Kriegszucht, einheitlichen Ober-
befehl und militärische Schulung vor den Deutschen voraus
hatten.
Nachdem wir so ein anschauliches Bild vom häuslichen
und öffentlichen Leben unsrer Ahnen in Krieg und Frieden
zu geben versucht haben, wollen wir die hervorragendsten Er-
11. Die Kimbern und Teutonen.
73
eignisse aus ihrer an Ruhm und Leiden, an Glück und noch
mehr an Unglück überreichen ältesten Geschichte unfern Lesern
erzählen.
11. Die Kimbern und Teutonen.
Auf der Halbinsel, welche Nord- und Ostsee trennt und
jetzt Jütland genannt wird, hauste seit uralter Zeit der deutsche
Volksstamm der Kimbern d. h. der Kämpfer. Das flache
Land hat meist sandigen Boden und vermag auch heutzutage
nur eine spärliche Bevölkerung zu ernähren. Um wie viel
mehr muß dies in den alten Zeiten der Fall gewesen sein,
als man noch nicht verstand durch Düngung die Fruchtbarkeit
des Bodens zu erhöhen und als den allergrößten Teil des Bo-
dens Urwald und Sümpfe bedeckten. Oft mochte sich schon
Mangel, ja Hungersnot eingestellt haben, da kam endlich noch
ein furchtbares Naturereignis hinzu: eine ungeheure Springflut
riß große Stücke des flachen Landes an der Westküste, gerade
der fruchtbarsten Gegend, hinweg. Die Erde, die der rasch
anwachsenden Volksmenge nur kümmerlich Nahrung geboten
hatte, schien nun gar im Meeresschoß versinken zu sollen. Es
ging aber unter den Leuten dunkle Kunde von schöneren Landen
im Süden, wo es sich wärmer und sicherer wohnte. Und so
beschloß man der grimmigen Naturgewalt zu weichen und eine
neue Heimat zu suchen.
Nur ein kleiner Teil des Kimbernvolkes blieb als spär-
licher Rest des stattlichen Stammes im alten Vaterlande.
Die Hauptmasse brach etwa ums Jahr 120 vor Christi Ge-
burt nach Süden auf. Eine gewaltige Schar. Von kühnen
Hoffnungen erfüllt zogen sie, Männer, Frauen und Kinder,
Greise und Knechte, mit ihren Herden und andrer beweglichen
Habe in langem, schwerfälligem Zuge fort. Fürsten und
andre Vornehme ritten als Führer auf Rossen voran, die
meisten Männer gingen zu Fuß, mit Speer und Schild be-
waffnet. Frauen und Kinder saßen meist auf großen Wagen
mit Zeltdächern, von Rindern gezogen; andre wandelten wie
die Knechte und Mägde rüstig als Hüter des Viehes dahin.
74
11. Die Kimbern und Teutonen.
Bewaffnete Männer schlossen als Nachhut die schier endlose Schar.
Keine gebahnten Wege lagen vor ihnen, darum stockte der Zug
ofr. Abends wurden die Wagen zum Ringe zusammen-
geschoben. Hinter der Wagenburg schlummerten die Müden
ruhig; denn treue Wächter und riesige Hunde beschützten die
Schläfer. Bei Regen und in der rauhen Jahreszeit konnte
man gar nicht wandern: dann erbat oder erzwang man sich
die Gastfreundschaft des Volkes, durch dessen Land man eben
zog. In Schleswig-Holstein hatte sich den Wanderern so-
gleich ein zweites Volk angeschlossen, die den Kimbern benach-
barten Teutonen, die wahrscheinlich ein gleiches Los ge-
troffen hatte. Dadurch stieg die Anzahl der Völkermasse
aus etwa eine halbe Million.
Land zu finden, wo es auch sei, wenn es nur zur Er-
nährung hinreichte, das war das allgemeine Sehnen dieser
gewaltigen Schar. Aber es war schwer zu befriedigen. Denn
wo die Wandrer hinkamen, da fanden sie bereits bewohnte
Gegenden. Sie baten dann um friedlichen Durchzug oder,
wenn der Winter bevorstand, um Gastfreundschaft. Fanden
sie gütliches Entgegenkommen, so boten sie dafür das. was
sie zu bieten hatten: Waffenhülse gegen alle Feinde. Wurde
diese angenommen, so mag sich wohl der Aufenthalt auf Jahres-
frist oder noch länger ausgedehnt haben. Zuletzt aber nötigte
doch immer wieder der Mangel an Lebensunterhalt zum
Weiterwandern. Jahr auf Jahr verging, ohne daß die Ob-
dachlosen ihre Hoffnung erfüllt gesehen hätten. Endlich er-
reichten sie die Donau, etwa in der Gegend des heutigen Preß-
burg; von hier wandten sie sich südwestlich und gerieten in das
Alpenland, das von einem keltischen Volke, den Tauriskern,
bewohnt war. Diese ließen die starken Germanen wohl oder-
übel durch ihr Land ziehen, doch von andrer Seite wurde ein
Halt geboten. Es war im Jahre 113 vor Christus, als die
ungeheure Völkerwoge sich den krainischen Alpenpässen näherte,
die den Weg nach Italien öffnen. Hier stand aber der rö-
mische Konsul Papirius Carbo, der aus die Kunde vom
Anrücken jener mit einem starken Heere herbeigeeilt war, um
den Heimatlosen den Eintritt zu wehren. Ja, er verbot
11. Die Kimbern und Teutonen.
75
ihnen sogar länger im Gebiete der Taurisker zu verweilen,
angeblich weil diese Freunde der Römer seien. Die treu-
herzigen Deutschen wollten nicht gewaltsam vorschreiten; sie
scheuten sich den Zorn ihrer Götter durch Verletzung des
Gastrechtes auf sich zu laden. Und da sie des Konsuls Vor-
wände in ihrem schlichten Rechtsgefühl für Wahrheit hielten
und unwissentlich ein Unrecht begangen zu haben glaubten, so
entschuldigten sie sich durch Gesandte, sie hätten nicht gewußt,
daß die Taurisker den Römern befreundet seien. Daraus
kehrte die ganze Volksmasse um und war dem Konsul noch
dankbar dafür, daß er Führer milgab, welche die Wegun-
kundigen nach der Grenze des Tauriskergebiets geleiten sollten.
Aber hinter der scheinbaren Freundlichkeit des Römers
steckte der schändlichste Verrat. Denn Carbo hatte den Weg-
weisern insgeheim besohlen, die Arglosen auf einem weiten Um-
weg in einen Hinterhalt zu locken, wo er selbst mit seinem
ganzen Heere ihnen auflauerte. Bei Roreja, in der Ge-
gend des heutigen Klagenfurt in Kärnten, übersiel er die
Deutschen, die sich keines Angriffes versahen. Aber wider
Erwarten schnell ordneten sich diese zur Schlacht und kämpften
nun mit einer gerechten Erbitterung, die den Verrätern zum
Verderben wurde. Ja, Carbo wäre mit seinem ganzen Heere
vernichtet worden, hätte nicht ein heftiges Ungewitter die
Streitenden getrennt; denn wenn die Himmlischen sprachen,
dann ziemte es sich nach deutschem Glauben, allen Kampf ab-
zubrechen. Dies rettete das römische Heer vor gänzlichem
Untergang. In schmachvoller Flucht suchten die wenigen Über-
lebenden in den umliegenden Wäldern Schutz und fanden sich
erst nach einigen Tagen allmählich wieder zusammen. So
hatten die Römer schon beim ersten Zusammentreffen mit
Germanen die furchtbare Kraft deutschen Heldentums erfahren,
und die Germanen die römische Tücke und Treulosigkeit, die
sie in der Folgezeit noch unzählige Male an sich erfahren
sollten.
Die Alpenpässe lagen unbeschützt vor den Siegern. Wären
diese setzt rasch in das Mutterland des römischen Reiches,
nach Italien vorgedrungen, vielleicht wäre es ihnen gelungen,
76
11. Die Kimbern und Teutonen.
in einem Ansturm die gänzlich unvorbereiteten Feinde zu
zerschmettern und ihr großartiges Staatsgebäude umzustürzen.
Aber die wunderlichen Menschen dachten nicht an Rache und
Eroberung, sondern wandten sich — wir wissen nicht warum —
weg von der italienischen Grenze und zogen nach Westen weiter.
Mehrere Jahre verweilten sie erst bei den keltischen Helvetiern,
die damals im heutigen Schwaben wohnten; erst vier Jahre
nach der Niederlage des Carbo tauchen sie wieder unfern der
römischen Reichsgrenze in Gallien aus. Sie standen an der
Mark der Allöbroger, eines keltischen Volkes, das zwischen der
Rhone und den penninischen Alpen von der Jssre bis zum
Genfersee wohnte. Hier aber traten ihnen zum zweiten Male
die Römer entgegen. Die Allobroger waren ebenfalls Freunde
des römischen Volks und, was die Hauptsache war, wenn ihr
Land den Germanen in die Hände geriet, so stand diesen der
Weg in die römische Provinz offen. Der Konsul Silanus
führte, um dies zu hindern, ein Heer an die Grenze. Wie-
derum bewiesen die Heimatlosen, daß es ihnen nicht um Er-
oberungskrieg zu thun war. Sie schickten Boten zum Konsul
und baten, ihnen Ackerland zur friedlichen Bebauung anzu-
weisen ; sie wollten dafür den Römern Kriegsdienste leisten.
Aber Silanus griff die Deutschen statt aller Antwort an
und — wurde völlig geschlagen. Sein Heer wurde nieder-
gehauen, sein Lager erobert, er selbst rettete sich nur durch
schmähliche Flucht.
Abermals stand den Germanen der Weg nach Italien
offen, abermals ließen sie die Gelegenheit unbenutzt. Ver-
wirrung und Angst herrschte in Rom; man glaubte, die
schrecklichen Feinde ständen schon auf italischem Boden. Die
aber warteten ruhig, bis ihre Gesandten zurückkehren würden,
die sie an den Senat geschickt hatten mit dem alten Anerbieten:
das römische Volk möge über ihre Streitkraft verfügen und
ihnen dafür eine zu ihrem Unterhalte hinreichende Strecke
Landes geben. Aber so bescheiden die Bitte der Sieger war
und so sehr sie für die Redlichkeit unsrer Vorfahren spricht,
die Römer konnten sie nicht erfüllen; denn sie besaßen kein
herrenloses Land mehr. Sie mußten also das Gesuch ab-
11. Die Kimbern und Teutonen.
77
weisen, was freilich ein verzweifeltes Wagestück war, da die
Grenze des Reiches schutzlos vor den drohenden Feinden lag.
Aber diese achteten, auch als sie sich abgewiesen sahen, noch
das Eigentum des großen, weitberühmten Bürgerstaates; sie
wendeten dem römischen Staate den Rücken und maßen die
Waffen mit keltischen Gegnern.
Die Römer brachten drei starke Heere auf, die sie an der
Rhone, an der gefährdetsten Stelle der Provinz, aufstellten.
Diese harrten, ob es den Germanen gefallen werde, wieder-
zukommen. Und sie kamen, wenn auch für diesmal nur die
Kimbern. Sie standen jetzt unter dem Oberbefehl eines jungen,
heldenhaften Königs mit Namen Bojorix. Vier Jahre
nach der Niederlage des Silanus traten sie am linken Rhone-
ufer plötzlich hervor. Eiligst ging der eine der drei römischen
Feldherrn Aurelius Scaurus mit seinem Heere über den
Strom, den Kimbern entgegen. Aber die erträumten Lorbeeren
pflückte er nicht, vielmehr wurde sein Heer gänzlich geschlagen
und er selbst gefangen genommen. Als man ihn vor den
König Bojorix führte, ließ er sich zu der übermütigen Äuße-
rung hinreißen, die Römer könnten nicht besiegt werden, und
fügte die Warnung hinzu, die Kimbern sollten sich ja nicht
nach Italien wagen. Nach den bisherigen Mißerfolgen der
Römer mußte dem König dies Wort als eine freche Prahlerei
erscheinen; erzürnt zog er sein Schwert und stieß den Schwätzer
nieder. Inzwischen hatten sich die beiden Hauptheere der
Römer unter dem hochmütigen Cäpio und dem ungebildeten
Mallius auf das linke Rhoneufer begeben und in der Nähe
von Arausio (jetzt Orange) ausgestellt. Da sandten die
Sieger zum drittenmal Friedensboten, und zwar an Cäpio,
mit der Bitte um Land und Saatkorn. Allein der auf-
geblasene Römer wies sie nicht nur ab, sondern behandelte
auch die Gesandten selbst so ungebührlich, daß diese kaum mit
dem Leben entrannen. Er sollte seine Roheit bald bereuen;
denn die Erbitterung der Kimbern stieg infolge der erfahrenen
Schmach so, daß sie nach heimischem Brauch ihr großes
Schlachtgelübde thaten, alles im feindlichen Heere den Göttern
zu opfern, wenn diese den Sieg verliehen. Zum Unglück für
78
11. Die Kimbern und Teutonen.
die Rönier herrschte zwischen Cäpio und Mallius die grimmigste
Feindschaft. Als nun Cäpio erfuhr, die Kimbern knüpften mit
Mallius Verhandlungen an, fürchtete er, dieser wolle den Ruhm
des Sieges für sich allein gewinnen. Von Eifersucht verblendet,
erösfnete er sofort mit seinem Heere allein den Kampf und warf
sich auf die Kimbern. Der Erfolg war schrecklich. Der sechste
Oktober des Jahres 105, an dem die Schlacht geschlagen wurde,
ist einer der größten Unglückstage, von denen die römische Ge-
schichte erzählt. Cäpios ganzes Heer wurde niedergehauen, sein
Lager von den Kimbern erstürmt. Und als Mallius herbei-
eilte, um zu Helsen, wurde auch er völlig geschlagen; auch
sein Lager ward erobert, auch sein Heer fast bis auf den
letzten Mann von den ergrimmten Deutschen niedergemetzelt.
Achtzigtausend römische Soldaten und vierzigtausend Knechte
sollen das Leben verloren haben, nur zehn Mann von zwei
stattlichen Heeren entkommen sein. Unter den Geflüchteten
waren auch Cäpio und Mallius; beide wurden in Rom wegen
Hochverrats verurteilt und in die Verbannung gejagt.
Furchtbar wurde Rom durch die Schreckensnachricht aus
seinen Träumen von römischer Unüberwindlichkeit gerüttelt.
Der kimbrische Schrecken wurde zum Sprichwort. Man ver-
nahm jetzt auch genauere Kunde über das Volk, das ein so
allgemeines Entsetzen hervorgerusen hatte, und was man hörte,
das erhöhte nur noch die allgemeine Furcht. Ein unheimlicher,
unfaßbarer Geist tobte in diesen Barbaren. Jauchzend, als
ging' es zu Fest und Tanz, stürzten sie sich nackt ins Schlacht-
gewühl; lachend starben sie. Furcht kannte keiner; ihr An-
sturm war unwiderstehlich. Gräßlich erscholl ihr heulender
Gesang, wenn sie zum Kampfe daherstoben. Weißhaarige
Frauen führten die Gefangenen zu einem ungeheuren Kessel,
drückten die Häupter der Unglücklichen über den Rand und
schnitten ihnen die Gurgeln ab, daß das Blut in den Kessel
strömte. Ja, diese schrecklichen Menschen schienen nicht einmal
Sinn für irdische Glücksgüter zu haben. Zwar verschmähten
sie es nicht, zu plündern und zu rauben; aber die Beute, so
erzählte man sich, behielten sie nicht für stch, um sich daran zu
ergötzen, sondern nach der Schlacht bei Arausio hatten sie alles
J
11. Die Kimbern und Teutonen. 79
erbeutete Gold und Silber in die Rhone versenkt, die schönen
Harnische, Helme und andre Waffenstücke der erschlagenen
Römer in Stücke zerhauen, die Rosse ersäuft, die Gefangenen
nicht zu Sklaven gemacht, sondern geschlachtet oder an Bäume
geknüpft. Die Römer wußten nicht, daß die Germanen
keineswegs immer so verfuhren, sondern daß sie nur auf diese
furchtbare Weise ihr den Göttern vor der Schlacht darge-
brachtes Gelübde erfüllt hatten, den Unsterblichen die gesamte
Beute zum Siegopfer zu weihen.
In all ihrer Not verließ doch das Glück die Römer
nicht. Die Sieger zogen nicht durch die offnen Thore Ita-
liens ein, sondern kehrten zum dritten Male den besiegten
Feinden den Rücken, um sich in langwierige Kämpfe mit kel-
tischen Völkerschaften einzulassen, dann die Pyrenäen zu über-
steigen, zwei Jahre lang gegen die starken Festungen der
dortigen Eiugebornen vergebens Sturm zu laufen und endlich
nach Gallien zurückzukehren, wo sie die westlichen Landschaften
am Ocean bis zur Seine heimsuchten. So gewann Rom
Frist, sich zu besinnen und neue Kraft für einen Entscheidungs-
kampf zu sammeln. Gajus Marius, der Tagelöhner-
sohn aus Arpinum im Sabinerlande, der sich in dem Kriege
gegen den afrikanischen König Jugurtha als ausgezeichneter
Feldherr bewährt hatte und zur höchsten Staatswürde, dem
Konsulat, emporgestiegen war, gab dem römischen Heerwesen
eine völlig neue Gestalt: er verlieb nämlich auch den besitzlosen
Bürgern das Recht der Vaterlandsverteidigung, er erneute Zucht
und Selbstvertrauen in den Legionen, er änderte zweckmäßig
die Aufstellung der römischen Schlachtordnung. Im Jahr
104 erschien Marius, zum zweiten Mal Konsul, an der Rhone
mit einem starken Heere, das er schon unterwegs durch stete
Anstrengungen und Märsche eingeübt hatte und das ihn wegen
seiner rücksichtslosen Gerechtigkeit, wegen seines Ruhmes und
seiner volkstümlich derben Manieren liebte und ehrte. Die
Germanen fand er nicht vor und nutzte die Zeit, um ein be-
festigtes Lager aufzuschlagen und die Truppen durch strenge
Manneszucht und fortwährende Kämpfe mit kleinen aufrühreri-
schen Keltenvölkern immer tüchtiger zu machen. Das Jahr
80
11. Die Kimbern und Teutonen.
und ebenso das folgende lief ab, und das Volk in Rom setzte es
durch, daß sein Liebling zum dritten und zum vierten Male
zum Konsul erwählt wurde.
Inzwischen hatten sich die Kimbern mit den Teutonen
vereinigt. Auch diese hatten sich unterdes einen gemeinsamen
König erkoren, den gewaltigen Recken Teutobod, der über
sechs nebeneinander gestellte Rosse hinwegspringen konnte. Zwei
helvetische Stämme, die Tiguriner und die Tügener schlossen
sich den germanischen Wandervölkern an. Nunmehr beschlossen
die Führer endlich den Zug nach Italien anzutreten, um sich
eine neue Heimat zu erzwingen. Doch schien es unmöglich,
die gewaltig angeschwollenen Menschenmassen auf einer Heer-
straße zu verpflegen, und so trennte man sich wieder. Die
Kimbern und Tiguriner sollten über den Rhein zurückgehen
und über die Mittelalpcn in Oberitalien eindringen, die Teu-
tonen dagegen im Verein mit den Tugenern und eineni an-
gesehnen kimbrischen Gau, den Ambronen, mehr südlich ziehen
und die Rhone aufsuchen, um durch die römische Provinz (die
Provence) die Westalpen und nach deren Übersteigung Italien
zu erreichen. So meinten die Wanderer das Römerland in
doppeltem Ansturm anzugreifen und nun mit Gewalt zu er-
zwingen, was sie durch gütliches Bitten nicht hatten erlangen
können.
Im Sommer des Jahres 102 erreichten die Teutonen
die Grenze der Provence und drangen auf dem östlichen
Rhoneufer vor. Da stießen sie auf das stark befestigte Lager
des Marius. Die Teutonen sahen sich gezwungen, halt zu
machen und ihre Wagenburg auszuschlagen. Dann forderten
sie die Römer zur Schlacht heraus. Aber Marius hielt seine
Soldaten zurück und ließ sie sich aus dem Lagerwalle die
Feinde ansehen, damit sie sich an den furchtbaren Anblick ge-
wöhnten. Drei Tage nacheinander liefen die Deutschen
Sturm; aber ihr wilder Mut zerschellte an den römischen Be-
festigungen. Nach schweren Verlusten sahen sie das Vergebliche
ihres Bemühens ein und beschlossen, verwegen genug, am
Lager vorüber den Weg nach Italien fortzusetzen. So brachen
sie mit ihrem ganzen Troß und aller Hñbe, mit Weibern,
11. Die Kimbern und Teutonen.
81
Kindern, Wagen und Herden auf und zogen langsam am
Lager des Marius vorbei. Sechs Tage soll dies in Anspruch
genommen haben. Viele sprangen aus dem Zuge heraus dicht
an den römischen Wall und fragten mit höhnischem Lachen
hinaus, ob die Römer nichts an ihre Weiber in Italien zu
bestellen hätten. Als der Zug endlich vorüber war, rückte
Marius langsam und vorsichtig nach. Die Teutonen schritten
an der Rhone hinab und erreichten die Gegend der römischen
Ortschaft Aquä Sextiä d. h. die Bäder des Sextius, jetzt
Aix in der Provence. Hier gedachte Marius sie zu fassen.
Er schlug sein Lager auf der Höhe eines Berges auf, während
die Feinde in der Ebene unten rasteten. Manche Soldaten
murrten, weil der gewählte Lagerplatz zwar sehr fest, aber
arm an Wasser war. Marius jevoch wies auf einen Bach
hin, der nahe an der Wagenburg der Teutonen floß, und
sprach: „Dort giebt es Trinkwasser für Blut zu kaufen."
Die Deutschen hatten unterdes die warmen Quellen ent-
deckt, die dort aus dem Boden sprudelten und schön in große,
weite Steinbecken gefaßt waren. Alsbald warfen viele die
Kleider ab, sprangen jubelnd in die schmeichelnde Flut und
ließen es sich an dem herrlichen Orte wohl sein. Nun gingen
die römischen Troßknechte scharenweise an den erwähnten Bach,
um sich selbst und ihren Tieren zu trinken zu verschaffen. Der
Vorsicht halber hatten sie sich mit Äxten, Hacken, Schwertern
und Lanzen bewaffnet, um einen feindlichen Angriff abwehren
zu können. Und wirklich kamen allmählich Germanen herbei
und banden mit ihnen an. Anfangs waren es nur wenige.
Aber als sich Waffenlärm und Geschrei erhob, strömten sie
in immer größren Mengen zusammen. Nun kamen auch
römische Soldaten den Ihrigen zu Hülfe gelaufen, und von
den Germanen eilten die besonders gefürchteten Ambronen zu
den Waffen. Erhitzt durch den genossenen südländischen Wein,
liefen sie doch nicht sinnlos umher, sondern die Waffen im
Takte zusammenschlagend, kamen die Verwegenen tanzend daher-
gesprungen, indem sie dabei wie einen Schlachtruf ihren eigenen
Namen: Ambronen! Ambronen! immer wieder ausriefcn.
Man ward handgemein. Doch die Ambronen waren gleich
Klee, Die alten Deutschen. ß
82
11. Die Kimbern und Teutonen.
anfangs im Nachteil; denn bei dem Überschreiten des starken
Baches gerieten sie in Unordnung. Zudem strömten immer
mehr Römer von dem Berge herab, so daß die Deutschen
zurückweichen mußten. In der Verwirrung drängten sie einer
den andern, viele wurden niedergehauen und füllten den Bach
mit ihren Leichnamen. Die Römer verfolgten sie bis an
die Wagenburg. Hier aber empfingen die Frauen sie mit
Schwertern und Beilen. Unter zornigem Geschrei warfen sie
sich mitten unter die Kämpfenden, rissen mit der bloßen Hand
den Römern die Schilde herunter und suchten ihnen die
Schwerter zu entwinden. Die schrecklichsten Wunden ertrugen
sie ohne einen Schmerzenslaut und starben ungebeugten Mutes.
Vor den deutschen Heldenweibern wichen die Römer und zogen
sich, da der Abend anbrach, in ihr Lager zurück. Aber sie
fanden keinen Schlummer, sondern verbrachten die Nacht in
Furcht und Grauen; denn vom Lager der Deutschen erscholl
wildes Geheul, vermischt mit Gesang, Drohungen und Weh-
rufen, so daß Berg und Thal widerhallte; sie beklagten und
bestatteten ihre Toten. Auch den folgenden Tag brachten sie
damit zu und bereiteten sich zu dem Kampfe vor, der ihr
letzter sein sollte.
Am dritten Morgen sandte Marius dreitausend Soldaten
in eine tiefe Waldschlucht, die sich oberhalb der germanischen
Wagenburg hinzog; dort sollten sie im Verborgenen lauern
und auf ein gegebenes Zeichen den Deutschen in den Rücken
fallen. Die Hauptmasse des Heeres ließ er nach einem
kräftigen Morgenimbiß innerhalb des Lagerwalles unter die
Waffen treten. Darauf sandte er seine Reiterei in die
Niederung hinab. Als dies die Teutonen sahen, stürmten sie
in ungezügelter Kampfbegier den Hügel in die Höhe, Marius
hatte seinen Mannschaften eingeschärft, daß sie ruhig abwarteten,
bis die Feinde in Wurfnähe wären; dann erst sollten sie ihre
schweren Wurfspieße abschleudern, darauf die Schwerter ge-
brauchen und mit dem Schilde die Feinde hinunterdrängen.
Denn er sah voraus, daß diese auf dem abschüssigen Boden
keinen festen Stand haben würden. Alles verlief, wie er
vorausgesehen hatte. Als die Römer sich auf die Empor-
11. Die Kimbern und Teutonen.
m
dringenden stürzten, wichen diese zurück und wurden in das
Thal gedrängt. Hier aber stand die Schlacht lange. Es war
ein furchtbar ernster, mörderischer Kampf. Unerschütterlich
hielten die trotzigen Helden stand, sobald sie den gleichen Boden
unter sich hatten. Doch immer heißer brannte die Mittags-
sonne auf die Söhne des kühlen Nordens, mancher Arm sank
ermattet herab, manchem Helden stockte der Atem in der Brust.
Da ertönte im Rücken der Deutschen lautes Siegesgeschrei.
Es war die Schar, die aus dem Waldversteck hervorbrach.
Immer dichter ward das Gedränge, in das die Helden sich
verstrickt sahen, immer gräßlicher die Verwirrung. Von zwei
Seiten zugleich angegriffen, löste sich ihre Schlachtordnung.
Sie suchten zu fliehen. Aber die Wenigen, die sich durch-
rangen , wurden, da sie des Landes völlig unkundig waren,
mit leichter Mühe eingeholt und teils getötet, teils gefangen.
Auch der riesige König Teutobod wurde im nahen Walde er-
griffen und von Marius für seinen Triumph in Rom auf-
gespart, bei dem er großes Aufsehen erregte; denn der gewaltige
Mann überragte noch die Siegeszeichen. Die Wagenburg der
Deutschen wurde von den heldenmütigen Weibern und den
wackeren Kindern lange mit verzweifelter Tapferkeit verteidigt.
Die meisten erlagen dem Schwert der Römer, viele Mütter
töteten erst ihre Kleinen und dann sich selbst. Die wenigen
Frauen, die man lebendig zu fangen vermochte, ließen den
Sieger bitten, sie zu Dienerinnen der jungfräulichen Göttin
Vesta zu machen. Als ihnen die Bitte unedel verweigert wurde,
erdrosselten sie sich alle in der folgenden Nacht.
So endete, wahrlich nicht rühmlos, ein deutscher Volks-
stamm. Etwa hunderttausend Mann waren in der Schlacht
umgekommen; der Weiber und Kinder, die den Heldentod
fanden, mögen wohl dreimal so viel gewesen sein. Mir den
Gebeinen der Gefallenen umfriedigten die Bürger von Massilia
ihre Weingärten; das Erdreich, wo das große Morden ge-
wütet hatte, war noch in viel späterer Zeit von den Leichen
wie gedüngt und erstaunlich fruchtbar.
Es war hohe Zeit gewesen, daß die Gefahr, die von
Nordwesten her Italien bedrohte, beseitigt ward; denn der
6*
84
11. Die Kimbern und Teutonen.
andre Teil der Wandervölker, die Kimbern, stand bereits
auf italischem Boden. Sie hatten die Mitte der Alpen im
Brenner Paß bequem überstiegen, waren von hier durch die
Thäler des Eisack und der Etsch gewandert und, in drei Züge
geteilt, nach Südtirol gelangt. Unterhalb Trient hatte sich
der Konsul Lutatius Catulus, ein trefflicher Mann, am
linken User der Etsch aufgestellt. Hier verlegte er die Über-
gänge durch starke Verschanzungen und schlug eine Brücke über
den reißenden Fluß, um sich für den Notfall den Rückzug zu
sichern. Als nun aber die endlosen Scharen der deutschen
Riesen aus dem Gebirge hereinbrachen, da erfaßte die Römer
von neuem der kimbrische Schrecken. Denn diese Leute zeigten
eine Kraft und Todesverachtung, gegen welche Menschenwaffen
ebenso wenig wie feindliche Naturgewalten etwas ausrichten zu
tonnen schienen. Die an Kälte gewöhnten Nordmänner ließen
sich ruhig die halbnackten Leiber beschneien; aus den eisbedeckten
Höhen setzten sie sich auf ihre Schilde und glitten lachend die
sähen Abhänge hinunter neben gähnenden Abgründen vorbei. Als
sie das römische Bollwerk und das Strombett untersucht hatten,
begannen sie wie Riesen der Vorwelt Bäume zu entwurzeln,
Felsstücke abzubrechen und alles in den Fluß zu werfen.
Krachend schmetterten die schweren Gegenstände wider die Pfeiler
der Brücke, daß der Bau wankte. Wie nun die Römer
vollends sahen, daß die Kimbern sich anschickten, einen Damm
in den Strom hineinzubauen, um sich einen Übergang zu
schaffen, und daß das Wasser schon über die Ufer trat, da
ergriff alle ein namenloses Entsetzen. Der wackre Feldherr
bemerkte, daß hier kein Halten mehr möglich sei. Damit die
Schmach der Flucht nun nicht das Vaterland, sondern nur
ihn treffe, befahl er seinem Adlerträger das Zeichen zum Auf-
bruch zu geben, indem er die Stange mit dem Adler aus der
Erde zog. Dann eilte er den ersten Flüchtlingen rasch voran
und ritt vor ihnen her. Es sollte scheinen, als hätten die
Soldaten nicht feige fliehend, sondern auf den Befehl des
Feldherrn den Rückzug angetreten. In dem Bollwerk jenseit
der Etsch war eine kleine römische Besatzung zurückgeblieben,
wackere Helden, die an der allgemeinen Bestürzung nicht teil-
11. Die Kimbern und Teutonen.
85
nahmen. Als die Kimbern die Schanze erstürmten, bezeigten
sie in edler Weise den braven Männern ihre hohe Achtung,
daß sie sich als beherzte Krieger bewährt hätten, und gewährten
ihnen freien Abzug.
Catulus, dem es kaum gelang, den größten Teil seines
Heeres wieder zusammen zu bringen, mußte sich auf das rechte
Ufer des Po zurückziehen. Alles Land nördlich von diesem
Strome war schutzlos und wurde nun von den cindringenden
Völkerwogen weit und breit überflutet. Dies geschah zur selben
Zeit, als Marius die Teutonen vernichtete, im Sommer des
Jahres 102. Die Früchte seines Sieges wären verloren ge-
wesen, wenn jetzt die Kimbern das eigentliche Italien ange-
griffen hätten. Allein sie thaten es nicht. Sie hatten ja
nun endlich, was sie fast zwei Jahrzehnte hindurch vergebens
gesucht hatten, Land zum Wohnen, und so schön und reich,
wie sie sichs nur wünschen konnten. Da nun der Winter
nicht mehr fern war, so blieben sie in dem Lande, um dort
den Winter hindurch zu rasten und, wenn es den Römern
gefiel, dauernd im Frieden zu Hausen. Wie wunderbar muß
dem heimatlosen Volke der Gedanke gewesen sein, nun ruhen
zu dürfen nach der langen, mühseligen Wanderung! Manche
fromme Gebete, Opfer und Gelübde mögen die Dankbaren
den Göttern dargebracht haben! Und wie herrlich lebte es sich
in der neuen Heimat! Da waren stattliche Häuser, warme
Bäder, Speise und Trank in Fülle. Die Einwohner mußten
einen Teil des Grundbesitzes abtreten, wurden aber sonst nicht
weiter behelligt. Die Gemeindeältesten, die Fürsten und der
König begannen ihre friedlichen Pstichten auszuüben. Alles
bereitete sich zu einem glücklichen, befriedigten Dasein. So
lebte dort in Welschland ein deutsches Volk einen kurzen, aber
schönen Traum. Wer weiß, ob nicht die Gottheit dies schnell
welkende Glück dem armen Volke mitleidig vergönnte, um
das furchtbar grausame Los, das ihm beschieden war, doch
ein wenig zu versüßen!
Unterdes hatte Marius zum fünften Male das Konsulat
übernommen und eilte nun mit den siegreichen Kämpfern von
Aquä Sextiä sogleich nach dem Po, um mit dem Heere des
86
11. Die Kimbern und Teutonen.
Eatulus zusammen die Übergänge über den Strom zu hüten.
Im Frühling des Jahres 10 t befahl er, den Po zu über-
schreiten. Unter Anführung des Marius und des Catulus
zogen die Römer gegen die Kimbern zu Felde. Mehrere
Monate verflossen, bis die feindlichen Heere sich trafen. Die
Kimbern hatten sich auf die Kunde vom Einfall der Römer
aufs neue, wie während der Wanderung, mit Weibern und
Kindern und aller beweglichen Habe zusammengeschart und
stießen, unweit der Mündung der Sesia in den Po, auf die
Feinde. Zunächst schickten sie Gesandte an Marius, um für
sich und ihre Brüder gütliche Überlassung des besetzten Landes
zu erbitten. Marius fragte, wen sie mit den Brüdern denn
meinten. Die Gesandten antworteten: die Teutonen. Da
erwiderte er mit grausamem Hohn: „Laßt diese Brüder aus
dem Spiel! Die haben ihr Land für alle Ewigkeit; dafür
haben wir gesorgt." Bestürzt und zweifelnd standen die Boten,
bis Marius etliche Fürsten der Teutonen in Ketten vorführen
ließ. Da wußten sie das Entsetzliche. Sie kehrten zurück
und meldeten dem Volk die Schreckenskunde. Sofort ritt
König Bojorix mit wenigen Begleitern bis dicht an den
römischen Lagerwall heran und verlangte den Feldherrn zu
sprechen. Marius trat vor. Da forderte ihn der König nach
germanischer Sitte auf, Tag und Ort der Schlacht zu be-
stimmen. Marius that ihm den Willen und bezeichnete als
Schlachttag den dritten Tag, es war der 30. Juli des Jahres
101 vor Christus, und zur Walstatt die Ebene bei Ver-
cellä, die das raudische Gefilde genannt wurde.
Dort trafen die Heere zur bestimncken Zeit aufeinander.
Das Fußvolk der Kimbern ordnete sich langsam zu einem un-
geheuren, dicht gedrängten Schlachtkeil. Die Reiter aber
sprengten stattlich vor. Die tapfern Männer sollten einen
jähen Untergang finden. Denn bei dem unermeßlichen Staub,
der sich über die Gegend erhob, wurde die kimbrische Reiterei
ganz unerwartet in ein Handgemenge mit der weit überlegenen
römischen verwickelt und von dieser auf das Fußvolk, das sich
eben erst zum Kampfe ordnete, zurückgeworfen. Dieses geriet
dadurch in eine unbeschreibliche Verwirrung. Dennoch hielten
11. Die Kimbern und Teutonen.
87
die Helden stand, bis auch sie der südlichen Sonnenhitze er-
lagen. Denn die glühende Julisonne war heraufgestiegen und
stand jetzt klar und versengend den Kimbern gerade gegenüber
am Himmel. Da erlagen die nordischen Riesen der Glut und
dem Staube. Ihre Kehlen verschmachteten, ihr Atem ward
kurz, der Schweiß strömte ihnen vom Leibe. Zum Schutz
gegen die Sonnenstrahlen hielten sie sich die Schilde vor das
Antlitz und machten sich so wehrlos gegen die Schwerter der
Feinde. Die Krieger der vordersten Schlachtreihe hatten sich
mit langen Ketten an den Gürteln zusammengebunden,
um nicht auseinander gesprengt zu werden. Eine unglück-
selige Maßregel; denn wenn einer in der Reihe fiel, so riß
er seine Nebenmänner mit sich zu Boden, und viele wurden
kampfunfähig.
So wurde der größte und beste Teil der deutschen Streiter
auf dem Schlachtfelde niedergehauen. Als aber die Sieger
denen, die sich zur Flucht wandten, bis an die Wagenburg
folgten, da boten sich ihren Augen tieferschütternde Auftritte
dar, bei denen selbst die kalten Römer nicht unbewegt blieben.
In schwarzen Gewändern standen die kimbrischen Frauen aus den
Wagen und töteten die herankommendeu Flüchtlinge, ihre eignen
Männer, Brüder oder Väter. Ihre unmündigen Kinder erwürgten
diese Heldinnen mit eignen Händen oder schleuderten sie unter die
Räder der Wagen und die Hufe der Zugtiere, damit sie nicht
in die römische Knechtschaft fielen; dann gaben sie sich selber
den Tod. Die Männer aber banden sich mit den Hälsen an
die Hörner der Stiere oder stachelten diese bis zur Raserei
und warfen sich dann unter die Hufe der wütend dahin-
stürmenden Tiere. So wurden sie zu Tode gewürgt, geschleift
oder zertreten. Trotz alledem wurden von den Römern über
60000 Gefangene gemacht; doppelt so viele sollen umgekommen
sein. Unter den Toten befand sich außer vielen andern edlen
Fürsten der löwenkühne König Bojorip, der in der Schlacht
gefallen war. Als alle Menschen schon tot oder gefangen
waren, verteidigten noch die riesigen Hunde der Kimbern wütend
die Wagen ihrer lieben Herren, bis auch die treuen Tiere den
römischen Schwertern erlagen.
88
12. Cäsars Kampf mit Ariovist.
Von der ganzen gewaltigen Masse der heimatlosen Völker,
die zwölf Jahre hindurch die Welt in Schrecken gesetzt und
so lange vergebens nach Land gesucht hatten, waren nur noch
elende Reste übrig, die im Sklavenjoch römischer Herren seufzten;
bei weitem die meisten hatten in der That nun für ewig das
Land gefunden. Das Heldenvolk der Kimbern mit seinen
stolzen Frauen und mutigen Kindern ruhte, ebenso wie seine
teutonischen Brüder, fern von der deutschen Heimat in fremder
Erde.
12. Cäsars Kampf mit Ariovist.
Es war das erste, aber leider nicht das letzte Mal gewesen,
daß sich Ströme deutschen Heldenblutes fruchtlos auf auslän-
dischen Boden ergossen. Nach dem Untergang der Kimbern
vergingen dreiundvierzig Jahre, bis römische und deutsche
Waffen wieder zusammenschlugen. Während dieser Zeit regte
es sich unter den Völkern im Norden der Alpen mächtig. Die
deutsche Welt dehnte ihre beengten Glieder gewaltsam nach
Westen und Süden ans. Überall mußten die Kelten weichen.
Die Germanen entrissen ihnen das ganze rechte Rheinufer bis
hinauf an den Bodensee und warfen sie auch vom Main her
über die Donau zurück. Im heutigen Baden gründete ein
hochbegabter, heldenkühner Fürst, der deutsche König Ariovist,
sich eine gefürchtete Macht. Als dieser von dem keltischen
Volke der Arverner in Gallien, das mit einem andern, den
Äduern, im Streite lag, gegen dieses zu Hilfe gerufen wurde,
überschritt er den Rhein und besiegte die Äduer in mehreren
Schlachten so völlig, daß sie sich den Sequanern unterwarfen
und ihnen einen Teil ihres Landes abtraten. Ariovist aber
beschloß nicht wieder heimzukehren, sondern sich in dem herrlichen
Lande ein neues Königreich zu gründen. Die Sequaner sahen
zu ihrem Schrecken ein, daß sie sich in ihrem Schutzherrn eine
schwere Geißel aufgcbunden hatten, denn dieser nahm als Lohn
für seine Waffenhülse den dritten Teil des Seguanergebietes
in Anspruch. In großen Scharen rief er Deutsche über den
Rhein herüber, die sich in den fruchtbaren, wohlangebauten Gauen
des Elsaß behaglich niederließen. Und als immer mehr herüber
12. Cäsars Kampf mit Ariovist.
89
kamen, forderte Ariovist auch das zweite Drittel des Seguaner-
landes. Doch war dies nicht einmal der letzte Zweck des
klugen und kühnen Königs; er wollte vielmehr das ganze
Kernland der Kelten, das heutige Mittelfrankreich, unterjochen
und daselbst eine große, bleibende Herrschaft stiften. Er be-
handelte die Kelten schon wie ein unterworfenes Bolk, und seine
großartigen Pläne wären sicher in Ersüllung gegangen, wenn
ihm nicht ein Mann entgegengetreten wäre, der noch größer
war als er, der gewaltige römische Staatsmann und Feldherr
Julius Cäsar.
Mit Besorgnis mochten die Römer schon auf den kraft-
vollen deutschen Fürsten blicken, der in so bedrohlicher Nähe
als gebietender Herrscher austrat. Da kam noch ein Umstand
hinzu, der sie zu raschem Einschreiten bewog. Die keltischen
Helvetier waren von den Germanen aus ihren Sitzen in
Schwaben in die schweizerischen Berge gedrängt worden; das
arme, rauhe Gebirgsland aber konnte die große Volksmasse nicht
ernähren. Da beschlossen die Helvetier sich eine fruchtbarere
und geräumigere Heimat in Südfrankreich zu suchen. Im
Frühling des Jahres 58 vor Christus zogen sie aus. Aber
Cäsar erkannte darin eine große Gefahr für das römische
Reich; denn wenn die Helvetier ihr Land verließen, dann
wären sofort die Deutschen nachgerückt und unmittelbare Nach-
barn Italiens geworden. Und dann hätten sie sicher dem
Römerstaate den Untergang bereitet. Deshalb eilte Cäsar den
Wanderern nach, griff sie an, schlug sie in einer blutigen
Schlacht und zwang den erschöpften Rest in das verlassene
Schweizerland zurückzukehren. Kaum war ihm dies gelungen,
da kamen Gesandte von mehreren Völkern Mittelgalliens zu
ihm und erklärten, wenn er sie nicht gegen Ariovist schütze,
so müßten sie wie die Helvetier auswandern und den Ger-
manen ihr Land überlassen. Gern schenkte Cäsar diesen Vor-
stellungen Gehör und schickte Botschaft an Ariovist: er habe
mit ihm wichtige Dinge zu besprechen, Ariovist möge daher
an dem und deni Tage zu einer Unterredung zu ihm kommen.
Aber da kam er schlecht an. Die Antwort des deutschen
Fürsten lautete kurz und bündig: „Wenn ich etwas von Cäsar
90
12. Casars Kampf mit Ariovist.
brauchte, so würde ich zu ihm kommen; wenn er etwas von
mir will, so muß er sich zu mir bequemen." Das war
freilich ein andrer Ton, als ihn die hoffärtigen Römer sonst
zu hören pflegten. Cäsar sandte zum zweiten Male Boten
und stellte die Forderung, Ariovist solle keine Germanen mehr
über den Rhein kommen lassen und den Ädueru sowohl wie allen
andern Galliern keinerlei Unbill zufügen; sonst würden sich
die Römer ihrer annehmen. Darauf antwortete der König:
„Der Sieger kann mit dem Besiegten nach seiner Willkür
schalten. Das ist Kriegsrecht, und auch die Römer kümmern
sich um keines Dritten Lorschrist, wenn sie ihr Recht gegen
Überwundene ausüben. Was dem einen recht ist, das ist dem
andern billig. Ich mache den Römern keine Vorschriften,
darum sollen sie mir auch mein Recht nicht verkümmern. Casars
Drohung, er werde sich der Äduer annehmen, läßt mich kalt.
Er mag nur kommen, wenn er Lust hat! Er wird bald
merken, was meine Germanen vermögen, die seit vierzehn
Jahren unter kein Dach gekommen sind."
Gerade als Cäsar diesen stolzen Bescheid erhielt, empfing
er die Nachricht, daß eine neue Schar von Germanen der
Äduer Gebiet verheere und daß andre ungeheure Scharen am
Rhcinuser ständen, um den Strom zu überschreiten. Ohne Zögern
rückte er nun in großen Eilmärschen nach dem Standorte des
deutschen Königs vor. Dieser hatte sich eben aus den Weg
gemacht, um sich der größten Sequanerstadt Lesontio (jetzt
Besan^on) zu bemächtigen, wo gewaltige Kriegsvorräte lagen.
Aber Cäsar kam ihm zuvor, nahm alle Vorräte in Beschlag
und legte eine Besatzung in die starke und wichtige Stadt.
Unwillig zog sich Ariovist nach dem Elsaß zurück, um Ver-
stärkungen aus Deutschland zu erwarten. In Vesontio ent-
warfen die Einwohner und reisende Kaufleute den römischen
Soldaten so grauenhafte Schilderungen von der Riesengröße,
der beispiellosen Tapferkeit und Waffentüchtigkeit der Deutschen,
daß sich aller Soldaten ein unbeschreiblicher Schrecken be-
mächtigte bei dem Gedanken, sich mit solchen fürchterlichen
Menschen Mann gegen Mann herumschlagen zu müssen, deren
trotzige Mienen und funkelnde Blicke schon nicht zu ertragen
12. Casars Kampf mit Ariovist.
91
sein sollten. Aber Cäsar hielt den Verzagten ruhig, doch in
derben Worten ihre Thorheil vor und beschwichtigte dadurch
ihre Angst. Nun wollten alle zeigen, daß sie noch Mut
hätten, und wetteiferten in dem Bemühen, dem Feldherrn ihre
Kampfbegier zu beweisen. Cäsar benutzte die allgemeine Begeiste-
rung und brach schon vor Tagesanbruch auf. In einem sieben-
tägigen, fast ununterbrochenen Marsch führte er sein Heer von
Vesontio nach dem Elsaß hinein bis in die Gegend, wo jetzt
Mülhausen liegt. Hier stieß er, etwa zwei Wegstunden
vom Rhein entfernt, aus den Feind. Ariovist schien überrascht
und wünschte Zeit zu gewinnen. Deshalb bot er eine Unter-
redung an. Cäsar ging darauf ein, und die beiden großen
Männer begegneten sich zu Pferde auf einem Hügel, der in
der Ebene lag, jeder von einer berittenen Leibwache begleitet.
Das Zwiegespräch hatte keinen Erfolg; aber die Rede Ario-
vists, die er an Cäsar richtete, verdient gehört zu werden.
Sie lautete folgendermaßen: „Nicht aus eignem Antrieb bin
ich über den Rhein gekommen, sondern gebeten von den Gal-
liern. Nur Hoffnung aus hohen Lohn konnte mich aus der
lieben Heimat fortlocken. Nicht ich habe den Kampf gegen
die besiegten Gallier erneuert, sondern sie gegen mich. Alle
ihre Stämme rückten gegen mich an, aber ich habe sie alle in
einer Schlacht besiegt. Wollen sie's noch einmal versuchen,
wohlan, ich bin bereit. Wollen sie Frieden halten, auch gut!
Dann aber ist es billig, daß sie weiter Zins an mich zahlen,
wie sie bisher gethan haben. Was geht der ganze Handel
das römische Volk an? Ich bin früher nach Gallien gekommen
als die Römer. Was also willst du hier, o Cäsar? Was berechtigt
dich, in mein Land einzufallen, da ich doch niemals die römische
Grenze verletzt habe? Wenn du von eurer Freundschaft mit
den Äduern redest und von der Pflicht, sie zu schützen, so ist
das nur Flunkerei. Ich bin kein solcher Barbar, daß ich nicht
wüßte, wie Äduer und Römer einander in früheren Kämpfen
niemals Hilfe geleistet haben. Noch eines weiß ich! Wenn
ich dich töten wollte, so würde ich damit vielen Machthabern
in Rom den größten Gefallen thun und mir den Dank aller
erwerben. Sie haben mir deswegen schon öfters Boten ge-
92
12. Casars Kampf mit Ariovist.
schickt. Aber ich will weder deinen Tod noch ihre Freundschaft.
Hebe dich weg aus meinem Reiche und überlaß mir Gallien!
Dann werde ich dir zu jedem Gegendienst bereit sein und mit
meinen tapfern Mannen alle deine Kriege zu Ende führen,
ohne daß du dir selber Mühe zu machen brauchst." Es war
das alte Anerbieten der Kimbern und Teutonen: überlaßt
uns Land und nehmt dafür unsre Waffendienste! Aber wie
viel selbstbewußter trat Ariovist auf als jene! wie klar und
klug wußte er die Worte zu setzen! wie genau kannte er die
inneren Verhältnisse zu Rom! Doch auch Cäsar wußte, was er
als Sohn seines Vaterlandes, als Vertreter des Staates zu
thun hatte. Er verwarf die Vorschläge des Königs und bestand
auf seinen alten Forderungen. So verlief das Gespräch er-
gebnislos, und die Entscheidung durch blutigen Kamps war
unvermeidlich geworden.
Auch im Kriege zeigte Ariovist eine Klugheit und ein
staunenswertes Geschick, das von der ungestümen Tapferkeit
der Kimbern sehr verschieden war. Jeder Soldat weiß heut-
zutage, was ein Flankenmarsch ist. Bei einem solchen mar-
schiert nämlich das Heer nach einer Seite ab, vor der Front
des Feindes vorbei, aus dessen Angriff man jederzeit gefaßt
sein und dem der Zweck des Marsches verborgen bleiben muß.
Durch einen solchen unvermuteten, mit musterhafter Schnellig-
keit ausgeführten Flankenmarsch führte Ariovist sein Heer den
Römern plötzlich in den Rücken und schlug sein Lager so auf,
daß er ihnen alle Zufuhr abschnitt und dadurch Cäsar in
nicht geringe Verlegenheit brachte. Vergebens versuchte der
große Feldherr sich aus seiner Übeln Lage durch eine Schlacht
zu befreien. Fünf Tage hintereinander bot er dem Feinde
die Schlacht an. Aber der umsichtige deutsche König hielt seine
ungestümen Krieger, unbeirrt durch ihr Murren, zurück, indem
er sich auf die Aussagen der weisen Frauen berief, die vor
dem Neumond keinen Sieg verhießen. Nur kleine Reiter-
gefechte lieferte man sich, wobei die Römer zum ersten Male
jene merkwürdige gemischte Aufstellung der Deutschen „Hunderte",
die früher geschildert worden ist, kennen lernten. Endlich
wußte sich Cäsar nicht anders zu Helsen als dadurch, daß er
12. Casars Kampf mit Ariovist.
93
die Bewegung des Feindes nachahmte d. h. ebenfalls einen
Flankenmarsch ausführte. Um seine Berbindung mit Vesontio,
woher er die Zufuhr bezog, wiederzugewinnen, ließ er zwei
seiner Legionen am deutschen Lager vorüberziehen und ein
zweites, kleineres Lager im Rücken des Feindes aufschlagen,
während er mit der Hauptmacht, vier Legionen, im alten
Lager blieb.
Am folgenden Morgen zogen auf Casars Befehl aus
beiden Lagern die Truppen heraus, aber Ariovist rührte sich
nicht. Erst um Mittag, als die Römer in ihre Lager ver-
drossen zurückgekehrt waren, führte der kluge Fürst einen Teil
seines Heeres zum Sturm auf das kleine Lager. Sehr hart-
näckig war der Kampf; es galt ja, den Römern wiederum die
Zufuhr abzuschneiden. Auf beiden Seiten waren die Verluste
gleich schwer. Aber der Sturm wurde dock abgeschlagen, am
Abend führte Ariovist die Seinen in die Wagenburg zurück.
Dieser wenn auch geringe Erfolg ermutigte die Römer von
neuem, und Cäsar suchte deshalb die Entscheidung zu erzwingen,
solange die Begeisterung noch frisch war. Am nächsten Tage
führte er sein gesamtes Heer aus beiden Lagern heraus und
rückte mit den Kerntruppen in dreifacher Schlachtordnung bis
dicht vor die Feinde. Da endlich zogen auch die Deutschen
allesamt hervor und stellten sich der heimischen Sitte gemäß
nach Stämmen, und innerhalb derselben nach Gauen und Sippen,
auf. Ihre Wagen und Karren führten sie hinter dem Schlacht-
keil zuvor in einer langen Reihe auf, um ihre Lieben als
Zeugen ihrer Tapferkeit in nächster Nähe zu haben. Aus den
Wagen standen die germanischen Frauen mit aufgelösten Haaren
und gerungenen Händen. Sie beschworen die in den Kampf
ziehenden Männer unter Thränen, sie nicht in die Knechtschaft
der Römer fallen zu lasten.
So plötzlich und ungestüm stürzten die Deutschen vor, daß
die Römer ihre gefürchteten schweren Wurfspieße nicht ab-
schleudern konnten. Sie ließen sie also fallen und kämpften
mit den Schwertern. Dicht geschloffen, gleich einer Mauer,
stürmte der germanische Schlachtkeil an, die großen Schilde
deckten die vorderen Kämpfer. Aber die Römer sprengten die
94
12. Casars Kampf mit Ariovist.
Mauer, indem sie einzeln auf die Feinde lossprangen, ihnen die
Schilde Herabrissen und von oben herunter die Schwerter in
die entblößten Leiber stießen. Wahrend dadurch der linke
Flügel der Deutschen ins Wanken geriet, drang der rechte
siegreich vor und warf die Römer zurück. In dieser schwierigen
Lage brachte der Befehlshaber der seitwärts haltenden römischen
Reiterei Hülse. Er erkannte die Gefahr und befahl eigen-
mächtig, daß die dritte Schlachtreihe, die kriegsgeübten Beteranen,
zur Unterstützung des bedrängten Flügels vorrückten. Nun war
die Schlacht für die Germanen, die über keinen Rückhalt, keine
Ersatztruppen verfügten, sondern ihre ganze Kraft beim ersten
Stoße eingesetzt hatten, verloren. Nach verzweifelter Gegen-
wehr und furchtbaren Verlusten wandte sich alles zur Flucht,
dem Rheine zu. Die meisten wurden von den Verfolgern
niedergehauen; nur wenigen, besonders kräftigen, gelang cs,
über den Rhein zu schwimmen; einige retteten sich in Vor-
gefundenen Kähnen. Unter ihnen befand sich auch der ver-
wundete König. Ein am Ufer liegendes Fahrzeug entzog ihn
der nachsetzenden römischen Reiterei. Es war das erste Mal,
daß römische Soldaten die grünen Wellen des deutschen Stromes
erblickten. Ariovists Gemahlin kam in der allgemeinen Ver-
wirrung ums Leben, vielleicht durch eigne Hand. Von zwei
Töchtern wurde die eine auf der Flucht getötet, die andre
gefangen. Über den unglücklichen König selbst hören wir
nichts mehr. Wahrscheinlich erlag er seinen Wunden bald nach
dem Zusammensturz seines Glückes.
Dies war das Ende eines gewaltigen Mannes. Hätte ihm
das Schicksal einen kleineren als Cäsar entgegengestellt, vielleicht
strahlte sein Name in der Geschichte in gleichem Glanze wie
der Armins, des großen Cheruskers. So aber erscheint er
als ein wunderbares Meteor, dessen Spur mit seinem Erlöschen
völlig verschwindet. Der Preis, den Cäsar in dieser Ger-
manenschlacht im Jahre 58 vor Christus errungen hatte, war
das herrliche fruchtbare Land Gallien, das heutige Frankreich,
und der Rhein war für ein halbes Jahrtausend die Grenze
des römischen Reiches gegen die Deutschen geworden. Denn
alles linksrheinische Land nahm Cäsar in Besitz, und in den
12. Casars Kampf mit Ariovist.
95
folgenden Jahren unterwarf er sämtliche gallische Bölkerschaften
den Römern. Auch mehrere deutsche Stämme, die auf das
linke Rheinufer herübergekommen waren, wurden von ihm ge-
schlagen und zum Teil durch scheußlichen Berrat vernichtet.
Um die Mittel zum Zwecke war der schlaue Römer nie ver-
legen. Er hat auch zweimal eine Brücke über den Rhein
gescklagen, die erste zwischen Koblenz und Andernach, die zweite
etwas weiter stromaufwärts, nicht um erobernd in die deutschen
Urwälder einzudringen, sondern nur, um den Germanen zu
zeigen, daß die Römer sich nicht fürchteten, den Fuß auch aus
deutschen Boden zu setzen. Die links des Rheines hausenden
Germanenstämme waren wie die Gallier römische Unterthanen
geworden. Ihre waffenfähige Mannschaft diente, wegen ihrer
Tapferkeit und Treue hochgeschätzt, als Reiterei in dem Heere
des Eroberers. Sie haben ihm den Sieg über seinen bedeutendsten
Gegner Pompejuö erfochten. Und als Cäsar alle seine Feinde
aufs Haupt geschlagen und die Zügel der Weltherrschaft in
seine Hand genommen hatte, da vertraute er seine Person
Männern aus dem Volke an, dessen unvergleichliche Helden-
tüchtigkeit und Treue er kannte, und schuf sich eine germanische
Leibwache, und die römischen Kaiser wußten recht gut, warum
sie dies Beispiel nachahmten.
Indem Cäsar Gallien der römischen Herrschaft unterwarf
und den Rhein zur Grenze gegen die Germanen
machte, verlegte er den Deutschen den Weg nach dem Westen
und zwang sie an ihrem Lande sich genügen zu lassen. Dadurch
hat er die Lebensdauer des Römerreichs um Jahrhunderte
verlängert, aber er hat auch dem deutschen Volke eine Wohl-
that aufgezwungen, die wir nicht gering schätzen sollen. Die
Germanen waren nun genötigt, mit harter Mühe ihr wildes
Land urbar zu machen, sich mit Wenigem zu begnügen, ein
entbehrungsreiches Dasein zu führen. Das einfache Wald-
leben aber hat sie gerade gesund und frisch erhalten an Leib
und Seele; in dem reichen Gallien oder gar in Italien hätten
sie gewiß früher ihre urwüchsige Tüchtigkeit eingebüßt und
wären, wie wir aus manchen Beispielen schließen müssen, aus
Deutschen selbst allmählich zu Römern geworden. So ist
96
;
13. Drusus und Tiberius in Deutschland.
Cäsar, gewiß sehr wider seinen Willen, ein Retter deutscher
Art und Nation geworden.
13. Drusus und Tiberius in Deutschland.
Unter Cäsar waren die Römer bis an den Rhein vor-
gerückt, unter dem ersten Kaiser Augustus dämmten sie auch
von Süden her die Deutschen ein, indem sie bis zur Donau
erobernd vordrangen. Die zwischen diesem Strom und den
Alpen wohnenden keltischen Völkerschaften wurden nämlich von
den beiden Stiefsöhnen des Augustus, den trefflichen Feld-
herren Drusus und Tiberius, unterworfen. Ein bedeutender
Gewinn für das römische Reich, der zugleich zu neuen Unter-
nehmungen reizte. Es war ein Lieblingsplan des genannten
Kaisers, nun auch von Westen her die Reichsgrenze weiter
vorzuschieben und statt des Rheines die Elbe zum Grenz-
strom zu machen. Aber wenn er wähnte, die Germanen ebenso
leicht und schnell zu Unterthanen zu machen wie die keltischen
Donauvölker, so täuschte er sich. Hier in Deutschland war
nicht nur die ganze Gegend und Bodenbeschaffenheit dem
Gelingen des Unternehmens ungünstig; hier lebte auch ein
Menschengeschlecht von ganz andrer Kraft und Frische als jene
Kelten. Während zwischen Donau und Alpen sehr bald groß-
artige Straßen und stark befestigte Städte wie Augsburg,
Regensburg und Passau die neuen Provinzen sicherten und die
Einwohner schnell zu Römern umgewandelt wurden, gelang es
den ungeheuersten Anstrengungen der besten Feldherren niemals
eine Römerstadt zwischen Elbe und Rhein zu errichten, niemals
auf die Dauer Deutsche zu Römern zu machen.
Den Oberbefehl über die Heere, mit denen Deutschland
erobert werden sollte, vertraute Augustus seinem Stiefsohn
Drusus an. Er hätte keine bessere Wahl treffen können;
denn Drusus, erst fünfundzwanzig Jahre alt, war ein Jüng-
ling von hohen Gaben, schön und stattlich, klug und tapfer,
thatkräftig und besonnen, ruhmbegierig und leutselig. Längs
des Rheines legte er zunächst eine Reihe starker Kastelle d. h.
kleiner Festungen an; dann übertrug er den Krieg auf
13. Drusus und Liberias in Deutschland. 97
deutschem Boden. Zuerst beschloß er einen Angriff aus das
nordwestliche Deutschland. Um die Nordküste schneller er-
reichen zu können, ließ er einen großartigen Kanal, den
Drususgraben, vom Rhein nach der Nordsee ziehen und fuhr
im Jahre 12 vor Christi Geburt auf neugebauten Schiffen
durch diesen Kanal ins Meer, segelte die Küste entlang und
fuhr in die Emsmündung ein. Hier lieferte er den tapferen
Uferbewohnern, die mit ihren rohen Kähnen den römischen
Dreiruderern den Weg zu versperren wagten, aus dem Flusse
ein Gefecht. Die Chauken versprachen nichts Feindliches gegen
die Römer zu unternehmen und Söldner zu stellen. Das-
selbe hatten vorher schon die Bataver zwischen den Rhein-
mündungen und die Friesen zwischen Rhein- und Emsmündung
gethan. Das war kein geringer Erfolg des kurzen Feldzuges.
Da der Herbst mit seinen Regengüssen vor der Thür stand,
kehrte Drusus um und gelangte glücklich wieder in den Rhein.
Im folgenden Jahre schlug er den Landweg ein und
suchte die Cherusker in den Wesergebirgen heim. Ohne ein
Hindernis zu finden, rückte er von dem befestigten Platze
Betera Castra, d. h. Altes Lager (es ist das fetzige kanten),
über den Rhein und dann über die Lippe. Die Deutschen
hatten sich in ihre Wälder zurückgezogen. Erst an der
Weser hielt er an, denn er besorgte, man würde ihm den
Rückzug abschneiden. Wirklich geriet er auf dem Rückwege
in schwere Gefahr. Die Deutschen hielten die Gebirgspässe
besetzt, über welche die Römer kommen mußten. Er wurde in
eine enge Thalschlucht eingeschlossen und wäre fast mit seinem
ganzen Heere vernichtet worden. Aber die Deutschen brachten
sich durch vorzeitige Siegeszuversicht selbst um den Erfolg.
Sie betrachteten die Römer schon wie Gefangene, zu deren
Überwältigung es nur noch eines Schwertstreichs bedurfte, und
stürzten deshalb ohne Plan und Ordnung auf die Legionen
los. Die wohlberechneten Bewegungen des römischen Heeres
brachten die Anstürmenden selbst in Verwirrung. Diese zogen
sich zurück und wagten von da an keinen offenen Kampf mehr.
Ungehindert konnte Drusus auf diesem Rückzug eine Reihe
von Befestigungen mitten in Feindesland anlegen, unter andern
Klee, Die alten Deutschen. ^
98 13. Drusus und Tiberius in Deutschland.
das berühmte Kastell Aliso, das heutige Elsen bei Paderborn.
Im nächsten Jahre verband er die neuen Schanzen durch eine
Heerstraße, die am Nordufer der Lippe hinlief, mit dem
Rhein bei Vetera Castra.
Von einem dritten Zug des Drusus, der gegen die Kalten
gerichtet war, wissen wir nichts. Der großartigste war aber
der vierte, den der junge Held im Jahre 9 vor Christus
unternahm und der sein letzter sein sollte. Von Mainz her
drang er in das Land der Kalten. Er schlug sie wiederholt,
aber nicht ohne große Anstrengungen und Verluste. Dann
wendete er sich nach Thüringen, von hier nördlich in das
Gebiet der Cherusker, wo er keinen Widerstand fand, über-
schritt die Weser und drang rasch bis an die Elbe vor.
Damals sah dieser deutsche Strom zum ersten Male römische
Waffen blitzen. Hier endlich machte Drusus halt. Eine
weise Frau von übermenschlicher Größe trat ihm vom andern
Ufer her warnend entgegen und redete ihn in römischer
Sprache also an: „Wohin eilst du, Unersättlicher? Das
Geschick hat dir nicht bestimmt, dieses Land zu schauen.
Hebe dich weg! Denn deiner Thaten und deines Lebens
Ziel ist nahe herbeigekommen!" Der Held kehrte um, und
nun erreichte das Schicksal den erst Dreißigjährigen. Auf
dem Rückwege stürzte er mit dem Rosse, brach den Schenkel
und verletzte sich tödlich. Die trauernden Soldaten schlugen
ein Lager auf, wo der geliebte Feldherr den Tod erwartete.
Eilboten brachten die Trauerkunde nach Rom. Tag und
Nacht nicht rastend, reiste Tiberius zu dem sterbenden Bruder.
Inzwischen heulten um das römische Lager die Wölfe des
deutschen Urwaldes. Aber die Feinde ringsum ehrten den
Kranken, dessen edles Wesen ihnen Achtung einflößte; sie
hielten Ruhe und Frieden, als ob sie mittrauerten. Als
Drusus erfuhr, daß sein Bruder nahe sei, befahl er den
Legionen dem Nahenden mit klingendem Spiel entgegenzurücken
und ihn als Feldherrn^ zu begrüßen. Dreißig Tage nach
seinem Sturz hauchte er in den Armen des Bruders seine
Heldenseele aus. Sein letzter Seufzer galt der fernen Gattin.
Tiberius brachte den Leichnam nach Rom, wo der Kaiser selbst
13. Drusus und Tiberius in Deutschland. 99
die Leichenrede hielt. Die treuen Legionen aber nannten den
Ort, wo der geliebte Feldherr gestorben war, das verfluchte
Lager und errichteten ihm zu Mainz ein Ehrendenkmal, bei
dem alljährlich an seinem Todestage Leichenspiele gefeiert wurden.
Drusus hatte in der kurzen Spanne Zeit, die ihm zu
wirken vergönnt war, Erstaunliches geleistet. Germanien,
das Land, das nur zu betreten dem großen Cäsar ein
gewagtes Werk schien, war für jetzt wenigstens zum großen
Teil ein unterworfenes Land. Kastelle waren mitten im
Urwalde erbaut, Straßen angelegt worden. Die erstaunten
Völker hielten sich ruhig; der Schrecken vor einer so un-
widerstehlichen Macht lähmte ihre Thatkraft. Nun übernahm
es der finstere, mürrische Tiberius, das Werk des früh
verstorbenen Bruders zu vollenden. In den beiden folgenden
Jahren überschritt er den Rhein und durchzog die deutschen
Westgaue, ohne daß sich etwas Bedeutendes ereignete. Nur
einen Beweis für die römische Treulosigkeit wollen wir nicht
verschweigen. Im ersten Jahre schickten alle am Rhein
wohnenden Germanenstämme Friedensboten an Tiberius, nur
die Sugambern, ein tapferes Volk zwischen Sieg und Ruhr,
schickten keine. Augustus aber hieß den Tiberius erklären, er
werde auf keinen Vertrag eingehen, wenn nicht auch die
Sugambern beiträten. Da ließen auch diese sich auf die
Bitten ihrer Nachbarn bewegen, zahlreiche Edle, darunter die
Fürsten des Volks, an Angustus, der in Lyon weilte, zu
senden und um einen billigen Frieden zu bitten. Aber sie
verfehlten ihren Zweck gänzlich: Augustus hielt die Friedens-
boten fest und verteilte sie fern von Deutschland in ver-
schiedene römische Städte. Da gaben sich die edlen Helden
selbst den Tod, aus Gram und weil sie nicht wollten, daß
ihr Volk aus Rücksicht auf sie unrühmliche Verträge schließe.
Aber den Sugambern, die sich so ihrer Fürsten beraubt sahen,
brach der Mut; sie unterwarfen sich dem Tiberius. Dieser
führte vierzigtausend von ihnen, die besten im Lande, nach
Gallien und siedelte sie am linken Rheinufer an.
Nach seinem zweiten Zug legte Tiberius, durch Zurück-
setzungen von seiten des Kaisers gekränkt, plötzlich seinen
100 13. Drusus und Tiberius in Deutschland.
Oberbefehl nieder und zog sich grollend von allen Staats-
geschäften zurück. Erst zehn Jahre später, im Jahre 4 nach
Christus, kehrte er als Statthalter wieder an den Rhein.
Von nun an hielt er es für bequemer, die Deutschen durch
schlaue Benutzung ihrer inneren Streitigkeiten und andere
betrügliche Künste zu umstricken und zu verderben. Aus
solche Weise gewann er vor allem die mächtigen Cherusker
mit ihren zahlreichen Bundesgenossen, so daß er aus deutschem
Boden sein Winterlager aufschlagen und im Jahre 5 bis zur
Elbe Vordringen konnte. Die Chauken wurden wieder unter-
worfen, sogar die kraftvollen Langobarden an der Unterelbe
beugten sich. Es schien wirklich, als sollte Germanien eine
römische Provinz wie Gallien, als sollte die deutsche Bolksart
von der römischen Bildung erstickt werden. Doch es kam
glücklicherweise anders.
Sollte die Unterwerfung Germaniens für gesichert gelten,
so mußte eine deutsche Macht in drohender Nähe der Donau-
provinzen zertrümmert werden, das Reich der Markomannen.
Marbod, ein kühner und schlauer Mann aus vornehmem
Geschlecht, hatte in der Zeit um Christi Geburt das Volk
der Markomannen, das bis dahin am Main hauste, beredet,
das Land der keltischen Böser zu erobern, das heutige
Böhmen, das rings von Waldgebirgen gegen römische An-
griffe geschützt schien. Das Volk stimmte jubelnd bei und
erkor Marbod zu seinem Herzog, später sogar zum Könige.
Jni raschen Siegeslauf unterwarf nun Marbod das bojische
Land und gründete hier ein gewaltiges Reich. Er übte eine
straffe Herrschaft aus, baute sich eine feste Königsburg, schuf
sich eine Leibwache und ein römisch geschultes Heer, mit dem
er auch die umwohnenden Völkerschaften seinem Regiment
unterwarf. Bis zu den Langobarden in der Gegend von Lüne-
burg reichte sein Einfluß. Es fehlte dem Marbod nur eines,
der uneigennützige, auf das Wohl des Volkes gerichtete Sinn;
er war ein selbstsüchtiger Mann und überschätzte thöricht seine
Macht. In Rom hatte man schon lange mißtrauisch seinem
Treiben zugeseheu, doch getraute man sich noch nicht ihn an-
zugreifen, solange man nicht in Norddeutschland freiere Hand
14. Armin, der Befreier Deutschlands. 101
hatte. Jetzt schienen jene Gegenden völlig beruhigt, und
sofort beschloß Tiberius, der Herrschaft des Königs ein Ende
zu bereiten. Schon zogen zwei starke Heere, das eine von
der Donau, das andere vom Rhein her, gegen Böhmen, wo
sie sich vereinigen wollten, da rettete ein unvorhergesehenes Er-
eignis dem Marbod die Krone. In Dalmatien und Pannonien
waren die Völker der römischen Bedrückungen müde. Ein
furchtbarer Aufstand loderte empor. Ehe es zum Kriege mit
Marbod kam, mußte Tiberius die Heere, welche das Marko-
mannenreich zerstören sollten, gegen die aufständischen Provinzen
führen. Drei Jahre ununterbrochener Kämpfe waren nötig,
um die Empörung völlig niederzuwerfen. Marbod aber, statt
gleichzeitig die Waffen gegen Rom zu erheben, ließ die günstige
Zeit verstreichen, froh, so leichten Kaufes dem Verderben ent-
ronnen zu sein.
14. Armin, der Befreier Deutschlands, und
die Schlacht im Teutoburger Walde.
Den arglistigen Friedenskünsten des Tiberius und der
klugen Milde seines Nachfolgers in der Statthalterschaft am
Rhein, des Sentius Saturninas. war es gelungen, die
Deutschen mit der römischen Oberhoheit zu befreunden. Der
Germane lernte die Reize des feinen römischen Lebens schätzen,
die Fürsten bewunderten die glatten Manieren der gebildeten
Gesellschaft, den Geist der Ordnung im Staate, die Über-
legenheit römischer Art und Kunst. Und die Römer ver-
standen es, andre Nationen zu blenden und zu locken.
Germanische Jünglinge von hohem Stande drängten sich zum
Kriegsdienst in den Legionen und trugen stolz den fremden
Waffenschmuck, selbst Fürsten fühlten sich geschmeichelt, wenn
ihnen der Senat das Bürgerrecht oder der Kaiser eine
militärische Auszeichnung verlieh. Aber wenn es auch schien,
als sollte die deutsche Volksart der Herrschaft und Sprache,
dem Rechte und der Sitte der Römer den Platz räumen, so
war doch in Germanien Freiheits- und Vaterlandsliebe noch
nicht erstorben.
102 14. Armin, der Befreier Deutschlands.
Großer Jubel herrschte in Rom, als die Kunde eintras,
daß Tiberius und sein Neffe Germanicus, des Drusus Sohn,
den furchtbaren Ausstand der Pannonier niedergeschmettert
hatten. Da verkehrte sich urplötzlich alle Freude in tiefste
Trauer. Aus Germanien kam die Schreckensbotschaft, der
Statthalter O u i n t i l i u s V a r u s sei mit drei der besten
Legionen und sechs Reiterkohorten von den Deutschen überfallen
und niedergehauen worden. Das war so gekommen. Was
der kluge, liebenswürdige Saturninus für Rom gewonnen
hatte, den guten Willen der Germanen, das ging durch die
Verblendung seines Nachfolgers Varus wieder verloren. Dieser
war ein Mann von trägem Geiste, an ein schlaffes Wohlleben
gewöhnt, dabei in hohem Grade geldgierig und rücksichtslos.
Von den Schwierigkeiten seiner Aufgabe hatte er keinen Be-
griff. Die Ruhe, die seit Jahren in Germanien herrschte,
mochte ihn zu dem Wahne verführen, die Deutschen würden
sich alles gefallen lassen. Aber er irrte sich. So lange den
Germanen ganz allmählich und mit vorsichtiger Schonung die
römischen Verhältnisse ins Land eingeschmiegt wurden, merkten
sie es kaum. Es lebte sich ja ganz behaglich unter so liebens-
würdigen, artigen Herren; man empfand kaum noch, daß sie
als Herren gekommen waren. Als aber Varus mit drei
starken Legionen samt Reitern und Hülfstruppen, im ganzen
wohl mit 80000 Mann, die Lippe herauf zog, mitten im
Lande seinen Wohnsitz ausschlug und hier, als wäre er in
Rom, Gerichtssitzungen nach römischem Recht hielt, da be-
gannen die Deutschen sich aus ihre angestammte Freiheit zu
besinnen. Als er römische Steuern erhob, freie Männer mit
Geißelhieben und Hinrichtungen strafte, als die Liktorenbeile
blitzten und in unverständlicher Sprache unverständliche Rechts-
sprüche gefällt wurden, da wallte das deutsche Blut zornig
auf gegen solche Nichtachtung des altheimischen, heiligen Her-
kommens. Aber die Menge war ratlos, sie wußte nicht, was
sie thun, wie sie es anfangen sollte, um die schmachvolle
Fremdherrschaft abzuschütteln. Sie bedurfte eines Führers,
der sie einigte und zurechtwies, und dieser Führer fand sich
sich. Es war Armin.
14. Armin, der Befreier Deutschlands. 103
Armin war der Sohn eines cheruskischen Fürsten Namens
Segimer (Siegmar). Ein römischer Schriftsteller schildert ihn
als einen „Jüngling von tapferer Hand wie von raschem
Verstände, gewandten Geistes, mehr als sonst Barbaren es zu
sein pflegen, ein Jüngling, aus dessen Antlitz und Auge das
Feuer des Geistes leuchtete." Er hatte mehrere Jahre im
römischen Heer als Führer einer cheruskischen Hülsstruppe
gedient, hatte römische Sprache und Bildung gelernt, war
von Tiberius in jeder Weise ausgezeichnet und auch mit dem
römischen Bürgerrecht und dem Rang eines römischen Ritters
beehrt worden. Er stand damals im sechsundzwanzigsten
Lebensjahre. Diesem herrlichen, ebenso schönen als liebens-
würdigen, eben so kühnen als klugen jungen Helden schenkte
der thörichte Varus sein unbeschränktes Vertrauen und suchte
ihn an seine Person zu fesseln, um ihn als gefügiges Werk-
zeug für seine Unterdrückungspläne zu brauchen. Armins
Bruder, den die Römer Flavus d. h. Blondkopf nannten,
hatte sich von der römischen Feinheit und den ihm erteilten
Auszeichnungen bethören lassen und war ein echter Römling
geworden. Aber Armin war kein Flavus. In seinem edlen
Herzen brannte die Schmach des Vaterlandes. Alle Lockungen
wogen ihm nicht die liebe Heimat auf. Sein Volk, seine
heimischen Götter, die Freiheit des deutschen Landes zu retten,
stürzte er sich in einen verzweifelten Kampf, dem er sein
Leben, ja alles, was ihm persönlich lieb war, aufopferte.
Mit beispielloser Ausdauer und rührender Treue, mit Löwen-
kühnheit und schlauer List hat er den ungleichen Kampf aus-
gefochten und trotz vieler Enttäuschungen doch endlich sein
großes Ziel erreicht. Ihm verdanken wir es, daß unserm Volk
unsre herrliche Sprache, unsere heimische Sitte und Sinnes-
art erhalten geblieben sind.
Mit großer Vorsicht ging Armin ans Werk, indem er
die träge und leichtfertige Natur des Varus schlau benutzte.
Anfangs weihte er nur die besten seiner Landsleute in seine
Pläne ein, allmählich aber erweiterte sich der Kreis der
Wistenden, bis er sich weit über die Grenzen des Cherusker-
landes ausdehnte. Wohl warnte der verräterische Segest, auch
104 14. Armin, der Befreier Deutschlands.
ein cheruskischer Fürst, den Statthalter vor Armin; aber
Varus lachte der Warnung. Und Armin verstand es, den
Verblendeten in seiner Sicherheit zu bestärken, Nach wie vor
mußten Deutsche im Lager erscheinen und den Rechtsspruch
des Römers erbitten, Armin selbst blieb in der unmittelbaren
Nähe des Feldherrn, und der war gutes Mutes und schalt
alle, die ihm Vorsicht anrieten. Nun galt es aber, den
Varus aus der Nähe seiner festen Standlager und uneinnehm-
baren Kastelle in das sumpfige Waldgebirge zu locken. Zu
diesem Zwecke mußte sich ein im Innern Deutschlands woh-
nender Volksstamm der Verabredung gemäß empören. Auch
diese List gelang. Varus brach mit seiner ganzen Streitmacht
auf, um die Aufrührer zu züchtigen. Bei dem letzten Gelage,
däs der Bethörte vor seinem Abmarsch gab, sagte ihm Segest
ins Gesicht, daß alles nur Blendwerk sei, und riet ihm, den
Armin und die übrigen anwesenden Fürsten in Fesseln zu
legen; das Volk werde nichts wagen ohne seine Häuptlinge.
Aber Varus war wie von Gott mit Blindheit geschlagen; er
rannte lachend ins Verderben. Auch wußte er oder glaubte
er zu wissen, woher der Haß Segests gegen Armin rührte,^
und gab deshalb nichts auf seine Reden. Armin liebte
nämlich die Tochter Segests, die schöne Thusnelda, und
wurde von ihr wider den Willen des Vaters wieder geliebt.
Standhaft weigerte sich die stolze Jungfrau, den Verlobten,
den ihr Vater ihr ausgesucht hatte, zum Galten zu nehmen.
Der Spätsommer des Jahres 9 nach Christus war schon
angebrochen, als Varus seinen Todesmarsch antrat. Die deut-
schen Fürsten ließen ihn ziehen und blieben zurück, angeblich
um Hilfsvölker zu werben und bald nachzukommen. Aber
diese Hilfsvölker standen schon bereit im Waldesdunkel und
warfen sich jetzt auf die im Lande zerstreuten kleinen Truppen-
abteilungen der Römer. Diese wurden überwältigt und ge-
tötet. Inzwischen war Varus schon mitten im Urwalde an-
gelangt, und nun sollte es ihm schrecklich tagen, daß die
Germanen keine Untergebene, sondern Feinde waren. Durch
feuchte sumpfige Thalgründe mußte sich das Heer zwischen
unbekannten Bergen hindurchwinden. Die Waldungen wurden
14. Armin, der Befreier Deutschlands. 105
immer dichter und endloser; riesige Stämme versperrten fort-
während den Weg. Immer mußte mein halt machen. Bäume
niederhauen, Wege bahnen, Brücken schlagen. Dazu führte
Varus — es war ja Friedenszeit! — einen großen, schwer-
fälligen Troß von Wagen, Lasttieren und Sklaven mit sich.
Die Legionen konnten keinen geschlossenen Zug mehr halten.
Um sie noch mehr auseinander zu bringen, begann der Regen
in Strömen herabzugießen und der Sturmwind zu heulen.
Der aufgeweichte Boden verstattete keinen sichern Tritt, man
strauchelte beständig über Wurzeln und Baumstümpfe. Der
Sturm riß von den uralten Eichen schwere Äste herab, welche
die darunter Schreitenden verletzten und in schreckliche Ver-
wirrung brachten.
Und nun begannen die Deutschen ihre Angriffe. Durch
das Gebüsch brachen sie von allen Seiten gegen die Bedrängten
hervor, schleuderten von weitem ihre Speere auf die zwischen
Wagen und Trvßknechten ermüdet Dahinziehenden und stürmten,
nachdem sie schon viele erlegt hatten, dicht heran. Hatten sich
nun die Römer mit unendlicher Mühe ein wenig zur Abwehr
geordnet, so verschwanden die Feinde ebenso rasch, wie sie
erschienen waren, in den Wäldern, wo sie jeden Fußpfad, ja
jeden Baum kannten, und brachen wieder hervor, sobald die
Legionen ihren Marsch fortsetzten.
Mitten in dieser Bedrängnis brachten es doch die Römer
fertig, ein Lager aufzuschlagen, streng nach den Regeln der
römischen Befestigungskunst. Die Mehrzahl der Wagen und
was sonst überflüssig erschien, verbrannten sie. Am folgenden
Tage schien sich ihre Lage etwas bessern zu wollen, sie kamen
in lichtere Gegenden und konnten in besserer Ordnung mar-
schieren. Aber bald gerieten sie wieder in die Urwälder, die
feindlichen Angriffe erneuerten sich, die Verwirrung wurde
immer größer. In dem Wirrwarr hinderte ein Kämpfer
den andern, die Bäume standen überall im Wege. Endlich
sank die Nacht hernieder und machte deni Ringen ein Ende.
Abermals wurde ein Lager aufgeschlagen. Aber es war von
geringem Umfang, der Wall war ungleich, der Graben flach;
106 14. Armin, der Befreier Deutschlands.
denn schrecklich waren die Legionen schon zusammengeschmolzen,
es fehlte bereits an Arbeitskräften.
Nach einer düstern, schlummerlosen Nacht brach der Tag
der Entscheidung an. Es war wahrscheinlich der 11. September.
Kaum hatten sich die. müden Soldaten auf den Weg gemacht,
da war es, als öffnete der Himmel alle seine Schleusen. Der
Negen goß in Strömen nieder, der Sturm raste über den
Wald. Das Erdreich wurde bald so schlüpfrig und durch-
weicht, daß die Römer nicht mehr vorrücken konnten und in
der entsetzlichsten Ratlosigkeit stehen bleiben mußten. Und nun
stürzten die Germanen in ungeheurer Überzahl aus dem
Waldesdunkel hervor und eröffneten die fürchterlichste Schlacht,
die Schlacht im Teutoburger Walde. Sonst verliehen
dem römischen Krieger die schwere Rüstung und die wuch-
tigen Waffen gewaltige Vorteile; diesmal wurden sie ihm
zum Verderben; denn sie hinderten ihn in der Abwehr
und zogen ihn in den Schlamm hinab. Die Deutschen
aber, d. h. die Cherusker mit ihren Verbündeten, sprangen
unbeschwert von Panzer und Helm, nur den leichten Linden-
schild und den langen Speer in den nervigen Händen, in
weiten Sätzen wie das Wild des Waldes über die morastigen
Stellen, in die sie die unglücklichen Römer stießen. Da
bemächtigte sich der meisten noch Lebenden dumpfe Mutlosigkeit.
'An ein Entrinnen war nicht mehr zu denken. Varus, schon
verwundet, stieß sich verzweiflungsvoll das Schwert in die
Brust. Viele folgten seinem Beispiele. Andre warfen die
Waffen weg und erwarteten, ohne sich zu wehren, den Todes-
stoß, andre wurden gefangen, andre kämpften mannhaft bis
zum letzten Atemzuge. So fanden fast alle den Untergang.
Das war die Schlacht im Teutoburger Walde. Drei der
besten römischen Legionen und eine zahlreiche Reiterei waren
vernichtet, die Siegesadler in den Händen der Feinde. Nur
wenige versprengte Flüchtlinge, meistens Reiter, entkamen. Diese
retteten sich im Schutze der Nacht mit einem kleinen Teil des
Trosses nach Aliso und gelangten von da glücklich an den Rhein.
Als Armin die Standarten und Adler der vernichteten
Legionen zu seinen Füßen liegen sah, trat er in wilder Freude
14. Armin, der Befreier Deutschlands. 107
darauf und sprach zu dem Heere stolze Worte voll des
bittersten Hohnes über die geschändeten Feldzeichen der frechen
Unterdrücker. Das ganze tote Heer befahl er unbestattet liegen
zu lassen. Den Kopf des Varus sandte er an Marbod; es
sollte ihm ein mahnendes Zeichen sein, sich der Sache der
Freiheit anzuschließen. Aber der Markomannenkönig war kein
Armin; er verharrte in seiner Unthätigkeit und selbstsüchtigen
Vereinzelung und übersandte das Haupt den Hinterlassenen
des Varus zur Bestattung. An den Gefangenen nahmen die
Sieger furchtbare Rache, indem sie sie den Göttern zum
Opfer teils schlachteten, teils aufhängten. Am grimmigsten
wüteten sie gegen die römischen Liktoren, die mit ihrem Beile
die freien Germanen hingerichtet, mit ihren Ruten die Rücken
derselben schmählich geschlagen hatten, und gegen die römischen
Rechtsanwälte, die das gute heimische Recht der Deutschen
verhöhnt und römische Kniffe und Psiffe in Deutschland ein-
geschmuggelt hatten. Einigen wurden die Augen ausgestochen,
andern die Hände abgehauen. Einem wurde sogar die Zunge
ausgeschnitten, und ein Germane, der gewiß durch erlittenes
Unrecht besonders verbittert war, nahm sie in die Hände und
sprach mit furchtbarem Hohn: „Endlich hast du doch aufgehört
zu zischen, du Schlange!"
Zerschmetternd war der Eindruck, den die Kunde von der
Niederlage des Varus in Rom hervorrief, wo man sich eben an-
schickte, herrliche Feste zur Feier der pannonischen Siege zu be-
gehen. Der alte Kaiser Augustus zerriß in fassungslosem Schmerz
sein Gewand und rief wiederholt die Worte aus: „Varus, Varus,
gieb mir meine Legionen wieder!" Monatelang schor er Haupt-
haar und Bart nicht. Es war aber nicht nur der Jammer
über den Untergang eines herrlichen Heeres, der alle ergriff,
sondern auch Angst und Schrecken. In der ersten Bestürzung
fürchtete man nämlich, die siegreichen Germanen würden sich
nun gemeinsam erheben und, wie zu den Zeiten der Kimbern,
gegen Italien selbst anrücken. Sogar in Rom selbst fühlte
man sich nicht sicher. Der Kaiser ließ seine germanische
Leibwache und alle in der Stadt weilenden Germanen nach
verschiedenen Inseln abführen. Den Göttern wurden große
108
15. Armin im Kampfe mit Germanicus.
Opferspiele gelobt, wenn sie den Staat aus der Gefahr
erretteten. Aber die Deutschen dachten nicht an Eroberung.
Die Heimat war wieder frei, kein Römer weilte mehr im
Lande, die römischen Burgen waren gebrochen, das römische
Joch war abgeschüttelt. Damit ließen sie sich genügen. Und
in Rom legte sich allmählich das Entsetzen, als der Feind
nicht einmal Miene machte, den Rhein zu überschreiten. Die
ruhige Überlegung kehrte zurück. Neue Heere wurden aus-
gehoben, wenn auch die Rekruten nur durch die schwersten
Drohungen gezwungen werden konnten, sich zu stellen. Der
kluge Tiberius eilte an die germanische Grenze und ordnete
die Verteidigung des Rheines aus das beste. Aber in das
Innere Deutschlands wagte er sich nicht. So erkannten die
Römer selbst den Rhein als Grenze des Reiches gegen
Germanien an. Sie standen also wieder auf demselben
Punkte, wie vor zwei Jahrzehnten, als der große Drusus es
unternahm, Deutschland zu unterwerfen. Alles, was durch
ihn und nach ihm mit unsäglichen Anstrengungen gewonnen
worden war, das hatte die einzige Schlacht im Teutoburger
Walde, das hatte Armin vernichtet. In allen Kämpfen, die
bisher die Römer geführt hatten, waren sie zuletzt Sieger
geblieben. Jetzt hatte ein „barbarisches" Volk den stolzen
Wahn von römischer Unüberwindlichkeit zerstört. Die Varus-
schlacht schien ungerächt zu bleiben. Die Ehre der römischen
Nation war befleckt, niemand wollte sie rein waschen. Tiberius
stand von der Eroberung Germaniens ab. Das Blut so
vieler tapferer Krieger war umsonst geflossen.
16. Armin im Kampfe mit Germaniens.
In keinem Römerherzen brannte die Schmach der Varus-
schlacht heißer als in dem des jungen Germanicus. Er
war ja der Sohn des Drusus, und es war daher natürlich,
daß er sehnlichst wünschte, das umgestürzte Werk seines Vaters
wieder aufzurichten und zugleich die römische Waffenehre zu
retten. Ein feuriger, ehrgeiziger Jüngling, besaß er doch
eine große Leutseligkeit und Üneigennützigkeit, und war in
15. Armin im Kampfe mit Germanicus. 109
allen Stücken das Gegenteil von seinem grämlichen Oheim
Tiberius. Vier Jahre nach der Varusschlacht übernahm er
den Oberbesehl über die Legionen am Rhein. Ein Jahr
später starb der alte Kaiser Auguslus und hintcrließ das
Reich seinem ungeliebten Stiefsohn Tiberius. Die rheinischen
Soldaten wollten lieber den freundlichen und milden Ger-
manicus zuni Kaiser haben und erboten sich, ihm mit
Gewalt die Krone zu verschaffen; aber standhast wies der
edle Jüngling alle Versuchung von sich ab und strafte die
Meuterer mit strengen Worten. Da gingen sie in sich, ent-
schuldigten ihr rasendes Beginnen und verlangten zur Buße
dafür gegen den Feind, d. h. gegen die Germanen geführt
zu werden. Freudigen Herzens gab Germanicus ihrer Kampf-
lust nach und rückte noch im Herbst des Jahres 1-1 nach
Christus mit einem Heere bei Xanten über den Rhein.
Die Zustände in Deutschland lagen für die Römer nur
allzu günstig. Nach dem herrlichen Siege im Teutoburger-
Walde hatten sich die Deutschen einer sichern Sorglosigkeit
ergeben. Die Völkerbündnisse, die Armin geknüpft hatte,
waren aufgelöst, Streitigkeiten zwischen Fürsten einer und
derselben Völkerschaft rissen die Gaugenossen in unheilvollen
Hader. Selbst die Cherusker, die durch Armin berühmt und
mächtig geworden waren, gerieten untereinander in Fehde. Der
Römerfreund Segest, durch seine Gaugenossen gezwungen,
hatte sich nach der Varusschlacht eine Zeitlang der Sache der
Freiheit angeschlossen. Sein wackerer Sohn Segimund, der
römischer Priester in Köln geworden war, hatte auf die Kunde
von der Erhebung des Vaterlandes gegen die Fremdherrschaft
seine Priesterbinde zerrissen und war zu den heimischen
Göttern zurückgekehrt. Segests Tochter Thusnelda liebte
den großen Helden Armin von ganzem Herzen und dachte wie
er. Aber Segest selber blieb ein Mann ohne Vaterlands-
gefühl. Und als nun Armin Thusnelda entführte und sie
trotz dem Widerspruch des Vaters zum Weibe nahm, da ent-
brannte der Haß Segests gegen Armin zu hellen Flammen.
Er dürstete nach Rache. Eine erbitterte Fehde brach zwischen
den beiden Fürsten aus.
110 15. Armin im Kampfe mit Germanicus.
So lagen die Dinge in Deutschland, als Germanicus im
Spätsommer des genannten Jahres einen ungeahnten Einbruch
in Germanien unternahm. Die Römer kamen unbemerkt die
Lippe aufwärts in das Land der Marsen. Kundschafter
meldeten, diese seien bei einem fröhlichen Fest versammelt.
Da schlichen die Arglistigen in sternenheller Nacht durch die
Waldung, bis sie an eine gelichtete Stelle kamen, wo zahl-
reiche Gehöfte zusammenlagen. Die ahnungslosen Festgenossen
hatten keine Wachtposten ausgestellt. Es war ja tiefster Friede
im Lande. Da brachen plötzlich von allen Seiten die römischen
Scharen aus dem Walde, hieben auf die Wehrlosen wütend
ein und verwüsteten alles mit Feuer und Schwert. Selbst
Frauen, Greise und Kinder wurden erbarmungslos nieder-
gemetzelt, Häuser wie Heiligtümer — darunter das einer
Göttin Tamfana — dem Erdboden gleich gemacht. Die
schlaftrunkenen, unbewaffneten, ratlos umherirrenden Männer
fielen ohne Gegenwehr unter den Streichen der Mordbrenner,
von denen kaum einer verwundet wurde.
Als die Nachbarvölker an Lippe und Ems von dem ver-
räterischen Überfall hörten, griffen sie zu den Waffen und
besetzten die waldigen Höhen, durch die der Rückweg der
Römer führte. Aber Germanicus erhielt davon Kunde und
zog kampfbereit dahin. Lange rührte sich nichts. Als aber
das Heer zwischen Anhöhen in langer, schmaler Reihe sich
hinwand, da griffen plötzlich die Deutschen die Nachhut an.
Schon war diese in Unordnung gebracht, als Germanicus
seiner tapfersten Legion befahl, die Feinde zu durchbrechen.
Es gelang. Die germanischen Reihen lösten sich auf und
verloren sich im Waldesdickicht. Unbehelligt und mit ge-
stärktem Selbstvertrauen kehrten die Römer nach diesen wohl-
feil errungenen Erfolgen über den Rhein zurück.
Im Frühling des nächsten Jahres erschien Germanicus
wieder in Deutschland, früher als jemand erwartet hatte. Er
selbst drang mit der Hauptmacht gegen die Katten vor und
schlug die Überraschten bis über die Eder zurück. Das offene
Land war gründlich verwüstet, während die Bewohner sich in
die Wälder zurückzogen. Hier hätten die Cherusker den Katten
15. Armin im Kampfe mit Germanicus. 111
geholfen, aber der Unterseldherr des Germanicus Cäcina stand
mit einem zweiten Heere drohend in der Nähe. So konnte
Germanicus den Rückzug nach Mainz zu antreten, ohne von
Feinden beunruhigt zu werden. Da aber kamen Gesandte
des Segest, die um Hülfe gegen Angehörige ihres eigenen
Heimatsstammcs baten und ihn zur Umkehr bewogen. Segest
nämlich hatte dem Armin in seiner Abwesenheit die Thusnelda
wieder geraubt und wurde nun von dem erzürnten Gatten,
zu dem die meisten Cherusker standen, in seiner befestigten
Hofstätte belagert. Germanicus, erfreut, dem gefährlichsten
Feinde schaden, vielleicht gar ihn in seine Gewalt bringen
zu können, nahm die Gesandten gnädig auf und ließ das
Heer umkehren. Vor Segests Burg kam es zum Kampfe
gegen Armin. Mit leichter Mühe vertrieben die überniächtigen
Römer die kleine Schar des Belagerers. Segest mit seiner
Sippe und einem stattlichen Gefolge wurde befreit und begab
sich in römischen Schutz. Unter den vornehmen Frauen, die
der Römling mit sich zu Germanicus brachte, war leider auch
die edle Thusnelda, mehr dem Gatten als dem Vater gleichend.
Thränenlos trug sie ihr herbes Geschick, das sie auf immer
von dem geliebten Manne schied; die Hände über der Brust
gefallet, ohne durch ein bittendes Wort ihre Lippen zu ent-
weihen, schritt sie gesenkten Blickes einher. So geriet sie,
das Weib des Befreiers der Deutschen, durch die Meder-
trächtigkeit ihres Vaters auf immer in die Hände der Römer,
die sie als ein kostbares Unterpfand gegen ihren Todfeind
mit Freuden empfingen und festhielten. Die Gatten haben
einander nie wiedergesehen, nie hat das Auge des Vaters sich
an dem Anblick des erhofften Söhnleins erlaben können.
Denn in der Gefangenschaft gebar Thusnelda einen Knaben,
das Kind ihres Armin, und nannte ihn Thumelikus. Er
ward zu Ravennna erzogen und dann, wie Tacitus sagt,
von einem schmählichen Los betroffen. Wir wissen nicht, wie
der beklagenswerte Jüngling sein Leben beschloß. Man ver-
mutet, er sei unter die Gladiatoren gesteckt worden, jene
Elenden, die für klingenden Lohn zur Belustigung des
römischen Pöbels in den Kampfspielen des Cirkus miteinander
112
15. Armin, im Kampfe mit Germanicus.
fochten. Auch von dem doppelten Jammer Thusneldas als
Mutter und Gattin, von dem nur der Tod sie erlöste,
meldet kein Bericht.
Den leidenschaftlichen Armin trieb der Gedanke an sein
ihm entrissenes Weib und sein schon vor der Geburt ver-
knechtctes Kind fast zur Verzweiflung. Bebend vor Wut und
Schmerz ritt er die Cheruskergaue aus und ab, zum Kampfe
gegen Segest und die Römer rufend. Überall redete er,
was der Haß ihm eingab gegen die Räuber, dieses glorreiche
Volk, das mit seinen zahllosen Armen ein schwaches, wehrloses
Weib entführt habe. „Wir haben den Varus und drei
Legionen vernichtet," rief er, „der vergötterte Augustus und
der viel gepriesene Tiberius vermochten nichts wider uns.
Und wir sollten vor einem unreifen Knaben erbeben? Wenn
ihr die Heimat, die Ahnen und die alten Sitten liebt, so
lasset euch nicht durch Segest zu schmählicher Knechtschaft ver-
locken, sondern folgt mir zur Ehre und Freiheit!" Die
wilde Leidenschaft und die glühende Beredsamkeit des Helden
riß alle niit sich fort. Selbst Armins Oheim, der greise
Jngomer, der bisher zu Segest gehalten hatte, trat zu den
Freiheitskämpfern über. Nicht nur die Cherusker schlossen
sich einmütig dem gefeierten Sieger in der Teutoburger
Schlacht an, auch die Nachbarstümme traten zu ihm. Mit
Besorgnis vernahm es Germanicus. Er sandle zunächst, um
die Feinde auseinander zu halten, seinen tüchtigsten Unter
seldherrn Cäcina mit einer Legion an die Ems. Die Reiterei
ließ er durch Friesland vorrückcn. Mit den übrigen vier
Legionen fuhr er den Rhein hinab durch den Drusus-
kanal in die Nordsee und dann ein Stück in die Ems
hinein. Am Mittellauf dieses Flusses vereinigte sich die
ganze Streitmacht, die über 80000 Mann zählte. Daraus
führte Germanicus das Heer nach Osten, dem vorsichtig aus-
weichenden Armin folgend, bis zum Teutoburger Walde.
Hier ergriff den Feldherrn das Verlangen, den un-
bestatteten Kriegern aus der Varusschlacht die letzte Ehre zu
erweisen. Nachdem das Dunkel des Urwaldes sorgfältig
durchforscht war, betrat das ganze Heer die ernste Stätte.
15. Armin im Kampfe mit Germanicus. 113
Inmitten des Schlachtfeldes lagen die gebleichten Gebeine
unberührt, so wie einen jeden der Tod ereilt hatte, zerstreut
oder in Haufen zusammen. Dazwischen Bruchstücke von Waffen
und Gliedmaßen von Pferden. Von den Baumstämmen her-
ab grinsten die Schädel der Geopferten. Auch die Altäre,
auf denen die Gefangenen geschlachtet worden waren, erblickte
man in den umliegenden Hainen. Tiefe Wehmut über die
Hinfälligkeit alles Menschenglückes ergriff das ganze Heer.
Einige befanden sich darunter, die der furchtbaren Niederlage
entronnen waren. Die berichteten und zeigten nun: hier seien
die Legaten gefallen, dort die Adler ihnen entrissen worden;
an dieser Stelle habe sich der unselige Varus den Tod
gegeben; von jener Anhöhe herab habe Armin die Seinen
angeredet. So bestattete denn das römische Heer, sechs Jahre
nach jener Niederlage, die Gebeine der drei Legionen, die da
lagen, zur Ruhe. Keiner wußte, ob er die Überreste eines
Fremden oder eines lieben Freundes oder Bruders begrub.
Die erste Rasenscholle zu dem Grabhügel, den sie wölbten,
legte Germanicus selbst.
Armin wich mit seinem Heere noch weiter zurück bis in
eine rings von Wald umgebene Niederung. Hier wandte
er sich plötzlich um, und Germanicus ließ sich verleiten, die
Schlacht anzunehmen. Durch einen schnellen Angriff der
deutschen Plänkler wurde die römische Reiterei in Verwirrung
gesetzt und floh.- Hülfsscharen, die der Feldherr sandte,
wurden mit fortgerissen. Sie wären von den Germanen
allesamt in einen tiefen Sumpf gedrängt worden, hätte nicht
Germanicus die Legionen vorgeschickt. Aber auch diesen gelang
es nicht, einen Sieg zu erringen. Die Römer erlitten ohne
Zweifel eine Niederlage. Germanicus trat den Rückmarsch
an, er wagte keinen zweiten Angriff auf Armin. Wie er
gekommen war, so führte er das Heer an die Ems zurück
und suchte zu Schiffe mit einer seiner Legionen den Rhein
zu erreichen. Die Reiterei zog abermals unfern dem Ufer
nach Friesland zu; Cäcina mit vier Legionen sollte den
nächsten Weg nach Xanten einschlagen.
Aber dieser Weg führte fast ununterbrochen durch morastiges
Klee, Die alten Deutschen. 8
114 15. Armin im Kampfe mit Germanicus.
Land, voll zähen Schlammes und versteckten Gewässers. Rings
herum zogen sich allmählich ansteigende Waldhügel, die Armin
besetzt hielt, da er aus wohlbekannten Richtwegen in Eilmärschen
den langsam dahinziehenden, schwerbepackten Soldaten zuvor-
gekommen war. Cäcina sah sich genötigt, mitten in dieser
Bedrängnis ein Lager aufzuschlagen. Da aber griffen Armins
Scharen von allen Seiten an. Angstgeschrei und Schlacht-
rufe erschollen. Die Römer erlitten schmerzliche Verluste.
Endlich trennte die Nacht die Kämpfenden. Aber sie brachte
neues Entsetzen; denn Armin ließ nun alle Gewässer, die auf
den Höhen entsprangen, in die Niederung leiten, wo Cäcinas
Lager stand. Die Befestigungen wurden überschwemmt, die
Mühsal der Soldaten verdoppelte sich. Und dazu tobte vom
Walde her das wilde Jauchzen und Singen der Deutschen,
die sich durch ein fröhliches Gelage auf den morgenden Tag
vorbereiteten. Welch ein Gegensatz zwischen diesem Jubel und
der Stimmung im römischen Lager! Drüben brannten die
Wachtfeuer; nur abgerissene Laute waren zu vernehmen. Die
müden Krieger lagen ohne Ordnung am Walle oder irrten
zwischen den Zelten umher, todmüde und doch schlaflos. Den
Feldherrn Cäcina schreckte ein grauenvoller Traum aus kurzem
Schlummer. Das Bild des Varus, das vielen vor der Seele
stehen mochte, stieg vor ihm aus. Mit Blut bespritzt, stieg
der tote Feldherr gespenstig aus dem Sumpfe, winkte mit
der Hand und schien ihn zu sich zu rufen. Aber der Träu-
mende stieß die Geisterhand zurück.
Als der Tag graute, gab Cäcina den Befehl zum Weiter-
marsch, um möglichst schnell aus dem Sumpfland auf trocknen
Boden zu kommen. Aber gerade als die Legion im tiefsten
Moraste watete, brach Armin hervor. „Seht da!" rief er
den Seinen mit gewaltiger Stimme zu: „Varus und seine
Legionen, zum zweiten Mal in unsre Hand gegeben!" Und
damit stürmte er selbst mit seinem Gefolge aus den Zug der
Römer und sprengte ihn mitten auseinander. Dem römischen
Feldherrn selbst wurde, während er sich bemühte, die Schlacht-
ordnung herzustellen, das Pferd unter dem Leibe getötet. Er
stürzte und wäre umzingelt worden, hätte sich nicht eine
15. Armin im Kampfe mit Germanicus. 115
tapfere Soldatenschar zwischen ihn und die Feinde geworfen.
Durch das Schicksal und durch Armins weise Berechnung
waren die Legionen wirklich in die Hände der Deutschen
gegeben. Aber die thörichte Beutegier der siegesgewisseil Helden
rettete die Römer. Statt die Feinde völlig zu vernichten,
stürzten sie sich auf das Gepäck und singen an zu plündern.
So gelang es den Römern, durch die Umsicht des trefflichen
Cäcina, mit unsäglichen Anstrengungen nach ununterbrochenen
Kämpfen doch endlich gegen Abend auf festen Boden zu
kommen. Wiederum wurde ein Lager ausgeschlagen.
Während der strenge Befehl des römischen Feldherrn die
schwer gefährdeten Legionen zu ihrem Heil zusammenhielt, siegte
im Rate der deutschen Fürsten die Mehrheit der Stimmen
über die Mahnung des scharfen Verstandes. Der wohlerwogene
Rat Armins war, man sollte abwarten, bis die Römer ihr
Lager verließen und sie dann auf dem seichten, schwierigen
Boden umzingeln; aber der alte Jngomer war dafür, ohne
Zaudern anzugreifen, die Beute werde größer sein, .als wenn
man die Feinde erst herauslasse. Diese Meinung war natür-
lich dem wilden Ungestüm der Menge einleuchtender als Armins
Vorsicht. Und so betrog die thörichten Helden wieder einmal
ihre tolle Streitlust. Ungehört verhallte die warnende Stimme
ihres Herzogs — denn als solchen haben wir uns Armin zu
denken —; sein kluger Plan scheiterte, nicht an der römischen
Überlegenheit, sondern an der Stierköpfigkeit seiner Mannen,
deren ungeschlachte Tapferkeit immer noch nicht gehorchen
gelernt hatte.
Beim ersten Morgengrauen begannen die Deutschen den
Wallgraben des römischen Lagers mit hineingeworfenem Reisig
auszusüllen und rannten darüber hinweg gegen den Wall loö,
um ihn zu erklimmen und über die Pallisaden zu klettern.
Nur wenige römische Wachtposten zeigten sich. Da, als die
Deutschen so zwischen Pfahlzaun und Graben gleichsam ein-
geklemmt waren, ertönten plötzlich die römischen Schlachtsignale.
Im Sturmschritt brachen zu allen Thoren die wohlgeordneten
Kolonnen hervor und griffen nun die Angreifer im Rücken
an. Diese, die von der Festigkeit eines römischen Lagerwalles
8*
116 15. Armin im Kampfe mit Germauicus.
keinen Begriff hatten, waren nicht wenig betroffen. Nach
einem verzweifelten Handgemenge löste sich alles in wilder
Flucht auf. Jngomer wurde verwundet aus dem Kampfe
getragen. Armin, als er alles, wie er erwartet hatte, verloren
sah, entkam unversehrt. Ohne durch Angriffe weiter beunruhigt
zu werden, traten die Legionen den Rückzug nach dem Rhein
an und gelangten nach Vetera-Castra. Auch die übrigen
Heeresteile erreichten den Rhein wieder, obwohl sie unterwegs
durch Meer und Stürme schwere Verluste erlitten hatten.
Wenn Germauicus die Anstrengungen und Opfer, die
den Römern der Feldzug gekostet hatte, überschaute, so mußte
er sich gestehen, daß der Erfolg diesen Anstrengungen und
Opfern nicht im mindesten entsprach. Es war kein einziger
Sieg erfochten worden. Allgemeiner als je regte sich der
Freiheitsstolz der Germanen; Armin stand so mächtig und
gebietend da, wie nie zuvor. Germauicus sah ein, daß ein
Angriff, wenn er bedeutsamen Gewinn bringen sollte, von
der See her und zwar mit einem großen Stoß der gesamten
Streitmacht erfolgen müsse. So beschloß er denn, im Früh-
ling des nächsten Jahres (16 nach Christi Geburt) nach dem
Vorbilde seines Vaters, aber mit viel großartigeren Hülss-
mitteln, von der Nordsee her mit seinem ganzen Heere sogleich
mitten in Deutschland einzubrechen. Man gelangte auch glück-
lich bis zur Mündung der Ems, wo die Flotte zurückgelassen
wurde. Ohne Widerstand zu sinden, zog das Heer die Ems
aufwärts und dann in südöstlicher Richtung bis zur Weser.
Hier lagerten auf dem andern Ufer die Cherusker mit ihren
Verbündeten unter Armin. Dieser trat mit einigen andern
Edlen an den Strom und fragte hinüber, ob Germauicus
schon angekommen sei. Aus die bejahende Antwort bat er,
man möge ihm eine Unterredung mit seinem Bruder, den die
Römer Flavus nannten, verstatten. Er wußte also, daß
der Bruder im Gefolge der Feldherrn war. Flavus trat vor.
Armin begrüßte ihn, ließ dann seine eignen Begleiter zurück-
gehen und ersuchte den Bruder, die Bogenschützen, die am
römischen Ufer aufgestellt waren, zu entfernen. Sein Wunsch
wurde erfüllt. Daraus fragte er den Bruder, woher sein
15. Armin im Kampfe mit Germanicus.
117
Gesicht so entstellt sei; denn eine Verwundung hotte diesem
wenige Jahre vorher das eine Auge geraubt. Flavus nannte
den Ort und den Tag der Schlacht. Armin fragte weiter,
welche Belohnung er empfangen habe. Der Bruder nannte
sie mit deni Stolz des echten Römlings: Solderhöhung, die
Ehrenkette, den Ehrenkranz und andere Dienstauszeichnungen.
Da lachte Armin und rief in bitterem Hohn: „Ei sieh doch,
wie billig ist die Knechtschaft zu kaufen!" Flavus suchte sich
zu rechtfertigen; er redete von Roms Größe, von der Macht
des Kaisers; wie des trotzigen Besiegten schwere Strafe harre,
wie aber den Unterwürfigen Gnade und Freundschaft erwarte;
auch seine Gattin Thusnelda und sein Söhnchen würden
übrigens nicht feindselig behandelt. Nun aber brach bei Armin
der ganze Schmerz und Ingrimm, die ganze liebevolle Bitter-
keit seiner gramschweren Seele durch und machte sich in er-
schütternden Worten Luft. Er sprach von des Vaterlandes
gutem Recht, von der atten Freiheit der Väter, von den
trauten heimischen Göttern. Er sprach auch von der lieben
Mutter, die als Witwe in seinem Hofe saß und deren Thränen
noch immer um den ungetreuen Sohn flössen. Er beschwor
den Abtrünnigen, um der Mutter willen möge er doch nicht
sein Haus, die Blutsfreunde, die treuen Mannen, ja den
ganzen Stamm verlassen und schnöde verraten, deren Fürst
und Herr er von Rechts wegen sein sollte. Der Römling
blieb gewiß nicht ungetrosfen von so ungestüm herzlicher Rede.
Aber er hatte nicht die Kraft, die unwürdigen Ketten, die
ihn fesselten, abzuwerfen; er barg die Beschämung hinter
heftigen Worten. Da schleuderte ihm Armin die peinlichste
Kränkung zu, beide gerieten in leidenschaftliche Wut. Hätte
nicht der Strom sie getrennt, sie wären handgemein geworden.
Schon rief Flavus in heftigem Zorn nach seinem Roß und
seinen Waffen. Einer seiner römischen Freunde eilte herbei
und hielt ihn zurück. Armin aber streckte drohend den Arm
empor und kündigte in lateinischen Worten eine Schlacht au,
so daß die Römer die Ansage verstanden.
Am folgenden Tage setzte Germanicus, vom Feinde un-
gehindert, auf das rechte Weserufer hinüber und schlug hier ein
118 15. Armin im Kampfe mit Germanicus.
Lager auf. Es kam für heute nur zu kleinen Reitergefechten,
in denen die batavischen Hülfstruppen der Römer schwere
Verluste erlitten. Durch einen Überläufer erfuhr der Feld-
herr, au welchem Orte Armin die Schlacht liefern wollte
und daß die Cherusker mit andern deutschen Stämmen in
einem dem Donar geweihten Haine versammelt seien und bei
Nacht einen Überfall auf das Lager unternehmen würden.
Die Aussage erwies sich als wahr. Man konnte den Schein
von Wachtfeuern und Opferflammen sehen; Kundschafter, die
sich näher gewagt hatten, meldeten, man höre das Schnauben
der Pferde und das dumpfe Geräusch einer ungeheuren
Menschenmenge. Wirklich rückten nach Mitternacht Scharen
der Deutschen vor das Lager, um es womöglich durch Über-
rumpelung einzunehmen. Da sie aber merkten, daß der Wall
stark mit Truppen besetzt war, zogen sie wieder ab, ohne
einen Speer abgeschleudert zu haben. So verging die Nacht
ohne weitere Beunruhigung. Am nächsten Morgen beriefen
der deutsche wie der römische Feldherr ihre Heere zur Ver-
sammlung und feuerten durch kluge, begeisternde Worte ihre
Streiter zum Kampfe an. Von beiden Seiten stürmten die
Scharen mutig zur Schlacht.
Die Walstatt war eine Ebene, die von den Deutschen
Jdisiawiso, Wiese der Jdise, d. h. der Walküren, genannt
wurde. Sie lag mitten zwischen der Weser und den rechts sie
begleitenden Höhenzügen und zog sich, je nachdem der Fluß
sich ausdehnte oder in schmalem Bette fließend eingeengt
wurde, in wechselnder Breite hin. Im Rücken der Germanen
erhob sich ein Bergwald von hochragenden Buchen ohne Unter-
gehölz. Auf dem Gefilde und am Waldrande stand das
Volksheer; nur ein Teil der Cherusker unter Armin hielt
weiter rückwärts auf der Höhe, um sich von hier aus während
des Gefechtes aus die Römer zu stürzen. Im Römerheere
rückten zuvorderst die keltischen und germanischen Hülfsvölker
vor, dann folgten Bogenschützen zu Fuß und vier Legionen.
Hinter ihnen ritt Germanicus mit seiner Leibwache und einer
auserlesenen Reiterschar. Dahinter kamen die übrigen vier
Legionen, Leichtbewaffnete und die berittenen Bogenschützen. Alle
15. Armin im Kampfe mit Germanicus. 119
Soldaten waren sorglich darauf bedacht, die Zugordnung beim
Übergang zur Schlacht nicht zu stören.
Wären doch die Germanen ebenso an Zucht und Gehorsam
gewöhnt gewesen! Aber diese verscherzten wieder den Sieg und
zerstörten den klugen Plan Armins durch ihren leichtsinnigen
Ungestüm und ihre unbezähmbare Kampfeswut. Gegen Armins
Befehl brach die Hauptmasse der Cherusker zu früh hervor und
stürzte sich auf die stärksten Reitergeschwader. Da befahl Ger-
manicus der übrigen Reiterei seitwärts eine Wendung zu machen
und die Angreifer im Rücken anzufallen. Jetzt griff auch das
Fußvolk an, und zu gleicher Zeit fiel die Reiterei den Deutschen
in den Rücken und in die Flanken. Nach einem wilden, ver-
zweifelten Kampfe geriet die deutsche Schlachtordnung in gräß-
liche Verwirrung. Die einen drängten von der Ebene dem Walde
zu, die andern aus dem Walde ins Freie. Der Teil der Che-
rusker, der auf der Anhöhe mit Armin gehalten hatte, wahr-
scheinlich das Gefolge des Herzogs, wurde jetzt herabgedrängt.
Weithin kenntlich ragte über alle der große Held hervor. Durch
gewaltige Thaten und ermunternden Zuruf, durch Hindeuten
auf seine frisch blutende Wunde suchte er den Kampf zum
Stehen zu bringen. Umsonst! Wunder der Tapferkeit ver-
richtend, stürzte er auf die Bogenschützen los, um ihre Reihen
zu durchbrechen, und dies wäre ihm geglückt, wenn nicht die
keltischen Kohorten sich ihm entgegengeworfen hätten. Dennoch
schlug er sich durch, dank der Riesenkraft seines Arms und
dem feurigen Ungestüm seines Rosses. Mit dem Blut der
Wunde bestrich er sich das Antlitz, um nicht erkannt zu
werden. Jetzt sprengte er gegen die Schar der Chauken, die
in römischem Dienst standen. Diese freilich erkannten ihn doch.
Aber wenn sie auch römische Waffen trugen, so war doch die
deutsche Treue nicht ganz in ihnen erstorben. Sie sahen den
hehren Mann vor sich, von dem der Sänger auch in ihrer
Heimat preisende Lieder sang, über dessen Thaten und Leiden
auch sie begeisterte Thränen geweint hatten. Wie auf Ver-
abredung öffneten sie ehrfürchtig die Reihen vor ihm und ließen
ihn durch. Auch Jngomer entrann. Die meisten Mannen lagen
tot auf dem Schlachtfeld. Weitaus mußten Walhalls Thore
120
15. Armin im Kampfe mit Germanicus.
stehen, um die Scharen der Kommenden zu fassen. Von der
letzten Stunde des Vormittags bis zur Nacht hatte das Morden
gedauert. Leichen und Waffen bedeckten rings das Gefilde.
Die Römer hatten einen glänzenden Sieg erfochten und
mit geringen Opfern. Auf der Walstatt errichteten sie einen
hohen Erdhügel, häuften auf diesen die erbeuteten Waffen zu
einem Siegeszeichen und schrieben daran die Namen der in
der Schlacht besiegten Völker. Aber der Mut der Deutschen
war trotz ihrer furchtbaren Verluste nicht gebrochen. Wütende
Scham erfüllte aller Herzen, daß der heimische Boden das
römische Siegesmal trug. Schon nach wenigen Tagen ver-
langten sie stürmisch von ihrem verwundeten Herzog zu neuem
Kampf geführt zu werden. Alles griff zu den Waffen. Nach-
dem sie schon den Zug der Römer beständig beunruhigt hatten,
stellten sie sich zur Schlacht. Eine enge, feuchte Ebene, von
Fluß und Urwald eingeschlossen, ein Sumpf am Waldesrand,
das war das erkorene Schlachtfeld. Die Angriwarier, die
nördlichen Nachbarn der Cherusker, hatten an der einen Seite
vor alters einen hohen und breiten Damm als Grenzwehr
gegen das Gebiet der Cherusker aufgeworfen. Hier stand
das germanische Fußvolk, den Legionen den Weg zu ver-
sperren ; die Reiterei hielt in den nahen Hainen versteckt, um
den Römern, wenn sie in den Wald einmarschierten, in den
Rücken zu fallen.
Germanicus war durch Späher von den Plänen Armins
unterrichtet und sann daraus, ihn durch eigene List zu ver-
derben. Die Reiterei sollte die Ebene durchziehen, die eine
Hälfte des Fußvolkes den Wall umgehen und im Walde die
Feinde aufhalten, die andere, unter seiner Führung, den
Wall erstürmen und so den Weg öffnen. Aber der Sturm
auf den Grenzwall tvard abgeschlagen. Geschosse und Steine
hagelten furchtbar auf die Stürmenden nieder. Germanicus
zog seine Legionen von dem vergeblichen Kampf zurück und
schob an ihre Stelle die Schleuderer mit den schweren Wurf-
geschützen. Diese überschütteten nun ihrerseits den Wall mit
Geschossen. Die Heldenmütigsten unter den Verteidigern sanken,
von den furchtbaren römischen Pfeilen und Lanzen niedergestreckt.
15. Armin im Kampfe mit Germanicus. 121
Die Reihen lichteten sich in schrecklicher Weise. Und als nun die
Legionen einen zweiten Sturm versuchten, da wichen die Tapfern
zurück. Der Angriwarierwall wurde genommen. Dennoch
gaben sie die Schlacht nicht verloren. Am Waldrande hielten
sie wieder, und nun standen sie wie die Mauern. Ein schier
endloser Kampf, Mann gegen Mann, entspann sich. Aber
die überlegene Bewaffnung und die den Germanen nicht
günstige Örtlichkeit kam doch zuletzt den Römern zu statten.
Dazu kam, daß Armin durch die auf dem Jdisenfeld erhaltenen
Wunden und durch seine unerhörte Thätigkeit erschöpft war.
Aller Ehren wert kämpfte zwar der kühne Greis Jngomer
und feuerte die Seinen an. Aber der Widerstand der starken
Helden erlahmte zuletzt. „Nicht der Mut, nur das Glück
wich von ihnen," sagt der Römer Tacitus. Germanicus
aber rief seinen Soldaten zu: „Schlagt sie tot! Gefangene
nützen nichts! Dies Volk muß völlig vernichtet werden,
sonst ist es nicht zu besiegen!" Wahrlich zwei glänzende
Zeugnisse für die germanische Löwenkühnheil, Zeugnisse aus
Feindesmunde!
Bis in die finstere Nacht hinein wurde gemordet. Eine
Legion schied aus dem Kampfe und schlug ein Lager auf.
Die römische Reiterei hatte ohne Erfolg gekämpft. Ob über-
haupt ein Sieg erfochten ward? Was weiter geschah, spricht
nicht dafür. Germanicus nämlich trat den Rückzug an. Das
waren also die Früchte seiner ungeheuren Anstrengungen! Er
konnte nicht hoffen, das durchzogene Germanenlaud dauernd
für die Römer zu behaupten. Nein, dieses Volk hätte in der
That völlig vernichtet werden müssen, um besiegt zu werden.
Und dies war glücklicherweise nicht möglich. Noms Eroberungs-
gelüste hatten hier ihre Grenze gefunden.
Nur eine Legion wurde auf dem Landwege nach Xanten
geschickt; die Hauptmacht führte Germanicus auf der Flotte
die Ems hinab in den Océan. Anfangs ging die Fahrt
glücklich von statten, aber bald erhob sich ein fürchterlicher
Sturm, der die meisten Schiffe an Klippen und Inseln
schleuderte, andere unter riesigen Sturzwellen begrub. Das
Fahrzeug des Germanicus wurde an die Küste der Chauken
122
15. Armin im Kampfe mit Germanicus.
verschlagen, wo der verzweifelnde Feldherr lange Zeit durch
das Unwetter festgehalten wurde. Endlich legte sich der
Aufruhr der Elemente. Einzelne schwer beschädigte Schiffe
stellten sich ein. Eiligst ließ Germanicus sie ausbessern, und
schickte sie aus, die Inseln abzusuchen. Wirklich wurden die
meisten wieder zusammengebracht, aber in welchem Zustande!
Über 20000 Menschen waren zu Grunde gegangen! Die
Kunde von dem Unglück, das die abziehenden Feinde betroffen
hatte, blieb nicht ohne Wirkung auf die Deutschen. Sie
erkannten darin eine Rache ihrer einheimischen Götter an den
Unterdrückern und bereiteten sich mutig zu neuem Kampf.
Trotz alledem war Germanicus überzeugt, die Widerstands-
kraft der Germanen gebrochen zu haben und durch einen
letzten Feldzug im nächsten Jahre Deutschland zur römischen
Provinz machen zu können. Aber der nüchterne Tiberius gab
sich nicht solchen Selbsttäuschungen hin wie sein jugendlich
feuriger Neffe. Er sah ein, daß all das römische Blut, das
in Strömen geflossen war, vergebens vergossen worden sei,
und deshalb berief er den ruhmdurstigen Helden von der
fruchtlosen Arbeit in Germanien ab. Ungern, ja gebrochenen
Herzens verließ Germanicus das Feld der Ehre, tief gekränkt
gab er das Unternehmen auf, das er als das Werk seines
Lebens, als Vermächtnis seines ruhmreichen Vaters betrachtete.
Am 26. Mai des nächsten Jahres (l7 nach Christus) hielt er
zu Rom einen glänzenden Triumph über die deutschen Stämme,
„die bis an die Elbe wohnen," wie es in dem kaiserlichen
Dekrete hieß. Der Krieg wurde also für beendigt angesehen.
Mit Bewunderung betrachteten die Zuschauer den stattlichen
Helden, der unigeben von fünf blühenden Kindern auf seinem
Triumphwagen stand, und die Abbildungen der Berge und
Flüsse, die Zeugen seiner Siege gewesen waren. Niemand
unter den Römern ahnte, daß sie zwei Jahre später bereits
klagend an der Bahre ihres gefeierten Lieblings stehen würden.
Unter den Gefangenen schritt außer andern vornehmen Ger-
manen und Germaninnen hoch aufgerichtet die unglückliche
Thusnelda mit ihrem nun dreijährigen Söhnlein Thumelikus
einher. Mit kalter Neugier nur mochten die Zuschauer auf
16. Armin im Kampfe mit Marbod.
123
die herrliche, hohe Gestalt und den kleinen Blondkopf blicken.
Uns aber erfüllt es noch jetzt nach fast zwei Jahrtausenden
mit Wehmut, daß damals die Gattin des Mannes, dem wir
verdanken, daß wir Deutsche sind, mit unendlichem Jammer
im Herzen den Triumph des Römers zieren mußte, des lieben
Eheherrn gedenkend, der durch ein grausames Schicksal auf
immer von ihr geschieden war, mit Schmerz und Zärtlichkeit
auf das Kind hinabblickend, auf dem nie das Vaterauge ge-
ruht hatte, das ihr einziger Trost und doch ihr tiefster Kummer
war. Der verächtliche Segest aber, Thusneldens Vater, saß
hochgeehrt unter den römischen Zuschauern und blickte stieren
Auges aus die hinab, die ihm die Teuersten hätten sein sollen.
16. Armin im Kampfe mit Marbod und das
Ende des Helden.
Die Römer gaben nun den Angriffskrieg gegen Deutsch-
land auf und beschränkten sich auf die Verteidigung. Die
Reichsgrenze war von der Elbe, wo Drusus und Germanicus
sie begründen wollten, an den Rhein zurückverlegt. Man
solle doch die Germanen ihrer eigenen Uneinigkeit überlassen,
sagte Tiberius und meirite damit natürlich auch: man solle
diese Uneinigkeit durch eine falsche, hinterlistige Staatsklugheit
nach Kräften schüren. Und sein Rat bewährte sich trefflich.
Die Römer konnten ruhig zusehen, wie sich die germanischen
Bruderstämme untereinander befehdeten und schwächten. Kauni
war die gemeinsame Gefahr beseitigt, als schon eine tiefe
Spaltung Deutschland innerlich zerriß. Als Armin nach der
Teutoburgerschlacht den Kopf des Varus an Marbod sandte,
wollte er diesem damit sagen, daß für alle Germanen die
Stunde gekommen sei, sich gemeinsam auf das römische Reich
zu stürzen und den Erbfeind in seinem eigenen Lande nieder-
zuschlagen. Aber der eigennützige König dachte nicht an das
Wohl des ganzen deutschen Vaterlandes, sondern nur an seinen
eignen Vorteil. Darum that er nichts und beharrte auch
während des großen Krieges, den Armin mit Germanicus
führte, in seiner unpatriotischen Unthätigkeit.
124 16. Armin im Kampfe mit Marbod.
Aber dies sollte ihm selbst zum Verderben ausschlagen.
Seine nördlichen Bundesgenossen, die Semnonen und Lango-
barden, fielen zornig von ihm ab und traten dem Bunde bei,
an dessen Spitze der Kämpfer für die Freiheit, der gefeiertste
und geliebteste Mann der Nation, Armin, stand. Als nun
der römische Angriff auf einmal abbrach, wendeten sich die
Waffen der Vaterlandsfreunde gegen den zweideutigen, un-
patriotischen Marbod, um ihn zu strafen für seine römer-
freundliche Haltung. Der Geist der Freiheit sollte auch in
diesem Teile Deutschlands augefacht werden. Dann erst, wenn
dies gelang, war ein gemeinsamer Angriff auf Rom möglich.
So kam es denn zur Entscheidungsschlacht, und zwar schon
im ersten Jahre nach dem Aufhören der Römerkriege. Es
war am Nordabhange des Erzgebirges im heutigen Sachsen,
wo wieder einmal Germanen gegen Germanen kämpften. Die
Schlachtreihen wurden geordnet. Nicht planlos, wie es einst
Brauch gewesen war, stürzten die einzelnen Scharen in den
Kampf. Hoch zu Roß ritt Armin durch die Reihen der
Seinen, alles mit scharfem Auge überblickend und prüfend.
Mit seiner hinreißenden Beredsamkeit entflammte er die Herzen
der Streiter zu heftiger Schlachtbegier. Auch Marbod redete
zu seinem Heere. Nie sind Germanen gegen Germanen mit
wuchtigerem Ungestüm aufeinander gestoßen. Und dennoch
wurde kein eigentlicher Sieg erfochten, da auf beiden Seiten
der rechte Flügel geschlagen wurde. Daß aber Armins Er-
folg der günstigere war, ergiebt sich aus Marbods Verhalten
nach der Schlacht. Während die Cherusker mit den Lango-
barden und andern Bundesstreitern sich auf einen neuen Kampf
vorbereiteten, zog Marbod sein Lager auf eine Hügelreihe
zurück, ein Zeichen, daß er sich selbst für besiegt hielt. In-
folgedessen aber sielen noch mehr Völker von ihm ab und
gingen zu Armin über. Da sah sich der König genötigt,
nach Böhmen umzukehren, und schickte Gesandte an den Kaiser
Tiberius, die um Hilfe bitten sollten. Die kalte Antwort
lautete: „Marbod hat keinen Grund, die röinischen Waffen
gegen die Cherusker anzurufeu, da er die Römer, als sie den-
selben Feind bekämpften, ohne Hülfe gelassen hat." So erntete
16. Armin im Kampfe mit Marbod. 125
Marbod die erste Frucht seiner eigennützigen und beschränkten
Slaatskunst.
Tiberius aber hetzte heimlich die Germanen gegeneinander,
um die schon erschütterte Macht Marbods vollends zu stürzen.
Und es währte kaum zwei Jahre, bis er seinen Zweck erreicht
hatte. Durch römische Umtriebe angestiftet brach eine Em-
pörung im Lande des immer niehr gefürchteten als geliebten
Herrschers aus, an deren Spitze ein eingewanderter Gote,
der junge Katwalda, stand. Mit einer tapfern Schar nahm
er durch einen Handstreich die Königsburg ein und bemächtigte
sich hier des großen aufgespeicherten Schatzes. Als Flüchtling,
von allen verlassen, eilte Marbod an die Donau und bat den
Kaiser durch einen Brief um Gastfreundschaft. Tiberius schrieb
zurück, er solle in Italien einen sichern Aufenthalt finden;
wenn er sich aber anderswohin wenden wolle, so stehe dem
auch kein Hindernis entgegen. Vor dem Senate rühmte sich
der Kaiser, daß er diesen gefährlichen und mächtigen Mann
durch seine schlauen Künste vernichtet habe. Noch achtzehn
Jahre lebte der König, vor dem einst Rom gezittert hatte,
in Ravenna von einem römischen Gnadengehalt. So rühm-
los endete der Mann, der so großartig begonnen hatte, und
so erntete er den letzten verdienten Lohn dafür, daß er bei
allen seinen Herrscherthaten mehr seinen eigenen Vorteil als
seines Volkes Wohl bedacht hatte.
Weit früher als Marbod, wahrscheinlich im Jahre 21
nach Christus, starb der edle Armin. Seine Gegner waren
gesunken, die Deutschen sahen auf keinen größern als auf ihn,
aber diese Größe war sein Verderben. Armin hatte ein-
gesehen, daß die zersplitterten Stämme der Germanen fester
zusammengefaßt werden mußten, um den übermächtigen Fein-
den auf die Dauer widerstehen zu können. Er hatte der
Nation Freiheit und Selbständigkeit gerettet; darunl glaubte
er ihr auch einen innern Halt verleihen zu müssen, indem er
die cheruskischen Gaue zu einem starken, einheitlichen Staate
zusammenfügte. Unter seiner starken Hand wollte er sie ver-
einigen. Es war nicht Herrschsucht, die ihn dazu trieb, son-
dern die tiefste und klarste Einsicht von dem, was seinem ge-
126 17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung.
liebten Vaterland zum Heile diente. Aber das Volk war nicht
reif, solche hohe Gedanken zu verstehen. Der Freiheitstrotz
der Deutschen lehnte sich sofort gegen jede Beschränkung ihrer
ungebändigten Selbstherrlichkeit aus. Neidische Verwandte des
großen Mannes selbst waren es, die den Kampf gegen ihn
schürten. Es kam zur Fehde. Durch hinterlistigen Anschlag
fiel der Erretter des deutschen Volkes, zwölf Jahre nach der
Varusschlacht. Als fünfundzwanzigjähriger Jüngling hatte der
herrliche Held seine liebe Heimat von der Fremdherrschaft be-
freit; in den langen Kämpfen um die neuerworbene Freiheit
hatte er Leib und Leben, ja auch Weib und Kind für sein
Volk eingesetzt, und nun war er, ein Siebenunddreißiger, von
Mörderhand gefallen. Aber das Volk vergaß ihn nicht und
bewahrte ihm voll dankbarer Bewunderung und Liebe ein
ewiges Gedächtnis. In allen Gauen sangen die Sänger von
ihm ihre schönsten, ergreifendsten Lieder, und aller Augen
leuchteten, und manche Thräne wurde geweint, wenn sein
Name erklang. Und auch wir, die wir uns noch Deutsche
nennen, dürfen und wollen des großen, edlen Mannes nie
vergessen. Hoch oben auf der Grotenburg bei Detmold, un-
fern der Stätte der Varusschlacht, steht sein riesiges Denkmal
in Erz und Stein, errichtet zur Erinnerung an des Helden
herrlichste That; aber das schönste Denkmal, das er sich selbst
gegründet hat, das ist die Liebe, Dankbarkeit und Bewunde-
rung seines deutschen Volkes, das ihm sein Dasein verdankt.
17. Von der Urzeit dis zur Völkerwanderung.
Für eine lange Reihe von Jahren war die Zeit der
großen Kämpfe vorbei. Anderthalb Jahrhunderte lang herrschte
Ruhe zwischen Deutschland und Rom. Germanen und Römer
verkehrten nun friedlich miteinander. In dieser Zeit gewöhnten
sich die eigentlichen Deutschen zwischen Rhein, Elbe und Donau,
die man auch die Westgermanen nennt, allmählich an eine mehr
seßhafte Lebensweise. Der unruhige Wandertrieb legte sich ein
wenig, man lebte nicht mehr ausschließlich dem Krieg, der
Jagd und der Viehzucht, sondern betrieb auch eifriger und
17. Bon der Urzeit bis zur Völkerwanderung. 127
gründlicher als zuvor den Ackerbau. Nur wenige äußere
Thalsachen finb uns aus diesem Zeitraum bekannt. Leider
sind es zumeist nur Bruderkämpfe, von denen berichtet wird.
Am grimmigsten müssen diese bei den Cheruskern
gewütet haben. In blutigen Fehden fand allmählich ihr ge-
samter alter Adel den Untergang. Da endlich erkannte das
Volk, wie recht der große Armin gehabt hatte, als er die
widerstreitenden Parteien im Lande unter einem starken Königs-
zepter einigen wollte. Aber nur ein Mann war übrig, den
sie der Krone für würdig hielten, weil er aus dem erlauch-
ten Geschlecht des großen Helden war. Dieser eine war zwar
gänzlich verrömert, er war ja der Sohn des Römlings Flavus
und trug den römischen Namen Italiens; doch trotzdem
erkoren sie ihn zum König aller cheruskischen Gaue. Vom
römischen Kaiser Claudius, bei dem er weilte, mußten sie ihn
sich erbitten. Er war stattlich von Gestalt, vielleicht äußer-
lich ein Ebenbild seines berühmten Oheims; mit Waffen und
Rossen verstand er nach heimischem wie nach römischem Brauch
umzugehen. Claudius fühlte sich geschmeichelt, den alten Tod-
feinden des Reiches einen König geben zu können. Er stattete
ihn mit Geld und ehrenvoller Begleitung aus und ermahnte
ihn beim Abschied, die Ehre seines Geschlechts hochsinnig zu
vertreten. Die Cherusker empfingen ihn mit herzlicher Freude,
und der Anfang seiner Regierung versprach das Beste. Er
stand allem Parteiwesen fern und erwies sich daher gegen alle
gerecht und wohlwollend. Man rühmte auch von ihm, daß
er trotz seiner römischen Bildung die Freuden eines germani-
schen Zechgelages recht wohl zu würdigen wisse. Allenthalben
erscholl sein Lob. Aber das war nicht von Dauer; bald
flüsterte man sich zu, daß der König vom Kaiser bestochen sei
und sein Land und Volk den Römern in die Hände spielen
wolle. Die Freunde der alten Freiheit sammelten bei den
Nachbarvölkern Mannen zum Kampfe, wurden aber in einer
Schlacht von Jtalicus besiegt. Dieses Glück schlug indes zum
Anheil für den Sieger wie für sein Volk aus. Denn jener
wurde nun ein argwöhnischer Tyrann und die eignen Unter-
thanen verjagten ihn. Da gedachten die Langobarden, die
128 17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung.
nordöstlichen Nachbarn der Cherusker, der alten Treue gegen
Armin, der sie zum Siege über Marbod geführt hatte, und
sie brachten seinen Neffen mit Waffengewalt auf den Thron
zurück. Doch durch diese Kämpfe war die Kraft der ehemals
so mächtigen Cherusker ganz erschöpft; sie sanken von ihrer
fürstlichen Stellung unter den norddeutschen Stämmen herab
und wurden so unbedeutend, daß sie nicht mehr selbständig
hervortraten. Ihre Reste haben sich später mit einigen andern
Völkerschaften zu dem bald kühn emporstrebenden Volksbunde
der Sachsen verschmolzen. An die Stelle der Cherusker
traten als die mächtigsten unter den Westgermanen die
Katten, die wiederum durch ihre Widersacher, die kraftvollen
Hermunduren, in Schach gehalten wurden und unaufhörlich
mit diesen in Fehde lagen. Die Römer schauten allen diesen
thörichten Bruderkämpfen mit Behagen zu.
Am Rhein herrschte seit Jahren Waffenruhe, die nur
einmal in den Jahren 69 bis 70 nach Christus durch den
Aufstand der unter römischer Oberhoheit stehenden Bataver
ernstlich unterbrochen wurde. Der tapfere Bataver Claudius
Civilis, der diesen Kamps leitete, wußte auch verschiedene andere
der am Rhein wohnenden Germanenstämme zur Teilnahme zu
bewegen; doch führte der ganze Aufstand zu nichts, da am
Ende alle in die alten Verhältnisse zurückkehrten. In den
nächsten Jahrzehnten nahm die Herrschaft der Römer einmal
wieder einen Aufschwung. Sie besetzten nämlich das sogenannte
Zehntland, eine Landschaft, von deren Seilen die eine die
obere Donau bildete, die zweite der Rhein vom Bodensee bis
Koblenz und die dritte eine Linie, die sich von der Lahn-
mündung über den Taunus und den Main bis Miltenberg,
nach Lorch an der Rems, die Rauhe Alb entlang bis
Kehlheim bei Regensburg hinzog. Diese Landschaft, das
Gebiet des Schwarzwaldes, des schwäbischen Juras, des
Odenwaldes und des Taunus, war im ersten Jahrhundert
vor Christus nur spärlich von Deutschen besetzt worden,
dann hatten Drusus und Tiberius befestigte Plätze darin
angelegt, auch zahlreiche Abenteurer aus Gallien waren her-
beigezogen, die dort unter römischem Schutze sich niederließen.
Allmählich wurden die Siedelungen so ansehnlich, daß die
17. Bon der Urzeit bis zur Völkerwanderung. 129
Römer beschlossen, dies ganze Gebiet nach Nordosten durch
eine feste Grenzsperre gegen die Einfalle der benachbar-
ten Germanenstämme zu sichern. Die Kaiser Trajan und
Hadrian, deren Regierungen in die Zeit von 98 bis 138
n. Ehr. fallen, erbauten deshalb den berühmten römischen
Grenzwall oder Pfahlgraben, der eine Länge von etwa 800
Kilometern hatte und vom Rhein, gegenüber der Ahrmündung,
bis zur Donau bei Kehlheim reichte. In der Donaugegend
bestand er aus einer mauerähnlichen Aufschüttung von Bruch-
steinen, hinter der in geringer Entfernung Kastelle lagen; im
Rheinlande aus einem Erdwall mit einem Graben davor und
Türmen darauf; ebenfalls verstärkt durch eine Reihe etwas
ferner liegender Kastelle. Das Ganze war kein eigentliches
Festungswerk und sollte hauptsächlich nur zur Überwachung
des Grenzverkehrs dienen. Es durfte deshalb bloß bei Tage
passiert werden und zwar nur von solchen, die den Eingangs-
zoll bezahlt und die Waffen abgelegt hatten. Die Wach-
mannschaften waren durch Verschanzungen gegen plötzliche Über-
fälle geschützt; aber gegen einen größeren, ernsthaften Angriff
konnte der Pfahlgraben nicht gehalten werden.
Großartig sind die Straßen- und Festungsanlagen, die
die Römer im Rheinlande geschaffen haben. So führte von
Lyon eine große Straße nach Metz und Trier, die sich dann
nach Köln und Mainz verzweigte. Eine andere lief vom
großen St. Bernhard an über Straßburg stromabwärts bis
nach Leiden. Die Standlager der rheinischen Legionen bilde-
ten sich zu starken Festungen aus, unter deren Schutze oft
schöne Städte emporblühten. So sind Bonn, Mainz, Straß-
burg, Köln und andere Städte entstanden. Die prächtigste
und größte unter ihnen aber war Trier, das im vierten
Jahrhundert gegen 60000 Einwohner zählte und die glänzendste
Stadt nördlich der Alpen war. Mit dem lebhaften Verkehr,
der in diesen Grenzgebieten herrschte, drang natürlich auch die
römische Bildung ein. Weniger reich entwickelten sich die
Länder zwischen Donau und Alpen. Aber auch hier erwuchsen
aus römischen Standlagern Städte, wie Augsburg, Paffau,
Regensburg, Salzburg und Wien.
Klee, Die alten Deutschen.
9
130 17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung.
Die militärischen Befestigungen und die weit aus-
gedehnten Kolonien der Römer an Rhein und Donau um-
spannten Westdeutschland wie mit einem Netze, das die Deut-
schen nicht zerreißen konnten ohne die gewaltigsten Anstrengun-
gen, und das sie daher auch nicht zersprengten, ohne von der
äußersten Not dazu gezwungen zu sein. Den Ostgermanen
waren keine so festen Schranken gezogen, und deshalb begannen
sie schon im zweiten Jahrhundert ihre weiten Ebenen an der
Ostsee von der Elbe bis über die Weichsel zu verlassen und
nach dem Süden vorzudringen. Die Ostgermanen ziehen dann
später, seit dem vierten Jahrhundert, durch ganz Europa.
Sie zerschlagen das alte, morsche Weltreich der Römer, sie
gründen auf dessen Boden deutsche Reiche, an der Donau, in
Italien, in Gallien, in Spanien, ja an der Nordgrenze
Afrikas. Überall ertönt die deutsche Sprache, überall erklirren
die deutschen Waffen. Aber die Sprache der germanischen Er-
oberer weicht vor der einheimischen der eroberten Provinzen, und
die kühnen Heldenvölker, die ruhmvoll ihre Waffen durch die
Lande trugen, vergehen und verwehen eins nach dem andern,
fast ohne eine Spur zu hinterlasfen. Wie das kam, davon
werden wir in späteren Abschnitten dieses Merkchens berichten.
Ganz anders die Westgermanen, unsre eigentlichen Vorfahren.
Zuerst gezwungen, dann gern und freiwillig, ließen sie sich
genügen mit der alten, reichen, waldigen Heimat, und da er-
füllte sich an ihnen herrlich das alte Wort, daß die Mutter-
erde ihren Söhnen die Treue lohnt und vergilt, indem sie sie
stark macht. Sie haben die Stürme der Jahrhunderte über-
standen, weil sie fest in der mütterlichen Erde wurzelten und
aus ihr immer neue Stärkung sogen. Denn wenn auch die
alten Namen dieser deutschen Völkerschaften zum großen
Teil verschwanden, so schwanden doch die Stämme selbst nicht
dahin, wie die Goten und Wandalen, sondern sie blieben.
Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich in folgender Weise.
Die Bevölkerung Deutschlands wuchs mächtig an. Die
einzelnen Völkerschaften, die bisher durch die unermeßlichen
Grenzwälder voneinander geschieden waren, empfanden das
Bedürfnis, sich einander zu nähern und einen lebhaftern Ver-
17, Bon der Urzeit bis zur Völkerwanderung. 131
kehr zu pflegen. Die Ackerfluren breiteten sich etwas mehr
aus, Wege wurden häufiger angelegt; so rückten sich die bis-
her Abgeschlossenen trotz des immer noch gewaltig ausgedehn-
ten Urwaldes doch näher. Außerdem sahen die Deutschen auch
wohl ein, daß sie ihre zersplitterten Kräfte zu größeren Ver-
einigungen zusammenschließen müßten, um vor den Angriffen
der Römer und andrer Feinde sicher zu sein. So entstanden
an Stelle der vielen kleinen Völkerschaften der Urzeit einige
wenige große Stämme, die freilich nur in der Not ein-
mütig vorgingen. Oft hatte ein jeder Gau eines Stammes
seinen eigenen König, oft führten die einzelnen Gaue kleine
Kriege auf eigene Hand, ja manchmal lagen sie auch jetzt
noch miteinander in Streit. Nur wenn ein starker Feind ab-
zuwehren war oder neuer Ackerboden erobert werden sollte,
standen sie zusammen. Die bedeutendsten dieser neuen Stämme
waren die Alemannen, die Franken und die Sachsen. Die
Alemannen, später auch Schwaben genannt, treten seitdem
Anfang des dritten Jahrhunderts als Völkerbund aus und
nahmen hauptsächlich den Südwesten Germaniens längs des
Pfahlgrabens ein. Die Franken dehnten sich zu beiden
Seiten des Rheines, etwa von Mainz stromabwärts, aus;
sie werden um 240 zuerst genannt. Die Sachsen, die erst
gegen Ende des dritten Jahrhunderts bedeutender hervortreten,
nahmen den deutschen Norden, d. h. Niederdeutschland zwischen
Rhein und Elbe ein. Neben diesen drei großen Völkerstämmen
bestanden von alters her fort die Friesen an der Nordsecküste,
die Hermunduren oder Thüringer in Mitteldeutschland und
die Markomannen nebst den Ouaden in Böhmen und Mähren.
Am gefährlichsten wurden dem römischen Reiche zunächst
die beiden zuletzt genannten Völker. Von ihren nördlichen
Nachbarn gedrängt, ergossen sie sich südwärts durch die römi-
schen Donauprovinzen. Es kostete dem wackeren Kaiser Mark
Aurel furchtbare Anstrengungen, um sie im sogenannten
M arkomannenkrie g e (166 bis 180) zurückzuwerfen.
Sein Nachfolger Commodus schloß Frieden mit ihnen und
begnügre sich damit, sie zur Stellung von Hülfstruppen zu
verpflichten. Zahlreiche Markomannen und andre Deutsche er-
9*
132 17. Bon der Urzeit bis zur Völkerwanderung.
hielten seitdem die Erlaubnis der Kaiser, sich auf römischem
Boden friedlich anzusiedeln. Namentlich in den Donauprovinzen
bekamen viele Tausende als halbsreie Bauern oder Kolonen
Land angewiesen. Viel tüchtige Arbeitskraft wurde da-
durch diesen Ländern gewonnen, aber sie wurden zugleich ganz
allmählich aus römischen Landschaften deutsche, wenn sie auch
vorderhand noch beim Reiche blieben.
Im Lause des dritten Jahrhunderts drangen die Ale-
mannen und die Franken über den Pfahlgraben; jene
erschienen am Oberrhein, diese in der Gegend von Mainz.
Der gewaltige Kaiser Aurelian warf sie zurück. Aber nach
seinem Tode kamen sie wieder, und wenn auch die Kaiser
Probus und Diokletian ihnen manche Niederlage beibrachten,
so nahmen die Alemannen doch das Zehntland als Wohn-
und Ackerland in Besitz. Konstantin der Große besiegte zwar
die Franken, aber als Kolonen füllten auch am linken Rhein-
ufer, wie an der Donau, deutsche Bauern die entvölkerten
Länderstriche an; und noch Konstantins Tode rief einer seiner
Söhne, Konstantins, selbst den Alemannenkönig Chnodomar
nach Gallien, daß er ihm gegen seinen Widersacher Magnentius
helfe. Die Franken und Alemannen überschritten wieder die
Grenze, und im Jahre 355 war das ganze Rheinland mit
fast allen Städten in deutschen Händen. Bis in das Innere
von Gallien plünderten deutsche Streifscharen das unglückliche
Land.
In dieser Not übertrug Konstantius seinem jungen
Neffen I ulian, einem trefflichen Feldherrn, die Kriegführung
in Gallien. Dieser verjagte die Plünderer aus Gallien und
zog dann gegen die Alemannen, die sich des Elsasses bemäch-
tigt und sich hier als Ackerbauer häuslich niedergelassen hatten.
Aber es galt einen harten Kamps; denn sieben alemannische
Gaukönige — der mächtigste darunter war Chnodomar —
hatten sich verbündet, um das eroberte und bebaute Land zu
verteidigen. In der Nähe von Straßburg kam es im
Jahre 357 zu einer furchtbaren Schlacht, in welcher das
Feldherrngeschick Julians und vor allem die bessere Bewaff-
nung und feinere Kriegskunst der Römer über die Todes-
17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung. 133
Verachtung und den wilden Heldenmut der Deutschen einen
ihrer letzten Siege erfocht. Freilich gingen die Vorteile, die
durch diesen glänzenden Sieg errungen wurden, sehr bald
wieder verloren. Prachtvoll schildert der römische Geschicht-
schreiber Ammian, wie König Chnodomar vor den Seinigen
einherritt, das stolz erhobene Haupt von üppigem, rotgoldenem
Lockenhaar umwallt. „Er war", so erzählt er, „als kühner
Krieger und kundiger Heerführer allen wohl bekannt. Auf
seine riesige Körperkraft bauend, erwartete er ungeduldig wie
ein Kampfroß, das in die Zügel schäumt, den Beginn der
Schlacht und schwang einen Speer von unglaublicher Größe.
Weithin sichtbar war er durch den Glanz seiner Waffen;
vertrauend blickten die Seinen auf den berühmten Mann."
Chnodomar befehligte den linken Flügel der alemannischen
Streitmacht, sein Bruderssohn Agenarich, ein herrlicher Jüng-
ling, stand an der Spitze des rechten. Außer diesen beiden
fochten noch fünf Könige, zehn Königssöhne, eine große Schar
Edelinge und 35000 Heermannen mit. Als die Schlacht
begann, verlangten letztere mit großem Geschrei, die Fürsten
sollten wie sie zu Fuß kämpfen, um das Schlachtenlos ihres
Volkes zu teilen. Chnodomar war der erste, der sich vom
Rosse schwang, und die andern folgten seinem Beispiel. Keiner
zweifelte am Siege.
Schauerlich ertönte der Schlachtgesang der Deutschen, als
sie mit hochgeschwungenen Speeren auf die römische Reiterei
losstürzten, furchtbar starrten die wallenden Haare; aus ihren
blitzenden Augen sprühte unbändiger Kampfmut. Heiß und
schwer war das Ringen. Die Alemannen ragten höher und
breiter, mit mächtiger Brust; die Römer wußten ihre Kräfte
mehr der Ordnung der Schlacht zu fügen. Während jene
wild und unbändig losschlugen, fochten diese kühn und be-
sonnen. Noch wenn er ermattet in die Knie gestürzt war,
hieb der Germane aus den Gegner los. Eine Schar ale-
mannischer Edelinge brach unwiderstehlich mitten in die römi-
schen Reihen. Alles warfen die Helden vor sich nieder. Bis
in das Innerste der Legionen drangen sie vor. Aber hier
wurden sie von den kaltblütigen Gegnern umzingelt und
134 17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung.
niedergehauen. Endlich ließen die Deutschen ab vom un-
gleichen Kampf. Sie flohen dem Rheine zu. Unzählige ver-
schlang der Strom. Wenigen gelang es, unerreicht von den
römischen Pfeilen, schwimmend das andere Ufer zu gewinnen.
Sechstausend Alemanuenleichen bedeckten das Schlachtfeld.
Auch König Chnodomar, der Wunder der Tapferkeit
verrichtet hatte, war dem Gewühl der Schlacht entflohen.
Mit seinem treuen Gefolge — es waren noch zweihundert
Männer — und drei edlen Blutsfreunden hatte er zwischen
den Leichenhügeln einen Ausweg gesunden. Auch er suchte
das andere Rheinufer zu erlangen. Schon hatte er sich dem
Strome genähert, da geriet er auf weichen Sumpfboden und
stürzte mit dem Rosse. Doch raffte er sich, trotz der ge-
waltigen Last des ermüdeten Körpers, wieder auf und floh
mit den Seinigen auf einen bewaldeten Hügel. Hier aber
wurde er entdeckt. Die Römer kannten ihn aus der Schlacht
nur zu gut. Ein römischer Befehlshaber eilte mit einer star-
ken Truppe aus den Hügel zu und umstellte ihn vorsichtig
von allen Seiten; denn das Gestrüpp zu durchsuchen wagten
sie nicht. Da trat Chnodomar heraus und ergab sich frei-
willig. Das gleiche that fein Gefolge. Die Getreuen hätten
es für schimpflich gehalten, den lieben Herrn zu überleben,
wenn er in der Schlacht gefallen wäre, oder nicht für ihn in
den Tod zu gehen. Jetzt teilten sie mit ihm das traurige
Los der Gefangenschaft und boten sich wie er den Fesseln
dar. Stumm und bleichen Antlitzes ließ sich der Alemannen-
könig von seinen Wächtern zum römischen Feldherrn führen.
Julian empfing den Tiefgebeugten freundlich und verhieß ihm
Schonung. Chnodomar wurde nach Rom geschickt. Dort
starb er bald. Gram um sein zertrümmertes Glück und
nagendes Heimweh brachen seine Lebenskraft. In dumpfem
Hinbrüten, teilnahmlos für alles um sich her, verzehrte sich
der gewaltige Mann.
Noch manche Kämpfe bestand Julian gegen Alemannen
und Franken. Aber er glaubte selbst nicht an wirkliche Unter-
werfung der Besiegten, und als er im Jahre 361 durch den
Tod des Konstantius auf den Thron berufen wurde und
17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung. 13»
Gallien verlassen mußte, sielen sofort neue Alemannen- und
Frankenscharen in das Land ein. Im Jahre 368 fand es
einer seiner tüchtigsten Nachfolger, der Kaiser Valentinian,
notwendig, selbst mit gewaltiger Heeresmacht den Rhein und
Main zu überschreiten, um den unbeugsamen Alemannentrotz
zu bändigen. In einer Schlacht in der Gegend von Heidel-
berg wäre er beinahe ums Leben gekommen, doch sprengte er
zuletzt die Reihen der Alemannen auseinander; viele wurden
erschlagen. Damit begnügte er sich und kehrte nach Gallien
zurück. Doch kaum hatte er den Rücken gewendet, so brachen
die Alemannen unter dem gewaltigen König Makrian wieder
über den Rhein und zu gleicher Zeit die Sachsen von der
See her ins Reich ein. Durch schändlichen Verrat wurden
letztere vernichtet; den Alemannen hetzte Valentinian ihre nord-
östlichen Nachbarn, die Burgunden auf den Hals, um Makrian
zu vernichten. Der Geschichtschreiber Ammian giebt bei der
Erzählung dieser Ereignisse seiner Verwunderung darüber
Ausdruck, daß diese unbändige Nation der Deutschen, trotz
der unzähligen Verluste in den endlosen Kämpfen der Jahr-
hunderte, doch immer wieder zu solcher Volkszahl heranwachse,
als ob sie seit Jahrhunderten nie ein Verlust getroffen hätte.
Die Burgunden sollten die Alemannen vom Rücken her an-
greifen, während Valentinian von vorn über sie herfallen
wollte. Demgemäß brachen sie auch in das alemannische Land
ein, aber der Kaiser erfüllte seine Zusage nicht. Die Bur-
gunden kehrten deshalb enttäuscht und zornig wieder heim.
Der Kampf gegen die mit überschwellend angewachsener Kraft
die römischen Grenzen bedrohenden Alemannen begann aufs
neue. Ein Versuch, den König Makrian in Wiesbaden, wo
er Heilung von einer Krankheit suchte, zu überfallen, scheiterte
durch das lärmende Ungestüm der römischen Soldaten. Den
kranken Fürsten retteten seine Getreuen auf einem Wagen. Nun
suchte Valentinian Zwietracht unter den Feinden zu säen und
setzte einem alemannischen Gau, welcher Mainz gegenüber hauste,
einen besondern König an Stelle des auch hier herrschenden Ma-
krian. Aber der Herrscher von Römers Gnaden wurde sehr bald
zum Lande hinausgejagt. Endlich wußte sich der Kaiser keinen
136 17. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung.
andern Rai, als daß er den gefürchteten Makrian sehr höflich
zu einer Unterredung einlud. Makrian sagte zu, machte aber
zur Bedingung, daß der Kaiser auf das alemannische User
herüberkomme. Auch dazu bequemte sich der Kaiser. So er-
schien denn wirklich am bestimmten Tage Makrian Mainz
gegenüber am Rheinufer, in stolzer Haltung, mit hochempor-
geworfenem Haupte, unter gewaltigem Wafsengetöse seiner Ge-
folgsmannen. Nun bestieg Valentinian, ebenfalls von einem
stattlichen Gefolge begleitet, einige Rheinkahne, fuhr hinüber
und betrat das Land. Die Germanen empfingen ihn ohne
sonderliche Ehrfurcht mit ungestümen Gebärden und höhnischem
Gemurmel. Sie wußten wohl, daß dem Herrn des Welt-
reichs mehr als ihnen an einem endlichen Friedensschluß ge-
legen war. Der Kaiser unterredete sich lange mit dem Könige,
viel wurde hin und her gesprochen. Zuletzt schlossen beide
Fürsten Freundschaft — es mag dem Römer schwer angekommen
sein, den „Barbaren" als seinesgleichen zu behandeln — und
bekräftigten ihren Vertrag durch einen feierlichen Eid. Va-
lentinian begab sich darauf nach Trier ins Winterlager, der
König zog sich besänftigt in sein Reich zurück und erwies sich
von nun an als aufrichtigen Freund der Römer. Bei einem
Zug ins Land der Franken ist er später in einen Hinterhalt
gelockt und erschlagen worden.
Der Kaiser fand schon im folgenden Jahre 375 seinen
Tod. Es galt, die unruhigen Quaden an der Donau ein-
zuschüchtern. Er zog deshalb nach Carnuntum beim heutigen
Preßburg und fiel verheerend in das Gebiet der Feinde ein.
Da erschienen Gesandte der Quaden, um Frieden zu erbitten;
sie gaben zugleich zu verstehen, daß das von ihrer Seite Ver-
übte durch vertragswidrige Maßregeln der Römer reichlich
ausgewogen werde. Aber diese Entschuldigung reizte den
leidenschaftlichen Valentinian zu maßlosem Zorn. Schnaubend
vor Wut schalt er aus das ganze Volk der Quaden. Da
plötzlich stockte seine Rede; sprachlos, mit glühendem Antlitz
stand er wie von einem Blitzschlag getroffen da. Mit einem
Male brach ihm Blut aus Nase und Mund, Todesschweiß
ergoß sich über ihn, er sank in die Arme seiner entsetzten
18. Die Goten bis zum Einfall der Hunnen; Ulfilas, 137
Diener, die ihn in sein Zell trugen. Hier gab er nach
schwerem Todeskampf seinen Geist auf. Seinen Nachfolgern
hinterließ er die niemals glückende Vollendung seines müh-
seligen Lebenswerkes, die Reichsgrenze vor der hereinbrechenden
Hochflut der Germanen zu schützen. Noch in seine letzte Zeit
fiel ein Ereignis von unermeßlichen Folgen: der Einbruch der
Hunnen in Europa, der allmählich die ganze, nördlich der
Donau wohnende Völkerwelt in gewaltsame Bewegung ver-
setzte und dadurch dem römischen Reiche den ohnehin unver-
meidlichen Untergang beschleunigte. Jene gewaltsame Be-
wegung aber nennt man die Völkerwanderung.
Von den Thaten und Leiden germanischer Stämme während
der Völkerwanderung sollen die folgenden Abschnitte erzählen.
Bilder von riesengroßen Leidenschaften, harter Tugend und
schlimmem Frevel entrollen sich. Dazwischen aber steigen
hehre, lichte Gestalten aus, Segen verbreitend im blutigen Ge-
wühl. Und mitten unter den Stürmen der wildbewegten
Zeit schlägt die Religion der Liebe feste Wurzeln, das Evan-
gelium von Jesus Christus. Erst in den Herzen der rein
und stark empfindenden Germanen fand das Christentum den
fruchtbaren Boden, auf dem es zum welterguickenden Wunder-
baum erwachsen konnte.
16. Dir Goten bis ?um Einsall der Hunnen;
Ulfilas.
Die westlichen Germanen, von denen bis jetzt allein die
Rede gewesen ist, waren durch die gewaltsame Grenzsperre,
die ihnen die Römer an Rhein und Donau entgegensetzten,
gezwungen, im Vaterlande zu bleiben und allmählich das
freie Leben des Jägers und Hirten mit dem des Bauern zu
vereinigen. In diesem Zwange lag ein großer Segen; denn
er ließ die Westdeutschen reif werden zur Gründung dauern-
der Staaten und hat das Deutschtum gerettet. Die östlichen
Germanen jenseits der Elbe, die der nomadischen Lebensweise
noch weit näher standen, entbehrten eines solchen Zwanges.
Freier konnten sie ihre Wanderlust walten lassen, und kraft-
138 18. Die Goten bis zum Einfall der Hunnen; Ulfilas.
voll und jugendfrisch zogen sie einher, ein bewundernswerter, herz-
erhebender Anblick. Aber die glänzenden Reiche, die sie auf den
Trümmern des Römerstaates gründeten, sanken schnell wieder
dahin, denn ihre ungezügelte Kraft und geringe Staatsklugheit
konnte sie nicht halten. Ihre Geschichte erscheint reicher und
bunter, ihre Erfolge rascher und leichter als die ihrer west-
lichen Volksverwandten; aber wie alle die herrlichen Helden-
völker mit schrecklicher Notwendigkeit ahnungslos ihrem Unter-
gang entgegeneilten, das erregt noch jetzt tiefe Wehmut. Und es
waren gerade die edelsten und begabtesten Germanenstämme,
die da mit Siegerschritten Europa durchzogen, um alle mit
einem Todeskampfe zu enden. Wie dem aber auch sei, jeden-
falls ist die Zeit der Völkerwanderung wert, auch von uns
gekannt zu werden; denn sie war das Heldenzeitalter unsres
Volkes, ein Heldenzeitalter, so groß und erhaben, wie es
kein anderes Volk der Erde aufzuweisen hat.
Im äußersten Nordosten der germanischen Welt, zu beiden
Seiten der unteren Weichsel, hauste von alters her das edelste
und begabteste germanische Volk, die Goten. Sie zerfielen
in zwei große Stämme, die O st g o t e n oder G r e u t h u n g e n,
d. h. Meersandanwohner, und die Westgoten oder Ther-
winger, d. h. Waldleute. Die Niederung an Weichsel und
Ostsee wurde von diesem Volke nach der Mitte des zweiten
Jahrhunderts verlassen; der Grund war derselbe, der vor
länger als einem Vierteljahrtausend die Kimbern und Teutonen
zum Wandern getrieben hatte: Übervölkerung des Landes, in-
folgedessen Mangel an Ackerboden und Hungersnot. Wie
jene begaben sie sich mit all ihrer Habe, mit Weibern, Kindern
und Knechten, mit Herden, Wagen und Hunden auf die
Wanderung. Die Völkerschaften, die sie auf ihrem Wege
verdrängten, kamen dadurch auch in Bewegung und drängten
wiederum andere Stämme. Daher erklären sich zum Teil
die immer wiederholten Versuche der Alemannen und Marko-
mannen, die römische Grenze zu durchbrechen; sie wurden eben
selbst von ihren nördlichen und östlichen Nachbarn geschoben.
Sehr langsam zogen die Goten vorwärts, und zwar
südlich und südöstlich. Wo sie genügenden Weidegrund und
18. Die Goten bis zum Einfall der Hunnen; Ulfilas. 139
hinreichendes Wohnland fanden, da blieben sie, so lange es
anging. Mit den Völkern, durch deren Gebiet sie kamen,
schlossen sie Verträge, oder sie zwangen sie zur Unterwerfung
oder Auswanderung. Nach langen Unterbrechungen gelangten
sie endlich zu Anfang des nächsten Jahrhunderts, also nach
etwa fünfzigjährigem Wandern, an das nördliche Gestade des
Schwarzen Meeres. Lange Kämpfe zwischen Goten und
Römern begannen; denn die kühnen Helden waren mit dem
Errungenen nicht zufrieden und streckten, sobald wieder Mangel
eintrat, die Hände aus nach den benachbarten Gebieten. Die
reichen römischen Provinzen an der untern Donau lockten zu
immer erneuten Raubzügen, ja selbst das Meer hielt die Ver-
wegenen nicht aus.
Dem Zug der Goten hatte sich ein kleineres Volk vom
Ostseestrande, die Gepiden, angeschlossen. Bei diesen erwachte
jetzt der Neid gegen die stammverwandten Goten, und sie
griffen gegen sie zu den Waffen. Aber der gewaltige Goten-
könig Ostrogota schlug sie in einer blutigen Schlacht und
demütigte ihre Hoffart für lange Zeit. Seine Nachfolger
setzten zu öfteren Malen über die Donau und verheerten die
römischen Gefilde. Ein kaiserliches Heer, das gegen sie zog,
wurde gänzlich vernichtet. Bis an die Grenze von Griechen-
land überschwemmten die Goten plündernd die reichen Gegen-
den der Halbinsel; erst bei den gut bewachten Thermopylen
kehrten sie um. Der Kaiser Decius, der sie anzugreifen
wagte, ging in einer furchtbaren Schlacht im Jahre 251 mit
dem größten Teil seines Heeres zugrunde. Seit die Goten
die Halbinsel Krim im Norden des Schwarzen Meeres er-
obert halten, waren sie treffliche Seefahrer geworden. Gar
zu lockend winkten ihnen die üppigen Auen und reichen Städte
der durch langen Frieden verweichlichten Anwohner jenes
Meeres. Schon im Jahre 254 unternahmen die Verwegenen
einen Zug gegen Pityus, eine starke Festung am Fuße des
Kaukasus. Auf einigen flachen Fahrzeugen kamen die Helden
daher und schlossen, obwohl der Belagerungskunst ganz un-
kundig, die Stadt ein. Aber der kriegserfahrene Befehlshaber
derselben machte sie durch meisterlich gelenkte Ausfälle stutzig.
140 18. Die Goten bis ^um Einfall der Hunnen; Ulfilas.
Sie wurden es müde, vor den Mauern zu liegen, schifften
sich wieder ein und kehrten nach Hause zurück. Es mag nur
eine kleine Schar abenteuerlustiger Recken gewesen sein. Aber
nach drei Jahren kamen sie in größerer Anzahl wieder, nahmen
die Festung durch einen glücklichen Überfall, steuerten weiter
nach Süden und lagerten sich vor der reichen, wohlbefestigten
Stadt Trapezunt. In der Stille der Nacht erklommen die
tollkühnen Goten die unbewachten Mauern und jagten die
feige Besatzung zum entgegengesetzten Thor hinaus. Unermeß-
liche Beute siel ihnen in die Hände. Fröhlich kehrten sie heim.
Noch weiter wagte sich eine Gotenschar im folgenden
Jahre. Diese zog zu Lande, von der Donaumündung an der
Küste südwärts, bis in die Nähe von Konstantinopel, setzte auf
Vorgefundenen Kähnen über die Meerenge, eroberte Chalce-
don, das Konstantinopel gegenüber lag, drang nach Bithynien
und nahm die glänzende Hauptstadt Nicomedien ohne Wider-
stand ein. Vier andere Städte erfuhren dasselbe Schicksal.
Denn ihre Bewohner waren in Üppigkeit versunken und zitter-
ten beim bloßen Anblick der riesigen Söhne des Nordens mit
ihren blitzenden, blauen Augen und wallenden, blonden Haaren,
mit ihren schlanken, kraftvollen Gliedern und ihren Löwen-
stimmen. Erst vor der Insel Kyzikus im Marmarameere kehr-
ten die Goten beutebeladen um und fuhren ungestört und
sehr zufrieden der Heimat zu. Fast alljährlich wiederholten
sie nun ihre Plünderungszüge, bis endlich im Jahre 269 ein
wackerer Kaiser, er hieß Claudius, ein großes Heer sammelte
und damit eine ungeheure Gotenschar schlug und fast vernich-
tete. Trotzdem hörten die Einfälle nicht auf, und der sehr
tüchtige Kaiser Aurelian hielt es für klug, die stürmischen
Germanen dadurch zur Ruhe zu bringen, daß er ihnen ein
großes, fruchtbares Land, die Provinz Dacien (das heutige
Rumänien nebst Siebenbürgen) abtrat. So besiedelten denn
die westlichen Goten die neue Heimat, und damit fiel der
Hauptgrund weg, der sie zu den immer wiederholten Ein-
brüchen in das römische Reich getrieben hatte, der Mangel
an ausreichendem Acker- und Wohnland. Deshalb hörten
vom Jahre 274 an die gotischen Heereszüge, die sechzig Jahre
18. Die Goten bis zum Einfall der Hunnen; Ulfilas. 141
lang die östlichen Länder des Römerreichs in Schrecken gesetzt
hatten, für die Dauer eines Jahrhunderts auf. Die West-
goten machten es sich in ihren neuen Besitzungen bequem und
wendeten ihre Waffen nicht mehr gegen die Römer. Dennoch
gaben sie sich keiner unkriegerischen Ruhe hin. Achteten sie
auch die Verträge mit ihren römischen Nachbarn im Süden,
so gab es andre, germanische und nicht germanische Nachbarn
im Westen, Norden und Osten, mit denen sie sich messen
konnten. Erst im Jahre 366 geriet der stolze Fürst Atha-
narich, der unter den Westgoten durch Macht und Ansehen
hervorragte, in Streit mit den Römern. Kaiser Valens,
der Bruder und Mitregent des trefflichen Valentinian, be-
kämpfte ihn drei Jahre lang vergebens. Endlich gelang es
ihm, den Helden in ernste Bedrängnis zu bringen. Aber im
Laufe der Verhandlungen, die er mit ihm anknüpfte, lernte
er ihn als einen so begabten, einsichtigen und scharfdenkenden
Mann achten, daß er ihn sich lieber zum Freunde machen als
länger feindlich gegenüberstehen sehen wollte. Deshalb ge-
währte er ihm die günstigsten Friedensbedingungen, und es
herrschte wieder das beste Einvernehmen zwischen den West-
goten und den Römern.
Dieser friedliche Verkehr zwischen den Nachbarvölkern
kam der Ausbreitung des Christentums unter den Therwingern
oder Westgoten sehr zu statten. Das gewaltige Verdienst,
seinem Volke die Heilsbotschaft vom wahren Gott und seinem
menschgewordenen Sohne verkündet zu haben, gebührt einem
Westgoten, dessen Name unsterblich geworden ist, dem großen
Ulfilas, dem Übersetzer der Bibel ins Gotische. Ulfilas
oder, wie die gotische Namensform lautet, Wulfila (d. h.
Wölflein), war im Jahre 311 geboren und kam wahrschein-
lich schon in seinem siebzehnten Lebenssahre an den Hof zu
Konstantinopel. Hier erwarb er sich die Kenntnis der grie-
chischen und lateinischen Sprache, nahm das Christentum in
der Form des arianischen Bekenntnisses*) an und widmete sich
*) Arius, ein Presbyter aus Alexandrien, lehrte: weil Christus
von Gott dem Bater gezeugt sei, müsse Gott auch vor Christus vor-
handen gewesen sein, daher sei Christus ein Geschöpf Gottes, also
142 18. Die Goten bis zum Einfall der Hunnen; Ulfilas.
dem geistlichen Stande. Damals schon begann er sein wunder-
würdiges Werk, die Übersetzung der heiligen Schrift in seine
Muttersprache. Nach Vollendung des dreißigsten Lebensjahres
wurde er zum Bischof geweiht und kehrte als solcher in seine
Heimat zurück. Hier, unter den Westgoten, wirkte er als
einer der größten Glaubensboten, die die Geschichte der christ-
lichen Kirche kennt, und bekehrte eine große Zahl seiner Volks-
genossen vom alten Wodansglauben zum Evangelium. Aber
die Ausbreitung des letzteren erregte den Ingrimm derer, die
zähe am Glauben der Väter fefthielten, besonders des mäch-
tigen Fürsten Athanarich, und rief eine heftige Verfolgung
der Bekehrten hervor, so daß viele den Märtyrertod erlitten.
Da stellte sich der gewaltige Mann an die Spitze der Gläu-
bigen und führte sie, eine große Volksmenge, Männer, Frauen
und Kinder, mit aller beweglichen Habe, zu Anfang des Jahres
348 über die Donau in das römische Gebiet. Der Kaiser Kon-
stantius, zu dem Ulfilas, der fromme Hirte, ging und den er um
Aufnahme und Land für seine Herde bat, empfing ihn mit
warmer Hochachtung und nannte ihn mit Recht einen zweiten
Moses. Er wies den Auswanderern Wohnsitze in der Gegend
von Nikopolis (jetzt Tirnowa), unfern dem Nordabhange des
Balkangebirges an. Hier hat Ulfilas unter ihnen gelebt, mit
Wort und Schrift für die Lehre Jesu wirkend, bis der Tod ihm
den beredten Mund schloß und dem Siebzigjährigen die Feder
aus der unermüdlichen Hand nahm. Er starb während einer Sy-
node in Konstantinopel, für die er in wenigen klaren Sätzen sein
Glaubensbekenntnis ausgeschrieben hatte, zu Anfang des Jahres
381. Die ganze Kraft seines Geistes, der ganze Reichtum
seiner Kenntnisse, alle Gewalt, die ihm über die Sprache ver-
liehen war, hat Ulfilas daran gesetzt, um seinem Volke das
Höchste und Beste zu geben, was er geben konnte: die Über-
setzung der ganzen Bibel. Nur die Bücher der Könige soll
diesem untergeordnet, wenn auch unendlich erhabener als alle Menschen.
Diese Lehre wurde von den katholischen oder rechtgläubigen Christen
eifrig bekämpft und auf dem Konzil in Nicäa 325 für ketzerisch er-
klärt. Trotzdem fand sie bei den Oströmern und den Germanen sehr
viele Anhänger.
18. Die Goten bis zum Einfall der Hunnen; Ulfilas. 143
er weggelassen haben, um dem kriegerischen Mut seiner
Landsleute keine neue Nahrung zu geben. Er mußte erst
eine Schrift erfinden, die auf Pergament gemalt werden
konnte; denn die Goten hatten bis dahin nur einzelne Zeichen
oder Worte auf Holz oder Stein geritzt. Er gab die Bibel
einem Volke in die Hand, das kaum wußte, was Lesen sei.
Sein Einfluß ist unermeßlich gewesen: soweit die germanische
Welt dem arianischen Christentum sich zuwandte — und das
that aus anderthalb Jahrhunderte die ganze germanische
Welt —, soweit reichte die gotische Bibel, soweit erstreckte sich
die geistige Macht des Ulfilas. Sein Werk war aber auch
ein Meisterwerk. Es vereinigte eine große Treue des Sinnes
mit einer wunderbaren Herrschaft über die gotische Sprache,
die doch noch niemals zu ähnlichen Zwecken angewendet wor-
den war. Es gab bis dahin nur die dichterische, gebundene
Rede in den uralten Götter- und Heldenliedern; in Prosa
hatte noch nieniand, außer zum gewöhnlichen Gebrauch des
Alltagslebens in Rede und Gegenrede, die gotische, überhaupt
die deutsche Sprache, angewendet.
Das Werk des Ulfilas ist uns nicht ganz erhallen, son-
dern nur der größte Teil des Neuen Testaments, vom Alten
nur ganz wenige Stücke. Unter den Handschriften ist bei wei-
tem die umfangreichste und prachtvollste der berühmte „silberne
Codex" (so genannt von dem gediegenen Silber des Einbands)
auf der Universitätsbibliothek zu Upsala in Schweden. Er
ist mit silbernen und goldenen Buchstaben auf purpurgefärbtes
Pergament geschrieben. In den Überresten des großen Werkes
verehren wir das älteste Schriftdenkmal der Germanen, das
auch für die Erforschung unsrer deutschen Sprache unendlich
wichtig ist. Um die alte gotische Sprache in ihrem maje-
stätischen Klange unfern Lesern ertönen zu lassen, setzen wir
das Gebet des Herrn in der Übersetzung des Ulfilas hierher.
Atta unsar, thu in himinam, weichnai namo
Vater unser, du in Himmeln, geweiht werde Name
thein. Quimai thiudinassus theins. Werthai wilja
dein. Komme Herrschaft dein. Werde Wille
144
19. Ermanarich und die Hunnen.
theins, swê in himina jach ana erthai. Hlaif unsarana
dein, wie im Himmel auch auf Erden. Brot (Laib) unseres
thana sinteinan gif uns himma daga. Jach aflêt uns,
das tägliche gieb uns diesen Tag. Und erlaß uns,
thatei skulans sijeima, swaswê jach weis aflêtam
daß (wir) Schuldner seien, sowie auch wir erlassen
thaim skulam unsareim. Jach ni bringais uns in
den Schuldnern unfern. Und nicht bringest du uns in
fraistubnjai, ak lausei uns af thamma ubilin. Unté
Bersuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Denn
theina ist thiudangardi, jach machts, jach wulthus in
dein ist Herrscherreich und Macht und Herrlichkeit in
aiwins. Amén.
Ewigkeiten. Amen.
Durch die Auswanderung der Goten des Ulfilas verlor
das Westgotenreich zwar zunächst fast alle Christen und in
ihnen seine gesittetsten Männer, das Christentum selbst aber
blieb auch den Provinzen nördlich der Donau unverloren.
Schon um das Jahr 370 waren wieder zahlreiche Christen-
gemeinden entstanden. Der trotzig seinen alten Göttern an-
hangende Athanarich aber erblickte in ihnen Anhänger Roms
und verfolgte sie mit seinem Haß. Sechsundzwanzig Mär-
tyrer fielen als Opfer ihrer Liebe zum Erlöser. Die größten
Leiden, ja selbst den Tod erlitten sie freudig. Und während
Athanarich gegen alle Christen wütete, fand die neue Lehre
einen mächtigen Beschützer in einem andern edlen Westgoten-
fürsten, dem hochangesehenen Fridigern.
19. Ermanarich und dir Hunnen.
Die Oberherrschaft über alle Goten führte damals der
sagenberühmte alte König Ermanarich, aus dem erlauch-
ten Geschlechte der Amaler. Er herrschte ursprünglich nur über
die Ostgoten oder Greuthungen, die die weiten Ebenen des
heutigen Südrußland bewohnten, machte aber auch die West-
goten oder Therwinger von sich abhängig. Er hat etwa von
344 bis 374, also dreißig Jahre lang mit gewaltiger Kraft
19. Ermanarich und die Hunnen.
145
über die Goten und viele kleinere Völker vom Schwarzen
Meere bis fast zur Ostsee das Zepter geführt, so daß man
ihn mit dem großen Eroberer Alexander von Macedonien
verglich. Aber es war ihm beschieden, den Zusammensturz
seines Reiches noch im höchsten Greisenalter mit ansehen zu
müssen. Und das kam so.
Seit unbekannter Zeit hauste in den Steppen von Hoch-
asien ein wildes mongolisches Reitervolk, die Hunnen. Allmäh-
lich rückten sie immer mehr nach Westen, und im Jahre 372 er-
schienen die unheimlichen Gäste plötzlich an der Eingangspforte
von Europa, in den Niederungen zwischen dem Kaspischen See
und dem Uralgebirge, an der unteren Wolga. Niemand
ahnte damals, wie furchtbar die schrecklichen Gesellen die weit
gesitteteren und begabteren Völker unsres Erdteils erschüttern
sollten. Ihr Wesen und ihre Lebensart schildert der treffliche
römische Geschichtschreiber Ammian folgendermaßen.
„Die Hunnen übertreffen alles an roher Wildheit. Mit
eisernen Werkzeugen durchfurchen sie die Backen ihrer neu-
geborenen Kinder, damit die Barthaare durch die Narben
unterdrückt werden. Daher haben sie bis zum Greisenalter ein
nacktes, glattes Kinn. Ihr untersetzter Körper und ihr starker
Gliederbau giebt ihnen bei einem dicken Halse und bei ihrer
gekrümmten Haltung ein ungeheuerliches Ansehn. Man könnte
sie für zweibeinige Tiere oder für rohbehauene Holzfiguren,
wie man sie öfter auf Brückengeländern sieht, halten. Sie
führen, gleichsam Tiere in Menschengestalt, ein viehisches Leben
und kennen weder Feuer noch Gewürz bei der Zubereitung
der Speisen, sondern leben von Wurzeln, wilden Psianzen
oder von dem halbrohen Fleisch aller beliebigen Tiere, das sie
zwischen ihren Schenkeln und dem Rücken der Pferde nur
kurze Zeit erwärmen, um es dann zu verzehren. Sie be-
wohnen keine Gebäude und vermeiden sie vielmehr, weil sie
ihnen Grüfte zu sein scheinen; deshalb haben sie auch
über ihren Zelten nicht einmal ein Rohrdach. Bedeckte Woh-
nungen sind ihnen so beengend, daß sie nur bei der zwingend-
sten Notwendigkeit unter ein Dach treten; sie glauben eben
darunter nicht sicher zu sein. Frei durch Berge und Wälder
Klee, Die alten Deutschen- P0
146
19. Ermanarich und die Hunnen.
zu schweifen ist ihre Lust; da ertragen sie, von Jugend aus
daran gewöhnt, gern Frost, Hunger und Durst. Sie kleiden
sich in leinene Gewänder und werfen darüber einen Pelz aus
Fellen von Waldmäusen. Einen Unterschied zwischen Haus-
und Staatskleidern kennen sie nicht, sondern sobald sie einmal
ihr rohes, unscheinbares Leinengewand angelegt haben, legen sie
es nicht wieder ab und wechseln es nicht eher, als bis es
durch den täglichen Schmutz und Gebrauch zersault und ihnen
schließlich in Lumpen vom Leibe herunter fällt. Eine unförm-
liche, platte Lederkappe deckt ihren Kops. Die behaarten Beine
umwickeln sie zuni Schutz mit Bocksfellen. Ihre Fußbekleidung
ist so ungeschickt gearbeitet und so formlos, daß sie durch die-
selbe im freien Gebrauch ihrer Füße gehindert werden. Des-
halb sind sie auch zum Fußkampfe nicht geeignet, sondern er-
scheinen mit ihren häßlichen, aber flinken und ausdauernden
Pferden fast zusammengewachsen. Tag und Nacht bleiben sie auf
ihren Pferden, kaufen ein und verkaufen, essen und trinken, ja
schlafen sogar auf ihnen, indem sie sich mit dem Oberkörper
auf ihren Hals beugen. Auch zu ihren Versammlungen und
wenn überhaupt etwas Wichtiges zu beraten ist, kommen sie
zu Pferde zusammen.
Die strenge und geregelte Leitung eines Königs ist ihnen
unbekannt. Sie stürzen sich vielmehr unter der Anführung
ihrer Häuptlinge in wildem Durcheinander und in bunten
Haufen mit einem schrecklich klingenden Kriegsgeschrei aus alles,
was ihnen feindlich gegenüber steht. Fast immer sind sie
die Angreifer. Behend, schnell und überraschend im Angriff,
zerstreuen sie sich ebenso schnell und ergreifen scheinbar die
Flucht, wenn sie Widerstand finden, um mit Ungestüm zurück-
zukehren, und reiten dann, wenn die List gelingt, unter einem
entsetzlichen Blutbade alles nieder. Befestigungen und ver-
schanzte Lager greifen sie nicht an, und bei Plünderung der-
selben hat man sie nie getroffen; denn um hier Erfolge zu er-
zielen, sind sie zu roh und ungestüm. Nichts aber gleicht der Ge-
wandtheit, mit der sie aus großer Ferne ihre nur mit spitzen
Knochen versehenen und mit großer Geschicklichkeit und Berech-
nung gearbeiteten Pfeile abschießen. Im Handgemenge kämpfen
19. Ermanarich und die Hunnen.
147
sie mit großer Verwegenheit; sie führen dabei in der einen
Hand ein Schwert, in der andern eine Art Fangleine, mit
der sie den Feind, während er damit beschäftigt ist, ihre
Schwerthiebe aufzufangen, unversehens umschlingen. Gelingt
ihnen das, so ist weder Reiter noch Fußgänger bei so ge-
fesselten Gliedern imstande, weiteren Widerstand zu leisten.
Dies alles macht sie zu höchst gefährlichen Kriegern.
Niemand bestellt bei ihnen einen Acker oder rührt einen
Pflug an. Denn sie kennen eben keine festen Sitze und wissen
nichts von einem Haushalt, einem Gesetze oder einem fest-
stehenden religiösen Gebrauch. Immer im Wechseln und Um-
herwandern begriffen und Flüchtenden ähnlich, ziehen sie mit
ihren Karren, auf denen sie wohnen, umher. Hier spinnen
ihre Weiber jene schlechten Kleider für die Männer, hier
schließen sie die Ehen, hier ziehen sie ihre Kinder auf, bis sie
erwachsen sind.
Kein Hunne kann die Frage nach seinem Geburtsort
beantworten; anderswo ist er geboren, anderswo ausgezogen
worden. Und so unstät wie ihr Leben ist auch ihre Sinnes-
art. Unbeständig, treulos, wechselnd wie der Wind, je nach-
dem sie Vorteil erhoffen, ganz dem Eindruck des Augenblickes
hingegeben, folgen sie mit stürmischer Hast der ersten Ein-
gebung, um mit ihrer gewohnten Schnelligkeit das Ziel zu
erreichen. Was ehrbar, was unanständig ist, wissen sie ebenso
wenig wie die Tiere des Waldes. Zweideutig und falsch,
ohne irgend eine religiöse Scheu, fühlen sie sich nicht zum
Hallen von Verträgen verpflichtet; die Gier nach Gold ist
stärker als alle andern Gefühle. Jähzornig und unzuverlässig,
sind sie imstande, an demselben Tage, ohne daß sie eigentlich
beleidigt oder gereizt sind, von Bundesgenossen abzufallen
und, ohne daß jemand sie darum bittet, wieder zu ihnen zu-
rückzukehren. Das ist das Wesen dieses behenden, unbändigen
Menschenschlages."
So war das Volk beschaffen, das um das Jahr 372
die Wolga überschritt und zunächst die dort wohnenden Alanen
überfiel, welche wahrscheinlich mit ihren germanischen Nachbarn
vielfach vermischt, aber keine reinen Germanen waren. Diese
10*
148
19. Ermanarich und die Hunnen.
zwangen sie, sich ihnen anzuschließen und mit ihnen zwei
Jahre später das Reich der Ostgoten anzugreisen.
Über die Ostgoten herrschte noch immer der uralte, ge-
waltige Ermanarich, und immer noch hielt das Ansehen
des Völkerfürsten die mannigfaltigen Stämme seines weit-
ausgedehnten Reiches in Gehorsam. Aber als die hunnischen
und alanischen Horden in seine Marken brachen, war der
mächtige Greis krank. Er siechte an einer Wunde dahin.
Ein Fürst hatte ihm die Treue gebrochen. Da ließ er die
Gemahlin des Verräters, S w a n h i l d geheißen, ergreifen
und von wilden Pferden zerreißen. Aber die grausame That
rächten die Brüder der Ermordeten, Sarws und Hamadeo.
Der alte König hatte die Gewohnheit, oft in tiefes Nach-
denken versunken regungslos dazusitzen. Das benutzten die
Brüder und stießen ihm, als er einstmals so dasaß, ein
Schwert in die Seite. Die Wunde war nicht tödlich; aber
krank und hinfällig schleppte Ermanarich seitdem sein Leben
hin. Als dies der damalige oberste Anführer der Hunnen
erfuhr, fiel er mit seinen Scharen in das Ostgotenreich ein.
Da verzweifelte der ruhmgekrönte Greis, der sich kampfunfähig
sah, an einem ehrenvollen Ausgang des Kampfes; und dieser
Seelenschmerz brachte ihm den Tod. Nach einer andern Nach-
richt machte er seinem Leben selbst ein Ende. Er starb,
hundertundzehn Jahre alt. Und nach seinem Tode sank sein
großes Reich in Trümmer. Die unterworfenen Nebenvölker
machten sich frei oder traten auf die Seite der Hunnen. Die
Ostgoten erlagen den Hunnen und erkannten ihre Oberherrschaft
an, doch so, daß sie eigene Könige behielten.
Das Andenken an den einst so gefürchteten Amaler
Ermanarich, an seine Macht, an seinen grausen Zorn, dem
Swanhild zum Opfer siel, an die Rache der Brüder und an
den Tod des greisen Königs hat sich in gotischen Volksliedern
von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt. Die nordische Sage
weiß noch vom König Jörmunrek, von der schönen strahl-
äugigen Swanhild und von ihren Brüdern Sörli und Hamdir
zu berichten, und selbst in den deutschen Volkssagen des
Mittelalters spukt noch die mächtige Gestalt des „Kaisers
20. Die Westgoten im römischen Reiche; Fridigern. 149
Ermenrich", der hier freilich zu einem feindseligen Oheim
Dietrichs von Bern, d. i. Theoderichs des Großen, geworden
ist, welcher in Wirklichkeit erst ein Jahrhundert nach Erma-
narich lebte.
Hier wollen wir für jetzt die Ostgoten verlassen, um zuvör-
derst die Schicksale und Thaten ihrer westlichen Brüder, der
Therwinger, weiter zu berichten.
20. Die Westgoten im römischen Reiche;
Fridigern.
Die räuberischen Einfälle der Hunnen zwangen bald die
Westgoten sich ihnen zu entziehen. Jene halbtierischen Wüte-
riche schonten weder Jungfrauen noch Kinder, und was das
Schlimmste war, sie stellten sich zu keiner Schlacht. Wie
Diebe brachen sie ins Land, und wenn die Westgoten sie mit
den Waffen für ihre Greuelthaten strafen wollten, stoben sie
schnell wie der Wind auseinander und waren alsbald ver-
schwunden. Das ganze Bolk sehnte sich nach Ruhe und
Rettung vor den Abscheulichen. Man glaubte sich erst ge-
rettet, wenn der mächtige, stark befestigte Donaustrom den
Feind zurückhalte. Der gewaltige Athanarich jedoch wollte
davon nichts wissen; mit seinem Gefolge und zahlreichen aus-
erwählten Mannen zog er in die nördlichen Gebirge von
Siebenbürgen, wo dichte Waldungen Schutz gewährten, um
von hier aus durch plötzliche Überfälle die Hunnen zu züchtigen.
Die größere Hälfte der Westgoten aber, darunter sämtliche
Christen, sammelten sich unter der Anführung der Fürsten
Fridigern und Alawiv am Ufer der Donau. Es war
eine ungeheure Menschenmasse, die wehrhaften Männer allein
200 000. Sie flehten durch Gesandte den Kaiser Valens
demütig um Ausnahme ins römische Reich an und gelobten
dafür, friedliche Gäste zu sein und Waffenhülfe zu leisten.
Valens hielt es für vorteilhaft, dem Staate soviele tüchtige
Krieger zu gewinnen; er hoffte sich ein unüberwindliches Heer
zu verschaffen. Er übersah daher die Gefahr, die immerhin
die Aufnahme einer so gewaltigen Menschenmenge für das
150 20. Die Westgoten im römischen Reiche; Fridigern.
Reich bringen konnte, und gab die Erlaubnis, daß das ganze
Weftgotenvolk die Donau überschreiten und sich in der Pro-
vinz Thracien ansiedele. Doch sollten sie vor dem Betreten
des römischen Bodens die Waffen abliefern und einige adelige
Jünglinge als Geiseln stellen. Nun setzte eine Menge von
Schiffen, Nachen und hohlen Baumstämmen ohne Unterbrechung
viele Tage und Nächte hindurch die Goten über den Strom.
Die Beamten, welche die Zahl der Übergesetzten aufschreiben
sollten, gaben diese Arbeit bald aus, da sie sie nicht aus-
führen konnten. Mit der Ablieferung der Waffen wurde es
auch nicht genau genommen. Biele bestachen die habgierigen
Römer, die ihnen die Waffen abnehmen sollten, und behielten
also ihre Wehr. Das fruchtbare, aber wenig angebaute
Thracien wurde von der neu eingewanderten Bolksmasse an-
gefüllt.
Der Kaiser befahl, seinen neuen „Bundesgenossen" Lebens-
mittel zu mäßigen Preisen zu reichen, und es wäre vielleicht
alles so gut abgelausen, wie Valens hoffte, hätten nicht die
kaiserlichen Beamten, die Statthalter Lupicinus und Ma-
ximus, ebenso schändlich als thöricht, diese Gelegenheit be-
nutzen wollen, um sich aus Kosten der Goten zu bereichern.
Diese beiden Männer trifft die Schuld an dem furchtbaren
Unglück, das bald über das oströmische Reich hereinbrach.
Lupicinus und Maximus ließen den Goten nicht nur
schlechtes Fleisch von Schafen und Rindern verkaufen, sondern
bald auch verreckte Hunde und Katzen, und diese elende Nah-
rung erhielten die Goten um so hohe Preise, daß sie, als
ihnen ihre geringen Kostbarkeiten, ja auch die Sklaven aus-
gingen, nur um nicht Hungers zu sterben, ihre Söhne und
Töchter hergeben mußten, die die habgierigen Kaufleute als
Zahlung forderten und an die sittenlosen Herren in den rö-
mischen Städten verhandelten. Kein Wunder, daß unter so
traurigen Umständen die beklagenswerten Goten, die sich,
rings von Überfluß umgeben, dem äußersten Elend preis-
gegeben sahen, anfingen zu murren und Drohungen laut
werden zu lassen. Die Statthalter merkten bald die gärende
Unzufriedenheit; es wurde ihnen vor der Menge doch bange,
20. Die Westgoten im römischen Reiche; Fridigern. 151
und sie beschlossen daher, die Fremdlinge in verschiedene Ge-
genden zu verteilen, um sie bei einem Ausstande schneller
einzeln unterdrücken zu können. Um dies geräuschlos auszu-
führen, bot Lupicinus Soldaten auf, die er aus den Ufer-
bollwerken an der Donau ziehen mußte. Das machten sich
viele Ostgoten zu nutze, die aus der Flucht vor den Hunnen
waren und schon seit einiger Zeit jenseit der Donau standen,
ohne für ihre Bitte um Aufnahme in das römische Reich
Gehör zu finden, da den Kaiser schon seine Gastfreiheit gegen
die Scharen Alawivs und Fridigerns reuen mochte. Jetzt, als
diese Ostgoten die Donaubefestigungen von Besatzungen ent-
blößt sahen, fügten sie rasch eine große Anzahl kunstloser Flöße
zusammen und fuhren herüber in die römische Provinz, wo
sie sich festsetzten.
Die Goten in Thracien hatten schon längst eingesehen,
daß die Freundschaft der Römer eine zweifelhafte Wohlthat
war; sie sahen sich wie eine Herde Schafe zur Schur geführt.
Und dennoch mäßigten sich diese starken Helden; noch Schlim-
meres niußte geschehen, bis die treuherzigen Deutschen zum
äußersten gereizt das Schwert aus der Scheide rissen und sich
fürchterlich rächten. Die Statthalter selbst gaben dazu den
Anlaß, da sie sich nicht anders mehr zu helfen wußten, als
indem sie das verratene Volk seiner Führer beraubten. Zu
diesem Zwecke ohne Zweifel luden sie einst die Fürsten Fridi-
gern und Alawiv nebst andern Vornehmen zu einem glän-
zenden Gastmahl nach der Stadt Marcianopel ein. Mit
großem Gefolge ritten die Edlen hin, mußten es aber vor
den Thoren der Stadt lassen und nur von einer geringen
Anzahl begleitet zu dem Palaste des Lupicinus ziehen. Als
man nun hier beim Mahle saß, entstand draußen vor der
Stadt ein Streit zwischen dem fürstlichen Gefolge und den
römischen Kriegern. Die Goten wußten, daß hinter den
Thoren ein mit Lebensmitteln reichlich versehener Markt lag,
und sahen sich mit Unwillen ausgeschlossen; denn nicht einmal
Einkäufe durften sie machen. Wie Feinde oder Verbrecher
wurden sie bewacht; ihre Bitten, sie einzulassen, sie seien ja
Unterthanen und Bundesgenossen des Kaisers, wurden mit
152 20. Die Westgoten im römischen Reiche; Fridigern.
Hohn zurückgewiesen. Die boshaften Bemerkungen der Römer
reizten den Ingrimm der Goten, es kam zu heftigen Schelt-
reden. Schließlich konnten die Beleidigten sich nicht länger
bändigen; die Schwerter wurden aus der Scheide gerissen, es
entstand ein Handgemenge, mehrere Römer wurden erschlagen.
Ein geheimer Bote brachte dem Lupicinus während der Tafel
die Nachricht hiervon. Der Wein hatte bereits die Sinne
des Schwelgers umnebelt; er hielt es nun an der Zeit, seinen
ruchlosen Plan auszuführen, und erteilte deshalb heimlich den
Befehl, den kleinen Teil des Gefolges, dem man den Eintritt
in die Stadt gewährt und der, von den Fürsten getrennt, ni
einem andern Teil des Palastes geschmaust hatte, nieder-
zumetzeln. Es geschah; die Wehrlosen wurden zusammen-
gehauen.
Inzwischen hatte Lupicinus den Fürsten nicht verhehlen
können, daß ein blutiger Zusammenstoß zwischen seinen Krie-
gern und ihren Mannen vor dem Stadtthore erfolgt sei; in
den Augen des tückischen Mannes mochte Fridigern den
Mordplan lesen. Das Todesgeschrei des treuen Gefolges
mag an sein Ohr geschlagen sein. Kurz, er fühlte, daß er
verraten sei und nur ein kühner Entschluß ihn retten könne.
Da sprang er von der Tafel aus, indem er schrie, nur er
könne den Aufruhr stillen, den andern Fürsten zurief, ihm zu
folgen, und das blanke Schwert in der Hand aus dem Palast
stürzte. Durch die erstaunten Römer hindurch liefen die
Deutschen zu ihren Rossen, und ehe sene sich besannen, was
geschah, sprengten sie durch die Straßen dem Thore zu, er-
reichten es glücklich und wurden von ihren Getreuen mit
lautem Jubel empfangen. Bald waren die Germanen den
Augen der Römer entschwunden.
Das Gefühl der Freude darüber, daß die Fürsten ge-
rettet waren, machte dem der Wut und des grimmigsten
Schmerzes Platz, als man die Niedermetzelung der treuen
Gefolgsleute im kaiserlichen Palast erfuhr. Der schändlichste
Bruch des Gastrechts, das auch dem wildesten Barbaren heilig
ist, war von den Römern verübt worden. Gegen ein so
treuloses Volk glaubten die Goten sich aller Verbindlichkeit
20. Die Westgoten im römischen Reiche; Fridigern. 153
entledigt. Sie trugen die Kunde der greulichen That in alle
Gaue, und überall ertönte der dumpfe Klang der Stierhörner,
die den Aufruhr verkündeten, die zum Rachekamps riesen. *
Hastig hatte der erschrockene Lupicinus ein Heer zusammen ge-
rafft, mit dem er, unbesonnen genug, aus dem festen Marci-
anopel herausrückte. Bald stieß er auf die Goten, machte
halt und ordnete die Seinen. Jetzt stürmten die Goten, zum
„Eberkopf" geordnet, ingrimmig gegen die Front der Römer an,
und schon der erste Anprall entschied den Kampf. Die Römer
vermochten der ungeheuren Wucht des Stoßes nicht stand zu
halten. Im blutigen Gewühl verloren sie sämtliche Feld-
zeichen ; fast alle Kriegsobersten und der größte Teil des
Heeres kamen um. Lupicinus aber floh, während die andern
sich noch wehrten, in gestrecktem Laufe der Stadt zu und
rettete so sein schmachbedecktes Leben.
Einen glänzenden Sieg hatten die Goten erfochten. Den
Gefallenen wurden die Rüstungen und Waffen genommen, die
den Siegern hochwillkommen waren. Die Hungersnot hörte
auf, denn man nahm fetzt einfach das, was den gerechtesten
Bitten solange schnöde verweigert worden war. Die Rönier
flüchteten sich überall hinter die Mauern ihrer Städte, denn
die Goten, deren lange zurückgehaltener Grimm jetzt keine
Grenzen kannte, verschonten keinen, der einen römischen Namen
führte. Wie schnell hatte sich das Blatt gewendet! Die
armen Hülfeflehenden, die mit Hohn Abgewiesenen, denen man
ihre eignen Kinder in schmählicher Ausnutzung ihrer Not ab-
geschachert hatte, die waren fetzt die Herren des offenen
Landes bis zur Donau. Nach kurzer Zeit rückten die Goten
gegen die Stadt Adrianopel und suchten sie durch Sturm zu
nehmen. Aber trotz eines Mutes, über den selbst die Römer
erstaunten, vermochten sie gegen die starken Besestigungswerke
und die großen Schleudermaschinen der Belagerten nichts aus-
zurichten. Mit tiefem Verdruß erfüllte es diese Tapsern,
wenn hier und dort ihre Genoflen sanken, von heimtückischen
Schützen, die sicher hinter den Mauern saßen, getroffen, ohne
daß sie die wackern Kampfbrüder rächen konnten. Da sah
Fridigern ein, wie zwecklos und entmutigend es sei, länger
154- 21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere Kämpfe.
vor der Stadt zu liegen, und zog deshalb ab mit den
Worten: „Wir wollen nicht mit Mauern kämpfen, sondern
* mit Menschen." Man wird weder ihm noch seinen Getreuen
aus diesem Abzug einen Vorwurf machen, wenn man bedenkt,
daß die römischen Festungsmauern an die dreißig Fuß hoch
waren und durch die stärksten Wurfmaschinen verteidigt
wurden.
Fridigerns Scharen zerstreuten sich nun plündernd über
die offenen Gesilde von Thracien, da die Fürsten glaubten,
der Kaiser werde aus Erbarmen mit seinem eignen Lande
einen billigen Frieden mit ihnen suchen. Ihre Zahl nahm
von Tag zu Tag zu; denn aus allen Teilen der angren-
zenden Provinzen strömten Goten und Männer von andrer
Herkunft, ja selbst arme Römer herbei, die unter der Miß-
handlung der Reichen und dem Druck der Steuern geseufzt
hatten. Sie wurden freudig ausgenommen, da sie am besten
vermochten, den Goten die verborgenen Schlupfwinkel, Gruben
und Kellerräume zu zeigen, in denen die Römer ihre Kost-
barkeiten und Lebensmittel aufgespeicbert hatten. Brand und
Mord wütete in ganz Thracien, und an der Donau plün-
derten gleichzeitig ostgotische und hunnische Heerhaufen das
unglückliche Land. Dahin hatte die verruchte Habsucht rö-
mischer Beamten das römische Reich gebracht.
21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere
Kämpfe.
Wie erschrak Kaiser Valens, als er von diesen Ereignissen
hörte! Rasch schloß er Frieden mit den Persern, die in
Kleinasien einzufallen drohten, und schickte die Legionen nach
Europa herüber. Die Goten schlugen sich inzwischen mit ver-
schiedenen römischen Heeren herum, immer ehrenvoll, aber
ohne großen Erfolg. Beide Teile erlitten schwere Verluste.
Endlich, im Sommer des folgenden Jahres 378, kam Valens
an der Spitze seiner Legionen von Konstantinopel her auf der
Straße nach Adrianopel gezogen. Er wollte beweisen, daß
er seinem Neffen Gratian, seinem viel bewunderten Mitregenten
21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere Kämpfe. 155
im Westen des Reiches, an Feldherrntüchtigkeit nicht nach-
stehe, und womöglich die Goten bezwingen, ehe Gratian ihm zu
Hülfe käme. Ebenso eifrig wünschte Frid igern eine Schlacht
zu liefern, bevor Verstärkung für die Feinde einträfe.
Am 9. August brach das kaiserliche Heer mit Sonnen-
aufgang auf, die Goten aufzusuchen. Das Gepäck ließ man
dicht bei Adriauopel zurück. Anderthalb Meilen mußten
die schwergewappneten Krieger auf schlechtem Wege im Schnell-
sckiritt marschieren, und dabei stieg die Sonne immer höher
und schien heiß herab. Es war um Mittag, als sie die
kreisförmige Wagenburg des gotischen Heeres erblickten. Unter
dröhnendem Kriegsgesang ordneten sich die Goten. Die rö-
mischen Feldherrn stellten ihre Reihen so auf, daß die Reiter
das Vordertreffen bildeten und dahinter erst das Fußvolk
stand. Da, als die Römer das Signal zum Beginn des
Kampfes jeden Augenblick erwarteten, schritt aus dem gotischen
Heerhausen eine Gesandtschaft hervor, die um Frieden bat. Dem
Kaiser erschienen aber die Gesandten nicht vornehm genug, er
verlangte, daß die edelsten Fürsten selbst kämen als Bürg-
schaft, daß das Anerbieten ernsthaft gemeint sei. Die Ge-
sandten kehrten um. Es verging wieder eine Zeit. Mittler-
weile standen die ermüdeten Legionen im Sonnenbrände hung-
rig und mit trocknen Kehlen da. Der schlaue Fridigern ver-
zögerte nämlich nur darum den Ansang des Kampfes, weil
er erst die Ankunft einer ostgotischen Reiterschar, die ihm
Hülfe zugesagt hatte, abwarten wollte. Daher entsandte er
noch einmal einen Boten, mit der Bitte, der Kaiser möchte
etliche vornehme Männer ins Gotenlager schicken, die er seinem
Volke gegenüber für Geiseln ausgebeu könnte; die Bürgschaft
dafür, daß sie unversehrt blieben, nehme er auf sich; anders
könne er den Wunsch des Kaisers nicht erfüllen. Jetzt siegte
bei dem wankelmütigen Valens die Bedenklichkeit über die Ent-
schlossenheit. Er zeigte sich bereit, wenigstens einen seiner
Großen hinübergehen zu lassen, und der kühne Richomer,
ein Franke von Geburt, erbot sich dazu freiwillig. Während
er aber auf das gotische Lager zuschritt, änderte sich plötzlich
die Sachlage durchaus. Die beiden Führer der römischen
156 21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere Kämpfe.
Vorhut Hutten sich thöricht genug in ein Handgemenge mit
den gegenüberstehenden Feinden eingelassen und mußten sich
» mit blutigen Köpfen zurückziehen, ein übles Vorzeichen für den
Erfolg der Schlacht. Das Getümmel hinderte Richomer weiter
vorzuschreiten; und in demselben Augenblicke sausten auch die
ostgotischen Reiter aus den Bergschluchten schnell wie der Blitz
herbei. Fridigern hatte seinen Zweck erreicht, die Römer
hatten durch nutzlose Verhandlungen die beste Zeit verloren.
Von allen Seiten begann nun die Schlacht. Vor dem
furchtbaren Anstürmen der Goten wichen gleich anfangs die
Römer zurück. Aber die ermutigenden Zurufe der Feldherren
brachten sie wieder zum Stehen, und das Schlachtgewühl
schwoll wie eine Feuersbrunst an. Wütend stießen die feind-
lichen Reihen aufeinander. Der linke Flügel der römischen
Reiter drang fast bis zur Wagenburg vor, aber er blieb ohne
Unterstützung und wurde deshalb von den allenthalben ein-
stürmenden Goten erdrückt. Das Fußvolk stand nun ohne
Deckung da, und so eng waren die Scharen zusanimengedrängt,
daß die Soldaten kaum das Schwert ziehen und die Hände
rühren konnten. Der Himmel war von Staubwolken ver-
hüllt, betäubendes Geschrei erfüllte die Luft. Überall brachten
die Geschosse Verderben, weil keiner sie kommen sah und sich
decken konnte. Flucht war in der fürchterlichen Enge un-
möglich. Die Felder füllten sich mit Leichenhaufen. Die
Seufzer der Sterbenden klangen schrecklich an die Ohren der
Gesunden. Schwarzes, geronnenes Blut bedeckte den Boden
weithin, und der Fuß der Streiter glitt auf dem schlüpfrigen
Schlamm aus.
Die Sonne neigte sich zum Untergang. Mit neuer Wut
stürmten die Goten heran, da war es mit der Widerstands-
kraft der unglücklichen Römer zu Ende. Wem seine Glieder
noch gehorchten, der wandte sich zur Flucht. Es waren nur
elende Trümmer des Heeres, die flohen. Die ganze Armee
war nicht nur geschlagen, sie war vernichtet. „Seit dem Un-
glückstage von Cannä," ruft der Geschichtschreiber Ammian
aus, „hat unser Staat keine größere Niederlage erlitten."
Kaiser Valens, der tapfer mitgesochten hatte, wurde in der
21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere Kämpfe. 157
allgemeinen Flucht mit sortgerissen; in der grenzenlosen Ver-
wirrung, im Dunkel der mondlosen Nacht ist der bedauerns-
werte Herrscher umgekommen. Sein Leichnam ivurde nirgends
gefunden, denn keiner wagte an den folgenden Tagen das
Schlachtfeld zu betreten, auf dem noch einzelne Gotenschwärme
die Gefallenen ausplünderten. Einige gemeine Soldaten, die
den Kaiser auf der Flucht unter sich erblickten, behaupteten,
er sei, von einem Pfeil getroffen, zusammeugebrochen. Andre be-
richteten später, er sei nicht sogleich gestorben, sondern ver-
wundet in eine Hütte in der Nähe des Schlachtfeldes geschafft
und von einigen Getreuen notdürftig verbunden worden.
Feinde, die nicht wußten, wer in der Hütte war, seien heran-
gekommen, hätten aber die verrammelte Thür nicht erbrechen
können, da hätten sie, um nicht lange Zeit zu verlieren,
Stroh und Holz zusammengetragen und es angesteckt, und so
sei die Hütte mit dem Kaiser und allen andern, die darin
waren, verbrannt. Nur einer sei aus dem Fenster gesprungen
und habe sich den Goten ergeben; später soll er glücklich ent-
flohen sein und das Ende des Kaisers erzählt haben. Ter
Kaiser, der so elend ums Leben kam, war fünfzig Jahre alt
geworden und hatte vierzehn Jahre das schwere Amt des
Herrschers geübt. Er war kein großer Mann, aber daß er
im ganzen ein wackrer Fürst, voll redlichen Bemühens das
Rechte zu thun, gewesen, kann ihm niemand abstreiten.
Bei Anbruch des folgenden Tages gingen die Sieger in
dichten Haufen aus Adrianopel los. Sie wußten, daß die
höchsten Beamten, die kaiserlichen Insignien und der Staats-
schatz dort geborgen waren; deshalb suchten sie die Stadt um
jeden Preis zu nehmen, schlossen sie noch im Lauf des Vor-
mittags ein und begannen trotz dem Widerspruch des verstän-
digen Fridigern sie von allen Seiten zu stürmen. Als ob
sie in die Schlacht eilten, so liefen die tollköpfigen, sieges-
trunkenen Helden gegen die steinernen Mauern, ohne Deckung,
ohne Belagerungsmaschinen, während die Belagerten aus
sicherm Versteck ihre todbringenden Geschosse auf sie nieder-
sandten. Ein großer Haufe flüchtiger Soldaten und Troß-
knechte hatte nicht mehr in die Stadt hineinkommen können
158 21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere Kämpfe.
und leistete nun, in den Gärten und Villen vor der Mauer,
den heftigsten Widerstand. Mutig hielten sie sich so bis in
den Nachmittag hinein. Da plötzlich gingen 300 von ihnen
in geschlossener Masse zu den Goten über, wurden aber so-
fort von diesen umzingelt und — wahrscheinlich aus Miß-
verstand — sämtlich niedergehauen. Die übrigen hatten nun
einen verzweifelten Stand, und sie wären gewiß alle verloren
gewesen, wenn nicht auf einmal schwarzes Gewölk am Himmel
aufgezogen und ein schweres Gewitter ausgebrochen wäre.
Unter zuckenden Blitzen und krachendem Donner zu kämpfen
erschien den Germanen, obwohl sie zur Hälfte Christen waren,
nach dem heiligen Glauben der Väter eine Sünde wider die
Gottheit; denn wenn die Himmlischen sprachen, geziemte dem
Erdensohne in ehrerbietiger Stille zu verharren. Deshalb
zogen sich die Belagerer nach ihrer Wagenburg zurück. Von
hier entsandten sie einen Boten mit einem Schreiben in die
Stadt, in welchem sie die Römer zur Übergabe aufforderten.
Der Gesandte wurde aber abgewiesen, und man benutzte die
Zeit dazu, die Thore von innen mit großen Steinblöcken zu
verrammeln, die schadhaften Stellen der Mauern auszubessern,
die Schleudermaschinen an den gefährdetsten Punkten aufzu-
sahren und Gefäße mit Wasser in hinlänglicher Menge aus
den Wällen aufzustellen, um die Krieger zu erfrischen, die
bei dem letzten Kampfe von grimmigem Durst gequält worden
waren.
Die Goten erkannten allmählich die Schwierigkeit ihres
Unterfangens; immer wieder mußten sie sehen, wie die Tapfer-
sten unter ihnen von schweren Wurfgeschossen zerschmettert
dahinsanken und wie ihre Reihen sich nach und nach lichteten.
Da beschlossen sie das Dunkel der Rächt als Schirm zu be-
nutzen. Rach Mitternacht stürmten sie, von ihren Fürsten
geführt, mit einer Todesverachtung, die an Wahnsinn grenzte,
die verrammelten Thore. Freilich konnten jetzt in der Fin-
sternis die Belagerten ihre Geschosse nur aufs Geratewohl
entsenden; aber bei solch dichter Masse mußten sie trotzdem
treffen. Da kamen einige der Wagehälse aus den Gedanken,
den Verteidigern ihre Geschosse wieder zurückzuschleudern. Mit
21. Die Schlacht bei Adrianopel und weitere Kämpfe. 159
den Händen faßten und mit den gewaltigen Armen schwangen
diese Riesen die schweren Mauerpfeile über die Thore zurück, Ge-
schosse, die von der hohen Mauer herab Maschinen, von niehreren
Männern bedient, oder doch mehrere Männer mit vereinten
Kräften, auf sie niedergeschmettert hatten. Die Römer trauten
ihren Sinnen nicht, als sie das tolle Beginnen merkten. Da
draußen schienen keine Menschen, sondern Giganten zu lärmen.
Doch wußten die Schlauen bald Rat; sie feilten den Verband
an zwischen der furchtbaren eisernen Spitze und dem hölzernen
Schaft des Geschosses; wenn nun dieses abgeschleudert war
und draußen aufschlug, zersprang der Verband, und die Spitze
fiel ab; diejenigen dagegen, welche ihr Ziel — den Körper
des Feindes — trafen, wirkten darum nicht minder ver-
derblich. Trotz aller Verluste stürmten die Goten indes immer
von neuem gegen die Thore und Mauern. Aber alles war
vergebens, und als sie sich spät in der Nacht niedergeschlagen
und traurig in ihre Wagenburg zurückzogen, machten sie sich
untereinander bittere Vorwürfe, daß sie nicht dem klugen Rate
Fridigerns gehorcht, sondern von ihm die Belagerung und
Bestürmung der Stadt eigensinnig verlangt hatten.
Den Rest der kurzen Sommernacht hindurch hatten sie
genug damit zu thun, an den Wunden ihre Heilkünste zu
üben. Bei Tagesanbruch aber beschlossen sie, nach langem
Beraten und heftigem Hin- und Herreden, weiter zu ziehen,
das offne Land zu verheeren und dadurch die Feinde zu einem
günstigen Frieden zu nötigen. So rückten sie langsam vor-
wärts nach Südost, unterwegs alles verwüstend und nieder-
brennend. Da ihnen nirgends eine bewaffnete Macht ent-
gegentrat, wandten sie sich bald nach Konstantinopel, fanden
aber diese Stadt mit tüchtigen Verteidigern besetzt. Eine
Reiterschar von Saracenen, einem ganz wilden asiatischen
Volksstamm aus Arabien, war frisch angekommen und stürzte
sich sogleich in den Kampf, als eben die Goten zum ersten
Mal vor der Stadt erschienen. Ein hartnäckiger Streit ent-
spann sich, der lange ohne Entscheidung blieb, bis ein uner-
hörter Zwischenfall die Goten entmutigte. Einer der Sara-
cenen, mit großem Haarschopf, nackt bis auf einen Schurz um
160 22. Tie Westgoten und Theodosius der Große.
die Lenden, stürzte mit heiserem Kampfgeschrei und mit ge-
schwungenem Dolch mitten unter die Germanen. tötete einen
von ihnen, schlug ihm den Kopf ab und sog, zurücksprengend,
mit tierischem Behagen das warme Blut aus dem Hals des
Enthaupteten. Dieser scheußliche Anblick entsetzte die Goten
so, daß sie sich damit begnügten, die herrlichen Vorstädte von
Konstantinopel, die außerhalb der Stadtmauer lagen, auszu-
plündern. Dann wälzten sich ihre Scharen über die volk-
reichen Landschaften der Halbinsel nach dem adriatischen Meere
bis an den Fuß der julischen Alpen.
22. Die Westgoten und Theodosius der
Grotze.
Es schien, als sollte das römische Reich zuerst in seinen
östlichen Teilen unter den Stößen der Germanenvölker zu-
sammenbrecheu; aber das Schicksal hatte es anders bestimmt.
Noch über ein Jahrtausend haben in Konstantinopel „römische
Kaiser" residiert, während das damals wenig gefährdete Rom
schon nach einem Jahrhundert die alte Kaiserkrone einem deut-
schen Fürsten zu Füßen legte. Daß das östliche Reich da-
mals dem Zusammenbruch entging, das hatte es einer retten-
den Handlung des westlichen Kaisers Gratian zu danken.
Dieser fühlte sich zu schwach, die Zügel des wankenden Reichs
allein zu führen, zumal seine Gegenwart in Gallien wegen
der immer wiederholten Einfälle der Deutschen nötig schien;
da wählte er zum Mitkaiser einen Mann, dem er durch ein
ungerechtes Urteil drei Jahre zuvor den Vater entrissen hatte,
den Theodosius, den die dankbare römische Welt nachmals
„den Großen" genannt hat. Er hat Gratians Vertrauen
glänzend gerechtfertigt und alle auf ihn gesetzten Erwartungen
erfüllt. Als er die Ernennung zum Kaiser des östlichen
Römerreichs erhielt, war er erst einunddreißig Jahre alt.
Des Theodosius erste Sorge war es, die Goten un-
schädlich, ja womöglich dem Reiche nützlich zu machen. Mit
straffer Manneszucht und glänzenden Versprechungen dämpfte
er den Geist der Unordnung, der im römischen Heere ein-
22. Die Westgoten und Theodosius der Große. 161
gerissen war. Nur in kleinen Gefechten, wo er sicher den
Sieg zu erringen hoffte, stärkte er das Selbstvertrauen der
Entmutigten. Er that den Verheerungen der Goten Einhalt,
legte in die Städte starke Besatzungen, die durch häufige Aus-
fälle die Goten schädigten, und raubte so den siegestrunkenen
Germanen allmählich ein gutes Teil ihres Selbstvertrauens.
Zwar drangen sie unter ihrem Führer Fridigern bis nach
Griechenland. Doch großer Siege konnten sie sich nicht mehr
rühmen, weil die Römer entscheidende Kämpfe vermieden.
Den Geist der Eintracht, der bis jetzt die verschiedenen Stämme
zusammengehalten und der allein den tapfern und klugen
Fridigern auf der Höhe seiner Macht erhalten hatte — denn
eine amtliche oder gar königliche Gewalt von Rechts wegen
besaß er nicht —, diesen Geist der Einigkeit, dem die Goten
vor allem ihre glänzenden Erfolge verdankten, wußte Theo-
dosius mit Schlauheit zu lähmen. Der gewaltige Goten-
führer starb gegen das Ende des Jahres 380, und da kein
hervorragender Mann an Fridigerns Stelle trat, so handelte
von nun an jeder Fürst nach eigenem Gutdünken.
Es wäre vielleicht um die Einigkeit der Westgoten gethan
gewesen, wenn nicht gerade jetzt der greise Athanarich, der
früher mit Valens gekriegt hatte und vor dem Hunnensturm
in die Berge von Siebenbürgen gewichen war, aus seiner
Verborgenheit hervorgekommen wäre. Fridigerns Tod mochte
den hochbetagten Fürsten dazu veranlassen, noch einmal die
Führerschaft über das ganze Volk der Westgoten zu suchen.
Und sein Ruhm war unvergessen bei den Goten wie bei den
Römern. Als nun der alte „Richter der Therwinger" seine
Berge verließ und sich dem verwaisten Volke zeigte, da jauchzte
ihm fast alles zu. Die meisten Stämme vereinigten sich unter
ihm und hoben ihn als ihren König auf den Schild. Der
greise Held nahm die Wahl an; aber zu neuen Siegen wollte
er die Seinen nicht mehr führen. Das Alter hatte das un-
gestüme Germanenblut abgekühlt; mit wahrer Weisheit er-
kannte er, daß der höchste Ruhm eines Herrschers ist, seinem
Volk einen segensreichen Frieden zu verschaffen. Darum ver-
letzte er am Ende seiner Tage einen alten Eid, den er einst
Klee, Die alten Deutschen^ H
162 22. Die Westgoten und Theodosius der Große.
geschworen und zeitlebens geholten hatte: niemals über die
Donau zu gehen, und bot dem Kaiser freundschaftliche An-
näherung an. Nichts konnte diesem erwünschter sein. Er
zeigte die größte Zuvorkommenheit und lud ihn höflich ein,
nach Konstantinopel zu kommen, um daselbst über das Wohl
beider Völker zu verhandeln und alle Streitigkeiten beizulegen.
Athanarich nahm die Einladung an. Einige Meilen vor der
Stadt kam ihm Theodosius mit großem Gefolge entgegen und
empfing ihn auf das Ehrenvollste, er der „Herr des Erd-
kreises den fellbekleideten Barbaren." Nebeneinander ritten
die beiden Gewalthaber in glänzendem Zuge in die von
Menschen wimmelnde Stadt ein. Sahen die Römer mit
Neugier und Staunen aus den breitschultrigen, hochgewachsenen
Alten mit langem Bart und Haupthaar, so betrachtete wie-
derum der Gote mit Bewunderung die Pracht der Kaiser-
stadt. „Nun sehe ich also wirklich," rief er aus, „die ganze
Herrlichkeit dieser Stadt, von der ich so viel erzählen hörte,
ohne es glauben zu wollen!" Die stattlichen, reichgezierten
Häuser, die schöne Umgebung mit den lachenden Gärten und
Villen, der Hafen mit seinen unzähligen Schiffen, das Ge-
woge der zahllosen Menschenmenge aus allen Teilen des Reichs
und die in Reih und Glied aufgestellten Legionen erfüllten
ihn mit der größten Bewunderung, so daß er, hingerissen
von all den niegesehenen Herrlichkeiten ausrief: „Wahrlich,
der Kaiser ist ein Gott auf Erden, und wer gegen ihn die
Hand aufhebt, verwirkt durch eigne Schuld sein Leben."
Nur sehr kurze Zeit sollte der alte König der Westgoten
sich der Freundschaft des Kaisers und der hohen Ehren-
erweisungen erfreuen. Fünfzehn Tage schon nach seinem Einzug
in Konstantinopel erlag er (am 25. Januar 381) einer
Krankheit. Seine Goten hatten mit Staunen gesehen, wie
der Kaiser ihrem Fürsten bei seinem Einzug eine Bildsäule
errichten ließ, wie er ihn ganz als einen Ebenbürtigen be-
handelte und mit Freundschaftsbeweisen überhäufte; sie staunten
nicht weniger, als sie jetzt sahen, wie ihr König noch im
Tode von den Römern geehrt wurde. Die Pracht des Leichen-
begängnisses war beispiellos, und der Kaiser schritt selbst im
23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho. 163
Zuge vor der Bohre einher. Er that dies alles. um die
Herzen der biedern Goten auf seine Seite zu ziehen. Sicherlich
that es dem Stolz dieser Helden wohl, daß der Herrscher der
gebildeten Welt ihren König so ganz als seinesgleichen be-
trachtete und so offen zeigte, welchen hohen Wert er auf die
Freundschaft des Gotenvolkes legte. Die meisten aus Atha-
narichs Gefolge traten nach dem Ableben ihres „Alten" in
den Dienst des Kaisers, der ihren toten Herrn so schön geehrt
hatte; sie wurden nun des Römers „Trost und Heergesind".
Zahlreiche Mannen traten in das kaiserliche Heer, deffen
Hauptstärke sie nun bildeten. Die Westgoten wählten vor
der Hand [feinen neuen König, sondern lebten eine Zeitlang
unter gleichberechtigten Fürsten. In Thracien siedelten sie sich
als „Verbündete" des Kaisers an, erhielten von diesem be-
trächtliche Jahrgelder und leisteten ihm dafür Heeresfolge.
Das von Athanarich abgeschlossene Bündnis ward feierlich er-
neuert. „Der Kaiser hat uns lieb!" das war die innige
Überzeugung dieses treuherzigen Volkes, und deshalb hatte es
ihn auch lieb, so lange er lebte, und selbst Edelinge aus
hocherlauchtem Geschlecht, wie Alarich der Balte, hielten es
für keine Erniedrigung, in seine Dienste zu treten. Wie
dem rechtlichen, so auch dem religiösen Leben der Goten gegen-
über beobachtete er eine kluge Duldsamkeit. Hatte er — der
katholische Christ — doch den alten Athanarich, der mit un-
erschütterlicher Treue dem Wodansglauben seiner Väter an-
hing, als seinen verehrten Freund begrüßt; und so berief er
auch fast gleichzeitig den ehrwürdigen Ulfilas mit vielen an-
deren arianischen Bischöfen zu jener allgemeinen Kirchen-
versammlung zu Konstantinopel, bei der der große Schöpfer
der Gotenbibel sein Glaubensbekenntnis niederlegte.
23. Alarich, drr König der Westgoten, und
Stilicho.
Kaum war Theodosius, der Freund der Goten, (395) ge-
storben, als das Band zwischen Römern und Westgoten wieder
zerriß. Der Kaiser hatte auf feinem Sterbebette das Reich
11*
164 23. Manch, der König der Westgoten, und Stilicho.
unter seine beiden jungen Söhne Ar ca di us und Ho-
norius geteilt; jener sollte den Osten, dieser den Westen
beherrschen. Aber nicht die beiden neuen Kaiser waren es,
die nun die Geschicke der Völker lenkten; sondern zwei viel
mächtigere Gestalten traten in den Vordergrund der unruhigen
Zeit, auf römischer Seite der Wandale Stilicho, der höchste
Beamte des weströmischen Reiches, auf germanischer der West-
gotenkönig Alarich.
Schon seit Jahrhunderten bestanden die römischen Heere
zu ihren besten Teilen aus Deutschen; und damals waren
nicht nur die tapfersten Krieger, sondern auch viele der tüch-
tigsten Feldherren Männer germanischer Herkunft. Ja selbst
hohe Staatsämter wurden oft von Deutschen bekleidet, die
sich thatkräftiger und, was die Hauptsache war, zuverlässiger
als die erschlafften und verdorbenen Römer zeigten. Sie
ehrten die Kaiser, nach heimischer Sitte, als ihre Gefolgs-
herren, denen sie mit unverbrüchlicher Treue ergeben waren.
Natürlich erfuhren auch sie den Einfluß Roms, sie oder
mindestens ihre Kinder wurden römisch und christlich erzogen
und nahmen römische Sprache und Sitten an. So war auch
Stilicho, von väterlicher Seite dem Wandalenvolke ent-
sprossen, in römischer Umgebung ausgewachsen und der feinen
römischen Bildung teilhaft. Und dennoch hat er das ger-
manische Wesen nie verleugnet; die Grundzüge seines Cha-
rakters waren deutsch, insbesondre die bewundernswürdige Treue,
die er seinem Herrn, dem unwürdigen Kaiser Honorius, be-
wiesen hat. Er war ein Liebling des Theodosius gewesen,
der dem edlen, schönen und klugen Manne im Heer und
Staat die höchsten Ämter vertraute und ihm sogar seine
Tochter Serena zur Gemahlin gab. Der sterbende Kaiser
hatte ihm den Oberbefehl über alle Heere des Reiches und
den Schutz über seine beiden Söhne, insbesondre die Beratung
des Honorius, übergeben, und er hätte dazu keinen Würdigern
wählen können. Das westliche Reich hat Stilicho dreizehn
Jahre hindurch regiert und zu seiner Rettung das Menschen-
mögliche gethau; und wenn er auch seine Kraft gerade gegen
seine eignen Stammesgenossen, die Germanen, wenden mußte,
23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho. 165
so kann dies doch die Teilnahme nicht schwächen, die er als
ein echter, treuer Germane verdient.
Sein erster Nebenbuhler war der Gallier Rufinus,
den Theodosius vor seinem letzten Kriegszuge zum Hüter des
Ostreiches bestellt hatte. Er war ein leidenschaftlicher, ehr-
geiziger Mann und voll Neid gegen seinen jüngern Genossen.
Zwar hatte Stilicho freiwillig die Kriegsmacht und den Schatz
des Reiches mit ihm geteilt und ihm die Leitung des Arca-
dius überlassen, die Oberaufsicht über den ganzen Staat da-
gegen nie beansprucht; trotzdem fürchtete Rufin, daß dies ge-
schehen könne, und suchte deshalb Stilicho zu beseitigen.
Die Freigebigkeit und das Wohlwollen des Theodosius
hatte seine Verbündeten, die Westgoten, in Frieden erhalten.
Jetzt wo sie der Geiz des Rusin und die Untüchtigkeit des
Arcadius und das Mißtrauen beider reizte, wurden sie des
römischen Kriegsdienstes müde und wollten wieder ein freies
Volk sein. Sobald sich daher ein Mann fand, der die Menge
durch sein Ansehn und seinen Rat zu leiten vermochte, brach
die Bewegung unaufhaltsam los. Dieser Mann war Alarich,
ein herrlicher Held, aus dem erlauchten Geschlechte der Balten
d. h. der Kühnen. in Jugendschönheit prangend und mit
hohem Geist begabt, rasch an That und klug im Rat, kurz
ein Mann so recht nach deutschem Herzen. Durch tapfre
Waffenhülfe hatte er sich den Dank und die Anerkennung des
Theodosius erworben. Jetzt sah er sich auf einmal mit Ge-
ringschätzung behandelt. Da warf er den römischen Soldaten-
mantel ab und fragte sein Gefolge, ob es noch länger sein
Blut für die schwachen, hochmütigen Römer vergießen wolle.
Und nicht nur das Gefolge, sondern das ganze Volk, das
nach Freiheit dürstete, jauchzte dem kühnen Edeling zu und
hoben ihn aus den Schild als König der Westgoten. In
großer Versammlung der Fürsten und Freien war er gewählt
und dem Volke gezeigt worden. Von allen Seiten donnerten
die Heilrufe und klirrten die zusammengeschlagenen Waffen der
Mannen. Alle schwuren ihm den Treueid.
Der junge König beschloß sogleich, die Kraft seiner Goten
durch einen kühnen Heereszug zu prüfen und zu stärken, und
166 23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho.
diesen Beschluß billigten alle. In Hellen Haufen zogen sie
(395) geradeswegs aus Konstantinopel los. Rufin war in
der größten Verlegenheit; denn es fehlte ihm augenblicklich an
den nötigen Truppen. Deshalb suchte er Verhandlungen an-
zuknüpfen. Der mächtige Minister kam selbst in das gotische
Lager, und zwar, um dem Nationalstolz der Feinde zu
schmeicheln, sogar in germanischer Tracht, zeigte sich sehr nach-
giebig und sparte weder Zahlungen noch Versprechungen.
Alarich nahm die Anerbietungen an und hob die Belagerung
auf. So wandten sich die Goten von Konstantinopel west-
wärts und durchzogen die Küstenstriche von Thracien, Mace-
donien und Thessalien. Dort, wo das Gebirge dicht an das
Meer herantritt, wo einst Leonidas mit seinen Tapfern den
Hunderttausenden des Xerpes halt gebieten konnte, dort hätte
auch der Ansturm der Goten leicht aufgehalten werden können.
Allein die damaligen Griechen waren nicht mehr die Helden
von Thermopylä und Salamis. Ihrer ruhmvollen Vorfahren
uneingedenk zogen sich die dort aufgestellten Truppen, sobald
sie vom Herannahen der Goten hörten, zurück. Ungehindert
schritten diese durch die Thermopylen und ergossen sich über
die Gefilde Böotiens. Dörfer und Städte gingen in Flammen
aus; nur die starken Mauern von Theben widerstanden. Jetzt
ging der Zug gegen Athen. Alarich glaubte die berühmte
Stadt ohne große Mühe einnehmen zu können; doch war er
nicht so ungebildet, daß er die Heimatstätte so vieles Schönen
und Edlen nicht gern geschont hätte. Bevor er daher zum
Sturm schritt, erließ er die Aufforderung an die Athener,
sich zu ergeben. Gern waren diese dazu bereit; durch ein
bedeutendes Lösegeld retteten sie ihre Stadt. Feierlich ritt
Alarich, der blondlockige Germane, von einem stattlichen Ge-
folge begleitet, in die Heimat der Miltiades, Themistokles und
Perikles, in die alte glorreiche Mutterstadt der antiken Bildung
ein. Er ward ehrenvoll empfangen, ließ sich ein Bad nach
griechischer Weise bereiten, nahni ein glänzendes Gastmahl ein,
das die vornehmsten Athener ihm und den Seinen anboten,
und zog^dann/^reich mit Geschenken beladen, wieder ab. Auch
23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho. 167
das ganze Stadtgebiet von Athen blieb von Plünderung und
sonstiger Unbill verschont.
Von Attika drang Alarich nach dem Peloponnes vor.
Megara, der Isthmus von Korinth, Argos und Sparta fielen
ohne Widerstand in die Hände des Siegers. Manche kost-
bare Kunstwerke nahmen die Goten mit sich, aber nur solche
aus wertvollem Metall; denn sie verstanden noch nicht die
Kunst, sondern nur den Stofs zu schätzen. Genau so hatte
der Römer Mummius vor einem halben Jahrtausend gethan,
der bei der Eroberung Korinths ausrusen ließ: jeder Soldat,
der ein Kunstwerk zerbreche, müsse ein neues machen. Wäh-
rend nun Rufin nicht imstande war der Gotennot zu steuern,
eilte der wackere Stilicho vom fernen Rhein, wo er die
Franken zurückschlug, zum Schutze Griechenlands herbei. Er
hätte den aufrichtigsten Dank verdient. Aber der mißgünstige
Rufin ärgerte sich über seines Nebenbuhlers rühmlichen Eifer.
Er wußte daher den schwachen Knaben Arcadius zu beschwatzen,
daß er dem Stilicho befehlen ließ, den griechischen Boden zu
räumen, und Stilicho gehorchte mit schwerem Herzen. Da
wurde der verhaßte Rufin ermordet; noch an seinem Leichnam
ließ der Pöbel seine Wut aus. Sein Nachfolger, der neue
Minister Eutropius, bewies sich zwar nicht minder feind-
selig gegen den Regenten des Westreiches; dennoch scheute er
sich nicht, die so verletzend zurückgewiesene Hülfe Stilichos
nun selbst anzurufen, und es ist ein glänzendes Zeichen für
die Uneigennützigkeit des edlen Mannes, daß er dem Hülferuse
unverweilt Folge leistete. Schnell führte er sein Heer auf
einer Flotte nach dem Isthmus. Das stark befestigte Korinth
hatte allein von allen Städten des Peloponnes einen kräftigen
Widerstand gegen Alarich versucht. Jetzt eilte Stilicho herbei,
es zu entsetzen, aber zu spät. Er fand die Stadt in Trüm-
mern. Doch gelang es ihm, die Goten nach der Grenze
zwischen Elis und Arkadien zurückzudrängen. Alarich hatte
keine Flotte, dazu brachen infolge des ungewohnten Klimas
verheerende Krankheiten unter den Seinigen aus und
verminderten die Zahl seiner Streiter. Am Berge Pholoe,
bei den Quellen des Peneus schien eine Entscheidung bevor-
168 23. Manch, der König der Westgaten, und Stilicho.
zustehen. Stilichos Heer schloß die Goten in einem Thole
ein; Verschanzungen wurden ausgeworsen, um sie auf einen
immer engern Raum zusammenzudrängen, zuletzt wurde sogar das
Wasser des Flusses abgeleitet. Hunger und Durst sollte die
Goten entmutigen und schwächen; am Ende mußten sie sich,
wie Stilicho glaubte, ergeben. Aber in der äußersten Be-
drängnis gelang es dem schlauen Alarich dennoch, zu ent-
kommen; auf welche Weise, darüber wissen wir nichts Sicheres.
Kurz, er zog mit aller seiner Mannschaft, mit Beute und
Gefangenen, mit Weibern, Kindern und Wagen durch das feind-
liche Land bis nach Korinth. Ehe Stilicho nachrückte, waren
die Goten über den Isthmus geschritten und befanden sich in
völliger Sicherheit. Rasch bot jetzt Alarich dem Arcadius
Frieden an und erlangte ihn (397). Stilicho mußte nach
Italien zurückkehren. Die Westgoten erhielten einen großen
Strich Landes an der westlichen Küste der Balkanhalbinsel,
nämlich die Landschaft Jllyrien und einen Teil von Epirus,
und nannten sich wieder Verbündete des Kaisers. Alarich
aber schaltete in seinem Gebiete unbeschränkt. Seine nächste
Sorge war, seine Goten mit guten Waffen zu versehen; und
dazu mußten die kaiserlichen Fabriken im ganzen Ostreiche
helfen, indem sie lieferten, was Alarich befahl. Wahrlich, er
nahm mit seinem waffenstarrenden Volke eine bedrohliche
Stellung ein, zumal er sich von seinem Gebiete aus, an der
Grenzscheide beider Reichshälften, jederzeit ebenso gut auf den
Westen wie auf den Osten stürzen konnte. Der elende Eu-
tropius wurde übrigens bald darauf auf Befehl seines Kaisers
hingerichtet.
Große Festfreude herrschte in Rom. Eine gefährliche
Empörung in Afrika war glücklich unterdrückt, und der junge
Kaiser Honorius feierte feine Hochzeit mit der Tochter Sti-
lichos. Maria. Aber der kaiserliche Gemahl war ein kindi-
scher Knabe, dessen Gedanken über Bogenschießen, Reiten und
Hühnerzucht nicht hinausschweiften. Dazu war er wetter-
wendisch, launenhaft und furchtsam. Wie hätte es der edlen
Jungfrau gelingen sollen, das Her; dieses schwachsinnigen Weich-
lings zu fesseln. Ungeliebt ist sie neun Jahre später ge-
23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho. 169
storben. Und während der schwache Jüngling sich geistlosen
Vergnügungen hingab, schweiften Stilichos Gedanken von einer
Stelle der römischen Grenzmark zur andern. Bald sollten
die Römer schrecklich aus ihren Festträumen aufgerüttelt werden.
Die Westgoten hatten ihre Überlegenheit über die Römer
erkannt; sie wollten nicht länger das, wenn auch noch so leichte
Joch Ostroms tragen. Auch fühlten sie sich in ihrer neuen
Lage zwischen den beiden Reichshälften unbehaglich. Sie
mußten fürchten, die Kaiser würden einmal gemeinsame Sache
machen und sie von zwei Seiten zugleich angreifen. Nun
hatten sie den schönen Süden kennen gelernt; das herrliche,
vielgepriesene Italien winkte als verlockendstes Ziel in nächster
Nähe. So überschritt Alarich im November 401 mit seinem
trefflich gerüsteten Kriegsvolk die Pässe der südlichen Alpen,
schlug die römischen Truppen, die sich ihm entgegenstellten,
belagerte eine Zeitlang vergebens das starke Aquileja und
zog dann verheerend durch die Ebenen Venetiens. Klug hatte
er den Zeitpunkt zu seinem Einfall gewählt; denn Stilicho,
der einzige Mann, den er fürchtete, schlug sich in den Do-
nauländern mit aufständischen Völkern herum. Da erhielt er
die Kunde von Alarichs Erscheinen. Rasch dämpfte er den
Aufstand und beruhigte die von dort drohenden Germanen.
Um jeden Preis mußte Italien gerettet werden, das Mutter-
land des Reiches. Er rief die römischen Legionen aus Bri-
tannien und den Kern der rheinischen Heere zur Verstärkung
heran; er durfte nicht zögern, die nördlichste Reichsprovinz
und die Rheingrenze preiszugeben. Gegen Ende des Winters
überstieg er mit großer Heeresmacht in mühseligem Marsch
die Alpen und gelangte in die Po-Ebene gerade noch zur
rechten Zeit, um den Vernichtungsschlag vom Reiche abwenden
zu können. Alarich war über den Po gegangen und gegen
Rom vorgedrungen; als er aber hörte, daß der Kaiser nach
Mailand geflohen sei, kehrte er um, um sich seiner Person zu
bemächtigen. Dadurch glaubte er den Krieg mit einem
Schlage beendigen zu können. Eben wollte er die Belagerung
Mailands beginnen, da kam dem verzagten Honorius Hilfe.
Stilicho täuschte die von Alarich ausgestellten Wachen und
170 23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho.
bahnte sich in kühnem Laufe den Weg mitten durch die goti-
schen Wagen und Streiter, die gerade einen Kreis um die
Stadt schließen wollten. Dies bewog Alarich, von der Be-
lagerung abzustehen. Seine Fürsten rieten, heimzukehren und
die gemachte Beute in Sicherheit zu bringen; der König wollte
davon nichts wissen, zog sich aber nach Westen bis zur Stadt
Pollentia zurück. Hier kam es zur Schlacht. Am Flusse
Tanaro lagerten sich die Heere gegenüber.
Es war am Ostertage des Jahres 402, als Alarich seinem
alten Gegner standhalten mußte. Die Goten glaubten offenbar
nicht an die Möglichkeit, daß Stilicho den heiligen Tag durch
Waffenlärm entlveihen werde. Ruhig feierten sie als fromme
Christen die Auferstehung des Herrn. Aber was kümmerte
den großen Staatsniann die Warnung ängstlicher Seelen, in
einem Augenblicke, wo es galt, das Reich zu retten? In
seiner Hand ruhte Roms Schicksal. Die Stunde war günstig,
er mußte sie nützen. Auf seinen Befehl stürzten sich seine
alanischen Reiter mit großem Ungestüm aus die nichtsahnenden
Goten. Diese wichen betroffen zurück. Aber Alarich sam-
melte und ermutigte sie wieder; und nun hielten sie mit ge-
waltiger Kraft stand und schlugen die Alanen und die nach-
folgenden Römer in die Flucht. Erst als Stilicho seine
besten Truppen, die Legionen aus Britannien und vom Rhein,
ins Treffen führte, kam der Kampf zum Stehen. Am Abend
des blutigen Tages zogen sich die Goten zurück und über-
ließen einen Teil ihrer Wagen und ihrer Beute den Feinden.
Aber die Verluste aus Seiten der Römer waren so bedeutend,
daß Stilicho vor der Hand keinen neuen Angriff wagen
konnte. Erst im Sommer kam es bei Verona zu einer
zweiten Schlacht. Die Goten wurden von zwei Seiten zu-
gleich angegriffen, ihr König selbst geriet in Lebensgefahr.
Ein eigentlicher Sieg wurde zwar von Stilicho nicht erfochten;
doch zog sich Alarich nach den östlichen Alpenpässen zurück und
bot Stilicho einen Vertrag an. Der große Staatsmann aber
zögerte nicht, ihm denselben zu gewähren, und zwar unter
sehr günstigen Bedingungen. Mit Beute und Gefangenen kehrte
23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho. 171
Alarich nach Jllyrien heim. Wie klug Stilicho gehandelt
hatte, sollte sich bald zeigen.
Das Jahr 403 verlief zwar ohne äußere Kämpfe, aber
im folgenden Jahre brach eine schreckliche Gefahr über das
gequälte Land Italien herein. Ein zahlloser Völkerschwarm
war von der Donau her gegen die Alpen ausgebrochen. In
ungeheurer Masse sammelten, sich Wandalen, Burgunden, Ost-
goten und andre Scharen unter der Führung eines verwegenen
Mannes, des Ostgoten Radagais. Er war noch Heide wie
der größte Teil seiner wilden Heerhaufen und hatte gelobt,
alle römischen Kriegsgefangenen dem Wodan zum Opfer
darzubringen. Ohne Widerstand überstieg der Schwarm die
Alpen und ergoß sich wie ein uferloser Strom über Nord-
italien. Verzweiflung ergriff die Römer. Beinahe wünschten
sie sich den Alarich zurück; denn dieser war doch wenigstens
Christ und vermied unnützes Blutvergießen. Der Kaiser Ho-
norius flüchtete sich aus Rom hinter die Sümpfe und Mauern
von Ravenna, von wo er müßig der allgemeinen Not zusah.
Nur Stilicho verlor den kalten Mut nicht, und ihm gelang
die Rettung. Das Volksgewimmel des Radagais — nach
der geringsten Angabe 200000 Mann — war vor Florenz
zum Stillstand gekommen. Vergebens erschöpften auch hier
die Germanen ihre Kräfte gegen römische Befestigungswerke,
da sie die Kunst der Belagerung nicht verstanden. Und nun
rückte Stilicho heran und zwang sie von der Stadt abzu-
ziehen. Er drängte sie in die Berge von Fäsulä, umgab sie
mit Schanzwerken und hielt sie dicht umlagert, bis sie, vom
Hunger gezwungen, einen verzweifelten Ausfall machten. —
Aber die wilden Scharen, die keine andre Kriegskunst kannten
als wütend dreinzuschlagen, zerschellten an den meisterhaft ge-
führten Truppen Stilichos. Radagais selber wurde getötet.
Die führerlosen Reste seiner Völker irrten in den Gebirgen
umher, wo sie teils verhungerten, teils von den Schwertern
der Römer niedergehauen wurden. Trotzdem wurden so viele
gefangen, daß man sie um ein Spottgeld — den Mann
für ein Goldstück — in die Sklaverei verkaufte. Zwölf-
172 23. Alarich, der König der Westgoten, und Stilicho.
tausend Goten ergaben sich in geschlossener Masse und wurden
oon Stilicho sofort in römische Dienste genommen.
So zerstob die fürchterliche Lawine, welche die römische
Welt zu verschütten drohte, vor der meisterlichen Feldherrn-
kunst und der unermüdlichen Kraft des großen Stilicho. Er
hatte die Wiege des Reiches, Italien, gerettet. Aber in
Gallien wankte der Bau der römischen Herrschaft in seinen
Grundfesten. Die Hauptmasse der Wandalen nebst andern
großen Völkerscharen hatten die Gaue der Alemannen und
Franken am Rhein und Main durchbrochen und am 1. Ja-
nuar 406 den Grenzstrom zwischen Gallien und Deutschland
überschritten. Da keine Legionen da waren, ihn zu vertei-
digen , so ergossen sich die wandernden Scharen plündernd
über Gallien und verheerten es drei Jahre lang. Wahrend
dieser Verwirrung drangen nun auch Alemannen, Franken
und Burgunden in das schutzlose Land und setzten sich am
linken Rheinuser fest. Und gleichzeitig stand in Britannien
ein Empörer aus, der auch nach Gallien herüberkam und großen
Anhang fand. So tobte überall der Kampf in dem wichtigen
Lande, das dem Reiche so lange ein unübersteigbarer Wall
gegen die Westgermanen gewesen war. Nur Stilicho hätte
es zu retten vermocht, aber dieser wurde durch unselige Ver-
hältnisse am kaiserlichen Hose in Italien zurückgehalten. In-
zwischen drangen die Wandalen mit ihren Wasfengenossen —
Alanen und Sueben — über die Pyrenäen ein und verlosten
unter sich diese letzte römische Provinz in Westeuropa, die
bisher von Germanen unberührt geblieben war. Um dieselbe
Zeit brachen die Westgoten unter Alarich aus ihren unsicheren
Wohnsitzen in Jllyrien nach Norden auf und bemächtigten
sich der römischen Provinz Noricum, deren Grenzen nördlich
die Donau von Passan bis Wien, südlich die Ostalpen bil-
deten. Von der italienischen Grenze sandte Alarich Boten an
Honorius mit dem Verlangen, der Kaiser solle ihm die Pro-
vinz förmlich abtreten und viertausend Pfund Goldes zahlen,
dafür wolle er gute Freundschaft halten. Stilicho setzte es
durch, daß dieses Anerbieten angenommen wurde. Hätte das
Reich auch noch die Westgoten zu Feinden bekommen, es wäre
23. Manch, der König der Westgoten, und Stilicho. 173
schon damals zusammengebrochen. Kein Opfer schien zu groß,
um Alarichs Freundschaft zu erhalten.
Stilicho fühlte dennoch, daß der Boden unter seinen Füßen
zu wanken begann. Die Schmeichler am Hofe umgarnten den
schwächlichen Honorius immer mehr; eine schlau angelegte,
weitverzweigte Hosintrigue brachte dem besten Manne Roms
den Untergang, dem man es nicht verzeihen konnte, daß er
ein Germane war. Ein gewisser Olympius, ein scheinheiliger
Heuchler, war die Seele der nichtswürdigen Umtriebe, die
gegen den großen Mann angesponnen wurden. Dem dummen
Kaiser brachte er den Wahn bei, Stilicho strebe für sich und
seine Familie nach dem Throne. Da beschloß man den Tod
desselben Helden, der Italien zweimal vom Untergang ge-
rettet hatte. Das edle Opfer der schnöden Bande durch-
schaute bald das ganze Gewebe von Lüge und Neid; Stilicho
entwich mit wenigen Begleitern nach Ravenna. Inzwischen hatte
der Kaiser selbst das Todesurteil des Mannes unterschrieben,
dem er alles verdankte und in dessen Hände sein sterbender
Vater ihn befohlen hatte. Briefe kamen in Ravenna an, in
denen den kaiserlichen Truppen daselbst der Befehl erteilt
wurde, den „Verräter" gefangen zu nehmen. Das erfuhr
indes Stilicho, sobald er die Stadt betreten hatte. Er
flüchtete sich in eine nahe Kirche. Trotz der Dunkelheit der
Nacht und einem stürmischen Unwetter hielten seine wenigen
Getreuen mit gezogenen Schwertern am Altäre die Wache um
den geliebten Herrn. Es wurde Morgen, und kaiserliche
Soldaten drangen in die Kirche. In Gegenwart des Bi-
schofcs schwuren sie, daß Stilichos Leben geschont werden solle.
Da verließ der Verratene die heilige Freistatt und folgte den
Schergen. Als sie aber vor der Kirche waren, zeigte ihr
Anführer ihnen einen kaiserlichen Befehl, in welchem Stilicho
wegen seiner „Verbrechen gegen- den Staat" zum Tode ver-
urteilt war. Eine Anzahl Germanen hatte sich vor der
Kirche versammelt; diese und das kleine Gefolge Stilichos
rissen jetzt die Schwerter aus der Scheide, um ihren Lands-
mann und Freund zu retten. Aber der hochherzige Mann
wehrte ihnen und gebot Ruhe. Und auch jetzt noch gehorchten
174
24. Alarichs Siegcszug und Ende.
sie ihm. So hielt der Edle ohne Murren deni Todesstreich
stille. Es war am 23. August des Jahres 408, als das
Reich sich selbst seines besten Schutzes beraubte, des größten
Feldherrn und des edelsten Menschen, den es vielleicht seit
Jahrhunderten besessen hatte. Auch gegen seine Verwandten
und Anhänger begann eine blutige Hetze. Ja, die Soldaten
des Olympius stürzten sich sogar, aller Menschlichkeit vergessend,
auf die Frauen und Kinder der in römischen Diensten stehenden
Söldner. Die armen, ahnungslosen Wesen waren in ver-
schiedenen Dörfern und Städten Oberitaliens einquartiert.
Plötzlich sahen sie sich überfallen und wurden niedergemetzelt.
Als die Männer und Väter der so scheußlich Gemordeten die
Schreckenskunde hörten, erhoben sie sich — etwa 30000
Krieger—, verließen in geschlossenen Scharen das verruchte Land,
indem sie schwuren wieder zu kommen und schreckliche Rache zu
nehmen, und gingen zu Alarich. So verlor Italien nach dem
Feldherrn auch noch die Hälfte des Heeres. Furchtbar sollte
es büßen für die begangenen wahnsinnigen Frevel.
24. Alarichs Sirgeszug und Ende.
Alarich, der schlaue Fürst, hatte alle die unsinnigen und
ruchlosen Vorgänge in Italien beobachtet. Die zu ihm über-
gegangenen Söldner baten ihn nicht umsonst um Beistand bei
dem Rachewerke, das sie ihren hingewürgten Weibern und
Kindern gelobt hatten. Die Ermordung Stilichos, seines
Beschützers, löste alle Verbindlichkeiten gegen Rom; der Ver-
trag, den er mit jenem geschlossen hatte, galt nichts mehr.
Die römische Kriegsmacht war ihres Führers beraubt und um
die Hälfte zusammengeschmolzen, seine eigene ansehnlich verstärkt.
Tine bessere Gelegenheit zur Ausführung seiner Pläne konnte
er sich nicht wünschen. Ohne Zögern brach er im Spätjahr
408 auf, überschritt die Alpen, zog an Aquileja vorbei, setzte
über den Po und rückte dann, ohne Widerstand zu finden,
über die Apenninen gerades Wegs auf Rom los, indem er
den Kaiser in Ravenna gar nicht beachtete.
Seit mehr als 600 Jahren hatte Rom keinen Feind vor
24. Alarichs Siegeszug und Ende. 175
seinen Thoren gesehen. Wie anders lagen jetzt die Dinge als
zu Hannibals Zeit! Damals hatte die Not erst die ganze
Größe der römischen Bürgertugend bewahrt, Senat und Volk
hatten einander in der erhabensten Vaterlandsliebe überboten.
Jetzt gerieten die entarteten Nachkommen jener alten Römer
in lächerlichen Zorn über die dreisten Barbaren, die sich unter-
standen, im Angesicht der ewigen Stadt zu erscheinen. Und
als Alarich den Hafen und alle Straßen sperrte, so daß kein
Stück Vieh hineinkonnte, als der Hunger anfing zu nagen,
da brach zwar auch der wütende Ingrimm der Römer aus,
aber nicht gegen den Feind kehrte er sich, sondern gegen ein
hülfloses, gramgebeugtes Weib. Einsam und verlassen lebte in
Rom des edlen Stilicho Witwe Serena, die Tochter des großen
Theodosius. Der blödsinnige Pöbel beschuldigte sie, sie habe
aus Rache für die Ermordung ihres Mannes die Goten herbei-
gerufen, und forderte mit tollem Geschrei den Tod der un-
glücklichen Frau. Und der Senat war feige genug, das Urteil
zu fällen. Die Witwe des Retters Roms wurde erwürgt.
Die Lage der Stadt wurde durch diese schändliche Thal nicht
gebessert. Wohl hätte die Bevölkerung, die mehr als eine
Million betrug, einen großen Angriff auf die sehr in die
Breite gezogenen Reihen der Feinde unternehmen können, wenn
noch ein Rest des altrömischen Heldentums in ihr gelebt hätte.
So aber wurde die große Zahl der Einwohner ihnen selbst zum
Verderben. Denn die Lebensmittel gingen rasch zu Ende, die
entsetzliche Hungersnot und infolge deren eine tödliche Seuche
raffte Tausende dahin. Da die Begräbnisplätze vor den Mauern
lagen, konnten die Toten nicht begraben werden. Die Luft
war mit den gräßlichen Dünsten der Fäulnis erfüllt. Endlich
beschloß man mit Alarich zu unterhandeln. Zwei Gesandte
des Senats sollten dem Gotenkönige sagen, die Bürger wünschten
den Frieden, wenn sie ihn unter billigen Bedingungen erlangen
könnten. Alarich ließ sie vor sich und hörte sie ruhig an.
Der menschliche Empfang machte sie beherzter, sie wagten die
kühne Bemerkung, wenn Alarich ihnen keine günstigen Be-
dingungen gewähre, werde er bald einsehen, mit welchem
tapfern und zahllosen Volke er es zu thun habe. Da aber
176 24. Alarichs Siegeszug und Ende.
blickte Alarich sie voll Verachtung an und sagte kalt: „Je
dichter das Gras, desto leichter das Mähen." Dann lachte
er laut aus. Die römischen Boten erblaßten und schauten
stumm zur Erde. Nach einer Weile sagten sie, was er denn
verlange. Hart versetzte der König: „Wollt ihr Frieden
haben, so müßt ihr alles Gold und Silber, ferner alles kost-
bare Gerat und alle Sklaven deutscher Abkunft herausgeben."
Einer der Boten rief auf diese Worte verzweislungsvoll aus:
„O König, wenn du alles nimmst, was willst du uns denn
übrig lassen?" „Euer Leben," erwiderte Alarich. Zitternd
zogen sich die beiden Gesandten zurück und überbrachten die
Antwort den Bürgern, die vor Verzweiflung fast sinnlos wurden.
Indes waren die Worte des jungen Helden nicht so schlimm
gemeint. Er wollte nur den Römern die Lächerlichkeit ihres
Hochmutes recht klar vor Augen halten. Diesen Zweck hatte
er erreicht. Eine zweite Gesandtschaft, die bald darauf erschien,
brachte keine Prahlereien, sondern demütige Bitten vor, die sich
an Alarichs Milde und Großmut wandten. Da stimmte
er seine Forderungen herab. Er verlangte jetzt 5000 Pfd.
Goldes, 50000 Pfd. Silber, 4000 seidene Gewänder, 3000
Purpurdecken und 3000 Pfd. Gewürze. Freilich wurde es
den Römern schwer, selbst diese Forderungen zu befriedigen.
Da man so viel edles Metall nicht aus der erschöpften Staats-
kasse und den Beiträgen der Bürger, die mit ihrem Gut
zurückhielten, aufbringen konnte, so mußte man die Schätze, die
einst in bessern Tagen von der Kriegsbeute den Göttern ge-
weiht und in den Tempeln niedergelegt worden waren, an-
greifen und selbst einige goldene und silberne Götterbilder ein-
schmelzen. Damals kam auch die Bildsäule der Virtus d. h.
der männlichen Tüchtigkeit in den Schmelztiegel; diese Tugend
selbst war bei den Römern längst geschwunden.
Alarich hob nun die Belagerung auf und schlug nördlich
von Rom, in Etrurien, sein Winterlager auf. Hier liefen ihm
40000 Sklaven deutscher Abkunft zu, die meist aus den
Scharen des Radagais stammten. Sie fanden freundliche Auf-
nahme und verstärkten Alarichs Heer beträchtlich. Dabei hielt
der König aber streng auf gute Mannszucht. Große Wagen-
24. Alarichs Siegeszug und Ende.
177
züge mit Lebensmitteln fuhren in das ausgehungerte Rom. Eine
gotische Schar griff eine solche Karawane an, mußte aber von
Alarich schwere Strafe erleiden; denn was er versprochen hatte,
das wollte er auch halten. Der Vertrag mit Rom bedurfte
indes noch der Bestätigung des Kaisers. Auch hatte der König
verlangt, daß die Römer seine Verhandlungen mit Honorius
unterstützten. Wirklich schickte der Senat Gesandte nach Ra-
venna, die im Namen Alarichs einen feierlichen Frieden er-
wirken wollten. Aber obgleich der Gotenkönig mit furchtbarer
Macht mitten im Lande- stand, der Kaiser selbst kein Heer
hatte und Not an allen Enden war, wies der einfältige Ho-
norius doch alle Vorstellungen ab. Auch als Alarich seine
Forderungen mäßigte und nur die Abtretung von Noricum,
Getreidelieserungen und die Stellung eines Oberbefehlshabers
aller römischen Heere, welche Stilicho bekleidet hatte, verlangte,
blieb der Kaiser hartnäckig bei seiner Weigerung.
Endlich war die Geduld des Gotenkönigs erschöpft, und
er beschloß durch die That zu zeigen, daß nicht Honorius,
sondern Alarich Herr von Italien sei. Er zog zum zweiten
Male vor Rom, besetzte Portus, die Hafenstadt Roms, und
befahl von hier aus dem Senat und dem Volke, von Honorius
abzufallen und einen Kaiser seiner Wahl, den Stadtpräfekten
Attalus, anzuerkennen. Die Aussicht auf neue Hungersnot
bewog den Senat, Alarichs Geheiß zu erfüllen. Der König
wurde in die Stadt eingeladen und ließ dem Attalus den
Purpur anlegen. Dafür mußte der neugeschaffene Kaiser seinen
Beschützer zum Oberseldherrn des Reiches ernennen. Indes
sollte sich Attalus der neuen Würde nicht lange erfreuen.
Als er eigensinnig den Rat Alarichs verschmähte und auch
gegen diesen den Herrn spielen wollte, dachte der König, es
sei besser, den Menschen in sein Nichts zurückzustoßen und ließ
ihn vor einer großen Versammlung vornehmer Römer und
Goten seiner Würde für verlustig erklären. Die kaiserlichen
Abzeichen aber sandte er als Zeichen freundlichen Willens an
Honorius. Die Schwester desselben, die schöne Placidia,
war den Goten in die Hände gefallen. Sie wurde mit höchster
Ehrfurcht behandelt, mußte aber beim Heere bleiben. Das
Klee, Die alten Deutschen. 12
178
24. Alarichs Liegeszug und Ende.
that sie indes nicht ungern; denn Alarichs Schwager, der in
jugendlicher Schönheit strahlende Athawulf, gewann sie lieb,
und sie erwiederte seine Zuneigung aus das zärtlichste.
Alarich hatte die Hand zum Frieden geboten; sie wurde
abermals zurückgestoßen. Jetzt aber war seine Langmut gänzlich
zu Ende. Er brach sofort nach Rom auf, und diesmal kam
er, um zu plündern; denn auf andere Weise nieinte er den
blödsinnigen Trotz des Kaisers nicht züchtigen zu können. In
der Nacht nach dem 24. August des Jahres 410 nahm er
die ewige Stadt nach kurzer Belagerung ein. Einige Sklaven
öffneten ihm ein Thor und ließen die Goten eindringen. Der
dunipfe Ton der Stierhörner weckte fürchterlich die Schläfer.
Die Plünderung begann; aber es war doch keine von der Art,
wie sie früher die Römer selbst unzähligen Städten bereitet
hatten. Nicht blinder Zerstörungswut und Mordlust über-
ließen sich die Goten; ja, man muß ihre Mäßigung bewundern.
Das Leben Unschuldiger ward verschont und die Heiligkeit der
Kirchen geachtet. Auch den Arianern war Rom ein heiliger
Ort. Hier hatten ja die großen Apostel Paulus und Petrus
Zeugnis für den Heiland abgelegt. Ein Gote trat in die
Wohnung einer alten Frau und verlangte von ihr alles Gold
und Silber, das sie besitze. Da führte sie ihn zu einem
Schranke, der mit kostbaren Altargefäßen angefüllt war. Er-
staunt betrachtete der Gote den Schatz. „Diese heiligen Ge-
fäße," sprach die Alte, „gehören dem Apostel Petrus. Rührst du
sie an, so mußt du die Gottlosigkeit auf dein Gewissen nehmen.
Ich selbst besitze keine Schätze." Der Krieger überbrachte die
Kunde von den Kostbarkeiten seinem Anführer, und dieser
fragte bei Alarich an, was er thun solle. Sogleich erließ der
König den Befehl, den Schatz samt seiner Hüterin ungefährdet
in die Kirche des Apostels zu bringen. Eine große Goten-
schar nahm die Kleinode und die Frau in ihre Mitte und
schritt, mit gezogenen Schwertern sie beschützend, durch die
Straßen nach der Kirche. Unterwegs schlossen sich zahlreiche
katholische und arianische Christen, Römer und Goten, dem Zuge
an und geleiteten die heiligen Gegenstände unter Absingen from-
mer Lieder nach dem Ort ihrer Bestimmung. Das vermochte die
24. Alarichs Siegeszug und Ende. 179
Religion und eines Königs starker Wille. Daß Alarich
während der Plünderung einer riesigen Stadt seine Krieger
von rohen Thaten und unnötigem Blutvergießen zurückzuhalten
vermochte, beweist, in welchem Ansehen der König stand; und
daß er solche Schonung überhaupt wünschte, das legt ein
schönes Zeugnis für diesen großen Helden und edlen Men-
schen ab.
Reich mir Schätzen beladen verließen die Goten am 28.
August, nachdem sie drei Tage in Rom verweilt hatten, die
gedemütigte Stadt. Wehklagen und zornige Drohungen er-
schollen, wohin die Kunde vom Fall des heiligen Roms drang.
In Trauer versunken war das ganze Reich. Nur der elende
Kaiser Honorius mit seiner ebenso elenden Umgebung bewahrte
seine Gemütsruhe. Der Höfling, der die Aufsicht über die kaiser-
lichen Hühner führte, war der erste, der seinem Gebieter die
Unglückskunde brachte. „Ach, Herr," rief er, „Roma ist ver-
loren." Da schrie der Kaiser laut auf und sagte traurig:
„Wie ist das nur möglich? Sie hat ja noch eben erst aus
meiner Hand gefressen." Er hatte nämlich seiner Lieblings-
henne den Namen Roma gegeben. Da begriff der Beamte
erst, was der Kaiser meinte, und sprach: „Herr, ich rede nicht
von einem Vogel, sondern von deiner Hauptstadt, die die
Goten eingenommen haben." Das tröstete den Kaiser, und er
sprach erleichtert: „Ach, guter Freund, ich glaubte schon, meine
Henne, die Roma, wäre mir gestorben." Solch ein blöd-
sinniger Wicht war dieser Honorius.
Inzwischen verfolgte Held Alarich seinen Siegeslauf durch
Italien weiter. Fast alle Städte, an denen er vorüber zog,
ergaben sich; die andern wurden geplündert. In der reizenden
Landschaft Kampanien mit ihren prächtigen Villen und schat-
tigen Gärten ließen es sich die gotischen Häuptlinge wohl sein.
Aus schwellenden Polstern, in kühlen Sälen oder unter rau-
schenden Bäumen streckten sie die riesigen Glieder und tranken
aus goldenen Schalen den köstlichen Wein des Südens, von
Söhnen und Töchtern vornehmer Römer bedient. Nach dem
langen Umherziehen und den verlustreichen Kämpfen gönnte der
12*
180 25. Tagesleben eines westgotischen Königs.
König ihnen die Ruhe, während er selbst neue, kühne Pläne
in seinem Innern erwog.
Langsam zogen die Goten weiter bis zur Südspitze Italiens,
wo die Meerenge von Messina die Insel Sicilien vom Fest-
lande trennt. Dieses gesegnete Eiland wollte Alarich seiner
Herrschast unterwersen und von dort aus die Provinz Afrika,
Italiens Kornkammer, in seine Gewalt bringen. Aber dieser
Erfolg war dem Helden nicht beschieden. Mitten in seiner
Sicgeslaufbahn ereilte ihn ein früher Tod. An einer Krank-
heit starb der gewaltige Fürst. Sein Leben war ein unab-
lässiges Mühen für die Größe seines Volkes gewesen; jetzt,
wo die Früchte seiner Sorgen und Arbeiten endlich reifen
wollten, wurde er hinweggerafft. Darum weinten seine Goten,
als sie dem toten Herrscher ein wunderbares Begräbnis be-
reiteten. In Calabrien, unweit der Stadt Cosenza, fließt
ein kurzer, aber wasserreicher Fluß, der Bu sentó. Diesen
lenkten sie aus seinem Bette ab und ließen durch römische
Gefangene auf dem Grunde eine tiefe Grube ausgraben. Hier
hinein senkten sie unter heißen Thränen, ernste Klagelieder
singend, den Leichnam des geliebten Königs mit vielen Schätzen,
schütteten die Grube wieder zu und leiteten das Wasser des
Flusses in sein altes Bett zurück. Die Gefangenen aber,
die bei der Arbeit geholfen hatten, wurden getötet. Kein
Römer sollte erfahren, wo der edle Held von seinen Thaten
ausruhte, keiner die Stätte entweihen, die durch den toten
Leib des großen Königs geheiligt war.
23. Tagesleben eines ivrstgotifchen Königs
fünfzig Jahre nach Alarich.D
Zum Nachfolger ihres verehrten Herrschers wählten die
Goten einmütig seinen Schwager, den durch wunderbare Schön-
heit und hohe Geistesgaben ausgezeichneten Athawulf.
Dieser führte sein Volk aus Italien nach Gallien, dessen süd-
westlichen Teil er eroberte. In der Stadt Narbonne feierte
er im Jahre 411 seine Hochzeit mit P l a c i d i a, der lieblichen
Schwester des Honorius, worüber der alberne Bruder der-
25. Tagesleben eines westgotischen Königs.
181
selben wütend war. Auch über die Pyrenäen drang der kühne
Herrscher. In Barcelona schlug er sein Hoslager auf. Hier
war ihm ein großer Schmerz beschieden. Seine geliebte Ge-
mahlin hatte ihm ein Knäblein geboren. Die Eltern hofften
beide, dieses Ereignis werde den Honorius zur Versöhnung
bewegen. Da aber starb das Kind, und die weinenden Eltern
legten die kleine Leiche in einen silbernen Sarg und setzten sie
in einer Kirche zu Barcelona bei. So sank ihnen ein lieber
Besitz und eine schöne Hoffnung ins Grab. Und kurze Zeit
danach fiel der hochsinnige König selbst durch tückischen Mord,
im Jahre 415. Sein Nachfolger, der tapfere Walja, eroberte
fast ganz Spanien. Dieses Land hatten bis dahin die Wan-
dalen besetzt, die sich für jetzt in die unzugänglichen Gebirge
im Nordwesten zurückzogen. Walja schenkte es dem Kaiser
Honorius. Dadurch ließ sich dieser endlich versöhnen und trat
nun den Westgoten das südwestliche Gallien förmlich ab. Hier
gründete Walja im Jahre 419 ein mächtiges Reich, das
nach seiner Hauptstadt das Westgotenreich von Tolosa (Tou-
louse) genannt wird und bald auch die spanische Halbinsel um-
faßte. Von der ruhmvollen Teilnahme der Westgoten an der
Besiegung des schrecklichen Hunnen Attila im Jahre 451 werden
wir später ausführlich berichten. Unter dem großen König
Eurich (466—484), dem mächtigsten Herrscher seiner Zeit,
hat das Reich seine höchste Blüte erreicht. Der Frankenkönig
Chlodwig entriß 507 dem Nachfolger Eurichs Alarich
dem Zweiten die meisten Länder in Gallien, worauf die
westgotische Macht fast ganz auf Spanien beschränkt war. Zur
Hauptstadt wählten die Könige Toledo. Lange Zeit war das
Reich noch stark und geachtet. Endlich zerfiel es und wurde
im Jahre 711 eine Beute der aus Afrika hereinbrechenden
Araber. In der Schlacht bei Xeres de la Frontera verlor
der letzte König Roderich Reich und Leben.
Über einen der Westgotenkönige, die das Reich in seiner
ersten Blüte beherrschten, den Vorgänger des großen Eurich,
ilt uns eine anziehende und sehr anschauliche Schilderung seiner
Persönlichkeit erhalten. Es ist der kluge und tapfere König
Theodorich der Zweite (453—466), dessen äußere Er-
182 25. Tagesleben eines westgotischen Königs.
scheinung, Lebensweise und Charakter der gleichzeitige Dichter
Apollinaris Sidonius in einem Briefe an seinen Bruder
folgendermaßen beschreibt: „Schon oft hast du mich ausgefordert,
weil der Ruhm des Gotenkönigs so weit unter den Völkern
verbreitet ist, ich möchte dir seine Gestalt und Lebensweise
schildern. Ich erfülle gern diesen Wunsch, soweit der eng be-
messene Raum eines Brieses es zuläßt. Denn der Mann ist
es wert, auch von denen gekannt zu werden, die ihm weniger
nahe stehen; so hat ihn Gott und die Natur mit allen Gaben
gesegnet. Seine Sitten aber sind so beschaffen, daß selbst die
Mißgunst aus seine Macht seine Vorzüge nicht zu schmälern
vermag. Was seine äußere Gestalt anlangt, so ist sein Leib
schön gewachsen, nicht übermäßig lang, doch über das Mittel-
maß hinausragend. Der Scheitel seines Hauptes ist rund,
das lockige Haar von der glatten Stirn zurückgestrichen, der
Nacken weniger fleischig als sehnig. Über die Augen schwingen
sich starke, bogenförmige Augenbrauen; und wenn er die Augen
schließt, so reichen die langen Wimpern ein gutes Stück auf
die Wangen hinab. Die Ohren werden, wie es die Sitte
des Volkes will, ganz verdeckt durch die niederwallenden Locken.
Die Nase ist sehr schön gebogen, die Lippen fein und nicht
weit nach den Mundwinkeln ausgedehnt. Den Bart läßt sich
der König täglich durch einen Diener scheren, nur an den
schmalen Schläfen wächst er dicht hervor. Kinn, Kehle und
Hals sind nicht fett, aber saftreich, zart und weiß und, näher
betrachtet, mit jugendlicher Röte durchschimmert; denn der
König errötet oft, aber nicht aus Zorn, sondern aus Bescheiden-
heit. Seine Schultern sind rund, die Oberarme stark, die
Ünterarme hart, die Hände breit, die Brust hoch, der Leib
nicht vargedrängt. Auch alle übrigen Teile des Körpers zeigen
das schönste Ebenmaß, die Schenkel und Waden sind kräftig,
kleine Füße tragen die starken Glieder. Sein Tageslauf aber
ist in folgender Weise eingeteilt. Frühe vor Tagesanbruch
schon versammeln sich einige Geistliche bei ihm, dann wird vor
ihm und einem ausgewählten Gefolge ein Gottesdienst gehalten,
dem er mit großer Aufmerksamkeit folgt. Den übrigen Teil
des Morgens nimmt die Sorge für die Verwaltung seines
25. Tagesleben eines wcstgotischen Königs. 183
Reiches in Anspruch. Dabei steht neben dem Thronsessel der
Waffenträger des Königs. Seine Leibwache, nach gotischer
Sitte mit Pelzen bekleidet, wird, um jede Störung zu ver-
meiden, im Vorzimmer aufgestellt, das nur durch einen
Vorhang von dem größeren Raume getrennt ist. Die Stimmen
von innen werden draußen nur als ein leises Murmeln ver
nommen. In den Saal zu dem Könige haben die Gesandten
fremder Völker Zutritt; diese hört er aufmerksam an und
spricht wenig. Von den Geschäften, die verhandelt werden,
verschiebt er die wichtigen, wenn sie reifliche Überlegung er-
fordern; die andern macht er rasch ab. Um die zweite Stunde
(um acht Uhr morgens) erhebt er sich von seinem Sitze und
geht in die Schatzkammer oder in den Stall, um sich am
Anblick seines Hortes oder seiner Rosse zu erfreuen. Ist eine
Jagd angesagt, so hält er es nicht 0er königlichen Würde für
angemessen, den Bogen selbst zu tragen; sondern wenn er
einen Vogel oder ein wildes Tier erblickt, so streckt er seine
Hand nach hinten und der dienstthuende Knabe reicht ihm
schnell den Bogen mit ungespannter Sehne. Denn wie er es
für knabenhaft hält, den Bogen in ein Behältnis geschlossen
zu tragen, so dünkt es ihm weibisch, sich ihn gespannt geben
zu lassen. Er spannt ihn selber, und dann mag er zielen,
wonach er will, er wird niemals fehlen. Wenn die Stunde
des Mahles gekommen ist, das sich an gewöhnlichen Tagen
von dem eines andern Goten nicht unterscheidet, so trägt kein
keuchender Diener eine Menge schweren Silbergeschirres für
die Speisenden auf. Gesprochen wird während der Mahlzeit
nur von ernsthaften Sachen. Das Tafelzeug ist teils purpurn
gefärbt, teils von weißem Leinen. Die Gerichte bestehen aus
nicht eben kostbaren, aber schmackhaft zubereiteten Speisen;
das Geschirr zeichnet sich durch Sauberkeit, nicht durch Gewicht
aus. Sellen werden die Becher geleert; denn man trinkt mehr,
um den Durst zu stillen, als um dem Trunk zu frönen. So
verbindet sich in allem öffentliche Pracht mit häuslicher Spar-
samkeit und königlichem Anstand. Von dem Glanz der Gast-
mähler an festlichen Tagen schweige ich, denn diese sind nie-
mandem unbekannt. Nach Beendigung des Mahles überläßt
184 25. Tagesleben eines westgotischen Königs.
sich der König zuweilen einem kurzen Mittagsschlaf. Dann
belustigt er sich eine Weile am Brettspiel. Er faßt die Würfel
schnell, schüttelt sie langsam und wirft sie dann mit irgend
einem Scherzwort hin. Bei guten Würfen schweigt er und
lacht bei schlechten; wenn sie aber weder gut noch schlecht sind,
ärgert er sich. Er sucht keinen Gewinn, noch fürchtet er
Verlust; bloß durch Zufall, ohne Geschicklichkeit zu gewinnen,
ist ihm zuwider. Es ist, als ob er im Spiel ein Bild des
Krieges erblickte. Die Teilnehmer am Spiel bittet er zu ver-
gessen, daß er der König sei, und sich frei und zwanglos zu
bewegen. Er will nicht gefürchtet sein. Großen Spaß bereitet
es ihm, wenn ein Mitspieler, der verloren hat, seinen Ver-
druß und Ärger nicht verbergen kann. Dann ist er stets in
der besten Laune, und dann ist es auch an der Zeit, ihn zu
bitten, wenn man eine Gunst von ihm zu erhalten wünscht;
wer eine Bitte aus dem Herzen hat, der bringt sie in solchen
Augenblicken vor. Ich selbst habe oft, wenn ich etwas von
ihm wollte, mit Vergnügen verloren; denn was ich im Spiele
verlor, das gewann ich dann vielfältig wieder. Nach dem
Spiel, von der neunten Stunde an (um drei Uhr nachmittags),
widmet sich der König wieder den Herrschersorgen, die auf
ihn eindringen. Es nahen sich jetzt alle die, welche ihm eine
Sache vorzutragen haben, und dies dauert fort bis zur Stunde
der Abendmahlzeit, an der nur seine Freunde teilnehmen.
Zuweilen, doch nicht häufig, werden während des Abendessens
auch Spaßmacher hereingelassen, die aber keinen der Gäste
durch ihre Witze verletzen dürfen. Von Gesang und Saiten-
spiel liebt er nur die Art, durch welche der Mut belebt wird.
Sobald er sich dann erhebt, ruft er die nächtlichen Wachen in
den Königshof. Bewaffnete stehen bei den Eingängen des
königlichen Hauses und hüten den Schlummer des Herrschers."
Man erkennt aus dieser Schilderung leicht, daß die Lebens-
weise der Westgoten sich seit den Tagen Athanarichs und
Fridigerns bedeutend verfeinert, aber doch nicht die frische,
einfache Art der germanischen Heimat völlig eingebüßt hatte.
26. Attila, der Hunnenkönig.
185
26. Attila, der Hunnenkönig.
Die Westgoten hatten durch Gründung des Reiches oon
Toulouse endlich Ziel und Rast für lange Zeit gefunden.
Aber die Stürme, die das Römerreich erschütterten, hörten
deshalb nicht auf und trieben es allmählich dem Untergange
zu. Westgallien war an die Westgoten verloren gegangen,
und es währte nicht lange, da breitete sich die Herrschaft der
westgotischen Könige auch über Spanien aus. In Ostgallien
hatten sich in der Gegend von Worms die Burgunden an-
gesiedelt, im Norden breiteten sich die Franken immer mehr
aus. Etwas später wurde Britannien eine Beute der Sachsen
und Angeln. An der mittleren Donau schauten die Rügen
und andre Völkerstämme begehrlich nach römischem Gebiet
herüber. Nordafrika, Italiens Kornkammer, ging an die
Wandalen verloren. So sah sich das unglückliche Rom auf
allen Seiten von Feinden umgeben, eine wertvolle Provinz
nach der andern wurde ihm entrissen. Der morsche Staat
wäre schon damals gänzlich zusammengebrochen, wenn nicht ein
hochbegabter Mann, der Kriegsmeister Aetius, unermüdlich
für ihn thätig gewesen wäre und das Allerschlimmste abge-
wendet hätte. Auch dieser kraftvolle und scharfsinnige Staats-
mann, dem Stilicho nicht unähnlich, nur nicht so edel und
uneigennützig, war wahrscheinlich kein geborner Römer, sondern
von germanischer Abkunft. Sein Vater stammte aus dem
Gotenlande an der Donau. In seinen Knabenjahren war
Aetius einst als Geisel in die Hände des Helden Alarich
gekommen. Der König gewann den frischen, lebhaften Knaben
lieb und unterrichtete ihn wie einen eigenen Sohn im Waffen-
handwerk. Später wurde Aetius an den Hof des Hunnen-
königs Ruga vergeiselt. Hier lebte er mehrere Jahre, machte
sich mit hunnischer Sprache und Sitte wohl vertraut und
knüpfte Verbindungen an, die er später zu nützen verstand.
Durch eine so wechselvolle und erfahrungsreiche Jugend erwarb
sich Aetius eine erstaunliche Arbeitskraft, sicheres Urteil und
kluge Geschmeidigkeit. Er war von mittlerer Größe, kräftig
und gewandt, ein kühner Reiter, erfahren in allen Geschäften
186
26. Attila, der Hunnenkönig.
des Kriegs und des Friedens. Gemeine Leidenschaften lagen
ihm fern; nur gewaltig herrschsüchtig war er.
Der elende Honorius war gestorben. Sein Neffe und
Nachfolger Valentinian der Dritte, dem vorigen Kaiser
in allen Stücken ähnlich, fand an Aetius eine starke Stütze.
Fast dreißig Jahre hindurch hat dieser treu am Steuer des
Reichs gestanden, bis auch er, wie einst Stilicho, durch seinen
eignen undankbaren Herrn fiel. Nachdem er die Würde des
Oberfeldherrn aller weströmischen Heere erlangt hatte, griff er
mit hunnischen Reiterscharen, die er in Sold genommen, den
Burgundenkönig Gundahari (Günther) an. der die Grenzen
seiner Herrschaft auf Kosten der Römer mächtig ausgedehnt
hatte. In einer fürchterlichen Schlacht im Jahre 437 fiel
Gundahari mit seinen beiden Brüdern und dem größten Teile
seines Volkes. Das Ereignis ergriff auch die Gemüter der
umwohnenden deutschen Stämme. Überall sagte und sang man
von der Todesnot der Burgunden, und so entstand ein Teil
der großen Nibelungensage, die noch in dem fast achthundert
Jahre später gedichteten Nibelungenlied so gewaltig an das
Herz des Hörers greift.
Dieser Krieg und viele andre, die der tapfere Aetius aus-
focht, waren indes nur Vorspiele zu dem großen Kampfe,
durch dessen glückliche Beendigung er der Retter Europas
werden sollte, zu dem Kampfe gegen den Hunnenkönig Attila.
Seit die Westgoten sich über die Donau auf römischen Boden
zurückgezogen hatten, wird nur sehr Weniges über das Volk
berichtet, das durch seinen Einbruch in Europa die Völker-
wanderung veranlaßt hatte. Die Ostgoten waren trotz der
hunnischen Oberherrschaft unverfälschte Germanen geblieben.
Sie behielten ihre alten Wohnsitze und ihre angestammten
Herrscher; diese aber waren dem hunnischen König zur Heeres-
folge verpflichtet. Im ganzen war das Hunnenjoch für sie
nicht schwer. Etwa seit dem Jahre 430 stand das Ostgoten-
volk unter drei Herrschern; es >varen drei Brüder aus dem
erlauchten Geschlecht der Amaler oder Amelungen, Walamir,
Theo de mir und Widemir. Walamir war der älteste; er ließ
in edler Uneigennützigkeit seine beiden jüngeren Brüder an der
26 Attila, der Hunnenkönig.
187
Herrschaft teilnehmen, die sich ihm doch freiwillig unterordneten.
So gaben sie dem Volke ein herrliches Beispiel echt brüderlicher
Eintracht und Liebe. Der bedeutendste von den dreien aber
war Theodemir, der hauptsächlich die Kriege seines Bruders
führte und der Vater des später so berühmten Königs Theo-
derich wurde. In die Zeit nun, wo die drei Amaler in
schöner Einigkeit an der Spitze des Ostgotenvolkes standen,
fällt die Regierung des gewaltigen Hunnentonigs Attila.
Wenn wir auch lange nichts von den Hunnen hören, so
hatte doch dieses wilde Reitervolk sich nicht etwa in friedliche
Ackerbauer verwandelt. Es waren noch die rohen Nomaden
vom Jahre 375, die Ammian so anschaulich geschildert hat;
Kriege zu führen gehörte zu ihren Lebensbedürfnissen. Nur
kehrten sie ihre Waffen gegen Völker, von denen wir aus
dieser Zeit keine Nachrichten besitzen. Erst zu Anfang der
dreißiger Jahre des fünften Jahrhunderts kommt gewisse Kunde
von einem mächtigen Hunnenkönig R u g a, vor dem der Kaiser-
in Konstantinopel zitterte. Aber sein Stern ist erblichen vor
dem blutigen Gestirn seines Neffen Attila, der ihm ge-
meinsam mit seinem Bruder Bleda im Jahre 433 in der
Herrschaft folgte. Ein lose gefügtes Reich, das von der Wolga
und dem Schwarzen Meere bis in das heutige Deutschland
und das mittlere Donaugebiet reichte, und ein buntes Völker-
gemisch, das aus Hunnen und Slaven, aus Ostgoten, Gepideu,
Rügen und andern deutschen Stämmen bestand, gehorchte den
Brüdern, von denen der ältere Bleda vor dem jüngeren Attila
weit zurücktrat.
Der Name Attila ist deutsch und bedeutet „Väterchen",
und auch Attilas Vater Mundiuch trägt eineu germanischen
Namen. Dies beweist, daß die vornehmsten Hunnen vielfach
die edlere deutsche Sitte und Sprache anzunehmen bemüht ge-
wesen sein müssen. Nur die Volksmasse schloß sich gegen jede
Bildung ab. Seinem Äußeren nach war Attila freilich ein
echter Asiate, von kurzem Wüchse, breiter Brust, großem Kopf,
häßlichem Gesicht und gelblicher Farbe, mit kleinen Augen,
aufgestülpter Nase und dünnem Bartwuchs. Aber sein kleines
Auge spähte scharf umher, und seine Haltung war stolz und
188
26. Attila, der Hunnenkönig.
selbstbewußt. Er wußte sich zu mäßigen und erschien seinen
Völkern als ein gerechter, ja ein gütiger Herr, aber in seinem
Zorn war er furchtbar und gegen Feinde kannte er kein Er-
barmen. Die Völker, deren Ahnen vor diesem Mann einst
zitterten, nannten ihn später nicht mit Unrecht die Gottes-
geißel, und er hörte es gern, wenn man sagte, er habe das
Schwert des Kriegsgottes in den Händen. Ein Hirt, so er-
zählte man sich nämlich, bemerkte, daß ein Kalb aus seiner
Herde hinkte. Er fand eine Schnittwunde im Fuß des Tieres,
konnte keinen Grund der Verletzung entdecken und folgte den
Blutspuren. Da stieß er zuletzt aus ein Schwert, worauf das
Kalb beim Weiden getreten war. Er grub es heraus und
trug es alsbald zu Attila. Dieser erklärte freudig, es sei das
Schwert des Kriegsgottes, durch das ihm der Sieg über alle
Völker der Welt verbürgt werde.
Schon als Attila noch gemeinsam mit Bleda regierte, er-
schreckten die Hunnenkönige den schwachen oströmischen Kaiser
Theodosius den Zweiten, den Nachfolger des Arkadius,
wiederholt durch plündernde Einfälle in sein Reich und durch
Forderung ungeheurer Summen, die als Jahrgelder für angeblich
geleistete Waffenhilfe, gezahlt werden mußten. Als vollends
Attila seinen Bruder, der seinen hochfliegenden Entwürfen ent-
gegenstand, getötet und das ganze Hunnenreich unter seinem
Zepter vereinigt hatte, vermehrten sich die Quälereien, durch
die der erbarmungslose Kriegsherr die Oströmer heimsuchte.
Im Jahre 447 drang er unter einem nichligen Vorwände
bis zu den Thermopylen vor, verwüstete das Land auf das
schrecklichste und schlug die Römer in einer blutigen Schlacht.
Der Friede brachte neue Schmach für das Kaiserreich. Nur
mit neuen unermeßlichen Summen konnte er erkauft werden.
Trotzdem hatte der gute Theodosius keine Ruhe. Der
Hunnenkönig machte sich den grausamen Scherz, durch
wiederholte Gesandtschaften über irgend welche Beleidigungen
oder Nachteile, die ihm durch die Römer zugefügt worden
seien, den armen Kaiser zu quälen. Das Ende war
jedesmal, daß die hunnischen Boten mit reichen Gaben
an Attila beladen heimkehrten, durch welche Theodosius den
26. Attila, der Hunnenkömg.
189
grimmigen Feind bei gnädiger Laune zu erhalten hoffte.
Römische Vornehme begleiteten im Aufträge des Kaisers zu-
weilen die Hunnen. Dies geschah unter anderm auch im
Jahre 448, wo ein Geschichtschreiber, Namens Pris eus, bei
einer solchen Gelegenheit mit andern kaiserlichen Beamten ins
Hunnenland reiste und an Attilas Hof kam. Dort hat er
allerlei Merkwürdiges gesehn und gehört und nachträglich einen
Bericht über diesen Aufenthalt geschrieben. Die Residenz
Attilas, die in Ungarn zwischen der Donau und der Theiß
lag, schildert er als ein sehr großes Dors mit hölzernen Hütten.
Sogar der Palast des Königs war aus Holzstämmen gebaut.
Daneben aber stand ein steinernes Badehaus, das sich Attila
von römischen Kriegsgefangenen hatte errichten lassen. Wie
der gefürchtete Herrscher als friedlicher Richter seines Volkes
waltete, das beschreibt Priscus folgendermaßen: „Ich näherte
mich dem Gebäude, in welchem Attila wohnte. Dabei kam
ich unter eine große Volksmenge zu stehen; denn da Attilas
Wächter und Gefolgsmannen mich wohl kannten, wehrte mir
keiner, hinzuzutreten. Da sah ich, wie plötzlich der ganze
Volkshaufe in Bewegung geriet und lärmend nach der Thür
hindrängte, aus der Attila hervortreten sollte. Der König
schritt, von dem Goten H uni gais, seinem Ratgeber, begleitet,
aus dem Hause, mit ernster Miene, während aller Augen auf
ihn gerichtet waren. Vor dem Palaste blieb er stehen, und
nun näherten sich ihm viele Leute, die miteinander in Streit
lagen. Er hörte sie an und gab jedem seinen Spruch. Nach-
dem er so Gericht gehalten hatte, ging er wieder in sein
Haus zurück und ließ Gesandte barbarischer Völker zum Em-
pfange vor."
Sehr merkwürdig ist die Schilderung eines Gastmahls,
zu dem Priscus mit andern west- und oströmischen Gesandten
von Attila eingeladen worden war. Sie zeigt uns unter
anderm, wie stark am Hofe des Hunncnkönigs germanische
Sitte und Sprache das wilde, rohe Asiatentum durchdrungen
hatten. Edle Goten bildeten die nächste Umgebung Attilas.
„Wir traten," so berichtet Priscus, „zur bestimmten Stunde
(etwa um drei Uhr nachmittags) in den Palast und gleich-
190
26. Attila, Der Hunnenkönig.
zeitig mit uns die weströmischen Gesandten. Aus der Schwelle
blieben wir dem König gegenüber stehen, und die Mundschenken
boten uns nach dem Landesbrauch einen Becher Weins, damit
wir, ehe wir Platz nähmen, auf das Wohl des Wirtes tranken.
Nachdem wir dies gethan hatten, wies man uns Sessel an, auf
denen wir sitzend essen sollten." Die Römer pflegten nämlich bei
ihren Mahlzeiten zu liegen. Man hat hier übrigens nicht an eine
große Festtafel zu denken, sondern, wie aus dem folgenden
hervorgeht, an kleine Tische, an denen je drei bis fünf Per-
sonen saßen und die erst vor den Sitzenden aufgestellt wurden.
Doch wir lassen Priscus weiter erzählen. „Alle Sessel," so
fährt er fort, „standen längs der Wände des Saales und
zwar auf den beiden Langseiten, rechts und links. An der
einen Schmalseite, der Thür gegenüber, erhob sich ein Ruhe-
bett, zu dem wenige Stufen hinaufführten und auf dem Attila
saß. Hinter ihm stand ein zweites, noch mehr erhöhtes Lager,
das wie jenes mit weißem Linnen und bunten Teppichen be-
deckt und ebenfalls allein für den König bestimmt war. Die
vornehmsten Gäste saßen auf der Seite, die Attila zur Rechten
lag; die andern, zu denen auch wir gehörten, aus der linken
Reihe. Zu Attilas rechter Hand saß zunächst der Gote
Hunigais auf einem Sessel zur Seite des Ruhebettes, ihm
gegenüber zwei Söhne des Königs ebenfalls aus Sesseln.
Der älteste Sohn Ellak aber hatte seinen Platz mit auf des
Vaters Ruhebett, doch nicht unmittelbar neben jenem, sondern
ein gutes Stück abseits; auch schlug er aus Ehrfurcht vor
dem Vater beständig die Augen nieder. Über uns, auf der
linken Seite, saß ein edler Gote, Namens Berich, der unter
den Hunnen großes Ansehen genoß.
Als wir alle nach dem Range Platz genommen hatten,
kam der Mundschenk des Königs und bot zuerst seinem Herrn
eine Schale mit Wein. Attila nahm sie und winkte dabei
dem zu, der ihm an Rang zunächst stand. Wer durch sol-
chen Gruß geehrt wurde, erhob sich und durfte sich nicht eher
setzen, als bis der König von dem Wein genippt, er selbst
aber die Schale ausgetrunken und sie dem Mundschenken zu-
rückgegeben hatte. Während Attila stets sitzen blieb, bezeigten
26. Attila, der Hunnenkönig.
191
ihm alle auf gleiche Weise ihre Ehrfurcht, je nachdem die
Reihe au sie kam. Sie standen auf, nahmen den Becher,
sprachen den Heilwunsch auf den König und tranken. Auch
uns begrüßte der König in der geschilderten Weise, und wir
erwiderten nach der Sitte des Hofes. Nachdem aber diese
Ehrentrünke abgethan waren, entfernten sich die Schenken,
und nun begann das Mahl. Zuerst wurde dem Könige ein
Tisch vorgesetzt, dann den andern, je einer für drei, vier oder
fünf Gäste, von denen jeder sich von den Gerichten zulangen
konnte, ohne von seinem Sessel aufzustehen. Nun trat zuerst
der Truchseß Attilas herein, der eine Schüssel mit Fleisch
trug; nach ihm kamen Diener, welche Brot und Zukost auf
die Tische setzten. Für uns und die Barbarengäste waren
leckere Gerichte zubereitet und wurde alles auf silbernen
Schüsseln ausgetragen; für den König selbst aber kamen nur
hölzerne Teller, und darauf lag nichts als Fleisch. Dem ent-
sprach seine Mäßigkeit in allem. Die Gäste tranken aus
silbernen und goldenen Bechern, sein Trinkgefäß war von
Holz. Ebenso schlicht war seine Kleidung; sie zeigte keinen
andern Schmuck als den der Sauberkeit. Auch sein Schwert
und die Bänder der Barbarenschuhe und das Riemenzeug
seines Rosses waren nicht wie bei den andern Hunnen mit
Gold, Edelsteinen und sonstigem Zierat geschmückt.
Als die Speisen des ersten Ganges verzehrt waren, er-
hoben wir uns und durften uns nicht eher wieder nieder-
lassen, alö bis nach der früheren Ordnung jeder einen vollen
Becher mit Wein auf Attilas Wohlsein geleert hatte. Nach-
dem ihm auf diese Weise Ehre erwiesen worden war, setzten
wir uns wieder, und es wurde für jeden Tisch ein zweiter
Gang aufgetragen, der andre Speisen enthielt. Und als
wir von diesen genug gegesien hatten, standen wir abermals
auf, tranken und setzten uns wieder, wie vorher.
Inzwischen ward es Abend, und man zündete Fackeln an.
Jetzt traten zwei Goten vor Attila und trugen Gesänge vor,
in denen sie die Siege und die kriegerischen Tugenden des
Herrschers und andrer Helden besangen. Mächtig war die
Wirkung: mit leuchtenden Augen sahen die Gäste auf die
192
26. Attila, der Hunnenkönig.
Sänger; viele weinten, die jüngeren vergossen Thränen freu-
digen Ruhmverlangens und edler Bewunderung, die Greise
aber weinten vor Schmerz, wenn sie an ihre alten Kämpfe
dachten und daß sie nun kraftlos und vom Alter zur Ruhe
gezwungen waren. Nach den Sängern trat ein hunnischer
Narr auf, der allerlei Seltsames, Unsinniges und Albernes
herschwatzte und durch seine Possen ein allgemeines Gelächter
erregte. Zuletzt kam ein Maure herein, ein buckliger, miß-
gestalteter Zwerg, der seit zwanzig Jahren in der Welt herum-
zog. Er war einst König Bledas Günstling gewesen, war
diesem entlaufen, aber wieder zurückgebracht worden. Dieser
Maure, Zerkon war sein Name, trat also jetzt auf und ries
durch seine Erscheinung, seine Possen und seine aus Lateinisch,
Griechisch und Gotisch spaßhaft gemengten Reden die größte
Heiterkeit hervor. Doch Attila blieb ernst, und sein Antlitz
zeigte nicht die mindeste Veränderung; selten gab er durch
eine Bewegung oder ein kurzes Wort seine gute Laune kund.
Nur als sein jüngster Sohn Ernak eintrat und sich dem
Vater näherte, zog dieser ihn an sich, fuhr ihm liebkosend
über die Wange und sah ihn liebevoll und mit leuchtenden
Augen an. Als ich, überrascht hierüber, mich an einen meiner
Nachbarn wandte, der ein wenig Latein sprach, und ihn nach
dem Grunde der Zärtlichkeit Attilas fragte, vertraute mir der
Barbar unter dem Siegel der Verschwiegenheit, Wahrsager
hätten dem Könige prophezeit, daß sein Geschlecht in allen
seinen übrigen Kindern untergehen und nur in diesem Ernak
sortleben werde; deshalb liebe er in diesem Kinde die einzige
Bürgschaft für das Fortbestehen seines Geschlechtes. Das
Gelage zog sich bis tief in die Nacht hinein; da glaubten
wir uns endlich dem Trinken nicht mehr hingeben zu dürfen
und entfernten uns."
Zwei Jahre nach der Reise des Priscus ins Hunnenland
sank der gutmütige, aber unfähige Theodosius der Zweite ins
frühe Grab (450). Ihm folgte ein tapferer Kriegsmann
mit Namen M a r c i a n auf den Thron des Ostreiches. Dieser
verstand das kaiserliche Ansehen besser zu wahren als sein
schwacher Vorgänger. Als Attila von ihm in drohenden
27. Die Völkerschlacht auf den katalaunischen Gefilden. 193
Worten Auszahlung des von Theodosius zugestandenen Tributs
forderte, gab Marcian zur Antwort: „Für meine Freunde
habe ich Gold, für meine Feinde nur Eisen." Attila war
so selbstbewußte Sprache nicht gewöhnt, er stutzte und — be-
schloß, das oströmische Reich, das offenbar unter einem tüch-
tigen Herrscher stand, sich einstweilen selbst zu überlassen und
seine unersättliche Ruhm- und Ländergier durch einen Er-
oberungszug nach dem Westen zu befriedigen. Denn das
weströmische Reich war so geschwächt und von allen Seiten
bedroht, daß er sich einen raschen, glänzenden Erfolg versprach.
27. Dir Völkerschlacht auf den katalaunischen
Gefilden.
Ganz Europa wollte der schreckliche Hunnenkönig seiner
Herrschaft unterwerfen. Wäre ihm das gelungen, so würde es
um die ganze christliche Bildung, um die edlen Schätze des
griechisch-römischen Altertums und um die fernere Entwicklung
der germanischen Völker geschehen gewesen sein. Die tapferen
Westgoten und der kluge Aetius haben sich das unsterbliche
Verdienst erworben, Attilas Unterfangen zu vereiteln. Und
das kam so. Das reiche Gallien sollte nach Attilas Willen zu-
erst in die plünderungslustigen Hände der Hunnen fallen. Da
nun aber die Westgoten den westlichen Teil dieses Landes be-
saßen und Attila nicht mit ihnen und den Weströmern zu-
gleich kämpfen wollte, so versuchte er die beiden Staaten, die
damals in Frieden miteinander lebten, zu entzweien, um dann
einen nach dem andern vernichten zu können. Aber seine
Versuche scheiterten an der Vorsicht des Aetius und der Bieder-
keit des Westgotenkönigs Theoderich des Ersten. Als die
arglistigen Umtriebe Attilas bekannt wurden, schlossen beide
Männer ein Schutz- und Trutzbündnis für ihre Staaten ab
und rüsteten ihre Streiter zu dem drohenden Entscheidungs-
kampfe. Auch die westlichen Stämme der Barbaren, die Reste
der Burgunden und — freilich nur ungern — der Alanen-
könig Sangiban, der in Mittelgallien, um Orleans herum,
ein Reich hatte, schlossen sich ihnen an. Attila muß von dem
Klee, Die alten Deutschen.
194 27. Die Völkerschlacht auf den katalaunischen Gefilden.
Bündnis Roms mit den Westgoten Kunde erhalten haben;
denn er suchte jetzt einen Borwand, um mit Rom zu brechen.
Man erzählt, Honoria, die schöne, aber leichtsinnige
Schwester des Kaisers Valentinian, habe dem Hunneuherrscher
heimlich ihre Hand angetragen. Attila verlangte nun Honoria
zum Weibe und drohte, wenn sie ihm nicht ausgeliefert werde,
so werde er sie sich holen und ihr Erbe, nämlich das west-
römische Reich, in Besitz nehmen. Natürlich wurden seine
Forderungen abgewieseu, und nun spielte Attila den Beleidig-
ten und sammelte seine Völker zum Kriege. Aus allen Gauen
seines weiten Reiches vom Schwarzen Meere bis zur Ostsee,
von der Wolga bis nach Mitteldeutschland hinein, strömten,
seinem Aufgebote folgend, unermeßliche Scharen zusanimen.
Die geringste Angabe spricht von 800000 Mann. Den
Kern des Völkerheeres bildeten die Hunnen, Ostgoten und
Gepiden. Aber auch Slaven und kleinere Germanenstämme,
selbst Thüringer und Ostfranken, mußten sich ihm anschließen.
Der König der Ostgoten, Wala mir, und der der Gepiden,
Ardarich, die Attila vor allen wert hielt, mußten als
Ratgeber stets in seiner Nähe weilen. Langsam wälzte sich
die ungeheure Völkerlawine die Donau aufwärts über Passau
und Regensburg dem Rheine zu, der im Frühling 451 über-
schritten wurde. In zwei Hauptmassen rückte man vor, deren
jede viele Meilen weit sich ausbreitete. Das feste Metz wurde
in der Nacht vor Ostern gestürmt und eingenommen. Es
war ein gräßlicher Ostermorgen, der den unglücklichen Bürgern
aufging. Sie wurden größtenteils niedergehauen, die übrigen
samt dem Bischof in die Sklaverei fortgeschleppt; die Stadt
ging in Flammen auf. Ein gleiches Schicksal erlitt Reims.
Unter fürchterlichen Verwüstungen zogen die Massen weiter
über Chalons nach Orleans. Welcher Wahnsinnige hätte
daran denken können, sich dem ungeheuren Strome entgegen-
zuwerfen? Nur feste Mauern gewährten einigen Trost. Der
Bischof Anianus von Orleans hatte von Aetius Zusicherung
schneller Hilfe erhalten. Jetzt bot der kluge und fromme
Mann alles auf, um die Bewohner der Stadt durch geist-
lichen Zuspruch und das Beispiel der Mannhaftigkeit zu stär-
27. Die Völkerschlacht auf den katalaunischen Gefilden. 195
ken, bis die Hilfe käme. Aber Woche um Woche verging
und der ersehnte Retter wollte noch immer nicht erscheinen.
Wütend lärmten die stürmenden Feinde vor den Mauern und
Thoren. Schon bebten die Befestigungswerke von den Sturm-
böcken der Hunnen, schon wich ein Thor, und die ersten Feinde
drangen in die Stadt ein. In heißem Gebete lag der Bichof
auf den Knien, um ihn kniete jammernd seine Gemeinde.
Siehe! da zeigte sich aus der Landstraße eine dunkle Wolke!
Es war Aetius und der Westgotenkönig Theoderich mit seinen
jungen Heldensöhnen Thorismud und Theoderich. Mit
Windesschnelle eilten ihre tapferen Scharen herbei und rückten
im Laufschritt von der entgegengesetzten Seite wie die Feinde
in die Stadt ein. Nach kurzem, aber heißem Kampfe hatten
sie die Hunnen wieder hinausgeworfen, verrammelten von
neuem das Thor und brachten der bedrängten Stadt neue
Vorräte, frischen Mut und viele tausend tapfere Arme. Über-
rascht hob Attila die Belagerung auf und zog sich an der
Loire nach der Seine und Marne zurück. Offenbar war sein
Heer nicht im besten Zustande. Selbst ein so gewaltiger
Herrscherwille, wie der seine, konnte die bunten Scharen seiner
Völker nicht völlig in Ordnung und Zucht halten. Erst in
den weiten Ebenen der Landschaft Champagne, auf den soge-
nannten katalaunischen Gefilden, machte er halt und
sammelte seine ganze Streitmacht zum Entscheidungskampfe.
Das eigentliche Schlachtfeld war eine Ebene, die den Namen
Campus Mauriacus führte und etwa eine Meile von der
Stadt Troyes lag. Hier entbrannte im Juli des Jahres
451 eine der fürchterlichsten Schlachten, von denen die Ge-
schichte meldet, und in der römische Kriegskunst und deutsches
Heldentum Europa von der asiatischen Gewaltherrschaft rettete,
wie einst Mut und List der Griechen bei Marathon und
Salamis. Erst um die dritte Stunde des Nachmittags gab
Attila den Befehl zum Angriff. Die Opferpriester hatten
nichts Gutes verkündet, und der König wollte, wenn er Un-
glück hätte, die einbrechende Nacht zu seinem Schutze benutzen.
In der Mitte der Ebene zwischen beiden Heeren, so berichtet
der gotische Geschichtschreiber Jordanes, war eine sanft anstei-
13*
196 27. Die Völkerschlacht auf den katalaunischen Gefilden.
gende Anhöhe; dieses Punktes suchten sich die Kämpfer von bei-
den Seiten zu bemächtigen. Von der östlichen Seite her rückten
die Hunnen an, von der westlichen die Römer und Westgoten;
um den noch unbesetzten höchsten Teil der Bodenschwellung ent-
brannte zuerst der Kampf. Auf dem rechten Flügel der Verbün-
deten stand König Theoderich mit seinen Westgoten, auf dem
linken Aetius mit den römischen Legionen. Die Alanen
unter ihrem König Sangiban hatte man in die Mitte ge-
stellt, mit kluger Vorsicht; denn da auf seine Treue wenig
Verlaß war, so schnitten sie ihm die Möglichkeit der Flucht
ab und zwangen ihn zum Kampfe, indem sie ihn von allen
Seiten umgaben. Das Heer der Hunnen war so aufgestellt,
daß in der Mitte Attila mit den Tapfersten seines Volkes
stand; denn auf seine Sicherheit bedacht, umgab er sich mit
dem Kern seines Heeres. Die beiden Flügel bildeten die
verschiedenen Völker und Stämme, die er seiner Herrschaft
unterworfen hatte. Unter ihnen zeichnete sich das Heer der
Ostgoten aus, geführt von den drei Amalungen Wala mir,
Theodemir und Widemir. Auch die Gepiden waren in
großer Anzahl unter Attilas Scharen, geführt von ihrem
Könige Ardarich, den Attila um seiner oft erprobten Treue
und Weisheit willen neben Walamir vor allen übrigen
Fürsten zu seinem Vertrauten gemacht hatte. So fest baute
Attila auf ihre Treue, daß er es wagen durste, sie im Kampf
ihren Stammesvettern, den Westgoten, gegenüberzustellen. Die
übrigen Könige und Führer der verschiedenen Völkerschaften
harrten gleich Trabanten aus jeden Wink Attilas. Ein Blick
seines Auges genügte, daß jeder mit Furcht und Zittern und
ohne Murren an seinen Platz trat und alles ausführte, was
ihm befohlen ward. Aber er, der König der Könige, der
über allen stand, war auch für alle besorgt; er erwog bei
sich den Plan der Schlacht und lenkte die Bewegung der
Massen.
Es entstand also, wie gesagt, zuerst ein Kampf um den
höchsten Teil des Schlachtfeldes. Attila schickte die Seinen
dahin ab, um die Anhöhe zu nehmen; aber Thoris mud, der
Westgotenprinz, und Aetius kamen ihm zuvor und warfen
27. Die Völkerschlacht auf den katalaunischeu Gefilden. 197
von ihrer vorteilhaften Stellung herab die anstürmenden
Hunnen mit leichter Mühe zurück. Da Attila sah, daß durch
diesen Verlust sein Heer in Bestürzung geriet, hielt er es für
angemessen, seine Scharen durch eine Ansprache zu ermutigen.
Er sagte etwa folgende Worte: „Nach so vielen Siegen
brauche ich euch eigentlich nicht erst anzufeuern, als ob ihr
Neulinge im Kriege wäret. Was ist euch so zur Gewohnheit
geworden, als der Krieg? Und was kann es Süßeres geben
für einen Tapferen, als mit eigner Hand Rache zu üben?
Ja, es ist eine Lust, sein Herz an Rache zu sättigen. Darum
frisch, die Feinde angegriffen! Verächtlich sind sie, fürwahr,
zwieträchtige Völker, die die Angst vor uns zusamniengetrieben
hat. Fürchtet ihr die Römer, die Erbärmlichen, mit ihren
leichten Waffen? Sie sinken schon hin, wenn sie in die
Schlachtreihen treten. Laßt sie stehen, — sie fallen von
selbst! — und werft euch auf die Alanen und Westgoten!
Da ist der Sieg am schnellsten zu holen, wo der Kern der
Feindesmacht steht. Sind die Sehnen zerschnitten, so sinken
die Glieder zusammen; der Leib kann nicht aufrecht stehen,
wenn man ihm die Knochen herausgezogen. Zeigt eure Be-
herztheit! bewährt eure Schlauheit! Sättigt euch am Blute
der Feinde! Fürchte doch keiner Tod und Verwundung!
wem der Tod bestimmt ist, den ereilt er auch daheim auf dem
Lager; wer aber Sieger sein soll, den trifft kein Geschoß.
Denkt an eure Ahnen! sie hatten noch keine Waffen, und
doch stoben die Völker vor ihnen in alle Winde. Ich selbst
will zuerst meinen Speer auf die Feinde schleudern. Wer
aber müßig bleibt, wo Attila kämpft, der ist ein Toter."
Durch diese Worte begeistert stürmten alle in die Schlacht.
Wohl konnte den Mutigsten das Herz erzittern vor sol-
chem Kampf, doch die Gegenwart des Königs ließ selbst den
Zagenden alles Zaudern vergessen. Bald kämpfte Mann
gegen Mann; ein fürchterliches Handgemenge entbrannte, hin
und her wogte der Streit, gewaltig, wechselvoll, hartnäckig,
unmenschlich; von keiner Schlacht erzählt das Altertum, die
dieser zu vergleichen wäre. Größere Thaten und erschüttern-
dere Ereignisse hat keine Zeit erblickt. Wie ältere Leute er-
198 2 7. Die Völkerschlacht auf den katalaunischen Gefilden.
zählen, schwoll ein Bächlein, das zwischen niedrigen Ufern
durch jenes Gefilde fließt, zu einem reißenden Gießbach an,
aber nicht durch Regengüsfe, sondern von dem Blute, welches
den Wunden entströmte. Wer eine Wunde erhalten hatte und
brennenden Durst davon empfand, der schlürfte da das mit
Blut vermengte Wasser. In dieser Schlacht ward auch der
alte König Theoderich, während er durch die Reihen der Seini-
gen sprengte und sie zu kühnem Mut entflammte, vom Pferde
gerissen. Unter den Füßen seiner über ihn wegstürmenden
Goten hauchte der noch rüstige Greis sein Leben aus, nach-
dem er länger als dreißig Jahre die Geschicke seines Bolkes
mit kräftiger Hand und weisem Rate gelenkt hatte.
Da trennten sich die Westgoten von den Alanen und
stürmten, voll Schmerz über ihres Königs Fall, noch ingrim-
miger auf die Scharen der Hunnen ein, und fast hätten sie
den Attila selbst getötet, wenn er nickt vorsichtig geflohen und
sich mit den Seinigen in seine Wagenburg zurückgezogen hätte.
So gebrechlich auch diese Schutzwehr war, so fristete sie doch
jetzt denen das Leben, denen kurz zuvor kein Wall und keine
Mauer widerstehen konnte. Thorismud aber, König Theo-
derichs Sohn, der mit Aetius jene Anhöhe genommen und
die Feinde von dort verjagt hatte, geriet im Dunkel der Nacht,
während er wähnte, zu den Seinigen zu kommen, unter die
Wagen der Feinde. Er wehrte sich mannhaft, wurde aber
am Kopfe verwundet und vom Pferde herabgerissen. Doch
sein Gefolge half ihm aus der Not und führte ihn aus dem
Kampfe. Auch Aetius war in der Verwirrung, die die Nacht
mit sich brachte, von den Seinigen abgekommen und trieb
mitten unter Feinden umher. Er soll sie ängstlich gefragt
haben, ob den Goten nicht ein Unglück zugestoßen sei; doch
ward seine Frage glücklicherweise im Getöse der Schlacht über-
hört. Endlich fand er sich wieder zu dem Lager der Seinigen
und verbrachte den Rest der Nacht unter dem Schutz ihrer
Schilde.
Als am nächsten Morgen die ^onne ausging, da sah man
rings das Gefilde mit Leichen übersäet. Die Hunnen wagten
keinen neuen Angriff, und deshalb schrieben Aetius und die
27. Die Völkerschlacht auf den katalauuischen Gefilden. 199
Westgoten sich den Sieg zu. Sie wußten, daß Attila nicht
das Schlachtfeld geräumt haben würde, wenn er nicht unge-
heure Verluste erlitten hätte. Aber obgleich er überwunden
war, so that er doch nicht dergleichen. Zwar blieb er in
seiner Wagenburg, doch ließ er die Waffen erklirren und die
Heerhörner erschallen, als drohte er mit einem Angriff, einem
Löwen gleich, der, den Jagdspeer in der Seite, den Eingang
seiner Höhle bewacht und es nicht wagt, auf die Jäger los-
zuspringen, aber doch unaufhörlich mit seinem Gebrüll die
Herzen zurückschreckt. So ängstigte der große Kriegsfürst seine
Überwinder noch von seiner Wagenburg aus.
Goten und Römer traten nun zu einer Beratung zu-
sammen und überlegten, was sie dem besiegten Attila gegen-
über beginnen sollten; und man beschloß, ihn von allen Seiten
einzuschließen und auszuhungern, da er keine Getreidevorräte
hatte. Denn eine Bestürmung des hunnischen Lagers schien nicht
ratsam, weil der König seine gefürchteten Bogenschützen zwischen
und auf den Karren der Wagenburg aufgestellt hatte, die mit
ihrem Pfeilregen jeden Angriff vereitelt hätten. Man erzählt,
daß der König auch in dieser verzweifelten Lage seine Seelen-
stärke bewahrt und aus Pferdesätteln einen Scheiterhaufen habe
errichten lassen, mit dem Vorsatze, sobald die Feinde eindringen
sollten, sich in die Flammen zu stürzen, damit niemand die
Freude habe, ihn zu verwunden oder ihn, den Herrn so vieler
Völker, in seine Gewalt zu bringen.
Während man so die Hunnen umzingelt hielt, suchten die
Westgoten ihren König, die Söhne ihren Vater, über das
ganze Schlachtfeld. Und sie fanden ihn zuletzt nach langem
Umherirren mitten in dem dichtesten Haufen der Leichen und
ehrten ihn, wie es wackeren Männern ziemt, indem sie ihn
unter Trauergesängen vor den Augen der Feinde begruben.
Zwischen den Schrecken des Schlachtfeldes erwiesen die Goten
mit ihren rauhen Stimmen dem loten König die letzte Ehre
und weinten Thränen, wie sie so tapferen Helden nachgeweint
werden sollen. Denn wohl traf dieser Tod die Goten schmerz-
lich, aber er war auch ehrenvoll, wie selbst die Hunnen be-
zeugten, und wohl dazu angethan, den Stolz der Feinde zu
200 27. Die Völkerschlacht auf den katalaunischen Gefilden.
beugen, da sie unthätig zusehen mußten, wie der Leichnam des
edlen Herrn mit allen königlichen Ehren bestattet ward. Und
nachdem die Westgoten ihrem hehren König die geziemende
Totenfeier dargebracht hatten, erwählten sie unter dem festlichen
Klirren der zusammengeschlagenen Waffen nach alter deutscher
Sitte den jungen Helden Thorismud zu ihrem neuen Ge-
bieter, der den sterblichen Resten des geliebten Vaters als
guter Sohn das letzte Geleite gegeben hatte. Er war ein
wackerer Held und brannte vor Verlangen, seinen tiefen Schmerz
an den Hunnen zu rachen; deshalb war die erste Frage, die
er an den ihm an Klugheit und Alter überlegenen Aetius
that, was man nun weiter mit dem Feinde beginnen solle.
Aetius aber wollte die Hunnen nicht völlig vernichten, denn
er fürchtete, daß dann die Westgoten dem römischen Reiche zu
mächtig werden würden, und dachte die Hunnen vielleicht noch
einmal gegen die Goten zu benützen. Daher riet er dem
jungen König, in seine Heimat zurückzukehren und die väter-
liche Herrschaft zu übernehmen, damit nicht seine Brüder die
Schätze des Vaters an sich rissen und sich des Königshortes
bemächtigten; denn wenn dies geschehe, so stehe ihm ein schwe-
rer und, was schlimmer sei, ein unnatürlicher und unseliger
Kampf bevor. Thorismud durchschaute nicht die Tücke dieses
Rates, sondern glaubte, Aetius wolle nur seinen und seines
Volkes Vorteil; er ließ daher vom Kampfe mit den Hunnen
ab und kehrte nach Toulouse zurück.
In jener weltberühmten Schlacht aber, in welcher die
tapfersten Völker der Erde sich miteinander maßen, sollen auf
beiden Seiten 165 000 Streiter gefallen sein, ungerechnet
15000 Gepiden und Franken, die vor der eigentlichen Feld-
schlacht auseinander stießen und einander zusammenhieben, in-
dem die Franken aus römischer, die Gepiden auf hunnischer
Seite kämpften. Im Volk aber ging geheimnisvolle Kunde,
die Geister der Erschlagenen stünden zur Nachtzeit aus den
Gräbern auf und schlügen in den Lüsten noch einmal die
Schlacht, die sie als Lebende bestanden. Als Attila den Ab-
zug der Goten erfuhr, argwöhnte er zuerst eine Kriegslist der
Feinde und hielt sich noch längere Zeit vorsichtig im Lager.
28. Attilas letzte Thaten und sein Tod. 201
Aber es blieb alles still, und alsbald erhob sich sein kühnes
Herz zu neuen Siegeshoffnungen, und das Vertrauen auf sein
altes Glück kehrte ihm wieder. Fast ungestört zog er sich mit
den immer noch ansehnlichen Trümmern seiner Heerscharen
zurück, während sein rastloser Geist auf eine Erneuerung des
Kampfes im nächsten Jahre sann.
26. MLilas letzte Ttzaten und fein Tod.
Eine ungeheure Gefahr für die ganze europäische Christen-
welt war durch die Umsicht des Aetius und den Heldenmut
der Westgoten abgewendet worden. Aber es war nicht klug
gewesen, den immer noch gewaltigen Herrscher der Hunnen
entkommen zu lassen. Er war geschwächt, aber nicht vernichtet.
Und nun brannte er vor Begierde, die Scharte auszuwetzen,
die dem „Schwerte des Kriegsgottes" geschlagen worden war.
Als er daher mit den Trümmern seiner Heeresmassen wieder
in seine Residenz zwischen Donau und Theiß zurückgekehrt
war, begann er sogleich das Werk der Vergeltung vorzubereiten,
und es verging kein Jahr, da stand der Gewaltige schon
wieder drohend an der Grenze des weströmischen Reiches.
Diesmal brach er in Italien ein, und so plötzlich war er er-
schienen, daß Aetius keine Zeit mehr hatte, zum zweitenmale
Rettung zu bringen, denn er weilte fern in Gallien. Nachdem
Attila die blühende Stadt Aquilesa im Norden des adriati-
schen Meeres dem Erdboden gleich gemacht hatte, zog er durch
die Fluren Venetiens. Die Einwohner flüchteten sich größten-
teils auf die kleinen, schwer zugänglichen Inseln der Lagunen
an der sumpfigen Küste, wo aus armseligen Fischerhütten all-
mählich eine Stadt entstand, das später so berühmte Venedig.
Ganz Oberitalien lag in kurzer Frist verwüstet und besiegt
zu Attilas Füßen. Jetzt beschloß er, gegen Rom zu ziehen.
Doch machte ihn eine üble Weissagung bedenklich, die prophe-
zeite, wer sich an Rom vergreife, der sei dem Tode verfallen,
wie das Schicksal Alarichs deutlich beweise. Da nahte dem
Hunnenkönig eine ehrfurchtgebietende Gesandtschaft; an ihre
Spitze trat der Bischof von Rom, Leo der Erste, nachmals der
202 28. Attilas letzte Thaten und sein Tod.
Große zubenannt, vor den gewaltigsten Herrscher der Erde.
Er hatte ihm nichts entgegenzusetzen, als die Hoheit seines
Wesens und die unwiderstehliche Kraft seiner Rede. Aber Gott
wirkte Großes in einem schwachen Greise. Der Erfolg war
wunderbar: Attila bewilligte sogleich den erbetenen Frieden
und ging über die Alpen in seine Heimat zurück. Freilich
wäre es auch einem Leo schwerlich gelungen, ihn zur Umkehr
zu bewegen, wenn dem König nicht eine solche Bitte will-
kommen gewesen wäre, weil sie seiner ernsten Stimmung und
seiner Überlegung entgegen kam. Die Kriegsbeute konnte nur
jenseits der Alpen sicher geborgen werden, Attilas Scharen
waren durch Seuchen geschwächt, Aetius konnte unverhofft her-
beieilen, die Hunnen verlangten nach der Heimat. Mit Wider-
strebenden einen Kamps im Feindeslande zu wagen schien selbst
einem Attila bedenklich. So kam ihm denn im Grunde Leos
Bitte gelegen, und er kehrte heim. Aber Ruhe kannte der
Mann nicht, der dazu geboren war, die Welt zu erschüttern.
Sofort begann er neue Rüstungen. Diesmal sollte das öst-
liche Römerreich vor ihm zittern. Aber ein Größerer gebot
dem Unersättlichen Einhalt. Nur ein Jahr war seit dem
Zuge nach Italien vergangen, da schlug in der hölzernen
Königsstadt in Ungarn lauter Festjubel urplötzlich in Trauer
und Wehgeheul um. Der große Völkersürst hatte nach der
rohen asiatischen Sitte seinen zahlreichen Frauen eine neue
beigesellt. Es war ein germanisches Mädchen, nach alter
Überlieferung eine burgundische Fürstentochter. Ihr Name
war Hilde. Die rauschende Lust des Hochzeitsmahls ver-
stummte. In der Nacht ruhte der König, vom Weine schwer,
in tiefem Schlafe aus dem Lager. Er lag auf dem Rücken,
das heiße Haupt tief nach hinten übergebeugt. Da brach ein
Blutstrom hervor, der sich sonst bei ihm durch die Nase zu
ergießen pflegte. Diesmal aber staute er sich vor dem Schlunde,
und so fand der Trunkene durch Ersticken einen schmählichen
Tod. Als am nächsten Morgen der König nicht aus dem
Schlafgemach trat und eine Stunde nach der andern verging,
ohne daß er sich zeigte, da ahnten seine Hunnen das Unheil
und erbrachen die Thür. Und sie fanden den Entseelten,
28. Attilas letzte Thaten und sein Tod. 203
ohne Wunde, in seinem Blute, und neben ihm, in den
Schleier gehüllt, zitternd und weinend, die junge Frau. Da
schnitten sie sich nach der Sitte des Volkes einen Teil ihres
Haupthaares ab und zerrissen ihre häßlichen Gesichter durch
klaffende Wunden, damit der große Kriegsheld nicht mit
weibischen Thränen, sondern mit Männerblut betrauert werde.
Unbeschreiblich war der Eindruck, den die Kunde vom
Tode des Gewaltigen allenthalben hervorrief. Die Volker
Europas atmeten auf, wie von einem schrecklichen Alp befreit.
Und so groß wie die Freude bei andern Nationen, so un-
ermeßlich war Trauer und Schmerz bei seinem eigenen Volk.
Aus einem freien Felde wurde der Leichnam unter einem
seidenen Zelte öffentlich ausgebahrt Auserlesene Reiter ritten
um dieses Zelt im Kreise herum und priesen in Trauergesängen
ihres großen Herrschers Thaten. Dann feierten sie au dem
offenen Grabhügel ein Totenmahl mit ungeheurem Trinkgelage.
Und als es tiefe Nacht ward, da übergaben sie im Stillen
den Leichnam der Erde. Zuerst legten sie ihn in einen
goldnen Sarg, diesen in einen silbernen und diesen wiederum
in einen eisernen. In das Grab warfen sie außerdem er-
beutete Waffen, kostbaren Pferdeschmuck und inancherlei prächtige
Zierde der Männer. Und damit nicht menschliche Habsucht
die Schätze berühre, töteten sie alle Sklaven, die bei der
Aushöhlung und Zuschüttung des Grabes geholfen hatten.
Die riesige Gestalt des Hunnenkönigs stand den Völkern
noch lange vor der Seele. Bei Galliern, Römern, Griechen
und Slaven wurde Seltsames von ihm erzählt. Aber auch
die Germanen vergaßen ihn nicht. Noch in der Sage des
Mittelalters steht er ehrfurchtgebietend da. Etzel heißt er in
den deutschen Liedern. Von seinem Tode behauptete man
bald, die junge Frau habe den Gatten aus Rache ermordet.
Sie sei nämlich eine Schwester jener Burgundenkönige, die
durch ein hunnisches Heer oder, wie man jetzt dichtete, durch
Attila selbst mit ihrem Volke den Untergang gefunden hatte.
Um Vergeltung zu üben für die Schmach ihrer Brüder, habe
Hilde oder Kriemhilde, wie das Volk sie nannte, dem Hunnen-
könig den Dolch in die Kehle gestoßen. In unserem Nibelungen-
204 29. Ende des weströmischen Reiches; Odowaker.
liede freilich rächt Kriemhilde nicht mehr ihre Brüder an Etzel,
sondern ihren ersten Gemahl Siegfried an dessen Mördern,
ihren Brüdern und Hagen. Aber im skandinavischen Norden
erzählte man noch in später Zeit, wie Atli d. h. Attila dem
tödlichen Stahl erliegt, den seine Gattin ihm in die Brust
senkt, um Rache zu nehmen für ihre schändlich ermordeten
Brüder. So beschäftigte der wunderbare Mann die Gemüter der
Menschen noch, als er und sein Reich längst dahingesunken waren.
Die glänzende Herrschaft, die Attila aufgerichtet hatte,
brach kurz nach seinem Tode zusammen. Die Germanen,
welche sich der hunnischen Oberhoheit gebeugt hatten, warfen
das Joch ab. Zuerst erhoben sich die Gepiden, als die
Söhne Attilas über das Schicksal der einzelnen Völker, wie
Herren über Knechte, entscheiden zu können glaubten, und die
übrigen deutschen Stämme folgten ihrem Beispiele. In einer
blutigen Schlacht am Flusse Nedao in Ungarn stürzte die
hunnische Weltherrlichkeit in Trümmer zusammen. Ellak,
Attilas ältester Sohn, fand einen rühmlichen Reitertod; mit
ihm fielen 30000 hunnische Streiter. Die Reste des einst
so gefürchteten Volkes zogen sich teils nach dem Schwarzen und
kaspischen Meere zurück, teils flüchteten sie sich — unter Attilas
jüngstem und geliebtestem Sohne Ernak — aus oströmisches
Gebiet, wo sie als Söldner in die kaiserlichen Heere bereit-
willig ausgenommen wurden. Bald verschwindet der Name
der Hunnen gänzlich aus der Geschichte.
29. Ende des weströmischen Reiches;
Odowaker.
Europa war von einer Gefahr befreit, vor der es achtzig
Jahre hindurch gebebt hatte. Aber das weströmische Reich ging
unaufhaltsam seinem Untergange entgegen. Noch zwei Jahr-
zehnte, und es bestand nicht mehr. Es schien, als ob es in
wahnsinniger Verblendung sich selbst seiner letzten Stütze be-
rauben müßte. Stilicho war der verächtlichen Schwäche seines
Kaisers und dem Neide der Hofschranzen zum Opfer gefallen;
Aetius teilte sein Schicksal. In demselben Jahre, in welchem
29. Ende des weströmischen Reiches; Odowaker. 205
Attila starb, endete der hochverdiente Mann durch den Dolch,
den ihm der schändliche Valentinian selbst in das Herz stieß.
Das war der Dank, den der Kaiser Westroms dem Retter
der gebildeten Welt zahlte. Roms letzter großer Mann war
dahin gesunken, und nun verendete Rom selbst in einem
zweiundzwanzigjährigen Todeskamps, so kläglich und rühmlos,
wie es verdiente. Den kaiserlichen Mörder erreichte das
rächende Schicksal bald. Ein ehrgeiziger Mann Namens
Maxi mus, der den Kaiser hauptsächlich zur Ermordung des
Aetius verlockt hatte, stiftete zwei deutsche Gefolgsmannen des
letzteren an, daß sie den Mörder auf offener Straße nieder-
hieben 455). Durch Bestechungen verschaffte sich nun
Maximus die Krone. Aber schon nach einem Vierteljahre
ereilte auch ihn die Vergeltung. Valentinians Witwe Eudocia
war von Maximus gezwungen worden, ihm, dem Mörder
ihres Gatten, die Hand zur Ehe zu reichen. Da rief sie,
um sich zu rächen, den mächtigen Wandaleukönig Geiserich,
einen kühnen und listigen Helden, der 429 sein Volk aus
Spanien nach Afrika geführt und hier ein blühendes Reich
gegründet hatte, zur Hülfe herbei.
Nichts hätte dem beutelustigen Könige willkommener sein
können. Sofort rüstete er eine Kriegsflotte und nahm gleich
eine große Anzahl Lastschiffe mit, um die Beute bequem
unterbringen zu können. Maximus dachte an keine Gegen-
wehr. Der Feigling suchte bei der Schreckenskunde vom
Herannahen der Wandalenflotte zu entfliehen, wurde aber
von dem wütenden Pöbel zu Tode gesteinigt. Inzwischen
landete der furchtbare Geiserich an der Tibermündung und zog
geradeswegs auf Rom los. Kein Römer dachte an Wider-
stand. Ohne einen Schwertstreich fiel im Juni 455 die
Weltstadt mit all ihren Reichtümern und Kunstschätzen in die
Hände der Wandalen. Diese plünderten die Stadt in andrer,
gründlicherer Weise, als wie vor fünfundzwanzig Jahren der
edle Alarich seinen Westgoten gestattet hatte. Vierzehn Tage
lang hausten Geiserichs Scharen ungehindert. Zerstört aber
wurde Rom nicht; nur einzelne Häuser wurden durch Brand
geschädigt. Die Kirchen blieben sogar von der Plünderung
206 29. Ende des weströmischen Reiches; Odowaker.
verschont. Auch die Wandalen waren ja Christen. Freilich
führten sie unermeßliche Beute von dannen, unter anderm
eine Menge Bildsäulen, herrliche Werke der alten Kunst, auch
mehrere Tausende von Gefangenen wurden sortgeschleppt,
darunter die Kaiserin Eudocia mit ihren beiden Töchtern.
Die ganze Beute kam glücklich nach Karthago, der Hauptstadt
des Wandalenreichs, außer einem Schiffe, auf das man gerade
die schönsten Kunstdenkmäler geladen hatte. Dieses versank
— ein unersetzlicher Verlust! — bei einem Sturm ins Meer.
Als Beweis für den grenzenlosen Leichtsinn der Römer sei
erwähnt, daß die Bürger der eben geplünderten Stadt schon
nach wenigen Tagen sich in ausgelassenster Weise den beliebten
Cirkusspielen Hingaben, und daß der treffliche Papst Leo der
Erste acht Tage später voll heiligen Eifers gegen die Gott-
losen predigen mußte, die die Errettung aus Feindeshand nicht
der Gnade des allmächtigen Gottes, sondern den heimlich
wieder angerufenen Heidengöttern und dem Stand der Ge-
stirne zuschrieben.
Kurze Zeit nach dem Abzüge Geiserichs erlangte ein
Deutscher von vornehmer Abkunft, Namens Rikimer, die
höchste Gewalt in Rom. Er war ein kühner Mann und ein
trefflicher Feldherr, aber ehrgeizig und herrschsüchtig und im
höchsten Maße rücksichtslos. Sich selbst die Krone aufzusetzen,
dazu war er zu stolz. Er zog es vor, Männer, die ganz
von seinem Willen abhingen, mit dem Purpur zu bekleiden
und, wenn sie ihm nicht gehorchen wollten, wieder vom Throne
zu stoßen oder zu töten. Man nannte ihn den „Kaisermacher".
Dieser gewaltige Mann hat das weströmische Reich, das eigent-
lich nur noch aus Italien bestand, binnen sechzehn Jahren
fünfmal mit sogenannten Kaisern versorgt, während er tat-
sächlich die Herrschaft führte, bis er 472 starb. Und darnach
währte es nur noch vier Jahre, bis ein tapferer deutscher
Heerführer dem letzten Schattenkaiser die Krone vom Haupte
nahm und an Stelle des weströmischen Kaiserreichs ein deutsches
Königreich in Italien gründete. Dieser Mann war Odowaker.
Odowaker gehörte wahrscheinlich dem kleinen ostgermanischen
Stamme der Skiren an, der mit den Rügen von den Oder-
29. Ende des weströmischen Reiches; Odowaker. 207
Mündungen nach der Donau gewandert war, sich der Hunnen-
herrschaft unterworfen und nach dem Zusammenbruch des
Hunnenreiches sich an der Donau niedergelassen hatte. Mit
vielen andern Jünglingen des armen Völkchens verließ Odowaker
seine Heimat und zog nach Italien, um dort nach der Sitte
abenteuerlustiger Männer in das römische Heer einzutreten
und im Waffendienst des Kaisers Ruhm und Gold zu er-
werben. Arm und mit geringer Kleidung angethan, aber
voll Muts und frommen Sinnes unterließ er es nicht, mit
einigen Gefährten in der Zelle des heiligen Severin, des
verehrten Apostels des Landes Noricum, einzukehren und um
seinen Segen zu bitten. Der hochgewachsene Germane mußte
sich bücken, als er durch die Thür der Hütte trat. Der
Gottesmann aber erkannte in ihm etwas Ungewöhnliches und
sprach mit erleuchtetem Sinne: „Du willst nach Italien
ziehen? So ziehe nur hin! Jetzt bist du in schlechte Felle
gehüllt, bald aber wirst du vielen reiche Gaben spenden."
So prophezeite der Heilige dem Jüngling eine große Zukunft.
Einen bessern Reisesegen konnte er sich nicht wünschen.
Gutes Mutes zog er weiter und erhielt in Italien eine
Stelle unter den germanischen Hülfstruppen. Längere Zeit
trug er die kaiserlichen Waffen und wurde zuletzt unter die
Leibwächter des Kaisers ausgenommen, unter denen er eine
hohe Stellung bekleidete. Sein Äußeres empfahl ihn, und
sein heller Geist blieb nicht verborgen. Odowaker war von
hoher, ehrfurchtgebietender Gestalt; sein Antlitz, dessen Züge
uns einige Münzen erhalten haben, hatte edle, kräftige Formen
und war mit einem starken Schnurrbart geschmückt. Seine
Genossen liebten und verehrten ihn, so daß sie ihn bei einem
Aufstande im Jahre 476 zu ihrem Befehlshaber und Könige
wählten. Das geschah folgendermaßen. Germanen führten
damals ja fast allein die römischen Waffen und hatten daher
eine gewaltige Stellung im Reiche errungen. Sie hießen
„Bundesgenossen" und herrschten doch in der Thal über ihre
angeblichen Herren und Freunde. Nun hatte im Jahre 475
der römische Feldherr Orestes die Herrschaft über Italien
an sich gerissen und seinem noch ganz jungen Sohn Romulus
208 29. Ende des weströmischen Reiches; Odowaker.
die Krone aufgesetzt, welcher noch so unreif war, daß ihn das
Volk spottweise Augustulus, d. h. das Kaiserchen nannte. Schon
lange hatte ein sehnlicher Wunsch die Herzen der deutschen
Söldner bewegt, der Wunsch nämlich, einen eigenen Herd zu
besitzen. Ihre Frauen und Kinder wurden in den Garnisonen
der Männer oder in deren Nähe untergebracht; eigne Wohn-
stätten besaßen nur ganz wenige. Das bittere Gefühl er-
füllte nun alle: „Wir haben die Kraft und die Macht, und
den Rönrern gehört aller Grund und Boden!" Da traten
sie vor Orestes und forderten ein Drittel aller Ländereien
Italiens für sich. Und als er sich dessen weigerte, da erhoben
sie den Odowaker nach heimischer Sitte voll stolzer Sieges-
hoffnung auf den Königsschild. Sie waren nur eine große,
aus vielen germanischen Stämmen zusammengewürfelte bunte
Masse, aber die Einmütigkeit ihres Sinnes erfüllte sie mit
dem Gefühl, als ob sie ein Volk, eine Nation wären.
Die Scharen verweigerten dem Orestes den Gehorsam.
Dieser floh nach Pavia, Odowaker nahni die Stadt im
Sturme ein und konnte seinen Kriegern die Plünderung nicht
wehren. Es macht ihm Ehre, daß er später der schwer-
geprüften Stadt fünfjährige Steuerfreiheit bewilligte. Orestes
selbst siel in Odowakers Hände und wurde hingerichtet. Die
Truppen, die dem Kaiser noch treu geblieben waren, wurden
geschlagen. Nun gab Romulus seine Sache verloren und
öffnete dem Sieger die Thore von Ravenna. Er entkleidete
sich freiwillig des Purpurs und bat um Schonung. Bon
seiner Jugend und Schönheit gerührt, gewährte Odowaker
sie ihm und wies ihm ein schönes Landgut in der Nähe von
Neapel und ein anständiges Jahresgehalt an. So endete das
weströmische Kaisertum. Odowaker ging nun auf Rom los,
das ebenso wie das übrige Italien keinen Versuch der Gegen-
wehr machte. Eine demütige Gesandtschaft kam ihm in feier-
lichem Aufzuge entgegen. Die eitlen Römer waren vollkommen
zufrieden, als Odowaker ihnen versprach, sie sollten wieder jähr-
lich zwei Konsuln haben. Als er Italien völlig unterworfen hatte,
nahm er die Teilung des Landes vor, die er seinen Getreuen
gelobt hatte, ein schwieriges Geschäft, das die größte Be-
29. Ende des weströmischen Reiches; Odowaker. 209
sonnenheit erforderte. Er verfuhr mit anerkennenswerter
Gerechtigkeit und — den Italienern gegenüber — mit großer
Bescheidenheit. Die Germanen waren thalsächlich Herren des
Landes, sie hätten nach dem Beispiel der Westgoten und der
Franken recht wohl zwei Drittel aller Ländereien für sich nehmen
können. Allein sie hatten vorher von Orestes nur ein Drittel
verlangt, und sie begnügten sich auch jetzt mit dieser Forderung.
Die Landteilung war für Italien ein wahrer Segen. Aus
den wenigen großen Gütern, die oft gerade durch ihre Größe
ganz wertlos waren, weil es keine Arbeitskräfte zu ihrer
Bewirtschaftung gab, wurden nun viel mehr kleinere, und es
regten sich jetzt Tausende von kräftigen deutschen Händen, die
das vernachlässigte Land bebauten.
Auch die Insel Sicilien unterwarf sich, soweit sie nicht
von den Wandalen besetzt war, dem Söldnerkönige, und seine
Herrschaft war so milde und gerecht, daß die Sicilianer bald
seine getreusten Unterthanen wurden. Von den übrigen außer-
italienischen Ländern hielt Odowaker nur die Provinzen zwischen
den Alpen und der mittleren Donau. Seine Residenz wurde
Ravenna, dessen Bürger ihn so schätzen lernten, daß sie
ihm noch spät ein treues Gedächtnis bewahrt haben. Aber
auch das übrige Italien wußte seine gütige und weise Re-
gierung zu würdigen. Obgleich er Arianer war, rühmten die
katholischen Geistlichen, daß er ihnen und der Kirche mehr
Achtung und Güte erwiese als die früheren katholischen Herrscher.
Von seiner strengen Gerechtigkeit wußte man rühmliche Bei-
spiele zu erzählen.
Von den Kriegen, die Odowaker führen mußte, ist der
wichtigste der gegen die Rügen. Diese raublustigen Germanen
bedrohten längst die Nordgrenze von Noricum von Passau bis
Wien. Sie setzten zahllose Male über die Donau, plünderten
und sengten und konnten nur dadurch teilweise unschädlich
gemacht werden, daß die unglücklichen Bewohner der Provinz
einzelne rugische Heerscharen als Besatzungen ihrer Städte
mieteten. Den Krieg mit ihnen aufzunehmen, fühlte man
sich viel zu schwach. Der heilige Severin allein, ein ein-
facher Mönch, vermochte die wilden Gesellen bisweilen zur
Klee, Die alten Deutschen.
210 29. Ende des weströmischen Reiches; Odowaker.
Milde zu bewegen und erleichterte dadurch das harte Los der
Uferbewohner, die von Rom her keine Hülfe erwarten konnten.
Als nun vollends im Jahre 482 der Tod den trefflichen
Mann hinwegraffte und die einzige Hand, die noch die Wunden
des beklagenswerten Landes zu heilen bemüht war, verschwand,
da wurden die Räubereien der Rügen frecher als je, so daß
sie selbst die geringen Habseligkeiten, die der Heilige hinter-
lassen hatte, nicht verschonten. Odowaker, von dem man
allein Rettung erhoffen konnte, scheute sich vor einem Kriege
gegen die stammverwandten Räuber, deren Königsfamilie noch
dazu mit der der mächtigen Ostgoten verwandt war. Erst als
der oströmische Kaiser, der arglistige Zeno, selbst die Rügen
zu einem großen, allgemeinen Einsall in Noricum aufwiegelte,
griff Odowaker notgedrungen zum Schwert. Der Rugen-
könig Feletheus war ein gutmütiger Mann und hörte
anfangs öfter auf den Rat des heiligen Severin. Von ihm
hätte das Land vielleicht nichts Schlimmes zu erdulden gehabt,
wäre nicht seine Gemahlin Giso ein hartes wildes Weib
gewesen. Sie war es, die ihren wohlwollenden Gatten zu
kriegerischen Thaten anreizte und den Einfluß Severins bei
ihm untergrub. Diesem Könige trat Odowaker im Jahre
487 entgegen. Das Heer setzte über die Donau und suchte
die Rügen in ihrem eigenen Lande aus. Feletheus wurde
besiegt und nebst seiner Gemahlin gefangen genommen. Das
Gebiet der Räuber wurde nun seinerseits geplündert und
verheert. Viele Rügen fielen dem Sieger in die Hände; der
junge Königssohn Friedrich mußte aus der Heimat fliehen
und begab sich in den Schutz seines Verwandten, des Ostgoten-
königs Theoderich. Co war Noricum wieder in Odowakers
Besitz. Der Sieger zog mit den Gefangenen in Ravenna
ein und ließ hier das Königspaar hinrichten, ein unkluger
Schritt, da er dadurch Theoderich einen Vorwand gab, für
seinen getöteten Verwandten Genugthuung zu fordern. In
der That schickte dieser mehrere Gesandtschaften in dieser An-
gelegenheit nach Ravenna, aber vergebens. So zog sich schon
jetzt eine dunkle Wolke zusammen, die sich binnen wenigen
Jahren über dem Haupt des Söldnerkönigs entladen sollte.
30. Theoderich der Große als Kriegsheld. 211
Als im folgenden Jahre der entflohene Rugenprinz
noch einen Aufstand ins Werk setzte, sandte Odowaker seinen
Bruder Onowulf mit einem starken Heere nach Noricum.
Dieser brachte den Feinden eine so schwere Niederlage bei,
daß sie fast gänzlich vernichtet wurden und Friedrich mit
den Trümmern seines Volkes zu Theoderich floh. Trotz diesem
glänzenden Siege gab Odowaker jetzt die nördliche Hälfte von
Noricum auf, da er es für unmöglich hielt, die Bewohner
aus die Dauer zu schützen. Deshalb lud er alle Römer in
dem Lande ein, nach Italien überzusiedeln, wo so viele Ge-
genden unbebaut und schwach bevölkert waren. Fast alle
folgten der Aufforderung, und so gewann Odowaker dem
Kernlande seiner Macht wieder viele fleißige Arme. Mit
den Auswanderern schwand freilich aus der einst so wohl-
angebauten Provinz mit ihren stattlichen Römerstädten zugleich
die römische Bildung und das Christentum. In das ver-
lassene Land drangen von Norden her die Bajuwaren, die
Nachkommen der Markomannen, ein; das Gebiet der Rügen
nördlich der Donau besetzten die Langobarden. Beide Kriege
waren für Odowaker rühmlich verlaufen, und doch hätte er
sie lieber bleiben lassen und seine Kraft im Bunde mit dem
Ostgoten Theoderich gegen den Kaiser Zeno in Konstantinopel
richten sollen. Dieser sann schon lange darauf, den Empor-
kömmling Odowaker, dessen Machtstellung in Italien ihn tief
verdroß, zu verderben. Denn nach dem Untergange des west-
römischen Reiches betrachteten sich die oströmischen Kaiser als
die Erben, an die das ganze ehemalige Reich fallen müsse.
Zum unbewußten Werkzeug seiner Pläne hatte der Hinter-
listige eben jenen Ostgotenkönig ausersehen, gegen den dann
auch endlich der tapfere Held im Kampfe unterlag.
30. Theoderich der Grohe als Rrregshrld.
Nach dem Tode Attilas hatte auch das einst so gewaltige
Volk der Ostgoten das verhaßte Hunnenjoch abgeschüttelt. Der
oströmische Kaiser überließ den drei Amalersürsten Wala mir,
Theodemir und Widemir, die in schöner Eintracht das
Volk regierten, die ohnehin nicht zu behauptende Provinz Pan-
14*
212 30. Theoderich der Große als Kriegsheld.
nonien, das Land zwischen Donau und Save. Den Königs-
titel führte Walamir allein. Dieser wurde einst von den-
jenigen Hunnen, die von Ostrom Wohnsitze rechts der untern
Donau erhalten hatten, unerwartet angegriffen. Walaniir
konnte nicht einmal seine Brüder um Hülfe beschicken. Mit
einer kleinen Schar stellte er sich zur Schlacht und schlug
(454) nach heißem Ringen die Hunnen so gewaltig aufs
Haupt, daß nur ein geringer Rest von ihnen übrig blieb,
der sich über die Donau zurückzog. Die frohe Nachricht
von seinem Siege sandte Walamir durch einen Boten an
seinen Bruder Theodemir. Als der Bote aber in Theo-
demirs Burg kam, fand er sie schon von Freude erfüllt; denn
an demselben Tage hatte die schöne Erelieva dem Fürsten
ein Söhnlein geboren, an das sich große Hoffnungen knüpften.
Der Vater nannte es Theoderich, und dieser Theoderich
hat später seinen und seines Volkes Namen vor aller Welt
berühmt gemacht.
Als er sieben Jahre alt geworden war, bat sich der
Kaiser Leo in Konstantinopel ihn als Geisel und Bürgschaft da-
für aus, daß die Oftgoten einen Vertrag, den sie mit Ostrom
geschlossen hatten, halten würden. Ungern und nur um des
Friedens willen ließ der Vater sein liebes Kind aus der Heimat
nach der üppigen Kaiserstadt ziehen; doch er that es, und so
kam Theoderich nach Konstantinopel. Er war ein feiner Knabe
und gewann durch seine herrlichen Geistesgaben wie durch sein
anmutiges Wesen bald die Zuneigung des Kaisers. Für
Theoderich und für sein ganzes Volk wurden diese Erziehungs-
jahre — er blieb zehn Jahre in Konstantinopel — sehr
bedeutsam. Denn während die Seele des Knaben rein blieb
und sein Körper allen Versuchungen und Verführungen stand
hielt, nahm sein lebhafter Geist die griechisch-römische Bildung
in sich auf. Auf wunderbare Weise vereinigte sich in diesem
Jüngling germanische Kraft und Tüchtigkeit mit dem Ver-
ständnis alles Schönen und Edlen, was das Altertum her-
vorgebracht hatte. Er sog in sich eine innige Begeisterung für
die Herrlichkeit der klassischen Kunst und Wissenschaft, er lernte
alle Staatskünste des oströmischen Hofes kennen und wurde,
30. Theoderich der Große als Kriegsyeld. 213
obwohl er es verschmähte, schreiben zu lernen, seiner gebildet
als irgend ein andrer Germane jener Zeit. Aber seine
frische, biedre Natur wurde nicht angesteckt von der Verderbnis
der sogenannten gebildeten Welt; gerade die nichtswürdige
Schamlosigkeit und Frechheit, mit der in Konstantinopel diese
Verderbnis zu Tage trat, mag diesen durch und durch
deutschen Knaben angeekelt und vor Ansteckung bewahrt haben.
Zehn Jahre lang hatten die Goten den Frieden mit
Ostrom treu gehalten; zum Dank dafür sandte jetzt (472)
Kaiser Leo den nun achtzehnjährigen Theoderich mit reichen
Geschenken aus Konstantinopel wieder in die Heimat. Theo-
demir, welcher nach dem Tode Walamirs die Königsherrschaft
übernommen hatte, kehrte soeben von einem siegreichen Feld-
zuge zurück, als er mit inniger Freude seinen Sohn empfing.
Dieser lenkte die Geschicke des Gotenvolkes alsbald in neue
Bahnen des Ruhmes. Gleich nach seiner Rückkehr sammelte
er 6000 tapfere Streiter um sich und überfiel einen über-
mütigen Nachbar, den Slavenkönig Babai. Er schlug ihn
und tötete ihn in der Schlacht, bemächtigte sich des Königs-
schatzes und kehrte sieggekrönt zurück. Darauf entriß er den
Slaven die Stadt Belgrad (damals Singidunum genannt)
und verleibte sie dem Reiche seines Vaters ein. Trotz dieser
und andrer Siege war doch der Ertrag Pannoniens selber zu
gering und die unterworfenen Grenznachbarn zu arm, um das
zahlreiche Volk zu ernähren. In trägem Frieden aber als
brave Bauern den Acker zu bestellen, das wäre den sieges-
stolzen Helden hart angekommen. Deshalb zogen sie eines
Tages in hellen Haufen vor Theodemirs Burg und baten
ihn mit lautem Geschrei, er möge sie irgendwohin in den
Kampf führen. Da rief der weise König seinen Bruder
Widemir herbei, und nachdem sie sich beraten und des Volkes
Klage berechtigt gefunden hatten. beschlossen sie das Los
darüber zu werfen, wer von ihnen mit seinem Teil des
Volkes aus der Heimat ziehen und sein Gebiet den Zurück-
bleibenden überlassen sollte. Und das Los entschied, daß
Widemir mit den Seinigen die heimischen Gefilde verließe.
Er zog nach Italien. Der damalige Kaiser aber, erschrocken
214 30. Theoderich der Große als Kriegsheld.
über solche Gäste, bewog sie durch reiche Geschenke, sich lieber
nach Gallien zu wenden, wo ihre Stammesvettern, die West-
goten, sie freudig willkommen heißen würden. Widemir ging
daraus ein und zog mit seinem Stamm zu den Westgoten,
indem er die Oberhoheit des Königs Eurich anerkannte.
Nachdem er mit diesem einen glänzenden Eroberungszug nach
Spanien unternommen hatte, kehrte er später wieder zurück
und vereinigte die Seinigen mit den übrigen Ostgoten, die
inzwischen ihre alte Heimat in Pannonien verlassen hatten.
Diese hatten nämlich doch kein Genügen in dem armen Lande
gefunden und waren unter Theodemir im Jahre 474 über
die Save in die oströmische Provinz Mösien eingedrungen.
Bis nach Macedonien schweiften die verwegenen Helden. Erst
vor Saloniki ließen sie sich durch Bitten und Geschenke
bewegen, umzukehren und ruhig in Mösien zu leben. Bald
daraus — noch in demselben Jahre — starb Theodemir an
einer Krankheit, nachdem er vor allem Volke seinen Sohn
Theoderich als Erben bezeichnet und zum König empfohlen
hatte. Die Sage hat sein edles Bild in der Gestalt des
weisen, mächtigen und milden Dietmar verewigt.
Nach des Vaters und ihrem eigenen Wunsche erhoben die
Ostgoten den herrlichen Heldenjüngling auf den Schild. Der
erst Einundzwanzigjährige, in dem das edle Blut der Amaler
wallte, batte bereits Außerordentliches geleistet, aber das war
wenig im Vergleich mit dem, was er noch leisten sollte. Die
nächsten dreizehn Jahre verflossen in abenteuerlichen, wechsel-
vollen Kämpfen mit den Oströmern. Es war für den jungen
König eine schwere Lehrzeit, in der er sich die Meisterschaft
in allen Künsten des Feldherrn erwarb. Mehrmals sah er
sich durch Verrat an den Abgrund des Verderbens gedrängt,
aber immer wieder siegte seine unermüdliche Heldenkraft und
sein bewundernswerter Scharfsinn über die Werke der Arglist.
Endlich mußte sich der tückische Kaiser Zeno zu einem
demütigenden Frieden bequemen. Er ernannte Theoderich
zum Heermeister und Konsul, trat ihm neue Ländereien ab
und ließ sein ehernes Denkmal vor seinem Palast in Kon-
stantinopel aufstellen. Trotz dieser Höflichkeiten wollte er dem
30. Theoderich der Große als Kriegsheld.
215
Gotenkönige keineswegs wohl, und dieser sah sich sehr bald
nochmals genötigt, mit Heeresmacht vor die Kaiserstadt zu
rücken. Endlich gelang es dem Schlauen, den gefährlichen
Helden sich aus seiner Nähe zu schassen. Auch gegen Odo-
waker hatte Zeno stets schmeichlerische Worte gebraucht und
dabei doch unablässig darüber nachgedacht, wie er den „Bar-
baren", den „Tyrannen Italiens" verderben könnte. Jetzt
erkannte er in Theoderich das Werkzeug seiner Pläne. Des-
halb forderte er diesen auf, lieber nach Italien zu ziehen, um
Odowakers angemaßte Herrschaft zu stürzen und für sich das
herrliche Land zu gewinnen; das würde rühmlicher für
sein als sich in den Kampf mit dem rechtmäßigen Km,cr
einzulassen. Theoderich nahm den Vorschlag erfreut auf.
Tie Schwierigkeit des Unternehmens reizte. seinen Heldensinn.
Einen Mann wie Odowaker, den noch keiner hatte überwinden -
können, zu besiegen, dabei als Bluträcher für das verwandte.
Königshaus der Rügen auszutreten, das schönste Land der
Erde zu gewinnen, sein Volk dort anzusiedeln, wo die alten -
berühmten Kaiser geherrscht hatten, dort ein Reich zu gründen,
von wo aus einst das hohe Rom den Völkern geboten hatte,
die Goten so gleichsam zu Erben der Weltherrschaft zu machen,
das war ein Ziel, so hehr und glänzend, daß es einen hoch-
strebenden Geist locken mußte. Zeno aber erreichte durch den
Abzug der Goten viel, ohne Hand und Fuß zu rühren, und
noch dazu in jedem Falle, mochte nun Theoderich oder Odo-
waker Sieger bleiben. Einer von beiden mußte unterliegen,
und da beide gefährlich waren, so war es schon ein Vorteil,
wenn der eine den andern vernichtete. Auf jeden Fall wurde
er eines lästigen und mächtigen Nachbars entledigt. Und
selbst wenn Theoderich in Italien ein gotisches Reich er-
richtete, so nahm sich das doch besser aus; denn Odowaker
hatte eigenmächtig seine Herrschaft gegründet, Theoderich da-
gegen kam gewistermaßen im Namen des Kaisers; als kaiser-
licher Feldherr eroberte er dem Reiche eine verlorene Provinz
zurück; als kaiserlicher Statthalter mochte er sie dann ver-
walten. Der Kaiser rettete doch wenigstens den Schein der
Oberhoheit, und Theoderich war ihm noch dazu zu Dank
verpflichtet.
216 30. Theoderick der Große als Ariegsheld.
Als der Ostgotenkönig in großem Thing den folgen-
schweren Plan seinem Volke mitteilte und es um seinen Willen
befragte, da erscholl lauter Jubel. Und noch in demselben
Jahre (488) brachen die Ostgoten auf mit aller ihrer beweg-
lichen Habe, mit Weibern und Kindern, die sie auf zahllosen
Wagen mit sich führten, mit Knechten und Mägden, Rossen
und Rindern. Es mögen etwa 300000 Menschen gewesen
sein. Langsam und schwerfällig bewegte sich der Zug am
südlichen Donauufer aufwärts. Oft mußte man sich mit
dem Schwert den Weg durch räuberische Slavenhorden bahnen.
Auch die Gepiden beunruhigten die Wanderer; es kostete
schwere, blutige Arbeit sie zurückzuwerfen. Dann ging es
dem Lauf der Save entgegen. Der Winter, wo man rasten
mußte, brach herein, Hunger, Kälte und Mangel erzeugten
Krankheiten, die viele Jugendliche und Gebrechliche hinrafften.
Aus sicherem Hinterhalte brachen die Bergbewohner unauf-
hörlich hervor. Wahrlich, es war ein dornenvoller Weg,
der zum verlockenden Ziele führte. Fast ein Jahr lang
dauerte die Wanderung. Da endlich neigte sich der Gebirgs-
pfad abwärts und sie stiegen auf steilem Wege hinab zum
Flusse Jsonzo, der Italiens Grenze bezeichnete. Hier an der
Schwelle seines Hauses trat ihnen Odowaker entgegen. Es
war am 28. August des Jahres 489, als die Ostgoten in
unwiderstehlichem Ansturm die unbesiegten Scharen des tapsern
Söldnerkönigs in die Flucht schlugen und sich den Eintritt in
Italien erzwangen. Bis nach Verona zog sich Odowaker
zurück. Vor dieser Stadt, welche die Deutschen später Bern
nannten, wurde am 30. September eine zweite, noch viel
blutigere Schlacht geschlagen. Hoch zu Roß kämpfte Theoderich
im königlichen Waffenschmuck in den vordersten Reihen der
Seinigen und errang den Sieg. Und von diesem Siege und
weil er später gern in Verona weilte, führt er in der Sage
den Namen Dietrich von Bern. Nach furchtbaren Ver-
lusten stoh der Söldnerköuig nach Rom; aber treulos ver-
schloß die Stadt, der er so manche Wohlthat erzeigt hatte,
dem vom Glück verlassenen Herrscher die Thore. Noch nie
seit einem Jahrhundert hatte sich die italienische Bevölkerung
30. Theoderich der Große als Kriegßheld. 217
so wohl gefühlt wie unter Odowakers milder, friedlicher
Regierung. Aber er erntete keinen Dank; fast überall fiel
das Volk von ihm ab.
Nur die Bürgerschaft von Ravenna und seine Söldner
hielten ihm die Treue. Nach dieser Stadt eilte fetzt Odo-
waker und sammelte neue Kraft zum Kampfe. Am 11. Aug.
490 maßen die beiden großen Helden zum dritten Mal die
Waffen; zum dritten Mal errang Theoderich den Sieg. Vom
Schlachtfeld an der Ad da floh der Geschlagene abermals in
das feste Ravenna, das durch seine Sümpfe fast uneinnehmbar
war. Theoderich folgte ihm und schloß ihn ein. Die Be-
lagerung dauerte vom September 490 bis zum März des
Jahres 493, also ungefähr zwei und ein halbes Jahr. In
zahlreichen Ausfällen suchte der tapfere Odowaker die Be-
lagerungswerke der Goten zu durchbrechen; doch immer um-
sonst. Der großartigste dieser Ausfälle, der einer Schlacht
glich, geschah im Juli 491. Odowaker brach in der Nacht
aus den Thoren und bedrohte die beiden Hauptpunkte der
gotischen Stellung ernstlich. Die Goten wandten sich da, wo
Odowakers Scharen am ingrinimigsten eindrangen, bereits
zur Flucht, und Theoderich selbst wurde mit fortgerisfen. Da
trat ihm seine Mutter entgegen und sprach zürnend: „Du
willst fliehen?" Das Wort genügte, um den Sohn zur
Umkehr zu bewegen, und es gelang ihni, die anstürmenden
Feinde aufzuhalten und zurückzuschlagen. So furchtbar war
der Kampf, daß die Sage sein Andenken bewahrte und ver-
herrlichte. Denn dieser Ausfall ist das geschichtliche Ereignis,
aus dem das Volk die ergreifende Mär von der Rabenschlacht,
d. h. der Schlacht vor Ravenna, gedichtet hat. Anfangs siegte
Odowaker, an dessen Stelle die Sage seltsamerweise den alten
Goteukönig Ermanarich gesetzt hat, endlich aber wurde er zurück-
geschlagen. Völlig verloren war seine Sache, als es Theoderich
gelang, Ravenna auch von der See her einzuschließen. Odowaker
knüpfte Unterhandlungen an, und Theoderich zeigte sich zum
Frieden geneigt. Seine Goten waren des langen Liegens vor
der Stadt mitten zwischen ungesunden Sümpfen müde. Er
gestand also Odowaker nicht nur Sicherung seines Lebens zu,
218
31. Thevderich der Große als Friedensfürst.
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sondern bewilligte ihm auch, daß er in Ravenna ungekränkt,
ja unter gleichen Ehren wie Thevderich und gemeinschaftlich
mit ihm leben solle. Am 5. März 493 rückte der Sieger
in Ravenna ein. Nun aber fällt ein dunkler Schatten auf
des Ostgotenkönigs herrliches Bild. Mochte er Verrat des
überwundenen Gegners fürchten, oder hielt er es für seine
Pflicht, Blutrache zu üben für das von Odowaker getötete
rugische Königspaar — wir wissen es nicht. Beides berechtigte
ihn nicht, einen Mord an dem Mann zu begehen, dem er
soeben erst die Hand zum Frieden gereicht hatte. Noch war der
zehnte Tag seit dem Einzug der Goten nicht verflossen, als
Odowaker ohne Arg in Theoderichs Palast trat, wo er wie
ein Freund und Bruder aus- und einging. Da stürzten
Bewaffnete mit gezückten Schwertern in die Halle. Doch
stutzten sie, keiner wagte den ersten Streich auf den alten
Helden zu führen. Aber nun trat Thevderich selbst herein
und stieß ihm das Schwert in die Brust. „Wo ist Gott?"
rief der Sterbende. Thevderich erwiderte: „Ich that dir,
wie du den Meinen thatest." Auch das treue Gefolge des
Söldnerkönigs erlag den Schwertern der Goten; die übrigen
Mannen unterwarfen sich dem Sieger.
Theuderich war sonst ein milder Mann, ein weiser und
gerechter Herrscher, ein wahrer Wohlthäter seiner Unterthanen.
Seine ganze lange Regierung ist alles Tadels bar und höchster
Bewunderung würdig. Aber diese finstere That haftet als ein
untilgbarer Makel seinem edlen, glorreichen Namen an. Kann
uns etwas mit dem großen Mann völlig versöhnen, so ist es
nächst seiner bewunderswerten, segensreichen Herrscherlaufbahn
die tiefe Reue, die er, wie wir aus einer alten Erzählung
schließen dürfen, dreiunddreißig Jahre hindurch empfunden
und die ihm noch die letzten Lebenstage verdüstert hat.
31. Theuderich der Große als Friedrnsfürst.
Thevderich hat nicht wie andre Eroberer in unersättlicher
Ehrbegier und Ländcrsucht die Welt mit dem Schrecken seines
Namens erfüllt. Als er das Ziel erreicht, das er sich ge-
31. Theoderich der Große als Friedensfürst. 219
steckt hatte, stieß der große Kriegsheld das Schwert in die
Scheide und war von nun an unermüdlich thätig, den Ländern,
die zu seinem Reiche gehörten, die Segnungen des Friedens
zu teil werden zu lassen. Sogar andre Völker als das seinige
erblickten in ihm einen Hort des Friedens, und selbst die
Römer, die ihm nie vergeben konnten, daß er „Barbar und
Ketzer", d. h. Gote und Arianer war, haben ihn gepriesen
als einen zweiten Trasan, als einen der besten Fürsten, der
jemals über Italien waltete. Der treffliche Geschichtschreiber
Prokop sagt: „In Wirklichkeit war das Verhältnis seiner
Unterthanen zu ihm ganz wie zu einem Kaiser. Seine
gewaltige Hand sorgte für Gerechtigkeit allerwegen und war
ein starker Schirm für Recht und Gesetz. Vor Einfällen
benachbarter Barbaren bewahrte er sein Land. Seine Weis-
heit und Tapferkeit waren gefürchtet und geehrt weit in die
Runde. Weder ließ er sich irgend ein Unrecht gegen seine
Unterthanen zu schulden kommen, noch einem andern derartiges
durchgehen. Nur den Teil der Ländereien, die Odowaker
seinen Söldnern zugewiesen hatte, überließ er seinen Goten.
So war Theoderich dem Namen nach zwar ein Gewalt-
herrscher. in Wirklichkeit aber ein echter Kaiser, nicht um
Haaresbreite geringer als irgend einer von denen, die sonst
diese Würde bekleidet haben. Und obgleich dies dem mensch-
lichen Charakter zu widersprechen scheint, so liebten und ver-
ehrten ihn doch thatsächlich Goten und Italiener ohne jeglichen
Unterschied, und als er nach einer Regierung von dreiund-
dreißig Jahren starb, wurde er — der Schrecken seiner
Feinde — von seinen Unterthanen aufs tiefste betrauert."
Wie noch lange nach des großen Königs Hinscheiden sein
Andenken selbst von den undankbaren Römern geehrt wurde
und wie man mit Sehnsucht an das goldene Zeitalter seiner
Friedensherrschaft zurückdachte, das bezeugt auch in schlichter
Weise ein ungenannter Chronikschreiber aus dem sechsten Jahr-
hundert. Seiner Darstellung, in die wir ein paar anderswo
überlieferte Anekdoten einschalten, sind folgende Sätze ent-
nommen. „Theoderich war ein tapferer Mann, im Kriege
wohl erfahren. Aber er war auch sonst ein vortrefflicher
220 31. Theoderich der Große als Friedensfürst.
Herrscher und von leutseliger Gesinnung gegen jedermann.
Zu seiner Zeit genoß Italien die Segnungen des Friedens.
Keine Unternehmung mißlang ihm. Die Goten nannten ihn
den größten König, den sie je gehabt hätten. Doch in gleicher
Weise herrschte er über die Römer wie über die Goten, und
war den besten Kaisern so ähnlich, daß ihn selbst die Römer
einen zweiten Trajan oder Valentinian nannten. Er verteilte
freigebig Geld- und Getreidespenden und füllte durch seine
tüchtige Verwaltung den Staatsschatz, den er völlig leer vor-
gefunden hatte; und während er selbst sich zur arianischen
Sekte bekannte, ließ er doch den Römern, wie zu den Zeiten
der Kaiser, ihre Gesetze und unternahm nichts gegen den
katholischen Glauben. Wie unbefangen er in Sachen der
Religion urteilte, beweist folgendes. Es war ein angesehener
Mann an seinem Hofe und auch bei dem Könige sehr beliebt.
Er war ein Katholik, und da Theoderich Arianer war, so
meinte dieser Römer, es müsse dem Könige Wohlgefallen,
wenn er zur arianischen Lehre übertrete. So geschah dies
denn. Aber als der König es erfuhr, ward er unwillig und
sprach: „Wenn dieser Mann seinem Gotte nicht treu bleibt,
wie wird er dann einem Menschen wie mir getreu sein?"
Darauf entließ er ihn von seinem Hofe. Nach einem kirch-
lichen Streit unter den Römern kam einst der König nach
Rom, wo er dem heiligen Petrus so große Ehrfurcht bezeugte,
als ob er Katholik wäre. Der Bischof, der Senat, das
ganze Volk zog ihm unter vielen Freudenbezeugungen vor die
Stadt entgegen. Er betrat hierauf die Stadt, ging in den
Senat und hielt eine Rede an das Volk, in der er versprach,
mit Gottes Hülfe alles das unversehrt beizubehalten, was
vor ihm die Herrscher über Rom angeordnet hätten. Die
Worte dieses feierlichen Versprechens ließ er auf Bitten des
Volks in Erz graben und öffentlich aufstellen. Sechs Monate
blieb er in Rom, dann kehrte er nach Ravenna zurück.
Obgleich Theoderich nicht einmal schreiben konnte, so war
doch seine Weisheit so groß, daß heute noch im Volke gar
manche Worte seines Mundes sprichwörtlich gebraucht werden.
So sagte er: „Wo Gold oder ein böser Geist wohnt, das
31. Theoderich der Große als Friedensfürst. 221
läßt sich nicht verbergen." Ebenso: „Wer ein schlechter
Römer ist, der will gern Gote sein, und ein schlechter Gote
gern Römer." Einst starb ein Mann, der hinterließ seine
Gattin mit einem Säugling. Das Knäblein wurde geraubt
und wuchs in einem andern Lande auf. Als der Sohn nun
herangewachsen war, kam er wieder in den Ort, wo seine
Mutter lebte, die sich eben mit einem andern Manne verlobt
hatte. Kaum sah sie ihn, da pries sie Gott, daß er ihr den
Sohn wieder geschenkt hätte, und lebte mit ihm fröhlich dreißig
Tage. Da kehrte der Bräutigam heim und fragte, wer der
Jüngling wäre. Sie sprach: „Das ist mein Sohn." Kaum
hatte er dies gehört, da forderte er den Mahlschatz zurück,
den er dem Vater der Braut gezahlt hatte, und sprach:
„Entweder sagst du, daß dieser nicht dein Sohn ist, oder ich
verlasse dich." Da begann das Weib in seiner Bedängnis
den Sohn zu verleugnen und sagte: „Jüngling, verlasse
mein Haus! Du bist ein Fremdling, dem ich Gastfreundschaft
gewährte, weil ich dich für meinen Sohn hielt." Und dabei
beharrte sie. Da führte der Jüngling Klage beim Könige.
Der befahl sie vor sich zu führen und fragte sie: „Ist dies
dein Sohn oder nicht?" Sie antwortete: „Nein, es ist ein
Fremdling." Darauf berichtete der Sohn in der Halle des
Königs die ganze Wahrheit, und dieser sprach nochmals zu
dem Weibe: „Ist dies dein Sohn oder nicht?" Sie ant-
wortete: „Es ist ein Fremdling, dem ich Gastfreundschaft
gewährte, da ich ihn für meinen Sohn hielt." Da fragte
der König: „Und wie hoch beläuft sich dein Vermögen,
Frau?" Sie sagte: „An tausend Goldstücke." Da that
der König einen Eidschwur, wenn es so sei, wie sie sage,
dann solle der Jüngling selbst und kein andrer ihr Ehegemahl
werden. Bei diesen Worten wurde das Weib ganz bestürzt
und bekannte endlich, es sei ihr Sohn. Solcher Geschichten
erzählt man noch viele von der Weisheit des Königs.
Bei allen Völkern ringsum stand der König in hohem
Ansehen, so daß sie sich freiwillig unter seine Oberhoheit
begaben und ihn baten, über sie zu herrschen. Denn alle
fühlten sich unter seiner Herrschaft wohl. Brot und Wein
222 31. Theoderich der Große als Friedensfürst.
waren zu seiner Zeit wohlfeil; denn man zahlte für 60
Scheffel Weizen ein Goldstück und ebensoviel für 30 Krüge
Wein. Geschäftsleute aus allen Gegenden strömten zusammen.
Jeder ging feiner Beschäftigung nach, zu so später Stunde er
wollte, ganz wie am Tage. Denn so streng war die Rechts^
pflege des Königs, daß, wenn jemand auf seinem Landgute
Gold oder Silber liegen lassen wollte, es für ebenso sicher
gehalten wurde, als ob es innerhalb der Stadtmauern wäre.
Er führte in ganz Italien die Sitre ein. daß er keiner Stadt
Thore machen ließ, und da, wo sie schon waren, wurden sie
nicht geschlossen. Niemand brauchte sich vor Dieben oder
Räubern zu fürchten."
Soweit der alte Chronikschreiber. Auch in der Rechts-
pflege, wie überall, war der König bemüht, die beiden Völker,
die er beherrschte, einander zu nähern. Obenan stand ihm
der Grundsatz, daß jeder nach seinem angebornen, heimischen
Recht gerichtet werden müsse, der Römer nach römischem, der
Gote nach germanischem Recht. Für die zahlreichen Fälle
aber, in denen es gemeinsamer, für alle geltender Satzungen
bedurfte, gab Theoderich ein kurzes Gesetzbuch, dessen wich-
tigste Bestimmungen auf römischem Recht beruhten. Mit
aller Strenge untersagte er seinen Goten die Fehde, und sie
zeigten für die edlen Bestrebungen des Königs so viel Ver-
ständnis, daß er sagen konnte: „Der Ruhm der Goten ist
die Erhaltung des Rechtsfriedens." An alle seine Völker
wendete er sich in den herrlichen Worten: „Das Recht, nicht
der Arm entscheide jede Streitigkeit. Warum zur Gewalt
greifen, da ihr Gerichte habt?" Und er war der Mann
danach, den schönen Worten die That entsprechen zu lassen.
Seine Gerechtigkeit und Weisheit war ein Gegenstand der
aufrichtigsten Bewunderung seiner Völker. Mit unerbittlicher
Strenge wachte er darüber, daß jedem sein Recht rasch und
völlig zu teil werde. Das königliche Hofgericht war die
höchste Gerichtsbehörde. Folgender Vorgang zeigt uns den
König als strengen Schirmherrn der Gerechtigkeit. Eines
Tags kam eine Witwe zu ihm und flehte ihn um Schutz
an; seit dreißig Jahren führe sie beständig Klage gegen einen
31. Theoderich der Große als Friedensfürst. 223 /
hochgestellten Römer, und die Richter sprächen ihr kein Recht,
sondern verschleppten die Sache. Da ließ der König die
schlechten Richter vor sich kommen und fuhr sie an mit seiner
mächtigen Stimme: „Ich lasse euch den Kopf abschlagen,
wenn ihr nicht binnen zwei Tagen die Sache zu Ende bringt."
Die Richter erblaßten, versprachen, das Gebot des Königs zu
erfüllen, und thaten es auch. Aber als sie nach dem Richter-
spruch wieder vor den Herrscher traten, rief dieser: „Wie?
Also in zweien Tagen konntet ihr der Frau ihr Recht ver-
schaffen, und 30 Jahre habt ihr es verschleppt? Ihr habt
selbst bewiesen, daß ihr des Todes schuldig seid." Und er
ließ die Rechtsverderber enthaupten. So wie in diesem Falle
zeigte er sich stets beflissen, die Schwachen und Hülflosen gegen
mächtige Bedrücker zu schützen. Kein andrer Fürst hat viel-
leicht dieses schönste Vorrecht der Fürsten mit so verehrungs-
würdiger Strenge, Milde und Unermüdlichkeit geübt wie
Theoderich. Er war in der That ein Vater seiner Völker.
Diese väterliche Liebe bewährte er auch durch die be-
wundernswerte Ausdauer und Umsicht, mit der er Bildung
und Wohlstand seiner Länder zu heben suchte. Und dabei
entging seinem scharfen Blick auch das Kleinste und Einzelnste,
selbst die Marmorstücke nicht, die er bei seinen Reisen un-
benutzt auf dem Felde liegen sah. Der tief gesunkene Acker-
bau hob sich unter seiner Fürsorge überraschend schnell. Der
König ließ Sümpfe austrocknen, die zerfallenen Wasserleitungen
wiederherftellen. Durch Ausbesserung der Straßen, Schutz
der Märkte, Herabsetzung der Zölle und Hebung der Fluß-
schiffahrt sorgte er für den Handel. Auch der Wissenschaft
nahm er sich mit edlem Eifer an, indem er bei Besetzung
öffentlicher Ämter stets die gebildeteren Bewerber vorzog, den
Lehrern der öffentlichen Schulen ihr vielfach verkürztes Ge-
halt voll auszahlen ließ und die Vornehmen anhielt, ihre
Kinder zur Schule zu schicken. Die bedeutendsten Gelehrten
der Zeit zog er an seinen Hof und erwies ihnen alle erdenk-
lichen Ehren, so dem feinsinnigen Boëthius und dem vielseitig
thätigen Kassiodor. Jenem vertraute er gern allerlei ehrende
Aufträge an, diesen stellte er an die Spitze der ganzen Staats-
224 31. Theoderich der Große als Friedensfürst.
Verwaltung. Kassiodor hat auch eine Geschichte der Goten
geschrieben, von der uns leider nur ein dürftiger Auszug, das
kleine Werk des Jordanes, erhalten ist. Rührend zeigte sich
der hohe Sinn des germanischen Königs besonders darin, daß
er sich mit Begeisterung der Erhaltung und Wiederherstellung
der Werke antiker Kunst widmete. Gar viele dieser herrlichen
Denkmäler verdanken dem großen Theoderich ihre Errettung.
Dankbar priesen ihn seine Zeitgenossen als „den Freund der
Bauten und Wiederhersteller der Städte". In edlem Eiser
rief er aus: „Das Altertum lebe unter unserm Zepter wieder
auf! Die Wunderwerke der Alten sollen durch uns der Zer-
störung entrissen werden. Das sei unser Ruhm!" Raub
und Zerstörung von Kunstwerken wurden mit schweren Strafen
bedroht. Hobe Summen seines Privatschatzes verwendete er
für Wiederherstellung zerfallender Gebäude und für Errichtung
neuer großartiger Bauten. Der Senat errichtete ihm in Rom
zum Tank für seine Verdienste um Roms Bauten eine ver-
goldete Bildsäule. Aber auch in Ravenna, Pavia, Verona
und andern Städten schuf der König Paläste, Kirchen, Wasser-
leitungen und andre nützliche und schöne Bauwerke. Eines
der merkwürdigsten ist das noch bei Lebzeiten des Königs von
ihm bei Ravenna errichtete gewaltige Grabmal, in dem er
beigesetzt sein wollte; ein majestätischer Rundbau mit flacher
Kuppel, die aus einem einzigen riesigen Felsblock gearbeitet ist.
Auch in seiner Stellung zu andern Mächten erschien
Theoderich als Hort des Friedens, selbst wenn er zum
Schwerte greifen mußte. Mit Konstantinopel unterhielt er
ein gutes Einvernehmen und behandelte die oströmischen Kaiser
mit großer Höflichkeit, aber auch mit Entschiedenheit, wenn
sie sich Ungerechtigkeiten oder Übergriffe erlaubten. Am
schwierigsten war seine Stellung zu dem ländergierigen, listigen
Frankenkönig Klodwig, von dem unsre nächsten Kapitel er-
zählen sollen. Als dieser die Alemannen am linken Rheinuser
geschlagen hatte, und auch die rechts vom Rhein wohnenden
angriff, riefen die Bedrängten des Ostgotenkönigs mächtigen
Schutz an, und Theoderich streckte schirmend seine Vaterhände
über sie aus, so daß Klodwig sie nicht zu behelligen wagte.
31. Theoderich der Große als Friedensfürst. 225
Wahrhaft erhaben sind die Worte, die der große König
schrieb, als ein Krieg zwischen Klodwig und dem Westgoten-
herrscher Alarich dem Zweiten drohte. Er ricktete folgendes
Schreiben an den streitsüchtigen Franken: „Das versöhnliche
Herz der Könige erhält die ersehnte Ruhe der Völker auf-
recht. Darum wundere ich mich, daß dein Gemüt durch
geringfügige Ursachen so erregt ist, daß du mit meinem
Schwiegersohn Alarich einen schweren Krieg führen willst,
über den sich alle, die euch zu fürchten Ursache haben, nur
freuen werden. Ihr seid beide Könige großer Völker, beide
im blühenden Mannesalter, und nun wollt ihr eure Völker
gegeneinander führen zu blutigem Streit? Wahrlich, ich
muß es frei heraussagen, mein Herz ist zornig darüber, daß
ihr auf die erste Gesandtschaft, die ihr einander geschickt habt,
sogleich zu den Waffen greifen wollt. Kraft meines Rechtes
als Vater und Freund warne und bitte ich euch: steckt noch
jetzt das Schwert wieder in die Scheide!" Es gelang wirk-
lich seinen machtvollen Worten, für diesmal den drohenden
Streit zu ersticken. Aber nach einigen Jahren brach doch der
unersättliche Klodwig los. Alarich verlor Schlacht und Leben.
Den größten Teil der westgotischen Besitzungen in Gallien riß
Klodwig an sich; Alarichs Söhnchen, Theoderichs Enkel, sollte
auch für das übrige Reich des Thrones beraubt werden. Da
griff der friedfertige König zum Schwert, um den Enkel zu
schirmen und dem gefährlichen Nachbar halt zu gebieten. Er
entsandte seinen Feldherrn, den Grafen Jbba, der die ver-
bündeten Heere der Franken und Burgunden gänzlich schlug.
Der Friede kam rasch zustande. Theoderich verleibte das
Land zwischen Rhone, Durance und dem Meere seinem Reiche
ein, ordnete das tief erschütterte Westgotenreich und übernahm
die Schutzherrschaft darüber.
Groß war der Ruhm Theoderichs und sein Ansehen bei
allen, ganz besonders bei den germanischen Völkern. Ja selbst
die fernen Esthen an der Ostsee schickten durch Gesandte köst-
lichen Bernstein dem großen König zum Ehrengeschenk. Eine
solche Macht hatte noch kein germanischer Fürst vor ihm
besessen, und bis auf Karl den Großen hat sie auch keiner
Klre, Die alten Deutschen.
226 31. Theoderich der Große als Friedensfürst.
wiedergewonnen. Theoderichs Stellung glich in der That der
der alten römischen Kaiser, und er empfand dies mit freudigem
Stolze. Auf diese seine kaiserliche Würde und aus sein
kaiserliches Ansehen stützte sich auch die Schirmherrschaft, die
er über die kleineren germanischen Königreiche seines Zeitalters
ausübte. Durch Geschenke und Gesandtschaften suchte er die
Fürsten derselben an sich zu fesseln und sie durch Ver-
schwägerungen zu einer großen Familie mit ihm und unter-
einander zu verbinden. So vermählte er von seinen Töchtern
eine dem Westgotenkönige, eine andere dem Könige der Bur-
gunden, seine schöne geistvolle Schwester Amalafrida gab er
dem Wandalenkönig, seine Nichte Amalaberga dem Könige der
Thüringer zur Gattin. Leider wurde ihm kein Sohn geboren.
Seiner hochgesinnten und feingebildeten Tochter Amalaswintha
suchte er die Krone dadurch zu sichern, daß er sie einem
Angehörigen des Amalerhauses Eutharich vermählte.
So war denn Theoderich in allen Stücken das Muster eines
wohlwollenden, weisen, kraftvollen Herrschers; kein größerer und
besserer hat jemals über das Römerland Italien gewaltet als
dieser Germane. Und dennoch trübten auch seinen Lebensabend
schmerzliche Erfahrungen, wie sie so oft große Männer erleben
müssen, wenn sie sehen, wie das mühselige Werk ihres Schaffens
von feindlichen Mächten unterwühlt wird. Der geliebte Schwieger-
sohn, der tüchtige Eutharich starb in, frischesten Mannesalter,
und der greise König mußte den kühnen Bau seines weitläufigen
Reiches, das außer Italien und den umliegenden Inseln das
Alpengebiet, die Donauländer vom Rhein bis zur Save und
einen bedeutenden Teil Südgalliens, mittelbar auch das west-
gotische Spanien, umfaßte, den Händen eines Weibes und eines
Knaben, seines Enkels Athalarich, anvertrauen. Noch anderes
kam hinzu, was diesen hohen, freudigen Geist in Kümmernis
stürzte. Aber am schmerzlichsten traf ihn doch der Unvank seiner
Römer, die er seit dreißig Jahren mit allen erdenkliche» Wohl-
thaten überhäuft hatte. Hervorragende Männer traten in geheime
Verbindung mit dem oströmischen Kaiser Justinus, der als ein
fanatischer Katholik gegen die verhaßten Arianer alle Mittel für
erlaubt hielt. „Weg mit deni barbarischen Ketzer!" so hieß es,
31. Theoderich der Große als Friedensfürst. 227
„der rechtgläubische römische Kaiser ist unser rechtmäßiger
Herr!" Dies blieb dem Könige nicht verborgen, Nichts
verwundet ein edles Herz tiefer als Undank. Zornig fuhr
der greise Gotenkönig auf, und doch mäßigte er sich. Er,
dessen ganze Herrschaft auf Duldung gegründet war, konnte
es den Fanatikern nicht gleich thun. Aber ein Beispiel mußte
aufgestellt werden. Ein vornehmer Römer Namens Albinus
wurde hochverräterischer Umtriebe überführt. Als nun jener
Bo et hi ns, den der König vor vielen liebte und ehrte, mit
keckem Trotze öffentlich erklärte, wenn Albinus schuldig sei, so
sei er und der ganze Senat es auch, da ließ Theoderich den
abtrünnigen Liebling verhaften und vor seinen verfassungs-
mäßigen Gerichtshof, den Senat, stellen. Und dieser Senat,
nicht der König, verurteilte aus feiger Furcht vor dem Zorn
Theoderichs, sein eigenes Mitglied zum Tode. Aber der
„Tyrann" begnadigte den Boethius zur Verbannung. Erst
als die Auflehnung in Italien immer dreister ihr Haupt er-
hob, ließ er statt der Gnade strenge Gerechtigkeit walten und
das Todesurteil vollstrecken. Auch des Boethius Schwieger-
vater Symmachus, der laut über des Königs Härte schalt,
wurde hingerichtet; beider Güter fielen nach römischem Gesetz
dem Staatsschatz anheim. Durch diese Vorgänge wurden dem
edlen Könige die letzten Lebenstage verdüstert. Trauer und
Sorge umhüllte sein Haupt. Seinen größten Plan, die zwei
Nationen seines Reiches zu beiderseitigem Heile miteinander
zu verbinden, sah er scheitern; schnöde betrogen sah er sich
von denen, die ihm alles verdankten. Sein Reich inußte er
einem Weibe und einem Knaben hinterlassen. Dennoch hielt
er gelassen aus am Staatssteuer, bis ihn eine Krankheit kurz
nach des Boethius Hinrichtung aufs Siechbett warf, das ihm
zum Todesbett werden sollte. Reue über seine Strenge soll
den zartfühlenden Mann gequält haben. Am 26. August des
Jahres 526 schloß der große Völkerhirt sein Auge für immer.
Er, der das Schwert so meisterlich zu führen wußte, war ein
Friedensfürst gewesen, wie die Welt nur wenige gesehen hat.
Nur mit tiefster Bewunderung kann, wer sein Leben betrachtet
hat, von ihm scheiden. Wahrlich, er hat den Besten seiner
15*
228 31. Theoderich der Große als Friedensfürst.
Zeit genug gethan, und so hat er gelebt für alle Zeiten.
Sein Andenken kann in der Geschichte nie vergehen. Selbst
die verblendeten Römer sprachen noch in später Zeit von
seiner Regierung wie von einem goldenen Zeitalter. Die
ganze germanische Welt aber stellte das erhabene Bild des
großen Königs in ihrem Heldensaal aus dem ersten und
höchsten Platze auf. Und wie frei die Sage auch mit den
geschichtlichen Thalsachen und Verhältnissen geschaltet hat, so
spiegelt sie doch das Wesen Theoderichs in ihrem Dietrich
von Bern im ganzen treu und richtig wieder. Langsam im
Entschluß, ungern zum Schwerte greifend; aber stets sicher
in der Thal; der letzte zum Kampfe, aber vollführend, was
kein andrer vermag: so kennt ihn die Sage, und die Ge-
schichte widerspricht ihr nicht. Sein Andenken konnte nicht
sterben; ja auch ihn selbst vermochte man sich nicht gestorben
zu denken. So wie später das Volk dem großen Karl oder
dem Hohenstaufen Friedrich ein geheimnisvolles, zauberhaftes
Fortleben zuschrieb, so dem großen Theoderich. Wodans Roß
— das alte Heidentum war noch unvergessen — sollte ihn
abgeholt haben zum Heldensaale des himmlischen Königs, und
wenn den deutschen Völkern Gefahren drohten, dann hieß es
wohl, Dietrich von Bern habe sich gezeigt auf einem schwarzen
Rosse, um vor Unheil zu warnen. So treu hielt das Volk
im Gedächtnis, wie der König bei Lebzeiten um seine Völker
gesorgt hatte, daß es sich den längst Gestorbenen noch als
einen väterlich warnenden und ratenden Geist vorstellte.
Aus allem wird sich ergeben haben, daß die Völker, von
denen wir erzählen, keineswegs völlig roh waren. Auch
handelte nicht ein jedes mehr nur auf eigene Hand. Sie
wußten von einander und kannren ihre Zusammengehörigkeit.
Bei den Helden der Völkerwanderung, bei keinem mehr als
bei Theoderich, zeigt sich ein scharfer und weltumfassender
Weitblick. Wenn sie auch keine eigentlich gelehrte Bildung
besaßen, wenn auch die eitlen Griechen und Römer sie nach
wie vor als Barbaren bezeichneten, so paßte dieser Name
doch nicht mehr auf die germanischen Völker, deren Geschichte
wir bis jetzt verfolgt haben. Die westgermanischen Stämme
32. Die Franken vor Klodwig.
229
zwar oder die eigentlichen Deutschen waren dem Boden der
alten Kultur ferner geblieben und hatten noch mehr von der
alten Wildheit und Rauheit bewahrt; aber auch sie waren
dem Kreise, den Theoderich um die ganze germanische Völker-
welt zu ziehen sich bemüht hatte, näher gerückt. Auch sie
entzogen sich nicht dem Verkehr mit ihren Stammesverwandten,
den der große König so eifrig unterhalten hatte. Sänger,
Boten, Gesandtschaften zogen von einem Hofe zum andern;
Gaben wurden gewechselt, Ehen und Bündnisse geknüpft.
Nicht nur in Ravenna, sondern auch in Afrika bei den
Wandalen, in Spanien bei den Westgoten, in Gallien bei
Franken und Burgunden, in Deutschland bei Sachsen, Ale-
mannen und Thüringern wurde von Theoderich gesungen.
Seine Thaten und andre erschütternde Ereignisse der Völker-
wanderung bildeten den Inhalt der neuen Lieder, welche die
Sänger in allen germanischen Gauen sangen und denen die
Völker hingerissen lauschten, um sie selbst zu lernen. So
entstand in gewaltigen Gesängen die deutsche Heldensage. Nur
ein kleiner Rest jener alten Lieder ist uns erhalten — das
Hildebrandslied —, aber aus den spärlichen Trümmern ver-
mögen wir auf die Großartigkeit und den Reichtum der ver-
lornen Heldendichtung zu schließen, die der Völkerwanderung
ihr Dasein verdankt, und deren späte, getrübte Nachklänge
im Nibelungenlied und andern mittelalterlichen Gedichten noch
immer ergreifend an das Herz des Hörers rühren.
32. Die Franken vor Klodwig.
Der größte Zeitgenosse des großen Theoderich war der
Frankenkönig Klodwig; von allen germanischen Fürsten stand
er dem erhabenen Ostgoten an geschichtlicher Bedeutung am
nächsten, und doch bildete er zu jenem fast in allen Stücken
den schärfsten Gegensatz, wie denn auch ihre Völker unter
allen Germanenstämmen sich am unähnlichsten waren.
Die Franken, die sich in ihrem alten Gesetzbuch stolz
als das tapferste Volk rühmten, das Gott selbst zum Urheber
habe, das trefflich in den Waffen, fest in Friedensbündnissen,
230 32. Die Franken vor Klodwig.
von tiefer Weisheit im Rate, am Leibe edel, von unverletzter
Schönheit und herrlichem Wüchse, kühn, rasch und kraftvoll
sei, galten ihre Zeitgenossen keineswegs für so rühmenswert.
Diese behaupteten vielmehr, man könne den Franken nicht
trauen, weil sie mit lachendem Munde Eid und Treue zu
brechen pflegten, und sie seien die gefährlichsten und un-
zuverlässigsten Nachbarn, die es gebe. Die fränkische Ge-
schichte bestätigt solche Borwürfe, denn sie ist von manchem
Greuel und mancher wilden That erfüllt. Aber wenn auch
den Franken die milde Hoheit der Goten und der ritterliche
Geist der Langobarden fehlte, so waren sie doch von Haus
aus ein tüchtiges und kerngesundes Volk, das man nicht für
die Wildheit der ganzen Zeit und für die ungeheure Ver-
dorbenheit der römisch-gallischen Welt, in die es hineingeriet,
verantwortlich machen darf. Ein gewisser nüchterner, von
harter Selbstsucht nicht freier Zug liegt allerdings im frän-
kischen Charakter, aber dieses Volk war es auch allein, das
sich fähig erwies, ein dauerndes Reich zu gründen und seine
deutsche Eigenart unter römischen Verhältnissen zähe zu be-
wahren. Indem wir die wichtigste Zeit der ältesten Franken-
geschichte in diesem und dem folgenden Kapitel vorführen, kehren
wir zugleich vorübergehend zur Geschichte der Westgermanen
oder eigentlichen Deutschen zurück, die wir am Schlüsse des
17. Abschnittes verlassen haben; denn die Franken gehörten, wie
früher gesagt worden ist, mit den Sachsen, Alemannen, Thü-
ringern und Langobarden zu den Hauptstämmen der Deutschen.
Es war um das Jahr 240, als die Römer zum ersten
Mal mit Franken — der Name bedeutet die Freien —
feindlich zusammenstießen. Ein Schwarm dieses Volkes war
über den Rhein gegangen und hatte in Gallien lange ge-
plündert. Als die verwegenen Räuber heimkehren wollten, trat
ihnen in der Nähe von Mainz Aurelian, der nachmalige
Kaiser, entgegen und schlug sie aufs Haupt. Es war das Vorspiel
zu endlosen ähnlichen Ereignissen. Die Plünderungszüge wurden
immer häufiger und stärker, und die besten Kaiser mühten sich
ab. die Franken endgültig über den Rhein zurückzudrängen,
was ihnen doch ebensowenig gelingen konnte wie bei den Ale-
32. Die Franken vor Klodwig.
231
mannen. Um das Jahr 290 führte ein solcher Raubzug
zum ersten Mal zu dauernder Besetzung des angegriffenen
Landes. Es kam nämlich ein großer fränkischer Volksschwarm
über den Niederrhein und siedelte sich aus der Rheinmündungs-
insel an; niemand vermochte sie wieder aus diesem Gebiet zu
vertreiben. Diese Franken waren die Vorfahren des Stammes
der Salier, der später unter dem ganzen Volk der mächtigste
wurde. Während im Elsaß die Alemannen festen Fuß faßten,
und sich von hier nach Norden und Westen ausbreiteten, strömten
neue Scharen von Franken in das nordöstliche Gallien und ent-
rissen dem römischen Reich diese wichtigen Grenzgebiete. Der
früher erwähnte römische Feldherr Julian besiegte sie zwar,
mußte sie aber in ihren einmal besetzten Wohnsitzen lassen.
Sie versprachen Hülfsvölker zu stellen und erkannten die
römische Oberhoheit an. Seitdem zeichneten sich vielfach
Franken im römischen Heere, bald auch im römischen Staats-
dienst als tapfere, thalkräftige und verschlagene Männer aus.
Neben den salischen Franken traten gegen die Mitte des
fünften Jahrhunderts die ripuarischen, d. h. die Uferfranken,
als ein zweiter Hauptzweig des Stammes hervor. Sie
standen, ebenso wie jene, unter mehreren Gaukönigen oder
Fürsten und kämpften mit Glück und mit Unglück gegen die
Römer, denen sie am Mittelrhein, von Köln aus, einen Land-
strich nach dem andern entwanden. Während die Salier die
Grenzen ihres Gebietes südlich der Maas bis nach Tongern
und Arras vorrückten, hielten die Ripuarier südlich von ihnen
einen breiten Streifen am linken Rheinufer bis nach Mainz
hinauf fest. Wie die Alemannen am Oberrhein, so haben
sich auch die Franken als ein Volk von ganz ungewöhnlicher
Frische und Widerstandskraft bewährt. Alle Verluste schienen
nur die strotzende Lebensfülle des streitbaren Volkes zu er-
höhen, das ganz von der unbändigen Kriegsliebe der alten
Germanen Armins durchdrungen war, wie es denn diesen an
Sitte und Lebensweise noch überraschend glich. Der Gegensatz
zwischen ihnen und den römisch-gallischen Bewohnern der
Provinz war ein gewaltiger. Unter die äußerlich seinen und
gebildeten, dabei aber entarteten und sittenlosen Romanen
232
32. Die Franken vor Klodwig.
traten die wilden Waldsöhne Germaniens wie in eine andere
Welt. Und je weiter die Franken in das Innere von Gallien
vordrangen, desto auffallender wurde dieser Gegensatz. Denn
die Franken glichen sich nicht wie die Ostgermanen allmählich
der Kultur an, in die sie gerieten, sondern hielten ihre ur-
sprüngliche Art weit zäher fest als jene. Das kam daher, weil
sie den Zusammenhang mit der Heimat niemals verloren. Sie
hausten zwar zum Teil auf römischem Boden, aber ihr Stamm-
land, das sich am rechten Rheiuufer an der Ruhr und Lahn
aufwärts in das Innerste Deutschlands bis zu den Thüringern
hin erstreckte, haben sie niemals fahren lassen; und Deutsche
blieben auf drei Seiten ihre Nachbarn: im Norden die Friesen,
im Nordosten die Sachsen, im Osten die Thüringer, im Süd-
osten und Süden die Alemannen.
Das edelste Geschlecht unter den Franken war das der
Merowinger, aus dem sie ihre langgelockten Gaukönige wählten.
Einer dieser Merowinger war Chlogio, der um das Jahr
430 durch einen kühnen Eroberungszug die Wohnsitze seiner
salischen Franken bedeutend nach Südwesten bis über Cambrai
hinaus eriveiterte. Gleichzeitig dehnten sich die Ripuarier durch
das Moselgebiet gegen die Maas bis oberhalb Verdun aus,
so daß die Maas die Grenze zwischen Ripuariern und Saliern
bildete. Die südlichen Nachbarn der Ripuarier blieben die
Alemannen, deren Eroberungen sich bis zur oberen Seine
erstreckten. Am rechten Rheinufer breiteten sich die hessischen
oder Oberfranken aus. Von Chlogios Stamm soll Merowig
entsprossen sein, den die Sage zum Sohn eines Meerungeheuers
macht und von dem das Geschlecht den Namen fuhrt; und
dessen Sohn wiederum war Childerich, der als ein König der
salischen Franken in Tournai (Doornik) an der Schelde Hof hielt.
Von ihm, der das Gebiet der Franken wieder beträchtlich
nach Westen hin erweiterte, berichtet eine alte Überlieferung
folgendes. Childerich ergab sich einem schwelgerischen Leben.
Darüber ergrimmten seine Franken und nahmen ihm die
Herrschaft. Er entfloh und kam nach Thüringen, ließ aber
daheim einen Vertrauten, der sollte sehen, ob er nicht mit
milder Überredung ihm die erzürnten Herzen wieder versöhnen
32. Die Franken vor Klodwig.
233
könnte. Auch hinterließ er ihm ein Zeichen für den Fall,
daß er ohne Gefahr zurückkehren könne, nämlich so: sie teilten
zusammen ein Goldstück; die eine Hälfte nahm Childerich
mit sich, die andere aber behielt sein Vertrauter. „Wenn stu
mir," so sprach er zu diesem, „deine Hälfte schickst und sie
mit meiner verbunden ein Goldstück ausmacht, so soll mir
dies ein Zeichen sein, daß ich ohne Furcht in die Heimat
zurückkehren kann." In Thüringen nun hielt sich Childerich bei
dem König Bisin und seiner Gemahlin Basina verborgen.
Die Franken aber wählten an seiner Statt zu ihrem König
den Rönier Ägidius. Und als er das achte Jahr über sie
herrschte, da hatte jener vertraute Dienstmann die Franken
heimlich wieder für Childerich gewonnen. Darum sandte er
Boten an ihn und schickte ihm das halbe Goldstück, das er
behalten hatte Alsbald kehrte Childerich heim und wurde
wieder in sein Königreich eingesetzt. Da verließ Basina ihren
Gemahl und kam zu Childerich. Bekümmert fragte er sie,
warum sie aus so weiter Ferne zu ihm komme. Da gab sie
zur Antwort: „Ich habe deine Tüchtigkeit erkannt und weiß,
daß du ein Held bist. Deshalb bin ich gekommen, um bei
dir zu bleiben. Wäre mir ein Mann bekannt, der wackerer
wäre als du, so hätte ich danach getrachtet, sein Weib zu
werden, selbst wenn er jenseits des Meeres wohnte." Über
solche Rede freute sich Childerich und nahm die Frau zur
Ehe. Und sie gebar ihm einen Sohn, den sie Klodwig
nannten. Der ward ein gewaltiger Held.
Childerich starb nach langer und erfolgreicher Regierung
zu Tournai im Jahre 481 und wurde daselbst bestattet.
Sein Grab hat man im Jahre 1653 wieder aufgefunden und
geöffnet. Der kostbare Inhalt des Königsgrabes ging zum
größten Teil verloren, nur ein kleiner Rest wird noch in
Paris im Museum des Louvre aufbewahrt. Doch besitzen
wir eine genaue Beschreibung der gefundenen Gegenstände mit
zahlreichen Abbildungen. Man fand zwei menschliche Schädel
und den eines Pferdes, außerdem aber den ganzen Ornat und
die Waffenrüstung Childerichs, nämlich Reste von Gewändern,
besonders von dem Königsmantel aus golddurchwirkter Purpur-
234
32. Die Franken vor Klodwig.
seide, den Harnisch, die Lanzenspitze, zwei Schwerter und die
Streitaxt, alles von Eisen; den Siegelring mit dem Brust-
bilde des Königs im wallenden Lockenhaar; ferner viele goldene
und silberne römische Münzen, Arm- und Fingerringe und
eine Menge Zieraten und Kostbarkeiten, mit denen das Roß,
die Rüstung und der Mantel geschmückt waren, darunter mehr
als dreihundert goldene, mit roten Edelsteinen verzierte Bienen,
die verstreut auf den Kriegsmautel geheftet waren.
Es war gegen Ende des fünften Jahrhunderts, als ein
fränkischer Prinz Namens Sigismar eine westgotische Prinzessin
heiraten wollte. Den Hochzeitsaufzug sah ein fein gebildeter
Römer mit an, der Dichter Apollinaris Sidonius, derselbe,
der uns den Westgotenkönig Theoderich den Zweiten so an-
schaulich geschildert hat. Er hat auch eine genaue Beschreibung
jenes Hochzeitszuges abgefaßt, die ein schönes Bild von der
Tracht und dem Aussehen vornehmer Franken der damaligen
Zeit giebt. Apollinaris schreibt an einen Freund: „Da du
so gern Waffen und Waffenkleidung betrachtest, wäre es dir
eine Freude gewesen, wenn du den königlichen Jüngling
Sigismar, nach der Sitte seines Volkes als Bräutigam an-
gethan, nach der Wohnung seines zukünftigen Schwiegervaters
hättest einherschreiten sehen. Sein Roß war mit strahlendem
Waffenschmuck geziert, ja es gingen ihm sogar Pferde voraus
und folgten andre, die alle von Edelsteinen glänzten. Aber
er saß nicht auf seinem Rosse, sondern es wurde für an-
ständiger gehalten, daß er mitten unter feinen Begleitern zu
Fuß einherschritt, angethan mit flammendem Purpur, mit
rötlich glänzendem Goldschmuck und weißer Seide, während
sein Haar, seine Gesichtsfarbe und seine übrige Haut diesem
Schmucke entsprach. Das Aussehen seiner Genossen aber war
auch im Frieden furchtbar. Ihre Füße waren bis an die
Knöchel mit rauhen Schuhen umhüllt, die 'íínie und ein Stück
des Schenkels darüber waren unbedeckt. Außerdem umgab einen
jeden ein eng anschließender Leibrock von verschiedenen Farben,
der aber nicht bis zu den Kniekehlen niederreichte. Die
Ärmel umhüllten nur den oberen Teil des Arms. Der grün-
lich schimmernde Mantel stach ab von den rötlichen Gliedern.
32. Die Franken vor Klodwig.
235
Die Schwerter hingen an Wehrgehenken von den Schultern
nieder und lagen dicht an die mit Pelzen umhüllten Hüften an.
Tie Kleidung dient bei ihnen aber nicht nur zum Schmuck,
sondern auch zur Wehr. Denn in der rechten Hand trugen
sie Speere, mit Widerhaken versehen, und Streitäxte, die auch
zum Schleudern geeignet sind, in der linken dagegen einen
Schild, dessen Fläche schneeweiß, dessen Buckel aber gelb ist.
Dieser Schild bezeugt sowohl den Reichtum seines Besitzers,
als die Kunst seines Verfertigers. Alles war überhaupt so
beschaffen, daß das Ganze nicht nur ein Hochzeitszug, sondern
auch zugleich ein Kriegszug zu sein schien." Dazu sei be-
merkt, daß die Franken das blonde Haar nach vorn auf die
Stirne kämmten, am Nacken aber kurz abzuscheren pflegten.
Das lang herabsallende Haar war ein besonderes Ehrenzeichen
des merowingischen Geschlechts. An den vollen, das Haupt
umwallenden Locken, an die nie ein Schermesser kam, erkannte
man schon beim ersten Anblick den König oder das Mitglied
des Königshauses. Den Backenbart schoren sich die Franken
glatt ab und pflegten nur den Schnurrbart zu tragen.
Lieben dieses friedliche Bild stellen wir ein kriegerisches,
das dem Geschichtschreiber Agathias entnommen ist. Obwohl
hier Zustände aus der Mitte des sechsten Jahrhunderts be-
schrieben sind, so paßt doch die Schilderung auch aus die
Kampsweise und die Waffen der Franken vor Klodwig. Es
wird über eine Schar Franken berichtet, die nach dem Unter-
gang des Ostgotenreichs, den wir später erzählen werden,
nach Italien kamen. Durch den oströmischen Feldherrn Narses
erlitten sie 554 eine vernichtende Niederlage am Casilinus
bei Capua; vor der Schlacht setzten sie ganz kaltblütig ihre
Waffen instand, schliffen ihre Äxte und Speere und besserten
die zerhauenen Schilde aus. „Das alles ging ihnen leicht
von der Hand. Denn die Bewaffnung dieses Volkes ist nur
ärmlich und bedarf nicht der Hände verschiedener Handwerker;
sondern wenn etwas verdorben ist, bessern die Besitzer selbst
es aus. Panzer und Beinschienen kennen sie gar nicht. Die
meisten gehen barhäuptig einher, und nur wenige setzen für
die Schlacht einen Helm auf. Brust und Rücken sind nackt
236
32. Die Franken vor Klodwig.
bis an die Hüften. Von da aus gehen bis zum Knie Hosen
aus Leinen oder Leder. Nur wenige sind beritten, weil sie
von alters her an den Kampf zu Fuß gewöhnt und darin
geübt sind. An der Hüfte herab hängt ihnen das Schwert,
den Schild tragen sie aus der linken Seite. Weder Bogen
noch Schleuder noch andere serntreffende Geschosse führen sie,
sondern zweischneidige Äxte und die Angonen, die sie mit Vor-
liebe gebrauchen. Diese Angonen sind Speere von mittlerer
Größe, im Fernkampf zum Schleudern, im Nahkampse zum
Stoße gleich geeignet. Fast ganz sind diese Speere mit Eisen
beschlagen, so daß nur am untersten Ende der hölzerne Schaft
sichtbar ist. An der Spitze aber ragen nach den Seiten hin
zwei gekrümmte Widerhaken, die sich wie Angelhaken nach hin-
ten umbiegen. In der Schlacht wirft der Franke den Ango
mit großer Sicherheit. Trifft diese Waffe einen Feind, so
dringt die Spitze in den Körper ein, und es ist für den Ge-
troffenen ebenso wie für einen andern schwer, das Geschoß
herauszuziehen; denn die Widerhaken, die tief im Fleisch stecken,
leisten Widerstand und vermehren die Schmerzen, so daß der
Verwundete, selbst wenn die Verletzung an sich nicht tödlich
war, doch meistens zugrunde geht. Trifft aber die Waffe
einen Schild, so bleibt sie sogleich an ihm hängen und muß
mit ihm herumgetragen werden, während das untere Ende
am Boden nachschleift. Man kann sodann den Speer weder
aus dem Schilde herausziehen, weil dies die Widerhaken hin-
dern, noch ihn mit dem Schwerte abhauen, weil er ganz mit
Eisen umhüllt ist. Sobald überdies der Franke sieht, daß
er den Schild des Feindes getroffen hat, so springt er heran
und tritt mit aller Wucht auf den Speerschaft. Auf solche
Weise drückt er diesen nieder; der Arm des Gegners muß
erlahmt nachgeben. Haupt und Brust werden des Schutzes
bar. Nun ist es dem Franken ein leichtes, den wehrlosen
Feind zu töten, indem er ihm entweder mit der Axt das
Haupt spaltet oder mit einem zweiten Speer die Kehle durch-
bohrt. So sind die Franken bewaffnet, und so ziehen sie in
die Schlacht."
Wie nahe standen nach dieser Schilderung die Franken
33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches. 237
des fünften und sechsten Jahrhunderts in ihrer Kampfweise
und Bewaffnung noch den Germanen der Urzeit! Und die
weitere Erzählung des Agathias weist noch mehr Überein-
stimmendes auf. Es fehlen da weder die weisen Frauen, deren
Rat vor der Schlacht gehört wird, noch die alte germanische
Wagenburg, noch die unbedachte Hitze, mit der sich die Krieger
in den Kampf stürzten, noch das furchtbare Schlachtgebrüll der
Angreifenden, noch der Schlachtkeil oder Eberkopf, in dem sie
voll unbändiger Hast heranstürmen. Anderwärts wird uns
noch mehr berichtet, was den altgermanischen Geist der Franken
bezeugt, Nichts galt ihnen für ein größeres Unglück als ein
thatenloses Leben, nichts für ein höheres Glück als der Kampf.
Auch in Friedenszeiten suchten sich Männer und Knaben zum
Kriege vorzubereiten. Sie übten sich beständig, ihre Äxte und
Speere zu werfen, wobei sie den Treffort vorausbestimmten
und wohl auch den geschleuderten Waffen nachsprangen, um sie
womöglich zu erreichen, sobald sie getroffen hatte. In solchen
Kampfspielen übte man die männliche Jugend und flößte ihr
damit den Geist ein, der sie ihren Feinden gegenüber unüber-
windlich machte.
Wie in der Urzeit, so bestand auch jetzt uoch das Wirt-
schaftsleben der Deutschen fast nur in Landarbeit. Handel
und Gewerbe waren gering, dagegen hatte sich der Ackerbau
bedeutend gehoben. Das Volk wohnte meist in Dörfern zu-
sammen. Viehzucht, Jagd und Fischfang waren zwar immer
noch sehr wichtige Beschäftigungen; aber mehr und mehr wen-
dete sich auch der freie Mann der Bestellung des Ackerbodens
zu, den man besser auszunützen gelernt hatte als vordem.
Selbst Gartenbau wurde getrieben. Das Ackerland wurde
nicht mehr von Zeit zu Zeit verteilt, sondern gehörte mit
zum Sondereigentum eines jeden Hausherrn. Weide und
Wald aber blieben gemeinsames Gut oder Allmende.
33. Klodwig, drr Gründer des Frankenrrichrs.
Nach Childerichs Tode gelangte sein erst fünfzehnjähriger
Sohn Klodwig zur Herrschaft. Die salischen Franken bewohn-
238 33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches.
ten damals die später flandrischen Länder. Neben Klodwig,
der wie sein Vater in Tournai hauste, herrschten in verschie-
denen Gegenden noch andere salische Gaukönige. Ebenso selb-
ständig waren die ripuarischen und Ostsranken. Von den
ersten Jahren des jugendlichen Königs wissen wir nichts; aber
kaum hat er das zwanzigste Lebensjahr erreicht, so steht er
als vollendeter Mann da. Er war ein geborener Herrscher,
von gewaltiger Körperkraft und scharfem Geiste, ehrgeizig,
hinterlistig, hartnäckig, fest und vorsichtig, rücksichtslos in der
Wahl seiner Mittel. Dreißig Jahre lang war er König; in
fünfundzwanzigen hat er sein weltgeschichtliches Werk vollendet,
die Einigung der Frankenstämme und die Ausbreitung und
Gründung der Frankenherrschaft über den größten Teil von
Gallien und ein gutes Stück Westdeutschlands. Er hat es
vollendet mit bewundernswerter Kraft, aber auch mit abscheu-
licher Tücke.
Im Jahre 486 zog der zwanzigjährige König aus, um
den letzten Rest des Römerreiches an sich zu reißen. Ein
vornehmer Mann, Namens Syagrius, hatte sich nach dem
Untergang des weströmischen Reiches an die Spitze der Gegen-
den und Städte, die nicht bereits einem germanischen Herrn
gehorchten, gestellt. Es war das Land im nordwestlichen Gallien
zwischen Seine und Loire. In Soissons hauste er als selb-
ständiger Gebieter, so daß seine Unterthanen ihn König nannten.
Doch sein Reich war von kurzer Dauer. Ohne jeden Vorwand
brach Klodwig mit Heeresmacht aus und erließ nach altheidnischer
Sitte an Syagrius die Aufforderung, Ort und Tag der
Schlacht zu bestimmen. Syagrius stellte sich zum Kampfe unweit
Soissons; als er aber sein Heer in Bedrängnis kommen sah,
gab er kleinmütig seine Sache auf und floh nach Toulouse zum
Westgotenkönig A l ari ch d em Z w e ite n, der ihn in seinen Schutz
nahm. Allein Klodwig ging in der Vernichtung seiner Gegner
gern gründlich zu Werke. Er sandte Boten an Alarich und
verlangte die Auslieferung des Syagrius. Und so gefürchtet
war bereits die Kriegstüchtigkeit der Franken, daß der West-
gotenkönig sich scheute, ohne Not mit ihnen zu brechen, und
den Flüchtling und Gast preisgab. Der Unglückliche wurde
33. Klodwig, bcr Gründer des Frankenreiches. 239
ausgeliefert. Klodwig ließ ihn in einen Kerker werfen und
heimlich umbringen. Sein Reich nahm er in Besitz und ver-
legte den Mittelpunkt seiner Herrschaft von Tournai nach
Soissons. Den ehemaligen Römern ließ er ihre persönliche
Freiheit und ihren Grundbesitz und reihte sie der fränkischen
Heerverfassung ein. Er trat ihnen gegenüber in die Stelle
der früheren Kaiser und übte kaiserliche Rechte aus. Das
Land wechselte nur den Herrn.
Bei der Verteilung der Kriegsbeute in Soissons ereignete
sich folgender merkivürdige Borsall, aus dem man sieht, wie
sich des Königs Kampfgenossen ihm nach alter deutscher An-
schauung noch fast gleich achteten und wie trotzdem der König
Widersetzliche zu strafen verstand. Unter der Beute befand
sich ein schöner, großer Krug, der nebst andern Kostbarkeiten
aus einer Kirche geraubt worden war. Run ließ der Bischof
jener Kirche den König bitten, daß er ihm wenigstens den
Krug zurückerstatte. Als darauf die ganze Kriegsbeute in
Soissons zusammengebracht worden war, sprach Klodwig zu
den Seinigen: „Ich bitte euch, erzeiget mir die Gunst, mir
zu meinem Beuteanteil auch den Krug dort zu geben." Alle
baten ihn, zu thun, wie es ihm gefalle. Aber ein trotziger
Heermann erhob sich und rief: „Nichts sollst du haben, als
was dir von Rechts wegen gehört." Dabei erhob er seine
Streitaxt und schlug an das Gefäß. Alle erstaunten darüber,
der König aber nahm den Krug und übergab ihn dem Boten
des Bischofs; den Schmerz über die erlittene Beschimpfung trug
er still in der Brust. Doch als ein Jahr verflossen war, ließ
er das ganze Volksheer zur Musterung, zum sogenannten März-
felde, zusanunenberufen. Als er nun alle Krieger durchmusterte,
traf er auch auf den Mann, der zu Soissons an den Krug
geschlagen hatte, und sprach zu ihm: „Keiner trägt so schlechte
Waffen wie du, weder Speer noch Schwert noch Axt taugt
dir zum Kampfe." Und er ergriff des Mannes Streitaxt
und warf sie auf die Erde. Jener bückte sich, um sie wieder
aufzuheben. In demselben Augenblick aber holte der König
aus und schlug ihn mit seiner Axt in das Haupt. „So,"
sprach er, „hast du zu Soissons an dem Kruge gethan." Der
240 33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches.
Mann war tot. Die übrigen hieß der König hinweggehen.
Durch diese That machte er sich bei allen gefürchtet.
Einige Zeit danach warb Klodwig um die Hand der bur-
gundischen Prinzessin Klothilde. Den Burgunden gehörte da-
mals ein großer Teil des südöstlichen Galliens und der Schweiz.
König Gundobad herrschte zuerst mit zwei Brüdern über dieses
Reich. Aber er befleckte sich mit blutigen Greuelthaten, indem
er einen dieser Brüder mit dem Schwerte erschlug, dessen Ge-
mahlin, wie man sagt, mit einem Stein um den Hals ins
Wasser werfen und ihre beiden Söhne enthaupten und deren
Körper in Brunnen stürzen ließ. Bon den beiden Töchtern
des ermordeten Bruders machte er die eine zur Nonne, die
andere, Klothilde, hielt er an seinem Hofe in strengem Ge-
wahrsam. Klodwig sandte nun, wie die Sage berichtet, Boten
in das Burgunderland und freite um Klothilde. Doch gelang
es keinem, das Antlitz der Jungfrau zu sehen. Da schickte er
einen vertrauten Mann, Namens Aurelian, dahin. Dieser
verkleidete sich als Bettler und nahm auch Klodwigs Ring
mit sich. So zog er nach Burgund und wurde als ein armer
Fremdling von Klothilde gütig bewirtet. Ja, sie wusch ihm
sogar, um sich einen Gotteslohn zu verdienen, die Füße. Da
flüsterte er ihr zu, daß er etwas Wichtiges mit ihr zu reden
habe, und sie gewährte ihm im geheimen eine Zwiesprache.
Da sagte Aurelian: „Der Frankenkönig Klodwig sendet mich
zu dir. Er will dich zu seiner Gemahlin erhöhen, und da-
mit du meinen Worten trauest, sendet er dir diesen Ring."
Erfreut nahm sie das Kleinod, gab ihm hundert Goldschillinge
zum Botenlohn und händigte ihm ihren Ring ein. „Jetzt
aber," sprach sie, „kehre schnell heim und sage deinem Herrn,
er solle unverweilt und in aller Form bei meinem Oheim
Gundobad um mich werben. Denn wenn er nicht eilt, so
fürchte ich, der kluge Aridius, Gundobads Ratgeber, wird
vorher aus Konstantinopel zurückkehren und durch seinen Rat
alles vereiteln." Sogleich machte sich Aurelian auf den Heim-
weg, begab sich schleunigst zu Klodwig und meldete ihin alles.
Da schickte Klodwig Gesandte an Gundobad und bat ihn um
die Hand seiner Nichte. Gundobad scheute sich, den mächtigen
33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches. 241
Mann abzuweisen, und versprach, sie ihm zu geben. Sogleich
wurde der Brautkauf rechtsgültig gemacht und ein Tag an-
beraumt zur Übergabe der Braut. In CHLlons an der Saône
rüstete man alles zur feierlichen Einholung. Vornehme Fran-
ken nahmen hier Klothilde in Empfang und führten sie mit
vielen Schätzen Klodwig zu. Unterwegs sagte Klothilde zu
den Franken: „Wenn ihr mich zu eurem Herrn bringen wollt,
so hebet mich aus der Sänfte, setzet mich auf ein Pferd und
beeilt euch, so schnell als möglich aus Burgund zu kommen."
Die Franken thaten also. Wie nun Aridius von dem Ver-
löbnis vernahm, eilte er in höchster Hast an Gundobads Hof
und sprach zu dem Könige: „Dies ist der Anfang unversöhn-
licher Feindschaft. Hast du vergessen, was du an Klothildens
Angehörigen gethan hast? Wenn sie erst die Macht besitzt,
wird sie sicherlich die Ermordung der Ihrigen rächen, und du
wirst die Feindschaft der Franken für alle Zeiten zu tragen
haben." Da sandte Gundobad Reisige aus, daß sie Klothilde
zmückbrächten. Sie erreichten die Sänfte und die Schätze
und nahmen alles in Beschlag; Klothilde aber erreichten sie
nicht, denn diese war schon über die Landesgrenze geritten.
Ehe sie dahin gelangt war, hatte sie ihre Begleiter gebeten,
eine Meile nach beiden Seiten hin das Burgundenland nüt
Feuer und Schwert zu verwüsten. Und als sie die Flammen
allenthalben lodern sah, soll sie ausgerufen haben: „Ich danke
dir, Gott, daß du mich den Anfang der Rache für meine
Ellern und Brüder sehen läßt." Darauf wurde sie dem
Frankenkönig zugeführt. Er vermählte sich mit ihr und hielt
sie lieb und wert.
Als nun Klothilde, welche Katholikin war, dem Könige,
der noch mit seinem Volke dem Wodansglauben anhing, den
ersten Sohn geboren hatte, wollte sie ihn gern taufen lassen
und drang unaufhörlich in ihren Gemahl, daß er sich selbst
bekehre. Sie konnte nichts bei ihm selbst ausrichten, doch ge-
stattete er ihr, den Sohn zu taufen. Die Kirche wurde herr-
lich geschmückt. Aber das Kind starb noch in den weißen
Kleidern, in denen es das Bad der Wiedergeburt empfangen
hatte. Da schwoll dem Könige das Herz vor Bitterkeit, er
Klee, Die alten Deutschen. KJ
242 33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches.
sckalt sein Weib heftig und sprach: „Wäre das Kind meinen
Göttern geweiht worden, es lebte gewiß noch; aber es mußte
sterben, weil es im Namen deines Gottes getauft war." Die
Königin aber dankte Gott, daß er ihr Kind gewürdigt habe,
sein Antlitz zu schauen. Danach gebar sie einen andern Sohn,
den sie ebenfalls taufen ließ, und als auch er erkrankte, sprach
Klodwig: „Es kann ihm ja nicht anders ergehen, als seinem
Brüderchen, da er im Namen deines Christus getauft ist."
Doch auf des Herrn Geheiß ward der Knabe durch das heiße
Gebet seiner Mutter wieder gesund. Und Klothilde drang
unaufhörlich iu den König, daß er sich bekehre, konnte ihn
aber seinen Göttern nicht abwendig machen, bis endlich ein
wunderbares Ereignis ihn dem Christentum gewann.
Im Jahre 4B6 geriet Klodwig in Krieg mit den Ale-
mannen, die ihre Herrschaft über das ganze Rheinland aus-
dehnen wollten. Nach altem Bericht wurde die Entscheidungs-
schlacht bei Tolbiacum, jetzt Zülpich, zwischen Bonn und
Aachen, geschlagen. Sie endete mit einem glanzenden Siege
der Franken, der aus eine höchst merkwürdige Art errungen
wurde. Klodwig war, wie gesagt, noch Heide; aber sein zu-
versichtlicher Glaube an die Beacht seiner Götter war doch
durch die Rede seiner Gemahlin erschüttert, und er hatte am
Krankenbett seines zweiten Söhnchens erfahren, daß der Christen-
gott inbrünstiges Gebet hörte und die Macht hatte, es zu er-
füllen. Als nun in der Alemannenschlacht der Kampf fürchter-
lich tobte und die Franken nach blutigem Ringen endlich ermattet
innehielten, als ihrem Heere völlige Vernichtung drohte, als
die alten Schlachtgötter allem Flehen taub blieben, da in der
höchsten Not brach des leidenschaftlichen Mannes starrer Mut,
und er gedachte der Worte seines Weibes. Er erhob seine
Augen zum Himmel und rief unter Thronen: „Jesu Christe,
Klothilde sagt, du seiest der Sohn des lebendigen Gottes;
Hülfe sollst du den Bedrängten bringen und Sieg denen, die
auf dich hoffen. So fleh ich dich denn demütig an um dei-
nen Beistand. Gewährst du mir jetzt den Sieg und erfahre
ich so deine Macht, die das Christenvolk an dir rühmt, so
will ich mich taufen lassen auf deinen Namen. Ich habe
33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches. 243
meine Götter angerufen, aber sie haben mich nicht erhört.
Ich meine daher, ohnmächtig sind sie, da sie denen nicht helfen,
die ihnen dienen. Dich rufe ich nun an, und mich verlangt,
an dich zu glauben. Nur entreiße mich erst den Händen
meiner Feinde." Und da er solches gesprochen hatte, da be-
gannen die Alemannen zu wanken und wandten sich zur Flucht.
Ihr König siel, und als sie dies sahen, warfen sie die Schilde
nieder und boten Klodwig Unterwerfung an. Da that er dem
Kampfe Einhalt, brachte das Bolk in seine Gewalt und kehrte
dann fröhlich heim. Der Königin aber erzählte er, wie er
Christi Namen angerufen und so den Sieg gewonnen habe.
Das ganze Alemannengebiet links des Rheines fiel durch diesen
Sieg in Klodwigs Hände, und auch das Neckarland ward
dem fränkischen Reiche einverleibt. Die übrigen Teile des
Volkes im Breisgau und davon östlich bis zum Lech und süd-
lich in der Ostschweiz würde dasselbe Schicksal ereilt haben,
hätten sie nicht einen mächtigen Schirmherrn gefunden. Theo-
cherich der Große, der seit drei Jahren unbestrittener Herr
über Italien und die östlichen Alpenländer bis zur Donau
war, wandte sich in einem Schreiben an Klodwig und bat
um Schonung für die Alemannen, die seinen Schutz angerufen
hatten; und der Frankenherrscher war klug genug, sich nicht
mit dem großen Ostgotenkönig zu entzweien. Das südliche und
östliche Alemannien kam daher unter die Oberhoheit Theo-
derichs. Den flüchtigen Alemannen aus den nördlichen und
westlichen Gebieten wies Theoderich Wohnsitze innerhalb der
Grenzen seines Reiches an.
Gewaltig war der Zuwachs an Macht, den Klodwig dem
Alemannensieg verdankte. Aber die wichtigste Folge dieses
Sieges war doch, daß Klodwig zum katholischen Christentum
übertrat. Der Christengott hatte sich ihm als den stärkern
bewiesen; nun zögerte der König nicht länger, ein Christ zu
werden, und zwar selbstverständlich nach dem Bekenntnis seiner
Gattin und seiner römischen Unterthanen. So ließ denn Klo-
thilde nach Klodwigs Heimkehr den Bischof Remigius von
Reims holen und bat ihn, er möchte dem Könige die Botschaft
des Heiles zu Herzen führen. Er unterrichtete ihn denn auch
16*
244 33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches.
im Geheimen; denn man konnte nicht wissen, wie das Volk
den Abfall von den alten Göttern ansnehmen würde. Ein
ansprechender Zug aus diesen stillen Stunden ist uns über-
liefert. Als Remigius einst von dem Leiden und Sterben
unsres Heilandes berichtete, rief Klodwig eifrig aus: „Wäre
ich nur mit meinen Franken dabei geivesen! Ich hätte schon
das Unrecht, das er erlitt, gerächt!" — Als die Unterweisung
beendigt war, berief der König eine Versammlung der Edel-
sten und legte ihnen dar, was ihm widerfahren war und was
er vorhabe. Und als er geendet hatte, riefen die meisten ihm
lauten Beifall zu und erklärten sich bereit, ihni zu folgen.
Hocherfreut befahl Remigius das Taufbad zu bereiten. Es
war am Weihnachtstag des Jahres 496. Mit bunten Decken
wurden die Straßen von Reims belegt, mit weißen Vorhängen
die Kirche geschmückt, das Taufbecken vorgerichtet. Weihrauch-
duft verbreitete sich, die duftenden Kerzen schimmerten hell.
Als der König zuerst zum Taufbecken trat und vom Bischof
getauft zu werden verlangte, sprach Remigius: „Beuge dein
Haupt in Demut, Franke! Verehre, was du verbrannt, und
verbrenne, was du verehrt hast." Darauf legte Klodwig das
Glaubensbekenntnis auf den dreieinigen Gott ab, ließ sich
raufen und wurde mit geweihtem Ol gesalbt. Außer ihm
empfingen seine zwei Schwestern und dreitausend seiner Franken
die Taufe.
Was Klodwig im Herzen erhoffte und was ihn zur Taufe
hauptsächlich getrieben hatte, das war: Sieg mit Hülfe des
stärksten Gottes. In gutem Glauben, ohne alle Heuchelei,
hatte er gehandelt. Aber innerlich blieb er vom Geiste der
christlichen Religion unberührt. Wilde Leidenschaft, glühender
Ehrgeiz, heimtückische Hinterlist, das sind vorzugsweise die
Züge seines riesigen Bildes nach wie vor der „Bekehrung".
Doch schmälert dies nicht die unendliche Wichtigkeit seines Über-
trittes für die ganze Geschichte seines Volkes. Daß er sich
nicht zum Arianismus, sondern zur katholischen Religion be-
kannte, und daß er die fränkische Nation diesem Bekenntnis
zuführte, war dabei von ganz besonderer Bedeutung. So
wurden nämlich die Glaubensstreitigkeiten vermieden, welche
33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches. 245
die Sicherheit der andern germanischen Reiche gefährdete, wo
die germanischen Herren als Arianer in einem unseligen Gegen-
satz und ewigem Hader mit den katholischen Unterthanen lagen.
Klodwig durfte sich als Beschützer der katholischen Christen in
ganz Gallien betrachten, und der Papst zu Rom nannte ihn
nicht mit Unrecht im Gegensatz zu den „ketzerischen" Königen
der Goten, Wandalen, Burgunden und andrer deutschen Völker
den „allerchristlichsten König".
Bald fand Klodwig Gelegenheit, als Beschützer des katho-
lischen Glaubens aufzutreten und unter diesem Vorwand seiner
Eroberungssucht zu frönen. Im Westgotenreich wie in Bur-
gund blickten die Katholiken hoffnungsvoll nach Paris, wohin
Klodwig inzwischen seinen Herrschersitz verlegt hatte. Besonders
günstig lagen für ihn die Verhältnisse in Burgund, wo das
arianische Königshaus einer fast nur aus Katholiken bestehenden
Bevölkerung fremd gegenüber stand; und dazu trieb ihn Klo-
thilde, die trotz ihres Christenglaubens doch immer eine Ger-
manin blieb, unaufhörlich zum Kampfe gegen den Mörder
ihrer Eltern und Brüder an. So bot denn Klodwig ohne
weitern Vorwand ein Heer gegen Gundobad auf. Im Jahre
500 kam es bei Dison zur Schlacht. Gundobads eigener
Bruder, der katholische Godegisel, ging zu Klodwig über, und
Gundobad wurde geschlagen und mußte in den äußersten Süden
seines Reiches, nach Avignon, fliehen. Der Frankenkönig,
der ihn für völlig besiegt hielt, kehrte mit seiner Hauptmacht
heim; nur eine kleine Schar ließ er dem verbündeten Gode-
gisel zurück. Kaum aber hatte Klodwig sich zurückgezogen, als
Gundobad gegen Godegisel losbrach, ihn in Vienne belagerte,
diese Stadt durch List und Gewalt einnahm und seinen Bruder
töten ließ. Den fünfhundert Franken, die Klodwig zurück-
gelassen hatte, gewährte er schlauerweise freien Abzug. Darauf
brachte er ganz Burgund unter seine Herrschaft und zeigte sich
gegen die Katholiken äußerst mild. Gewiß that er auch dies
aus Rücksicht auf Klodwig, der, wir wissen nicht warum, die-
sem Kampfe ruhig zusah und mit Gundobad einen Frieden
schloß, der für diesen sehr vorteilhaft war. Wahrscheinlich
wünschte er sich den Dank und die Bundesgenossenschaft Gun-
246 33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches.
dobads zu erwerben und erwarb sie auch in der Thal. Beide
Könige schlossen einen Vertrag, durch den sich Gundobad zum
Wassenbunde mit Klodwig und zu milderer Behandlung der
Katholiken in Burgund verpflichtete, so daß Klodwig seine
Pflicht als Schirmherr der katholischen Kirche als erfüllt be-
trachten konnte.
Klodwigs thatendurstige Seele brütete alsbald über neuen
Entwürfen. Schon längst standen sich, seit sie Nachbarn ge-
worden waren, Westgoten und Franken feindselig gegenüber.
Seitdem nun vollends diese zum größten Teil den katholischen
Glauben angenommen hatten, war die Kluft zwischen ihnen
und den arianischen Westgoten unüberbrückbar geworden.
Auch das glänzende Reich, das König Eurich von der
Loire und Rhone bis zur äußersten Südspitze Spaniens mit
starker Hand aufgerichtet hatte, krankte an dem Zwiespalt
zwischen den arianischen Germanen und den katholischen Römern,
von denen die letzteren noch dazu in weit überlegener Anzahl
vorhanden waren, während die Goten, über einen sehr weiten
Raum verstreut, der Zahl nach gegen sie sehr zurücktraten.
Nur eineni so kraftvollen Herrscher, wie Eurich gewesen war,
konnte es gelingen, das weitläufige Reich auch innerlich kraft-
voll zusammen zu halten. Sein Sohn und Nachfolger, Alarich
der Zweite, aber war zwar ein redlicher, wohlwollender und
tapferer Fürst, aber ohne hervorragende Herrscherbegabung.
Sorgenvoll blickte er auf die wachsende Macht der Franken.
Er wußte wohl, daß seine katholischen llnterthanen mit ge-
heimer Sehnsucht nach dem katholischen Klodwig hinübersahen
und daß sie bei der ersten Gelegenheit von ihm, dem Arianer,
zu dem rechtgläubigen Frankenkönig absallen würden. Die
schmachvolle Nachgiebigkeit, mit der er 486 aus Furcht vor
Klodwig den unglücklichen Syagrius preisgegeben hatte, trug
ihm nur Schaden ein. Klodwig hatte seine Schwäche nicht
umsonst erkannt. Nur den Bemühungen Theoderichs des
Großen gelang es vorderhand noch, den Ausbruch von Feind-
seligkeiten zu verhindern. Aber auf die Dauer vermochte selbst
eines solchen Mannes Wort nicht, der Ländergier und Ruhm-
sucht eines Klodwig Schranken zu setzen. Ein Fieber, an dem
33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches. 247
dieser unersättliche Eroberer zu seinem großen Verdruß zwei
Jahre lang krank lag, hielt ihn noch zurück. Kaum aber war
er genesen, so konnten ihn keine dem Westgotenkönig geleisteten
Schwüre und Freundschaftsbeteuerungen, keine Warnungen und
Drohungen Theoderichs des Großen mehr abhalten. Auf dem
sogenannten Märzfeld, dem großen Thing, im Jahre 507
sprach Klodwig zu den Seinigen: „Es bekümmert mich sehr,
daß diese Ketzer, die Westgoten, noch einen Teil Galliens be-
sitzen. Laßt uns aufbrechen, sie mit Gottes Hülse besiegen
und ihr Land in unsre Gewalt bringen!" Allen gefiel solche
Rede wohl, und so zog Klodwig, ohne einen besondern Grund
für seinen Friedensbruch anzugeben, mit überraschender Schnellig-
keit über die Loire und bemächtigte sich der Umgegend von
Tours. Aus Ehrfurcht vor dem berühmten Schutzpatron
dieser Stadt, dem kriegerischen Heiligen Martin, erließ er den
Befehl, niemand solle aus dieser Gegend etwas andres neh-
men als Futtergras und Wasser. Einer seiner Kriegsleute
fand bei einem armen Manne Heu und sprach: „Ist Heu
nicht Gras?" mißhandelte den Mann und nahm ihm das
Heu mit Gewalt. Die Sache kam vor den König. Der
hieb den Übelthäter sofort nieder und sprach die bezeichnenden
Worte: „Wie sollen wir siegen, wenn wir den heiligen Martin
erzürnen?"
Die Goten mußten das ganze Land bis Poitiers preis-
geben. In der Nähe dieser Stadt wollten sie in fester Stel-
lung den Angriff der Franken und zugleich die erhoffte Hülse
Theoderichs aus Italien erwarten. Aber diese wollte nicht
kommen, da der Ostgotenkönig damals gerade einen Angriff
des oströmischen Kaisers befürchten mußte. Da murrten die
westgotischen Großen gegen Alarich. Eingedenk ihrer Siege
und der ihrer Vorfahren hofften sie auch allein die Franken
überwinden zu können. Der bedächtige Amrich gab ihrer
Kampflust nach, verließ seine vorteilhafte Stellung und zog
dem Feinde entgegen bis auf die vokladischen Felder, d. i.
die Ebene bei Voullon, drei Meilen südlich von Poitiers. Hier
kam es zu einer blutigen Schlacht, in der die fränkische
Wildheit den Sieg davontrug. Die Westgoten wandten sich
248 33. Klodwig, der Gründer des Frankenrerches.
zur Flucht. Da beschloß ihr hochsinniger König, solche Schandc
nicht zu überleben. Er sprengte, nur von wenigen begleitet,
dem Merowinger entgegen. Doch er stürzte vom Roß und
irurde, wahrscheinlich von Klodwig selber, getötet. Zwei wackere
Westgoten drangen wütend auf Klodwig ein, der nur durch
seinen festen Panzer und sein schnelles Roß vor ihren Streichen
gerettet wurde. Die Schlacht entschied den ganzen Feldzug.
Überall wurde der Frankenkönig als der Gottesslrkiter für
den wahren Glauben freudig ausgenommen, die meisten Städte
öffneten ihm ihre Thore. Zn Bordeaux überwinterte er, be-
gab sich im nächsten Frühjahre nach Toulouse, dem alten
Herrschersitz der Westgotenkönige, und kehrte dann nach Tours
zurück. Sein Heer sollte im Bunde mit den Burgunden alles
Land in Gallien, das noch in den Händen der Westgoten
war, erobern. Diese waren in übler Lage. Sie hatten, da
der rechtmäßige Thronfolger, Amalarich, noch ein Kind war,
einen Verwandten des gefallenen Königs zu ihrem Herrscher
erwählt. Aber Theoderich widersprach der Wahl, denn er
wollte seinem Enkel Amalarich Thron und Reich reiten. End-
lich erschien ein ostgotischcs Hülfsheer unter Theoderichs treff-
lichem Feldherrn Jbba. Dieser schlug die vereinigten Heere
der Franken und Burgunden in einer gewaltigen Schlacht bei
Arles aufs Haupt. Da hielt es Klodwig für geraten, den
großen König nicht zum äußersten zu treiben. Er schloß Frie-
den. Theoderich vereinigte die Provence mit seinem Reiche; den
Westgoten, über deren ganzes Reich er die Schutzherrschaft über-
nahm, rettete er in Gallien wenigstens das Gebiet zwischen den
Pyrenäen und der Garonne. Alles übrige Land der Westgoten in
Gallien von der Loire bis zur Garonne blieb in Klodwigs
Händen. Dieser hatte mithin sein Reich ganz bedeutend er-
weitert, während sein Bundesgenosse Gundobad nichts erhielt,
sondern sogar den südlichsten Teil seines Landes an Theoderich
verlor.
Klodwig war bereits im Frühling 507 nach Tours zu-
rückgekehrt, wo er dem heiligen Martin für seine Mitwirkung
im Kriege kostbare Geschenke weihte. Ein Pferd aber, das
er früher der Kirche des Heiligen geschenkt hatte, wünschte er
33. Klodwig, der Gründer des Frnnkenreiches. 249
jetzt wiederzuhaben und schickte deshalb hundert Goldschillinge
für das Pferd. Doch dieses war nicht von der Stelle zu
bringen. Das meldete man dem Könige, der sprach: „Schicket
noch hundert Goldschillinge!" Als sie nun hingesandt waren,
siehe, da kam das Pferd sogleich. Da sagte der König vergnügt
lachend: „Wahrlich, der heilige Martin ist ein guter Freund im
Kriege, aber teuer im Handel." In Tours war es auch, wo ihn
die Boten des oströmischen Kaisers fanden, die ihm den Kon-
sultitel und die Würde eines Patricius überbrachten. Durch
diese an und für sich leere Auszeichnung erschien nun Klodwig
seinen römischen Unterthanen als der rechtmäßige, vom Kaiser
selbst bestätigte Herrscher. Er legte die Abzeichen der neuen
Würde, Purpurmantel und Diadem, an, bestieg sein Roß und
streute auf seinem Triumphzuge durch die Stadt Gold und
Silber unter das versammelte Volk aus. Darauf begab er
sich nach seinem Herrschersitz Paris. Er stand auf der Höhe
seiner Macht, aber auch am Ende seiner Tage. Ehe wir
jedoch von dem Manne scheiden, der nur einem Theoderich an
Ruhm und Macht wich, müssen wir von ihm noch einige ver-
abscheuungswürdige Thaten berichten, durch die er sich die
Alleinherrschaft über die verschiedenen fränkischen Stämme, auch
über die, welche noch unter eigenen Königen standen, errang.
Sie werden nicht alle der letzten Zeit seines Lebens angehören;
weil sie aber innerlich zusammengehören, stellen wir sie hier
am Ende von Klodwigs Geschichte zusammen. Sie zeigen,
daß in des Mannes Herz, der unstreitig Großes für das
Christentum gethan hat, kein Strahl des reinigenden Lichtes
der christlichen Religion gefallen war.
Als Klodwig, so erzählt der treffliche fränkische Geschicht-
schreiber Gregor von Tours, seinen Sitz in Paris hatte,
schickte er heimlich zu Kl oder ich, dem Sohn des ripuarischen
Königs Siegbert, der zu Köln saß, und ließ ihm sagen:
„Siehe, dein Vater ist alt und schwach. Stürbe er, so würde
dir sein Reich und meine Freundschaft zu teil werden." So
wurde jener zur Herrschsucht verlockt und sandte Meuchelmörder
aus, die seinen Vater löteten. Darauf schickte er Boten an
Klodwig und ließ ihm melden: „Mein Vater ist tot, und
250 33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches.
sein Reich und Hort sind mein. Sende etliche von deinen
Leuten zu mir, so will ich dir gern schicken, was dir von
meines Vaters Schätzen gefällt." Klodwig antwortete: „Ich
danke dir für deinen guten Willen. Wenn meine Leute zu
dir kommen, so zeige ihnen alles. Du magst es dann selbst
behalten." Und als des Königs Boten zu Kloderich kamen,
öffnete er ihnen den Schatz seines Vaters. Sie nahmen dies
und jenes in Augenschein. Und da er sie an eine große
Truhe führte, sprach er: „In diesen Kasten pflegte mein Vater
seine Goldstücke zu legen." Dabei bückte er sich, um ihnen
zu zeigen, wie tief die Truhe sei. Aber in demselben Augen-
blick zerschmetterte ihm einer der Königsboten mit der Streit-
axt den Hirnschädel. So traf ihn derselbe Tod, den er ruchlos
seinen! Vater bereitet hatte. Danach kam Klodwig nach Köln ge-
ritten und berief das Volk zu einer Versammlung. Hier sprach er:
„Hört, was sich zugetragen hat. Kloderich, der Sohn meines
Blutsvetters Siegbert, trachtete nach seines Vaters Herrschaft und
ließ ihn ermorden. Darauf wurde er selbst, während er seines
Vaters Schätze musterte, von einem mir unbekannten Mann er-
schlagen. An alledem bin ich durchaus schuldlos. Da es nun aber
einmal so gekommen ist, so rate ich euch: wenn es euch genehm ist,
wendet euch zu mir, daß ihr sicher lebt unter meinem Schutze!"
Als die Versammelten dies hörten, erhoben sie ein Freuden-
geschrei, schlugen mit den Speeren an ihre Schilde und niach-
ten ihn zu ihrem Könige. So erhielt er Siegberts Reich
und Hort, und das Volk desselben kam unter seine Herrschaft.
Daraus wandte sich Klodwig gegen Chararich, der einen
Stamm der salischen Franken beherrschte. Gegen ihn hegte
Klodwig einen alten Groll. Denn als er zum Kampfe mit
Syagrius gezogen war, hatte er Chararich zu Hülfe gerufen,
und dieser war zwar mit einem Heere ausgernckt, hatte ihm
aber keinen Beistand geleistet, sondern war während der Schlacht
abseits stehen geblieben, den Ausgang des Kampfes abwartend,
um sich dem Sieger anzuschließen. Deshalb suchte jetzt Klod-
wig ihn zu verderben. Er nahm ihn und seinen Sohn mit
List gefangen und ließ ihnen die königlichen Locken abschneiden
und sie zu Geistlichen weihen. Als nun Chararich darüber
33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches. 251
weinte, tröstete ihn sein Sohn, indem er sprach: „Am grünen
Holz sind diese Zweige verschnitten; bald werden sie wieder
ausschlagen und wachsen, denn der Stamm ist nicht verdorrt;
und der sie verschnitt, wird umkommen." Dies drohende
Wort wurde Klodwig hinterbracht. Da befahl er, beide zu
derselben Stunde zu enthaupten, und gewann so nach ihrem
Tode ihr Land und Volk und ihren Schatz.
Zu Cambrai lebte noch ein andrer salischer Gaukönig,
Namens Ragnachar. Mit ihm waren seine Franken sehr un-
zufrieden, weil er sich den schändlichsten Lüsten ergab. Klod-
wig wußte das und schickte den Großen in Ragnachars Reiche
goldne Armringe und Wehrgehenke — sie sahen freilich nur
aus wie Gold, in Wahrheit waren sie von künstlich vergolde-
tem Erz — zum Geschenk, damit sie ihn gegen ihren König
ins Land riefen. Und es geschah so. Klodwig zog mit einem
Heere gegen Ragnachar aus, und es kam zum Kampfe. Bald
sah Ragnachar die Seinigen besiegt und wollte selbst entfliehen.
Da ergriffen ihn seine Großen, banden ihm die Hände auf
den Rücken und führten ihn samt seinem Bruder Richar vor
Klodwig. „Wie konntest du", ries dieser, „so unser könig-
liches Geschlecht erniedrigen, daß du dich binden ließest?
Ruhmvoller wäre für dich der Tod gewesen." Und er erhob
seine Axt und spaltete ihm damit den Kopf. Darauf wandte
er sich zu Richar: „Und wenn du deinem Bruder beigestanden
hättest, er wäre nicht gebunden worden." Und damit hieb
er auch ihn nieder. Nach einiger Zeit merkten jene Großen
erst, daß die Geschenke des Königs unecht waren Da gingen
sie zu ihm und beschwerten sich darüber. Er aber antwortete
ihnen: „Mit Recht empfängt der falsches Gold, der seinen
Herrn mit Falschheit ins Verderben lockt. Laßt euch damit
genügen, daß ihr noch lebt; sonst möchtet ihr den Verrat an
eurem Herrn noch teuer büßen." — Nachdem Klodwig die
genannten Könige, seine eignen Blutsfreunde, umgebracht
hatte, ließ er nach und nach auch noch die übrigen Gaukönige
der verschiedenen Frankenstämme töten und verschonte selbst
seine eignen Verwandten nicht, bis er seine Herrschaft über
alle Franken ausgedehnt hatte. Ja, er soll sogar, nachdem
252
33. Klodwig, der Gründer des Frankenreiches.
er jene aus dem Wege geräumt hatte, mit scheinbarer Trauer
zuweilen zu seinen Leuten gesagt haben: „Ach, daß ich wie ein
Fremdling unter Fremden stehe und keine lieben Verwandten
habe, die mir beistehen können, wenn mir ein Leid widerfährt!"
Wenn dann nun jemand ihn trösten wollte und ihm verriet,
wo noch ein Blutsfreund von ihm lebe, entsandte der König
eilends Meuchelmörder und ließ den Verwandten umbringen.
So stand der furchtbare Mann am Ziele. Ganz Gallien
mit Ausnahme Burgunds, der Provence und der westgotischen
Striche im äußersten Südwesten, und dazu ein beträchtlicher
Teil Westdeutschlands von der Lippe bis zum Neckar, lag zu
seinen Füßen. Er erließ noch mehrere Zusätze zu dem alten
Volksrecht der salischen Franken und ordnete auf einer Synode
zu Orleans auch die kirchlichen Verhältnisse seines Reiches.
Dann starb er gegen Ende des Jahres öl 1 zu Paris. Er
hatte dreißig Jahre regiert und doch sein Leben nur auf füns-
undvierzig gebracht. Keiner seiner Zeitgenossen stand ihm
gleich an Kraft und Scharfblick des Geistes, außer Theoderich.
Aber alle jene schönen menschlichen Tugenden, die den hehren
Ostgoten als einen echten Germanen und wahren Christen
auszeichnen: Hochherzigkeit, Großmut, edle Begeisterung für
Kunst und Wissenschaft, wir suchen sie bei Klodwig vergebens.
Und dennock ist sein Lebenswerk, das Staatsgebäude, das er mit
wilder Kraft und schlauer List errichtet hat, dauernder gewesen,
als das glänzende Reich des großen Theoderich.. Aus dem
Frankenreiche ist der Staat des Mittelalters, sind die Staaten
Frankreich und Deutschland erwachsen, während das Ostgoten-
reich trotz allen Glanzes bald wieder verschwand. Das Zeitalter
war eben zu wild und hart, als daß aus hochherziger Scho-
nung ein dauerhafter Staat geschaffen werden konnte. Die
Zeit bedurfte eines Mannes wie Klodwig. Die Sage aber
ist gegen Menschenwert und Herzensgüte gerechter als die Ge-
schichte; darum hat sie das hehre Bild Theoderichs mit liebe-
voller Ehrfurcht treu bewahrt und erhöht, während sie sich
von dem unedlen Klodwig abwandte.
Die Söhne Klodivigs erweiterten das väterliche Reich, das
sie unter sich teilten, besonders durch Eroberung Burgunds
34. Gel im er, der letzte König der Wandalen.
253
und Thüringens. Sie waren an Wildheit und Tücke ihrem
Vater gleich. Noch lange tobte der kraftvolle, aber böse Geist
der Merowinger in ihren Nachfolgern. Dann aber ermattete
die Kraft, und es blieb fast nur die Bosheit. Die ganze
Merowingergeschichte ist ein Wirrsal blutiger Greuel, bis
endlich auch der letzte Funken von Tüchtigkeit, sa selbst von
wilder Bosheit erlischt und das Geschlecht Klodwigs in ver-
ächtlicher Schwäche versinkt und endet. Einem andern Ge-
schlecht, dem der Karolinger, war es beschieden, Klodivigs
Werk vom Untergang zu erretten und zu höherer Vollendung
zu führen.
34. Grlimrr, der letzte König der Wandalen.
Die Wandalen waren einer der vornehmsten Stämme der
Ostgermanen und den Goten sehr nahe verwandt, Nur fehlte
ihnen der milde, großherzige Sinn, der bei den Goten dem
kriegerischen Mut so schön zur Seite stand. In der ältesten
Zeit wohnten die Wandalen in Pommern und Mecklenburg;
um die Mitte des zweiten Jahrhunderts aber waren sie be-
reits ein Stück südlich gewandert und hatten sich in der
heutigen Lausitz und Schlesien niedergelassen. Das Riesen-
gebirge wechselte seinen alten Namen ..Askiburgisches" mit der
neuen Bezeichnung „Wandalisches Gebirge." Sie teilten sich
in zwei Stämme, in die Silinge und die Asdinge, deren
jeder unter besondern Königen stand. Nur ein kleiner Teil
des Volkes blieb lange in diesen Gegenden, die Hauptmasse zog
nach Südosten weiter. Um das Jahr 340 brachten die Goten
in Siebenbürgen den Wandalen eine schwere Niederlage bei.
Diese stellten sich unter römische Oberhoheit. Doch bald er-
starkten sie wieder, und zu Anfang des fünften Jahrhunderts
brach das ganze Volk, durch Hungersnot und Übervölkerung
gezwungen, nach Westen aus, um sich neue Wohnsitze zu
suchen. Unter einem König Godegisel überschritten sie am
l. Januar 406 den Rhein und brachen, mit Alanen und
Sueben vereint, in Gallien ein. Ein Sohn Godegisels,
Gunderich, führte sie drei Jahre später über die Pyrenäen
254 34. Gelimer, der letzte König der Wandalen.
und eroberte Spanien. Sie warfen das Los über das Land und
teilten es unter einander. Doch durch den Westgotenkönig Walja
erlitten sie die größten Verluste. Die Alanen hörten ganz aus
ein selbständiges Volk zu sein und verschmolzen mit den Wan-
dalen. Diese blieben zuerst in den nordwestlichen Gebirgen,
dann im heutigen Andalusien, das von den Wandalen noch den
Namen führt, noch etwa 10 Jahre lang aus der Halbinsel.
Dann aber wandten sie sich unter ihrem gewaltigen, ebenso
tapfern als listigen Könige Geiserich 429 über die Meer-
enge von Gibraltar nach Afrika hinüber. Die Nordküste
dieses Erdteils war damals die reichste und fruchtbarste Pro-
vinz des römischen Reiches. Geiserich eroberte das Land und
machte die uralte berühmte Stadt Karthago zu seinem Herr-
schersitz. Kühn hatte Geiserich sein germanisches Reich mitten
in die römische Welt am Mittelmeer hineingestellt, und unter
seinem starken Zepter waren die Wandalen weit gefürchtet
als mächtige Kriegshelden und Seeräuber. Wie sie einst
Rom plünderten, ist oben erzählt worden. Als Geiserich
477 starb, hinterließ er seinem Sohn ein blühendes Reich;
aber die Blüte war nicht von langer Dauer.
Die Wandalen waren, als sie Asrika eroberten, ein durch
seine strengen, keuschen Sitten ausgezeichnetes, frisches Natur-
volk gewesen. Aber nach Geiserichs Tode widerstanden sie
nicht lange den Lockungen der üppigen Natur, des weichlichen
Klimas und der gänzlich verdorbenen Sitten der römischen
Einwohner. Sie ergaben sich einem ausschweifenden Leben
und schwächten dadurch ihre Lebenskraft. Dazu kam, daß die
katholischen Römer ihnen als Arianern mit tödlichem Hasse
gegenüber standen und nur auf eine Gelegenheit lauerten, das
Joch der blondlockigen Barbaren abzuschüttelu. Nur die Mauren,
die tapfern Bewohner der nordasrikanischen Gebirge, hielten
treu zu den germanischen Gebietern.
Nachdem der Sohn Geiserichs Thrasamund die Krone
nicht unrühmlich getragen hatte, folgte ihm Hilderich in der
Herrschaft. Er war gutmütig, doch seine Güte ging nicht
aus Edelsinn, sondern aus Schwäche hervor. Durch auf-
fallende Begünstigung der katholischen Römer erregte er die
34. Gelimer, der letzte König der Wandalen. 255
Unzufriedenheit des Volkes. Als er nun gar 6000 Goten,
welche Theoderich der Große einst seiner Schwester, der Ge-
mahlin Thrasamunds, als Ehrengeleit nach Afrika mitgegeben
hatte, niederträchtigerweise ermorden ließ, da bildete sich
eine Verschwörung gegen den unfähigen Fürsten. Der elende
Hilderich wurde vom Thron gestoßen und der kriegstüchtige
Gelimer, ein Vetter Hildcrichs, zum König erhoben. Dieser
warf den Abgesetzten ins Gefängnis und ergriff alsbald
selber die Zügel der Herrschaft. Nun war aber Hilderich ein
guter Freund des oströmischen Kaisers Justinian. Kaum ver-
nahm dieser das Schicksal seines Freundes, als er Botschaft
an Gelimer sandte und diesen bat, sich wenigstens mit der
thatsächlichen Herrschermacht zu begnügen und seinem Ver-
wandten den Königstitel zu lassen. Doch Gelimer wies den
Gesandten ab und verschärfte noch die Haft des Gefangenen.
Nun forderte der Kaiser, Gelimer solle ihm den alten König
ungekränkt zuschicken. Aber Gelimer gab eine verächtlich ab-
weisende Antwort. Da schloß Justinian mit den Persern, gegen
die er zu Felde lag, rasch Frieden und sandte seinen Feld-
herrn, den bewährten Kriegsmeister Belisar, im Sommer des
Jahres 533 mit einem Heere zu Schiss nach Afrika. Zu-
gleich empörten sich die wandalischen Statthalter von Tripolis
und Sardinien gegen Gelimer. Eben traf dieser einige An-
stalten, um die Abtrünnigen wieder zu unterwerfen, als er
die Kunde erhielt, ein kaiserliches Heer sei fünf Tagereisen
von seiner Hauptstadt Karthago gelandet und befinde sich be-
reits aus dem Marsche dahin. Alsbald befahl er, den ge-
fangenen Hilderich, den er für den Anstifter des feindlichen
Angriffs hielt, samt seinen Verwandten zu töten. Gelimers
eigener Bruder Ammata führte den grausamen Befehl aus.
Der Anführer des kaiserlichen Heeres, Belisar, der größte
Feldherr seiner Zeit, war ein schöner, großer Mann von
freundlichem Wesen, ohne Zweifel von germanischer Abkunft.
Seine Gerechtigkeit und Mäßigung, seine Sittenreinheit, Tapfer-
keit und Besonnenheit machten ihn überall beliebt. Am be-
wundernswertesten ist aber die Treue, die er als Diener seines
Herrn auch den lockendsten Versicherungen gegenüber allezeit
256 34. Gelimer, der letzte König der Wandalen.
bewährte. Nur gegen Feinde hielt er Trug und List für er-
laubte Mittel. Belisars ganzer Kriegsplan war darauf be-
rechnet, daß die römischen Einwohner Afrikas sofort von den
Wandalen zu ihm abfallen würden. Darum behandelte er
sie mit der größten Freundlichkeit. Aber auch viele Wandalen
hoffte er auf seine Seite zu ziehen. Deshalb ließ er überall
einen offnen Brief des Kaisers vorlesen, der also lautete:
„Wir sind nicht gekommen, um niit den Wandalen Krieg zu
führen und so die alten Berträge, die wir einst mit Geiserich
beschworen haben, zu brechen. Unsre Waffen sind allein gegen
einen Gewaltherrscher gerichtet, der euren rechtmäßigen König,
ihr Wandalen, in Ketten geworfen hat. Daher vereinigt euch
mit uns und befreit euch von schmachvoller Tyrannei." Doch
die Wandalen ließen sich durch diese heuchlerischen Worte nicht
bethören; nicht einer fiel vom Könige ab. Gelinier aber be-
rief nun seine wehrhaften Männer — öOOO der besten waren
freilich fern in Sardinien — zu den Waffen und befahl
seinem Bruder Ammata, sich von Karthago aus mit dem
kleineren Teile des Heeres in einen Hinterhalt bei der Stadt
Decimum zu legen. Dort sollte in einem Engpaß Belisar
vernichtet werden. Der König selbst nämlich, der sich im Osten
seines Reiches befand. wollte unvermerkt hinter Belisar her-
ziehen und ihn im Rücken angreifen, während Ammata ihn
von vorn anfiel. Aber der kluge Plan scheiterte an Ammatas
Unbesonnenheit. Dieser konnte den bestimmten Zeitpunkt nicht
abwarten und griff sechs Stunden zu früh an. Infolgedessen
ward er geschlagen und fiel selbst nach heldenmütigem Kampfe.
Belisar stellte darauf sein ganzes Heer wieder in Schlacht-
ordnung auf. Gelimer aber vergeudete, als er auf das
Schlachtfeld kam, die Zeit mit nutzlosen Thränen an der
Leiche seines Bruders. -Da griffen auf einmal die Kaiserlichen
heftig an. Nach verzweifeltem Ringen flohen die Wandalen.
Gelimer sah sich von seiner Hauptstadt abgeschnitten. Belisar
aber zog noch denselben Tag weiter nach Karthago, wo die
Bewohner ihm die Thore öffneten. Er begab sich ungehindert
auf die königliche Burg und setzte sich auf Gelimers Thron.
In derselben Halle, wo Gelimer seine Fürsten zu bewirten
34. Gelimer, der letzte König der Wandalen. 257
pflegte, ließ Belisar nun den Seinigeu das Mahl auftragen,
das am Tage zuvor für den siegesgewissen König bereitet
worden war. Da aßen sie nun Gelimers Gerichte, tranken
Gelimers Wein und ließen sich von Gelimers Sklaven be-
dienen. In der ganzen Stadt aber rührte sich nichts, und
Belisar hielt musterhafte Mannszucht. Er war nur darauf
bedacht, die ganz zerfallene Stadtmauer eiligst wieder Her-
stellen zu lassen. Der heldenmütige Geiserich hatte nämlich
einst die Mauern sämtlicher Städte seines Reiches nieder-
reißen lassen, damit seine Wandalen sich nicht auf sie, son-
dern nur auf ihre eignen Arme verlassen sollten. Doch war
dies mehr heldenmäßig als klug gehandelt, und deshalb hatte
auch Gelimer keinen Versuch machen können, seine Stadt zu
behaupten.
Einst, als das Wandalenvolk, von Hunger gezwungen,
zuerst seine Heimat in Schlesien verließ, war ein kleiner Teil
davon in den alten Wohnsitzen geblieben. Die Zurückbleibenden
bedangen sich von den Abziehenden das Recht aus, den diesen zu-
kommenden Teil des Gemeindeackers zu bestellen, bis sie einmal
wiederkehren würden. Als nun die Hauptmasse des Volkes
abgezogen war, bot das Land wieder genügende, ja reichliche
Nahrung für die Zurückgebliebenen. Sie bestellten die frei-
gewordenen Felder und genossen den Ertrag, betrachteten sie
aber nicht als ihr Eigentum. Ein Vierteljahrtausend verging,
mit ihm ein Geschlecht nach dem andern. Da hörten die
Wandalen in der Heimat, die Nachkommen ihrer in grauer
Vorzeit ausgewanderten Brüder hätten unter ihrem König
Geiserich ein gewaltiges Reich im fernen, schönen Süden ge-
gründet. Darüber freuten sie sich sehr, hatten aber keine
Lust auszuwandern, sondern dachten vielmehr, jetzt sei die Zeit
gekommen, wo sie das Recht, das den Nachkommen der Aus-
gewanderten noch immer an der Feldverteilung zustand, für sich
erlangen zu können. Darum schickten sie Gesandte, die den
weiten, weiten Weg vom Riesengebirge bis nach Karthago
glücklich zurücklegten, vor Geiserich traten und also sprachen:
„Wir Wandalen in der alten Heimat freuen uns herzlich
über das Glück unsrer Brüder in Afrika. Da wir aber nicht
Klee, Die alten Deutschen. 17
258 34. Gelimer, der letzte König der Wandalen.
länger imstande sind, euer Anrecht an die heimatliche Flur,
die eure Urväter verlassen haben, zu wahren, so bitten wir,
ihr wollet jenes euer Recht, falls ihr keinen Wert mehr dar-
auf leget, uns ohne Entgelt überlassen, damit wir als un-
bestrittene Eigentümer alles heimische Land unter uns verteilen
und gegen jeden Feind verteidigen können." Geiserich und
die Seinen fanden diese Bitte ebenso verständig als gerecht
und wollten schon thun, wie die Gesandten baten; da erhob
sich ein edler, hochangesehener Greis von großer Weisheit und
sprach warnend: „Meine Brüder, williget hierein niemals!
Denn wenn wir auch eines schier unglaublichen Glückes teil-
haft geworden sind, so steht doch kein menschliches Werk auf
festem Grund. Nichts Bestehendes ist sicher, und in der
Zukunft ist nichts unmöglich. Wer weiß, ob ihr nicht der-
einst gern in den alten Stammsitzen eine Stätte suchen werdet,
wo ihr euer Haupt niederleget." Geiserich war von dieser
Warnung tief ergriffen und stimmte dem Greise bei. Die
Gesandten mußten unverrichteter Dinge heimkehren. Damals
verlachten die Wandalen die Weisheit des Greises; nun aber,
nur ein Jahrhundert später, gedachten sie traurig seiner Worte
wie einer Weissagung. Jetzt freilich konnten sie nicht in die
frühere Heimat zurückkehren; denn sie hatten keine Schiffe zur
Überfahrt, und überall umgaben sie Völker, die sie sich zu
Feinden gemacht hatten und die ihnen den Weg versperrten.
Der geschlagene König Gelimer hatte sich unterdes in die
Ebene bei der Stadt Bulla, vier Tagereisen westlich von
Karthago zurückgezogen und dort die noch übrigen Wandalen
um sich versammelt. Aber es war nur ein kleines Häuflein.
Eilig entsandte daher Gelimer Botschaft an seinen Bruder
Zazo, einen wackren Helden, den er mit Heeresmacht nach
Sardinien geschickt hatte, um die abgefallene Insel wieder zu
unterwerfen. Der tapfre Zazo las seines Bruders Brief und
teilte ihn seinen Wandalen mit. Sie hatten den Aufstand
bereits mit starker Hand gedämpft. Nun war ihr Schmerz
groß, und doch mußten sie schweigend ihr schweres Leid tragen,
damit die Sardinier nichts inne würden. Schnell segelten sie
ab und langten nach drei Tagen an der afrikanischen Küste an.
34. Gelimer, der letzte König der Wandalen. 259
wo Mauritanien und Numidien aneinandergrenzen. Von hier
eilten sie nach den Gefilden von Bulla, wo sie die Trümmer
ihres Volkes fanden. Gelimer und Zazo hielten sich, als sie
sich begegneten, lange weinend umschlungen. Viele ihrer
Helden folgten dem Beispiel der Fürsten.
Hierauf zog Gelimer mit allen Wandalen, die ihm noch
geblieben waren, vor Karthago und lagerte eine Zeitlang un-
fern der Stadt. Lange kam kein Feind zum Vorschein, bis
endlich Belisar beschloß, sich von der gefährlichen Nachbarschaft
zu befreien. Er rückte mit seinem Heere aus und stieß bei
Trikamarum, eine halbe Tagereise südwestlich von Karthago,
auf das Lager der Wandalen. Die beiden Heere brachten die
Nacht in geringer Entfernung von einander zu. Am fol-
genden Morgen ließ Gelimer Weiber, Kinder und alle Habe
in die Mitte des Lagers bringen, sprach den Seinigen Mut
ein, führte sie um Mittag hinaus aufs Feld und gebot
ihnen, in der Schlacht keine andre Waffe als das Schwert
zu gebrauchen. An den Usern eines seichten Flüßchens stellten
sich die beiden feindlichen Heere auf. Lange standen sie so
einander gegenüber,-niemand wagte, den Kampf zu eröffnen.
Endlich griff Belisars-Unterfeldherr Johannes die Mitte des
Wandalenheeres, wo Zazo befehligte, an. Doch er wurde
zurückgeschlagen. Und auch ein zweiter Ansturm mißglückte.
Die Germanen standen unbeweglich wie Mauern. Mit aller
Macht erneuerte er zum dritten Male den Angriff. Wieder
hielten die Wandalen stand; aber nun entspann sich ein wü-
tendes Handgemenge. Eine Menge der trefflichsten Wandalen-
helden fielen, unter ihnen Zazo selbst. Da begann die
Schlachtreihe der Seinigen zu wanken. Und nun rückten die
berittenen Schützen Belisars mit lautem Geschrei vor und
griffen von allen Seiten an. Endlich, nach heldenmütiger
Gegenwehr, lösten sich die Reihen der Wandalen. Acht-
hundert Kämpfer waren gefallen, als die übrigen sich er-
mattet ins Lager zurückzogen. Aber Belisar ließ ihnen keine
Zeit zum Ruhen, sondern ging sogleich mit seiner ganzen
weit überlegenen Macht zum Sturm auf das Lager los. Da
ereignete sich etwas Seltsames. Derselbe Mann, den die
17*
260 34. Gelimer, der letzte König der Wandalen.
Römer bewundernd den wandalischen Achilleus nannten, der
tapfre Gelimer, ließ sich von fassungslosem Schmerz über-
wältigen. Der Tod seines letzten, geliebtesten Bruders und
das Unglück, das über ihn selbst hereinbrach, hatte seine Seele
zerschmettert. So handelte er nicht wie ein Held, sondern
schwang sich, ohne ein Wort zu sagen, auf sein Roß und
jagte auf dem Wege nach Numidien davon. Aufs tiefste
erschüttert ritt ihm sein kleines Gefolge schweigend nach. Das
übrige Heer merkte von dein Vorgänge anfangs nichts. Als
sich aber die Kunde verbreitete, der König sei entflohen, und
zugleich die Römer im Sturmschritt anrückten, da entstand ein
unbeschreiblicher Schrecken und eine grenzenlose Verwirrung.
Die Männer stießen Verwünschungen aus und riefen einander
im Dunkel der Nacht ratlos an, die Kinder schrieen, und die
Weiber wehklagten. Zuletzt loste sich alles in wilder Flucht
auf. Die Kaiserlichen, die sich des Lagers mit allen Schätzen
bemächtigten, setzten den Flüchtigen nach und verfolgten sie
die ganze Nacht hindurch. Die Männer wurden niedergehauen,
die Weiber und Kinder als Sklaven weggeschleppt. Noch war
das Jahr 533 nicht zu Ende gegangen, als die Macht der
Wandalen bereits in Trümmern lag; hundertuudfünf Jahre
waren verstrichen, seit Geiserich mit seinen Heldenscharen das
stolze Wandalenreich gegründet hatte. Die kümmerlichen Reste
des führerlosen Volkes hatten, seit sie sich vom Könige ver-
lassen sahen, allen Mut verloren. Sie sammelten sich nicht,
sondern streiften zerstreut umher, viele flüchteten in die Kirchen
der Städte. Belisar ließ ihnen die Waffen abnehmen und sie
in sicherem Gewahrsam halten. Aber einen Mann mußte er
noch in seine Gewalt bringen, ohne den sein Triumph des
höchsten Glanzes entbehrt haben würde, den flüchtigen König.
In der numidischen Stadt Hippo erfuhr Belisar, daß sich
Gelimer in das steile, unzugängliche Felseugebirge Pappua an
der äußersten Grenze des Landes gegen die See hin geflüchtet
habe. Dort wohnten Mauren, die dem Könige treu ergeben
waren. Auf dem höchsten Berggipfel am Südabhange des
Gebirges lag, umgeben von schwindelnden Abgründen, ihre
uralte Feste Medeos. Hier blieb Gelimer mit seinem kleinen
34. Gelimer, der letzte König der Wandalen.
261
Gefolge in treuer Hut. Belisar mußte, zumal es Winter
war, von einem Angriff auf dieses Felsennest absehen. Wäh-
rend er daher selbst nach Karthago zurückkehrte, trug er einem
seiner Feldherrn, dem wackern Faras, auf, den Berg mit
einer auserlesenen Schar zu belagern. Faras wie seine Krieger
waren Germanen, sie gehörten dem kleinen Volke der Heruler
an, das einst in grauer Vorzeit unweit der Wandalen am
Strand der deutschen Ostsee gehaust und später hinter den
Goten her nach der Donau ausgewandert war. So hielt
denn ein Germane im Dienst des oströmischen Kaisers sorglich
Wache, daß Gelimer, der germanische Fürst, weder entkomme
noch Lebensmittel erhalle. Ein Sturm, den er, des langen
Wartens überdrüssig, einmal unternahm, mißlang, und so
mußte er sich damit begnügen, die Belagerten auszuhungern.
Und in der Thal geriet Gelimer mit seinen Getreuen bald
in die entsetzlichste Not. Während die wilden Mauren gegen
Hunger und Durst erstaunlich abgehärtet waren, hatten die
Wandalen ihre alte Enthaltsamkeit und Ausdauer in dem
afrikanischen Wohlleben längst eingebüßt. So lange nun noch
Getreide zu finden war, ertrugen die Belagerten alle ge-
meinsam ohne Murren ihr Schicksal, und der König der
prachtliebenden Wandalen lebte ganz wie die armen Mauren
von ungebacknem Korn. Als aber sogar dies einzige Lebens-
mittel auszugehen begann, da bemächtigte sich ihrer dumpfe
Verzweiflung. Faras erhielt Kunde von dem Elend und
sandte deshalb an Gelimer folgenden Brief: „Auch ich bin
Germane und verstehe mich nicht auf Schreiberei und viele
Worte. Ich rede, wozu das Herz mich zwingt und was ich
als einfacher Mensch empfinde. Warum, o Gelimer, bringst
du dich und die Deinen denn in solche Not? Hältst du die
Freiheit für ein so hohes Gut, daß du ihretwegen all dies
Leid erduldest. Wahrlich, es wäre dir besser, als Unterthan
des Kaisers zu leben als hier in dieser Einöde über wilde
Mauren Herr zu heißen. Sieh mich an! Auch ich bin von
adliger Herkunft und diene doch dem Kaiser, ohne daß ich
davon Schaden habe. Justinian, so höre ich, will dir sogar
den höchsten Rang, die Würde eines römischen Patricius und
262 34. Gelimer, der letzte König der Wandalen.
Senators, verleihen und dir ein schönes Landgut mit reichen
Einkünften schenken. O überwinde doch deine Niedergeschlagen-
heit und gieb der Vernunft Gehör! Dann wirst du nicht
länger zaudern, deiner Übeln Lage ein Ende zu machen." Unter
Thränen las der König dieses Schreiben und antwortete
dann: „Ich danke dir herzlich, lieber Faras, für deinen Rat.
Doch es ist mir ein unerträglicher Gedanke, mich einem Feinde
zu unterwerfen, der mich ohne jeden triftigen Grund ange-
griffen hat. Weiter weiß ich nichts zu schreiben. Mein Un-
glück raubt mir die Besinnung. Nur noch eine Bitte, lieber
Faras, sollst du niir erfüllen. Sende mir eine Harfe, ein
einziges Brot und einen Schwamm." Faras wußte sich die
letzten Worte nicht zu deuten. Da sprach der Überbringer des
Briefes: „Um ein Brot bittet dich Gelimer, weil er keines
gesehen hat, seit er auf Pappua sitzt. Mit dem Schwamm
will er seine Augen kühlen, die ihm von vielem Weinen fast
erblindet sind. Die Harfe aber will er schlagen, wenn er
das Lied singt, das er von seinem eigenen Leid gedichtet hat."
Als Faras dies vernahm, ergriff ihn tiefe Wehmut über die
Hinfälligkeit alles Menschenglückes. Gerührt erfüllte er des
Königs Bitte, doch ward er deshalb nicht lässig in der Be-
lagerung und ließ alle Zugänge zu der Bergfeste sorgfältig
bewachen. Drei Monate waren verstrichen, der Winter ging
zu Ende. Alle aus Pappua Weilenden waren von Ent-
behrungen aller Art so entkräftet, daß sie einen feindlichen
Sturm schwerlich hatten abwehren können. Und endlich brach
auch des Königs starrer Sinn. Ein maurisches Weib hatte
irgendwo einige Körner Getreide zusammengescharrt, gemahlen
und einen kleinen Kuchen daraus geformt, den sie in heißer
Asche auf dem Herde rösten wollte. Dabei saßen nun zwei
halbverhungerte Kinder, der Sohn des Weibes und ein edler
Wandalensprößling, der Schwestersohn des Königs. Beide
warteten mit Gier darauf, daß der Kuchen gar werde.
Endlich konnte der Waudalenknabe die Qual des Hungers
nicht länger ertragen. Er griff nach dem Kuchen und steckte
ihn, heiß und aschebedeckt, wie er war, in den Mund. Da
aber packte ihn das Maurenkind bei den Haaren und schlug
34. Geliiner, der letzte König der Wandalen. 263
iqn so lange auf den Kopf und ins Gesicht, bis der arme
kleine Prinz den halboerschlungenen Bissen wieder fahren ließ.
Tiefen jammervollen Auftritt hatte der König unbemerkt von
Aiifang bis zu Ende mit angesehen und wurde davon so er-
schüttert, daß sein ganzer Eigensinn brach. Noch in derselben
Stunde schrieb er an Faras, er wolle sich ergeben, wenn
Belisar sich ihm verbürge für die Versprechungen, die der Kaiser
ihm habe machen lassen. Faras sandte das Schreiben eiligst
an Belisar. Da dieser wünschte, den König womöglich lebend
vor den Kaiser zu bringen, so war er höchst erfreut und
schickte sogleich einen Bevollmächtigten nach dem Berge Pappua
mit dem Auftrag, dem Könige die ehrenvollste Aufnahme beim
Kaiser eidlich zuzusichern. Gelimer empfing die Bürgschaft
und ergab sich samt den Seinigen dem Faras, der ihn nach
Karthago, der früheren Hauptstadt Geliniers, führte. Als er
vor Belisar gebracht wurde, brach der Unglückliche in ein lang
anhaltendes Gelächter aus. Die Kaiserlichen schüttelten ver-
ständnislos ihre Köpfe und fragten seine Getreuen, ob der
König wahnsinnig geworden sei. Diese aber schüttelten traurig
den Kopf und sagten, der König sei ein Mann von scharfem
Verstand; sein Lachen habe folgenden Grund: aus dem könig-
lichen Geschlecht der Wandalen entsprossen, noch eben der Be-
sitzer einer Königskrone und der reichsten Schätze, habe er
als Flüchtling die entsetzlichsten Leiden erduldet und sei nun
ein Gefangener; da er nun so den Becher des Glückes wie
des Unglückes bis auf den Grund geleert habe, sei er zu der
Erkenntnis gekommen, daß alles Irdische eitel und nur eines
bittern Lachens wert sei.
Belisar hielt den gefangenen König und alle andern
Wandalen in ehrenvoller Haft und fuhr nach Konstantinopel
zurück. Hier gewährte ihm Justinian die seltene Ehre eines
Triumphs. In festlichem Aufzug führte der siegreiche Feld-
herr die unermeßliche Beute und die Schar der Gefangenen
mitten durch die Stadt vor den Thron des Kaiserpaares.
Unter den Beutestücken leuchteten namentlich die königlichen
Geräte hervor, als: goldene Thronsessel, Sänften, edelstein-
besetzte Kleinodien, goldene Trinkgefäße und das ganze Tafel-
264
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
geschirr des königlichen Hofes, außerdem ungeheure Mengm
gediegenen Silbers und eine Masse von andern Schätzen. Uid
in diesem Prunkzuge schritt auch der Mann einher, der noch
vor wenigen Monaten über alle diese Kostbarkeiten verfügt
hatte, der König Gelimer. Mit dem königlichen Purpur an-
gethan, umgeben von seinen Blutsverwandten und den schönsten
und größten Wandalen, ging der unglückliche Fürst einher.
Er weinte und seufzte nicht, sondern murmelte nur unauf-
hörlich die Worte des Predigers Salomonis vor sich hin:
„O Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles ist eitel." Als er vor
den Thron des Kaiserpaares trat, nahm man ihm den Königs-
mantel ab und zwang ihn, sich vor der kaiserlichen Majestät
in den Staub zu werfen. Er und seine nächsten Bluts-
freunde wurden mit Landgütern und Jahreseinkünsten anständig
ausgestattet. Den Titel eines Patricius aber enthielt ihm der
Kaiser vor, da sich Gelimer standhaft weigerte, zum katho-
lischen Bekenntnis überzutreten.
Auf seinem Landgut in Galatien ist der letzte König der
Wandalen lebenssatt gestorben. Sein Volk verschwand spurlos
vom afrikanischen Boden. Die herbe, frische Germanennatur war
allzu gewaltsam in die faulste römische Überbildung und Unsittlich-
keit hineinversetzt worden. Die Mischung aus beiden Gegensätzen
mußte eine ungesunde sein. Daher erklärt es sich, daß die
Nation so fast auf einen Stoß zerschlagen werden konnte,
während die verwandten Ostgoten sich derselben Feinde zwei
Jahrzehnte hindurch in immer wieder erneutem Heldenkampfe
erwehrten, bis sie endlich der Übermacht ruhmvoll erlagen.
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
Nach des großen Theoderich Tode (526) führte seine hoch-
sinnige und feingebildete, durch glänzende Schönheit aus-
gezeichnete Tochter Amalaswintha als Vormünderin ihres
Sohnes Athalarich acht Jahre lang die Herrschaft über das
weite Ostgotenreich gerecht und weise. Trotzdem mißbehagte es
den Goten, daß ein Weib sie regierte, besonders da Amalaswintha
eine große Vorliebe für römische Bildung zeigte und deshalb
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
265
auch ihren Sohn nach römischer Weise erzog. Sie ließ ihn
zur Schule gehen und gab ihm drei würdige Gotengreise zu
Erziehern. Als die Mutter nun einst dem Knaben wegen
einer Unart einen Backenstreich versetzte und Athalarich wei-
nend in den Männersaal lief, zürnten die edlen Goten, die
dort saßen, traten vor die Königin und sprachen: „Schul-
meister und alte Leute können keinen Gotenprinzen ziehen.
Wer sich vor der Rute fürchtet, wird kein tapfrer Krieger
werden. Das ist auch des großen Theoderich Meinung ge-
wesen. Theoderichs Erbe bedarf der Wissenschaft nicht. Darum
entlaß die römischen Lehrmeister und die alten Erzieher und
laß deinen Sohn mit Jünglingen seines Alters und seines
Volkes auswachsen, damit ein rechter König aus ihm werde."
Amalaswintha mußte dieses Ansinnen gegen ihre bessere Einsicht
erfüllen, und der Knabe, der sich der strengen Zucht entrückt
sah, überließ sich bald allen Ausschweifungen. Mit blutendem
Herzen sah die edle Frau die Hoffnungen schwinden, die sie
auf den Sohn gesetzt hatte.
Doch noch schwereres Leid war ihr beschieden. Um sich
und ihrem Kinde den Thron zu erhalten, mußte sie einem
Mann die Hand zur Ehe reichen, der ihrer in keiner Weise
würdig war. Theodahad hieß ein Amaler, der seinem
Mutterbruder Theoderich sehr unähnlich war und weder
menschliche Tugenden noch Hcrrschergaben besaß. Mit heiligem
Eide schwur er Amalaswintha, daß sie die Herrschermacht wie
bisher ausüben solle; kaum aber hatte er die Krone erlangt,
so ließ er ihre besten Ratgeber ermorden und sie selbst auf
ein Kastell im Bolsener See in strenge Haft bringen. Fast
zu gleicher Zeit war ihr einziger Sohn Athalarich, erst vier-
zehn Jahre alt, ins frühe Grab gesunken.
In solcher Not wandte sich die bedrängte Königin um
Hülfe an den listigen Kaiser Justinian in Konstantinopel.
Schon lange hatte dieser auf eine Gelegenheit gelauert, sich in
die gotischen Angelegenheiten zu mischen; denn er neidete den
Goten das schöne Italien und wollte das Land der römischen
Herrschaft zurückgewinnen. Er schickte deshalb sogleich einen
Brief an Amalaswintha, in dem er ihr seine Hülfe zusagte.
266
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
Doch sein Schreiben traf die unglückliche Fürstin nicht mehr
unter den Lebenden; der ruchlose Theodahad sandte Mörder
aus, die Theuderichs Tochter im Bade erdrosselten. So en-
dete eine edle, wohlmeinende Frau, deren hohe Begabung,
redlicher Wille und männliche Thatkraft ein besseres Schicksal
verdient hätten. Als Justinian das Ende der Königin er-
fuhr, war ihm dies willkommen. Er hatte nun einen Vor-
wand. unter dem er den Goten den Krieg ankündigen konnte,
und ließ dem Theodahad sogleich erklären, daß er nach dieser
Schandthat mit ihnen einen Krieg ohne Gnaden führen werde.
So begann ein Kampf, der nach zwanzigjährigem Ringen mit
dem Untergang des ganzen Ostgotenvolkes endete und der in
seinem Verlauf so viel Erhebendes und Erschütterndes darbietet,
wie kaum ein andrer Abschnitt unsrer ältern Geschichte.
Im Herbst des Jahres Ö35 landete der kaiserliche Ober-
befehlshaber Belisar, der Überwinder der Wandalen, aus Si-
cilien und eroberte in wenigen Wochen die ganze Insel, da sie
von den Goten nur schwach besetzt war und die Einwohner
ihm als Katholiken und Römer freudig entgegenkamen. Wäh-
rend so ein reiches Land den Goten verloren ging und ein
andres kaiserliches Heer im gotischen Dalmatien rasche Fort-
schritte machte, saß Theodahad unthätig und wie betäubt in
Ravenna. Endlich knüpfte er, statt ein Heer zu sammeln,
Unterhandlungen mit Justinian an, die aber zu nichts führten.
Die Kaiserlichen unterwarfen indessen ganz Dalmatien, und
Belisar setzte von Sicilien nach Italien über und eroberte
die südlichen Landschaften in kurzer Zeit. Nachdem er auch
die große und wichtige Stadt Neapel nach zwanzigtägiger
Belagerung durch List eingenommen hatte, erreichte die Er-
bitterung der Goten über Theodahads Trägheit den höchsten
Grad. Offen riefen sie, der Stamm des großen Theoderich
sei an Ästen und Zweigen verdorrt, man müsse sehen, ob
nicht anderwärts ein Mann zu finden sei, wie die Zeit ihn
fordere. Auf freiem Felde hielten sie ein Thing und wählten
einen tapfern, bewährten Krieger, Namens Witichis zu ihrem
Könige. Sie erhoben ihn nach alter Sitte auf den Schild,
schlugen klirrend die Schwerter zusammen und ließen die Po-
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
267
saunen erschallen. Als der feige Theodahad davon vernahm,
entwich er aus Rom, wo er sich eben aufhielt, und wollte
nach Ravenna fliehen. Aber unterwegs ward er von einem
Schwager des neuen Königs eingeholt und wie ein Opfertier
abgeschlachtet. Zu seinem und seines Volkes Unheil hatte der
Erbärmliche drei Jahre lang die Krone getragen.
Witichis sah, daß Theodahads Vorbereitungen zum Schutze
Roms ganz unzureichend waren; deshalb und weil die Franken,
von Justinian aufgewiegelt, mit einem Einfall in Norditalien
drohten, beschloß er zuerst nach Ravenna zu ziehen. Den
Bischof, den Senat und das Volk in Rom verpflichtete er
durch heilige Eidschwüre, den Goten die Treue zu bewahren,
und ließ 4000 Krieger zur Bewachung der Stadt zurück.
In Ravenna nahm er die Tochter Amalaswinthas, Mata-
swintha wider ihren Willen zur Gemahlin, um durch diese
Verbindung mit Theoderichs Geschlecht seine Herrschaft zu
sichern. Darauf entbot er von allen Seiten die Goten, be-
reitete alles zum Kampfe mit Belisar vor und schloß mit den
Franken einen freundschaftlichen Vertrag. Nun konnte er die
zahlreichen Scharen, welche die Grenze gegen die Franken ge-
hütet hatten, mit seinem Hauptheere vereinigen.
Inzwischen zog Belisar vor Rom und wurde von den
treulosen Bürgern sofort in die Thore eingelassen. Die kleine
gotische Besatzung konnte dies nicht wehren. Und so kam die
Stadt, nachdem sie unter deutscher Herrschaft 60 Jahre lang
Wohlthaten über Wohlthaten genossen hatte, im Dezember
des Jahres 536 wieder in die Hände eines römischen Kai-
sers. Witichis ergrimmte über den Undank der Römer und
brannte vor Ungeduld, sich der Stadt wieder zu bemächtigen.
Mit seinem ganzen Heer, 150 000 Mann, machte er sich
auf den Weg dahin. Belisar, der inzwischen die Befestigung
so rasch als möglich wieder hatte Herstellen lassen, zog sich
mit seiner Streitmacht sogleich hinter die Stadtmauer zurück.
Die Goten aber schickten sich zu einer Belagerung an, die ein
volles Jahr dauerte und bei der die Goten, trotz der un-
glaublichsten Tapferkeit, ungeheure Verluste erlitten, da sie
der schlauen Feldherrnkunst Belisars und der Stärke der Be-
268
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
festigungSwerke nicht gewachsen waren und dazu durch Krank-
heiten, die das ungesunde, heiße Klima mit sich brachte, ihre
Reihen schrecklich gelichtet sehen mußten. Nur ein paar ein-
zelne Ereignisse aus dieser unglückseligen Belagerung wollen
wir unfern Lesern hier mitteilen.
Einer der zahllosen Angriffe der Goten richtete sich auf
das alkberühmte Hadriansgrabmal, das jetzt die Engelsburg
heißt und der Stadt noch heute als Kastell dient. Es ist
ein ungeheurer Marmorbau, auf dessen viereckigem Funda-
mente sich ein mächtiger, runder Turm erhebt. Ringsum auf
der Zinne standen große, marmorne Götter- und Heldenbilder,
bewundernswürdige Denkmäler der alten Kunst. Schon da-
mals wurde dieses gewaltige Bauwerk als ein stark befestigter
Verteidigungsturm benutzt. Gerade darum aber hatte Be-
lisar hier keinen Angriff der Goten vermutet und deshalb
nur eine geringe Anzahl Verteidiger dahingestellt. Auf diesen
Hadriansturm also und auf das benachbarte Thor richtete sich
jetzt der Sturm der Belagerer, und zwar kamen sie ohne
Maschinen, nur mit Leitern und Bogengeschützen versehen. Von
ihren großen Schilden bildeten sie ein Schutzdach, unter dem
sie vorrückteu. So waren sie unbemerkt, durch eine Kirche
des Apostels Petrus, die außerhalb der Mauer stand, gedeckt,
schon ganz nahe herangerückt und brachen nun urplötzlich her-
vor. Vor den großen Schleudermaschinen der Kaiserlichen
brauchten sie sich nicht zu fürchten; denn diese schossen nur in
weitem Bogen in die Ferne; gegen die Pfeilscbüsse der Ver-
teidiger aber waren sie durch ihr Schilddach geschützt. Als
nun auf einmal die Goten heranstürmten und schon die
Sturmleitern anlegten, standen die Kaiserlichen wie gelähmt
vor Schrecken da, ohne Hoffnung auf Rettung. Da sprang
einer von ihnen auf eine der marmornen Göttersäulen zu
und stieß sie so gewaltig an, daß sie wankte und auf das
marmorne Estrich stürzte, wo sie in viele Stücke zer-
schmetterte. Die Trümmer begann er aus die Goten hinab-
zuschleudern. Die andern folgten seinem Beispiele. Sie zer-
schlugen eine Menge der herrlichsten Bildsäulen, faßten mit
beiden Händen die ungeheuren Blöcke und warfen sie auf die
35. Der Ostgotcnkönig Witichis.
269
Köpfe der Stürmenden hinunter. Manches edle Kunstwerk
des Altertums ging in dieser Stunde verzweifelter Gegen-
wehr zu Grunde. Die alten Heidengötter hatten gleichsam
zum letzten Male in eigner Person ihre Stadt geschirmt;
denn unter dem Hagel des kostbaren Gesteins wichen die
Goten zurück. Der Angriff auf den Hadriansturm und das
Thor war abgewiesen.
Einst wagten die Kaiserlichen sich in offner Feldschlacht
mit den Goten zu messen. Aber die germanische Heldenkraft
konnte sich hier ungehindert durch Turm und Mauer ent-
wickeln, und geschlagen mußten die Angreifer sich zurückziehen.
Seitdem getrauten sie sich nicht wieder zu einer Schlacht aus-
zurücken, sondern thaten dem Feinde nur durch kleine Aus-
fälle Abbruch. Bei einem derselben ereignete sich ein seltsamer
Zufall. Unter einem großen Teile Roms und der Umgegend
ziehen sich die Katakomben hin, gewölbte Gänge und Kammern
von etwa 5 Fuß Breite und 7 Fuß Höhe, die ursprünglich zu
ländlichen Begräbnisplätzen dienten und von den ersten Christen
in Rom zu geheimen Versammlungsorten benutzt worden waren.
Nun wurden einmal bei einem Ausfall der römischen Besatzung
die Goten an einer Stelle weit zurückgeworfen. Aber plötzlich
wendeten sie sich wieder und griffen die Verfolger an, unter denen
eine große Verwirrung entstand. Im Gedränge stürzte ein römi-
scher Fußsoldat in den verborgenen Eingang eines solchen Gewölbes.
Er wagte aber weder um Hülfe zu schreien, weil ganz tu der
Nähe ein gotisches Lager war, noch konnte er aus der Grube
herauskommen, da nirgends Stufen angebracht waren. So
sah er sich gezwungen, die Nacht in dem Gewölbe zuzubringen.
Am folgenden Tage wurde das Gefecht erneuert, wobei wie-
derum die Goten zurückgedrängt wurden. Da fügte es der
launische Zufall, daß einer der gotischen Streiter in dieselbe
Höhle stürzte. Die gemeinsame Not und ihre wunderliche
Lage ließ beide alles Hasses vergessen, sie schlossen Frieden
und Freundschaft und schwuren sich zu, einander zur Rettung
ihres Lebens aus allen Kräften behülflich zu sein. Darauf
erhoben sie einmütig ein gewaltiges Geschrei, das sie so lange
fortsetzten, als sie konnten. Inzwischen waren die Goten,
270
35. Der Ostgotenkönig Witichls.
wie am vorigen Tage, wieder Herren des Schlachtfeldes ge-
worden, und als sie nun in die Nähe der Grube kamen,
vernahmen sie mit Staunen ein unterirdisches Gebrüll,
gingen dem Schalle nach, fanden das Loch im Erdboden,
lugten hinunter und fragten, da sie wegen der Dunkelheit,
die unten herrschte, nichts erblicken konnten, wer da unten
so fürchterlich schreie. Die beiden Leidensgefährten hatten
unterdessen Zeit genug gehabt, ihre Verabredung zu treffen.
Demgemäß schwieg der Römer still, der Gote aber rief in
seiner Muttersprache hinauf, er sei bei dem letzten Gefecht
hier hineingefallen, und bat, sie möchten ihm ein Seil hinab-
lassen, daß er herauskommen könne. Seine Volksgenossen be-
eilten sich natürlich, sofort seine Bitte zu erfüllen, ließen ein
Seil hinunter und glaubten niemand anders als einen Goten
hinaufzuziehen. Unten aber sprach der Römer zu dem Goten:
„Lieber Freund, laß mich zuerst zugreifen. Denn wenn deine
Waffenbrüder dich zuerst herauszögen und hörten, ein Feind
sitze noch unten, so würden sie sich um mich wenig kümmern,
und ich müßte elendiglich verhungern. Wenn ich aber zuerst
hinaufkomme, so werden sie dich sicherlich nicht im Stiche
lassen." Der Gote gab ihm recht, und so griff der Römer
nach dem Seil und schwebte nach oben. Als nun die Goten
sahen, wen sie ans Tageslicht gezogen hatten, wunderten sie
sich nicht wenig. Der Römer aber hatte kaum die seltsame
Geschichte erzählt, da ließen sie schnell das Tau nochmals in
die Tiefe und zogen auch ihren Volksgenosfen heraus. Dieser
bestätigte alles, was sein Leidensgefährte gesagt hatte. Da
achteten die andern Goten getreulich den Vertrag, den die
beiden zusammen geschlossen hatten, nahmen ihren Kameraden
fröhlich mit sich ins Lager und ließen den Römer ungekränkt
seines Weges zur Stadt ziehen.
Einen rührenden Beweis von der Treuherzigkeit der
Goten giebt folgende Thatsache. Südlich von Rom, am
Tiberufer, nicht weit von der Stadtmauer, lag eine alte
Kirche, die dem Apostel Paulus geweiht war. Zwar befanden
sich dort keine Festungswerke, aber ein bedeckter Säulengang
führte von da bis an die Stadtmauer, und zu beiden Seiten
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
271
standen Gebäude, so daß der Ort gar leicht von den Goten
hätte befestigt werden und ihnen als Schanze dienen können.
Diese aber ließen die Kirche während der ganzen Belagerung
unbehelligt und zeigten eine so fromme Ehrfurcht vor dem
Ort, daß sogar die Priester dort ungestört wie im tiefsten
Frieden den Gottesdienst abhalten konnten, zu dem sich nicht
selten nianche von den frommen Deutschen einfanden. Für so
kindliche Biederkeit hatte aber freilich der kluge Belisar ebenso
wenig Sinn wie die sittenlosen Römer. Bei günstiger Ge-
legenheit bemächtigte er sich der Gebäude, legte eine starke
Besatzung hinein und verwandelte das Gotteshaus in ein
Kastell. Der Zug, so klein und unbedeutend er erscheinen
mag, verdient zur Ehre dieser unsrer deutschen Stammesbrüder
nicht vergessen zu werden.
Trotz allem Heldenmur, den die Goten ausboten, und der
unerniüdlichen Thätigkeit des wackern Witichis, gelang es den
Goten nicht, Rom zu erobern. Als nun der König vollends
vernahm, daß die Stadt Rimini, die nur eine Tagereise von
Ravenna lag, von kaiserlichen Truppen eingenommen worden
war, hob er in bitterem Unmut die fruchtlose Belagerung auf,
um wenigstens seine Königsstadt zu retten. Die einst so
stattlichen Reihen der Goten waren aufs furchtbarste gelichtet,
und den edlen König überkam tiefe Trauer. Nicht ohne
Grund hielt er sich für einen Menschen, der, zum Unglück
geboren, alle seine Unternehmungen scheitern sah.
Doch glückte es einem Schwestersohn des Königs Namens
Uraja, die von den Kaiserlichen besetzte Stadt Mailand wieder
zu nehmen, und in den Unternehmungen Belisars trat für einige
Zeit ein Stillstand ein, da der Kaiser Justinian die Thorheil
beging, den Oberbefehl zwischen ihm und einem andern Feld-
herrn, dem schlauen Narses, zu teilen, und infolge dessen
Uneinigkeit zwischen den beiden Befehlshabern ausbrach.
Schrecklich waren die Leiden, die der unselige Krieg über das
Land Italien brachte, und im Sommer des Jahres 539 er-
reichte das Elend einen unerhörten Grad. Mißwachs,
Hungersnot und Seuche brachten die unglücklichen Einwohner
zur Berzweiflung. Inzwischen berief Justinian, der seinen
272
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
Fehler einsah, den Narses wieder ab, und sogleich begann
Belisar den Goten einen festen Platz nach dem andern zu
entreißen. Witichis suchte in seiner Bedrängnis fremde Hülfe,
und nicht ganz ohne Erfolg. Er sandte nämlich Botschaft an
den Perserkönig Kosru und beredete diesen, dem Kaiser den
Krieg anzukündigen, durch den großes Unheil über das ost-
römische Reich kam. Justinian erschrak heftig und ließ dem
Belisar sagen, er werde schleunigst Gesandte an Witichis
schicken, die mit den Goten einen billigen Frieden schließen
sollten. Aber Belisar hatte es anders beschlossen; er kannte
die schlimme Lage der Goten und wollte ihre Herrschaft in
Italien gänzlich austilgen. Nachdem er eine feste Stadt, die
er lange belagern mußte, endlich eingenommen hatte, führte
er seine ganze Streitmacht vor die gotische Königsstadt. Bei der
eigentümlichen Lage Ravennas zivischen Flüssen, Seen und
Morästen, mußte er sich damit begnügen, alle Zufuhr abzu-
schneiden und die Stadt auszuhungern. Da er nun erfuhr,
in den öffentlichen Magazinen zu Ravenna liege eine große
Menge Getreide aufgespeichert, so bestach er einen Einwohner
der Stadt, diese Gebäude samt dem Getreide in Brand zu
stecken. So ging das Getreide, das die Hoffnung der Goten
noch aufrecht erhalten hatte, in Flammen auf, und Witichis
versank in immer tiefere Schwermut.
Endlich kamen Gesandte aus Konstantinopel, um den
Frieden mit den Goten abzuschließen. Witichis sollte die
Hälfte des königlichen Schatzes und das Land nördlich vom
Po behalten. Die Goten waren sogleich bereit, diese Be-
dingungen anzunehmen. Aber das Unglück, das sie nicht ver-
ließ, trat dazwischen. Belisar nämlich weigerte sich zornig,
seine Unterschrift unter den Vertrag zu setzen, und die Goten
fingen an zu argwöhnen, der Kaiser meine es mit dem
Frieden nicht ehrlich und erklärten, ohne Belisars Unterschrift
könne aus dem Vertrag nichts werden. Als nun die Hun-
gersnot in Ravenna den Mut d'er Goten vollends gebrochen
hatte, verfielen sie auf den Gedanken, dem Belisar selbst die
Krone anzubieten, wenn er vom Kaiser abfallen wolle.
Witichis selbst redete dem Feldherrn zu, den Thron zu be-
35. Der Ostgotenkönig Witichis.
273
steigen. Da stellte sich Belisar, als ginge er mit großer
Freude auf die Anerbietungen der Goten ein, und gelobte,
keinem Goten ein Leid anzuthun, ihr König zu werden und
als solcher in Ravenna einzuziehen. Und so wurde er denn
im Frühling des Jahres 540 in die ausgehungerte Stadt
eingelassen. Ohne Schwertstreich gaben die ermatteten Goten
ihre Königsstadt, ihren Schatz, ihr ganzes Reich in die
Hände des Feindes. So tief hatte das Unglück ihre Herzen
gebeugt. Die gotischen Weiber aber, welche gehört hatten,
die Feinde seien viel stärker, größer und zahlreicher als die
Goten, spieen nun ihren Männern ins Gesicht und wiesen
mit den Fingern auf die kleinen unkräftigen Gestalten der
Sieger, denen sie sich ergeben hatten.
Die verblendeten Goten sollten sogleich einsehen, daß sie
schändlich betrogen waren. Belisar dachte gar nicht daran,
vom Kaiser abzufallen und die Krone anzunehmen. Den
Witichis hielt er in ehrenvoller Haft, entließ die Goten zu
Ravenna nach ihren Wohnsitzen, damit sie ihre Felder in
Frieden bebauten, und nahm den ganzen Königshort in
Besitz, um ihn dem Kaiser zu llberbringen. Entmutigt ergaben
sich.die Besatzungen der Burgen und Städte, die sich noch
gegen Belisar behauptet hatten. Nur zwei hielten tapfer
stand: Hildibad in Verona und Uraja, Witichis Schwester-
sohn, in Pavia. Gerade damals nun, als Belisar so seinem
Kaiser bewundernswerte Treue, den Goten dagegen abscheuliche
Treulosigkeit bewies, wollte es das Schicksal, daß er von
etlichen Neidern in Konstantinopel bei Justinian verleumdet
wurde, als ob er nach der weströmischen Kaiserwürde trachte,
und daß Justinian ihn deshalb sofort aus Italien abberief
und in den Krieg gegen die Perser schickte.
Als nun die Goten erfuhren, daß Belisar sie getäuscht hatte
und sich zur Abfahrt rüstete, zogen alle, die noch nicht ganz an
der Zukunft ihres Stammes verzweifelten, nach Pavia zu Uraja.
Mit ihm zusammen weinten die starken Männer lange um
ihres Volkes Schicksal, dann forderten sie ihn auf, die Krone
anzunehmen und ihnen Führer zum Siege oder zu ehrenvollem
Todeskampfe zu sein. Er aber nannte ihnen als den tüch-
Klee, Die alten Deutschen.
274
36. Totila, der große Gotenheld.
tigsten Mann den Hildibad in Verona. Also sandten sie
nach diesem aus, der schnell herbeikam, begrüßten ihn als
König und baten ihn, sein Volk nicht zu verlassen, und er
leistete ihnen den Königsschwur. Belisar aber schiffte sich mit
Witichis, einigen der edelsten Gotenfürsten und dem ganzen
Königshort nach Konstantinopel ein. Der Kaiser zeigte sich gegen
den unglücklichen König und seine Gattin wohlwollend und be-
wunderte die Körpergröße und Schönheit der Goten. Belisar
schützte zwei Jahre lang das Reich vor den wilden Persern,
dann wurde er auf eine nichtige Anklage hin abberufen und
von Justinian seiner Würden und Ämter entsetzt. Schon
vorher war Witichis aus dem Leben geschieden. Justinian
hatte ihm die Senatorenwürde und den Ehrennamen eines
römischen Patricius verliehen. Aber das Weh über sein ver-
fehltes Dasein fraß dem beklagenswerten Mann am Herzen.
Er starb in der Blüte seiner Jahre (542). Er hat mit
männlichem Mut und nicht ohne weitblickende Klugheit ge-
rungen gegen ein übermächtiges Schicksal, dem er unterliegen
sollte. Wenige Fürsten mögen gelebt haben, denen das Glück
so unerbittlich abgewendet blieb.
36. Totila, der grohe Gokrnheld.
Schon unter Hildibad, einem tüchtigen Fürsten, schwang
sich die gotische Volksmacht neu empor. Im Anfang hatte
er zwar nur 1000 streitbare Männer bei sich und besaß außer
Pavia keine einzige Stadt; aber bald schlossen sich ihm fast alle
Bewohner Norditaliens an, und zwar nicht nur die Goten,
sondern sogar viele Italiener. Denn der Mann, den Ju-
stinian nach Belisars Abberufung zur Verwaltung des Landes
abgesandt hatte, machte sich und die kaiserliche Herrschaft durch
schmutzigen Geiz und schnöde Habsucht bei allen verhaßt. Ein
einziger kaiserlicher Feldherr wagte es, sich dem Gotenkönig
zur Schlacht entgegenzustellen; aber er erlitt durch biesen
eine schwere Niederlage. Leider fiel Hildibad, der so glän-
zend begonnen hatte, nach kaum einjähriger Regierung als
36. Totila, der große Gotenheld. 275
Opfer der Reiche eines seiner Leibwächter, den er unwissentlich
beleidigt hatte. Ein Gewaltherrscher, Namens Erarich, der
nicht einmal Gote, sondern Rüge war, und sich nach Hildi-
bads jähem Tode in der allgemeinen Verwirrung des Königs-
throns bemächtigte, verrichtete keine rühmlichen Thaten und
wollte sogar die Goten an den Kaiser verraten. Der Elende
wurde aber getötet, und die Goten erwählten den Bruder-
sohn des ermordeten Hildibad, den herrlichen Helden Totila
zu ihrem Könige, der im Herbst des Jahres 541 mit starker
Hand die Zügel der Herrschaft ergriff. Die Krone, die man
ihm bot, war wahrlich eine schwere, hoffnungsarme, und der
Krieg, zu dessen Führung er sich verpflichtete, der schwierigste,
den es geben konnte. Aber der thalkräftige und vaterlands-
liebende Mann besann sich keinen Augenblick, zu thun, was
nur in seinen Kräften stand; und was er im Verlaufe seiner
zehnjährigen Regierung für sein Volk gethan hat, das erfüllt
noch heute jedes Lesers Herz mit tiefer Bewunderung für
diesen edlen, weisen und tapferen König, in dem sich Milde
und Güte mit dem höchsten Heldenmute paarten.
Auf die Kunde von Totilas Erhebung vereinigten sich die
kaiserlichen Feldherren und zogen vor Verona, um diese wich-
tige Stadt zuerst den Goten zu entreißen. Da aber eilte
Totila herbei, sprach seinen Kriegern in einer herrlichen Rede
unwiderstehlichen Mut ein und jagte mit seiner begeisterten
Schar den an Zahl doppelt überlegenen Feind nach allen
Winden auseinander. Sämtliche Feldzeichen der Geschlagenen
wurden erbeutet, eine Schmach, die seit der Varusschlacht kein
römisches Heer erlitt. Auch eine zweite Schlacht endete mit einer
schimpflichen Niederlage der Kaiserlichen. Das ganze römische
Heer löste sich in wilder Flucht auf und suchte hinter den
Mauern fester Städte Schutz. Der edle König aber behan-
delte alle Gefangenen mit solcher Milde, daß selbst viele Feinde,
voll Bewunderung für solche Seelengröße, zu ihm übertraten.
Darauf durchzog er Italien bis über den Tiberstrom, eroberte
alle Festen, an denen er vorüberkam, und wendete sich, ohne
Rom zu berühren, nach Kampanien. In der Burg Cumä,
die er einnahm, befanden sich die Frauen mehrerer Senatoren.
18*
276
36. Totila, der große Gotenheld.
Ihnen that er, obwohl ihre Männer treulos von den Goten
abgefallen waren, nichts zu leide, behandelte sie auf das
gütigste und schenkte ihnen, ohne Lösegeld zu fordern, die
Freiheit. Durch diesen neuen Beweis seiner weisen Menschlich-
keit gewann er sich die Herzen vieler Römer. Hierauf unter-
warf er ganz Unteritalien. Überall trat er nicht als Eroberer,
sondern als rechtmäßiger König, als Nachfolger Theoderichs
des Großen auf, erhob die öffentlichen Abgaben und traf aller-
hand Anstalten zum Wohle seiner Länder. Die Kaiserlichen
aber wagten gar keinen offnen Kampf mehr und blieben hinter
den sichern Mauern der Städte, wohin sie gleich anfangs die
Flucht verschlagen hatte. Justinian sandte mehrere Feldherrn
hintereinander nach Italien, aber einer nach dem andern wurde
von den Goten geschlagen.
Nun wandte sich Totila zur Belagerung Neapels. Hier
begann bald der Hunger zu wüten, und als Totila den kaiser-
lichen Feldherrn, der die Stadt hatte entsetzen sollen, in
Stricken vor die Mauern führen ließ, so daß alle Bürger ihn
sehen konnten, verzweifelten die Belagerten an jeder Hoffnung
und erfüllten die Straßen mit Jammergeheul. Da regte sich
in des jugendlichen Königs Herzen das Mitleid, er berief die
Bürger an die Mauerzinnen und begann mit weithin tönender
Stimme: „Nicht aus Groll gegen euch, ihr Männer von
Neapel, stehe ich hier. Ich weiß gar wohl, daß ihr meinem
Volke immer hold gewesen und ganz gegen euren Willen in
die Hände der Feinde gekommen seid. Eure tapfre Verteidigung
gegen Belisar ist unvergessen. Aber auch denen, die euch jetzt
gebieten, zürnen wir nicht, da sie nur ihre Treupsticht gegen
den Kaiser erfüllen. Sie mögen ungekränkt von dannen ziehen,
wofern sie uns sogleich die Stadt übergeben. Niemandem soll
ein Leid geschehn. Ich bin bereit, dies mit heiligem Eidschwur
zu bekräftigen." Die Bürger wie die kaiserlichen Soldaten
wußten, daß ein Totila sein Wort hielt. Doch baten sie um
eine Frist von dreißig Tagen; wenn die verstrichen sei. dann
wollten sie sich ergeben. Totila verlängerte die erbetene Frist
aus eigenem Antriebe auf drei Monate und versprach, während
dieser Zeit weder einen Sturm noch sonst etwas Feindseliges
36. Totilci, der große Gotenheld.
277
zu unternehmen. Die Belagerten aber warteten das Ende der
Zeit nicht ab und öffneten den Goten zu Anfang des Jahres
543 die Thore.
Nachdem der König auf diese Weise Herr von Neapel
geworden war, zeigte er einen wahrhaft rührenden Edelsinn,
wie ihn wohl niemals sonst ein Feind geübt hat, einen Edelsinn,
der allein schon den Namen dieses Königs denen der besten
Männer aller Zeiten anreiht. Die kaiserlichen Soldaten in
der Stadt waren nämlich dergestalt durch Hunger entkräftet,
daß er fürchtete, sie würden sterben, wenn sie sich nach so
langem Darben plötzlich sättigten. Er ersann daher in seiner
Menschenliebe folgendes. Er ließ den Ausgehungerten mit
väterlicher Fürsorge anfangs nur ganz wenig Speise reichen,
allmählich aber von Tag zu Tag soviel zulegen, daß sie sich
unvermerkt wieder an die sonstige Nahrung gewöhnten. So
stellte Totila wie ein liebevoller Arzt ihre Kräfte wieder her.
Dann erlaubte er einem jeden dahin zu gehen, wohin ihm be-
liebte. Und da sie sich schämten nach Konstantinopel zu fahren,
so gab er ihnen sogar Pferde und Lasttiere, beschenkte sie mit
einem Zehrpfennig und riet ihnen, zu Lande nach Rom zu
ziehen. Auch gab er ihnen einige edle Goten als Sicherheits-
geleit mit auf den Weg. Nachdem er hierauf die Mauern
Neapels zum größten Teil hatte einreißen lassen, zog er eben-
falls ab. Er wußte recht gut, daß er nur im offenen Felde
Meister war, und wollte lieber in ehrlicher Schlacht Mann
gegen Mann kämpfen als mit listigen und künstlichen Mitteln.
Um diese Zeit kam ein Römer aus Calabrien zu ihm und
führte Klage, daß einer von des Königs Leibwächtern seine
Tochter, eine keusche Jungfrau, schändlich mißhandelt habe.
Der Schuldige, ein erprobter Krieger, leugnete sein Vergehen
nicht. Er hoffte wohl, sein Waffenruhm sichere ihn vor einer
Bestrafung. Aber der gerechte König befahl ihn zu verhaften
und versprach dem Kläger strenge Ahndung des Verbrechens.
Da legten einige der edelsten Goten Fürbitte ein für den ver-
dienten Mann. Der König hörte ihre Vorstellungen ruhig
an, dann sprach er: „Liebe Volksgenossen, wir wollen den
Schuldigen nicht der Strafe entziehen und dadurch selbst unser
278
36. Totila, der große Gotenheld.
allgemeines Heil aufs Spiel setzen. Wisset ihr nicht mehr?
Danials als Theodahad uns beherrschte und Habgier und
Zügellosigkeit höher stellte als Gerechtigkeit, wandte sich Gottes
Gnade von uns, so daß wir, ein großes Volk, von einem
kleinen Häuflein besiegt wurden. Jetzt aber, da uns Gott
für unsre Sünden genugsam bestraft hat, lenkt er unser Los
über unser Hoffen nach seinem Willen. O, beflecket euch nicht
durch neue Schuld, sonst möchte Gottes Gnade sich wieder von
uns wenden, und ihrer bedürfen wir doch wahrlich mehr als
aller andern Dinge." Die Gotenfllrsten billigten diese Worte
und überließen den Schuldigen ohne Widerspruch dem Gericht
des Königs. Dieser ließ ihn, nachdem er die Sache unter-
sucht hatte, hinrichten und sein Vermögen dem gekränkten
Mädchen übergeben.
Während so Totila neben edler Milde strenge Gerechtig-
keit walten ließ, raubten die kaiserlichen Soldaten den Land-
leuten ihre Habe und überließen sich gänzlich ihrer Frechheit
und schamlosen Lüsten. Kein Wunder, daß die Italiener sich
nach der Herrschaft des hochherzigen Totila sehnten. Unter
seinem Zepter ließ es sich ohne Zweifel lieblich wohnen, wie
unter dem des großen Theoderich. Aber das Verhängnis
wollte nicht, daß Goten und Italiener sich eines so glücklichen
Zustandes auf die Dauer erfreuen sollten. Als nämlich der
König eine kleine Schar entsandte, um die Seestadt Otranto,
den gewöhnlichen Landungsort der oströmischen Flotten, zu
erobern, und den größten Teil seines Heeres selbst vor Rom
führte, schickten die kaiserlichen Feldherren erschreckt Boten an
Justinian mit der Bitte um wirksame Unterstützung. Da sah
dieser sich genötigt, den Belisar, der ohne Ehrenerweisungen
in Konstantinopel lebte, zum zweiten Male nach Italien zu'
senden. Der edle Mann vergaß alle Kränkungen und kam
im Herbst des Jahres 544 bei Ravenna im Land seiner
Siege an, aber ohne Geld und ohne hinreichende Mann-
schaft, so daß er sich auf kleine Scharmützel beschränken mußte
und keine entscheidende Schlacht wagen durfte. Der Winter
und der Sommer verging. Während Totila von einem Er-
36. Totila, der große Gotenheld. 279
folg zum andern eilte, wartete Belisar vergebens auf die er-
hoffte Hülfe von Konstantinopel.
Nun schritt Totila zur Belagerung Roms. In der Stadt
lagen 4000 Kaiserliche unter dem Besehlshaber B ess as, einem
habgierigen Menschen, der die Notlage der Bürger nur dazu
benutzte, sich zu bereichern, indem er mit den Lebensmitteln
einen wucherischen Handel trieb. Belisar, zum Entsatz zu
schwach, bemächtigte sich wenigstens der Hafenstadt Portus,
wo er ungeduldig auf Verstärkungen wartete. Im Frühling 546
stieg die Not in Rom aufs höchste. Die ärmeren Bewohner
nährten sich bereits von Katzen und Mäusen, Nesseln und
Gras. Da beschloß man, einen angesehenen Geistlichen Namens
Pelagius an Totila abzusenden, damit er ihn um einen kurzen
Waffenstillstand bitte; wenn nach Ablauf der Frist keine Hülfe
vom Kaiser eintreffe, wolle man sich samt der Stadt ergeben.
Totila empfing den frommen Mann ehrfurchtsvoll. Ehe dieser
aber seine Rede anhub, sprach der König: „Alle Germanen
achten die Heiligkeit des Gesandten, und ich habe mir's zur
Aufgabe gemacht, tugendhaften Männern stets mit Ehrerbietung
zu begegnen. Aber eines muß bei aller Höflichkeit bestehen:
Aufrichtigkeit. Falsche Redensarten sind die schnödeste Belei-
digung, die ich mir denken kann. Darum, ehrwürdiger Mann,
ehe du sprichst, vernimm folgenden Rat: Rede mir weder von
den Sicilianern, noch von Roms Ringmauern, noch von den
zu uns übergelaufenen Sklaven! Denn die Sicilianer haben
die große Milde der Goten mit schnödem Undank vergolten,
indem sie ohne alle Not den Kaiserlichen die Thore öffneten;
die römischen Ringmauern schützen unsre Feinde, die sich nie-
mals zu ehrlichem Kampfe stellen, sondern uns mit allerlei
Hinterlist schädigen; den Sklaven aber haben wir versprochen,
sie niemals ihren alten Peinigern auszuliefern, und Treubruch
auf uns zu laden, dünkt mich eine unauslöschliche Schmach."
Auf diese Worte erwiderte Pelagius, er möge jetzt gar nicht
mehr seine Bitte Vorbringen; denn wenn der König schon den
Sicilianern so heftig zürne, was dürften dann die Römer von
ihm hoffen? Er müsse ihre Sache Gott anheimstellen. Damit
kehrte er nach Rom zurück, wo das Elend und die Verzweif-
280
36. Totila, der große Gotenheld.
lung immer fürchterlicher hausten. Einen Vater flehten seine
fünf Kinder in den rührendsten Ausdrücken um Brot an. Da
vermochte er den Jammer nicht länger zu ertragen. Er ging
mit seinen Kindern auf die Tiberbrücke, küßte und umarinte
sie der Reihe nach, verhüllte dann sein Haupt und stürzte sich
in die Flut. Und angesichts solches Elends ließ sich Bessas
die Erlaubnis, die Stadt zu verlassen, mit schwerem Gelde
abkaufen. Dennoch blieben nur 500 von allen Bewohnern
der Weltstadt zurück; die übrigen, so weit sie nicht bereits
dem Hunger erlegen waren, flüchteten sich. Belisars Versuche,
Rom mit Lebensmitteln zu versorgen, scheiterten an der Nieder-
trächtigkeit und Habsucht seiner Unterseldherren.
Endlich im Herbst 546 entschied sich das Schicksal der
verödeten Stadt. Vier kaiserliche Soldaten, die an einem Thore
Wache hielten, ließen sich in der Dunkelheit der Nacht an
Seilen von der Mauer nieder und begaben sich zu Totila,
dem sie versprachen, ihn und sein Heer in die Stadt einzulassen.
Nichts sei leichter als das, da es nur ganz wenig Wachtposten
gebe, um die sich außerdem kein Mensch kümmere; weil sie
nicht abgelöst würden, schliefen sie, wenn es ihnen beliebte;
von den wenigen Bürgern, die noch in der Stadt weilten,
sei keiner imstande, den Nachtdienst zu versehen. Totila, der
eine Hinterlist fürchtete, schickte zunächst zwei Goten mit ihnen
an den Ort, wo nach ihrer Angabe der Eintritt in die Stadt
möglich war. Dort kletterten alle sechs an den Stricken, die
die Soldaten hatten hängen lassen, auf die Brustwehr, ohne
daß jemand sie bemerkte. Oben zeigten ihnen die Wächter
genau, wie sie herauf und wieder hinunter gelangen konnten.
Die beiden Goten merkten sich alles und kehrten zu Totila
zurück. Als dieser den Bericht vernahm, freute er sich, doch
traute er in weiser Vorsicht noch nicht ganz. Die vier Sol-
daten kamen nach wenigen Tagen wieder zu ihm und forderten
ihn zu raschem Handeln auf. Er schickte abermals zwei Leute
mit ihnen, denen es wie den ersten erging. Und auch ein
drittes Mal lief alles genau ebenso ab. Nun beschloß der
König, die günstige Gelegenheit nicht unbenutzt zu lassen. Im
Dunkel der Nacht berief er in aller Stille sein Heer unter
36. Totila, der große Gotenheld.
281
die Waffen und führte es vor jenes Thor. Hier erklommen
vier tapfre Goten an den Seilen, welche die Wächter herunter-
ließen, die Brustwehr, liefen, ohne ein Hindernis zu finden,
zum Thore hinab, zerschlugen die Riegelbalken mit Beilen und
öffneten die Thorflügel. In geschlossenen Reihen rückte das
Gotenheer in die Stadt ein; denn der König duldete kein
Umherschwärmen. Bei dem Lärm und der Verwirrung, die
sich nach und nach erhob, flohen die kaiserlichen Soldaten samt
ihrem gewissenlosen Befehlshaber zu einem andern Thore
hinaus. Rur wenige blieben zurück; die meisten von ihnen
suchten in den Kirchen Zuflucht, in denen sich auch die 500
Einwohner geborgen hatten. Als man Totila fragte, ob er
den Besfas nicht verfolgen lassen wolle, schlug er dies ab und
antwortete: „Was kann den: Menschen Erfreulicheres geschehen,
als daß seine Feinde vor ihm fliehen?"
Der lichte Tag brach an. Da begab sich Totila zu Fuße
in die Kirche des Apostels Petrus, um zu beten und Gott
für sein Glück zu danken. Seine Krieger aber zerstreuten sich
plündernd durch die menschenleeren Straßen. Rur wer sich
widersetzte, wurde niedergehauen. Als der fromme Held die
Kirche betrat, kam ihm Pelagius, das Allerheiligste tragend,
entgegen und flehte: „O Herr, schone die Deinen!" Und als
Totila sagte: „Jetzt also nahst du als Schutzflehender?"
antwortete jener: „Ja, Herr, denn Gott hat mich zu deinem
Knechte gemacht. Du aber schone deiner Unterthanen!" Da
ließ der König sofort den Befehl ergehen, daß kein einziger
Römer mehr an seinem Leibe geschädigt werde. Viele vor-
nehme Bürger hüllten sich in Sklavenkleider und bettelten bei
den Goten um Speise, um nicht Hungers zu sterben. Sie
wurden ihrer Bitten reichlich gewährt. Unter diesen Unglück-
lichen entdeckten die Goten auch die Witwe des Boethius,
welche die Standbilder Theoderichs des Großen hatte zerstören
lassen, um so die Hinrichtung ihres Gatten zu rächen. Des-
halb erhoben jetzt die Goten gegen sie Klage und meinten, sie
sei des Todes schuldig. Aber Totila duldete nicht, daß ihr
ein Haar gekrümmt werde, und sorgte auch dafür, daß keine
einzige Frau noch Jungfrau eine Kränkung an ihrer Ehre
erfuhr.
282
36. Totila, der große Gotenheld.
Am nächsten Tage berief der König alle seine Goten vor
sich und sprach Worte zu ihnen, die ihm zu hoher Ehre ge-
reichen. Er stellte ihnen vor, wie sie, ein kleiner Rest des
großen Gotenvolkes, mit Gottes Beistand überall die Feinde
bezwungen hätten, und ermahnte sie, dafür in Demut dem
Allmächtigen zu danken und durch Güte und Gerechtigkeit
gegen die Unterworfenen Gottes Gnade zu verdienen. Anders
sprach er zu den römischen Senatoren, denen er in ernster
Rede ihren schnöden Undank vorhielt; nur Wohlthaten hätten
sie von Theoderich und seinen Nachfolgern genossen, und mit
nichts hätten sie ihren Wohlthätern vergolten als mit Abfall
und Lerrat. Zitternd standen die so Angeredeten vor dem
zürnenden Herrscher und mußten kein Wort zu ihrer Verteidigung
vorzubringen. Pelagius aber legte Fürbitte ein, bis der edle
Fürst auch hier Schonung und Milde übte und die tiefgebeugten
Männer durch freundlichen Zuspruch wieder aufrichtete. Hierauf
sandte er an den Kaiser Justinian einen Brief, welcher also
lautete: „Wir bitten dich, der Menschheit den holden Frieden
zu gewähren. Erinnere dich an deinen Vorgänger, den Kaiser
Anastasius, und an unfern großen König Theoderich, zwei der
weisesten und besten Fürsten, die vor allen andern Gütern den
Frieden als das herrlichste gepflegt haben. Handelst du ebenso,
so werden wir gern deine treuen Bundesgenossen sein, gegen
wen es auch sei." Das war gewiß ein edles Wort, aber der
herzlose Justinian blieb gegen solche erhabene Gesinnung un-
empsindlich. Alles, was er erwiderte, war: „Belisar hat meine
unumschränkte Vollmacht. Wende dich an ihn, wenn du unter-
handeln willst."
Entrüstet über diese gefühllose Antwort wollte Totila die
Mauern Roms gänzlich niederreißen lassen. Doch besänftigte
sich sein Zorn bald, und er befahl der Zerstörung Einhalt
zu thun, als kaum der dritte Teil der Befestigungen vernichtet
war. Wie die Zukunft lehrte, war dies ein verhängnisschwerer
Fehler. Kaum nämlich hatte Totila Rom verlassen, um nun-
mehr Ravenna, die Stadt Theoderichs, Italiens stärkste Fe-
stung, wieder in seine Gewalt zu bringen, da rückte Belisar
in die leere Stadt ein, ließ die Lücken in den Mauern, so
36. Totila, der große Gotenheld.
283
schnell es anging, wieder ausfüllen und kam in fünfundzwanzig
Tagen damit zustande. Die Bevölkerung strömte rasch wieder
zusammen, reichliche Vorräte wurden von der See her in die
Stadt geschafft. Erstaunt und bestürzt eilte Totila zurück. Er
ließ die gerechten Vorwürfe seiner Großen, daß er die Mauern
nicht ganz zerstört habe, schweigend über sich ergehen und ver-
suchte Rom, ehe die zerstörten Thore wieder hergestellt wären,
zu erstürmen. Am späten Abend kamen die Goten an der
Tiber an und schlugen ihr Lager aus, und schon am folgenden
Morgen stürmten sie mit Heldenmut die Mauern. Doch alles
Blut floß umsonst, und auch von allen späteren Angriffen
mußten sich die Goten mit schweren Verlusten zurückziehen.
Da gab Totila die Belagerung auf und zog sich im April
547 nach Tibur, setzt Tivoli, zurück, das er rasch befestigte
und wohin er alle seine Schätze brachte.
In den beiden folgenden Jahren verrichtete der König
noch manche glänzende Waffenthat; doch fielen keine entscheidenden
Ereignisse vor; denn auch Belisar führte den Krieg matt und
verdrossen, da es gänzlich an Hilfsmitteln fehlte, etwas Großes
zu wagen. Endlich bat er den Kaiser selbst, ihn aus Italien
abzuberufen, und Justinian erfüllte sofort seinen Wunsch und
sandte ihn wieder in den Kampf mit den Persern. Die Goten
waren inzwischen Herren von ganz Italien geworden. Kaum
hatte Belisar Italien verlassen, als auch Rom wieder in die
Hände des Königs fiel, der es selbst diesmal mit schonendem
Edelmut behandelte. Zudem hatte sich der unermüdliche
Herrscher eine bedeutende Kriegsflotte geschaffen, wie sie seit
Theoderichs Tagen nicht bestanden hatte und mit der er
Sicilien, Sardinien und Korsika wieder eroberte und das
Mittelmeer beherrschte. Trotz dieses Glückes trachtete er nur
danach, seinem Volke und dem gequälten Land Italien einen
dauernden Frieden zu verschaffen. Abermals ging ein Friedens-
bote von ihm zum Kaiser. Doch an dem kalten Justinian,
der niemals selbst das Schwert führte, prallte die eindruig--
lichste Vorstellung ab. Mit schnödem Spott wies er Totilas
maßvolle Anerbietungen zurück, und so sah sich dieser wieder
genötigt zum Schwert zu greifen. Justinian aber betraute
284
36. Totila, der große Gotenheld.
jetzt den Narses, einen Feldherrn, der dem Belisar gewachsen
war, mit dem Oberbefehl und rüstete ihn mit einer gewaltigen
Streitmacht und allen Hülfsmitteln auf das reichlichste aus.
Im Frühling 552 langte Narses, ein kleiner, hagerer Mann
mit blitzenden Augen, mit seinem Heere in Ravenna an und
zog von hier aus südlich gegen den Apennin, um auf dem
nächsten Wege Rom zu erreichen.
Als aber Totila vernahm, daß die Feinde mit großer
Hceresmacht anrückten, beschloß er ihnen entgegenzuziehen. In
allzu festem Vertrauen auf seine gute Sache verließ er das
sichere Rom. Nach alter germanischer Heldenweise wollte er
die Entscheidung durch redlichen, ehrenvollen Männerkamps
auf offner Walstatt herbeiführen. Eine große Schlacht sollte,
so hoffte er, Ruhm und Herrschaft der Goten befestigen und
seiner Krone gleichsam eine glanzvolle Weihe verleihen. Aber
es kam anders, als der hochsinnige Mann glaubte. Auf einer
weiten, hügeligen Ebene dicht am Fuße des Apenningebirges,
in der Nähe des Dorfes Taginä, wurden — es war im
Juni des Jahres 552 — die Heere des Narses und des
Totila einander ansichtig, machten aber eine Wegstunde von-
einander halt und schlugen ihre Lager auf. Darauf sandte
Narses einige Vertraute zu Totila, die ihm folgendes ent-
boten: „Lege die Waffen endlich einmal nieder! Mit deinem
kleinen Heere kannst du gegen meine Scharen nicht standhalten;
und selbst wenn es dir diesmal noch gelingen sollte, so steht
doch hinter mir die Macht des ganzen Römerreiches, während
das Häuflein, daß dich umgiebt, dein gesamtes Volk bildet.
Willst du aber durchaus kämpfen, so bestimme einen Tag für
die Schlacht." Totilas Antwort lautete: „Niemals werden
wir uns ehrlos ergeben, sondern unter allen Umständen kämpfen.
Die Schlacht aber soll binnen acht Tagen geschlagen sein."
So unbestimmt drückte er sich absichtlich aus, weil 2000 Reiter,
die ihm der kühne Teja, sein bester Feldherr, von Verona
her zuführen sollte, noch nicht eingetroffen waren. Indes
machte Narses die Seinigen, es waren meist germanische Söld-
linge, schon für den folgenden Tag schlagfertig. In der Thal
erschien auch Totila am nächsten Morgen schon mit den Goten
36. Totila, der große Gotenheld.
285
unter Waffen. Narses hatte einen Hügel besetzen lassen, den
der König ihm wieder zu entreißen wünschte. Aber durch die
Gunst des Orts geschützt schlugen die kaiserlichen Reiter einen
Angriff der Goten nach dem andern zurück, so daß Totila
endlich von dem vergeblichen Bemühen abstand. Daraus ruhte
der Kampf eine Weile. Narses wagte trotz seiner bedeutenden
Übermacht nicht anzugreisen. Doch hielten beide Feldherren ihre
Heere in Bereitschaft. Auf der einen Seite ließ Narses goldene
Armringe und andre Kleinodien auf Stangen herumtragen
und seinen Truppen zeigen, um die seilen Soldknechte durch
solche Lockungen zur Tapferkeit auzuregen, indem er sie zugleich
auf ihre gewaltige Überzahl und ihre weit bessere Bewaffnung
hinwies. Bor der kleinen Schar seiner Helden aber ritt Totila
die Reihen entlang und rief den treuen Mannen zu: „Zum
letzten Male, liebe Volksgenossen, richte ich heute Worte der
Aufmunterung an euch; denn dieser Tag muß der Goten
Schicksal entscheiden. Zusammengeschmolzen durch endlose
Kämpfe und Leiden, sind wir doch von höherem Mute beseelt
als jene dort. Sie sind um Geld gedungen und kämpfen um
Geld. Wir aber müssen heute alles in die Wage legen,
Glück, Ehre, Leben. Denn Flucht bedeutet für uns Unter-
gang. Wohlan, so streitet, eures Ruhms und eurer Ahnen
wert!" Nach diesen Worten ritt der Held aus einem pracht-
vollen Roß allein in den Raum zwischen den beiden Heeren,
um Zeit zu gewinnen und zugleich den Gegnern zu zeigen,
was für ein Mann er sei. Er hatte Kunde erhalten, die
2000 Goten unter Teja seien schon ganz in der Nähe, und
vor ihrer Ankunft wollte und konnte er die Schlacht nicht
beginnen. So sprengte er in goldstrahlender Rüstung, mit
purpurrotem, wehendem Helmbusch, herrlich anzuschauen, zwischen
die Heere und begann nach altem Germanenbrauch ein Waffen-
spiel. Zuerst spornte er sein Roß zu den zierlichsten Wen-
dungen und Sprüngen; dann warf er, in gestrecktem Galopp
dahinjagend, feinen Speer hoch in die Luft und fing ihn,
wenn er wirbelnd niedersank, bald mit der rechten, bald mit
der linken Hand, kunstvoll wechselnd, in der Mitte auf. In
stummer Bewunderung sahen selbst die Feinde zu, wie so der
286
36. Totila, der große Gotenheld.
Gotenkönig seine Gewandtheit zeigte, wobei er oft links und
rechts, über den Kopf oder den Schweif seines Rosses absprang,
um sich sogleich wieder hinaufzuschwingen, wie der kunstgeübteste
Reiter nicht vermocht hätte.
Mit solchem Waffenspiel brachte der ritterliche König den
Morgen hin, und da die Schar des Tesa noch immer nicht
kam, sandte er, um die Schlacht zu verzögern, einen Herold
mit Friedensvorschlägen an Narses. Allein dieser entgegnete:
„Totila hat genugsam seine Kampflust bezeigt; jetzt stellt er
sich, als wollte er mitten auf dem Schlachtfelde Frieden
schließen; doch dadurch läßt sich ein Narses nicht täuschen."
Endlich, gegen Mittag langte Teja mit den Seinen an. Da
ging der König mit seinem ganzen Heere ins Lager zurück und
befahl allen das Mittagsmahl zu genießen. Er selbst legte
eine andere Rüstung an. Dann führte er plötzlich seine Schar
gegen den Feind, den er zu überraschen hoffte. Aber der
vorsichtige Narses hatte seine Soldaten nur in Reih und Glied
einige Speisen zu sich nehmen und sich auf den Angriff gefaßt
machen lassen. Seine gefürchteten Bogenschützen stellte er so
aus, daß sie die angreifende gotische Reiterei von beiden Seiten
bestreichen konnten. Und in der That verlor diese schon beim
Ansturm in dem Pfeilhagel, der von beiden Seiten aus sie
einschwirrte, so viele Leute und Pferde, daß sie blutig ab-
gewiesen wurde und im Zurückziehen das eigne Fußvolk in
Verwirrung brachte. Die Goten fochten mit dem Mute der
Verzweiflung. Aber als es Abend ward und 6000 Tapfre
das Schlachtfeld bedeckten, da wandte sich der Rest zur Flucht
und wich todcsmatt der erdrückenden Überzahl der Feinde.
Diese verfolgten die Fliehenden, metzelten nieder, was ihnen
vor die Klinge kam, und ermordeten sogar nach der Schlacht
die gotischen Gefangenen.
Schon war die Flucht allgemein, da verließ auch Totila,
der letzten einer, die Walstatt. Es war schon ganz finster
geworden, als der Held endlich den vergeblichen Kampf ver-
loren gab. Nur fünf Getreue begleiteten ihn. Etliche Kaiser-
liche, die nicht wußten, wen sie vor sich hatten, setzten ihm
nach. Einer von ihnen war ein Gepide, Asb ad geheißen.
36. Totila, der große Gotenheld.
287
Dieser kam den Flüchtigen ganz nahe und holte auf Totila
aus, um ihm den Speer in den Rücken zu stoßen. Ein
junger Gote aber sah dies und schrie voll Entsetzen und Angst
für den geliebten Fürsten: „Hund, was beginnst du? Wagst
du, die Hand wider deinen Herrn zu erheben?" Kaum hörte
Asbad, daß er den König vor sich habe, so holte er mit aller
Kraft aus und bohrte ihm den Speer zwischen die Schulter-
blätter tief in den Rücken hinein. Der Stoß war tödlich.
Aber zwei der treuen Goten ritten rechts und links dicht an
den wunden König heran und nahmen ihn so in die Mitte.
Auf diese Weise setzten sie mit ihm die Flucht fort, obwohl
er kaum noch ein Lebenszeichen gab. Asbad erhielt von dem
Goten Skipuar einen Hieb ins Bein. Da gaben seine Ge-
fährten die Verfolgung auf und kehrten mit ihm um. Des
Königs Getreue aber glaubten im Dunkel der Nacht, die Ver-
folger seien ihnen noch auf den Fersen, und flohen weiter.
Endlich gelangten sie in ein Dörslein mit Namen Caprä.
Hier rasteten sie, hoben den König vom Roß, trugen ihn in
die Hütte einer armen Frau und verbanden ihm die schreckliche
Wunde. Er aber starb ihnen unter den Händen. Ein edles
Herz stand still. Da beweinten die treuen Männer ihren
geliebten Herrn, gruben ihm schnell ein Grab, zimmerten einen
einfachen Sarg und bargen den teuern Leichnam in die Erde.
Dann wichen sie von dannen.
Die Kaiserlichen wußten nicht, daß Totila gestorben sei,
bis ihnen die Frau, in deren Hütte er seine Heldenseele aus-
gehaucht hatte, es milteilte und sein Grab zeigte. Trotzdem
wollten sie nicht daran glauben und gruben an der Stelle
nach. Da fanden und öffneten sie den Sarg mit der Leiche
des Königs. Selbst den Feinden flößte der ernste Anblick
Ehrfurcht und Trauer ein. Sie wagten es nicht, den toten
Helden zu beschimpfen. Nur den blutigen Mantel und den
edelsteingezierten Königshut nahmen sie ihm, um diese Gegen-
stände dem Narses zu überbringen. Dann gaben sie ihn dem
Schoß der Erbe wieder.
So verlor Totila Thron und Leben, nachdem er elf Jahre
lang König der Goten gewesen war. Selbst der feindliche
288 37. Teja, der letzte König der Ostgoten.
Geschichtschreiber Prokop versinkt in schmerzliche Betrachtungen
darüber, daß ein so großer Held, trefflicher Fürst und edler
Mensch so traurig enden mußte.
37. Teja, der letzte König der Ostgoten.
Narses glaubte, mit Totila sei der letzte Held der Goten
dahingeschieden. Daß das kleine Häuslein, das von dem ruhm-
reichen Volke noch übrig war, noch einmal den Kampf erneuern
werde, hielt er nicht für möglich. Deshalb verfolgte er die
Trümmer des geschlagenen Heeres nach der Schlacht bei Taginä
nicht. Aber jene Goten, die dem allgemeinen Verderben
entronnen waren, eilten über den Po, wo ihnen P a v i a mit
seiner Umgebung noch unterthan war und Totila einen Teil
des neugesammelten Königshortes niedergelegt halte. Hier
sammelten sich die vielgeprüften Helden, musterten ihre furcht-
bar gelichteten Reihen und wählten den besten Mann, den sie
hatten, den kühnen Teja, zu ihrem Könige. Er war ein echter
Held und seines Vorgängers nicht unwürdig. Keinen Augen-
blick zögerte er eine Krone anzunehmen, die wahrlich eine
Dornenkrone war, und sich an die Spitze eines hoffnungslosen
Kampfes zu stellen. Er sorgte für neue Waffen, Rüstungen
und andre Kriegsbedürfnisse, übte sein kleines Volksheer sorg-
fältig und sammelte die zerstreuten Goten, die seit jener Flucht
versprengt umherirrten, zu seinen Fahnen. Narses ließ eine
Heeresabteilung zur Bewachung des Postusses zurück und zog
vor Rom. Die kleine Gotenschar, die Totila hier zurück
gelassen hatte, rüstete sich mutig zum Widerstand. Da sie
viel zu schwach war, um die ganze Stadtmauer zu besetzen,
hatte Totila die Hadriansburg mit der nächsten Umgebung
durch eine kurze Mauer vom übrigen Rom trennen und stark
befestigen lassen. Diesen Teil nur konnten sie verteidigen, die
übrigen Stadtbefestigungen mußten sie ganz unbesetzt lassen.
Ohne Schwertstreich kam Rom in die Gewalt des Narses,
der nun mit allen seinen Soldaten den Hadriansturm be-
lagerte. Gegen solche Übermacht vermochte auch der höchste
Heldenmut nichts. Das kleine Gotenhäuslein ergab sich, als
37. Teja, der letzte König der Ostgoten. 289
der kaiserliche Feldherr den tapfern Männern persönliche Sicher-
heit gelobt hatte.
Teja versuchte die Franken zu einem Wasfenbündnis zu
bewegen, wurde aber von ihnen abgewiesen. Da entschloß er
sich, allein mit seinen Getreuen das Äußerste zu wagen; auch
nicht vorübergehend kam ihm der Gedanke an Flucht. In
ihm lebte der Geist Totilas wieder aus. Den größten Teil
seines Hortes hatte dieser König zu Cumä, einer starken Feste
Kampaniens, niedergelegt. Hierhin sandte nun Narses eine
Abteilung seines Heeres, um die Burg zu belagern. Als
Teja dies vernahm, brach er mit seinem ganzen Gefolge nach
Süden auf, um den Königsschatz zu retten. Narses ließ ihm
den nächsten Weg verlegen, aber der kluge König zog in einem
weiten Bogen am adriatischen Meere entlang und gelangte aus
diesem Umwege dennoch nach Kampanien, ohne daß der Feind
davon etwas gewahr wurde. Aus die Kunde davon vereinigte
Narses sogleich alle seine Truppen und eilte schlagfertig dahin,
wo Teja eine vortrefflich gewählte Stellung eingenommen hatte.
Am Fuße des Besuvs, an den Ufern eines Flüßchens, das
jetzt der Sarno heißt, nicht fern vom Meere, schlugen die
Goten und ihnen gegenüber die Römer ihr Lager auf. Ob-
gleich nämlich das Gewässer nicht stark ist, so fließt es doch
in einem sehr tief eingeschnittnen Bett mit ganz abschüssigen
Ufern dahin und ist deshalb weder zu Fuß noch zu Pferde
überschreitbar. Die Goten hatten ihr Lager am linken
Ufer bei einer Brücke, die über den Fluß führte und die sie
besetzt hielten, und errichteten aus der Höhe des steilen Ab-
hanges hölzerne Türme, von wo sie schwere Wurfgeschosse auf
die Feinde schleuderten. Diese Stellung behaupteten die Helden
volle zwei Monate hindurch gegen die zehnfach stärkere Anzahl
der Feinde, die keinen Angriff wagten. Aber endlich gelang
es Narses, den Goten die Zufuhr von der See her abzu-
schneiden. Dort nämlich lag eine gotische Flotte, die das Heer
mit Lebensmitteln versorgte. Der ehrlose Befehlshaber dieser
Schiffe ließ sich von Narses bestechen und überlieferte ihm die
Flotte samt den Vorräten. Nun konnte Narses selbst eine
Menge kaiserlicher Schiffe zusammenziehen, mit denen er das
Klee, Die alten Deutschen. PA
290 37. Teja, der letzte König der Ostgoten.
Meer völlig absperrte, und stellte außerdem am rechten Fluß-
ufer Türme auf, von denen er die schändlich verratenen Goten,
die bereits an Nahrung zu darben begannen, beschießen ließ.
Die kleine Heldenschar geriet in nicht geringe Bestürzung
und zog sich nach dem Gipfel eines dem Vesuv benachbarten
Berges, Mons Lactarius, zu deutsch Milchberg, genannt,
wohin die Feinde nicht folgen konnten. Aber bald reute es sie;
denn hier fanden sie weder für sich noch für ihre Rosse irgend
welche Nahrung. Ihre Lage ivar verzweifelt. Darum wollten
sie lieber in ehrenvoller Schlacht den Tod suchen als dem
Hunger elend erliegen. Aus des Königs Befehl sprangen sie
von den Rossen und gaben ihnen die Freiheit. Dann stürmten
sie urplötzlich vor gegen die Feinde, die kaum ihren Augen
trauten, als sie das todesmutige Häuflein herbeieilen sahen.
Auch sie stiegen von den Pferden und nahmen den Kampf zu
Fuße an. Und nun — im September 552 — begann eine
Schlacht, die an die herzerschütternden Kämpfe im Nibelungen-
lied oder in der griechischen Ilias erinnert. Freilich kein rau-
schendes Heldenlied, nur den einfachen Bericht des wackern
Geschichtschreibers Prokop besitzen wir über den Todeskampf
der letzten Ostgoten; aber niemand wird seine schlichten Worte
ohne Rührung lesen; denn hier ist Geschichte, die ergreifender
ist als jede Dichtung.
Früh am Morgen, so erzählt Prokop, begann der Kamps,
der höchst würdig ist unvergessen zu bleiben, schon wegen der
Tapferkeit eines Mannes, der die Thaten der gefeiertsten Helden
des Altertums übertroffen hat, des Teja. Mit wildem Un-
gestüm gingen die feindlichen Heere auf einander los, die
Goten, weil sie einen ehrenvollen Tod suchten, die Kaiserlichen,
weil sie sich schämten, von einem so geringen Häuflein an
Heldenmut übertroffen zu werden. Vor der vordersten Reihe
der Seinigen stand König Teja mit Schild und Speer. Nur
wenige Begleiter waren ihm zur Seite. Wie die Feinde ihn
erblickten, glaubten sie, wenn er falle, werde der ganze Streit
ein Ende nehmen. Deshalb drängten sich die Beherztesten von
ihnen in großer Anzahl und in geschlossener Reihe nach ihm
hin, indem sie alle ihre Sperre auf ihn schleuderten. Er
37. Teja, der letzte König der Ostgoten. 291
aber fing alle Geschosse mit dem Schild auf, der ihn deckte.
Oftmals sprang er blitzschnell vor und tötete viele Feinde.
Und wenn sein Schild gänzlich von eingedrungenen Lanzen und
Pfeilen starrte, so reickte er ihn einem seiner Waffenträger
und ließ sich rasch einen andern geben. So focht der König
unermüdet den dritten Teil des Tages. Da ereignete es sich,
daß zwölf wuchtige Sperre in seinem Schilde steckten, die ihn
gewaltig belasteten, also daß er ihn nicht mehr nach Willkür
bewegen und die anstürmendcn Feinde abwehren konnte. Mit
lauter Stimme rief er deshalb seinem Waffenträger, ohne
jedoch nur einen Finger breit zurückzuweichen. Weder wandte
er sich um, den Schild aus den Rücken schivingend, noch kehrte
er sich zur Seite; sondern wie festgewurzelt stand er mit seinem
Schilde da, mit der Rechten Tod und Verderben verbreitend,
mit der Linken die Feinde zurückstoßend. So also rief er mit
dröhnender Stimme nach seinem Waffenträger. Dieser trat
mit einem neuen Schilde herzu, reichte ihn dem Könige und
nahm ihm den schwerbelasteten aus der Hand. Nur einen
einzigen Augenblick blieb während des Schildwechsels der König
ungedeckt, da fuhr zischend ein feindlicher Speer heran und
bohrte sich tief in des Helden Brust. Ohne einen Laut des
Schmerzes sank Teja zu Boden. Der letzte König der Ost-
goten war tot. Bei diesem Anblick wichen die Seinen voll
Entsetzen ein wenig rückwärts; die Kaiserlichen aber benutzten
die Bestürzung der Gegner, bemächtigten sich des königlichen
Leichnams und schlugen ihm das Haupt ab. Sie steckten
es auf eine Lanze, hielten es hoch empor und trugen es hin
und wider durch die Reihen, damit beide Heere es erblickten,
den Goten zum Schrecken, den Ihrigen zur Ermunterung.
Narses glaubte nun nicht anders, als die Feinde würden voll
Verzweiflung den Streit aufgeben. Aber dies geschah keines-
wegs, sondern sie kämpften bis zum Einbrüche der Nacht mit
gleichem Löwenmute fort, obwohl sie wußten, daß ihr König
gefallen war. Erst als es völlig dunkel war, trennten sich
die Streiter und brachten die Nacht unter den Waffen zu.
In der Dämmerung des folgenden Morgens erhoben sie
sich wieder und begannen von neuem die Schlacht. Und wieder
19*
292
37. Teja, Der letzte König Der Ostgoten.
ward es Mittag und ward es Abend, ohne daß einer nur
eines Fußes Breite gewichen wäre. Aus beiden Seiten floß
das Blut aus oielen Wunden. Tie Goten wußten wohl, daß
sie ihren letzten Kamps kämpften, und die Kaiserlichen wollten
vor einem so viel schwächeren Feinde nicht weichen. Und wieder
ward es Nacht. Die Goten hatten den ganzen Tag weder
Speise noch Trank zu sich genommen. Nun waren sie todes-
matt. Da schickten die Helden einige Edle aus ihrer Mitte
an Narses. Diese sprachen also: „Wir fühlen nun, daß Gott
tvider uns ist. Eine unüberwindliche Macht streitet uns ent-
gegen. Darum wollen wir vom Kampfe ablassen, doch nicht
um uns dem Kaiser zu unterwerfen, sondern um unter irgend
einem germanischen Volke frei zu leben. Darum gewähre
uns friedlichen Abzug und gestatte einem jeden von uns, die
Habe mitzunehmen, die er an einem Ort Italiens niedergelegt
hat, damit es uns nicht ganz an Wegzehrung fehle." Narses,
nicht unempfindlich gegen solche Heldengröße, beriet sich mit
seinen Unterfcldherren, was er thun solle. Da sprach der
angesehenste von ihnen, Johannes mit Namen: „Ich rate dir,
den Goten diese Bitte zu gewähren. Kämpfe nicht länger
gegen Männer, für die der Tod seine Schrecken verloren
hat. Man soll niemand in Verzweiflung bringen." Da ge-
lobte Narses den Gesandten, er werde allen Goten, die den
Vernichtungskampf überlebt hätten, erlauben, ungekränkt mit
ihrem Eigentum Italien zu verlassen, wenn sie ihrerseits ge-
lobten, niemals wiederzukehren. Dieser Vertrag wurde ab-
geschlossen. Stumm, in geschlossenen Reihen, zogen die Trümmer
des Gotenvolkcs, es waren kaum noch 1000 Männer, vom
blutigen Feld der Ehre in vollem Waffenschmuck nach Norden.
Sie durchwanderten die ganze Halbinsel, hie und da rastend,
um Weib und Kind und fahrende Habe, die etwa dem oder
jenem noch geblieben war, mitzunehmen. Voll Mitleid und Ehr-
furcht wichen ihnen überall Soldaten und Landbewohner aus.
Jene erlauchte Schar überschritt den Po und die Alpen. Unter
andern deutschen Stämmen haben sich die tapferen Tausend
ohne Spur verloren.
Herrlich und segensreich hatte einst der Stern des Ost-
38. Alboin, der Langobardenkönig.
293
gotenvolkes über halb Europa geleuchtet; nun war er auf
ewig versunken in finstre Nacht. Der Name des Volkes, das
unter allen Germanenstämmen vielleicht der edelste gewesen
war und unter dem großen Theoderich die Welt mit seineni
Ruhme erfüllt, ja noch im letzten Todeskampfe ein Heldentum
ohne gleichen bewiesen hatte, der Name dieses Volkes war
ausgelöscht. Aber ein hehres Beispiel echter Heldentngend hat
es uns für alle Zeiten hinterlassen, und noch in spaten Jahr-
hunderten wird seine Größe bewundert und sein Fall beweint
werden.
38. Alboin, der Langobardenkönig.
Ganz Italien gehorchte dem Kaiser in Konstantinopel.
Aber nur dreizehn Jahre währte diese Herrschaft ungeschmälert.
Schon im Jahre 568 erschien, über die Alpen her eindringend,
ein andrer deutscher Volksstamm, die Langobarden, welche die
Erbschaft der Goten antreten wollten. Im Laufe weniger
Jahrzehnte entrissen sie den Oströmern den größten Teil
Italiens. Wie das kam, soll in Folgendem berichtet werden.
Zu den Zeiten Armins hausten die Langobarden als ein
kleiner, aber hochgeachteter Heldenstamm am linken Ufer der
unteren Elbe, in der Gegend von Lüneburg, die noch im
Mittelalter der Bardengau hieß und wo noch heute die Stadt
Bardowieck, d. h. Bardendorf, durch ihren Namen an die
alten Herren des Landes erinnert. Uralte Sage berichtet, das
Volk habe erst einen andern Namen geführt, die Langobarden
hätten ursprünglich Winniler geheißen und seien auf folgende
Weise zu ihrer neuen Benennung gekommen. Gegen die
Winniler erhoben sich zwei Herzöge der Wandalen, die ihre
Nachbarn jenseits der Elbe waren, und sprachen zu den Win-
nilern: „Entweder zahlet uns Zins oder rüstet euch zum
Streit und kämpfet mit uns." Da gingen die beiden Her-
zöge der Winniler, Jbor und Agio, mit ihrer weisen Mutter
Gambara zu Rate und antworteten den Boten der Wandalen:
„Es dünkt uns besser, uns zum Streit zu rüsten, als den
Wandalen Zins zu zahlen." Die Herzöge der Wandalen aber
wandten sich an Wodan, den Herrn der Schlachten, und baten
294
38. Alboin, der Langobardenkönig.
um Sieg über die Winniler. Wodan antwortete ihnen:
„Denen will ich den Sieg verleihen, die ich bei Sonnenauf-
gang zuerst erblicke." Zu derselben Zeit nun flehte Gam-
bara mit ihren beiden Söhnen Wodans Gemahlin Frija an,
daß sie dem kleinen Volke der Winniler zum Siege verhelfe.
Frija hatte Wodans Antwort vernommen. Darum gab sie
den Winnilern den Rat, ihre Frauen sollten sich das Haar
auflösen und es um Schläfen und Kinn wie einen Bart hän-
gen lassen; mit ihnen sollten sie sich selber gegen Morgen,
nach der Richtung, wo die Sonne ausgeht, aufstellen. Und
sie thaten also. Wie nun Wodan zur Ruhe gegangen war,
hatte er sein Bett so gestellt, daß er beim Erwachen das Ant-
litz den Wandalen zukehren mußte. Aber als es zu dämmern
begann und die Sonne aufgehen wollte, ergriff Frija das
Lager ihres Gemahls, drehte es mit ihren starken Götter-
armen nach der andern Seite herum, so daß sein Anilitz gegen
Morgen gerichtet war, und weckte den Gatten. Und im sel-
ben Augenblick ging die Sonne auf. Da schaute Wodan zur
Erde hinab und erblickte zu seinem Staunen — nicht die
Wandalen, sondern andere fremdartige Gestalten und ries ver-
wundert: „Wer sind diese Langbürte?" Da sprach Frija zu
Wodan: „Du gabst ihnen den Namen, so gieb ihnen denn
auch den Sieg!" Denn wer einem Kinde den Namen ver-
lieh, durste ihm nach altdeutschem Brauch auch ein Geschenk
nicht weigern. Und er gab ihnen wirklich den Sieg, indem
er ihnen den Rat erteilte, wie sie streiten sollten. Seit der
Zeit wurden die Winniler Langobarden genannt.
Das Land, welches die Langobarden ihr eigen nannten,
war kein Paradies. Wohl erstrecken sich jetzt längs der Elbe
üppige Fluren, aber die waren damals noch nicht vorhanden;
statt des Ackerlandes breiteten sich dort Urwälder und Sümpfe
aus. Und weiter landeinwärts lag sandiges Heidegebiet, jene
weitgestreckte, von Sumpf- und Moorland durchzogene Ebene,
die wir heute die Lüneburger Heide nennen. Dennoch blieb
das Völkchen, von seinen Nachbarn wegen seiner Tapferkeit
gefürchtet und geehrt, mehrere Jahrhunderte in der alten
Heimat. In den Kämpfen Armins gegen Marbod standen
38. Alboin, der Langobardenkönig.
295
die Langobarden als wackere Mitkämpen auf der Seile des
großen Cheruskerhelden. Sie waren es auch, die den Neffen
Armins, Italiens, wieder auf den cheruskischen Thron zurück-
führten. Erst etwa seit dem Ende des vierten Jahrhunderts
wanderten sie allmählich, zuerst nach dem heutigen Branden-
burg, dann nach Böhmen und von da, nachdem Odowaker
488 die Rügen vernichtet hatte, in das Land am nördlichen
Ufer der mittleren Donau, wo sie, da es fruchtbaren Boden
hatte, viele Jahre blieben. Ungefähr ein Jahrhundert war
vergangen, seit das Volk, das inzwischen stattlich angewachsen
war, die sumpfigen Niederungen der Elbe verlassen hatte.
Im Rugenland an der Donau waren die Langobarden Nach-
barn eines andern tapferen Germanenstammes, der Heruler,
geworden. Mit diesen gerieten sie einst in einen Kampf, über
den die Sage folgendes berichtet. Auf einem weiten Blach-
felde standen die beiden Völker zum Kampf gerüstet. Der
Hcrulerkönig Rodulf sandte die Seinen in den Streit; er
selbst aber war seines Sieges so gewiß, daß er, während das
Heer ausrückte, in der Wagenburg blieb und sich am Brett-
spiel ergötzte. Denn damals waren in der That die Heruler
außerordentlich tüchtig im Kriege und hatten sich durch viele
Siege, die sie erfochten, einen großen Namen gemacht. Sie
zogen nach uralter Sitte nackt in die Schlacht; nur um die
Hüften war ein Stück Zeug schurzartig geschlungen. So
mochte der König nicht ohne Grund auf die erprobte Kraft
der Seinen vertrauen und saß sorglos beim Spiele, während
draußen der mörderische Streit entbrannte. Einen von seinen
Leuten ließ er auf einen hohen Baum in der Nähe steigen,
damit er ihm den Sieg der Seinen desto schneller melden
könne; doch fügte er die thörichte Drohung hinzu: „Meldest
du mir von meiner Heruler Flucht, so lasse ich dir das Haupt
abschlagen." Wie nun der Mann vom Wipfel des Baumes
eine Weile nach dem Schlachtfeld hinübergeschaut hatte, sah er
mit Schrecken, wie die Reihen der Heruler wankten. Aber
vor Angst um sein Leben wagte er es nicht, die Wahrheit zu
künden, und jedesmal, wenn Rodulf ihn fragte, wie die
Schlacht stehe, antwortete er: „Sie kämpfen wacker." Unter-
296
38. Älboin, der Langobardenkönig.
des mar der Streit entschieden; die Heruler wandten den
Langobarden den Rücken und stürzten in wilder Flucht von
dannen. Bei diesem Anblick übermannte jenen der Schmerz,
und er rief aus: „Weh dir, du arnies Herulervolk! Der
Zorn des Himmels bricht über dich herein." Erschrocken über
diese Worte fragte der König: „Wie? fliehen denn meine
Heruler?" Da erwiderte jener: „Nicht ich, sondern du selbst,
o Herr, hast es gesagt." Noch stand der Fürst starr vor
Bestürzung da und wußte nicht, was er thun sollte, als schon
die ersten der siegreichen Langobarden in die Wagenburg ein-
drangen und alle niederhieben, die sich zur Wehr setzten. Da
sank auch Rodulf unter den Streichen ver Feinde. Es wird
aber berichtet, der Zorn des Hinimels habe die Heruler, als
sie da und dorthin auseinander flohen, so schwer getroffen,
daß sich in schrecklicher Berblendung ihre Sinne zu verwirren
begannen, und als die Fliehenden an ein breites, blühendes
Flachsfeld kamen, seien sie, in dem Wahn, sie hätten ein Ge-
wässer vor sich, mit ausgebreiteten Armen hineingesprungen,
um hindurchzuschwimmen, wobei sie sämtlich vom Schwert der
Feinde einen kläglichen Untergang fanden. Das Herulerland
nahmen die Langobarden in Besitz, deren Macht und Ansehen
immer mehr wuchs.
Einen noch größeren Zuwachs aber gewann das Lango-
bardenreich unter dem weisen und kraftvollen König Audoin
um die Mite des sechsten Jahrhunderts, indem der damalige
Kaiser Justinian diesem das Land Pannonien, d. h. den Teil
Südungarns, der zwischen Donau und Save liegt, abtreten
mußte. Einige Jahre später brach ein heftiger Kamps zwischen
den Langobarden und ihren östlichen Nachbarn, den Gepiden,
aus. Es kam zu einer furchtbaren Schlacht. Als nun beide
Völker mit gleicher Tapferkeit fochten und keines weichen wollte,
da geschah es, daß der junge Alboin, Audoins Sohn, und
Turismod, der Sohn des Gepidenkönigs Turisind, im
Kampsgewühl auseinanderstießen und Alboin zuletzt seinen Gegner
mit dem zweischneidigen Schwert durchbohrte, also daß Turis-
mod tot vom Rosse auf die Walstatt sank. Bestürzt sahen
die Gepiden den Fall ihres Königssohnes, aller Mut entfiel
38. Alboin, der Langobardenkönig.
297
ihnen, sie wandten sich zur Flucht. Die Langobarden setzten
ihnen nach und töteten eine große Menge. Durch die fürchter-
liche Niederlage sahen sich die Gepiden gezwungen, sofort um
Frieden zu bitten, der ihnen auch gewährt wurde. Sieges-
froh kehrten die Langobarden heim. Da baten die Edlen
ihren König, daß er seinen Sohn, durch dessen Heldenmut
der Sieg vorzüglich errungeu worden war, zu seinem Tisch-
genossen erhebe, damit er seinem Vater, wie in der Gefahr,
so auch beim Mahle zur Seite wäre. Allein Audoin, alter
Sitte getreu, wollte davon nichts wissen, so sehr ihn Alboins
rühmliche That erfreute. „Das Recht der Väter", sprach er,
„kann ich nicht verletzen. Ihr wisset ja wohl, daß nach altem
Brauch bei uns der Sohn des Königs nicht eher mit dem
Vater zusammen speisen darf, als bis er von einem fremden
Könige feierlich die Waffen erhalten hat." Sobald dies Alboin
hörte, ritt er, nur von vierzig Jünglingen begleitet, gerades-
wegs an Turisinds, des Gepidcnkönigs, Hof, um sich von ihm
die Waffen zu erbitten. Der hochherzige Greis nahm den
jungen Helden, der ihm vor kurzem erst den geliebten Sohn
getötet hatte, freundlich auf; denn jener hatte cs ja in ehr-
lichem Kampfe gethan. Gastlich lud er ihn an seinen Tisch
und setzte ihn zu seiner Rechten an die Stelle, wo sonst imnier
sein Sohn Turismod gesessen hatte. Wie sie nun so beim
Mahle saßen und verschiedene Gerichte aufgetragen worden
waren, da mußte der König des Sohnes gedenken, dessen
Mörder da neben ihm auf dem Stuhle saß. Und er seufzte
tief auf und brach in die schmerzvollen Worte aus: „Lieb ist
mir dieser Platz, aber sehr hart der Anblick des Mannes, der
ihn jetzt einnimmt." Durch des Vaters Rede ermutigt, be-
gann nun Kunimuud, des Königs zweiter Sohn, Hohnreden
gegen die Gäste zu richten und sprach laut, indem er auf die
weißen Binden wies, mit denen die Langobarden die Beine
von den Waden abwärts umwickelten: „Wahrlich, ihr gieidjet
Stuten mit weißen Füßen." Alsbald versetzte einer der
Langobarden: „Geh nur hinaus auf das Aasfeld! Dort
kannst du deutlich sehen, wie kräftig die Stuten mit den Hufen
ausschlagen. Deines Bruders Gebeine liegen dort auf dem
298
38. Alboin, der Langobardenkönig.
Anger wie von gefallenem Vieh." Das hörten die Gepiden,
die nur mühsam aus Ehrfurcht vor dem Könige und aus
Scheu vor dem heiligen Gastrecht ihren Ingrimm verborgen
hatten. Jetzt hielten sie sich nicht länger, wütend sprangen
sie von ihren Sitzen und drängten sich um Alboin und seine
Begleiter mit drohenden Worten und Gebärden. Da erhoben
sich auch die Langobarden; die Hand am Schwerte standen sie
zur Wehr bereit. Aber siehe, der edle König sprang hinter
dem Tisch hervor und warf sich mitten zwischen die Zornigen.
Mit scheltenden Worten verwies er den Seinen die grimmige
Streitlust und drohte mit schneller Strafe dem, der den ersten
Schlag thun ivürde; „denn", sprach er, „das ist kein Gott
wohlgefälliger Sieg, wenn man den Gast im eignen Haus
erschlägt." So beschwichtigte der gute Greis die zürnenden
Männer und Jünglinge, und sein Wort ehrend setzten sich
alle wieder und beendeten das Gastmahl in Frieden und
Freundschaft. Als aber das Gelage vorüber war, hob der
König die Waffen seines Sohnes Turismod von der Wand
der hohen Halle herab und übergab sie dem Alboin. Dank-
bar nahm der junge Held die Gabe und schied darauf mit
seinen Genossen vom Hofe des Königs, der ihm sicheres Geleit
bis zur Mark seines Reiches mitgab. Wohlbehalten erreichten
die Jünglinge die Heimat. Als nun Alboin mit Turismods
Waffen vor seinen Vater trat, führte ihn dieser zu dem
Ehrensitz an der Königstasel und machte ihn zu seinem Tisch-
genossen. Beim fröhlichen Mahle berichtete Alboin alles, was
ihm am Hose des Gepidenkönigß begegnet war. Da lobten
alle Alboins Kühnheit, doch nicht minder rühmten sie Turi-
sinds große Treue.
Nachdem Audoin und Turisind gestorben und ihre Söhne
auf den Schild gehoben worden waren, nämlich Alboin bei
den Langobarden und Knnimund bei den Gepiden, brach der
alte Hader zwischen den beiden Völkern mit großer Bitterkeit
aus. Bei jenem Besuch in Feindesland hatte Alboin die
schöne Rosamunde, Kunimunds schöne Tochter, gesehen,
und sein Herz entbrannte von heißer Liebe zu ihr. Da sie
ihm aber nicht freiwillig folgen wollte, so entführte er sie mit
38. Alboin, der Langobardenkönig.
299
Gewalt in sein Reich. Vergebens forderte Kunimund seine
Tochter zurück. Der Kampf brach wieder aus. Anfangs
waren die Langobarden siegreich, doch zuletzt behielten die Ge-
piden, vom Kaiser Justin, Justinians Nachfolger, unterstützt,
die Oberhand, und Alboin mußte Rosamunde ihrem Vater
zurücksenden. Er war indes der Mann nicht, eine Niederlage
ungerächt zu lassen. Deshalb schloß er einen ewigen Bund
mit den gefürchteten Avaren, einem wilden tatarischen Reiter-
volke, den östlichen Nachbarn der Gepiden, um mit ihnen ge-
meinsam die letzteren zu vernichten. Alboin eröffnete den
Krieg, indem er in das Gepidenland einfiel. Als aber Kuni-
mund eilig auszog, um die Langobarden zu schlagen, fielen
hinter seinem Rücken die Avaren in sein Reich. Erschüttert
vernahm der König die Kunde; er erkannte, daß der Gepiden
Ende nahe sei. Dennoch ermahnte er die Seinigen, erst den
Streit mit den Langobarden zu wagen. So kam es zur
Schlacht. Nach heißem Ringen blieben die Langobarden
Sieger, und so furchtbar wütete das Schwert, daß das große
Gepidenvolk fast völlig vernichtet wurde. An 40000 Mänuer
fielen, unter ihnen auch König Kunimund, den Alboin im
Zweikampf erschlagen hatte. Alboin ließ dem Leichnam das
Haupt abschlagen und sich aus dem Schädel eine Trinkschale
machen. Unter einer großen Schar Gefangener führte er auch
Rosamunden mit sich und erhob sie zu seiner Gemahlin. Un-
ermeßlich war die Beute, die die Langobarden machten; die
unglücklichen Gepiden aber waren für immer darniedergeschmettert.
Die, welche den Vernichtungskampf überlebten, unterwarfen
sich teils den Langobarden, teils gerieten sie in die Knecht-
schaft der grausamen Avaren.
So hatte sich wieder einmal der alte Fluch, der seit den
Zeiten Armins bis auf unser Jahrhundert herab aus unfern
Vorfahren lastete, erfüllt, daß sie zur Freude ihrer Feinde die
Waffen gegen Glieder ihres eigenen Leibes kehrten, daß Bruder-
stamm gegen Bruderstamm in grimmigem Hasse wütete; denn
es war deutsches Heldenblut, das in der großen Gepiden-
schlacht von Deutschen vergossen ward. In Konstantinopel
frohlockte man laut bei der Kunde, daß das gefährliche Ger-
300
38. Alboin, der Langobardenkönig.
manenvolk an der Nordgrenze des morschen Reiches von der
Erde verschwunden sei, ohne daß die Römer einen Fuß ge-
rührt, und daß es ein Germanenvolk war, welches, nicht ohne eig-
nen ungeheuren Verlust, den Kaiser dieser Sorge überhoben hatte.
Narses, der Überwinder der Ostgoten, hatte als Statt-
halter Italiens dem ausgesogenen Lande keine Schonung ge-
währt. Darüber erschollen laute Klagen der gequälten römi-
schen Bevölkerung nach Konstantinopel hinüber. Deshalb be-
rief Justinus den verhaßten Mann ab und setzte den Longinus
an seine Stelle. Tie Kaiserin Sophia soll Narses haben
sagen lassen, er möge daheim mit ihren Mägden in der Weiber-
stube Wolle spinnen. Daraus soll nun Narses geantwortet
haben, er wolle ihr ein Gespinst anfertigen, das sie ihr Leb-
tag nicht werde entwirren können. Hierauf zog er sich nach
Neapel zurück und schickte von hier aus Boten an das Lango-
bardenvolk mit der Aufforderung, sie sollten doch ihre arm-
seligen Felder an der Donau verlassen und sich des schönen
Italien bemächtigen. Dabei brachten die Boten wahre Pracht-
stücke der edelsten Südfrüchte und andre Erzeugnisse des ge-
lobten Landes vor. Die Langobarden nahmen die verlockende
Botschaft freudig auf. Ohne Zweifel war Alboin über die
Verhältnisse in Italien wohl unterrichtet; er wußte, daß es
überaus fruchtbar und von Bebauern wie von Verteidigern
fast entblößt war, und daß die Einwohner ihre neuen Herren,
die Oströmer, haßten. Als nun vollends Narses, der einzige
Schützer dieser kaiserlichen Provinz, beseitigt war, stand kein
Hindernis mehr im Wege, das ruhmvolle Werk auszuführen.
So verkündete denn Alboin dem großen Thing seinen Ent-
schluß, und sein Volk jauchzte ihm freudig zu. Es war am
Tage nach dem heiligen Osterfest des Jahres 568, als die
Langobarden auszogen mit Weib und Kind, mit Hab und
Gut. Ohne Heimweh verließen sie die Ebenen Pannoniens,
deren sich nun von Osten her mit Einwilligung der Lango-
barden die Avaren als willkommener Beute bemächtigten. Doch
stellte Alboin diesen die Bedingung, daß sie, wenn die Lango-
barden einmal wiederzukehren genötigt würden, ihnen gut-
willig ihr altes Besitztum einräumen sollten.
38. Alboin, der Langobardenkönig.
301
Wie eine ungeheure Wetterwolke wälzte sich der lange Zug
der Wanderer dem Lande ihrer Sehnsucht zu, die Alpen aus-
wärts. Als der König mit seinem Volke die höchsten Pässe
überschritten und die Mark Italiens erreicht hatte, stieg er
auf einen Berg, der sich hoch über die Gegend erhob, und
schaute aus das gesegnete Land hinab, das in üppiger. Früh-
lingspracht und unabsehbarer Ausdehnung vor ihm lag. Seit
der Zeit wird dieser Berg nach ihm der Königsberg, italienisch
Monte del Re (jetzt Monte Maggiore), geheißen. Die Wan-
derung durch das Gebirge hatte einen Monat gedauert. Im
Mai durchzog Alboin Venetieu. fast ohne Widerstand zu finden.
Einen Teil dieser Landschaft, das heutige Friaul, suchte er
sogleich gegen etwaige Angriffe der Avaren, Slaven und Ost-
römer als Schutzmark zu befestigen und vertraute dieses be-
drohteste Eingangsthor Italiens seinem Neffen Gisulf, einem
sehr tüchtigen Manne, an, der zugleich sein Stallmeister oder,
auf langobardisch, sein Marpais war. Diesen setzte er zum
Herzog über die Burg Forojuli und die ganze Gegend und
ließ ihn sich selber einige der tüchtigsten Sippen oder Ge-
schlechter zu seinem Beistand wählen. Nachdem sich Alboin
hierauf auch der meisten festen Städte Venetiens bemächtigt
hatte, rastete er mit seinem Volke den Winter über. Im
folgenden Sommer machte er sich zum Herrn der ganzen
Ebene des Po. Der oströmische Statthalter Longinus saß
mittlerweile in Ravenna und that weiter nichts, als daß er
neue Bollwerke anlegte.
Da der König überall eine kluge und edle Milde bewies,
so leisteten nur wenige Städte hartnäckige Gegenwehr. Am
längsten widerstand das starke P a v i a in der Mitte Ober-
italiens, das Alboin zum Sitze seiner Herrschaft zu machen
wünschte und deshalb mit dem Hauptheere belagerte. Diese
Belagerung zog sich begreiflicherweise sehr in die Länge. Unter-
des vollendeten große Slreifscharen, die der König aussandte,
die Unterwerfung der westlichen Alpenländer und Mittelitaliens.
Nur einige Küstenstriche unter dem Schutze Ravennas und
Rom mit seinem Gebiete blieben unabhängig, da zu deren
Eroberung eine Flotte gehörte, die die Langobarden nicht be-
302 38. Alboin, der Langobardenkönig.
saßen. Im Sommer 572 fiel endlich Pavia. Drei Jahre
und etliche Monate hatte die tapfere Bürgerschaft den stürmen-
den Feinden widerstanden. Da schwur Alboin in heftigem
Zorn, das gesamte Volk in der Stadt, wenn sie in seine
Hände fiele, mit dem Schwerte umbringen zu lassen. Zuletzt
nun, da die Not hinter den Mauern aufs höchste gestiegen
war, mußte sich Pavia auf Gnade und Ungnade ergeben.
Als nun der König in strahlenden! Wassenschmuck, hoch zu
Roß, von Osten her durch das Sankt Johannisthor in die
Stadt einritt, da strauchelte gerade unter der Pforte sein
Pferd auf die Knie und konnte weder durch die Sporen des
Reiters noch durch die Lanzen des Gefolges dazu vermocht
werden, sich wieder zu erheben. Da trat ein Langobarde vor
den König und sprach: „Gedenke, o mein Gebieter, des
Schwures, den du wider diese Stadt gethan hast. Nimm
dein grausames Gelübde zurück, schone die Bürger darum,
weil sie Christen sind, und du wirst alsbald ungehindert dei-
nen Einzug halten." Da that der Held nach dem sronimen
Rate, nahm seinen Schwur zurück und versprach den Bürgern
Gnade. Und siehe, sogleich erhob sich sein Roß und trug ihn
weiter. Und als er in die Stadt eingezogen war, hielt er
treulich sein Versprechen und that niemand ein Leides. Da
strömte bald alles Volk zu ihm in den Palast, den einst
Theoderich der Große hatte erbauen lassen, und huldigte froh
dem menschlichen Fürsten.
Viele Tausende hatte sein Königswort vor dem Tode be-
wahrt, er selbst aber stand an dem Ziele seiner Tage. Mitten
aus der Siegeslausbahn raffte ihn schändlicher Mord dahin.
Einst begab es sich, daß im Königspalast zu Verona ein
glänzendes Gastmahl gefeiert wurde und der Herrscher in
fröhlichem Mute länger bei dem Gelage saß, als gut gewesen
wäre. Als nun der Wein ihm die Sinne zu berauschen be-
gann, faßte er jene silberverzierte Schale, die er sich aus dem
Schädel des Gepidenkönigs Kunimund hatte machen lassen,
ließ sie von neuem mit Wein füllen und reichte sie seiner
Gemahlin, der Königin Rosamunde, hin, indem er lachend
rief: „Da, trink einmal mit deinem Vater!" Wie Rosa-
38. Alboin, der Langobardenkönig.
303
munde solches horte, da schwoll ihr das Herz vor tiefem Weh.
Sie glühte von dem Berlangen, den Tod des Vaters zu
rächen und so noch späte Blutrache zu üben. Alsbald verschwor
sie sich mit Helmichis, des Königs Schildträger und Milch-
bruder. Ihm gelobte sie, nach Alboins Tode sein Weib zu
werden. Helmichis aber fürchtete Alboins Heldenstärke und
riet Rosamunde, den Peredeo, den Kämmerer des Königs,
einen Mann von ungeheurer Größe und Körperkrast, zur
Teilnahme an der That zu dingen. Dieser erschrak zwar an-
fangs vor dem Gedanken, seinen König ermorden zu sollen,
aber er war von blödem Verstand, und so gelang es leicht,
ihn durch lockende Versprechungen und schreckende Drohungen
zu bewegen.
Es war um die Mittagszeit an einem Frühlingstage des
Jahres 573. Tiefe Ruhe herrschte im Palaste; denn der
König schlief. Da trug Rosamunde leise alle Wassenstücke
ihres Gemahls aus dem Zimmer, bis aus sein Schwert.
Dieses band sie mit vielfach verschlungenen Stricken zu Häupten
des Ruhebettes sest. Dann ließ sie aus den Rat des Helmichis
den Mörder Peredeo herein in voller Wasfenrüstung. Von
dem Geräusch erwachte der König. Er fuhr empor und er-
kannte sofort die Gefahr. Er wollte seine Waffen ergreifen,
aber sie waren verschwunden. Doch da hing sa sein treues
Schwert. Er griff danach und zerrte wütend daran. Um-
sonst, es war unbeweglich. Da riß er den Fußschemel empor
und wehrte sich lange damit wie mit einer Streitaxt. Aber
ach, der herrlichste Held, der streitbarste und kühnste Mann,
erlag im ungleichen Kampfe. Peredeos Schwert traf ihn,
daß er tot zu Boden stürzte. Er, der ruhmvolle Bezwinger
zahlloser Feinde, siel kläglich und rühmlos durch eines Weibes
Ränke. Er war hoch von Gestalt und sein ganzer Körper
trefflich zum Kampfe gewesen. Unendlicher Jammer erhob sich
unter den Langobarden, als sie erfuhren, ihr geliebter König
sei von unbekannter Hand ermordet, und sie begruben den
teuren Leichnam mit lautem Wehklagen und heißen Thränen
unter den Stufen einer Treppe, die zum Palast hinauf-
führte.
304
38. Alboin, der Langobardenkönig
Alboin war zur Erde bestattet, und noch kannte niemand
den Mörder des großen Königs. Rosamunde hatte nur ganz
wenige, und zwar Gepiden, in den Mordplan eingeweiht. Als
sie aber schamlos genug war, sich mit Helmichis zu vermählen,
und dieser ernstlich die Hand nach der Krone ausstreckte, da
erhoben sich die Langobarden einmütig gegen ihn und drohten
ihn umzubringen, wenn er sich nicht durch Eid und Eides-
helfer vom Verdacht des Königsmordes reinigen könne. Da
niachte das böse Gewissen die Schuldigen feig. Von Pavia
aus, wo sie sich des Königsschatzes bemächtigt hatte, sandte
Rosamunde eilends Boten zum Statthalter Longinus und bat
ihn, sosort ein Schiff zu schicken, aus dem sie der Rache des
Volkes entfliehen könnte. Mit Freuden erfüllte der schlaue
Oströmer die Bitte und sandte eiligst ein Schiff ab, aus dein
dann Helmichis mit Rosamunde entfloh. Auch nahmen sie
den Peredeo und den ganzen Königshort mit sich. Sie ge-
langten glücklich nach Ravenna. Doch Gottes Zorn schlief
nicht. Longinus, ein gewissenloser Mann, drang in Rosa-
munde, sich des Helmichis zu entledigen und ihm selbst ihre
Hand zu reichen. Und das tiefgesunkene Weib schenkte ihm
Gehör, um Herrin von Ravenna zu werden. Als Helmichis
einst ein Bad genommen hatte, reichte sie ihm mit lächelnder
Miene einen Becher Weins. Kaum aber hatte er ihn angesetzt,
als er das Gilt in seinem Innern verspürte. Da zog er
sein Schwert und zwang die Verbrecherin, den Rest des Tran-
kes aus dem Todesbecher zu trinken. So kamen durch Gottes
Gericht die Mörder in einer Stunde um. Und auch Peredeo
entging der Strafe nicht. Longinus sandte ihn nach Kon-
stantinopel zum Kaiser Justinus. Durch seine riesige Größe
und Körperkrast erregte der Mann allgemeine Aufmerksamkeit.
Er mußte im Zirkus als Tierkämpfer auftreten und tötete
als solcher einen gewaltigen Löwen. Damit er aber nichts
Schlimmes mit seiner Stärke anstelle, ließ ihm der Kaiser
beide Augen ausstechen.
305
39. Nus der Langobarden-Geschichte und
-Sage von Authari bis Grimwald.
Mit der Eroberung Italiens durch Alboin ist die Völker-
wanderung eigentlich abgeschlossen. Wir reihen indes hier
noch einiges besonders Anziehende aus der Geschichte und
Sage des Langobardenvolkes an. Nach ihres großen Helden-
königs Tode wählten die Langobarden einen tapferen Mann,
Namens Kleffo, zum Könige, der die Eroberungen Alboins
fortsetzte, aber schon nach anderthalbjähriger Regierung starb.
Da er nur ein unmündiges Söhnlein hinterließ, blieb das
Volk nach seinem Tode ein Jahrzehnt hindurch ganz ohne ein
gemeinsames Oberhaupt und stand nur unter Herzögen; dann
aber erkannten sie, daß sie eines Führers bedürften, und er-
hoben jenen Sohn Klesfos, Authari, zu ihrem Könige.
Er war ein vortrefflicher Fürst, weise und stark, der den un-
ordentlichen Zuständen, die in der königlosen Zeit eingerissen
waren, rasch ein Ende machte. Durch seine Heirat mit der
bayrischen Herzogstochter Theudelinde erwarb er den aria-
nischen Langobarden die Bundesgenossenschaft des tapferen
Stammes der katholischen Bayern, die die nördlichen Nachbarn
seines Reiches waren. Bon seiner Brautwerbung weiß die
Sage gar anmutig zu berichten.
Der junge König Authari schickte seine Boten nach Bayern,
daß sie um die Hand der Tächter Garibalds, Theudelinde,
für ihn werben sollten. Der Herzog nahm die Gesandten
freundlich auf und erklärte sich gern bereit, dem Langobarden-
könig seine Tochter zum Weibe zu geben. Als sie mit dieser
Antwort zu Authari zurückkehrten, erwachte in seinem Herzen
der sehnliche Wunsch, seine Braut mit eigenen Augen zu sehen.
Deshalb zog er mit wenigen rüstigen Begleitern verkleidet
über die Alpen, im Gefolge eines seiner treusten und ältesten
Mannen, der sich für den Gesandten des Langobardenkönigs
ausgeben mußte. Und als sie an Garibalds Hof gelangten
und vor des Herzogs Angesicht geführt wurden, sprach jener
Vertraute des Königs, der für das Haupt der Gesandtschaft
galt, nach den ersten Begrüßungen: „Mein Herr, der König
Klee, Die alten Deutsche». 20
306 39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage.
Authari, hat mich hierher gesandt, damit ich das Antlitz seiner
Braut, unsrer künftigen Herrin, schaue und ihm genau berichte
über ihre Schönheit." Wie das der Herzog hörte, ließ er
sein Kind in den Saal rufen. Und als nun Authari und
die andern alle sie in tiefem Schweigen angeschaut hatten, gab
Authari dem Vertrauten zu verstehen, daß sie ihm in allem
wohlgefalle, und der Greis sprach zu dem Herzog: „Wahr-
lich, dein Kind ist holdselig zu schauen. Wir preisen den
Tag. wo sie neben unserm Herrn die Krone tragen wird.
Wenn eS deiner Hoheit beliebt, so möchten wir wohl schon
heute einen Becher Weines aus ihrer Hand empfangen, wie
sie als hohe Wirtin ihn künftig uns reichen soll." Auch
diese Bitte bewilligte der Herzog gern, und Theudelinde reichte
den vollen Becher zuerst dem, der das Oberhaupt der Boten
schien, und dann erst dem Authari, von dem sie nicht wußte,
daß er ihr Bräutigam sei. Als dieser aber getrunken hatte
und ihr den Becher zurückgab, berührte er, ohne daß es je-
mand bemerkte, ihre Hand mit der seinen und strich ihr mit
der Rechten leise über Stirn und Wange. Bestürzt blickte
das Fürstenkind aus den kecken Fremdling, der in voller
Jugendschönheit, mit edler Gestalt, wallendem Goldhaar und
herrlichem Antlitz vor ihr stand. Dann verließ sie eiligst
und mit Schamröte übergossen den Saal, ging zu ihrer
Amme und erzählte ihr alles. Da sprach die erfahrene Frau:
„Sei getrost! Wenn dieser Mann nicht selbst dein König
und dein Bräutigam wäre, so hätte er dich sicherlich nicht zu
berühren gewagt. Und wahrlich, es ist ein Mann, der es
verdient, König zu sein und dein Gatte zu werden. Du aber
sei klug und schweig, damit dein Vater nichts merke." Bald
nachher machten sich die Langobarden mit herzoglichem Geleite
wieder auf den Heimweg. Als sie nun an die Grenzmark
Italiens kamen und die Bayern Urlaub nehmen wollten, da
erhob sich Authari hoch auf seinem Rosse, ergriff die blinkende
Streitaxt und schleuderte sie so gewaltig in einen Baum, der
in der Nähe stand, daß sie tief hineinfuhr und darin stecken
blieb. Dann wandte er sich zu den Geleitsmannen und
sprach: „Sehet, solche Hiebe führt Authari!" Da merkten
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage. 307
sie, daß er der König selber war, und begrüßten ihn ehr-
fürchtig. Dann ritten sie heim und brachten ihrem Herzog
die Märe.
Am 15. Mai des Jahres 589 ward bei Verona unter
dem Jauchzen des Volkes die Hochzeit des edlen Paares ge-
feiert. An demselben Tage erhob sich, wie die Sage meldet,
ein heftiges Gewitter. Herzog Agilulf von Turin, ein
wackerer Fürst und seinem König treu ergeben, war unter
andern langobardischen Großen bei dem Feste zugegen. Jetzt
stand er im Hofe des Königshauses, um das von Wein und
Freude erhitzte Haupt im Winde zu kühlen. Da fuhr ur-
plötzlich ein Blitzstrahl krachend vor ihm nieder und zerschmet-
terte ein Stück Holz, das zu seinen Füßen lag, und einer
seiner Sklaven, der der Weissagung kundig war, trat zu ihm
und sprach: „Das schöne Weib da drinnen, das sich heute
unserm König vermählt hat, wird binnen Jahresfrist deine
Gemahlin werden." Agilulf drohte deni unzeitigen Pro-
pheten den Kopf von den Schultern zu schlagen. Doch jener
versetzte: „Töten magst du mich; es wird dadurch doch nicht
anders. Die schöne Frau ist in unser Land gekommen, um
dein Weib zu werden."
Nur kurze Frist war dem jungen Könige vergönnt, sich
seines ehelichen Glückes zu freuen, und auch diese Spanne
Zeit war angefüllt mit Arbeit und Sorge. Gegen Franken
und Oströmer mußte er sein Reich schirmen. Die Sage be-
richtet, er habe ganz Italien siegreich durchzogen und sei bis
zur äußersten Südspitze der Halbinsel gelangt. Dort stand
unweit der Küste eine Säule in den brandenden Wogen. Der
König ritt auf seinem Roß bis zu dieser Säule, berührte sie
mil der Spitze seines Speeres und sprach dabei: „Hier soll
der Langobarden Grenze sein!" Die Säule soll noch jahr-
hundertelang dort gestanden haben und Autharis Säule ge-
nannt worden sein. Der junge Herrscher starb schon am
5. September 590. Nur sechs Jahre hatte er die Krone
getragen. Theudelinde umhüllte ihr schönes Haupt mit dem
Witwenschleier, und das Volk beweinte den trefflichen Fürsten.
Wer soll nun König sein? Diese ernste Frage trieb die
20*
308
39. Aus der Langobarden Geschichte und -Tage.
langobardischen Edlen zu ernster Beratung. Ein Erbe der
Krone war nicht vorhanden; den Würdigsten aus ihrer Mitte
zu finden, getrauten sie sich nicht. Endlich faßten sie den
einmütigen Beschluß, der königlichen Witwe Theudelinde die
Herrschaft zu überlassen und sie zu bitten, sich einen Gemahl
zu wählen, der wie Authari kraftvoll zu herrschen verstehe;
wen sie dazu würdig finde, der solle König sein. Welches
Vertrauen, welche Hochachtung mußte Theudelinde sich in so
kurzer Zeit erworben haben, sie, die keine Langobardin, sondern
eine Bayerin, keine Arianerin, sondern eine Katholikin war!
Es mag für Autharis Witwe nichts Leichtes gewesen sein,
die Thränen um ihren Jugendgemahl so rasch zu trocknen.
Aber sie war eine Frau von männlichem Geiste. Darum
dankte sie den Edlen für ihr Vertrauen und bewies sich seiner
vollkommen würdig. Nach dem Rate weiser Männer wählte
sie Agilulf, den Herzog von Turin, sich zum Gemahl und
dem Volke zum König; denn er war mit Autharis Geschlecht
verwandt und vor allem ein tüchtiger, streitbarer Mann, zur
Führung der Herrschaft wohl geeignet. Ihn entbot die Königin
zu sich; und als er kam und einige Worte der Begrüßung
gewechselt worden waren, ließ sie einen Becher Weines brin-
gen, trank zuerst und reichte das Übrige dem Agilulf hin.
Dieser nahm die Schale und drückte, als er getrunken hatte,
ehrfurchtsvoll einen Kuß aus die Hand der Fürstin. Sie
aber errötete und sprach: „Wer mir den Mund küssen darf,
soll seine Lippen nicht aus meine Hand drücken." Darauf
hieß sie den Knienden sich erheben und sprach zu ihm von
Hochzeit und Königswürde. Fünfundzwanzig Jahre hat Agilulf
die Krone der Langobarden getragen und ist einer der besten
und gewaltigsten Könige gewesen, so daß Theudelindens kluge
Wahl keinen gereute.
Ein Zeitgenosse Agilulfs und ein Freund der weisen
Königin Theudelinde war der treffliche Papst Gregor der
Erste, ein geborener Römer. Er wollte sich als Jüngling
dem klösterlichen Leben widmen, aber der Ruf seiner Klugheit
und Rechtschaffenheit ward so groß, daß er zum Stadtprä-
fekten von Rom erhoben und durch den damaligen Papst
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage. 309
Pelagius zum Diakon ernannt wurde. Einst erblickte Gregor
auf dem Markte zu Rom unter andern Sklaven einige Knaben
aus dem Lande der Angelsachsen, mit zartweißer Hautfarbe,
goldigen Locken und lieblichen Kindergesichtern. „Aus welchem
Lande sind diese?" fragte er. „Von der Insel Britannien",
lautete die Antwort, „dort sehen alle Menschen so aus."
„Sind sie denn Christen?" „Nein, dort sind alle noch Heiden."
„Ach Gott, wie traurig, daß Menschen von so lichtem Ant-
litz dem Herrn der Finsternis gehören, daß unter so lieblichen
Stirnen ein Geist wohnt, unteilhaft der Gnade! Wie heißt
denn das Volk?" „Sie heißen Angeln." „Wahrlich, so
führen sie den Namen mit Recht; denn sie haben Angesichter
wie Engel (angeli) und sollten Mit erben der Engel im
Himmel sein." Und er ging zum Papste Pelagius und bat
ihn, er möge ihn mit andern Geistlichen als Glaubensboten
zu den Angeln entsenden. Mancherlei Umstände vereitelten
dies. Aber er ließ seinen Plan nicht fallen. Konnte er auch
das Werk der Bekehrung nicht selbst ausführen, so sandte er
doch, als er nach dem Tode des Pelagius selbst den Stuhl
Petri bestiegen hatte, seine Missionare nach England, welche
die Angelsachsen zum römischen Christentum bekehrten. Diesem
Gregor gelang es auch, die meisten Langobarden zum Übertritt
vom arianischen zum katholischen Glaubensbekenntnis zu be-
wegen, wobei ihm die hochgeehrte Königin Theudelinde die
treuste Helferin war. Dennoch blieb die alte Feindschaft
zwischen den Päpsten zu Rom und den Langobardenkönigen
auch in der Zukunft bestehen; denn jene strebten nach weltlicher
Macht und Herrlichkeit und wollten sich nicht unter die Ober-
hoheit der germanischen Eindringlinge beugen. Theudelinde
hat unter andern schönen Gebäuden auch die Kirche des Täufers
Johannes in Monza erbauen lassen, wo die berühmte eiserne
Krone der Langobarden noch heute aufbewahrt wird. Diese
hat ihren Namen von einem Eisenreifen, der die aus Gold
bestehende, reich mit Edelsteinen geschmückte Krone innen zu-
sammenhält und aus einem Nagel vom Kreuze Christi ge-
schmiedet sein soll. Theudelinde hat ihren zweiten Gemahl
noch länger als ein Jahrzehnt überlebt. Als sie endlich im
310
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage.
Jahre 628 starb, beweinten sie die Langobarden aufrichtig.
Sie hatte fast vierzig Jahre über dem Reiche gewaltet und
vieles gethan, um die Wildheit ihres Volkes zu sanftigen und
es an mildere Sitten und geistige Bildung zu gewöhnen.
Vier Jahre vor König Agilulfs Tode brachen die rohen,
räuberischen Avaren, die gefährlichen Nachbarn im Nordosten
des Reiches, in die Landschaft Friaul ein. Hier waltete noch
immer der greise Herzog Gisulf, den einst Alboin zum Hüter
des Landes gesetzt hatte. Als der König der Avaren, den
sie in ihrer Sprache Chakan nannten, im Jahre 611 mit
zahllosen Scharen in Friaul cinfiel, zog der alte Held ihm
sogleich entgegen, obwohl er in der Eile nur ein kleines Häuf-
lein Streiter an sich ziehen konnte. Aber er wurde von der
ungeheuren Übermacht der Feinde umringt und mit seiner
ganzen Mannschaft niedergehauen. Wie ein wilder Bergstrom
überschwemmten nun die Avarenhorden das unglückliche Land
und verheerten alles mit Feuer und Schwert. Nur die be-
festigten Plätze, in die man sich geflüchtet hatte, vermochten
sie nicht zu nehmen. Auch die Burg Forosuli, jetzt Cividale
genannt, umlagerten sie. Hinter ihren starken Mauern hatte
sich Gisulss Gemahlin Romhilde mit wenigen Mannen und
den Weibern und Kindern der Gefallenen geborgen. Bei ihr
waren ihre vier Töchter und ebensoviel Söhne. Die beiden
ältesten von diesen, Taso und Kalo, leiteten die Verteidigung
der Burg; der dritte, Radwald, war eben erst den Knaben-
jahren entwachsen; Grimwald, der jüngste, war noch ein Kind.
Eines Tages ritt der Chakan mit großem Gefolge um
die Mauern herum, um eine Stelle zu erspähen, wo die Burg
am leichtesten erstürmt werden könnte. Ihn erblickte von einer
Zinne herab Romhilde, und als sie sah, daß er ein stattlicher
Mann war, sandte das ehrvergessene Weib einen geheimen
Boten hinaus und ließ ihm sagen, sie wolle ihm die Feste
überliefern, wenn er sich mit ihr vermählen wolle. Der
Chakan versprach mit arglistigen Worten, ihr Anerbieten an-
zunehmen. Da öffnete sie unverweilt die Thore, zum Ver-
derben aller Einwohner. Denn als die Heiden in die Burg
einbrachen, plünderten sie alles, übergaben die Stadt den
39. Aus der Lan^obarden-Geschichtc und -Sage.
311
Flammen und schleppten alle Bewohner als Gefangene hinweg,
indem sie ihnen vorspiegelten, sie wollten sie, gemäß dem alten
Vertrag der Avaren mit Alboin, in ihrer alten Heimat an-
fiedeln. Aus dem Heimwege aber beschlossen die Räuber, alle
volljährigen Langobarden auf einem Felde niederzuhauen; die
Weiber und Kinder verlosten sie unter sich als Sklaven. Nur
ganz wenige entrannen, dem Verderben, unter ihnen die Söhne
des Herzogs Gisulf. Sobald nämlich Taso, Kalo und Rad-
wald den bösen Anschlag der Avaren merkten, sprangen sie
auf ihre Rosse und ergriffen die Flucht. Der kleine Grim
wald aber wollte auch mitgenommen sein. Zwei der Brüder
ritten davon, ohne sich um sein Schreien zu kümmern. Der
dritte aber glaubte, der Knabe sei noch zu jung, um sich auf
einem dahinsausenden Rosse halten zu können. Doch unerträg
lich war ihm der Gedanke, daß das Brüderchen in die Knecht-
schaft eines rohen Heiden fallen und als Sklave sein Leben
beschließen solle. Lieber tot, als ein Knecht! Und er hob
den Speer, um dem Kleinen die Brust zu durchstoßen. Aber
das Kind rief weinend: „Bruder, durchbohre mich nicht! Ich
kann mich ja schon auf einem Rosse halten." Da ließ jener
den Speer sinken, ergriff den Knaben und hob ihn auf ein
leeres Pferd. Auf den glatten Rücken des ungesattelten
Tieres setzte er ihn, hieß ihn den Zügel ergreifen und rief:
„Halte dich an, so fest du kannst!" Dann schwang er sich
selbst auf sein Roß, und sie jagten den Brüdern nach.
Bald verbreitete sich die Kunde, daß des Herzogs Söhne
entkommen seien. Etliche Avaren sprangen sogleich auf ihre
Pferde und jagten den Flüchtlingen nach. Jene aber entrannen
glücklich ihren Verfolgern, bis auf Grimwald, der bald hinter
den Brüdern zurückblieb. So ward er von dem vordersten
der Avaren eingeholt. Schon sah er den Tod vor Augen.
Aber Gott, der ihn zu großen Dingen ausersehen hatte, brei-
tete seine Vaterhand über ihn aus. Dem Barbaren fuhr es
plötzlich durch den Kopf: „Warum sollst du das Kind töten?
Bewahre es dir lieber zum Dienst auf." Und er faßte Grim-
walds Roß am Zügel und führte es samt dem Knaben nach
dem Lager zurück, erfreut über die köstliche Beute; denn der
312
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage.
Kleine war von schönem Wuchs und Antlitz, groß und glän-
zend waren seine Augen, und das lichtblonde Haar hing ihm
in langen Locken um die Schultern. Grimwald wußte, wel-
chem traurigen Los er entgegengeführt wurde, und tiefer
Schmerz ergriff ihn. Aber in seiner kleinen Brust regten sich
große Gedanken. Er war ja nicht waffenlos. An seiner
Seite hing ein kleines Schwert, das ihm der Vater geschenkt
hatte. Es war scharf und von gutem Stahl. Unbemerkt
zog er es aus der Scheide, und schnell wie der Blitz hieb er
mit aller Macht nach des Barbaren Schädel und traf so gut,
daß der Feind alsbald tot vom Pferde siel. Nun wandte
klein Grimwald sein Roß um und floh fröhlich von dannen,
bis er seine Brüder wieder eingeholt hatte. Und als er ihnen
von seiner Not und Befreiung erzählte, freuten sie sich herzlich
über den kleinen Helden.
Die Avaren aber brachten wirklich alle gefangenen Männer
um und schleppten Weiber und Kinder in die Gefangenschaft.
Romhilde, die alles Unheil verschuldet hatte, entging dem
rächenden Schicksal nicht. Zuerst zwar behandelte der Chakan
sie, um seinem Schwur zu genügen, wie sein eheliches Weib.
Aber am zweiten Tage änderte er sein Benehmen, that ihr
allen Schimpf an und ließ sie zuletzt mit einem Pfahl durch-
stoßen, indem er höhnend ries: „Das ist der Mann, den du
verdienst." Ihre vier Töchter aber gingen nicht den Sünden-
weg der Mutter. Um die schamlosen Feinde abzuschrecken,
legten sie sich verwestes Fleisch zwischen Gewand und Brust,
das einen gräßlichen Geruch verbreitete. Als nun die frechen
Barbaren auf sie einstürmten, wichen sie plötzlich voll Abscheu
zurück. Die wackeren Mädchen achteten nicht auf die gemei-
nen Hohnreden und Flüche der rohen Gesellen. So retteten
sie durch kluge Notwehr ihre Ehre. Bald wurden sie von
den Avaren nach andern Ländern verkauft und sind später
alle auf eine ihrer Tugend und hohen Abkunft würdige Weise
vermählt worden.
Der vortreffliche Geschichtschreiber der Langobarden, der
uns alle diese Erzählungen mitgetcilt hat, der wackere Paulus,
Warnefrieds Sohn, schaltet in sein Werk an dieser Stelle einen
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage. 313
kurzen Abschnitt aus der Geschichte seiner Ahnen ein, den wir
mit seinen eignen Worten mitteilen wollen. „Es verlangt
mich", so schreibt der bescheidene Mann, „hier die allgemeine
Geschichte zu unterbrechen und ein Weniges über mein eignes
Geschlecht einzuslechten. Zu der Zeit, da das Volk der Lango-
barden aus Pannonien nach Italien kam, war auch mein Ur-
urgroßvater Leupichis, der ein Langobarde von Geburt
war, mitgezogen. Nachdem er einige Jahre in Friaul gelebt
hatte, starb er und hinterließ fünf unmündige Söhne, die nun
zu der Zeit, von der ich eben erzählte, alle in Gefangenschaft
gerieten und aus der Burg Forojuli in die Fremde, nach dem
Avarenlande geschleppt wurden. Nachdem sie dort viele Jahre
lang das harte Los der Knechtschaft erduldet und das Mannes-
alter erreicht hatten, blieben vier von ihnen in der traurigen
Fremde zurück. Der fünfte aber, der wie sein Vater Leu-
pichis hieß und später mein Urgroßvater wurde, faßte den
Entschluß, das Joch der Gefangenschaft abzuschütteln, nach
Italien zurückzufliehen und so seine Freiheit wiederzugewinnen.
Und so entwich er eines Tages und nahm nichts als einen
Bogen nebst Köcher und Pfeilen und etwas Wegzehrung mit,
wußte auch gar nicht, nach welcher Richtung er sich. wenden
sollte, um sein Ziel, die Heimat zu erreichen. Siehe, da kam
ein Wolf und ward ihm Führer und Begleiter auf der Reise.
Denn wie das Tier vor ihm herging, sich häufig nach ihm
umsah, still stand, wenn er halt machte, und wieder voraus-
ging, wenn er aufbrach, da merkte er, daß es ihm von Gott
zugesandt sei, damit es ihm den Weg weise, den er nicht
kannte. Als sie nun auf diese Weise mehrere Tage durch das
einsame Gebirge gezogen waren, da ging der geringe Vorrat
an Brot, den Leupichis bei sich hatte, völlig zu Ende. Hun-
gernd zog er seines Weges weiter und wurde immer schwächer
und matter. Endlich, als er ganz erschöpft war, spannte er
seinen Bogen und wollte den Wolf durch einen Pfeilschuß er-
legen, um sein Fleisch zu verzehren. Aber der Wolf wich
dem Schüsse aus und verschwand alsbald aus des Wanderers
Augen. Nun wußte Leupichis gar nicht, wohin er gehen sollte,
weil der Wolf ihn verlassen hatte, und da auch der Hunger
814 39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Zage.
ihm alle Kraft raubte, so warf er sich, schon am Leben ver-
zweifelnd, zu Boden und schlief sogleich ein. Da erblickte er
im Traum einen Mann, der also zu ihm sprach: „Erhebe
dich! Was ruhest du? Dorthin nimm deinen Weg, wohin
deine Füße gerichtet sind; denn dort liegt das Land deiner
Sehnsucht." Alsbald erhob er sich und wanderte nach jener
Richtung, die ihm das Traumbild angegeben hatte. Und bald
gelangte er zu Menschenwohnungen; denn es siedelten in jener
Gegend Slaven. Eine alte Frau erblickte ihn und erkannte,
daß er ein Flüchtling sei und Hunger leide. Darob ward sie
von Mitleid ergriften, verbarg ihn in ihrer Hütte und reichte
ihm ganz allmählich Nahrung, damit er nicht, wenn sie ihm
auf einmal Speise zur Sättigung gäbe, das Leben verlöre.
So gab sie ihm in angemessener Weise zu essen, bis er wieder
völlig zu Kräften gekommen war. Und als er ihr kräftig
genug schien, seine Reise fortzusetzen, gab sie ihm noch Speise
auf den Weg mit und belehrte ihn, welche Richtung er ein-
schlagen müsse. Und nach einigen Tagen erreichte er wirklich
Italien und kam zu der Stätte, wo er geboren war. Ach,
das Haus, wo er zuerst das Licht der Welt erblickt hatte,
war verödet, das Dach verschwunden, so daß der blaue
Himmel oben hereinschien; nur die nackten Mauern standen
noch; Dornen und Buschwerk wucherten darüber hin. Zwischen
dem Gemäuer war aus dem Schutt ein schöner, stattlicher
Eschenbaum gewachsen. An den hängte er Bogen und Köcher.
Dann begann er das Gestrüpp niederzuhauen, das den halb-
zertrümmerten Bau überzog. Von seinen Gesippen und Freun-
den durch froh gewährte Gaben unterstützt, konnte der kräftige
Mann sein väterliches Heimwesen wieder Herstellen. Von dem
Vermögen freilich, daS einst fein Vater besessen hatte, war
nichts mehr vorhanden. Doch dauerte es nicht lange, da führte
er ein junges Weib ins Haus; und wie ich schon sagte, dieser
Leupichis wurde mein Urgroßvater."
Als die edle Königin Theudelinde gestorben war und ihr
mißratener Sohn Adelwald den Thron verloren hatte, herrschte
König Ariwald zehn Jahre lang in stillem Frieden über das
Reich der Langobarden. Ihm folgte der kraftvolle Rothari
39. Aus der Langobaröm-Geschichte und -Sage.
315
in der Herrschaft, der die Gesetze seines Volkes ausschreiben
ließ und strenge Ordnung im Reiche hielt. Der kluge Ge-
setzgeber und gewaltige Fürst, der in der Sage des Mittel
alters als König Rother fortlebt, regierte 16 Jahre lang.
Alle seine Unternehmungen glückten ihm. Sein Nachfolger
und Sohn Rodwald war schon nach einem halben Jahre durch
einen jähen Tod dahingerafft. Darnach bestieg den Thron
Aripert, der nach achtjähriger friedlicher Regierung das Reich
seinen Söhnen Perthari und Godepert hinterließ. Anfangs
herrschten sie einträchtig; aber bald säeten schlechte Menschen
Haß zwischen sie, und es entbrannte unter ihnen grimmige
Fehde. Das blühende Reich drohte durch den Zwist der
Brüder zu zerfallen. Die bittersten Feinde der Langobarden,
der Papst zu Rom und der Kaiser zu Konstantinopel, froh-
lockten bereits. Da rettete Grimwald, der kriegerische
Herzog von Benevent, das Vaterland, indem er die Zügel
der Herrschaft an sich riß. Das kam aber so.
Nach jenem Naubzug der Avaren walteten zwei Söhne
Gisulfs, Taso und Kalo, des Herzogtums Friaul, bis sie
durch die verruchte List eines Statthalters von Ravenna ums
Leben kamen. Darauf erhob der König einen Bruder Gi-
sulfs zum Herzog. Die beiden jungen Söhne Gisulfs aber,
Radwald und Grimwald, waren zu stolz, sich der Gewalt
des Oheims zu beugen. Darum begaben sie sich nach der
Stadt Benevent, die damals der Sitz eines langobardischen
Herzogs Namens Arichis war. Dieser hatte einst die Söhne
Gisulfs erzogen und nahm die beiden Flüchtlinge auf das
Liebreichste aus. Als er zum Sterben kam, empfahl er ihrem
Schutz seinen Sohn Agio, der schwachsinnig war, und obwohl
das Volk lieber Radwald und Grimwald zu ihren Herren er-
heben wollte, weigerten sich die beiden doch dieses Ansinnens
und gehorchten dem armen Agio aus freien Stücken. Agio
wurde einst von Seeräubern schändlich ums Leben gebracht.
Die Brüder rächten seinen Tod und herrschten dann ge-
meinsam, und als Radwald starb, wurde Grimwald alleiniger
Herzog von Benevent. Er, der schon als Kind einen so
wunderbaren Heldenmut an den Tag gelegt hatte, war ein
316
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage.
gewaltiger Kriegsmann und ausgezeichneter Fürst. Als nun
der Zwist der Königsbrüder Godepert und Perthari das Lango-
bardenreich zu zerrütten drohte, ermahnte Herzog Garibald
von Turin den tapfern Grimwald, die Königsherrschaft selbst
zu Händen zu nehmen und die beiden thörichten Brüder zum
Heile des Volkes vom Throne zu stoßen. Grimwald zögerte
nicht, so zu handeln. Mit einer erlesenen Schar rückte er
nach Norden. Wohin er kam, fielen ihm die Langobarden
zu und drängten sich zu seinem Gefolge, so daß er zuletzt
über ein gewaltiges Heer gebot. Godepert verlor Herrschaft
und Leben zugleich. Seine Anhänger brachten seinen kleinen
Sohn Raginpert in Sicherheit und ließen ihn heimlich aus-
erziehen. Grimwald selbst befahl, das unschuldige Kind nicht
zu verfolgen.
Kaum erfuhr der unkriegerische Perthari seines Bruders
Tod, so floh er eiligst zum Chakan der Avaren, der ihn gastlich
ausnahm. Seine Gemahlin und sein kleiner Sohn Ku-
ninkpert fielen in Grimwalds Hände, der sie schonend be-
handelte und nach Benevent schickte. An den Chakan sandte
er Boten, welche die Auslieferung Pertharis verlangten. Der
Chakan hieß darauf den Gastfreund gehen, wohin er wollte,
und Perthari kehrte geradeswegs nach Italien zurück, weil er
erfahren hatte, wie milde Grimwald sein Weib und seinen
Sohn behandelte. Als er nun in die Stadt Lodi gelangte,
sandte er seinen vertrauten Freund Hunulf, einen uielge
treuen Mann, zum Könige voraus, um diesem sein Kommen
zu melden. Kaum vernahm Grimwald die Botschaft, so ge-
lobte er, dem Perthari kein Leid zuzufügen, wenn er im Ver-
trauen auf seinen Schutz komme. Mit dieser Antwort ritt
Hunulf zu seinem Herrn zurück. Alsbald machte sich Per-
thari aus den Weg nach Pavia, wo der König weilte, und
begab sich ohne Zögern in den Palast. Und als er vor
Grimwald trat und ihm zu Füßen sinken wollte, lief ihm
dieser entgegen, hielt ihn gütig zurück und küßte ihn. Da
sprach Perthari: „Herr, man sagte mir, daß du frommen
Sinnes seiest, und darum bin ich, auf deine Milde ver-
trauend, zurückgekommen." Mit seinem gewöhnlichen Schwur
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage. 317
versetzte der König: „Bei dem, der mich geboren werden ließ!
Ich will dein Vertrauen nicht täuschen. Es soll dir kein
Leid widerfahren, und du sollst in meiner Nähe wohnen mit
allen gebührenden Ehren." Daraus gab er ihm einen schönen
Palast zur Wohnung, bat ihn der Ruhe zu pflegen und ließ
ihn mit allem Nötigen reichlich versorgen.
Da es nun ruchbar ward, daß Perthari zurückgekehrt sei,
kamen bald die Bürger scharenweise in sein Haus geströmt,
um ihn zu sehen und freudig zu begrüßen. Was kann eine
böse Zunge nicht für Schaden anrichten! Es fanden sich
leider allzubald einige Schmeichler, die dem Könige vorstellten,
wie gefährlich es sei, wenn Perthari einen so großen Anhang
gewinne, und noch dazu in derselben Stadt. Ja sie wußten
den Leichtgläubigen zu überzeugen, daß Perthari ihm nach
Leben und Thron trachte und daß er, der König, unfehlbar
verloren sei, wenn er jenen nicht schnell aus dem Wege räume.
Da vergaß Grimwald seines Eides. An demselben Abend
sandte er ihm außer mancherlei Speisen auch köstliche Weine,
indem er hoffte, Perthari werde über dem Trinken nicht an
seine Rettung denken. Es war aber unter den königlichen
Leuten ein Mann, der einst dem Vater Pertharis gedient
hatte. Als dieser dem Perthari den Fußschemel hinsetzte,
flüsterte er ihm heimlich zu: „Hüte dich! Der König stellt
dir nach dem Leben." Perthari erschrak, aber schnell gefaßt
befahl er seinem Mundschenken leise, ihm nichts als etwas
Wasser in einer silbernen Schale zu reichen. Als nun die
Männer Grimwalds ihn aufforderten zu trinken, ergriff er
seinen Becher, sprach, er wolle ihn zu Ehren des Königs
leeren, schlürfte aber nur Wasser. Da kehrten jene zum
Könige zurück und meldeten ihm, Perthari trinke mit Begierde.
Und Grimwald sprach: „Er trinke nur, der Trunkenbold!
Morgen wird er sein Blut mit dem Weine mischen." Kaum
aber sah sich Perthari unbeobachtet, so ließ er sogleich seinen
getreuen Hunulf kommen und entdeckte ihm Grimwalds Vor-
haben. Alsbald sandte Hunulf einen Knaben nach seinem
Hause, der ihm Polster herbeibringen und ein Lager neben
Pertharis Bette bereiten mußte. Unterdes gebot der König
318 39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage.
etlichen seiner Leute, Pertharis Wohnhaus zu umstellen und
wohl acht zu geben, daß er nicht entrinne. Das Mahl war
zu Ende, und alle hatten sich entfernt außer Perthari, Hu-
nulf und einem Kämmerer, der seinem Herrn mit inniger Liebe
anhing. Nun eröffnete Hunulf dem Kämmerer seinen Plan
und beschwor ihn, daß er, während Perthari fliehe, die Rolle
desselben übernehme und so lange als möglich den Schein
zu wahren suche, als ob er in seinem Schlafgemach ruhe.
Der treue Mann versprach sogleich also zu thun. Ta packte
Hunulf seinem Herrn alle Bettdecken und Polster samt einem
Bärenfell auf Rücken und Nacken, trieb ihn unter vielen
Scheltworten wie einen gemeinen Sklaven zur Thür hinaus,
schlug ihn dazu mit einem Stock und ließ nicht ab mit
Stoßen und Schlagen, so daß Perthari mehrmals zu Boden
stürzte. Als nun des Königs Wächter auf den Lärm her-
zukamen und fragten, was da los sei, sprach Hunulf: „Ei,
dieser nichtsnutzige Sklav hat mir mein Bett in das Gemach
Pertharis, des unsinnigen Trunkenbolds, gestellt, der sich mit
Wein angefüllt hat, daß er wie tot daliegt. Ich habe ihm
immer treu gedient, aber nun ist's genug. Ich bin es müde
diesem Thoren zu folgen. Will künftig fein ruhig zu Hause
bleiben. Es lebe der König!" Die Wächter lachten und
freuten sich, daß Perthari wirklich in die Falle gegangen sei.
Die beiden ließen sie unbehelligt fürder ziehen. Inzwischen
verriegelte der treue Kämmerer sorgfältig die Thür des Hauses
und blieb ganz allein darin zurück. Hunulf aber brachte
seinen Herrn glücklich in einen entlegenen Teil der Stadt,
führte ihm etliche Getreue zu und ließ ihn an einem Seil
von der Stadtmauer herab, wo unten der Fluß Ticino vor-
beifließt. Es gelang den Flüchtlingen, einige Pferde von der
Weide einzufangen und auf ihnen zu entweichen. Sie er-
reichten noch in der nämlichen Nacht die Stadt Asti, wo sich
viele Anhänger Pertharis aufhielten. Bon hier aus gelangte
Perthari über die Grenze in das Reich der Franken. So
rettete Gott den Unschuldigen vom Tode und bewahrte zu-
gleich den irregeleiteten König vor schwerer Sünde.
Längst war der Morgen angebrochen, und noch war alles
39. Aus der Langobarden-Geschichte und -Sage. 319
still in Pertharis Hause zu Pavia. Endlich dauerte es den
Wächtern draußen zu lange, und da Leute vom König kamen,
um Perthari nach dem Palaste zu rufen, begannen sie unge-
duldig an die Pforte zu klopfen. Der Kämmerer aber rief
von innen mit gedämpfter Stimme: „Geduldet euch ein
Weilchen! Mein Herr liegt noch in tiefem Schlafe." Die
Leute meldeten es dem König. Dieser aber befahl, ihn un-
verweilt zu wecken und zu ihm zu bringen. Daher gingen
sie nochmals hin und forderten mit lauten Schlägen Einlaß.
Der Kämmerer öffnete zögernd die Hauspforte. Als sie aber
an Pertharis Schlafgemach kamen, fanden sie auch dieses ver-
schlossen. Wieder Hub der Kämmerer an zu flehen, sie sollten
doch seinen Herrn noch eine kleine Weile schlafen lasten. Sie
aber gerieten in Zorn, schrien: „Der Trunkenbold hat lange
genug geruht!" stießen die Thür des Gemachs mit den Füßen
ein und liefen auf Pertharis Bett zu, um ihn sogleich sest-
zunehmen. Doch siehe, es war leer. Nun suchten sie in
allen Winkeln, vom Giebel bis zum Keller hinab, und fanden
niemand. „Was ist aus Perthari geworden?" schrien sie den
Kämmerer an. Der antwortete: „Er ist entflohen." Da
packten sie ihn bei den Haaren und schleppten ihn vor den
König. „Der Kerl hat deinem Feinde zur Flucht verholfen"
riefen sie, „er ist des Todes schuldig." Doch der König be-
fahl ihnen, den Mann loszulasien, und fragte ihn ruhig, wie
das gekommen sei. Jener gestand die volle Wahrheit. Dar-
auf fragte Grimwald die Umstehenden: „Was meint ihr, daß
diesem Menschen gebühre, der solches gcthan hat?" Sie riefen
alle wie aus einem Munde: „Er ist des niartervollsten
Todes schuldig." Aber der König sprach feierlich: „Bei dem,
der mich geboren werden ließ, nein! Dieser Manu hat große
Treue geübt an seinem Herrn; denn er scheute sich nicht, für
ihn in den sichern Tod zu gehen. Ein solcher Mann ver-
dient wahrlich gut behandelt zu werden." Und er wandte sich
zu dem Überraschten und sprach: „Bon heut an bist du mein
Kämmerer. Bewähre mir nun dieselbe Treue, die du deinem
vorigen Herrn erwiesen hast!" Mit diesen Worten nahm er
ihn in seinen Dienst auf und versprach ihm reichen Lohn.
320 39. Aus der Langobarden-Gelchichte und -Sage.
Sodann fragte er, was aus Hunulf geworden sei, und als
er erfuhr, dieser sei in eine Kirche geflohen, schickte er sogleich
Boten zu ihm und gelobte ihm, es solle ihm nicht das ge-
ringste i'etb widerfahren. Da ging Hunulf in den Palast
und kniete vor dem Könige nieder. Der aber bat ihn auf-
zustehen und zu erzählen, wie Perthari entronnen sei. Und
Hunulf berichtete alles. Als er geendet hatte, lobte der
König seine Klugheit und Treue höchlichst, ließ ihn im Besitz
aller seiner Habe und bat ihn, an seinem Hofe zu leben.
Solche Milde rührte den Mann, und obwohl er seinen alten
Herrn nicht vergaß, ging er doch oft in Grimwalds Palast,
um seine Treue zu beweisen. Aber eines Tages fragte ihn
der König, ob er wohl seine Tage bei Perthari verleben wolle,
und jener erwiderte: „Ja, bei dem allmächtigen Gott! Lieber
inöcht' ich mit Perthari sterben als irgendwo anders in
höchster Wonne leben." Da entbot Grimwald auch den
Kämmerer vor sich und richtete dieselbe Frage an ihn, und
der Kämmerer antwortete dasselbe, was Hunulf geantwortet
hatte. Der König aber nahm solche Worte gütig auf,
pries laut ihre Treue und hieß den Hunulf alles, was er
wünsche, aus seinem Hause mitnehmen und damit ungehindert
zu Perthari ziehen. In gleicher Weise gab er auch den
Kämmerer frei. Nach des Königs huldreichem Willen machten
die beiden Getreuen sich aus und zogen mit aller ihrer Habe
unter sichern: Geleit nach dem Reich der Franken, wo sie
ihren geliebten Herrn wiederfanden.
Von Grimwalds Kriegsthaten wäre mancherlei zu melden.
Er überwand alle seine Feinde, die Franken sowohl wie den ost-
römischen Kaiser, die Slaven nicht minder als die räuberischen
Avaren. Das Herzogtum Friaul übergab er dem tapsern Wecht-
hari. Als die Slaven wieder einmal einen Einfall wagten, zog
Wechthari ihnen mit einem winzigen Häuflein Getreuer entgegen.
Die Heiden lachten laut, wie sie die paar Feinde kommen sahen.
Da aber nahm der Herzog seinen Helm vom Haupte und gab sich
ihnen dadurch zu erkennen; denn er hatte einen Kahlkopf. Kaum
erblickten ihn die Slaven, als sie Hals über Kopf davon jagten;
so groß war ihre Furcht vor dem alten Helden. Hochbetagt starb der
40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Desiderins. 321
mächtige Grimwald im Jahre 672. Nach seinem Tode gelang es
Perthari sich wieder der Herrschaft zu bemächtigen, die er zu-
erst sieben Jahre allein, dann noch weitere zehn Jahre gemein-
sam mit seinem Sohne Kuninkpert in fast ununterbrochenen!
Frieden behauptet hat. Als endlich Perthari das Zeitliche geseg-
net hatte, herrschte Kuninkpert noch zwölf Jahre allein über die
Langobarden. Er war ein schöner Mann, in dessen niilden
Zügen sich seine große Herzensgüte wiederspiegelte, und dabei
ein mannhafter Held. Seine Unterthanen beweinten ihn als
den Vater und Hirten seines Volkes.
40. Der Fall des Langobardenreichrs und dir
Sage von Drsidrrius.
Die römischen Bischöfe rangen nach weltlicher Herrschaft.
Da war ihnen das mächtige Reich der Langobarden im Wege.
Mit Hülfe der oströmischen Kaiser und der fränkischen Kö-
nige und deren großen Beamten, der Hausmeier, erregten
sie dem verhaßten Volke immer neue Kriege. Auch die lango-
bardischen Herzöge, die gern selbst Könige sein wollten, ließen
sich nicht selten zur Untreue gegen ihre Gebieter verlocken.
So ging das blühende Reich allmählich zu Grunde. Die
größte Ausdehnung und Macht erreichte es unter dem trefflichen
König Liutprand; er hat zweiunddreißig Jahre ruhmvoll
regiert, und doch war seine lange Regierung eine fast ununter-
brochene Reihe von Kämpfen mit dem Papst, mit auffässigen
Großen und den Oströmern. Der Geschichtschreiber der
Langobarden Paulus erteilt diesem großen Herrscher das schöne
Lob: „Er war ein Mann von großer Weisheit, scharfsinnig
von Rat, sehr fromm und friedliebend, doch dabei ein ge-
waltiger Kriegsheld, mild gegen Fehlende, keusch und sitten-
rein, wachsam im Gebet, ein freigebiger Almosenspender, der
Wissenschaft zwar unkundig, aber dennoch ein Weltweiser, ein
Vater des Volkes und Verbesserer der Gesetze." Ein schönes
Bild seines ritterlichen, hochherzigen Wesens giebt folgender
kleine Vorfall. Zwei seiner Waffenträger hatten sich dingen
lassen, den König zu morden. Er aber erfuhr davon. Da
Klee, Die alten Deutschen. 21
322 40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Desiderius.
ging er mit ihnen ganz allein in den dichtesten Wald. Hier
zog er sein Schwert, hielt es ihnen entgegen, sagte ihnen,
daß er von ihrem Vorhaben wisse, und forderte sie aus, es
auszusühren. Da warfen sie sich ihm zu Füßen und bekannten
reuig ihre Schuld, und er verzieh ihnen großmütig.
Liutprands Thronerbe wurde schon nach sieben Monaten
der Krone beraubt; sein Nachfolger war ein guter, aber
schwacher Mann, der sich durch seine Nachgiebigkeit gegen die
Ansprüche des Papstes um die Volksgunst brachte und sich ge-
zwungen sah in ein Kloster zu gehen. An seiner Statt er-
hoben die Langobarden den Aistuls aus den Thron. Dieser
war ein thatkrästiger, hochbegabter Fürst, dessen Regierung
glänzend begann. Er riß die letzten Besitzungen des oströ-
mischen Kaisers in Italien an sich und war schon im Begriff
sich Roms zu bemächtigen. Da warf sich der Papst dem
mächtigen Frankenherrscher Pippin dem Kleinen in die Arme,
der die fränkische Krone den untüchtigen Merowingern ent-
rissen hatte. Dafür, daß der Papst ihn zum König salbte,
hals Pippin ihm gegen die Langobarden. Letztere wurden ge-
schlagen und zum Frieden gezwungen. Pippin schenkte dem
Papste das ehemals oströmische Gebiet in der Gegend von
Ravenna und legte dadurch den Grund zum Kirchenstaate.
Kaum hatte indes Pippin den Rücken gekehrt, da erklärte Aistulf
alle Zugeständnisse für nichtig, rückte vor Rom und brachte
den Papst in die höchste Bedrängnis. Auf die Kunde da von
drang der Frankenkönig abermals in Italien ein. Aistulf
mußte sich abermals zum Frieden bequemen. All sein
jahrelanges Mühen war umsonst gewesen. Diese Kränkung
fraß an des stolzen Mannes Herzen. Ein Sturz vom Pferde
beschleunigte seinen Tod. Er starb gegen Ende des Jahres
756. So ließ der König, der unter günstigeren Verhältnissen
Großes geleistet haben würde, sein Reich geschwächt zurück.
Der langobardische Staat war nicht inehr die erste Macht im
Lande Italien; Papst und Frankenkonig waren an seine Stelle
getreten.
Durch den Einfluß des Papstes und der Franken ge-
langte der nächste König Desiderius auf den Thron, und
40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Desiderius. 323
er mußte die Unterstützung der Erbfeinde seines Volkes durch
eine Reihe von Abtretungen und Zugeständnissen erkaufen.
Das war eine schwere Schuld, und er hat sie büßen müssen.
Bald sah er sich in der übelsten Lage; denn kam er seinen
Verpflichtungen gegen Papst und Frankenkönig nach, so ver-
scherzte er den letzten Rest von Achtung des Volkes. So
sah er sich, fast ohne zu wollen, genötigt, die schmählichen
Bande selber abzustreifen, die er sich angelegt hatte. Dazu
kam die rücksichtslose Art, mit der nach Pippins Tode der
große Frankenkönig Karl ihm offen seine Nichtachtung bezeugte,
und die ungeduldigen Mahnungen des Papstes. Kein Ausweg
blieb, als sich durch mannhaftes Auftreten wenigstens die
Achtung des Volkes zu erwerben. Er kündigte demnach dem
Papst die Freundschaft auf und griff Rom selbst an. Aber das
Schicksal gab ihm einen Gegner, dem zu unterliegen auch
einem größern Mann keine Schande gewesen wäre. Karl
der Große nämlich kam mit Heeresmacht nach Italien, schlug
den König, nahm ihn gefangen, schickte ihn ins Kloster und
erklärte sich 774 selbst für den Herrscher des Langobarden-
reiches, das er einige Jahre später ganz mit dem Frankenreiche
vereinigte. Mit ungeahnter Schnelligkeit brach die Herrschaft,
die Alboin vor zwei Jahrhunderten gegründet hatte, zusammen.
Aber die Sage des gesunknen Volks war geschäftig bemüht,
auch nach seinen, Untergang mit ihrem verklärenden Lichte es zu
umgeben. Wie um die ganze Geschichte des langobardischen
Stammes hat sie auch um die letzten schweren Zeiten, be-
sonders aber um die Gestalt des letzten Königs mitleidig ihre
grünen Ranken geschlungen. Hören wir, was die Langobarden,
dieser längst untergegangene, ritterliche deutsche Bruderstamm,
noch nach Jahrhunderten von ihres Reiches Fall erzählten.
In der Stadt Brescia lebte ein gottesfürchtiger Mann
aus edlem Geschlecht, mit Namen Desiderius. Als nach dem
Tode Aistulfs die Großen der Langobarden zu Pavia einen
neuen König wählen wollten, sagte Desiderius zu seinem
Weibe Ansa: „Ich will gen Pavia reisen, wo die Edlen des
Volkes tagen, um einen neuen König zu küren." Da lachte
sein Weib und sprach: „Geh nur hin! Vielleicht wählen
21*
324 40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Desiderius.
sie dich." Er aber zog mit einem einzigen Diener seines
Wegs. Da ward er müde und legte sich unter einen Baum,
um ein Weilchen zu ruhen. Kaum aber war er eingeschlum-
mert, so schlüpfte eine Schlange aus dem Rasen, kroch herzu
und wand sich um das Haupt des Schlafenden wie eine
Krone. Der Diener, der dies mit ansah, scheute sich, seinen
Herrn zu wecken, aus Furcht, die Schlange möchte diesen ver-
letzen. Unterdes träumte Desiderius, ihm werde die eiserne
Krone aufs Haupt gedrückt, und als die Schlange, ohne ihm
ein Leides zu thun, entschlüpft war, erwachte er, und sprach
zu seinem Begleiter: „Steh auf und laß uns weiter ziehen;
denn mir hat ein Traum verkündet, ich solle König werden."
Da erzählte ihm auch sein Diener das Begebnis mit der
Schlange, und sie ritten in mancherlei Gedanken weiter.
Sie kamen nach Pavia und in den Hof des Königs-
palastes. Hier stand das Volk ungeduldig wartend, wen die
Fürsten zum Könige wählen würden; denn es waren schon
etliche Tage vergangen, ohne daß sie sich darüber einigen
konnten. Da sprachen etliche zu Desiderius: „Geh hinein in
den Palast und sage ihnen, wir seien es endlich müde, so
lange auf ihren Beschluß zu warten." Und er that also.
Als die Fürsten nun den Desiderius sahen, an den noch
keiner gedacht hatte, rief einer mit lauter Stimme: „Seht,
dieser hier ist ein adliger Mann und, obwohl nicht reich an Gü-
tern, doch wacker im Kampfe. Ihn lasset uns zu unserm
König wählen!" Da riefen alle einstimmig Beifall, führten
den Desiderius in den Thronsaal und bekleideten ihn mit den
Zeichen der königlichen Würde. Als dies das Volk vernahm,
Hub sich große Freude in der ganzen Stadt. Der neue König
aber dankte Gott für seine Gnade und baute an jenem Ort,
wo die Schlange sein Haupt umwunden hatte, ein großes,
herrliches Kloster. Dasselbe that Ansa, sein Weib. König Desi-
derius war sanftmütig und gutherzig. Der Papst aber zürnte
ihm und verleumdete ihn beim Frankenkönig Karl, so daß dieser
seine Gemahlin Desiderata, des Desiderius Tochter, ohne allen
Grund verstieß und seines Bruders Karlmann Witwe Ger-
be rga, die auch mit Desiderius verwandt war, aus seinem
40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Desiderins. 325
Reich verbannte. Da zog Desiderins zuerst vor Rom, um
den Papst zur Rechenschaft zu fordern. Doch dies ward dem
Frankenherrscher hinterbracht, und alsbald bot er alle seine
Völker auf und zog mit einem ungeheuren Heere gen Italien.
Als er das Thal von Susa eingenommen hatte, rastete er in
dem berühmten und reichen Kloster Novalese solange, bis alle
Vorräte der Mönche aufgezehrt waren. Desiderius aber
entbot die Großen seines Reiches zu sich und fragte sie, was
nun zu thun sei. Sie antworteten: „Dein Heer ist viel
zu klein, um den Scharen Karls im offnen Felde wider-
stehen zu können. Laß aber alle Thäler, die aus dem
Frankenreich nach Italien herüberführen, durch eine Mauer
von Berg zu Berg verschließen und ihm so den Weg ver-
sperren." Also geschah es, und noch heutigen Tags sind die
Grundfesten des Bollwerks zu sehn. Nun rückten die Franken,
die keinen Übergang finden konnten, Tag für Tag in Scharen
gegen die Mauer an, konnten aber den Langobarden in ihren
Verschanzungen nichts anhaben. Den größten Schaden that
ihnen des Desiderius Sohn Adelgis, ein Jüngling von
riesigem Wuchs und unglaublicher Körperkraft. Er zog nur
mit einer Keule bewaffnet in den Kampf und erschlug damit
die Feinde. Wenn er nun merkte, daß die Franken ruhig
und ahnungslos vor der Mauer lagen, so machte er plötzlich
einen Ausfall, stürzte über die Feinde her und hieb mit
seinen Mannen auf sie ein, daß viele Hunderte ihr Leben
ließen.
Da kam eines Tages ein langobardischer Spielmann in
das fränkische Lager. Der sang ein Lied, in dem folgende
Worte vorkamen:
„Wer nun den Weg dem König weist,
Wo ihm kein Schild versperrt die Bahn,
Kein Speer ihm einen Mann entreißt,
Was soll der wohl für Lohn empfahn?"
Als dies dem König Karl zu Ohren kam, ließ er den
Sänger sogleich zu sich rufen und gelobte, ihm alles, was
er verlangen würde, nach Erringung des Sieges zu gewähren.
Den Seinigen aber befahl er, sich für den nächsten Tag zum
326 40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Desiderins.
Aufbruch bereit zu halten. Am andern Morgen, als das
ganze Heer versammelt war, sagte Karl den Brüdern im
Kloster Novalese Lebewohl und zog davon. Der Spielmann
mußte vorausgehen. Dieser verließ alsbald die Heerstraße
und alle bekannten Wege und führte den König über einen
Gebirgspsad, der seitdem der Frankensteig genannt wird. Wie
sie nun in die Ebene hinabgestiegen waren, sammelten sie sich
rasch und stellten sich zur Schlacht aus. Die Langobarden
aber, da sie sich überlistet sahen, flohen bestürzt aus ihren
Befestigungen und zogen sich gen Pavia zurück. Wie alle
Flüsse sich ins Meer ergießen, so ergossen sich nun die Völker
Karls in das Land Italien. Dennoch stellte Desiderins noch
einmal sein kleines Heer den Feinden auf offnem Feld ent-
gegen, obwohl die Franken an Zahl dreißigsach überlegen
waren. Drei Tage stritten die Langobarden heldenmütig. Zu-
letzt konnten sie nicht langer stand halten. Desiderins selber
floh mit dem Rest seiner Getreuen bis zu der Gegend, die
damals das schöne Wäldchen genannt ward, jetzt aber das
Totenfeld heißt. Hier schlief er die Nacht hindurch mitten
unter seinen Kriegern wie ein geringer Mann. Am andern
Morgen zog Karl heran, cs kam nochmals zur Schlacht,
und viele sanken dahin. Endlich aber mußten die Lango-
barden weichen und flohen mit ihrem Könige gen Pavia.
Als sich nun die Franken über das Land verbreiteten,
alle Burgen brachen und alle Dörfer in Brand steckten, da
trat jener Spielmann vor Karl und niahnte ihn an sein
Versprechen. „Fordre, was du willst!" sagte der König.
Darauf versetzte der Mann: „So will ich auf einen dieser
Berge steigen und aus aller Kraft in mein Horn blasen, und
soweit man den Schall ringsum hören wird, sollst du das
Land mir zum Lohne geben, samt allen Männern und Wei-
bern, die darin sind." Da sprach der König: „Es geschehe
so!" Der Spielmann dankte ihm und stieg aus einen Berg
und blies. Darauf stieg er schnell wieder herab, ging durch
Dörfer und Felder und fragte jeden, den er fand: „Hast du
ein Horn blasen hören?" Und wer dann antwortete: „Ja,
ich hab's gehört," dem gab er einen Backenstreich und sprach:
40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Desiderius. 327
„Du bist mein eigen." So erwarb er sich großes Gut au
hörigen Leuten, vielen Dörfern und fruchtbaren Feldern. Und
der König bestätigte dies alles ihm und seinen Nachkommen.
Seitdem heißen die Bewohner jener Gegend in welscher
Sprache Transcornati d. h. die Zusammengeblasenen.
Unterdes bereitete sich Desiderius zu Pavia aus eine Be-
lagerung vor. An seinem Hofe lebte damals ein edler Franke
Namens Otker, der vor Jahren vor Karls Zorn aus dem
Frankenreich entflohen war. Als nun die Kunde erscholl,
Karl nähere sich mit seiner ganzen Streitmacht der Stadt,
stieg Desiderius mit Otker auf einen hohen Turm, von dessen
Zinnen man weit über die Ebene schauen konnte. Der Ge-
päcktroß rückte zuerst heran. „Ist Karl unter diesem Heere?"
fragte der König. „Noch nicht," antwortete Otker. Nun
kam das Heer der Völker, die sich Karl unterworfen hatte.
„Hierunter befindet sich doch Karl gewiß?" sprach Desi-
derius; aber der Franke versetzte: „Noch nicht!" Da
ries der König: „Was sollen wir thun, wenn noch
mehrere mit ihm kommen?" „Ich weiß es nicht," ant-
wortete Otker finster. Indem zeigte sich eine neue Schar,
das waren die Bischöfe, Äbte und Geistlichen mit ihren
Knechten. „Darunter ist doch Karl?" fragte Desiderius.
Doch Otker schüttelte das Haupt. Hierauf tauchte eine andre
Schar aus, das war des Frankenherrschers Hofgesinde. „Da
ist Karl," rief Desiderius. Aber Otker sprach: „Noch nicht,
noch immer nicht." Da rief der König außer sich: „O so
laß uns niedersteigen und uns in der Erde Schoß verbergen
vor dem Angesicht dieses schrecklichen Feindes!" Aber Otker
starrte wie sinnberaubt hinaus in die Ferne und sagte bebend:
„Wenn es aufgeht wie eine eiserne Saat auf dem Gefilde,
und wenn es dich dünken wird, als wälzten Po und Ticino
dunkle, eisenschwarze Meereswogen gegen diese Mauern, dann
wisse, daß Karl naht." Und siehe, da stieg es im Westen
auf wie eine finstere Wetterwolke, und als sie näher kam, da
sah man es von funkelnden Waffen blitzen; und nun ritt er
daher, der eiserne Karl, bedeckt mit eisernem Helm und Schild,
umkleidet mit eisernen Schienen und eisernen! Panzer, in der
328 40. Fall des Langobardenreiches nnd Sage von Desiderius.
Hand den hochragenden eisernen Speer. Auch das Roß, das
er ritt, schien eisern an Mut und an Farbe. Und alle, die
ihn umgaben, waren aus gleiche Weise ausgerüstet wie er.
Eisen erfüllte die Felder und Straßen; die Sonnenstrahlen
brachen sich in dem Glanze des Eisens. Das alles sah Otker
mit einem einzigen Blick, wandte sich zu Desiderius und schrie:
„Sieh da! dort hast du den Karl, nach dem du so viel ge-
fragt hast!" Und mit diesen Worten stürzte er ohnmächtig
zu Boden. Unten in der Stadt jammerte das Volk: „O,
das Eisen! Wehe, das Eisen!" Der König aber stieg vom
Turme herab und suchte Tröstung im Gebet.
In einer Nacht erstürmten die Franken die Stadt. Durch
das Wiehern der Pferde und das Klirren der Waffen er-
wachten erst die Bewohner und liefen verwirrt aus ihren
Häusern hinaus. Viele wurden im Dunkeln zertreten oder
erschlagen. Als die Franken in den königlichen Palast drangen,
warf sich Adelgis ihnen entgegen und erschlug viele. Aber
sein Vater wehrte ihm und sprach: „Es ist Gottes Wille,
daß der Langobarden Reich vergehe." Da entfloh Adelgis in
der allgemeinen Verwirrung aus der Stadt, während Karl
in die Königsburg einzog und den Desiderius gefangen nahm.
Die ganze Bürgerschaft mußte herbeikommen und dem Sieger
den Eid der Treue schwören. Der fromme König blieb auch
im Unglück gottergebenen Sinnes und ertrug sein schweres
Los mit Gelassenheit, bis Gott ihn durch einen sanften Tod
aus diesem Jammerthale zu sich rief.
Sein Sohn Adelgis hatte diesen Duldersinn nicht geerbt,
sondern suchte auf alle Weise Karl zu schaden. Als dieser bereits
in Frieden Italien beherrschte und einmal in der Stadt Pavia
Hof hielt, beschloß der verwegene Jüngling selbst dahin zu
gehen, um zu sehen, ob noch Hoffnung sei, daß er das Reich
wiedergewinne. Auf einem Schifflein fuhr er den Fluß hin-
auf, wie ein Mann aus niederm Stande. So kam er in
die Burg. Nur der Truchseß, ein alter treuer Diener seines
Vaters, erkannte ihn wieder. Zu diesem sprach Adelgis:
„Wenn heute König Karl zu Mittag speist, so weise mir
einen Sitz am untersten Ende eines Tisches an und schaffe,
40. Fall des Langobardenreiches und «Lage von Desiderius. 329
daß alle Knochen, die man von der Tafel wegträgt, vor mich
hingelegt werden." Als nun die Mahlzeit gehalten wurde,
that der Alte so und legte die Knochen vor Adelgis hin.
Dieser zerbrach sie alle und aß gleich einem hungrigen Löwen
das Mark daraus. Die Splitter warf er unter den Tisch,
bis sie einen ansehnlichen Hausen bildeten. Darauf erhob er
sich eher als die andern und ging hinweg. Wie nun die
Tafel ausgehoben war, erblickte Karl die Menge Knochen-
splitter unter dem Tisch und sprach: „Wer zerbrach, um des
Himmels willen, so viele Knochen?" Da antworteten alle,
sie wüßten es nicht. Einer aber sprach: „Es saß hier ein
starker Jüngling, der zerknickte alle Hirsch-, Bären- und
Ochsenknochen, als wären es Strohhalme." Augenblicklich
ließ der König den Truchseß rufen und fragte ihn: „Wei-
mar der Mann, der hier saß?" Jener erwiderte: „Herr,
ich weiß es nicht." Da blickte ihn Karl mit funkelnden
Augen an und rief: „Bei meines Hauptes Krone, du weißt
es!" Der Truchseß schwieg. Da merkte der König, daß es
niemand anders als Adelgis gewesen war. „Weiß niemand,"
fragte er, „wo hinaus er gegangen ist?" Da sprach einer:
„Er kam zu Schiffe und wird vermutlich ebenso wieder Weg-
gehen." „Willst du." sprach ein andrer, „daß ich ihm Nach-
eile und ihn töte?" „Auf welche Weise wolltest du das
thun?" fragte Karl. „Gieb mir," antwortete jener, „deine
goldenen Armringe, und ich will ihn damit berücken." Karl
gab sie ihm, und der Mann eilte am Ufer des Flusses hinab,
bis er das Schifflein schwimmen sah. Da ries er ihm von
ferne zu: „Halt an, Adelgis! Was fährst du so eilig? Der
König schickt dir seine goldenen Armringe zum Geschenk.
Schäme dich, so heimlich davon zu schleichen wie ein Dieb.
Nun komm mit deinem Schiff wenigstens her ans Ufer und
nimm des Königs Gabe!" Da lenkte Adelgis dem Lande
zu. Wie er aber näher kam und jener ihm das Geschenk
auf der Spitze seines Speeres darreichte, ahnte er Verrat,
warf den Panzer über, nahm seinen Speer zur Hand und
rief: „Reichst du mir die Gabe mit dem Speer, so will ich
sie auch mit dem Speer empfangen. Übrigens will ich deinem
330 40. Fall des Langobardenreiches und Sage von Defiderius.
Herrn nicht nachstehen und ihm sein Geschenk erwidern. Er
soll dafür meine Armringe erhalten." Damit reichte er sie
jenem hinüber. Getäuscht kehrte der Mann heim und brachte
dem Könige des Adelgis Armringe. Als aber Karl sie an-
legen wollte, fielen sie ihm bis auf die Schultern. Da ries
er verwundert aus: „Was für Arme muß dieser Adelgis
haben, wenn er solche Spangen trägt! Wahrlich, es ist kein
Wunder, daß er stark ist wie ein Riese." Seitdem ward
Karl einer geheimen Furcht vor Adelgis nicht ledig. Diesem
aber gelang es nicht, den väterlichen Thron wiederzuge-
winnen.
Die langobardische Geschichte ist zu Ende. Die Lango-
barden vergaßen allmählich ihre deutsche Sprache und nahmen
die römische an, die sich zur italienischen umgestaltete. Nur
im Norden Italiens erhielt sich das Deutsche in manchen
Gegenden noch lange. Einige deutsche Gemeinden in den
Thälern Südtirols behaupten noch heute mit Stolz, Nach-
kommen des alten Heldenvolks zu sein. Auch ging das deutsche
Wesen in Oberitalien nicht ganz spurlos unter. Der hohe
Wuchs, die blauen Augen, die weiße Hautfarbe, das blonde
Haar, die dort vielfach zu finden sind, und der unbändige
Freiheitstrotz der „Lombarden", wie diese Leute sich noch bis
in die neue Zeit nannten, beweisen ihre deutsche Abkunft
deutlich.
Gar mancherlei ist aus unsrer ältesten Geschichte, wie wir
sie nun dem Leser wahrheitsgemäß berichtet haben, zu lernen.
Welch herrliche Beispiele von Heldenmut und Biederkeit, von
Tapferkeit und Güte geben uns die edlen Vorfahren! Aber
eines mögen ihre großen Thaten und ihre schweren Leiden
uns vor allem lehren: nie abzulassen vom Geist der Mäßigung
und Einigkeit, der die wahre Vaterlandsliebe ist.
Verlag von C. Bertelsmann in Gütersloh.
Gotthol- Klee:
Vilder aus der iiltrren deutschen Geschichte.
1. Reihe: Geschichtsbilder aus der deutschen Urzeit.
2,25 M., geb. 3 M.
2. Reihe: Geschichtsbilder aus der Völkerwanderung.
3 M., geb. 4 M.
3. Reihe: Geschichtsbilder aus den Reichen der Lango-
barden u. Merowingischen Franken. 3 M., geb. 4 M.
Eine klare lebendige Darstellung, die von sachlichen Unrichtig-
keiten sich freihält. Das Buch sollte nach Möglichkeit Schülern
der mittleren und höheren Klassen in die Hände gegeben werden,
für die es ganz vortrefflich geeignet ist. (Blätter f. litt. Unterh.)
Als Schülerlektüre hat das vortreffliche Werk einen hohen päda-
gogischen Wert. (Mittelschule in Wien.)
Sehr lebendig und anziehend geschrieben. (Post.)
Das Buch ist eine ehrliche und gründliche Arbeit, schöpft aus
den Quellen .selbst und ist dabei schlicht, lebendig und verständlich
geschrieben. Es verdient deshalb namentlich auch der gereifteren
Jugend empfohlen zu werden. (Westermanns Monatshefte.)
Mit gleicher Gewandtheit, wie früher die „Urzeit", hat Klee
hier die hervorragenden Gestalten und Ereignisse der Völkerwande-
rung dargestellt. Überall ist der Verfasser auf eine lebensvolle Dar-
stellung bedacht, sodaß die Gestalten zum Greifen deutlich vor unser
geistiges Auge treten. Das ist der große Vorzug der vorliegenden
Geschichtsbilder, und gerade um dieses Umstandes willen sind sie
für die reifere Jugend aufs wärmste zu empfehlen: das abstrakte
Wisien wird durch solche farbenreiche und lebendige Darstellung,
durch die vor allem auch die Phantasie genährt und gefördert wird,
aufs schönste ergänzt. Lob verdient auch, daß Klee sich nicht damit
begnügt, unmittelbar auf die Quellen zurückzugehen und aus diesen
zu schöpfen, daß er auch die Schriften hervorragender Geschichts-
schreiber, wo sie Lebensvolles bieten, mit heranzieht.
(Zeitschrift für den deutschen Unterricht.)
Verlag von C. Bertelsmann in Gütersloh.
Gotthold Klee:
Die deutschen Heldensagen für jung und alt wiedererzählt.
Mit 8 Bildern. 3. Aufl. 3,60 M., geb. 4,50 M.
Sieben Bücher deutscher Volkssagen. Eine Auswahl
für jung und alt. 2 Bände mit 8 Holzschnitten. Kart.
7 M.
Zwanzig deutsche Volksbücher für jung und alt wieder-
erzählt. Neue Folge der G. Schwabschen „Volksbücher".
Mit 6 Holzschnitten. 3 M., geb. 4 M.
Hausmärchen aus Altgriechenland. Deutschen Kindern
wiedererzählt. Geb. 3,60 M.
Von G. Klee wurden neu durchgesehen die bekannten
Jugendschriften von Gustav Schwab'.
Die deutschen Volksbücher für jung und alt wiedererzählt.
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Dietrich, Große, Manes, v. Oer und Sachse. 5 M.,
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seinen Dichtern und Erzählern. 14. Auflage. 3 Bände
mit 214 Abbildungen. 8 M., elegant geb. 12 M. —
Mittlere Ausgabe in 1 Bande mit 22 Abbildungen.
Eleg. geb. 8 M. — Wohlfeile Ausgabe mit 8 Ab-
bildungen. 2,40 M., in Lwd. geb. 3,60 M.