138 Kap. 22. §109. Kaiser Heinrich I V».GregorVII.(Hildebrand. Gregor's Reformsystem.) die geistlichen Aemter oft an die unwürdigsten und unwissendsten Menschen kamen,-ja selbst nicht wenige Päpste den heiligen Stuhl nur niedrigen Parteikämpfen verdankten und nicht selten, ihrer hohen Würde vergessend, ein unheiliges Leben führten, und daher die größte Sittenlosigkeit auch in der niedern Geistlichkeit einriß; so war die Kirche teils durch ihre eige¬ nen Hirten und Wächter, teils durch die willkürlichen Eingriffe der weltlichen Macht in den größten Verfall geraten. Dieses Grund¬ übel glaubte Gregor nur durch völlige Umkehr des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, zwischen Papst und Kaiser heilen zu können. Nicht blos die Reinigung der Kirche und ihre völlige Unabhängigkeit von der weltlichen Macht, sondern auch die absolute Herrschaft über letztere war sein Ziel, das im Grunde schon in den pseudo-isidori- schen Decretalen (§ 103) vorgezeichnet war.' Gregor ging sofort an die Ausführung seines längst vorbereiteten Werkes. Nach¬ dem er, um die Kirche zu reinigen, zunächst die Gesetze gegen die an Heinrich's IV Hofe am ärgsten getriebene Simonie verschärft und die strengste Zucht gegen un¬ würdige Geistliche geübt, suchte er die Befreiung der Kirche von der welt¬ lichen Macht durch folgende weitere tiefgreifende Maßregeln vollends herbeizuführen: 1) durch die strengste Durchführung des ßölibats oder Gebots der Ehelosig¬ keit aller Geistlichen ohne Ausnahme, wodurch diese aus der Abhängigkeit von weltlichen Obern, zu der sie die Sorge für ihre Familien nötigte, heraus und in die unmittelbare Verbindung mit dem Kirchenoberhaupte traten. Die Ehe¬ losigkeit der Bischöfe war schon früh kirchliche Sitte geworden; die Ausdehnung dieses Gebots auf alle Geistliche war von der abendländischen Kirche ausgegangen und schon vom 4. Jahrhundert an hatten mehrere Synoden und Gesetze den allgemeinen Cölibat geboten, sich aber nicht immer und nicht überall völligen Gehor¬ sam verschaffen können. Selbst in Italien fand der Cölibat den hartnäckigsten Widerspruch, zumal Gregor darauf bestand, daß jeder verheiratete Priester sein Weib und seine Kinder entlassen, oder seine Stelle aufgeben solle. So unnachsichtlich aber Gregor darauf bestand, so dauerte es doch ein ganzes Jahrhundert, bis der Cölibat durchgeführt war; 2) durch das Uerbol der Investitur, d. i. durch die Verordnung, daß die Belehnung der Bischöfe und Aebte mit der geistlichen und weltlichen Amtsgewalt nicht durch Laien geschehen dürfe, so daß also von nun an die Kirche selbständig die Geistlichen sollte wählen und in's Amt einsetzen dürfen, was an sich nicht unbillig gewesen wäre, wenn nicht mit den Bischofsrechten auch die Grafschaftsrechte ver¬ bunden gewesen wären (§ 103). Da nun diese nicht getrennt wurden und auch kaum mehr zu trennen waren, so sollten durch Gregor's Maßregel auch die großen geistlichen Länder und Güter, die bisher Lehen des Kaisers waren, gewissermaßen Eigentum der Kirche werden, wogegen die Kaiser mit Fug und Recht stets Ein¬ spruch taten; 3) durch die schon von Päpsten früherer Zeit (§ 103) aufgestellten und nun wieder¬ holten Behauptungen, daß kein Concilium gütig fei, welches nicht der recht¬ mäßig gewählte Papst berufen habe, und daß jedenfalls der Papst Über den Aussprüchen der Concilien stehe, Behauptungen, durch welche einerseits jeder Eingriff der Kaiser oder Könige, die sich etwa der Concilien gegen die Päpste be¬ dienen möchten, beseitigt, anderseits die Macht der Bischöfe für immer ge¬ brochen und die päpstliche Alleingewalt in d er Kirche befestigt werden sollte; endlich 4) durch die kühne Erklärung, daß alle weltlichen Herrscher ihre Krone vom Papste, als dem „Stellvertreter Christi", zu Lehen empfangen müßten, wes¬ halb dieser das Recht habe, Kaiser, Könige und Fürsten ab- und einzusetzen, je nach¬ dem sie sich würdig erwiesen, die ihnen anvertrauten christlichen Völker zu leiten. Dem an sich untadeligen Bemühen, die Kirche zu reinigen und ihre Rechte gegen die Uebergriffe der weltlichen Macht zu schützen, mischte sich demnach das von Gregor's glühendem Eifer für die Freiheit der Kirche