— 109 — finden oder sich im Nachahmen anderer Weisen und Dichtungen oder im Nachsingen derselben zu üben. Kam dann der Sonntag heran, so wurde die Schultasel ausgehängt zum Zeichen, daß eine Singschule abgehalten werden sollte. Im Rathhaus oder in der Kirche versammelte sich außer der Sängergesellschaft eine große Zahl von Bürgern und Bürgerinnen; tiefes, ehrerbietiges Schweigen herrschte in der Versammlung. Zuerst traten die Meister, dann die Singer und Dichter und zuletzt die Schüler und Schulfreunde auf. Die vorgetragenen Gesänge wurden von den Merkern nach bestimmten Regeln und Gesetzen, deren Zusammenstellung die Tabu¬ latur hieß, geprüft. Der beste Sänger der abgehaltenen Sing¬ schule wurde vom Kroumeister mit einem Kranze gekrönt, oder er erhielt ein Kleinod um den Hals gehängt. Gekrönt oder mit einem Kleinod ausgezeichnet zu werden, war nicht nur für den Gekrönten, sondern auch für seine Familie, seine ganze Verwandt¬ schaft, ja sogar für die Zunft, der er angehörte, eine große Ehre. Die besten Gedichte wurden sodann in ein großes Buch geschrieben und dieses von dem Schlüsselmeister sehr sorgfältig aufbewahrt. Die berühmtesten Meistersänger waren Hans Rosenblüth und Hans Sachs. c. Bedeutung des Meistergesanges. Für die Dichtkunst hat der Meistergesang keine nennenswerthe Bedeutung. War er doch nicht viel mehr als eine Reimkunst nach strengen, unver¬ brüchlichen Regeln, welche dem Geiste des Dichters eiue freie Bewegung nicht gestatteten. Man sah nicht etwa aus den Geist der Dichtungen, nur auf die Worte und Silben, über welche es eine Menge von Strafregeln gab. Dieses Zwängen des Geistes und der Poesie in bestimmte Formen und enge Fesseln konnte zur Entwickelung der Dichtkunst nicht dienen; diese artete denn auch gar bald in Reimerei und Spielerei aus. Die verschiedenen Weisen führten besondere und oft absonderliche Namen; so gab es einen rothen Ton, einen blauen Ton, eine gelb Veielein-Weis, eine warme Winter-Weis, eine roth Nußbluh-Weis u. dergl. m. — Desto wichtiger aber ist der Meistergesang für die Cultur- und Sitten-Ge schichte. Wie hoch ist es doch anzurechnen, daß die Handwerksleute ihre Freistunden an Werk- und Sonntagen einem höheren Zwecke zuwandten, als es gewöhnlich zu geschehen pflegt! Ein tüchtiger Sinn war es, der die Handwerker veranlaßte, in die Sängergesellschaften einzutreten und fo ein gemeinsames Band ber Bürgerschaft herzustellen. Der Zweck der Süngerschnlen schloß