Georg-Eckert-Institut
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Aus allen Jahrhunderten.
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Historische Charakterbilder
für
Schule und Kaus,
zusammengestellt und herausgegeben von
Dr. Werra, und Dr. Wacker,
Gymnasiallehrer in Münster i. W. Gymnasiallehrer in Aachen.
Mit 15 Vollbildern und 144 Illustrationen im Text.
Münster i. W. 1891. Heinrich Schönrrrgh.
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Historische Charakterbilder
für
Schule und Laus,
zusammengestellt und herausgegeben von
Dr. Werra, und Dr. Wacker,
Gymnasiallehrer in Münster i. W. Gymnasiallehrer in Aachen.
I. Band: Das Altertum.
Mit 8 Vollbildern und 35 Illustrationen im Text.
Münster i.W. ernrich Schüningh.
Druck von ?lugu st Pries in Leipzig.
Vorwort.
Seitdem auf unseren höheren Schulen dem geschichtlichen Unterrichte eine größere Aufmerksamkeit zugewendet wird, ist man auf zweifache Art bestrebt gewesen, denselben zu hebeu. Suchte man einerseits, besonders für den altgeschichtlichen Unterricht, „das Heil und die Zukunft dieses Lehr-zweiges in einem engen und bewußten Anschluß an eine methodisch ausgewählte Quellenlektüre", so hielt mau es andrerseits für ratsam, dem Schüler auch die Benutzung der Werke moderner Geschichtsdarstellung zu ermöglichen. „Wir erfreuen uns", sagt der um die Didaktik des geschichtlichen Unterrichts verdiente Herbst",*) einer täglich sich mehrenden historischen Litteratur, die auf dem festen Grund der Forschung ruht und das vergangene Leben in Wahrheit reproduziert. Freilich kommt dieselbe nur ausnahmsweise unseren Schülern unmittelbar zu gute. Ein kleiner Kanon unserer geschichtlichen Klassiker, wie er für Schule und Schüler geeignet und heilsam wäre, ließe sich leicht aufstellen. Vor allem sollten Lehrer und Schülerbibliotheken auf die historische Biographie das Interesse des Schülers hinlenken. Hier ist ein Ersatz für die Quellen selbst und der Boden, wo, wie nirgends sonst, begeisterte Liebe zur Geschichte groß wächst. Das ist kräftige Kost, und wer sie schmackhaft findet, der dreht manch andern schalen Gericht den Rücken."
_ ®iefe Worte eines angesehenen Fachmannes überheben uns der Muhe, die innere Berechtigung der Herausgabe vorliegenden Buches nachzuweisen. Tenn mag Herbst auch in seinen oben angeführten Worten zunächst mehr an die Benutzung der betreffenden Werke selbst gedacht ^ben, so ist doch einzusehen, daß auch bessergestellte Schülerbibliotheken
*) Zur Frage über den Geschichts-Unterricht auf höheren Schulen. S. 54 u. 55.
IV
Vorwort.
die ihnen zugedachte Aufgabe nur schwer erfüllen können, geschweige denn, daß es dem einzelnen Schüler möglich fei, sich aus eigenen Mitteln jenen geistigen Genuß zu verschaffen. Dazu kommt, daß es selbst bei den besten Werken unserer Geschichtschreiber aus verschiedenen Gründen nicht immer ratsam erscheint, den Schülern das ganze Buch in die Hand zu geben. Die Herausgeber glauben demnach ganz im Sinne der von allen als berechtigt anerkannten Ausführungen des verstorbenen Herbst zu handeln, wenn sie den Schülern Gelegenheit bieten, wenigstens auszugsweise jene Werke kennen zu lernen. Zugleich hoffen sie aber auch weiteren Kreisen der Gebildeten, denen bei allem Interesse für die Geschichtswissenschaft die Zeit oder Gelegenheit fehlt, die besten einschlägigen Werke selbst zu lesen, eine nicht unwillkommene Gabe geboten zu haben.
Freilich könnten mehrere bereits vorhandene Sammlungen von Geschichtsbildern, die den verschiedenen Bedürfniffen^auf diesem Gebiete entgegen zu kommen fnchen, vielleicht eine neue Sammlung als überflüssig erscheinen lassen. Jedoch unterscheidet sich die vorliegende, wie wir hoffen zu ihrem Vorteil, von jenen durch eine mäßige Beschränkung des Stoffes, indem sie im allgemeinen nur bei den geschichtlichen Höhepunkten verweilt, für diese aber möglichst vollständige, in sich abgeschlossene Darstellungen bietet, die geeignet sind, zu einer Ergänzung und Belebung des geschichtlichen Unterrichts zu dienen.
Unnachsichtlich ist alles ferngehalten, was in sittlicher und konfessioneller Hinsicht irgendwie anstößig erscheinen könnte.
Die Verlagshandlung hat sich bemüht, durch forgfältig ausgewählte Illustrationen das Buch nicht nur zu schmücken, sondern auch in seinem Inhalte anschaulicher und belehrender erscheinen zu lassen.
Die Herausgeber.
Altertum.
I.
Das Königtum der Ägypter.
(M. Duncker).
Durch ganz besondere Eigenschaften der Lage und der Natur des Landes wurde die Entwickelung der Ägypter bestimmt. Frühzeitig hatte die einheitliche Gestaltung des unteren Nilthals zur Vereinigung der Landschaften, danach zur Vereinigung des unteren und oberen Landes geführt. Mit dem hierdurch wachsenden Gedeihen des Anbaues war Sicherung gegen die Wüstenstämme notwendig geworden, die Bewässerung des oberen, wie die Entwässerung des unteren Landes hatten durchgreifende Anordnungen gefordert; an die Stelle der Patriarchalen Herrschaft der Stammhäupter, der Stammfürsten der Landschaften war ein Königtum von umfassender Machtbefugnis getreten, das bei der Stetigkeit des ägyptischen Wesens hier festere Wurzeln als irgendwo sonst gefaßt hat. Der griechische Geschichtschreiber Herodot bemerkt, die Ägypter hätten nicht ohne Könige leben können, und Diodor berichtet, die Ägypter hätten ihre Könige geehrt und seien vor ihnen niedergefallen, als ob sie wirkliche Götter wären; von denjenigen, welche so große Wohlthaten erzeigen könnten, wie die Könige, hätten sie angenommen, daß sie der Natur der Götter teilhaftig seien.
der -4-hat sind die Ägypter in der Erhöhung der Herrschermacht weiter gegangen, als irgend ein anderes Volk. Es war'nicht nur die Erhaltung der Einheit des Landes gegen die Nachbarstämme, die zu dieser Erhöhung führte. Diodor hat nicht unrichtig gesehen, daß religiöse Vorstellungen Anteil daran hatten. Wenn die Ägypter schon in manchen Tieren und Menschen Erscheinungen des göttlichen Wesens zu erkennen
Aus allen Jahrhunderten. i
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Altertum.
glaubten, wie hätten sie solche nicht in hervorragender Weise in der waltenden, ordnenden, erhaltenden Macht des Königs über das ganze Land erblicken und verehren sollen?
So war den Ägyptern der König der Segensgott ihres Landes. Wie die Götter sind ihnen ihre Könige Herren der Wahrheit und Gerechtigkeit, sie strafen die Bösen, belohnen die Guten, sie sorgen, daß jedem die Frucht seines Ackers zu teil wird, und machen dadurch Ägypten leben, d. H. verleihen ihm Segen uud Ruhm. Seit der Zeit der Kriegs-fürsten von Theben (um 2300 v. Chr.) waren die Pharaonen ihren Unterthanen nicht nur „Spender des Lebens" wie die Götter, nicht nur Söhne der Götter, sie sind die „Sonne selbst, welche der Welt geschenkt ist"; sie lassen ihr Antlitz leuchten über Ägypten und strahlen über dem Lande, wie der Sonnengott Ra über der Erde strahlt; sie sind die Gottheit dieses Landes selbst. Diese Vergöttlichung der Könige überdauert die Selbständigkeit des Reiches. Auch die Fürsten von Rap ata, die Äthiopen, welche Ägypten bezwangen, führen den Titel des Sonnengotts in ihren Thronnamen, ebenso die Perser Kambyses und Darius. Und wenn der Priester des Ammon in der Oase Siwah den Macedonier „Sohn des Ammon (Zeus)" anredete, so wiederholte er damit nur, was die Priester Ägyptens dem Kambyses gethan, was nach Alexander die Ptolemäer und die Cäsaren Roms erfahren haben. Ptolemäns Epiphanes (204—181 v. Chr.) heißt „Sohn des Ptah, geliebt von Ammon und Ra, der Sohn der Sonne, der Lebensspcnder immerdar"; der noch erhaltene Denkstein von Rosette (S. 5) verordnet, daß „dem Gott Epiphanes" in jedem Tempel ein Bild gefertigt werde, dem die Gottheit des Tempels die Waffen des Sieges überreiche. Das Bild des Königs soll täglich dreimal verehrt werden, an den Festen sollen ihm dieselben Ehren erwiesen werden, wie den übrigen Göttern, dazu soll dem Gott Epiphanes jährlich ein besonderes Fest gefeiert und eine besondere Priesterschaft für ihn gebildet werden.
Bei einer solchen Stellung des Königs, wie wir sie schon frühzeitig im wesentlichen festgestellt finden, bedurfte derselbe keiner Vermittlung der Priester, um sich den Göttern zu nahen. Der gottgleiche Pharao ist nicht nur Oberhaupt, absoluter Herr des Staates, sondern auch der höchste Priester. Der König allein schaut die Götter von Angesicht im Dunkel des Allerheiligsten der Tempel. Er ist es, welcher das Volk und den Staat den Göttern gegenüber vertritt. Stets finden wir den König selbst vor den Göttern, stets sind es die Könige, welche den Göttern die Tempel weihen; überall zeigen uns die Denkmale die Opfer und Spenden der Könige, nicht die der Priester. Der König steht an der spitze des Kultus, seine Mutter, seine Söhne und Enkel, seine Frau und seine Töchter sind nach den Inschriften Priester dieses und jenes Gottes, dieser
Duncker: Das Königtum der Ägypter. 3
und jener Göttin. Nirgends hat weniger als in Ägypten eine Priester-herrschaft, eine Hierarchie, bestanden, deren Voraussetzung darauf beruht, daß der König, der Staat sich ohne Vermittlung der Priester den Göttern nicht nahen kann, daß die Priester in einem besonderen und näheren Verhältnis zum Himmel stehen. In Ägypten sagen.uns Grabschriften der Priester schon aus der Zeit der großen Pyramiden, daß sie durch die Huld des Königs dieses oder jenes Priestertum empfangen, und ans den Monnmenten sehen wir nicht nur die Würdenträger des Staates, die Befehlshaber der Kriegsleute, sondern auch die Priester im Staube vor den Königen.
Isis, Ptah und RamseI III., ihnen opfernd.
Hiernach konnte der Einfluß, welchen die Priester in Ägypten dem Könige gegenüber zu üben vermochten, nur in der moralischen Wirkung bestehen, welche der Glaube Ägyptens und etwa dessen Erklärung durch geschulte Priester auf das Herz des Königs und dessen Entschluß zu üben vermochten. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß die Vorsteher der Priesterschast nicht schwachen Fürsten gegenüber eine bedeutsame Stellung hätten gewinnen können; und ein solcher Einfluß hat sich in der That zu wiederholten Malen geltend gemacht.
L-iodor schildert die Lebensweise der Könige Ägyptens, die nicht von Sklaven, sondern von den Söhnen der angesehensten Priester bedient wurden, in folgender Weise. Des Morgens habe der König zuerst die
4 Altertum.
von allen Seiten eingegangenen Schriften gelesen, darauf seine Waschungen verrichtet, seiueu Schmuck angelegt und den Göttern geopfert. Während das Opfertier zum Altare geführt wurde, habe der Oberpriester zu den Göttern gebetet, daß sie dem Könige Leben und alles Gute gewähren möchten, da er ein gerechter Herrscher sei; er sei fromm gegen die Götter, milde gegen die Menschen, stark, gerecht und großmütig, ein Feind der Lüge, Mitteiler des Guten und Herr seiner Begierden, der die Bösen nicht so hart strafe, als sie es verdienten, und den Guten mehr gewähre, als ihnen zukomme. Dann legte der Priester die Strafe der Fehler, welche der König etwa begangen, auf seine Diener und ermahnte ihn zu einem frommen Leben, „nicht durch Tadel", wie Diodor ausdrücklich bemerkt, sondern „durch Lobsprüche". Nach vollendetem Opfer habe der Priester dem Könige die Aussprüche und Thaten ausgezeichneter Männer (d. h. wohl der früheren Könige) ans den heiligen Büchern vorgelesen. In derselben Weise sei der übrige Teil des Tages bestimmten Geschäften zugeteilt gewesen; das Spazierengehen, das Baden, kurz alles habe be-stimmte Stunden gehabt. Auch Speise und Trank seien dem Könige vorgeschrieben gewesen. Er habe täglich nur eine bestimmte Portion Wein genießen und nur Kalbfleisch und Gänsefleisch, die Speise der Priester, essen dürfen.
Die Ägypter waren ängstlich darauf bedacht, sich rein zu halten. Die Priester regelten ihre eigene Haltung, ihre Nahrung und Kleidung, wie das Verhalten der Laien nach einem peinlichen Ritualgesetz. Es war die erste Aufgabe des Königs, die Reinheit Ägyptens zu wahren, vor allem hatte er sich selbst rein zu halten; der gottgleiche König, der zugleich der höchste Priester des Landes war, sollte in der Reinheit der Götter strahlen. So ist es begreiflich, daß die Priester die Forderung stellten, daß der König ihrem Ritual gemäß lebe, daß er das reine Leben des Priesters sühre und jedes Geschäft nur zur guten Stunde vornehme. Diodor giebt sein Erstaunen kuud, daß die Könige sich solchen Vorschriften gefügt hätten. Aber es ist wohl nur ein Schema, welches die Priester für das Leben des Königs entworfen hatten, aus denen uns Diodor jene Züge aufbewahrt hat. Wieviel schmeichelnde Huldigung dabei dem großen und gnädigen Könige zugedacht war, die Pharaonen werden davon beobachtet haben, so viel ihnen angemessen schien. Von König Amasis, der unmittelbar vor dem Angriff des Kambyfes gebot, wird berichtet, daß er sich über das hergebrachte Ceremoniell hinweggesetzt und nach vollbrachten Geschäften ausgelassen und heiter gelebt habe. Dennoch war seine Regierung eine lange und bei den Ägyptern wohlbeliebte.
Der gottgleiche Herrscher Ägyptens war vom stattlichsten Hofstaate umgeben. Es werden Träger des Wedels zur Rechten des Königs und Träger des Wedels zur Linken, Träger des Sonnenschirmes, Hüter des
® und er: Das Königtum der Ägypter. 5
königlichen Bogens, Oberste der Leibgarde, Vorsteher des Palastes, Vorsteher der Bauten in Ober- und Unterägypten, Vorsteher der Getreidespeicher, Schatzmeister, Vorsteher der Pferde, der Bücher, der Gesänge, Aufseher der königlichen Herden, Schaffner des Palastes und andere Hofbeamten genannt. Das königliche Hausgerät strotzte nach dem Ausweis der Monumente von Silber und Gold. Die Gondeln werden vergoldet dargestellt, mit buntgewirkten Segeln, die Geschirre der Pferde waren prächtig geschmückt, die gepolsterten Sessel künstlich geschnitzt und reich verziert, und von den komplizierten Vorrichtungen der Pharaonischen Küche, von der Menge des Personals, den Mundschenken und Mundköchen, sowie von der Zubereitung der Speisen, geben die Denkmäler eine sehr ausreichende Anschauung.
Die Erblichkeit der Krone Ägyptens war durch die stetige Art dieses Volkes hier von vornherein gegeben; doch scheint nicht immer der älteste
Denkstein von Rosette.
Sohn dem Vater gefolgt zu sein. Seit den Zeiten der Amenemhat (zweite Hälfte des 3. Jahrtausend v. Chr.) wird bemerklich, daß der Vater den zur Thronfolge bestimmten Sohn schon bei Lebzeiten zu seinem Mitregenten annimmt, was denn unter den ersten Ramessiden (um 1350 v. Ehr.) noch häufiger geschieht. Wir dürfen hieraus schließen, daß die Thronfolge nicht selten bestritten war, was durch die Gegenkönige, denen wir mehrfach begegnen, und den öfteren Wechsel der Dynastieen ausreichend erhärtet ist. Die Könige Ägyptens hatten wie alle begüterten Ägypter mehrere Frauen, Nebensrauen neben der Königin, und Schwiegersöhne unter den Priestern und Beamten, Verhältnisse, die den Ehrgeiz leicht zu Ansprüchen auf die Krone stacheln konnten. Der Tod des Königs soll wie der des Apis siebzig Tage hindurch betrauert worden sein; jedermann sollte sich in dieser Zeit der Bäder, des Fleisches und des Weines enthalten. Der Einweihung des neuen Herrschers, der feierlichen
tz Altertum.
Annahme der Krone des oberen und unteren Landes, der Einweihung des Mitregenten wird erst in spater Zeit, jedoch als alten Brauches öfter gedacht. Auf dem Krönungsbilde des dritten Ramses zu Medinet Abu eröffnen Trompetenbläser den Zug, Befehlshaber und Beamte folgen. Zweiundzwanzig Priester tragen die Statne des Ammon, der ein räuchernder Priester folgt und ein Schreiber, der eine Proklamation vorzulesen scheint. Von zwölf reichgeschmückten Männern wird dann der König auf einem Thronfessel unter dem Baldachin einhergetragen. Neben dem Thronsessel schreiten die Träger der Wedel, welche dem Könige mit großen Fächern Kühlung zuwehen; andere tragen die Waffen des Königs und die Abzeichen seiner Macht. Hinter dem Thronsessel folgen die Fürsten des Heeres und der Leibwache. Dann wird ein weißer Stier im Zuge von Priestern geleitet, Priester mit Namensschilden der Vorgänger des Königs schließen den Zug. Vom Throne herabgestiegen, sprengt der König dem Ammon, zündet ihm Weihrauch an und schneidet Ähren mit einer goldenen Sichel ab.
II.
Handel und Wandel der Ägypter.
(M. Duncker).
So streng die Ägypter sich gegen alle Fremden abschlössen, so stolz sie im Gefühl ihres bevorzugten Landes und ihrer bevorzugten Art auf die „elenden" Völker außerhalb ihrer Grenzen herabsahen, Ägypten war dennoch der Mittelpunkt eines bedeutenden Handelsverkehrs. Ägypten brauchte Erze, Weihrauch, Elfenbein, Sklaven, Holz besonders zum Schiffbau, dann aber auch zum Hausbau. Zum Austausch hatte es seine Ackererträge, soweit sie über den eigenen Bedarf hinausgingen, die Fabrikate seiner seit alters entwickelten Industrie, seine Webereien in Linnen und Papyrus, seine Waffen und Werkzeuge, feine Glaswaren, seine geschnittenen Steine und Schmucksachen, seine Töpferwaren, seine Medikamente zu bieten. Die Denkmäler zeigen nur den einfachen Webstuhl, der die bei den Griechen hochgepriesenen Gewände von Byssus lieferte, deren dauerhafte Fäden wir noch heute an der Bekleidung der Mumien untersuchen können; sie zeigen uns die Töpfer, die Hammerschmiede, die Waffenschmiede, die Goldschmiede in allen Verrichtungen ihrer Hantierung, sie zeigen uns das Blasen des Glases bereits in der Zeit, da die Amenemhat und Usnr-tasen geboten, d. H. vor dem Jahre 2000 v. Chr. Der erste kriegerische Schritt, den Ägypten über seine Grenze hinaus that, ist nicht durch Er-
Duncker: Handel und Wandel der Ägypter. 7
oberungslnst, sondern durch seine Industrie geboten. Um für diese Kupfererze zu gewinnen, wird der Westen der Sinaihalbinsel von den Königen Snefrn und Chusu beseht; der Betrieb des Bergbaues muß bei den Ägyptern hiernach schon vor dem Jahre 3000 v. Chr. begonnen haben. Auch der zweite Schritt, den Ägypten über seine Grenzen und zwar nach Süden hinaus thut, hat den Zweck, Holz aus den Wäldern Nubiens zu gewinnen. Die Wanderstümme Libyens, Syriens, Arabiens brauchten Korn, Waffen, Geräte und Werkzeuge; diese in Ägypten einzutauschen, brachten die Libyer das Salz, das sie an ihrer Küste sammelten, die Stämme des wüsten Syriens die Gefangenen ihrer Fehden, die Hänte ihres Viehs, die Stämme der Araber den Weihrauch der Südküste ihres Hochlands, den sie von den Nachbarstammen eintauschten, die Nubier und Neger Holz, Elsenbein und Gold. Den Weihrauchlanden naher zu kommen, öffneten die nächsten Vorgänger der Amenemhat die Straße, welche seitdem wenig unterhalb Thebens von Koptos nach dem Roten Meere, nach Kosseir, führte, sandte König Sanchkara von hier ans die erste Expedition nach den Weihrauchlanden (um 2300 v. Chr.), die dann erst lange danach, nach den Zeiten der Hyksos, von der Königin Ramaka in größerem Maßstabe wiederholt, ägyptische Schiffe bis zur Somaliküste brachte (um 1600 v. Chr.). Dritthalb Jahrhunderte später unternahm es dann Ramses II., seinem Lande die Wasserstraße nach dem Roten Meere zu bahnen. Er gelangte nicht zum Ziele, eben so wenig König Necho, der dieses Werk über sieben Jahrhunderte später nach der Herstellung des Reiches ausnahm. Erst den großen Mitteln, über welche der erste Darius gebot, gelang die Vollendung.
Die Eroberungszüge der Thutmosis und Amenophis (nach 1650 v. Chr.) erschlossen den Ägyptern die syrischen Lande. Der Verkehr mit diesen wird nun einen ganz anderen Umsang erhalten haben. Die Einführung der Streitwagen in das ägyptische Heer gewährte den Stämmen der arabischen Wüste, den Stämmen der Libyer ein neues Austauschmittel für ihren Verkehr mit Ägypten in den Rossen, welche sie zahlreich besaßen und züchteten, und wenn der dritte Thutmosis (1591—1561 v. Chr.) die Syrer außer Rossen und Streitwagen, Cedernholz, Ol, Honig,- Balsam und Sklaven als Tribut zahlen ließ, wenn Sethos I. (1439—1388 v. Chr.) Holz aus dem Libanon fällen ließ, so werden die Städte der Phönizier seit den Zeiten der Thutmosis nicht unterlassen haben, Stämme aus den Wäldern des Libanon und zudem das Ol und den Wein Syriens nach Ägypten zu führen. Sie empfingen dafür die Byssnsgewebe, die Schmucksachen, die Glaswaren, das Korn und die Fische Ägyptens und verhandelten jene weiter an den Küsten von Hellas und Italien. Seit der Zeit der letzten Ramessiden (um 1000 v. Chr.) konnten die Phönizier den Ägyptern auch Silber, Zinn und Bernstein bringen. Wenn die Griechen
8 Altertum.
die Byffusgewebe (die Gewebe der Papyrusstaude) „byblische" d. H. nach der Stadt Byblos nennen, so folgt daraus, daß die Griechen diese Gewebe zuerst durch Schiffe der Phönizier, und zwar der Phönizier aus Byblos erhalten haben. Im zehnten Jahrhundert v. Chr. war Ägypten so reichlich mit Rossen nnd Streitwagen versehen, daß solche nach Syrien abgegeben werden konnten; für den Wagen wurden 600 Schekel (über 1200 Mark), für das Roß 150 Schekel bezahlt.
Selbst die Produkte, deren sie bedurften, aufzusuchen, scheinen die Ägypter nur in jenen Expeditionen auf dem Roten Meere, nur nach dieser Seite hin versucht zuhaben, alles übrige ließen sie sich zuführen. Nur an bestimmten Plätzen scheinen den «Ausländern Verkehr und Landung gestattet gewesen zu fein. Der Verkehr mit den Gebieten des oberen Nil, der Eintausch von Elfenbein, Gold und Sklaven war in alter Zeit wohl aus die Julel bei Syene beschränkt, die von jenem den Namen, bei den Griechen Elephantine, erhalten haben wird. Eine Steinfäule des dritten Ufurtafeu (vor 2000 v. Chr.) bei Semne oder Knmne verbot jedermann, die durch dieselbe bezeichnete Grenze Ägyptens zu überschreiten; nur die Schiffe der Neger, die Tauschhandel treiben wollen, sollen etwas weiter hinauffahren dürfen und zwar bis Primis (Jbrim). In ähnlicher Weise auf gewisse Plätze beschrankt, werden wir uns den Verkehr an der West- und Ostgrenze des Delta vorzustellen haben. Die fremden Schiffe des Roten Meeres werden auf den Hafen von Koffeir angewiesen gewesen fein, die des Mittelmeeres auf die kauopische Mündung des Nil. Nach den Homerischen Gedichten und andern Sagen der Griechen scheint es, daß sremde Schiffe nur in diese einlaufen, daß der Verkehr im neunten unb achten Jahrhundert v. Chr. nur auf ber Insel Pharos, ber Stabt Thonis gegenüber, stattfinden bürste. Daß bie Beschränkung bes Hanbels auf gewisse Plätze einen sehr umfangreichen Umsatz nicht ausschließt, zeigt ber Verkehr Europas mit China unb Japan im siebzehnten und achtzehnten Jahrhunbert. Ägypten hob bann im siebenten Jahrhunbert v. Chr. bie Beschränkungen bes Verkehrs für feine Norbfüste auf; feitbem stanben alle Häsen unb Mün-bungen sowohl den Phöniziern als den Griechen offen.
Wie lebhaft Handel und Industrie waren, wie eifrig jedes Handwerk in Ägypten betrieben wurde, so stand doch der Krämer, der Handwerker in sehr geringer Achtung, und ihre Kräfte wurden oft rücksichtslos genug von den Königen, von den Beamten, den Begüterten angestrengt und verwertet. Das Kriegshandwerk war nach den Zeiten der Eroberungen den angesiedelten Kriegern überlassen worden. Die herrschende Klasse bestand seitdem aus den Beamten der Verwaltung, der Justiz, der Bauten und deren Gehilfen, den Schreibern, d. h. dem gesamten Stande der Schriftkundigen, zu dem sich der Priesterstand erweitert hatte, aus den größeren Grundbesitzern, denen wir wohl auch die
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großen Kaufherren beigesellen dürfen. Während der Arbeiter nur einen Schurz um den Leib hatte, der Handwerker, und wer sonst den unteren Stauden angehörte, ein linnenes Hemd und etwa einen wollenen Mantel darüber trug, war das Lebeu der oberen Klassen bequem, reichlich, auch wohl üppig.
Wohl haben die Priester das Leben mit strengen Vorschriften umzogen, wohl nahmen es die Ägypter ängstlich mit der Reinhaltung und ernstlich mit der Sorge um die Bereitung der Grabstätten und um das Geschick im Jenseits; das diesseitige Leben hatte dennoch vollen Wert für sie. Auch dieses war ihnen eine Gabe des Himmels, und die Mühe, die sie in den Denkmälern auf die Festhaltuug der Person und ihrer Erlebnisse legten, beweist ausreichend, welches Gewicht sie dem Leben in dieser Welt gaben. Niemals haben die Ägypter, wie die indischen Brahmanen, das Ende des Lebens herbeigesehnt, niemals den Leib für die Fessel der Seele gehalten, vielmehr ihn stets für eine in höchster Ehre zu haltende Bekleidung derselben angesehen. Aber welches auch die Grundanschauung der Ägypter sein mochte — auch die strengste religiöse Vorschrift, auch die gesteigerteste Forderung der Abtötung kann niemals hindern und hat niemals gehindert, daß natürliche Freude am Dasein, daß sowohl erlaubter als unerlaubter Lebensgenuß neben und unter ihr Platz gefunden hätte. Die Ägypter haben sich weder das eine, noch das andere versagt.
Herodot sagt uns, daß bei den Gastmahlen ein kleines hölzernes Mumien-
bild mit der Aufforderung herumgereicht wurde: „Schau diesen an, trinke und sei lustig; wenn du tot bist, wirst du wie dieser sein." Die Inschrift im Grabe einer verstorbenen Frau enthält die gleiche Ermahnung: „£) Bruder, o Gatte, o Freund, höre nimmer auf zu trinken, zu essen, den Becher der Freude zu leeren, zu lieben und Feste zu feiern. Folge
deinen Wünschen und laß die Sorge nicht in dein Herz eintreten, so
lange du auf Erden weilst. Denn das Jenseits ist das Land der Schlaftrunkenheit und der Finsternis, eine Wohnung der Trauer für die, welche dort weilen."
Schon die Gräber der alten Zeit, welche die großen Pyramiden umgeben, zeigen uns, daß das Leben der Grundbesitzer jener Tage nicht ohne Schmuck und Festfreude war, daß sie der Jagd und dem Fischfang fleißig oblagen. Die Grabstätten aus der Zeit der Amenemhat und Usurtaseu beweisen, daß die Genüsse der Begüterten mannigfaltiger, die Wohnungen stattlicher, die Kleider zierlicher und gewählter geworden sind. Auch in dieser > Zeit und weiter in den Zeiten nach den Hyksos wird die Jagd nicht vernachlässigt, Hasen, Füchse, Steinböcke, Gazellen, Büffel werden mit Pfeil und Bogen verfolgt, mit dem Wagen und Windhunden gehetzt oder in Gehege von Netzen getrieben. Auch mit dem Lasso {einer Jagdwaffe, bestehend aus einem langen Riemen mit zwei eisernen
10 Altertum.
Kugeln) werden Gazellen und Büffel gejagt und den Hyänen Fallen gestellt. Die Fische werden mit demHameu oder in Netzen gefangen; der Vornehme angelt zu seinem Vergnügen. Die Häuser der Begüterten waren nach den Darstellungen der Monumente im Gegensatz zu dem schweren Tempelbau in leichtem und zierlichem Stil gehalten, hatten mehrere Stockwerke und waren mit den noch heute gebräuchlichen Galerieen und Terrassen versehen. Bei den Landhäusern gab es schattige Gänge von genau in Reihen gepflanzten Bäumen und abgezirkelte Blumenbeete, zierliche Pavillons uud Wasserbecken. Wir sehen die Frauen im Schmuck der Halsketten, Ohrgehänge, Armbänder; Ringe der mannigfachsten Form zieren fast jeden Finger. Ihr Haar ließen sie künstlich ordnen, sie badeten hünsig und machten einen ausgedehnten Gebrauch von Salben. Man lebte gesellig im alten Ägypten. In den Gräbern von Beni-Hassan sehen wir Männer, welche sich in einer Sänfte tragen lassen, in den Gräbern von Theben fahren sie im Wagen dahin. Geschmückte Männer und Frauen verkehren dann im Saale miteinander, hellfarbige uud schwarze Sklaven, zum Teil zierlich gekleidet, reichen ihnen Blumenkränze und Schalen. Der Tisch ist gedeckt, Brot, Feigen und Trauben in Körbchen, der Wein in Glasflaschen, Gemüse und allerlei Geflügel sind aufgefetzt. Die fefteu Speisen werden mit den Händen, die flüssigen mit Löffeln gegessen. Bei diesen Mahlzeiten scheinen die Ägypter nicht eben mäßig gewesen zu sein. Während des Essens ließen sich Tänzer sehen uud Musikbanden von Männern und Frauen auf Harfen, Guitarren und Flöten hören, in deren Klänge sich die Töne des Tamburins mischten; auch sang wohl ein Chor zur Harse. Doch musiziert und tanzt die Gesellschaft auch felbst. Das Ballspiel und das Fingerspiel wurden fchon im alten Reiche geübt. Unter den Unterhaltungen des neuen Reiches ffnden wir auch das Brettspiel. Männer und Weiber, welche Verrenkungen des Körpers und Kraftstücke zur Schau stellen, zeigen die Monumente häufig. So lebte man im Lande der Wunder, im alten Ägypten, dessen reich entwickelte Kultur an den Pforten des geschichtlichen Lebens liegt.
III.
Oie Pyramiden.
(G. Ebers.)
Die Pyramiden, die Grabkammern, Mausoleen der ägyptischen Könige, sind die größten von jenen Menschenwerken, die wir von den Alten als „Wunder der Welt" preisen hören. Es ist unnütz, ihre Form zu beschreiben, denn jeder kennt die stereometrische Figur, der sie den
Ebers: Die Pyramiden. 11
Namen gegeben, und es ist hier nicht ber Ort, ihre Masse in Zahlen auszudrücken. Nur durch den Vergleich mit anderen in unserer Vorstellung gegenwärtigen Körpern läßt sich eine rechte Würbigung ihrer Größe erzielen, und so sei von vornherein gesagt, daß, während die Peterskirche in Rom 131 Meterhoch ist, die größtePyramibe (diedes Cheops) mit ergänzter Spitze 147 Meter also 16 Meter mehr mißt, und daß man, wenn der Cheopsbau hohl wäre, den gewaltigen römischen Dom in ihn hineinstellen könnte, wie eine Stutzuhr unter die schützende Glasglocke. Weber die Stephanskirche in Wien, noch das Straßburger Münster erreichen die Höhe der
Tie Pyramide deZ Cheops.
höchsten Pyramide; nur die neuen Türme des Köluer Doms übertreffen sie. In einer Beziehung kaun kein anderes Banwerk der Welt auch nur im entferntesten den Vergleich mit den Pyramiden aushalten, d. i. in Hinsicht auf die Masse und Schwere des bei ihrem Bau verwandten Materials. Würde mau das Cheopsgrab abtragen, so könnte man mit den so gewonnenen Quadern die ganze französische Grenze mit einer Mauer umziehen. Schießt man mit einer guten Pistole von der Spitze der größten Pyramide geradeaus in die Luft, so fällt die Kugel auf die Mitte ihrer Seitenfläche nieder. Mit diesen und ähnlichen Vergleichen sucht man die Vorstellung derer, denen es versagt ist, Ägypten selbst zu besuchen, mit einem zutreffenden Bilde der Dimensionen dieser ungeheueren Bauten vertraut zu machen. Im Südwesten der höchsten Pyramide erhebt sich eine zweite, die der des Cheops nur wenig an Größe nachgtebt. Au ihrer
12 Altertum.
Spitze sind die Deckplatten noch wohl erhalten, und ihr Bauherr war König Chefren, den die Inschriften Chafra nennen, der zweite Nachfolger des Cheops; die dritte beträchtlich kleinere, aber von schönem Material mit besonderer Sorgfalt erbaute Pyramide diente dem der gleichen Herrscherreihe angehörenden Mykerinos (Men-ka-ra) zum Mausoleum. Die kleinen Pyramiden im Osten und Süden des Mykerinosbaues bergen die sterblichen Reste der Söhne und Töchter desjenigen Pharao, der die größeren Monumente in ihrer Nähe errichten ließ.
Fragen wir uns, in welcher Weise und mit welchen Mitteln es möglich gewesen sei, solche Riesenwerke herzustellen, dann denken wir wohl an des Griechen Herodot seltsame Nachricht, beim Bau dieser Denkmäler sei die Spitze zuerst, der der Erde zunächst liegende Teil zuletzt vollendet worden. Sie hat sich als eben so wohlbegründet erwiesen, als desselben Schriftstellers andere Behauptung, deren Richtigkeitsich übrigens von vornherein jedem Beschauer aufdrängt, daß die Cheopspyramide „in der Weise von Stufen" errichtet worden sei. Wenn den Engländern Perring und Vyse das Verdienst zukommt, die Pyramiden zuerst in allen ihren Teilen genau vermessen zu haben, so gebührt den Deutschen Lepsius und Erbkam der Ruhm, durch mühevolle Untersuchungen und geistreiche Kombinationen der Methode, nach welcher sie errichtet worden sind, auf die Spur gekommen zu sein. Wer diese Arbeit unserer Landsleute kennt, der wird den Bericht Herodots verstehen und sich jede Frage zu beantworten vermögen, die sich dem denkenden Beschauer gegenüber den Pyramiden aufdrängt. Wir wissen nun, wie es kam, daß der eine König sich ein Denkmal von ungeheurer Größe errichtete, während ein anderer sich mit einem viel kleineren begnügte, warum wir nur eine unvollendete Pyramide nachweisen können, und woher Cheops den Mut nahm, ein Werk in Angriff zu nehmen, zu bessert Ausführung bie Durchschnittsdauer einer Regierungszeit keineswegs ausreichte, unb dessen Beendigung den Nachkommen doch nicht zugemutet werden durste, da diese für ihr eigenes Grabmal zu sorgen hatten.
Sobald ein Pharao den Thron bestieg, begann er mit dem Bau seines Mausoleums und zwar zunächst in bescheidenen Dimensionen, indem er eine abgestumpfte Pyramide mit steilen Wänden errichtete. Wenn der Tod ihn überraschte, so wurde diesem Kern zuerst die Spitze aufgesetzt, und man verlängerte die Neigungsflächen derselben bis auf den Boden. War nach ber Vollenbung bes ersten Kerns noch Zeit unb Kraft vorhanben, so würbe ein neuer Mantel in Stufenform um bie fertige abgestumpfte Pyramide gelegt und so immer fort, bis man endlich zu einem Punkte gelangte, wo jede neue Vergrößerung für sich allein ein Riesenwerk war. Immer mußte, sobald es das Denkmal zum Abschluß zu bringen galt, die Spitze zuerst ausgesetzt, dann die dieser zunächst
Ebers: Die Pyramiden. 13
liegende und zuletzt die unterste Stufe ausgefüllt werden. Sehr lehrreich ist die Form der sogenannten Knickpyramide von Dahschnr; denn dieser ward wohl die Spitze aufgesetzt, doch unterließ es der pietütslose Thronfolger, ihren untern Teil zu vollenden. So sind denn die Pyramiden thatsächlich von oben nach unten vollendet worden; aber man legte keine Steine, welche leicht aus ihren Betten fallen konnten, als Füllungen in die Stufen, sondern Blöcke, welche mit breiten Flächen aufeinander drückten' und sich durch ihre eigene Last im Lause der Jahrtausende so fest zusammenschmiegten, als würden sie vom besten Mörtel
Knickpyramide von Dahschur.
gehalten. Es versteht sich von selbst, daß die Bekleidung der Pyramiden mit glatten Steinplatten, wie sie sich noch an der des Chefren und Mykerinos erhalten haben, gleichfalls an der Spitze begonnen wurde. Wir wissen nun, daß sich die Größe der Pyramide nach der Länge des« Lebens ihres Erbauers richtete, und daß es zu jeder Zeit freistand, sie zum Abschlüsse zu bringen. Die Füllung der Stufen konnte der Pietät des Erben überlassen bleiben, und in frühester Zeit hielt man diese nicht einmal für notwendig, wie die Pyramiden von Medum und die Stufenpyramide von SakkLra zu beweisen scheinen. „Wären sich im Laufe der Zeit die übrigen bestimmenden Verhältnisse gleich geblieben, so würde man
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noch jetzt cm den Schalen der Pyramiden, wie an Baumringen, die Regierungsjahre der einzelnen Könige, die sie erbauten, abzählen können."
Die saubere Bearbeitung der einzelnen Werkstücke ist über jedes Lob erhaben. Herodot weiß schon zu berichten, daß sie den Steinbrüchen am jenseitigen Nilufer entnommen, auf Schiffen über den Fluß gebracht und dann auf einem Dammwege, an dem man zehn Jahre gearbeitet habe, zu dem Bauplatze gebracht worden wären. Gewaltige Spuren dieser Kunststraße sind heute noch vorhanden, und wären die Pyramiden selbst verschwunden, so würden die Steinbrüche im Mokattamgebirge bei Surret und Mafara südlich von Kairo lehren, daß hier vor Zeiten das baulustigste aller Völker gelebt habe. Tief in den Leib der Berge von feinkörnigem alttertiären Nummuliteukalk drangen die Architekten der Pharaonen ein, um das tadellose Gestein zu finden, dessen sie bedurften, und es versteht sich von selbst, daß die Gänge, Säle und Hallen, die sie aushöhlten, der Größe der Pyramiden entsprechen; ist doch das gesamte, bei ihrer Errichtung verwandte Material, mit Ausnahme der granitenen Deckplatten, in diesen Steinbrüchen gebrochen worden. Turra hieß auf ägyptisch Toroue. Das klang den Griechen wie Troja, und sie nannten es also, und weil sie asiatische Kriegsgefangene hier bei der Arbeit fanden, so fabelten sie ungesäumt, dies wären die Nachkommen der Leute aus Jlium, welche Menelans, als er auf seinem Heimwege Ägypten mit der wiedergewonnenen Helena besuchte, am Nil zurückgelassen habe. Heute uoch werden in der Gegend der alten Latomien viele Steine für die Bauten in Kairo gebrochen, und wenn auch gegenwärtig die Blöcke und Platten nicht mehr von vielen Menschen, die man vor die auf Rollen ruhenden Steinschlitten spannte, sondern von Pferden und Lokomotiven auf eisernen Schienen ihrem Ziel entgegengeführt werden, so erinnert
doch gerade hier noch manches an die alten Zeiten; vielleicht auch die
Gestalt der Wagen, auf denen die Werkstücke abgewogen werden.
Beim Bau der Cheopspyramide sollen immer hunderttausend Menschen, welche alle drei Monate abgelöst wurdeu, zwanzig, vielleicht auch dreißig Jahre lang thätig gewesen sein, und der Dragoman (Dolmetscher) des Herodot las ihm eine Inschrift vor, welche besagte, daß allein für die Zukost der Arbeiter: Rettich, Zwiebeln und Knoblauch, sechshundert Talente, das sind 2700 000 Mark ausgegeben worden wären. „Verhält sich dies wirklich so", ruft der Halikarnassier aus, „wie viel müssen nicht erst andere Dinge, wie das eiserne Gerät, der Unterhalt der Arbeiter und ihre Kleider gekostet haben!" Wir teilen die Empfindungen des Griechen, zumal wir die Zahlen, die man ihm vorlas,
keineswegs für übertrieben halten. Übrigens hat die Inschrift, von der er spricht, gewiß nicht an der Pyramide selbst, die niemals mit Hieroglyphen und Bildwerk versehen war, sondern in oder an einem der ihr
Ebers: Die Pyramiden. 15
benachbarten Gräber gestanden, die sich hier am Fuße der Pyramiden in wohlgeordneten Reihen erheben. Während die Pyramiden selbst keine Inschriften tragen, sind die Jnnenrünme in allen Grüften, die die sterblichen Überreste der Großen des Reiches aufzunehmen bestimmt waren, mit Bildern uud Hieroglyphen bedeckt.
Steigt man in diese Jnnenrünme der gewaltigen Pyramiden hinein, so zeigt sich überall das gleiche Mißverhältnis zwischen der Größe des Banwerks und den winzigen Dimensionen der benutzbaren Räume, die es enthält, und diese Disharmonie ist doch erklärlich und erscheint sogar zweckooll, wenn wir uns die Aufgabe des Architekten, einen möglichst fest
Durchschnitt der Pyramide des Cheops.
a) Schachtöffnung, b) Königskammer, c) Königinkammer, e) Eingang, d) Unterirdische Felsenkammer.
abgeschlossenen und schwer zugänglichen Ruheplatz sür eiue Leiche herzustellen, vergegenwärtigen.
Der Eingang aller Pyramiden befindet sich an der Nordseite, bei dem Cheopsmausoleum öffnet er sich über der dreizehnten Stufe. Ein Gang führt von da steil abwärts nach einer unterirdischen Felsenkammer. Andere Gänge führen aufwärts in den Kern der Pyramide, in dem sich zwei Kammern bestnden. Die untere, kleinere ist die Kammer der Königin, die obere die Königskammer. Dieser größte unb wichtigste Raum ber Cheopspyramibe, ben wir ihr Herz nennen möchten, liegt Weber genau in ihrer Mitte, noch zeichnet er sich burch stattliche Dimensionen ober reiche plastische Verzierungen aus. Jebes geräumige Zimmer in unseren Privathäusern kann sich mit ihm an Größe messen; benn er ist rtur 5,80 Meter hoch und seine längste Seite 10,43, seine kürzere 5,20
16 Altertum.
Meter lang. Neun mächtige Platten von Granit bilden die Decke und ruhen mit ihren Enden auf den Seitenwänden. Die ungeheure Last des Gesteines, das sich über ihnen anstürmt, würde sie sicher zusammengedrückt und zerbrochen haben, wenn der vorsichtige Architekt nicht durch fünf über ihnen angebrachte Kammern für ihre Entlastung Sorge getragen hätte.
IV.
Das Handelsvolk der Phönizier.
(W. Richter.)
Mit dem Namen Phönizien bezeichnete man in der alten Geographie den schmalen, kaum dreißig Meilen langen und vier bis fünf Meilen breiten Landstrich von der syrischen Küste, der sich längs dem Mittelmeer als Abfall des Libanon herabzog. Zu keiner Zeit bildete es einen einzigen Staat, sondern die einzelnen Städte waren anfangs als Kolonieen von ihrer Mutterstadt abhängig; sobald sie mächtiger wurden, machten sie sich unabhängig und bildeten eigene Staaten mit eigenem Gebiete, eigener Verfassung uud eigenen erblichen Königen, deren Gewalt durch eine Art Volksvertretung beschränkt war. Ursprünglich waren nur die vom herrschenden Sidonierstamme gestifteten Bundesstaaten Sidon, Tyrus und Aradus frei und gegenseitig gleichgestellt, während alle anderen mehr oder-weniger abhängig von ihm waren. Doch entstanden bald Bündnisse unter diesen Städten, an deren Spitze die mächtigeren Sidon und Tyrus standen; befördert wurden diese Bündnisse durch das Bedürfnis einer-gemeinschaftlichen Verteidigung gegen äußere Feinde und durch die gemeinsame Verehrung des Melkarth, dem griechischen Herakles vergleichbar, in welchem die Mythe das Ideal menschlicher Kräfte und Vollkommenheit und eines dem Wohle der Menschen geweihten Lebens sieht. Er ist das Symbol für die bahnbrechende Thätigkeit der ältesten Ansiedelungen, hie uud da noch als der von den Phöniziern überkommene Gott, meistens aber als Heros erkennbar.
Die Phönizier waren das erste internationale Handelsvolk, welches jahrhundertelang zumeist im friedlichen Verkehr die Produkte der entferntesten Länder und Klimate umtauschte. Die Tyrier gelten als die Ersinder der Schiffahrt. Mit den Israeliten standen sie schon früh durch Küstenschiffahrt in Verbindung. Längs der Küste Palästinas gab es einen starken Verkehr nach Ägypten, zugleich war aber dieser Küstenstrich den Gefahren der Seeräuberei ausgesetzt. Bei heftigem Südwestwinde wurden die Schiffe gegen die Küste getrieben, welche auf der ganzen Strecke
Richter: Das Handels Volk der Phönizier. 17
keinen natürlichen Schutzort bietet, wie die Küste Phöniziens. Darum lagen auch alle größeren Städte nicht unmittelbar an der Küste. In der Nähe dieser älteren Städte wurden aber von den Phöniziern die Orte Dor, Askalon, Gaza zu dem Zwecke angelegt, die Schisse an dieser hafenlosen Küste zu sichern und zugleich den starken Verkehr mit den Binnenländern Palästinas zu erleichtern.
Die wichtigste ihrer Gründungen an der palästinensischen Küste war Joppe. Diese Stadt hatte den besten Hasen Palästinas; von hier ging ein großartiger Verkehr ins Binnenland, namentlich nach Judäa. Zu Salomos Zeit brachten Phönizier die nach Judäa gesendeten Handelsgüter nach Joppe, und die Getreidevorräte, womit Judäa Phömzien versah, gingen von da zu den Häsen des nördlichen Nachbarlandes. Bis die Israeliten sich hier zur Zeit der Makkabäer festsetzten, blieb es ein phönizisches Emporium (Stapelplatz) für Judäa.
Im Norden Phöniziens lag Syrien und Cilicien, deren fruchtbare Landstriche ihnen gleichfalls zugänglich geworden waren; aus den Ländern am Euphrat und Tigris gelangten die Waren nach dem Mittelmeere großenteils über ihr Gebiet; Arabien als der eigentliche Hauptsitz ihres Landhandels war das Land, durch welches sie zugleich mit dem reichen Süden, mit Indien und Äthiopien zusammenhingen. Ungeachtet der furchtbaren Sandwüsten, welche später jeden Versuch eines fremden Eroberers gegen Arabien unmöglich machten, von dessen Unterjochung Alexander durch einen zu frühen Tod abgehalten wurde, und an dessen Wüsten selbst die Macht der Römer scheiterte, brach sich doch die Gewinnsucht des Kaufmanns Bahn durch das weite Gebiet. Karawanen, aus allerlei Völkerschaften zusammengesetzt, durchzogen dasselbe nach allen Seiten bis zn seiner südlichen und östlichen Küste und unmittelbar oder mittelbar für Rechnung der Phönizier, deren Seestädte die letzten Niederlagen jener Schätze wurden. Die Küstenländer des Mittelmeeres waren die natürlichen Stapelplätze aller asiatischen Waren, die über das Meer weiter nach Europa geführt werden sollten. Die Bewohner dieser Küste bildeten sich, von ihrer Lage, die ihnen die Richtung auf das Meer geben mußte, begünstigt, zu seesahrenden Völkern aus; sie wurden die Händler, die gegen die Waren ihrer eigenen Industrie, gegen indische Gewürze und arabischen Weihrauch die mannigfachen Produkte der Mittelmeerländer, selbst spanisches Silber, britisches Zinn, den Bernstein der Ostseeküste u. et. eintauschten.
Im Westen von Phönizien lag die Insel Cypern, zu welcher selbst einen offenen Kahn bei guter Jahreszeit die Strömung sicher hinüber-führte. Cypern wurde somit der erste Zielpunkt in dem großen, zu allen Zeiten so wichtigen Mittelmeere, das noch von keinem Seeschiffe befahren war. Neben Cypern waren es die beiden Inseln Rhodns und Kreta,
Aus allen Jahrhunderten. 2
18 Altertum.
welche wegen ihrer von der Natur begünstigten Lage Verbindungsglieder zwischen der östlichen und westlichen Welt wurden. Drei Weltteilen zugekehrt, bildeten sie die natürlichen Centralpuukte des Handels und Verkehrs im Mittelländischen Meere. Cypern genoß den Ruf eiues der reichsten und gesegnetsten Länder. Die Insel lieferte Getreide im Überfluß, welches Phönizien fehlte. Ihre Kupferbergwerke waren unerschöpflich; von den ältesten Zeiten her haben Phönizier eyprifches Kupfer, welches in den oceidentalischen Sprachen von der Insel den Namen hat, dem Westen zugeführt. Sie lieferte ihnen ausgezeichnetes Schiffsbauholz, Fichten hatte Cypern in vorzüglicher Güte. Die eyprischen Cedern sollen an Höhe die in den Waldungen des Libanon und Taurus übertroffen haben. Mit den Bewohnern der Insel, 'die die Bibel nach einer an der Südküste gelegenen Stadt „das Land der Kittier" nennt, scheint ihnen die Anknüpfung von Handelsbeziehungen leicht geworden zu fein. Die Phönizier hatten früh erkannt, daß der ungestörte Betrieb ihres ganzen von Asien ausgehenden Handels und der Schiffahrt von dem Besitze dieser Insel abhing. Daher trachteten sie seit dem ersten Ausfahren und Erstarken ihrer Macht nach dem Besitze der Insel, ließen während der Dauer ihrer Seeherrschaft keine andere Seemacht aufkommen und wußten bis auf die jüngere Zeit sich daselbst zu behaupten. Cypern wurde ihnen aber auch die Schwelle des Abendlandes, der Ausgangspunkt für die Entdeckung der westlich gelegenen Länder, zu denen ihnen von Station zu Station der Weg längs den Inseln des griechischen Archipelagus vorgezeichnet war. Besonders in den südlichen Teilen des Ägäischen Meeres begegnen wir recht zahlreichen Spuren uralter phöuizischer Industrie und Handelsthätigkeit. Dahin sind vor allem die Purpurfischerei und die Buntfärbereien und Webereien zu rechnen. In den nördlichen Gegenden des Ägäischen Meeres ist es der Goldreichtum einzelner Inseln, der die Phönizier hierher lockte und zu Ansiedelungen veranlaßte.
Von diesen Inseln führten die phönizifchen Schiffe auf bequemen Tagesfahrten ihre Händler nach den Küsten Griechenlands. Kein anderes Land der alten Welt steht aber dem Verkehr offener als die griechische Halbinsel: von drei Weltgegenden tritt die See in alle Teile des Landes ein; eine Menge sicherer Ankerbuchten kann der Schiffer erreichen, wenn etwa das Unwetter aufzieht. Mit den Bewohnern ließen sich leicht die mannigfachsten Beziehungen anknüpfen. Die Fremden kamen mit Spiel-uud Trödelwaren, die an dem Strande unter Zelten aufgestellt wurden. Selbst durch Trompetenschall riefen sie die Eingeborenen zusammen, welche alsbald die Waren umringten, anstaunten und für diese bereitwillig hingaben, was sie hatten. Dabei raubten die fremden Händler ihnen gelegentlich ihre Knaben und Mädchen, welche auf den asiatischen Sklaveumärkten verkauft wurden.
Richter: Das Handelsvolk der Phönizier. 19
Anfänglich richteten die phönizischen Schiffer ihr Augenmerk namentlich darauf, für die in ihren volkreichen Städten blühende Industrie das Material herbeizuschaffen. Die Phönizier waren feit alter Zeit in allen Zweigen der Industrie erfahren, insbesondere aber berühmte Metalltechniker, deren sich Salomo bet seinen Bauten bediente, und die Homer öfters erwähnt. Mit Ausnahme der Metalle und des Holzreichtums bot Griechenland nur wenig zum Austausch, aber eine heute nicht mehr beachtete Muschel brachte die Phönizier mit den Griechen in nähere und länger dauernde Berührung. Denn nächst dem heimischen Meere von Tyrus war kein Gestade purpurreicher als die Bückten des Peloponnes und die böotischen User mit dem Euripus.
Im ganzen Morgenlande kleideten sich die Großen der Erde in die kostbaren purpurnen Gewänder; den Färbestoff lieferte bie Purpurfchrtecke, welche nur in gewissen Teilen des Mittelmeeres und nirgends in großer Menge vorkommt. Nicht der nach dem Fang orte verschiedene dunklere oder-hellere Saft des ganzen Tieres wurde verwendet, sondern er wurde nur aus einer weißen Ader oder Blase gedruckt, welche man die Blume nannte. Da es nur ein Tropfen Saft war, welchen die einzelnen Tiere sterbend von sich gaben, so war es des Transportes wegen unthunlich, die Muscheln selbst nach den einheimischen Fabrikorten hinzuschaffen. Man war deshalb barauf bebacht, gleich an Ort unb Stelle ben Saft zu gewinnen, unb so entstauben allmählich aus toechfelnben Lanbungsplätzen feste Stationen, auf benen auch bie Griechen Verwenbung bei ber Fischerei finben mochten. Mit dem auf ben verschobenen Stationen gewonnenen Purpur würben bie Stoffe gefärbt; unter biefen aber blieb Wolle ber vorzüglichste, obwohl in späterer Zeit auch Seide unb Leinwanb vorkamen. Schönheit, Zartheit und Dauerhaftigkeit werden als Hauptvorzüge der Purpurgetoänber gerühmt, unb wie groß ber Umfang biefes Hanbelszweiges gewesen sein mag, läßt sich schon barans schließen, baß bie Purpurgeroänber im Altertume unter ben Vornehmen unb Reichen bie allgemeinste Mobe geworben waren.
Mit ber erfolgten Nieberlassung an Griechenland Küste konnte es nicht fehlen, baß ein so weltkunbiges Volk, bas ba aussuhr, um Gewinn aller Art heimzubringen, mit Wohlgefallen nach den Eichen, Platanen, Tannen und Cy Pressen der griechischen Berge ausschaute, die ihm ein weit mannigfaltigeres Material für den Schiffsbau gaben. Unter ben Eichenarten gewährte namentlich bie Kermeseiche mit ihrer Wurzelrirtbe, in welcher man einen bunkelroten Färbestoff entbeckte, großen Nutzen. Man sanb bei weiterem Vorbringen Metallgänge, Kupferminen, Silbererze und Eisen. Auch die Ausbeutung dieser Schätze erforderte ein festeres Verweilen im Lande, Zuzug aus dem Mutterlande, Anlage von Faktoreien.
Als die ersten Ansiedelungen der Phönizier erfolgten, war Griechen-
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Altertum.
land noch von Waldesdickicht überzogen, ohne Weg und Steg. Der Dichter sagt von dem Böotien der ältesten Zeit:
„Denn noch wohnte keiner der Menschen im heiligen Theben,
Auch nicht waren da Pfade zu sehen, noch Wege gebahnet Durch das thebäische Weizengefild; Walddickicht umfing es."
Die an der Küste angesiedelten Fremden gaben den Anstoß zu dieser ersten Epoche des geschichtlichen Lebens bei den Griechen. Sie durchsuchten die Halbinsel nach Kupfer und anderem Matall und schafften aus den Urwaldungen des Hochlands Holz an den Strand. Die ältesten Nutzwege, die erwähut werden, sind die Bahnen, auf denen das Holz zur Stadt herabgefahren wurde. Homer schreibt im zehnten Buche der Odyssee: „Und sie stiegen ans Land und gingen die Straßen, worauf man Holzbeladene Wagen vom hohen Gebirge zur Stadt fährt."
Es ist unzweifelhaft, daß die Phönizier es gewesen sein müssen, welche den ersten Anstoß und die erste Anleitung gegeben haben, nicht nur die Flüsse des Landes zu regeln, sondern auch die rechten Fahrwege zu bahnen, um die Produkte des ackerbauenden und viehzuchttreibenden Binnenlandes an die Stapelplätze der Küste zu schaffen.
Phönizisches Schiff.
Meer und Gestade dienten bei der bekannten kaufmännischen Thätigkeit der Phönizier ihren Handelszwecken; Ansiedelungen sind außer auf den genannten Inseln auch auf Thera, Melos, Cythera, Thasos, Samo-thrace und Lemnos nachweisbar; überall begegnen wir phönizischen Einflüssen. Auf den Ufermärkten und aus den bleibenden Niederlassungen nahmen die Eingeborenen alles, was zum kaufmännischen Verkehr und zum Betriebe einzelner Industriezweige gehörte und ihnen bisher unbekannt gewesen war, von den fremden Kaufleuten. Sie lernten den Wert ihrer heimischen Produkte schätzen, ihre schlummernden Kräfte wurden geweckt, der einförmige Zustand, in dem sie so lange verharrt, entfesselt.
Durch die Vermittelung der Phönizier sind denn auch so manche der phöuizisch-hebräischeu Sprache an gehörige Wörter in die abendlän-
Richter: Das Handelsvolk der Phönizier. 21
dischen Sprachen übergegangen, meistens mit den Gegenständen selbst; dahin gehört Nardenöl, Zimmet, Kassia (eine Zimmetart), Isop (Würzkraut), Kümmel, Byssos (seine Leinwand oder Wolle), Manna u. a. Mit manchen dieser genannten Waren scheint ein nicht unbedeutender Handel getrieben worden zu sein. Interessant muß es auch erscheinen, daß für unser „Handgeld" Phönizier, Griechen und Römer (lat. arrabo) dasselbe Wort haben. Man ersieht daraus, daß schon bei den ältesten Handelsbeziehungen zwischen den Völkern ein derartiges Angeld zur Versicherung auf einen Kauf oder sonstigen Handel gegeben ward.
Alle Handelsvölker suchen bei Ausbreitung ihres Handels neue Bahnen auf; sie suchen den Verkehr mit Ländern zu eröffnen, welche noch im natürlichen Besitze ihrer einheimischen Produkte sind, mit Ländern, deren Bewohner von dem Handelswerte ihrer Landesschätze gar keinen Begriff haben. Denn hier lassen sich die wichtigsten Gegenstände am wohlfeilsten eintauschen, und die Handelsstädte können ihre Erzeugnisse daselbst am vorteilhaftesten verwerten.
Nachdem die Phönizier auf ihren Fahrten nach den Inseln und Küstenländern des Ägäischen Meeres reichlichen Gewinn und Material für ihre heimische Industrie gefunden, fuhren sie um die Südspitze Griechenlands weiter nach Westen in das Jonische Meer. Hier wurde Sicilien für sie bald der Haltepunkt und Ausgangspunkt zu weiterer Fahrt. Neben der Wichtigkeit der Lage im Mittelpunkte des Mittelmeeres war es die außerordentliche Fruchtbarkeit der Insel, die die Phönizier an sie fesselte. Ihre Ansiedelungen, die die Bestimmung hatten, den Handel mit den Eingeborenen zu unterhalten, boten keinen weiteren Schutz als die sichere Lage, indem sie, ganz oder teilweise vom Meere umgeben, gegen ein nicht seefahrendes Volk geschützt waren.
Während der westliche Küstenstrich Sieiliens den Schlüssel zu dem afrikanischen und iberischen Gestade bildete, war der südöstliche Teil der Insel für die Überfahrt in die östlichen Teile des Mittelmeeres von größter Wichtigkeit. Auch an der Küste des nahen Unteritalien treten uns einzelne Namen entgegen, welche auf phönizischen Aufenthalt und Gründungen hinweisen; hier mögen sie zur Erleichterung und zum Schutze ihres Handels Faktoreien gebildet haben. Auch die italischen Völker betrachten denselben Herakles, den Lander und Meer verbindenden lyrischen Wandergott, als den Wegebahner in ihren Landen und als den Dammbauer, auf den sie namentlich den Meerdamm vor dem Lukrinersee zurückführten; selbst der etrurische Arno ist semitisch benannt.
Ferner sind die Liparischen Inseln, die Ägaten und Malta neben den anderen benachbarten von den Phöniziern besucht. Malta hatte im Altertume eine bedeutende Industrie, teils an der Zucht der Baumwollenstaude, teils an der Bearbeitung der berühmten Baumwollenstoffe,
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die hier in einem großen Umfange und von vielen Arbeitern betrieben wurde. Von der Insel sagt Diodor: „Sie ist eine Kolonie der Phönizier, welche, als sie ihren Handel in die westlichen Teile des Ozeans ausdehnten, hier einen Zufluchtsort fanden, weil die Insel gute Häfen hat und mitten in der See liegt."
Vom sieilischen Vorgebirge Lilybäum nach der vorspringenden afrikanischen Küste war keine weite Fahrt. Hier lagen die später sogenannten punischen Emporien, b. i. Stapelplätze.
Die Nachrichten der Alten stimmen darin überein, daß der Landstrich an der kleinen Syrte mit Einschluß der Landschaft Tripolis zu den fruchtbarsten auf dem Erdboden gehörte, und zweitens war es die zum Handel mit den Binnenländern Afrikas so geeignete Lage, was diesem Küstenstrich eine so große merkantile Bedeutsamkeit verlieh. Den Binnenländern Afrikas lag hier das Meer am nächsten und konnte, da das angebaute Land an der großen Syrte nur einen schmalen Küstenstrich bildete, von den nomadischen Stämmen leicht erreicht werden. Die Einwohner kamen daher zu gewissen Zeiten des Jahres an die Meeresküste und tauschten Getreide und andere Bedürfnisse in diesen Emporien ein.
Von der Nordküste Afrikas und von ©teilten aus scheinen auch Sardinien und die Balearen kolonisiert zu sein. Die letzteren Inseln hatten ausgezeichnete Häfen, die an der südlichen und östlichen Küste Spaniens fehlten. Daher mußten Schiffer, welche von Sardinien aus in der Richtung nach Spanien fuhren, diese Küste zur Zwischenstation machen. Von hier beherrschte man die nahe Küste Spaniens. So alt der Handel der Phönizier nach dem Westen des Mittelmeeres ist, ebenso alt muß ihre Kunde der Balearen sein. Die umfassenden Kolonisationen, welche Tyrus seit dem Ende des zwölften Jahrhunderts im südlichen Spanien und im westlichen Afrika unternahm, sind ohne den Besitz der Balearen gar nicht denkbar.
So nähern wir uns den Säulen des Herkules — der heutigen Meerenge von Gibraltar — und dem silberreichen Spanien, dem Lande, welches das Hauptziel der phönizischen Handelsreisen geworden ist.
Erinnerungen an diese Züge schließen sich früh an die Wanderung des Herakles, welcher Völker aus allerlei Gegenden nach Spanien geführt haben soll. Das eigentlich historische Moment in diesen Sagen kaun aber nur in der sehr alten Übersiedelung östlicher Völker gesucht werden. Liby-phönizische, kauaanitische Stämme, die gemischt mit anderen Wandervölkern auf den Inseln des Mittelmeeres gewohnt hatten, müssen diese in der Urzeit von Herakles nach Spanien geführten Völker sein.
Der unermeßliche Reichtum an edeln Metallen, den die Phönizier bei ihrer ersten Ankunft fanden, hatte sie selbst in Erstaunen gesetzt. Die ersten Ankömmlinge, so wird erzählt, hatten dort eine solche Menge
Richter: Das Handelsvolk der Phönizier.
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Silber gesunden, daß sie nicht allein ihre Schiffe damit anfüllten, sondern auch ihre sämtlichen Gerätschasten, selbst die Anker von diesem Metall verfertigten So beladen wären sie in ihr Vaterland zuruckgelehrt, dav nicht säumte, sich in den Besitz dieses Landes zu setzen und Kolomeen zu gründen, die im Laufe der Zeit auf zweihundert gestiegen sem sollen ' Die Einwohner selbst kannten den Wert dieser Metalle mcht, erst das Nachfragen der Fremden und deren Begierde, es zu besitzen^ lehrten sie den Wert kennen. Die Fremden führten ihnen eine Menge Waren zu, welche sie gegen ein Mittel, das sie wenig achteten, eintauschen konnten. Sobald der erste Vorrat erschöpft war, fing man an Schächte zu bauen, in denen die Spanier von den Phöniziern zu arbeiten gezwungen wurden. Man fand vorzugsweise Silber, dann Gold, Blei nud Eisen. Und um sicb den Besitz dieser Kolonieen und zugleich alle Handelsvorteile zu sichern, hielten sie alle Fremden von diesem reichsten ihrer Länder fern. jahrhundertelang wagten fremde Schiffersich westlich nicht über ©teilten hmaus, weil diese Meere von den lyrischen Flotten beherrscht wurden, welche griechische Seefahrer nicht in die Nähe der phönizifchen Kolonieen kommen ließen. Aus dieser Zeit stammt das sprichwörtliche „Tyrische Meer" als Bezeichnung gefahrvoller Gegenden. Bekannt sind die Märchen von grauenhaften Ungeheuern, welche in den Meeren und ait den Küsten der Westländer hausten und verwegenen und verschlagenen Schiffern den Untergang bereiteten, von den menschenfressenden Lästrygonen und Cyklopen, von den Sirenen, der Ciree, die anlandende Schiffer m Schweine verwandelte; ferner die Fabeln von der Scylla und Charybdis, den im Meere umhertreibenden Felsen, welche die Schiffe zertrümmerten n. a. m. Zum großen Teile mögen diese Fabeln von den Phöniziern erfunden sein, um griechische Schisser von ihren westlichen Kolonieen abzuhalten, wie denn derartigeErzahlungen später wohl als „phönizische Lügen" bezeichnet werden.
Was alle drei südlichen Halbinseln Europas den Phöniziern verdanken, ist die Kultur des Weinstocks. Mag diese Kultur von Syrien aus über Kleinasien und so von Norden her zu der griechischen Halbinsel vorgedrungen sein, auch zur See durch Handel und Ansiedelung der Phönizier ist zunächst die Kenntnis dieser wunderbaren Staude und mit steigernder Ansässigkeit auch der Anbau selbst vermittelt. Denn überall, wo Phönizier landeten, werden sie auch mit dem Weine, den sie mitbrachten, die Einwohner zum Tausch gelockt, und wo sie sich alsbald dauernd niederließen, die Umwohner zur Rebenpflanzung angehalten haben. Die frühesten Seefahrten der Griechen nach Westen werden wahrscheinlich den dämonischen Trank auch neben den Phöniziern an die Küste Italiens gebracht haben.
Von Gades oder dem heutigen Cadix, dem Stapelplatz der spanischen Schätze und Produkte, richteten die Phönizier ihre Fahrten nach
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den Zinninseln oder Kassiteriden, unter denen im engsten Sinne die am Eingänge des britischen Kanals und an der äußersten Westspitze Englands (Cornwall) liegenden Scillyinseln zu verstehen sind, im weiteren Sinne aber die bis auf den heutigen Tag an Zinn reiche Halbinsel Cornwall. Nach der Überlieferung bei Plinius soll Midakritus zuerst die Zinninseln entdeckt haben. Wie lebhaft der Handel an den britischen Inseln gewesen sein mag, erhellt ans der Bemerkung eines römischen Schriftstellers, daß die einheimischen Völkerschaften daselbst durch den langen und häu-stgen Umgang mit den Fremden mildere Sitten angenommen hätten. Auch hier bestand der Handel ursprünglich im Tausch: irdene Geschirre, Salz und eiserne Gerätschaften wurden eingeführt.
Zinn ist eins der am seltensten vorkommenden Metalle. Es wird in der alten Welt nur in England, in Deutschland im östlichen Erzgebirge, dann in Hinterindien und nach einigen Angaben auch in China gefunden. Aber die reichen Lager des Ostens sind erst seit dem vorigen Jahrhundert entdeckt; die alten Indier empfingen das Metall mit dem Namen dafür aus dem Westen durch die Hand der Phönizier. Auch die Gruben des Erzgebirges sind erst seit dem zwölften oder dreizehnten Jahrhundert geöffnet und waren den Alten unbekannt. Das südwestliche Britannien war im Altertume immer die Hauptfundstätte, und wenn es nicht ehedem andere, uns unbekannte Fundörter gegeben hat, so muß die ganze Welt größtenteils von dort aus mit dem zur Bereitung der Bronze unentbehrlichen Metall versorgt worden sein.
Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß so praktisch tüchtige Seefahrer wie die Phönizier von der Nordwestküste Spaniens ans nach England allmählich den offenen Seeweg eingeschlagen und keine Küsten-sahrt mehr betrieben haben. Deshalb enthält auch die Nachricht, daß sie den Bernstein von der Ostseeküste des jetzigen Preußens geholt haben, nichts Unwahrscheinliches. Die Einzelheiten ihrer Nord- und Ostseefahrten fehlen, weil sie ihren Bernsteinhandel in noch höherem Maße als den spanischen Silberhandel in das tiefste Geheimnis hüllten. Besonders bei dem Bernstein mußten sie alle Konkurrenz zu vermeiden streben, wenn der hohe Preis desselben, der dem Golde gleichkam, nicht fallen sollte.
Kein Land von verhältnismäßig so geringem Umfange hat so viele Kolonieen ausgesandt, so zahlreiche Städte gegründet, so viele und so große Länder kultiviert und bevölkert als Phönizien; nur das kleine Königreich Portugal hat Jahrtausende später in ähnlicher Weise „Weltgeschichte gemacht". Mit Recht gelten sie daher als die bedeutendsten Beförderer der Kultur, zumal auf den Inseln und Küstenländern des Mittelmeeres, jenes großen Binnenmeeres, an welches sich die Kultur des Altertums jahrhundertelang geknüpft hat; sie deckten den Reichtum der Länder auf, lehrten die Bewohner die Schütze derselben kennen uud waren
Richter: Das Handelsvolk der Phönizier. 25
die Schöpfer mannigfacher Industriezweige, die den Untergang der Staaten oft überdauert haben. Die Weberei, die Lederarbeit, die Arbeit in Metallen, edlen Steinen, Thon und Glas — Plinius schreibt ihnen die Erfindung des Glases zu — hatte im Orient eine hohe Vollendung erhalten, und diese Technik ist als Resultat des orientalischen Kulturlebens größtenteils durch die Phönizier auf das ganze Altertum und weiter bis in das Mittelalter hinein vererbt worden. Sie befuhren aber nicht nur die Küstenländer und Inseln des Mittelmeeres, um sowohl ihre eigenen Erzeugnisse, als auch die Produkte des fernen Ostens zu verhandeln, sie wagten sich auch über die Säulen des Herkules, die einzige ozeanische Pforte des Mittelmeeres, hinaus, tauschten Zinn aus den britischen Inseln und Bernstein von den Bewohnern der Ostsee ein, ja sie unternahmen kühne Fahrten nach dem südlichen Arabien und Indien und betrieben durch Karawanen einen nicht wenig ausgedehnten Landhandel nach den verschiedensten Gegenden Asiens. „Baal Melkarth streckte die eine Hand nach den Gangesländern, die andere nach der afrikanischen Goldküste aus."
Sie sind das erste kosmopolitische Volk der Erde. Weit mehr auf friedlichen Erwerb als auf Kriegsruhm und eigentliche Eroberung bedacht, verfolgten sie bei Anlage ihrer Kolonieen lediglich kaufmännische Zwecke und wagten sich nur selten auf den Kampfplatz. Erst in der Zeit, in welcher die Geschichte der Griechen vor uns aufdämmert, sehen wir die Phönizier überall auf dem Rückzüge. Die Fremdlinge, die so lange die Söhne des Landes bevormundet und so häufig übervorteilt haben, werden von diesen bei steigendem Nationalbewußtsein aus dem Meere durch die griechische Flotte zurückgedrängt oder zu Hause in untergeordnete bürgerliche Verhältnisse gebracht. Aber die von ihnen gelegten Keime höherer Civilisation gedeihen zum Segen des Landes; die Griechen haben von ihnen die Natur beherrschen und nutzen gelernt und so die Grundlage gewonnen, um eine ihnen eigentümliche Kultur auszubauen.
V.
Die Kultur der Fjsyrier und Labylonier.
(Fr. Kaulen).
Die in den letzten Jahrzehnten ans dem Boden der alten Kulturstätten am Euphrat und Tigris in so überraschender Fülle ausgegrabenen Denkmäler und Inschriften geben ein außerordentlich reiches, bis ins kleinste ausgeführtes und höchst lebendiges Bild von dem Leben und Treiben der alten Assyrier und Babylonier, das aus jeden denkenden Beobachter eine große Anziehungskraft ausüben muß. Die romanhaften
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Persönlichkeiten des Ninus, der Semiramis, des Sardanapal finden freilich auf diesem Bilde keine Stelle; dafür entschädigt der Reichtum an Darstellungen einer wirklichen Welt. Das Interesse für die Staatenentwicklung am Euphrat und Tigris kann jedoch erst dann recht wirksam werden, wenn die großartige civilisatorische Wirksamkeit, welche Assyrien unter seinen letzten Königen geübt hat, recht begriffen wird. Die mit Keilschrist geschriebenen Urkunden fassen freilich die allgemeine Tragweite der erzählten Begebenheiten nicht ins Auge; allein je mehr aus denselben der Zusammenhang des Geschehenen erschlossen werden kann, um so anziehender muß auch dem denkenden Geiste diese Entwicklung erscheinen, welche in der Geschichte der Menschheit ein so wichtiges Glied bildet. Schon jetzt läßt sich die mächtige Einwirkung, welche Assyrien über Kleinasien auf die griechische Geistesbildung geübt hat, nicht verkennen, und so sehen wir alle abendländische Gesittung mit ihren Wurzeln noch bis in die assyrische Geistesentwicklnng hinabreichen.
Was nun zunächst die Kultur der Assyrier angeht, so giebt über den Ursprung derselben die Bibel-Stelle Gen. 10. 11, wie immer sie erklärt werden mag, einen Aufschluß, der durch die neuesten Forschungen lediglich bestätigt wird. Assur hat seine gesamte Bildung dem Reiche von Babel zu verdanken gehabt. Erst als in Babylonien schon geordnete Staatswesen und große Städte vorhanden waren, erhielt Assyrien diejenigen Einrichtungen, welche mit festen Wohnsitzen verbunden sind. Indes zeigen die archäologischen Reste auch, daß die assyrische Entwicklung ihren selbständigen Weg gegangen ist, der lediglich ans der Beschaffenheit des Landes zu erklären ist.
In der Baukunst haben die Assyrier in ganz ungewöhnlicher Weise praktischen Verstand mit künstlerischem Geschmack zu vereinigen gewußt. Schon die Wahl des Materials setzt uns in Erstaunen. Mit Ausnahme der Skulpturen aus Alabaster und Basalt findet sich nur dreierlei Material in den assyrischen Prachtbauten: roher Thon, gebrannte Ziegel und Kalkstein. Nirgendwo haben die Untersuchungen ein anderes Material zu Tage fördern können. Dabei treten die angewandten Ziegel und
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Kalksteine an Menge so sehr zurück, daß schließlich der Thon allein als der eigentliche Baustoff anzusehen ist, aus dem jene Bauten entstanden. Die Einfachheit dieses Materials überrascht uns um so mehr, weil es zugleich das am leichtesten beschaffbare war. Die ganze Ebene nämlich, welche sich zwischen dem Tigris und seinem linken Nebenfluß, dem Khoser, hinzieht, enthält gleich unter der Humusschicht oder auch zu Tage liegend, auf einer Tiefe von mehreren Metern nur den Thon, welchen die Assyrier zu ihren Bauten verwandten. Ninive ist demnach sozusagen aus dem Boden erwachsen, auf dem es steht. Die Assyrier haben der ersten Forderung der architektonischen Kunst, sich nach den gegebenen Verhältnissen zu richten, in wahrhaft bewundernswerter Weise entsprochen.
Die Bildhauerei, zu welcher der Alabaster des Landes ein so bequemes Material bot, ist immer dem Zwecke treu geblieben, monumentale Bauglieder zu liefern, und entfernt sich daher nur äußerst selten vom Relief. Selbst wenn, wie in den Thoreingängen der Paläste, riesige Bildungen in ganzer Gestalt aus der Mauer hervortreten, bilden sie doch nur einen Teil der Platte, welche in das Gebäude eingefügt ist (s. Abbildung S. 30). Auch die wenigen freistehenden Statuen, welche bis jetzt gefunden worden sind, scheinen zu einem architektonischen Ganzen gehört zu haben. Äußerst lebendig und anschaulich verstand die assyrische Bildnerei alle Einzelheiten darzustellen. Bemerkenswert bleibt dabei, daß sie auch symbolisch oder schematisch verfährt; bei Kriegsscenen erscheinen die Assyrier gewöhnlich viel größer als ihre Feinde, entweder damit ihre Überlegenheit hervortrete, oder damit eine Andeutung der sonst fehlenden Perspektive gegeben werde. In Darstellung von Tiergestalten ist die assyrische Kunst unerreicht, in Wiedergabe lebloser Gegenstände unübertroffen; die menschlichen Gestalten lassen zu wünschen übrig. Außerdem bewegte sich die assyrische Kunst säst nur in Ornamentik, wie das der architektonische Ursprung derselben mit sich brachte; hier findet sich auch, von der Kolorierung einzelner Reliefs abgesehen, die einzige Anwendung der Malerei. Daß der Geschmack bei Anwendung derselben weit ausgebildet war, können die Friese beweisen, welche der englische Forscher Layard an den Resten eingestürzter Wände sand und glücklich kopierte. Den Assyriern waren, wie die Analyse der Farbenreste gezeigt hat, schon Metallpräparate bekannt, welche man bisher als viel jüngere Erfindungen ansah; so namentlich ein Autimouiat von Blei, das jetzt Neapelgelb heißt, und eine Verbindung von Kupfer mit Blei, welche das Blau herstellt.
Wie mit der Kunstübung, so tritt auch sonst das assyrische Volk hauptsächlich mit denjenigen Beschäftigungen auf, welche das Städteleben bedingt. Daß sich frühzeitig eine kunstreiche Industrie entwickelte, geht aus den zahlreichen Funden von kostbaren Gerätschaften und Schmuckgegenständen aller Art, die sich bei den Ausgrabungen gefunden haben,
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hervor. Die Darstellungen auf den Reliefplatten lassen besonders auf eine hohe Entwicklung der Weberei und des Kunstgewerbes schließen. Die Industrie gab Anlaß zu lebhaftem Handel, Ninive verdankte einen großen Teil seiner Bedeutung dem ausgebreiteten Transithandel, welcher ihm durch seine glückliche Lage möglich wurde; da der Tigris erst von Ninive ab für größere Ladungen schiffbar wurde, so mußte die Stadt der Stapelplatz für alle von Westen und Nordwesten, aus Armenien nnd Kleinasien herkommenden Waren werden, welche südlich geschafft werden sollten; vermittels des ausgedehnten Kanalnetzes aber, welches ganz Mesopotamien bedeckte, konnte man von Ninive aus alle babylonischen Platze, namentlich auch Babylon selbst, direkt erreichen. Andererseits nahmen die im Altertume so hoch geschätzten Erzeugnisse Indiens ihren Weg über Ninive, und hiermit war dieser Stadt eine reiche Quelle des Wohlstandes geöffnet. Daher heißt es in der h. Schrift Nah. 3, 16, es seien mehr Kaufleute in Ninive als Sterne am Himmel, und Ezech. 27, 23 wird Assur unter denjenigen angeführt, welche den bedeutendsten Handel mit Phönizien betrieben und Webestoffe dorthin lieferten. Aus diesem Wege flössen reiche Schätze nach Assyrien, zumal nach Ninive: „es war kein Ende des Reichtums an aller Art wertvollen Geräts". (Nah. 2, 9). Dieser Reichtum wurde dann durch unermeßliche Kriegsbeute unglaublich vermehrt.
Die Menge der assyrischen Kriegszüge gab zuletzt dem Volk sein eigentümliches Gepräge. Die Reliefdarstellungen der Paläste zeigen den Assyrier fast nur in der Kriegsrüstung, und alle Künste der Kriegführung erscheinen auf diesen Bildern hoch entwickelt. Demnach sind auch die Sitten der Bewohner nicht anders gewesen, als sie von einem reichen und an Blutvergießen gewöhnten Volke zu erwarten sind. Es läßt sich hier die oft wiederholte Bemerkung machen, daß die politische und geistige Entwicklung einer Nation nicht auch auf die sittliche Ausbildung derselben zu schließen erlaubt. Die Assyrier besaßen bis zu bewundernswertem Grade alle die Eigenschaften, welche den Krieger ausmachen: Körperkraft, Mut, Ausdauer, Geschick, Kaltblütigkeit; allein für jede edlere Regung waren sie unzugänglich- Sie waren, wie Nahum (3, 1) sie schildert, ganz von Trug und Gewaltthat voll; kein Volk hat so das Recht des Stärkeren mißbraucht wie die Assyrier aus ihren Heereszügen. Die eroberten Städte wurden erbarmungslos zerstört, die gefangenen Kämpfer unter entsetzlichen Qualen getötet. Hunderte von Städten nennt Sennacherib in seinen Siegesberichten, von denen er sagt: „Ich habe sie eingenommen und niedergerissen; ich habe sie mit Sturm genommen und in einen Aschenhaufen verwandelt; ich habe daraus eine Wüste und einen Trümmerhaufen gemacht; ich habe das feindliche Land wie mit einem Besen gefegt." „Meine Siegestrophäen", sagt er, „schwammen im Blute der Feinde wie in einem Strome. Meine
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Kriegswagen, die Menschen und Tiere zerschmetterten, hatten in ihremLaufe ihre Leiber zermalmt. Ich habe als Trophäen Haufen von Leichen ausgerichtet, denen ich die Spitzen der Glieder hatte abhauen lassen. Allen, die lebend in meine Hände fielen, ließ ich die Hände abhauen." Der König Assurbanipal besonders übertraf in dieser Hinsicht alle seine Vorgänger. Von einem feindlichen Führer, sagt er auf einer zu Kujundschik gefundenen Inschrift: „Er fiel lebend in meine Hände; ich ließ ihm zu Ninive, in meiner Hauptstadt, lebend die Haut abziehen." Von einem anderen heißt es kurz vorher: „Ich ließ seinem Sohne die Augen ausstechen, aber ihn nicht den Hunden vorwerfen, sondern mit Ketten beladen im Sonnenthore zu Ninive einschließen." Nach der Niederwerfung Elams schickte er einen Gesandten zu dem unterworfenen König llm-manaldas, um die Auslieferung eines Enkels von Mero-Dach-Baladan II. zu verlangen. Dieser ließ sich im Bewußtsein dessen, was seiner wartete, von seinem Schildknappen durchbohren. Ummaualdas aber war schon so niedergedrückt, daß er dem Gesandten die Leiche des babylonischen Prinzen nebst dem Kopfe des Waffenträgers auslieferte. Darüber schreibt Assurbanipal: „Seinen Leichnam ließ ich nicht bestatten; noch einmal ließ ich ihn töten und der Leiche das Haupt abschlagen." Auf feinen Basreliefs läßt er sich in Begleitung von Liktoren darstellen, welche die Peitsche bei sich sichren. Die unterworfenen Könige läßt er an seinen Wagen spannen und sich von ihnen unter Peitschenhieben nach dem Tempel ziehen, wo er seine Opfer darbringt. Andere Scheußlichkeiten übergehen wir. Was dieser Barbarei die Krone aufsetzt, ist die stets wiederholte Angabe, daß sie im Namen der assyrischen Götter verübt wurde: „Ich empfahl mich meinem Herrn Affur und zog gegen Elam", heißt es auf einer Inschrift von Sennacherib, „die Götter erhörten mein Gebet und
liehen mir ihre Hilfe, ich ließ den Rauch der Brandstätten (von
34 Städten) als Opfer gegen den Himmel steigen." „Diesen Menschen", sagt Assurbanipal an der oben angegebenen Stelle, „deren Mund Ränke gegen mich und meinen Herrn Assnr gesponnen hatte, ließ ich die Znnge ansreißen nnd sie in Stücke Hanen; der Rest des Volkes wurde lebeud vor die großen Stiere aus Stein getrieben, welche Sennacherib, mein Großvater, errichtet hatte, und ich ließ sie in die Gräben werfen; ich ließ ihnen die Glieder abhauen und sie von den Hunden und wilden Tieren und Raubvögeln sressen; damit erfreute ich das Herz der großen Götter, meiner Herren." —
Anders war es in Babylonien. Ein Überblick über die keilschristlich erhaltene Litteratur zeigt, daß die Bewohner desselben ein geistig hochgebildetes Volk waren, bei dem vor allem die Wissenschaft gepflegt wurde, besonders Astronomie nnd Mathematik. Die Pflege dieser Wissenschaften war schon zu den frühesten Zeiten so weit gediehen, daß die
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Altertum.
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Chaldäer als die bedeutendsten Astronomen und Mathematiker der Welt und die Astronomie als die eigentlich „chaldäische" Wissenschaft betrachtet wurde. Dieses wissenschaftliche Bestreben aber hat auch unter der Herrschaft des Heidentums seine sitteumildernde Wirkung so weit geübt, daß wir in Babylonien einer so wilden, ausgedehnten Grausamkeit, wie in Assyrien nicht begegnen. Allerdings schildert der Prophet Habakuk (1,6 ff.) die Angehörigen des späteren babylonischen Reiches als rasche und kühne Krieger, allein Blutdurst und Roheit legt er ihnen nicht zur Last. Bei den älteren Bewohnern des Südlandes scheinen im Gegenteil, wenn den aufgefundenen Gesetzen und Sittenregeln Gewicht beizumessen ist, einfache Sitten beobachtet worden zu sein. In der Folge aber gewann hier die Zuchtlosigkeit nach einer anderen Richtung Platz, nach welcher ersahrnngs-gemäß die Wissenschaft allein keine Schranke bildet. Die babylonische Unsittlichkeit war schon im Altertum sprichwörtlich; sie stand hier, wie anderswo, in Verbindnng mit dem ausgearteten Gottesdienst. Im Bunde mit sündhaften Ausschweifungen stand eine große Schwelgerei und Üppigkeit, welche der Reichtum des babylonischen Landes erlaubte, ein Reichtum, der durch die Ertragsfähigkeit des Landes besser gesichert war, als der assyrische Wohlstand durch die Kriegsbeute. Der Luxus hatte zur Folge, daß von der Hauptstadt aus der Impuls zur Verfeinerung des Lebensgenusses und die Belebung eines regen Kunstfleißes ausging.
Ein Mantel aus Sinear (Babylonien) galt schon zu Josuas Zeit als eine der größten Kostbarkeiten, und die buntgewirkten babylonischen Stoffe behaupteten immer den Ruf unnachahmlicher Schönheit. Auch sonst waren die Babylonier an eine Menge künstlicher Bedürfnisse gewöhnt. Ihre Kleidung bestand, wie Relieftäfelchen und Siegelcylinder zeigen und die Nachrichten der Griechen erklären, ans einem leinenen oder baumwollenen, bis auf die Füße reichenden Unterkleid, einer darüber geworfenen wollenen Tunika und einem weißen Oberkleide, offenbar mehr dem Prunk, als dem Bedürfnisse eines heißen Landes entsprechend. Außerdem parsümierten sich die Babylonier, trugen Siegelringe und führten zierlich geschnitzte Stäbe in der Hand. Bei dieser Richtung des babylonischen Geistes aus das Materielle konnte eine eigentliche Kunst um so weniger ausgebildet werden, weil dem babylonischen Lande dazu die geeigneten Materialien fehlten.
Auch in Babylon war ähnlich, wie in Affyrien die Architektur durch vorhandene Umstände bedingt. Auf einem weit ausgedehnten Alluvialboden ohne jede Erhöhung ist kein anderes Baumaterial denkbar als der Ziegel, zumal wo die Erdmasse, wie in der Ebene von Sinear. aus einer Mischung von Lehm und Sand besteht und somit zur Ziegelbereitung ganz fertig vorliegt. Anfänglich wurden in Babylonien die Lehmsteine an der Sonne getrocknet und mit aufgeweichter Thonerde vermauert. Zu
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dem Bindemittel setzte man, um es besser behandeln zu können, etwas gehacktes Stroh hinzu. Als man aber in größeren Massen zu bauen anfing, mußte man auf Zeitersparnis bedacht sein und verfiel deswegen aus ein sehr einfaches Mittel, welches das Trocknen der Steine im Gebäude möglich machte. In Babylonien wachst an allen Wasserrändern bis ties in die Sachen hinein ein sehr hohes Schilf im Überfluß. Bon diesem brachte man große Vorräte an die Baustelle und mauerte nun mit nassen Steinen auf, indem man zwischen je die dritte oder vierte Steinlage eine Sage Schilf einbettete; auf diese Weise konnte die Feuchtigkeit aus dem Gebäude nach außen abgeleitet werden. Zu größerer Sicherheit wurde die Mauermaffe in bestimmten Zwischenräumen mit Suftlanälen von 8 bis 10 cm im Geviert durchzogen und so das Trocknen der Steine befördert. Zwar scheint auch die Kunst Ziegelsteine zu brennen schon sehr früh in der babylonischen Ebene erfunden zu sein. Indessen blieb eine vollkommenere und allgemeinere Anwendung dieser Kunst durch die Seltenheit des Brennmaterials verwehrt. Babylonien ist außerordentlich arm an Holz. „Bäume trägt das Sand gar nicht", sagt schon Herodot im fünften Jahrhundert vor Chr., „keinen Feigenbaum, keinen Weinstock, keinen Olbaum." Bloß die Dattelpalme gedeiht häufig, besonders im Süden, und die Stromläufe sind hie und da mit Tamarisken eingefaßt: sonst trägt der ausgetrocknete Boden nur dürres Gestrüpp. Mit solchem Brennstoff, zu welchem noch der jetzt allgemein gebräuchliche Kamelmist kommen mochte, ließ sich nicht soviel Hitze erzielen, als die allgemeine Anwendung hartgebrannter Ziegelsteine erfordert haben würde. In der That sind die ältesten babylonischen Bauziegel nur bleich- ober halbgebrannt unb sind meist nur an der Außenseite der Gebäude zum Schutze gegen die Witterungseinflüsse verwendet. Erst unter den Königen des siebenten Jahrhunderts, namentlich unter Nabuchodonosor war bas Ziegelbrennen zu einer hohen Vollkommenheit gebiehen, so baß die babylonischen Steine aus dieser Periode ben vortrefflichen Ziegeln bet Assyrier nicht nachstehen. Diese harten Steine sinb mit Kalkmörtel so vollkommen verbunden, baß es jetzt kaum möglich ist, einen Stein vom anbern zu trennen. Außer ben genannten Binbemitteln hatten die Babylonier noch ein drittes in bem Asphalt, woran bas Sanb reich ist. Diesen verwanbten sie bei jeber Art von Steinen in ben unteren Sagen, um bie vom Boben auffteigenbe Feuchtigkeit fernzuhalten. Wollen wir zwischen bem, was bie Babylonier mit solchen Mitteln zu stände gebracht haben, und zwischen den assyrischen Bauschöpfungen einen Vergleich anstellen, so muß freilich bedacht werben, baß ber Zuftanb ber sehr verwüsteten babylonischen Ruinen bas Urteil erschwert. Trotzbcm läßt sich erkennen, baß in Assyrien bei aller großartigen Entfaltung weit mehr Maß und Geschmack gewaltet hat, als in Babylonien, wo sich ebenso wie
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auf sittlichem Gebiet, auch in der Architektur maßlose Ausschweifung geltend machte. Der Eindruck der Gebäude wurde hier- durch die Masse, nicht durch Gliederung und Schönheit bewirkt, und über einen schwachen Ansang architektonischen Schmuckes scheint die babylonische Baukunst nicht hinausgekommen zu sein. — Während in Assyrien eine reiche Kunst-entwicklung aus der Baukunst hervorgegangen war, sind aus babylonischem Boden nur wenige Denkmale der bildenden Künste gesunden worden. Von babylonischer Bildhauerei kann ein äußerst roh gehaltener Löwe aus Stein, der im Kasr oder Königspalast zu Babylon [ein schon im Grnndriß mannigfach zusammengesetztes, jetzt aber durch die Steinbrüche der Araber maßlos zerrissenes Bauwerks halb unter dem Schutt begraben liegt wenn er anders fertig gehauen ist, nur einen niedrigen Begriff geben. Nach der Mitteilung des französischen Forschers Ernst de Sarzce jedoch sollen unter den von ihm gefundenen Bildnereien sich Meisterwerke aus Granit und Porphyr (Diorit) befinden, deren Material nach Angabe der Inschriften weither beschafft war. und diese sollen einen ganz selbständig entwickelten Kunststil darstellen; erst wenn seine Funde vollständig bekannt geworden sind, wird darüber ein Urteil möglich sein. Auch sonst fanden sich gravierte Muscheln und kleine Thonreliefs mit gefälliger Zeichnung. Einige sehr schön ciselierte Schalen aus Gold, welche zu Babylon gefunden worden, sind die einzigen Reste einer Kunstproduktion, welche den Zeugnissen der Alten zusolge daselbst einen hohen Aufschwung genommen hatte; die Kunstschöpfungen dieser Art haben von jeher die Gier anderer als wissenschaftlicher Forscher befriedigen müssen. Auch einzelne ^Gefäße aus Thon oder Serpentin, welche zu Babel und im Süden zu Tage gekommen sind, haben recht gefällige Formen, erwecken aber kein künstlerisches Jntereffe; die Darstellungen auf den Sarkophagen sind eher roh als geschmackvoll. Von Malerei ist noch keine Spnr entdeckt worden; im Inneren der babylonischen Gebäude erscheint meist ein ganz einfacher Verputz von weißer Farbe, doch fand steh im Kasr und am Birs Nimrnd eine Art von Mosaik aus glasierten Steinen als Wandbekleidung. Die Kunst der Ziegelemaillierung, welche den gegebenen Verhältnissen am besten entsprach, scheint in Babylon sehr ausgebildet gewesen zu sein. Nach Angabe der Alten waren Babylons Mauerwände mit Malereien bedeckt, welche Jagden und Kriegsscenen darstellten. Eine Anzahl zerbrochener Ziegel, welche der gelehrte Orientalist Oppert auffand, die aber nachher beim Transport im Tigris versanken, enthielt nach seiner Angabe außer ornamentalen Motiven auch Fragmente von menschlichen Gestalten, Tieren, Bäumen u. dgl. Die gezeichneten Objekte ragten 2 mm aus einem gelben oder blauen Grunde hervor, und alles war zu glasharter Glasur gebracht. Auf der Rückseite waren die Ziegel unglasiert und hatten Marken, nach denen sie zusammengestellt wurden.
Aus allen Jahrhunderten. 3
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dlus allen Zeiten der babylonischen Geschichte haben sich sehr zahlreiche Beispiele selbständiger Thonarbeit gefunden, meist menschliche Gestalten, immer in sehr verschiedener Ausführung von äußerst roh gearbeiteten bis zu ganz lebenswahren Figuren. Meist zeigen diese Gestalten, auch die der Götter uud Göttinnen, einen gemeinsinnlichen Ausdruck. Neben der Thonplastik steht als eine eigentlich babylonische Erfindung die Kunst, in hartem Stein zu gravieren. Zahllos sind die auf babylonischem Boden gefundenen Gemmen und vor allem die durchbohrten Cylinder aus jeder Art von Material, welche mit religiösen nnd profanen Darstellungen, oft auch mit Inschriften bedeckt sind und als Spiegel oder Amulette dienten. Lchon^ von König Urea aus dem dritten Jahrtausend vor Chr. haben fich Siegelcylinder erhalten. Was den Gegenstand der genannten Darstellungen betrifft, so ist in denselben eine rein äußerliche Symbolik vorherrschend. ^ie Gottheiten stehn auf Löwen oder anderen Tieren, wenn ihre Macht veranschaulicht werden soll. Geister und Dämonen sind mit Flügeln versehen, erscheinen aber niemals Gebrauch davon machend. Lieblingsdarstellungen sind zahllose mißgestaltige Wesen, auch Drachen, Einhörner, Greife u. dgl. Soweit alfo die archäologische Forschung reicht, muß man den Schluß ziehen, daß irt dem reichen und fruchtbaren Babylonien der Lebensgenuß den Schönheitssinn überwog, und daß der im Altertume vielgerühmte Kuustsleiß seiner Bewohner dem Luxus, nicht einem idealen Bestreben diente.
Je geringer aber die Kunstleistungen der Babylonier sich entwickelten, um so größeren Aufschwung nahm ihr Handel. Einerseits überstieg der Ertrag des Landes weitaus das Bedürfnis seiner Bewohner, andererseits mußte das Ausland den Luxus und die verfeinerten Ansprüche der Babylonier befriedigen helfen. So ward Babylon bald, wozu es durch die Kommunikationswege seiner Kanäle geeignet war, ein Kaufmannsland, das mit allen erreichbaren Völkern einen einträglichen Handel betrieb. Mit Recht konnten die Babylonier, wie der Prophet sagt (Jj. 43, 14), auf ihre Schiffe stolz fein; denn diese brachten ihnen den Reichtum Indiens und Arabiens, den die Phönizier bei ihnen eintauschen mußten. Der Hauptstapelplatz dieses Welthandels blieb natürlich Babylon selbst. Am Euphrat gelegen, bildete es für das große Kanalnetz des Landes gleichsam den Mittelpunkt, so daß die H. Schrift von ihm sagt, es wohne an großen Wassern. Es sind dies die „Wasser Babylons", an denen die jüdischen Verbannten „saßen und weinten, wenn sie Sions gedachten." Dies waren ebeusoviele Verkehrswege nach allen Richtungen hin, uud so mußten in Babylon selbst alle Nationen zu dem Reichtum des babylonischen Volkes beisteuern. Immer blieb daher die Hauptstadt gleichsam das Herz des Laudes, aus dem Leben und Thätigkeit durch die Adern der Kanäle bis in die fernsten Enden des Landes pulsierten. An seine Existenz
Kaulen: Die Kultur der Assyrier und Babylonier. 35
knüpfte sich um seiner religiösen, wie um seiner merkantilen Bedeutung willen der Reichtum des gesamten babylonischen Volkes, so daß Jeremias treffend Babylon die Mutter der Chaldäer nennt. Freilich ward diese Mutter für ihre ungezählten Kinder auch die Ursache des Verderbens, indem sie die Schule der Üppigkeit für das ganze Land bildete. Die nämliche Stadt, welche erst durch ihre Weisheit, dann durch ihren Kunstfleiß die Augen der ganzen Welt auf sich gezogen hatte, war bald allenthalben durch ihre Lasterhaftigkeit berüchtigt, und noch zur Zeit des Neuen Testaments, als Babylons Größe längst dahin war, konnte man sich ihres Namens bedienen, um damit einen Herd aller Sündhaftigkeit zu bezeichnen. —
VI.
Die welthistorische Bedeutung des griechischen Volkes.
(Fried. Christ. Wilh. Jacobs.)
Die Kenntnis der Geschichte des alten Griechenlands, im weitesten Umfange des Wortes, in welchem sie nicht bloß die Kenntnis der politischen Veränderungen, sondern auch der Kultur in ihren mannigfaltigen Zweigen, der Sitten und des ganzen Lebens, so weit wir es erforschen können, in sich begreift, verschlingt sich auf die innigste Weife mit allen Wissenschaften und der ganzen Kultur der neuen Welt.
Die Geschichte von Griechenland und seinen Einwohnern hat einmal eine absolute historische Wichtigkeit. Obgleich ursprünglich auf den engen Raum von 1800 deutschen Quadratmeilen beschränkt, hat sich dieses thätige Volk früh über seine engen Grenzen ausgebreitet und eine große, oft wohlthätige Rolle in der Geschichte gespielt. Griechische Schiffe befuhren alle Küsten des Mittelländischen und Schwarzen Meeres; griechische Pflanzvölker waren über alle Länder im Osten und Westen verbreitet; griechische Heere drangen siegreich durch weite Länderstrecken vor und waren überall gefürchtet; aus der Mitte der Griechen erhoben sich Geister, die als Eroberer aus dem Gebiete der Länder und Wissenschaften auf Jahrhunderte hin die Gestalt der irdischen und geistigen Welt verändert haben. Kein anderes Volk hat in dieser doppelten Eigenschaft eine gleiche Würde behauptet.
Daß sich nun die Geschichte der hellenischen Nation so ganz anders als die Geschichte anderer berühmter Nationen vor unseren Augen ausbreitet, ist nicht eine Wirkung des Zufalls, sondern ihrer Überlegenheit. Diese bestand zunächst darin, daß die Griechen alle anderen Völker der alten Welt an Bildung übertroffen haben. Schon von Natur ein
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regsames Volk. waren sie in ein Land gesetzt, welches in dem Schoße seiner Gebirge fruchtbare Thäler hegte, die aber dem Fleiße seiner Bewohner noch hinreichende Beschäftigung gaben, um die Trägheit zu verbannen, in ein Land, das von zahlreichen Flüssen durchschnitten, die sich zum Teil in tiefe Meerbusen ergossen, zu einem regen Verkehr mit den Menschen einlud, in ein Land, in welchem die verschiedenen Völker und Stämme durch natürliche Grenzen getrennt und doch nicht voneinander abgeschlossen waren, in ein Land endlich, wo ein reiner und heiterer Himmel, eine warme, aber elastische und nicht erschlaffende Luft die Erde umfing, und in welchem die Einwohner jene Spannung und Lebendigkeit erhielten, die ein charakteristisches Abzeichen der Hellenen war. Mögen sich die Ägypter ihrer unter dem Geheimnis rätselhafter Hieroglyphen versteckten Weisheit rühmen; diese Weisheit ist doch immer nur das Eigentum einer beschränkten Priesterkaste gewesen und hat nie dem fleißigen, gedrückten Volke gefrommt oder andere Völker erleuchtet. Die astronomischen Kenntnisse der Chaldäer, wie tief wir sie uns immer denken mögen, waren ebenfalls nur auf wenige beschränkt und konnten ihrer Natur nach wohl die Ungereimtheiten der Astrologie, aber keine Bildung des Geistes hervorbringen, und die anberen Kunstfertigkeiten der Babylonier haben nur ihre Kaufleute bereichert unb ben Staat enblich in bie Üppigkeit versenkt, in welcher er zum Raube eines sremben Eroberers warb. Fast gleiche Bewanbtnis hat es mit ben Wissenschaften ber Phönizier gehabt, bie sich wohl größtenteils auf Gegenstände bes Handels beschrankten und daher mit kaufmännischer Eifersucht andern verhehlt wurden, die Kenntnis der Buchstabenschrift ausgenommen, durch deren Erfindung oder Verbreitung sie sich um die Menschheit hoch verdient gemacht haben. Wie unbebeu-tenb ftnb biese Bruchstücke gegen bie Masse der Wissenschaft, die in Griechenland als ein Gemeingut ber Menschheit aufgehäuft war, von wo es burch taufenb Kanäle zu anberen Völkern nach Osten unb Westen hingeleitet würbe!
Es zeigt sich aber bie höhere Kultur ber Griechen, bie ihnen jene Überlegenheit gab, fast in allen Gegenständen ihrer Wirksamkeit: so zunächst in ihrer politischen Verfassung unb Gesetzgebung. Griechenland Grenzen hegten bie Monarchie, bie Aristokratie unb bie Demokratie; unb in ben verschobenen Epochen berBilbung gingen bie Hellenen von ber patriarchalisch-hausväterlichen zu ber monarchischen unb von biefer zur republikanischen über. Die letztere war bei vielen unverkennbaren Nachteilen ben kleinen, abgesonberten, unenblich regsamen Völkerschaften ber Hellenen bie heilsamste unb angemessenste unb ganz gewiß eine ber Hauptquellen, aus benen ihre Kultur geflossen ist. Denn hier bilbete fast jede Stabt einen eigenen Staat mit eigentümlichen Einrichtungen; unb bie größeren Verbinbungen, in welche sich einige Eidgenossenschaften vereinigten, waren
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meist ohne Zwang und Einfluß auf die innere Verfassung. Der regste Wetteifer entstand in dieser Inselwelt republikanischer Städte; wer Kraft in sich fühlte und Einsicht und starken Willen, der trat in die Laufbahn, und wenn auch nicht immer die Besten obsiegten, so stärkte doch schon der Kampf die Kraft eines jeden. Daher ist auch in dieser Republikenwelt die Kunst der Gesetzgebung auf den höchsten Gipfel gebracht worden. Hier fand Lykurgus das Geheimnis, die höchste Weisheit mit km schmerzlichsten Gehorsam zu vereinigen; hier gab Solon seinem Volke in den mildesten Gesetzen ein treffliches Mittel, sich weiter zu bilden, hier bildete Pythagoras in seiner Schule weise Lenker der Staaten; hier stellte Plato die Idee des vollkommensten Staates zur Bewunderung
der Mit- und Nachwelt auf.
Nicht minder aber zeigte sich jene hohe Überlegenheit des griechischen Geistes in der Denkungsart und in den Sitten der Hellenen. In den Freistaaten Griechenlands galt nur der Bürger, aber er behauptete als Herr des Landes, als Gesetzgeber, als Richter, alv Verteidiger seines Eigentums den Rang eines Souveräns. Ihn beschäftigten die wichtigsten Angelegenheiten des Staates, und sein Anteil daran war um so lebendiger, je näher sie ihm bei der engen Umgrenzung seines Gebietes lagen. Auch die Übel des alten Lebens trugen zur Erhebung der Staatsbürger bei. Alle drückenden Geschäfte des Broterwerbs lagen aus dem Rücken der Sklaven; der Bürger selbst genoß der vollkommensten Muße, um nur den liberalen Beschäftigungen, die Körper und Geist bilden, obzuliegen; und da seine Bedürfnisse gering waren, so war auch der größte Teil seines Lebens frei von irdischen Bestrebungen. Nun war es aber unmöglich, daß ein Leben, welches der Lenkung des Staates, der Handhabung der Gerechtigkeit, der Verteidigung der Freiheit und der Rechte des Vaterlands, und, wenn diese Geschäfte rasteten, der väterlichen Verwaltung des Hauswesens gewidmet war, gänzlich unedel sei; und die größere Anzahl erhob sich gewiß in würdiger Denkungsart weit über die Masse der Völker neuerer Zeit, die zu gleicher Entwicklung ihrer edelsten Kräfte weder Muße noch Gelegenheit haben. Nun ging aber mit der Würde die Mäßigung und bei einigen Stämmen, wie bei den Athenern, mit beiden die Anmut Hand in Hand. In einem solchem Leben war die Allgemeinheit des Enthusiasmus sür Jdeeen möglich, aus welchen die großen Thaten entsprangen, die noch jetzt die Welt mit einem freudigen Erstaunen erfüllen, jene schöne Liebe zum Leben mit Verachtung des Lebens gepaart, wenn es ein höheres Gut galt, und der zarte Schönheitssinn, dem alles Schöne auch göttlich und heilig schien, und der daher seine Götter durch Spiele ehrte und seine höchsten Feste mit den Gaben der Musen schmückte.
Ferner zeigt sich auch in der Religion die Eigentümlichkeit der helle-
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nischen Bildung. Wenn auch die griechische Religion ein sonderbares Chaos war, so hat sie doch vor allen andern heidnischen Religionen des Altertums den poetischen Charakter voraus. Sie ist oft kindisch einfältig, aber auch kindisch fröhlich und in ihren mutwilligsten Dichtungen anmutig, zart und schalkhaft. Was nur immer eine Religion leisten kann, die sich auf Ceremonieen beschränkt und die Gottheit in den Bezirk der sichtbaren Natur herabzieht, das hat sie geleistet; und sie hat sich schon dadurch über andere ihrer Art emporgeschwungen, daß ihre Bekenner die Fetische, die ersten rohen Gegenstände der Anbetung, zu menschlichen Gestalten veredelten und, indem sie die Götter zu Menschen machten, sich selbst zu Göttern erhoben. Weit waren sie also auch schon hierdurch vor dem Ägypter, dem Phönizier, dem Inder voraus, welche nie aufhörten, die Tiergestalt oder irgend ein gemischtes Ungeheuer auf ihren Altären zu ehren und ihren Anhängern keinen Weg ließen, als entweder dem alten Unsinn zu huldigen oder in höhnenden Unglauben überzugehen, während die hellenische Religion einer fortschreitenden Veredelung fähig war; und die Sitten des Olympus besserten, die Götter veredelten sich, sowie die ihnen verwandten Menschen größer und edler wurden.
Es übertreffen weiter die Griechen alle Völker der alten Welt auch durch ihre geistigen Schöpfungen. Kein Volk der alten und neuen Zeit hat eine so lange Reihe von Jahrhunderten hindurch die Gärten der Musen mit einem so glücklichen Erfolge angebaut und in allen Gattungen ans eigner Kraft und ohne alle fremde Einwirkung eine so große Menge musterhafter Werke erzeugt. Wäre auch nur ein einziger Dichter wie Sophokles, ein Geschichtschreiber wie Thucydides, ein Philosoph wie Plato auf uns gekommen, welche Vorstellung müßten wir uns auch dann schon von der Bildung der Hellenen machen! Aber nun zieht sich ein langer Kranz solcher Heroen von Homer bis zu Louginus (um 250 n. Chr.) herab; und obgleich in der späteren Zeit die Flamme der griechischen Genialität ermattet, so erlischt sie doch nie ganz, und der feine Kunstsinn dieser Nation erhält sich fast bis zu ihrem Untergänge.
Endlich erkennen wir den hohen Standpunkt der hellenischen Bildung auch in den Kunstwerken dieser Nation. Ganz Hellas und alle hellenischen Städte waren mit Kunstwerken angefüllt, welche teils die Religion, teils das öffentliche Leben, teils die Pietät der Familie forderte. Noch sind die Trümmer ihrer Tempel und öffentlichen Gebäude das Wunder der Welt, und selbst die Bruchstücke ihrer Statuen das Studium sinniger Künstler. Kein anderes Volk ist fruchtbarer gewesen an Werken der Kunst, an hohen und großen Gestalten jedes Charakters. Um einen Steinhaufen zu ägyptischen Pyramiden aufzutürmen ober bie Hieroglyphen eines Obeliskenkegels auszuschleifen ober bie kolossale Gestalt einer Sphinx auszumauern, ist ber geistlose Hanbwerkerfleiß eines emsigen
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Sklavenvolkes vollkommen genug; aber damit die leichte [und würdige Gestalt eines Apollo in Marmor aufstrebe, damit der Homerische Kronide Zeus. der mit dem Bewegen seines Hauptes den Olymp erschüttert, menschlichen Augen erscheine, damit sich die Blüte der Schönheit und süßer Anmut in einer Aphrodite entfalte, mußte die Kunst zum Himmel emporsteigen und ihm Gestalten entwenden, wie sie auf der Erde nicht erwachsen.
Wenn wir so nachgewiesen haben, daß das hellenische Volk alle anderen Völker der alten Welt an Bildung übertroffen hat, so müssen wir ihm auch das hohe Verdienst einräumen, daß es seine Bildung allgemein mitgeteilt hat, und dadurch ist der Einfluß von Griechenland auf die Bildung des Menschengeschlechts von welthistorischer Wichtigkeit geworden.
Wie die Blicke des gläubigen Muselmanns bei seiner Andacht nach dem Grabe des Propheten, so sind die Blicke aller Freunde der Kunst und Humanität nach dem Laude SeuSbiifte von Otricoü (Vatikan),
der hellenischen Kultur
gewendet. Ja in einem weit anderen und höheren Sinne als Perser und Tartaren und Araber sind die Hellenen ein weltbeherrfchendes Volk gewesen, nicht auf der Oberfläche der Erde, sondern in dem Gebiete der Geisterwelt. Kein anderes Volk hat hier soweit um sich gegriffen oder seine Eroberungen so lange behauptet. Die Bewunderung seiner Thaten entzündete auch die Barbaren zur Nacheiferung; seine Sprache ging über die ganze bekannte Erde; seine Werke wurden gelesen, wo man sich nur einigermaßen um Bildung bewarb. Und als die politischen Kräfte des
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Volkes erschöpft waren und es einem Mächtigeren erlag, unterjochte es auch seinen Sieger durch die Überlegenheit seiner Kultur, befreundete ihn mit seiner Sprache und nötigte ihm eine Bewunderung seiner Kunstwerke ab, die endlich in eifrige Nachahmung ausschlug.
Viele Völker sind mächtiger gewesen, aber wenn ihre politische Macht scheiterte, lebten sie nur noch in den Denkmälern der Geschichte fort, ohne Einfluß und meist ohne Achtung. Nur die Griechen und die Zöglinge der Griechen, die Römer, machen eine Ausnahme hiervon. Nie ist die geistige Macht bort Hellas erloschen; es giebt eine Graecia wie eine Roma aetema. Aus den Trümmern und der Asche der Staaten steigt es immer in neuer Glorie empor, und wie die Tugend aus Ajas' Grab, so sitzt der Genius der hellenischen Nation in unvergänglicher Schönheit und Jugend aus den Ruinen des verödeten Landes. Die feurige Vaterlandsliebe, die stolze Verachtung der Gefahr, die heilige Verehrung auch der strengsten Gesetze, die in den Seelen spartanischer Bürger herrschte, die Aufklärung und sittliche Bildung, deren Wohnplatz Athen war, die innigste Verschlmgung des Kunstsinnes mit der Sinnlichkeit, der Würde mit der Anmut, der Strenge mit der Milde, der Tiefe mit der Leichtigkeit, dieser durchaus einzige Verein der schönsten Eigentümlichkeiten der Menschheit wird nie aufhören, die Blicke zu feffeln, so lange noch ein Rest ihrer Geschichte in dem Meere der Zeiten schwimmt. Bei dem Namen eines Lykurgus und ©olon, eines Milüades und Leonidas, eines Themistokles, Aristides, eines Epaminondas und Pelopidas und eines Phocion, eines Timoleon, eines Demosthenes und Kleomenes erhebt sich jedes edle Gemüt und sieht staunend zu den Zeiten hinaus, in denen solche Heroen patriotischer Tugenden auftreten konnten. In dem Glanze, den sie verbreiten, schwinden die Flecken, welche jeder irdischen Erscheinung anhängen, und die Übel der alten Staaten werden vergessen, wenn wir uns der köstlichen Erzeugnisse jenes Bodens erfreuen.
Noch glänzender und zuverlässiger aber erscheint der Einfluß der hellenischen Kultur in der litterarischen Welt. So gewaltig wirkte hier der Genius der hellenischen Bildung, daß überall, wo er seine Schritte hinlenkte, eine kräftigere Regsamkeit gespürt, ein neues Licht verbreitet und eine schönere Thätigkeit in edlen Gemütern erregt wurde. Denn das ist eben das Wundervolle der geistigen Kultur und der Genialität, daß, sie sich durch Berührung erneuert und fortpflanzt und überall Wurzeln treibt, wo sich ein offener Sinn und reine Liebe bietet. Daher ist Griechenland noch nicht untergegangen; es lebt in jedem empfänglichen Gemüte, unb die Werfe feiner genialen Kinder senden, wie die ewigen Lichter des Himmels, reine Strahlen ans, die in empfänglichen Seelen ein schimmernd Licht hervorrufen und den Samen des Schönen und Edlen entwickeln.
^o geschah es in Rom. Als die römische Gewalt das mürbe Ge-
Jacobs: Die welthistorische Bedeutung des griechischen Volkes. 41
bände der hellenischen Staaten niederschlug, war dem rohen Sieger die Kunst und Wissenschaft der Griechen fremd, oder der Gedanke daran war mit der allgemeinen Verachtung verwebt, mit der er die entarteten Sitten des besiegten Volkes betrachtete. Doch erschien einigen der Genius des alten Landes in seiner göttlichen Herrlichkeit über den rauchenden Trümmern schwebend und ergriff die Gemüter der Besten mit einer unbekannten Sehnsucht und Lust. Die Scipionen, die Salier, die imitier, die Catonen huldigten ihm. Ein geistreicheres Leben begann in der krieggewohnten Stadt, und wo bisher nur Waffen geklirrt und die trockenen Formeln des Rechtes auf dem Forum ertönt hatten, klangen jetzt die melodischen Weisen der griechischen Musen. Was in der sremden Sprache eine bewundernde Freude erregt hatte, wurde in der Muttersprache nachgeahmt, und die rauhen Töne von Latium milderten sich in dem Wettstreit mit der älteren Schwester. So erstrebte auch Rom aus den Flügeln der griechischen Muse einen dauernderen Ruhm, als der war. den ihm seine Welteroberung zuführte. Denn vielleicht würde auch die Geschichte von Rom, wie die von Persien, nur in den Kompendien der Weltgeschichte leben, wenn nicht der starke Geist der römischen Poesie und Beredsamkeit, ihre Gesetzgebung und die praktische Weisheit, die das römische Volk beiden Künsten zu vermählen wußte, die Sprache der Weltbeherrscherin durch eine Reihe düsterer Jahrhunderte bis aus unsere Zeit empfohlen hätten. —
Seit der Wiedererweckung des Studiums der klassischen Litteratur (am Ende des Mittelalters) ist die Einwirkung der griechischen Bildung auf die Kultur der Neueren fast ununterbrochen gewesen. Fast zu allen unseren Wissenschaften hat sie den Grund gelegt, und die wissenschaftliche Methode, die sie bei einigen Zweigen derselben, wie bei der Philosophie und Mathematik beobachtet hat, ist noch nicht übertroffen worden. Vor allem aber haben die Werke der redenden und bildenden Kunst nie ausgehört, den Kunstsinn zu wecken und den Geschmack auszubilden.
An dem Ruhme der alten Klassiker ist der Ruhm der neueren emporgestiegen.
VH.
Das Homerische Zeitalter.
(E. Curtius.)
In den Dichtungen Homers tritt uns die griechische Welt zum ersten Mal entgegen. Aber es ist keine Welt der Ansänge, keine in unsicherer Entwickelung begriffene, sondern eine durchaus fertige, eine reife und in sich abgeschlossene Welt, mit fest geregelten Lebensordnungen. Man fühlt deutlich, daß seit undenklicher Zeit sich die Menschen darin eingelebt haben,
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und mit vollem Bewußtsein stellen dieselben ihr Zusammenleben dem auf unterer Stufe zurückgebliebenen Dasein anderer Völkerschaften gegenüber, welche ohne ein gemeinsames Oberhaupt unb ohne Gemeindeverfassung,' ohne Ackerbau unb begrenzte gelber, ohne künstliche Wohnung in den ursprünglichen Formen ber Familie bahinlebeu.
Der Trieb zu erwerben, welcher den Griechen von Natur tief eingepflanzt ist, hat fie früh zu vielseitiger Thätigkeit angereizt. Dieselben Plejaben sind es, welche burch ihren Auf- unb Niedergang die Geschäfte bes Lanbbans sowie bie Zeiten ber Seefahrt bestimmen, unb selbst bei den schwerfälligen Bootern gilt bie Regel, im Mai nach Beenbigung ber Feldarbeü noch zu Schiffe Verdienst zu suchen. Das böotische Orcho-menos ist zugleich Binnen- unb Seestabt, ein Sammelort von allerlei Fremben unb vielfacher Kunbe, so daß Agamemnons Schatten den Odysseus fragt, ob er nicht etwa in Orchomenos von feinem Sohne Orestes gehört habe. Das Seeschiff dient zugleich zu gewalttätigem Erwerb; denn das griechische Jnselmeer reizte so sehr zu abenteuernden Umzügen und Landungen, daß der Seeraub eine gewöhnliche Beschäftigung war, wie Fischfang und Jagd. Die Freibeutereien gingen bis an den Nilstrand, und die Kämpfe, die sich mit den Eingeborenen entspannen, und die wir bisher nur aus Homer kannten, werden jetzt auch durch die neu aufgedeckten ägyptischen Wandgemälde bezeugt.
Wichtiger ist der friedliche Verkehr, welcher die Küstenländer verbindet. Bewunderte Kunsterzeugnisse aus Sidon kommen durch phöni-zische Händler nach Griechenland, sie werden in den Hasenorten ausgestellt und gehen von Hand zn Hand.
Das Volk ist seit langen Zeiten keine ungeglieberte Masse mehr, sonbern in Stäube georbnet, welche einander mit sehr bestimmten und festen Unterschieden gegenüberstehen. Voran stehen die Edlen des Volkes, die „Anaktes" oder Herren, welche allein in Betracht kommen. Wie Riesen ragen sie hervor aus der Mitte bes Volkes, unter dem nur einzelne durch Amt oder besondere Begabung als Priester oder Wahrsager oder Künstler sich auszeichnen; alle andern bleiben ungenannt; sie sind, wenn auch persönlich frei, doch ohne Berechtigung im öffentlichen Leben. Willenlos, wie Herden, folgen sie dem Fürsten und fliehen scheu auseinander, wenn ihnen der Großen einer gegenübertritt; sie bilden in ihrer Masse nur den dunklen Hintergrund von welchem sich bie Gestalten ber Eblen um so glänzenber abheben. Durch Raub unb Kauf kamen auch Menschen srember Herkunft unter das griechische Volk, Syrer, Lyder, Phryger u. a. Diese versprengten Angehörigen fremder Stämme bilden einen wichtigen Bestandteil der Homerischen Welt. Osten und Westen werden durch sie verbunden, und da die nationalen und Stammgegensätze sich noch nicht ausgebildet haben, so werden die Fremdlinge, die durch unverschuldetes
Curtius: Das Homerische Zeitalter. 43
Unglück Heimat und Freiheit verloren haben, in die Hausgenossenschaften aufgenommen; sie leben sich leicht ein und wirten in unscheinbarer, aber sehr eingreifender Weise mit zur Ausbreitung oon Künsten und Gottev-diensten' sowie zur Ausgleichung der Kultur zwischen den ^znseln und Küsten. Das ist die Bedeutung der Unfreien in der Homerischen Welt, welche einen eigentlichen Sklavenstand noch nicht kennt.
Das Löwenthor von Mycenä.
Die Stände der Gesellschaft, in sich ohne Einheit, schließen sich nur dadurch zu einer Gemeinschaft zusammen, daß ein gemeinsames Haupt an der Spitze stehr. Das ist der Herzog (Basileus) oder König. Seine Macht, durch die das Volk zum Staate wird, ist ihm nicht vom Volke übertragen, sondern Zeus hat ihm mit dem erblichen Scepter den Königsberuferteilt. So finden sich bei allen Stämmen der Homerischen Welt alte Fürstengeschlechter im hergebrachten Besitze ihrer Macht, und ohne Wider-
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rede empfangen sie die Ehrengaben und Huldigungen ihres Volks. Mit dem Königsamte hat der Fürst zugleich den Beruf des Feldherrn und Oberrichters; gegen innere Zerrüttung wie gegen äußere Feinde hat er durch Gerechtigkeit und starken Arm den Staat zu schützen. Er ist auch den Göttern gegenüber seines Volks Vertreter; er betet und opfert für die Seinen zu der staatshüteuden Gottheit; er kann nach seinem Verhalten reiche Göttergnade sowohl wie Fluch und Elend über sein Volk bringen.
Dieser eine ist der Mittelpunkt nicht nur des Staatslebens, sondern zugleich aller höheren Bestrebungen der Menschen. In seinem Dienste erwacht und wächst die Kunst; zunächst die Kunst des Gesanges; denn die Lieder, welche die Homerische Welt erfüllen, tragen von Ort zu Ort die großen Thaten sowohl wie die milden Tugenden des Königs, der den Göttern gleich dem zahlreichen Volke gebietet, die Gesetze wahrt und Segen verbreitet. —
„Da bringet das dunkele Erdreich
Weizen und Gerst', und die Frucht hängt schwer von den Zweigen der Bäume;
Kraftvoll mehrt sich das Vieh, und das Meer giebt reichlichen Fischfang,
Weil er so weise regiert, und in Wohlstand blühen die Völker."
Ihm, dem Könige, dient auch die bauende und bildende Kuust und richtet ihm zu, wessen er zur Sicherheit und Würde seines Lebens bedarf. Die besten Werkmeister schmieden ihm die Waffen und schmücken sie mit sinnvollen Feldzeichen; das Elfenbein, welches karische Frauen mit Purpur gefärbt haben, wird zum Schmuck königlicher Wagenrosse zurückgelegt. Von ferne her kommen die Bauleute, um dem Herrn des Landes die Burgmauer aufzuführen sowie die stattlichen Wohnräume für Familie und Gesinde. Feste Gewölbe endlich nehmen die ererbten Schätze auf, welche der Fürst ruhen lassen kann, weil er von dem lebt, was das Volk ihm anweist, von dem abgeteilten Krongute und von den Gaben der Gemeinde. Wir finden eine entwickelte Werkthätigkeit für alle Bedürfnisse des Krieges und Friedens, doch ohne eine feste Arbeitsteilung.
Von der monumentalen Baukunst stehen noch heute die großartigsten Denkmäler, welche ihrer unverwüstlichen Tüchtigkeit wegen die besterhaltenen auf dem ganzen Boden griechischer Geschichte sind.
Die ältesten unter diesen Denkmälern achäischer Vorzeit sind die Burgen. Ihr enger Umfang zeigt, daß sie nur darauf berechnet sind, das Geschlecht des Fürsten und sein nächstes Gefolge aufzunehmen. Solche Gefolgschaften bestanden ans den Söhnen edler Geschlechter, welche sich freiwillig den mächtigeren Fürsten angeschlossen hatten und bei diesen als Wagenlenker oder Herolde, im Kriege als Zelt- und Streitgenossen eine ehrenvolle Dienstleistung versahen. Das Volk aber wohnte auf den Feldern zerstreut oder in offenen Weilern vereinigt.
Curtius: Das Homerische Zeitalter. 45
Die Mauern, welche die Burg eiuschließen, darf man nicht roh nennen, und die späteren Hellenen dachten am wenigsten daran, sie als solche zu bezeichnen, wenn sie dieselben den Cyklopen zuschrieben. Denn der Name dieser dämonischen Werkmeister ist ein Ausdruck für das Wunderbare und Unbegreifliche jener Denkmäler, welche mit der Gegenwart in gar keinem Zusammenhange standen. Das Gemeinsame jener eyklopischen Burgmauern ist die Mächtigkeit der Werkstücke, welche mit einem uuge-meiuen und rücksichtslosen Auswaude von Menschenkraft aus dem Felsgesteine gebrochen, fortgeschafft und aufeinander geschichtet worden sind, so daß sie vermöge ihrer Masse in angewiesener Lage verharren uud ohne Bindemittel ein festes Gefüge bilden mußten.
Es waren aber dieselben Burgmauern noch in anderer Weife mit Kennzeichen höherer Kunst ausgestattet. In Tiryns sind die Burgmauern, welche im ganzen 25 Fuß Dicke haben, von inneren Gängen durchzogen,
Ältere und jüngere eyklopische Mauer.
welche durch eine Reihe thorähnlicher Fenster mit dem äußeren Burghöfe irt Verbindung standen, es mögen Räume sein, die im Falle einer Belagerung zur Ausnahme von lebendem Vieh bestimmt waren. Dann aber sind es die Burgthore, welche zur besonderen Auszeichnung einer eyklopischen Stadt dienten. Als Beispiel ist uns das Hauptthor von Mycenä erhalten mit seiner 50 Fuß langen Thorgasse, seinen mächtigen, gegeneinander geneigten Seitenpfosten und dem überliegenden Decksteine von 15 Fuß Länge und 6 Fuß Höhe (s. Abbildung S. 43). Über diesem Steine ist eine dreiseitige Öffnung von 11 Fuß unterer Breite im Gemäuer ausge-fpart, um den Wappenstein aufzunehmen, welchen die alten Burgherren hier einst in feierlicher Stunde eingefügt haben, um dadurch den Eingang zu weihen und die Vollendung des Ganzen zu bezeichnen. Dieser Stein ist noch heute an alter Stelle erhalten. In slachem Relief erheben sich die Umrisse der ältesten Skulptur, die auf dem Boden von Europa zu ffnden ist: in der Mitte eine nach oben leise anschwellende Säule, zu den Seiten
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zwei Löwen mit aufgestemmten Vordertatzen, steif symmetrisch wie Wappentiere, aber mit Natnrverstündnis gezeichnet und mit voller Sicherheit des Meißels ausgeführt. Die Köpfe waren eingesetzt; sie sprangen frei aus dem Relief vor, so daß sie den Herankommenden trotzig anblickten und den Feind zurückschreckten, wie die an den ältesten Stadtburgen angebrachten Medusenköpfe.
Burgmauern waren den Kriegsfürsten unentbehrlich; außerhalb der Burg findet sich aber eine Gruppe von Gebänden, welche noch klarer beweist, wie die Bauanlagen der heroischen Zeit weit über das Notdürftige hinausgehen. Eines derselben ist so vollständig erhalten, daß man an demselben die ganze Banweise klar übersieht. Es ist ein unterirdisches Gebäude, in einen flachen Hügel der unteren Stadt Mycenü hineingebaut. Man hatte zu dem Zwecke den Hügel ausgegraben und auf der Sohle des aufgegrabenen Raums einen Ring von wohlbehauenen und genau zusammenpassenden Werkstücken ausgelegt, darüber einen zweiten, dritten u. s. w.; jeder obere Steinring ragte über den unteren nach innen vor, so daß sich allmählich aus den ansteigenden Ringen ein hohes, bienenkorbähnliches Rundgewölbe bildete. Zu diesem Gewölbe führt von außen ein Thor, (s- Abbildung S. 48) dessen Öffnung ein Stein von 27 Fuß Länge spannt; an den Pfosten dieses Thores standen halbrnnde Säulen aus farbigem Marmor, deren Schaft und Basis mit Streifen im Zickzack und in Spirallinien verziert war. Durch dies Thor trat man in den großen Kuppelbau hinein, bessert Steine noch heute in wohlgesügter Ordnung zusammenschließen. Die inneren Wände waren von unten bis oben mit angehefteten Metallplatten bekleidet, welche, glatt poliert, namentlich bei Fackelscheine dem großen Raume einen außerordentlichen Glanz verleihen mußten, und diese Thatsache stimmt auf das genaueste mit jenen Homerischen Schilderungen, wo der Erzglanz der Wände in den Königspalästen gerühmt wird.
Nach der einheimischen Überlieferung waren diese Rundbauten Thesauren oder Schatzgewölbe. Indessen läßt die Großartigkeit ihrer Anlage und die Lage derselben außerhalb der Burg wohl kaum daran zweifeln, daß das Ganze ein Grabbau war; denn die Kunst sollte nicht bloß den lebenden Fürsten schirmen und schmücken, sondern auch dem verstorbenen Landesherrn ein unvergängliches Denkmal stiften. Eine tiefe Felskammer, welche an das Kuppelgewölbe anstößt und den innersten Teil des ganzen Gebäudes bildet, enthielt, wie wir annehmen dürfen, die geheiligten Überreste des Fürsten, während der Rnndbau dazu benutzt wurde, die Waffen, Wagen, Schätze und Kleinodien desselben aufzubewahren. Darum wurde auch der gauze Bau mit Erde bedeckt, so daß bei äußerem Überblicke der Gegend niemand unter den Gräsern des Hügels den in der Tiefe ruhenden Königsbau ahnte.
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Die geschichtliche Bedeutung dieser Denkmäler ist nicht zu verkennen. Sie können nur unter Völkern entstanden sein, welche auf diesem Boden lange seßhaft gewesen sind und sich im vollen Besitze einer ihrer Mittel und Zwecke wohl bewußten Kultur fühlten. Hier ist vollkommene Herrschaft über Stein und Erz; hier sind feste Kunstweisen ausgebildet, die mit stolzer Pracht und einer auf unvergängliche Dauer berechneten Tüchtigkeit ausgeführt sind. Fürstenhäuser, die sich in solchen Werken verewigten, müssen bei angestammtem Reichtume weitreichende Verbindungen gehabt haben, um ausländisches Erz und fremde Steinarten herbei zu schaffen. Wo ist da von Ansängen die Rede! Wer kann solchen Denkmälern des Burg- und Grabbaues gegenüber in Abrede stellen, daß das, was uns, was eben so den alten Forschern, wie Thncydides, als ältester Anknüpfungspunkt griechischer Überlieferung, als erster Anfang einer urkundlichen Geschichte dient, in Wahrheit Vollendung und Abschluß einer Kultur sei, welche außerhalb des engen Bodens von Hellas entstanden und gereift sein muß!
Freilich ist der König vermöge seiner Hoheitsrechte auch Oberrichter des Volkes, wie der Hausvater unter den Seinen; aber er getraut sich nicht, dies verantwortliche Amt allein zu verwalten. Aus den edlen Geschlechtern des Volkes wählt er seine Beisitzer, ihrer Würde wegen die Alten oder Geronten genannt, und in dem durch Altäre und Opfer geheiligten, abgegrenzten Kreise sitzen die Richter umher, um öffentlich vor allem Volke das Recht zu weisen und zu ordnen, wo es in Verwirrung gekommen ist. Nur wo es sich um Leib und Leben handelt, hat die Familie sich ihrer Rechte nicht begeben; Blut verlangt Blut nach der alten Satzung des Rhadamanthys, und dem durch Verwandtschaft berufenen Rächer allein steht es zu, Blut zu vergießen. Aber auch hier, wo der staatliche Organismus noch unfertig geblieben, ist alles fest geregelt, und so übermütig sich sonst gebärdet, wer die Macht dazu hat, so findet sich doch kaum ein Beispiel von trotziger Auflehnung gegen die Forderungen des heiligen Rechts. Auch der Mächtigste flieht aus dem Lande, wenn er der Geringen einen getötet hat, und deshalb bilden die Fluchtwanderungen und Verbannungen den Mittelpunkt so vieler Geschichten und Verwickelungen der Vorzeit. Wer aus seiuem Stamme herausgetreten ist, befindet sich in einer ganz anderen Welt, und keine rechtlichen Satzungen reichen aus eiuem Staate in den anderen hinüber.
Im ganzen aber ist, was Kultur und Sitte betrifft, die Homerische Welt eine merkwürdig gleichmäßige. Wir finden wenig Unterscheidendes im Charakter der Stämme, welche sich an den beiden Seiten des Ägä-ischen Meeres gegenüber wohnen und die eigentlich griechische Welt bilden. An beiden Seiten herrscht gleiche Religion, Sprache und Sitte;
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Trojaner und Achäer verkehren durchaus tote Landsleute miteinander, und wenn sich ein Unterschied zwischen diesseits und jenseits erkennen läßt, so besteht er darin, daß den Bölkern der östlichen Seite, wenn auch nicht ausdrücklich, doch in sprechenden Zügen, der Vorzug einer höheren Kultur und einer vorangeschrittenen Bildung eingeräumt wird. Bei den achäischen Fürsten läßt wilde uud selbstsüchtige Leidenschaft nicht ab, den gemeinsamen Zwecken entgegenzuarbeiten; um den Besitz einer Sklavin setzt der erste Heerführer das Gelingen des ganzen Werks auf das Spiel. Achilles ist die idealste Gestalt unter allen, die vor Jlinm gestritten,
Eingang zum Schatzhause des St treu» in Mycenü.
und doch zeigt er, der Göttin Sohn, des Zeus Urenkel, einen wilden Blutdurst, der sich auch an harmlosen Kindern befriedigt, und verrichtet mit eigenen Händen an Gefangenen wie an Pferden und Hunden Henker-dienste. In beiden Ajas tritt uns nngebändigte Naturkraft entgegen; Odysseus' Thaten gestatten nicht immer den Maßstab ritterlicher Ehre anzulegen, und Nestor ist nur durch die Jahre zu einem Weisen geworden. Dagegen sind Priamns und die Seinen so geschildert, daß wir ihr treues Zusammenleben, ihre Gottesfurcht, ihre heldenmütige Vaterlandsliebe und feine Sitte lieben müssen; nur im Charakter des Paris sind schon die Züge asiatischer Weichlichkeit, wie sie in Jonien sich entwickelte, zu erkennen.
Curtius: Das Homerische Zeitalter. 49
Zu der Zeit, als die Züge der heroischen Welt im Liede gesammelt und zu einem großen Gemälde vereinigt wurden, war diese Welt eine längst vergangene, und andere Lebensordnuugen waren an ihre Stelle getreten, in der Heimat sowohl, in welcher die Enkel der Homerischen Helden den nordischen Bergvölkern den Platz hatten räumen müssen, wie in den neu gewonnenen Sitzen, wo infolge der allgemeinen Umwälzungen und Wanderungen die Erben achäischer Fürstenmacht solche Stellungen, wie ihre Ahnen in der Heimat besessen hatten, nicht wieder gewinnen konnten.
Es geht durch die Homerische Dichtung ein Zug der Wehmut hindurch, ein schmerzliches Bewußtsein davon, daß es schlechter in der Welt geworden sei, und daß die „Menschen, wie sie jetzt sind", hinter den vergangenen Geschlechtern an Kraft und Tüchtigkeit zurückstehen.
Das Königtum ist der Mittelpunkt der Welt, und im Felde mußte seine Macht eine gesteigerte und unbedingte sein. Aber wie wenig entspricht doch der Homerische Agamemnon dem Bilde heroischer Fürstengröße, wie es angesichts der Denkmäler von Myeenä uns entgegentritt, und wie es durch die Überlieferung vom gottentsprossenen Wesen und gottähnlichen Walten der alten Herrscher sich uns einprägt! Im troischen Lager finden wir einen in zahllosen Verlegenheiten befangenen, in seinen Mitteln beschränkten, unschlüssigen und unselbständigen Fürsten, dessen Wollen und Können weit auseinander liegt; er macht mehr Ansprüche auf Macht, als er besitzt, und muß allerlei Mittel und Wege ersinnen, um sich Zustimmung zu verschaffen. Von diesem Agamemnon, welcher allerorten auf Widerstand und Ungehorsam stößt, ist schwer zu begreifen, wie er im stände gewesen sei, das bunte Heergefolge unter seinem Banner zu vereinigen. Die Centralmacht der heroischen Welt ist erschüttert; es hat sich neben der königlichen Gewalt eine andere Macht erhoben, die Macht des Adels, dessen fchon der König beim Regieren und Richten nicht mehr entbehren kann, und gerade jener Ausspruch, welchen man seit alten Zeiten für die anerkannte Geltung des heroischen Königtums anführt:
„Niemals frommt Vielherrschaft dem Volk, ein einziger herrsche,
Er sei König allein, ihm gab dies Amt der Kronide —"
zeugt deutlich genug vom Standpunkte politischer Reflexion und giebt zu erkennen, daß man schon die Übelstände einer vielköpfigen Adelsherrschaft gekostet habe, wie sie aus Jthaka im vollsten Maße zum Vorschein kommen.
Auch die Priester, namentlich die weissagenden, treten dem König-turne gegenüber, eine zweite Macht von Gottes Gnaden, und deshalb um so trotziger und gefährlicher. Endlich regt es sich auch in des Volkes dunkler Maffe. Der Markt, welcher bei ungeschwächter Königsmacht noch keine politische Bedeutung haben konnte, wird allmählich der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. In den Marktversammlungen werden die gemein-
Aus allen Jahrhunderten. 4
50 Altertum.
saniert Angelegenheiten entschieden, die Versammlungen erhalten immer mehr Selbständigkeit, und bei allen wichtigeren Beschlüssen kommt es darauf an, das Volk durch Rede zu gewinnen.
Freilich soll die Menge nur hören und gehorchen; aber schon sitzt das Volk bei der Beratung, während nach älterem Brauche nur für die Vornehmen, d. H. die Könige und Geronten, Sitze eingerichtet waren; schon ist die öffentliche Stimme eine Macht, welche der König nicht ungestraft verachten darf, und schon finden sich auch im Lager vor Troja Leute wie der freche Schwätzer Thersites. Er wird mit Hohn in seine Schranken zurückgewiesen, aber gerade das Zerrbild, welches Homer von ihm entwirft, giebt den Beweis, daß die Parteien sich mit Bewußtsein gegenüber standen, und daß der aristokratische Witz sich schon geübt hatte, die Sprecher des Haufens mit Spott zu geißeln; man ahnt, daß solche Vorgänge bald glücklichere Nachahmung finden werden. Auf Jthaka wird das Volk sogar in die Handlung hereingezogen. Mentor sucht es im dynastischen Interesse zu bearbeiten; er geht soweit, das Volk auf die Macht, die in der Masse liege, hinzuweisen:
„Aber dem anderen Volk, dem zürn ich; allezusammen Sitzt ihr da und schweigt, und niemand wagt es mit Ernste,
Schranken den Freiern zu setzen, den wenigen, euer so viele."
Freilich genügen wenige Worte der Freier, um die sich zusammenscharende Menge zu zerstreuen — aber die Parteien sind da, die eine vollständig ausgebildet, der das Königtum schon erlegen ist, die andere im Hintergründe sich regend und vom Königtums selbst zu seinem Schutze aufgeboten. Selbst gewisse historische Charakterzüge, welche entschieden dem nachhomerischen Zeitalter angehören, geben sich in den Gedichten zu erkennen. So kann man im Menelaus, bem Könige Spartas, welcher, allen weitschweifigen Reden abgeneigt, die Gegenstände der Beratung in eindringlicher Kürze behandelt, den Vertreter des dorischen Stammes, der nach den troischen Zeiten in Lakonien ansässig war, kaum verkennen.
So finden wir trotz der epischen Ruhe, welche jonische Poesie über das ganze Weitbilb auszugießen gewußt hat, eine Welt voll innerer Wiber-sprüche; es ist alles in Gärung, das Alte in Auflösung, und neue Kräfte, welche in den alten Lebensorbnungen keinen Platz haben, in voller Entwickelung. Wir erkennen barin bte Zeitverhältnisse, unter benen bie Gesänge fertig würben, als (etwa um 900 v. Chr.) bie unruhige Zeit ber Wanberungen nnb Grünbungen vorüber war unb bie Stabte sich im Innern zu gestalten anfingen. Da trat bie Fürstenmacht, welche währenb ber Zeit ber Kämpfe unentbehrlich gewesen war, zurück. Der Abel erhob sich gegen ben Thron, und in den Seestädten Joniens entwickelte sich das Marktleben, in dem der Demos sich fühlen lernte, und das eine wesentliche Umgestaltung der Stände in der Gesellschaft herbeiführte. Aus
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dieser Zeit, seiner Gegenwart, hat der Dichter die Züge in das Bild der Vorzeit eingewebt.
Der Handelsverkehr ist im wesentlichen noch ein Tauschhandel, wie er es im Ägäischen Meer wegen der großen Mannigfaltigkeit der Produkte sehr lange geblieben ist. Indessen zeigte sich früh das Bedürfnis, solche Gegenstände, welche einen stetigen, leicht zu bestimmenden und allgemein anerkannten Wert haben, als Wertmesser für die anderen Gegenstände zu benutzen. Ursprünglich sind es die Herden, die den Reichtum der Häuser bilden. Rinder und Schafe werden daher vorzugsweise, wie zu Geschenken und Ausstattungen, so auch als Lösegeld für Gefangene, als Kaufpreis für Sklaven benutzt; eine Waffenrüstung wird auf neun, die andere auf hundert Stiere geschätzt. Einen bequemen Wertmesser forderte besonders der Seeverkehr, und man fand ihn in den Metallen. Kupfer und Eisen waren selbst wesentlich Handelsartikel, und je wichtiger das erstere für die Gewerbthätigkeit war, um so früher gingen die Schiffe von Hellas, das nur spärliche Kupferadern hatte, nach den westlichen Küsten, um blinkendes Eisen hinzuführen und Kupfer einzutauschen. Die edlen Metalle aber haben bei Homer schon eine allgemeine Gültigkeit. Gold ist das Wertvollste, was man hat. Um Goldschmuck verraten sich Freunde und Gatten, und der Könige Goldreichtum wird ja nur deshalb so hervorgehoben, weil das Gold eine Macht war, weil man für Gold alles haben konnte. Die Ionier sind es, welche das Gold in den griechischen Verkehr gebracht haben, und die Bewunderung seines Glanzes und Zaubers, wovon die Homerischen Gedichte voll sind, ist vorzugsweise der jonischen Auffassung zuzuschreiben. Auf der Wage wurden die Goldstücke zugewogen, „Talanton" bezeichnet die Wage sowie das Gewogene; auch muß das Homerische Talent schon eine bestimmte Gewichtseinheit bedeuten, und aus jener Schätzung der Rüstungen erhellt, daß das Gold zum Kupfer in festem Verhältnisse stand, nämlich wie hundert zu neun.
Der jonischen Behandlung des heroischen Sagenkreises ist endlich auch die kecke Auffassung der Götter und der Religion zuzuschreibeu. Apollo, den altjoniscben Stammgott, ausgenommen, werden alle Götter mit einer gewissen Ironie behandelt; der Olymp wird zum Abbilde der Welt mit allen ihren Schwächen. Die ernsteren Richtungen des menschlichen Bewußtseins treten zurück; was das Behagen der Zuhörer stören möchte, ist fern gehalten; die Homerischen Götter verleiden keinem den vollen Genuß des Sinnenlebens. Ionisches Leben mit aller seiner Liebenswürdigkeit und allen seinen Schäden und Gebrechen erkannte schon Plato in dem Epos Homers, und man würde dem Griechenvolke, welches vor Homer gelebt hat, sehr unrecht thun, wenn man seine sittliche und religiöse Beschaffenheit ucich den Götterfabeln des jonischen Sängers beurteilen, wenn man dem Volke absprechen wollte, was bei Homer nicht
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52 Altertum.
erwähnt wird, wie z. B. die Vorstellung von der Befleckung, welche vergossenes Bürgerblut herbeiführt, und von der Sühne, welche es verlangt.
So giebt also Homer weder ein lauteres noch ein vollständiges Bild jener Zeit, welcher seine Helden angehören. Dafür reicht aber sein Zeugnis über diese Zeit hiuans. Er zeigt den Umsturz der alten, den Übergang in die neuen Verhältnisse; er bezeugt mittelbar auch die Wanderungen der nördlichen Stämme und die ganze Reihe von Thatsachen, welche von ihnen ausging. Denn die Volksbewegungen im fernen Epirns, die Eroberungszüge der Thessaler, Böoter uud Dorer sind es doch, welche in ununterbrochener Folge jene Auswanderung der Küstenvölker und jene Übersiedelung nach Kleinasien hervorriefen, die zum Homerischen Epos den Stoff geliefert und seine Ausbildung in Jonien veranlaßt haben.
VIII.
Das olympische Fest.
(W. Richter).
Der Ursprung dieses aus allen Gauen Griechenlands und vom fernen Auslande besuchten Nationalfestes fällt in die allerälteste Zeit und hängt mit der alten Heroensage innig zusammen. Nach derselben nämlich herrschte einst ein König Önomaus über Pisa, welcher eine einzige Tochter besaß, die schöne Hippodamia, auf welche nach seinem Tode die Herrschaft übergehen mußte. Der König, nicht geneigt, seine Tochter zu vermählen, vielleicht auf die Weissagung hin, daß er von des Schwiegersohnes Hand fallen werde, forderte im Vertrauen auf ein Paar windschnelle Rosse übernatürlicher Herkunft jeden Freier auf, mit ihm in einem Wettfahren sich zu messen. Dreizehn solcher kühnen Freier hatte er bereits überholt und mit der Lanze erstochen, da erschien des Tantalus Sohn Pelops, ein Fürst der Lyder. Während nun der jugendliche Held nach der einen Überlieferung als Liebling des Poseidon, welcher ihm einen goldenen Wagen und nie ermüdende Flügelrösse gegeben, des Önomaus Gewalt brach und die Jungfrau gewann, läßt eine andere volkstümliche Erzählung den Königssohn durch List den Sieg gewinnen. In den Diensten des pisatischen Königs stand nämlich als Wagenlenker Myrtilns, ein Sohn des Hermes, der selbst am liebsten das Königskind heimgeführt hätte, aber den grausamen Fürsten fürchtete. Überzeugt, daß er auf ehrliche Weise seinen Wunsch nicht erfüllt fehen werde, verriet er den eigenen Herrn und schloß mit Pelops einen schändlichen Vertrag. Bei der Wettfahrt soll Myrtilns die Pferde seines königlichen Herrn unruhig gemacht
Richter: Das olympische Fest. 53
oder die Nägel nicht an den Wagenrädern eingesetzt haben: Önomans wird vom Wagen geschleudert und erstochen, während Pelops Braut und Land gewinnt. Als aber später Myrtilus den neuen Herrn des Landes an das Versprechen und den Vertrag erinnerte, wurde er gelegentlich einer Meerfahrt von diesem über Bord gestoßen. Am Ufer wurde die Leiche aufgefunden, und Hermes versetzte den geliebten Sohn unter die Gestirne des Himmels, wo er als „der Fuhrmann" noch heute seinen Wagen lenkt. Pelops aber feierte als der glückliche Sieger in Olympia dem ^eus ein Fest von früher nie gesehener Pracht und Herrlichkeit. Herakles, der Enkel des Pelops, das Ideal männlicher Kraft, erneuerte nach einem glücklichen Kampfe im Andenken an seinen Großvater mit großem Glanze die Spiele, bei denen schon mannigfache Formen des Wettkampfes erschienen. Die Sage läßt Herakles selbst auftreten und als Sieger hervorgehen.
Es muß unmöglich erscheinen, die Gründungssage dieser Spiele auf' zuklären und historische Unterlagen für diese großen Nationalspiele nachzuweisen. Der Peloponnes war früh der geweihte Boden festlicher Wettkämpfe. Fest steht, daß zwischen Jphitns von Elis und Lykurgus von Sparta ein Bund um das Heiligtum des pisäischen Zeus geschlossen ward, daß Jphitus infolge eines Orakelspruches, welcher ihm als einziges Mittel gegen die damals herrschenden Seuchen und die Zwietracht unter den Staaten im Peloponnes die Wiedererneuerung der verfallenen Zeus-spiele in Olympia anriet, die Spiele um das Jahr 880 feierte, daß feit dieser Zeit der Gottesfriede in das Land einzog und die olympischen Spiele alle vier Jahre regelmäßig stattfanden. Sie wurden eine friedliche Vereinigung aller hellenischen Stämme, sobald die sestlichen Tage nahten und die Gesandtschaften der griechischen Staaten, die kantonalen Streitigkeiten vergessend, in die gesegnete Landschaft zogen.
Waren auch anfangs die Eleer die einzigen Festgäste, gar bald wurde die Teilnahme eine allgemeinere; es folgten ans dem Peloponnes Arkader, Lacedämonier, Meffenier, Megarer und von außerhalb des Peloponnes die Athener. Und nicht nur aus dem Mutterlande kamen die Festgenosfen zusammen, auch die Inseln im Westen und Osten sandten ihre Vertreter und Kämpfer. Ungefähr feit der 30. Olympiade (um 660 D. Chr.) erstreckte sich die Teilnahme über ganz Hellas, seit der 40. (um 620 v. Chr.) über die Griechen in den Kolonieen; den höchsten Glanz aber erreichten die Spiele in dem Zeitraume von 580—440 v. Chr. In der späteren griechischen und griechisch-maeedonischen Zeit überwog die Rabl der ^estaäste aus den Kolonieen bei weitem die der Griechen des Mutterlandes.
Weil die olympischen Spiele, wie gesagt, ursprünglich ein elisches Fest waren, so blieben die Eleer auch späterhin die Leiter und Ordner
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des gemeinsam von ganz Griechenland gefeierten Festes. Hatten anfänglich nur einer oder zwei der angesehensten Bürger von Elis als Festordner genügt, welche die Ehre und die Mühe der Festleitung hatten, so waren bei der wachsenden Mannigfaltigkeit der Spiele weitere Kräfte nötig geworden. Es waren zeitweilig zwölf, auch acht, aber meist neun Mitglieder, die das Amt der Preisrichter übernahmen, drei für das Pferderennen, drei für den Faustkampf, drei für die übrigen gymnischen Wettkämpfe. Sie heißen Hellanodiken und scheinen für jede Festperiode aus den freien Bewohnern des Landes durch das Los bestimmt zu fein. Die Neuwahl erfolgte aber schon ein Jahr vor Beginn der neuen Olympiade, und bald nach der Wahl traten sie für die vorbereitenden Arbeiten im Hellanodikeon, einem für ihre Zwecke bestimmten Gebäude in der Nähe des Marktplatzes der Hauptstadt Elis, zusammen. Dann zogen die elischen Boten, gewisse hochangesehene Männer, von größerem Gefolge begleitet, aus, um den Gottesfrieden zu verkünden. Darauf erfolgten von allen griechischen Gauen die Anmeldungen derer, die an den Wettkämpfen teilnehmen wollten; sie wurden von den Hellanodiken in eine besondere Lifte, Leukoma, eingetragen. Die Anmeldungen waren um so frühzeitiger notwendig, als neben den Vorbereitungen in der Heimat auch noch eine Prüfnngszeit der Bewerber vor den Äugen der Hellanodiken in dem Gymnasium der Hauptstadt gefordert wurde. Dieses Gymnasium war der Hauptschmuck der Stadt, eine Musteranstalt für ganz Griechenland und in jener Zeit der Sammelpatz der edelsten Jugend aus allen Ländern griechischer Zunge. Bei bewährten und schon früher als Sieger hevorgegangenen Kämpfern mochte wohl diese Vorübung in Elis wegfallen; andere wurden jedenfalls auch als unbrauchbar zurückgewiesen.
Auf dem heiligen Wege, die Küste des Meeres entlang, zogen die Hellanodiken von der Hauptstadt nach Olympia. An der Landesgrenze zwischen Elis und Pisatis wurde Rast gemacht und ein feierliches Reinigungsopfer vollzogen. Von da ging es über Setrim nach Olympia. Zugleich mit den Preisrichtern oder schon zum Teil längere Zeit vorher zog ein Troß niederer Beamten, zu denen die Allsten mit polizeilichen Befugnissen gehörten, und Bediensteten ein. Künstler und Handwerker hatten vollauf auf dem Festplatze zu thun, und mancher Festgaft mochte die Ordnung und Pracht bewundern, ohne die Mühen und Arbeiten zu ahnen, die erst hatten vorausgehen müssen. Kaufleute in nicht geringer Menge schlugen ihre Meßbuben auf, Künstler führten ihre Kunstgegenftünde herbei, welche bie Sieger als Weihegaben für ben Festplatz ihnen abkauften, der Fluß wimmelte von Barken, die Laubwerk und Eßwareu herbeibrachten; Opfer- und Schlachtvieh wurde aufgetrieben.
Olympia ist das große Stelldichein von ganz Griechenland gewesen. Nicht nur Schaulustige, auch Männer ernsterer Art finden wir unter ben
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Festgästen. Feldherren und Staatsmänner kamen, um sich an dem Anblick der lebendigsten Kraftäußerung ihres Volkes zu erfreuen. Es kamen Philosophen, Rhetoren und Sophisten. Von Thales und Chilon hören wir, daß sie noch irrt hohen Alter die für alle Griechen heilige Stätte aufsuchten; ein Pythagoras, Anaxagoras, Sokrates, Plato u. a. erscheinen als Zuschauer bei den Spielen; selbsi der weltoerachtende Diogenes nahm teil. Das Altertum zollte fast ausnahmslos den olympischen Lpielen seine Anerkennung. Vor allem aber fesseln uns die offiziellen Gesandtschaften der einzelnen Staaten. Sie traten mit dem äußersten Glanze auf, kostbar waren die Gewänder, kostbar die goldenen Stirnbinden der Gesandten. Auf prächtigen Wagen mit glänzenden Geschirren waren sie gekommen, mit sich führend herrliche Purpurzelte für ihren Aufenthalt in den lauen Mondnächten des Hochsommers am Alpheus.
Bei der am ersten Tage erfolgenden Prozession wurde eilt Schatz an Geräten in Edelmetall, Wethekesseln und Ranchgefäßen zur Schau-stellung des Glanzes und der Wohlfahrt voraufgetragen. Die Opferfeierlichkeiten, an denen auch die Festdeputationen aus den einzelnen Staaten, die oft mit politischen Missionen betraut waren, teilnahmen, mit großem Aufwand vollzogen, boten eine willkommene Gelegenheit, den Wohlstand und die Machtfülle der Heimat hier zur Schau zu tragen und einander an Prachtentfaltung zu überbieten. Vor allem galt es an diesem ersten Tage, ein Opfer dem olympischen Zeus darzubringen; es erfolgte die Vereidigung der bei den Kämpfen als Bewerber oder Kampsrichter Teilnehmenden im Rathause zu Olympia. Die Kampfrichter schwuren, daß ihr Urteil ein gerechtes und unparteiisches sein solle; sie machten dann die Bewerber auf den Ernst der Sache aufmerksam und sprachen: „Wenn ihr euch den Mühen unterzogen habt, ganz so wie es sich für die geziemt, welche Olympia betreten wollen, wenn ihr nicht Leichtfertiges noch Unedles gethan habt, fo kommt mutig vertrauend. Wer sich aber nicht vorbereitet hat, der gehe, wohin er will." Es mochte dann noch die Verteilung der Bewerber in einzelne Gruppen erfolgen; und das Los entschied über die Reihenfolge der Gegner in den einzelnen Wettkämpfen. Bevor aber das Los fiel, beteten die Losenden zum Zeus, dem Lenker der Geschicke.
War dann alles für den folgenden zweiten Tag angeordnet, fo fanden sich am Abend die Festgäste in der Ebene zur Begrüßung zu. fammen. Im fröhlichen Kreise genoß man Speise und Trank, und die Jünglinge, die zum ersten Mal in die Schranken treten wollten, lauschten am Vorabend den Ratschlägen erfahrener Ringlehrer und Olympioniken in ihrer Mitte. Mit der Morgendämmerung des zweiten Tages, des ersten Kampftages, eilte alles dem Stadion zu, um sich einen guten Platz zu sichern. Das Stadion zu Olympia ist ein Rechteck von 211 Meter
Richter: Das olympische Fest. 57
Länge und 32 Meter Breite. Eine schlichte, steinerne Schwelle umsäumte den Fuß der Wälle; ein Meter von dieser entfernt lief eine offene Steinrinne mit Wasser und in geeigneten Zwischenräumen waren in dieser Rinne kleinere zum Schöpfen bestimmte Bassins angebracht. Am Ende der Bahn, wo die Zielsäule stand, nahmen die Preisrichter auf hervorragenden Sitzen Platz. Sie trugen das Purpurgewand, die Porphyris, gaben durch Herolde das Zeichen zum Anfang und überwachten die Spiele. Spitzsäulen mit den Inschriften: „Sei wacker", „eile" und „wende um" standen am Anfange, in der Mitte und am Ende des Stadions.
Galt dieser zweite Tag vorzugsweise dem Kampf der Knaben und Jünglinge, so traten mit Sonnenaufgang des dritten die Männer in die Schranken.
Wie das Los gefallen war — die Lose waren kleine Täfelchen von der Größe einer Bohne; sie lagen in einer silbernen Urne und waren nach der Zahl der Wettstreiter mit gleichen Buchstaben bezeichnet — folgten die Wettkämpfer auf ein Trompetensignal zunächst für dm einfachen Lauf. Namen und Heimat der Läufer rief der Herold aus. Eine Reihe aneinander gelegter 48 cm breiter Steinplatten bezeichnete die Aufstellung der Läufer, deren einzelne Standplätze durch Pfosten getrennt waren. _ Auf den einfachen Wettlauf folgte im tiefen Sande der Doppellauf, bei dem es galt, die Stadionlänge hin und her zurückzulegen, dann der Dauerlauf, die großartigste Leistung; nach den leichteren oder tieferen Eindrücken der Fußtapfen im Sande schätzte man die Tüchtigkeit der Läufer. Der laute Zuruf der Menge beflügelte den ausgreifenden Fuß der die Luft zugleich mit den Armen durchrudernden Läufer, deren Schnelligkeit dem fliegenden Geschoß glich.
Entschied beim Lauf körperliche Kraft uud Ausdauer, so erforderte das Ringen schon eine Kunst, eine Schulung. Da galt es gewisse Kunstgriffe zu kennen, doch blieb im ganzen diese Art des Ringkampfes eine harmlose. Mit welcher bangen Erwartung mochten nicht die Augen des Vaters dem Kampfe des Sohnes folgert, der zum ersten Mal im Angesichte ganz Griechenlands aufgetreten war! Welche Unruhe mochte sich der Mutter bemächtigen, welcher es nicht gestattet war, dem Ringen ihres Sohnes zuzuschauen!
Keine der olympischen Kampsarten entspricht aber unserem Gesühle so wenig als der Faustkampf, welcher ebenfalls am dritten Tage vor sich ging, und es ist wunderbar und unerklärlich, wie ein so hochgebildetes Volk, wie das griechische, an solchem barbarischen Kampf und Schauspiel sich ergötzen konnte. Schwerbewaffnete Fäuste fuhren dem Gegner ins Gesicht, verletzten Nase, Ohren und Zähne und ließen ihn oft blutüberströmt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt zur Erde sinken. Wir sehen die beiden Ringer geschickt den Schlag vermeiden, wir sehen sie einander
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gegenüber, ohne sich gegenseitig Erhebliches anhaben zu können, wir sehen auch wieder einen dem Schlage gar nicht ausweichen, keine Deckung nehmen, bis der andere sich erschöpft für besiegt erklärt.
Der gewaltigste Kampf an diesem Tage ist seit der 38. Olympiade (seit 628 v. Chr.) das Pankration, in dem sich Knnst und außerordentliche Muskelkraft vereinigt. Den Zuschauern war dieser Kampf ein anziehendes Schauspiel; galt es doch einen Kampf bis zur völligen Unfähigkeit oder freiwilligen Unterwerfung des Gegners.
Diese beiden Übungen sind es denn auch, welche die Zuschauer bewundern an den Athleten von Beruf, an Männern, die eine Kraft äußern, welche uns geradezu übermenschlich erscheint. Außer gewissen Kraftübungen, wie dem Fortstoßen und Auffangen des Korykos, eines ledernen mit Sand gefüllten Sackes, dem Aufheben schwerer Gewichte u. a. m. kam es ihnen einem Gegner gegenüber darauf an, das Gesicht desselben zu treffen, während sie selbst den Kopf zurückbogen, den Gegner durch Finten zu verwirren, indem sie wohl mit den Fäusten ein Rad schlugen und ihm dann mit beiden Panzerhandschuhen zu gleicher Zeit einen „wohlgezielten Gnadenhieb" versetzten. Bisweilen begleiteten sie mit einem ausgestoßenen Seufzer den wuchtigen Schlag der Faust.
Dies Pankration bildete, wenn auch erst am späten Abend, den Beschluß der Männerkämpfe des dritten Tages. Die Bedeutung dieses Tages liegt aber darin, daß die Olympiade nach dem Sieger unter den Männern benannt wurde.
Mit Sonnenaufgang des vierten Tages begann im Hippodrom, wohin man am Sitze der Kampfrichter vorbei gelangte, das Pferderennen; in welcher Reihenfolge jedoch die einzelnen Wettrennen erfolgten, ist ungewiß. Unter allen aber war der wilde Wettkampf der jagenden Viergespanne, auf den wir hier allein Rücksicht nehmen wollen, die großartigste und glänzendste Schaustellung. Die Beteiligung an diesem Wettkampfe blieb eine Leidenschaft der Reichen und Fürsten.
Benutzt wurde der alte Streitwagen der Homerischen Zeit, das Harma, mit zwei niedrigen Rädern von je vier Speichen. Er hatte einen runden, hinten offenen Kasten, in dem der Lenker stand; er war bequem zum Aufspringen. Die beiden Mittelpferde liefen unter einem Joch, welches am oberen Ende der Deichsel durch Pflock und Ring befestigt war. Die Leinpferde zogen auf beiden Seiten an einem Strange, der an der Vorderseite des Wagenbügels befestigt war. Die Zügel hielt der Rosselenker in beiden Händen; die eine führte außerdem noch den Stachelstab oder eine lange Rute mit kurzen Peitschenschnüren.
Nach der Mitteilung des Pausanias gelangte man in dem Hippodrom zunächst an den Ablaufsstand der Pferde, die Aphcsis. In der Mitte der Bahn stand ein Altar, und bei Beginn des Spieles erhob sich
Richter: Das olympische Fest. 59
burcE) eine künstliche Vorrichtung von bort bor oder Augen ein eherner Zldler mit weit ansgespreizten Fittichen, unb zn gleicher Zeit senkte sich ber Delphin, welcher an bet vorbersten Lpitze ber Aphesis auf einem Cuerbalfen lag. Mit biegen Zeichen würben bie Teile vor bett Wagen-stänben fortgezogen unb bie Renner stürzten hervor.
Von volljährigen Rosfen würbe bie Bahn zwölfmal umkreist, somit eine Strecke von 4,5 Kilometer zurückgelegt, gewiß ein völlig zureicheubes Maß in Bezug auf bie anbanernbe Schnelligkeit ber Pferbe. Zwischen jeber ber beiben Zielsäulen befanben sich mehrere bistanzangebenbe Pfosten. Fohlengespanne umkreiften bie Bahn achtmal. Nur einmal sah Olympia bas glänzenb e Schauspiel von Zehngespanneu junger Rosse; es war ber römische Kaiser-Nero, ber als kaiserlicher Herr auch in Olympia glänzen wollte. Die bildende Kuust hat es nicht verstauben, bie Seibenfchaftlichteit, wie sie mit jebem Wettrennen verbuubeu ist, barzustellen. Mit um so glänzenberen Farben schildern uns bie Dichter solche Scenen. Das Umfahren um bie obere Zielsäule ersorberte bie meiste Geschicklichkeit; bort, wo ber kleinste Bogen zu schneiben war, war die Gefahr am größten. An bieser gefährlichen Stelle, ber Zielsäule gegenüber, staub ein runber Altar, Taraxip-pos, b. h. Pferbefcheu, weil hier bie Pserbe, bie nicht zum ersten Male liefen, oft vor biefem gefährlichen Orte scheuten. „Wenn bie pferbe baran vorüberlaufen", schreibt Pausanias, „so ergreift sie ohne sichtbare Veranlassung große Furcht, unb aus ber Furcht geht Unruhe unb Verwirrung hervor; beshalb werben hier oft bie Wagen zerbrochen unb die Wagenlenker verwundet."
Wie ber Wagen im Kampfe eher gebraucht ist, als bas Reitpferb, so würbe auch erst später ein Wettreiten gebräuchlich. Bei solchem Wettritt war es Sitte, baß ber Reiter kurz vor bem Ziele vom Pferbe sprang unb im eigenen Trabe bas Tier ans Ziel führte. Die Ehre bes Siegers fiel nicht bem Reiter, sondern mit ber Sitte bes mobernen Sports Harmonierenb bem Tiere unb seinem Züchter zu; erhielt auch ber Besitzer den Preis, die Ehre gebührte dem Tiere. Das Tier selbst wurde bis an seinen Tod sorglich verpflegt, ber Züchter erhielt bas Recht, bas Stanbbilb eines Rosses in bem heiligen Haine von Olympia aufstellen zu bürfen. Die Lenker ber Tiere, welche oft gegen Lohn bald biesem balb jenem Herrn bienten, trugen von bem Feste eine Wollbinbe als Siegespreis heim. Der Kaiser Nero lenkte bei ben olympischen Spielen persönlich sein Zehngespann.
Nach Schluß ber Pferberennen wogte am Nachmittage bes vierten Tages bie Menge in bas Stadion zurück, wo die wechselvollen Kämpfe des Pentathlon ausgekochten wurden, bie feinere Blüte der hellenischen Kampfspiele.
Unter Flötenspiel eines pythischen Liedes begann der Wettkampf im
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Springen und zwar nur im Weitspringen. Der Springer sprang von einer besonderen Stelle, dem Baker, ab und mußte im locker gemachten Erdreich beim Niederspringen unverruckt stehen bleiben. Darauf folgte als zweite Übung der Wurf des Diskus. Von der Balbis, einem etwas erhöhten Standpunkt aus, erfolgte der Wurf, und nur die Stelle galt, wo er auffiel. Wir hören oon ganz erheblichen Leistungen.
Dann erfolgte Speerwurf, Lauf und Ringkampf. Unsicher und viel bestritten ist wie die Reihenfolge auch die Frage, welche Bedingungen erfüllt werden mußten, um im Fünfkampfe den Preis zu gewinnen. Man kann wohl unmöglich einen Sieg in allen fünf Kampfarten erfordert haben. Jedenfalls verfolgte die Zuschauermenge mit spannendem Interesse die Kämpfenden bis zum entscheidenden Moment. Der Ausdruck der Freude oder des Schmerzes wechselte bei den Zuschauern mit jeder Bewegung der Kämpsenden. Das anziehende Schauspiel und die lebhafte südländische Natur ließen die Zuschauer ihren Anteil an den Wettkämpfen auf die ungestümste Weise äußern. Von ihren Sitzen brachen sie auf, um den Kämpfern möglichst nahe zu sein, harrten unter der Mittagsglut auf die Entscheidung, auf den Augenblick, wo von den beiden letzten der eine unterlag und der Überwinder den Kranz des Fünfsieges sich erwarb. Lauter Jubel des Volkes empfing ihn, der im Streit mit solchen, die seiner würdig waren, die jeder Prüfung sich gewachsen gezeigt hatten, den Geringeren im mühe- und gefahrvollen Ringkampfe überwand und den Sieg der Kämpfe auf seinem Haupte sammelte.
Alle vorausgegangenen Kämpfe beschloß mit der sinkenden Sonne des vierten Tages der schwere Lauf der Bewaffneten, die Hoplitodromia.
Ob der Schlaf sich in der folgenden Nacht auf die Augenlider der glücklichen Sieger senkte, wir möchten es bezweifeln: hatte doch am nächsten ^age, dem äußerlich glänzendsten, der Sieger den glücklichsten Augenblick seines Lebens, die Überreichung des Kranzes aus den Händen der Hella-nodiken. Ein Knabe, dessen Eltern am Leben waren, schnitt mit goldenem Messer einen Kranz von jenem wilden Olbaum, den einst die Gottheit selbst bestimmt hatte. Er hieß der Baum der schönen Kränze und stand im Südosten des Festplatzes in einem Pantheion genannten Gehege, dessen Pflege den Nymphen anbefohlen war. Der Baum hat sich bis in die römische Kaiserzeit erhalten. Es war ein längeres Reis dieses Baumes, das man mehrmals leicht zu einem Kranze zusammenwand. Knüpften sich auch andere Auszeichnungen, selbst materielle Vorteile an diesen Sieg, wie Abgabenfreiheit in der Heimat, eine bescheidene Geldspende, freier Besuch und hervorragender Platz im Theater, ein lebenslänglicher Freitisch — es war den Griechen nichts im Vergleich zu diesem Kranz, den sie vor den Augen von Tausenden ihres Stammes davontrugen.
Richter: Das olympische Fest. 61
Die Kränze für die Sieger lagen in älterer Zeit auf einem mit Erz überzogenen Dreifuß; später hatte Kolotes, ein Schüler des großen Phi-dias einen kostbaren Tisch aus Gold und Elfenbein angefertigt, der tm Heraion aufbewahrt blieb. Im Tempel, zu den Füßen des Zeus. faßen auf Sesseln die Hellanodiken; die oberen Galerieen konnten eine größere Zahl von Zuschauern aufnehmen. Bei der Bekränzuug des Siegers, dessen Haupt zuvor mit einer weißen Binde umwunden war, wurde fern eigener Name, der des Vaters. der Heimat feierlich mit lauter Summe vor allem Volke verkündet: ihm folgte der Jubel der Menge nicht weniger als das Beglückwünschen der ihm Nahestehenden. Nicht selten mochte man aber auch ein Zischen der Bürger von solchen Staaten vernehmen, die mit der Heimat des Gekrönten in Feindschaft lebten. Außer diesem Kranz trug der Sieger den allgemein üblichen in der Rechten zu tragenden Palmenzweig als weiteres Zeichen feines Sieges. Beide Bäume kennzeichneten Segen und unvergängliches Leben. Sie galten als würdiges
Zeichen der Kraft. af
Gegen die Entscheidung der Hellanodiken gab es nur einen Appell an die Bule, den olympischen Rat. eine Körperschaft mit dem Sitz in der Hauptstadt Elis. Der Name der Sieger wnrde in die amtlichen Verzeichnisse von Stein oder Erz zum ewigen Andenken eingetragen und ihnen verstattet, sich eine Bildsäule zu setzen oder den Göttern zu weihen, was in ihren Kräften stand. Derartige Siegesstatuen giebt es noch in einer großen Anzahl. In der Festesfreude vergaß man aber nicht, den Göttern Dankopfer zu bringen. Auch diese ^chtußopfer waren mit Prozessionen verbunden, wobei die Sieger sich bemühten, mit dem größten Glanz aufzutreten. Die Aufzüge erfolgten unter musikalischen Aufführungen, Flöten- und Zitherfpiel, auch Reigengefängen und Choren. Sodann vereinte das von den Eleern veranstaltete Festmahl die Sieger im Prytaneion, wo abends und nachts nach den anstrengenden ^agen ein festliches Gelage die Sieger mit ihren Frennden vereinte. Das Siegesmahl selbst wurde durch musikalische Aufführung und Chorgesang nicht unwesentlich verschont. Es waren zum Teil ältere Lieder, zum t neu komponierte und einstudierte, bie hier zum Vortrage kamen. Dieser Sitte verdanken wir bie lyrischen Siegesgefänge eines Simonibes unb Pinbar, unb wir biirfen ein gütiges Geschick preisen, bas uns solche Lieber erhalten hat, von bereu Melobieen wir freilich keine Ahnung haben.
Außerhalb bes geheiligten Feftplatzes feierte die Masse des Volkes im Freien oder in Zelten nach Beendigung aller festlichen Spiele und Opfer die abendlichen Gelage und erquickte sich im fröhlichen Kreise nach all dem Ungemach, dem sie bei der Hitze der Jnlifonne ausgesetzt war, dem Staub, Schweiß und Durft.
Die nächsten Tage brachten die Heimkehr der Feftgäfte, die ein Fest
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gefeiert hatten, welches im wahren Sinne ein nationales war. Heim zog auch eine große Anzahl Männer, denen es darum zu thun gewesen war, diese Gelegenheit einer großen Versammlung zu benutzen, um vom Opifthodomos des Zeustempels, dem nach Westen geöffneten Hinterhaus, herab, Dieben unb Festvorträge zu halten, von benen ber berühmteste ber des Herobot gewesen ist, welcher einen Teil feiner Geschichte bort vor-gelesen haben soll; von hier aus ermahnte Gorgias in einer Rebe bie in ben peloponnesischen Krieg verwickelten Griechen zur Einigkeit gegen bie Barbaren.
Die Sieger aber erwartete eine erneute Ehre in ber Heimat. Sie würben burch Gefanbtschaften feierlich eingeholt, und der Einzug in die Heimat glich einem wahren Triumphzuge. Große und herrliche Feste feierte die Vaterstadt des Siegers, die bei mittellosen Bürgern die entstehenden Kosten auf sich nahm. Cicero sagt, daß ein Olympionike in Griechenland fast höher geehrt sei, als ein Triumphator in Rom. Sieger aus Sparta hatten hinfort die Ehre, in der Schlacht neben dem Könige zu kämpfen. Andere Städte legten besondere Verzeichnisse ber aus ihnen hervorgegangenen Sieger an. Nero ahmte auch rücksichtlich bes Einzuges in Rom bie griechische Sitte nach. Dio Cassius berichtet: „Ein Stück ber Stabtmauer würbe vor seinem Einzuge niebergerissen unb ein Teil ber Mauer abgebrochen, was zu Ehren der Sieger in ben Wettkümpfen üblich ist. Voraus zogen Männer mit Siegeskränzen, bie er gewonnen hatte, anbere folgten mit Täfelchen an Stangen, auf welchen ber Name unb ber Ort bes Wettkampfs verzeichnet ftanb, sowie baß ber Kaiser Nero ber erste aller Römer gewesen, ber seit ewigen Zeiten bie Siegespalme errungen habe. Dann kam er selbst auf feinem Triumphwagen mit einem Olivenkranze geschmückt, den phthifchen Lorbeerkranz in der Hand haltend. So zog er, von Soldaten, Rittern unb Senatoren begleitet, nach bem Kapitol, währenb bie Stabt mit Guirlanden behängt unb von Wohlgerüchen burchbuftet war unb bas Volk schrie: „Heil Dir, olympischer, pythischer Sieger!"
IX.
Die Schlacht bet Marathon.
(E. Curtius.)
Als im Jahre 490 v. Chr. ber persische König Darius mit großer Heeresmacht sich bem griechischen Festlanbe näherte, war unter ben Staatsmännern Athens kein bebeutenbcrer Mann als Miltiabes, der Sohn des Cimon, welcher sich nach dem Falle von Jonien ans dem thracifchert Chersonnes
Curtius: Die Schlacht bei Marathon. 63
hatte flüchten müssen. Es war für ihn keine leichte Aufgabe, in Athen eine Stellung zu gewinnen. Er hatte seine Vaterstadt Athen zur Tyrannenzeit verlassen und also die Jahre ihrer inneren Entwickelung, in denen Aristides unb Themistokles zu Männern gereift waren, nicht miterlebt; bei vorgerückten Jahren war er wie ein Frember in bie umgewandelte Stadt zurückgekehrt. Ungebrochen lebte in ihm der alte Familienstolz ber Philaiben; wie ein Fürst war er auf eigenen Kriegsschiffen gekommen, mit eigenen Kriegsleuten, mit reichen Schätzen, als Gemahl einer thracifchen Königstochter. Das zurückhaltenbe unb strenge Wesen eines Mannes, ber zwanzig Jahre lang un&ebingt zu herrschen gewohnt war, mußte ben empfinblichen Sinn ber attischen Bürger verletzen. Dazu kam, baß burch Griechen, bie im Chersonnes gelebt hatten, mancherlei ruchbar würbe, was große Verstimmung erregte; unb wenn er auch bemüht war, sich in bie neuen Verhältnisse zu finben unb als Bürger unter Bürgern zu leben, so entging er boch seinen Feinben nicht, welche bas Geschlecht ber Philaiben nicht wieber aufkommen lassen wollten. Nachbem er erst vor ben Scythen unb baun vor ben Phöniziern nur mit Mühe sein Leben gerettet hatte, sah er sich nun in ber eigenen Heimat von neuen Gefahren bebroht, inbem er wegen seiner thracifchen Gewaltherrschaft angeklagt unb vor ein Volksgericht zur Verantwortung gestellt würbe.
Miltiabes fchilberte bie bortigcn Verhältnisse, um sein Verfahren zu rechtfertigen, unb machte seine Verbienste um Athen geltenb. Er hatte ja bie fruchtbare unb stäbtereiche Halbinsel am Hellespont, wo sein Oheim unb sein Brnber eine selbstänbige Herrschaft besessen hatte, ans einem Familienbesitze zu einem Eigentum bes Volks gemacht. Er hatte von bort zur Zeit bes jonischen Aufstaubes bie große unb wichtige Jusel ber Lemnier für Athen erobert, er konnte barauf hinweisen, wie unter allen Hellenen er zuerst offen gegen König Darms ausgetreten sei, unb wie er schon an ber Donau den Nationalseind der Hellenen an den Rand des Verderbens gebracht habe. Die Thaten des Miltiabes sprachen zu laut; bas Volk fühlte seinen Wert. Noch zitterte alles, wenn man in Griechen-lanb auch nur ben Namen ber Perser nannte. Wie sollte man sich jetzt eines Mannes berauben, ber ein bewährter Felbherr war, ber bas Perser-heer genau kannte, unb bessen ganze Vergangenheit basür bürgte, baß er
MiltiadeS.
64 Altertum.
niemals an Unterhandlungen weder mit den Pisistratiden noch mit den Persern denken würde! Er wurde freigesprochen; seine Feinde zogen sich zurück, ja sie rnnßten sehen, daß die Bürgerschaft bei den Feldherrnwahlen für das dritte Jahr von Ol. 72, das mit dem Nenmonde nach der Sommersonnenwende am 27. Jnli 490 v. Chr. begann, unter den zehn Feldherren der Stadt neben Aristides den Miltiades erwählte.
Kaum hatten die Feldherren ihr Amt angetreten, so kamen schon die attischen Bürger von Chaleis flüchtend herüber. Hinter ihnen leuchtete der Feuerschein von Eretria; die Ereignisse drängten. Man schickte einen Staatsboten nach Sparta, um schleunige Hilfssendung zu erwirken, aber man wartete nicht auf die Antwort; denn schon in den ersten Tagen des nächsten Monats (Ende August) beschloß das Volk auf Antrag seiner Feldherren, das Aufgebot der Bürger ausrücken zu lassen. Natürlich konnte die Stadt in solcher Zeit nicht entblößt werden. Es waren also nur 9000 vollgerüstete Bürger, welche ben Feldherren folgten; sie waren von ihren Sklaven begleitet, welche ihnen als Schilbknappen bienten unb als Leichtbewaffnete mitfechten konnten.
Ohne einen bestimmten Kriegsplan zogen sie nach ber bebrohten Seite bes Laubes; im Lager selbst mußte bas Weitere beschlossen unb ben Umstänben gemäß gehanbelt werben. Hier gingen aber bie Ansichten weit auseinanber. Miltiabes war ausgerückt um zu schlagen, unb ihm
schien nichts bebenflicher, als ein Rückzug auf bie Stabt. Das Heer war
in bester Stimmung, die Mannschaften der zehn Stämme von einem Geiste beseelt; nicht so das Stadtvolk, und es war vorauszusehen, daß die Not einer Belagerung in Athen so gut wie in Eretria einer verräterischen Partei Gelegenheit geben würde, Einfluß zu gewinnen. Darum war Miltiades für einen Kampf in Marathon. Aber auch im Feldherrnzelte schwankte der Entschluß. Vier Stimmen waren für, fünf gegen Miltiades. Noch fehlte die entscheidende Stimme, bie bes Polcmarchen, das heißt des dritten der neun Archonten, welcher in älterer Zeit der wirkliche Kriegsoberste gewesen war, aber jetzt nur noch eine Stimme im Feldherrnrate neben den erwählten Feldherren hatte und das Ehrenrecht, den rechten Flügel zu führen, wo einst des Königs Platz gewesen
war. Der Polemarch dieses Jahres aber war Kallimachus aus Aphiduä,
ein tapferer, hochherziger Mann. Endlich wurde auch feine Stimme für den Kampf gewonnen, und alle erkannten nun in Miltiades den Mann, der allein den Umständen gewachsen war, so daß auf Antrag bes Aristides bie Mitfelbherren ihren Anspruch auj ben Anteil am Oberbefehl, welcher täglich zu wechseln pflegte, aufgaben. Nun war Miltiabes, ber zu gebieten gewohnt war, an feinem Platze, und ein kräftiger Wille lenkte das Heer; je weniger man nach auswärtiger Hilfe ausschaute, um so erfreulicher war die unerwartete Ankunft von 1000 Plattiern, welche durch
Curtius: Die Schlacht bei Marathon. 65
freiwilligen Zuzug in der Stunde der höchsten Gefahr sich ihrer Gemeinschaft mit Athen würdig zeigen wollten.
Als Miltiades die Ebene überschaute, erkannte er leicht, daß sie für die Perser bei weitem nicht so günstig sei, wie es den Anschein hatte. Freilich ist es eine ansehnliche Fläche, die sich gut zwei Stunden lang von Süden nach Nordost längs des Meeres hinzieht, durch einen Gießbach, der vom pentelischen Gebirge herunter kommt, in zwei Halsten geteilt. Der südliche Teil wird durch die Auslünser des Brilessos (Pentelikon) begrenzt, die nahe gegen das Meer vorspringen; zwischen Meer und Vorgebirge führt ein breiter Weg gerade gegen Süden nach Athen. Das war der Weg, welchen Hippias die Perser führen wollte. Die andere, von Athen abgelegene Hälfte der Ebene wird von den rauhen Bergzügen der Diakria umgeben, welche bis an die Küste reichen und durch ein langgestrecktes Vorgebirge, Kynosura genannt, die kreisförmige Hafenbucht einschließen. Indessen ist die Breite des Blachseldes, welche die Perser angelockt hatte, nur teilweise fester Boden; denn am Rande derselben, wo die Gewässer stocken, namentlich im Nordosten, ziehen sich bedeutende Snmpsstrecken hin, deren grüne Oberfläche das Auge täuscht.
Über die Wahl eines Lagerplatzes konnte Miltiades nicht zweifelhaft sein; er mußte die Hauptstraße nach Athen decken. Er stand an den Höhen des pentelischen Gebirges oberhalb des Herakleion, eines Tempels des Herakles, dessen heilige Grenzen er hütete', die ganze Fläche der Länge nach überschauend, jede Bewegung der Feinde überwachend, vor ihren Angriffen durch den rauhen Fuß der Felshöhen und aufgeworfene Schanzen hinlänglich geschützt und durch uahe Quellen, welche in die Sümpfe beim Herakleion fließen, mit Wasser versorgt. Eine Reihe von Tagen standen sich die Heere ruhig gegenüber; die Athener gewöhnten sich an den Anblick der Perser, diese wurden in ihrer Ansicht bestärkt, daß die attische Mannschaft nichts als den Küstenpaß decken wolle, und fühlten sich deshalb als Herren der Ebene und Küste vollkommen sicher.
Am Morgen des siebzehnten Metageitnion (12. Sept.), als der Oberbefehl der ursprünglichen Reihe gemäß an Miltiades kam, ließ dieser das Heer nach den zehn Stämmen sich aufstellen. Der Stamm der Aiantis, welchem Kallimachus angehörte, hatte die erste Stelle, d. h. die Spitze des rechten Flügels, der an der Meerseite stand; dann folgten die anderen neun in einer durch das Los bestimmten Ordnung; am Ende des linken Flügels hielten die Plattier, welche, von Kephisia herkommend, sich hier angeschlossen hatten. Die Front wurde soweit ausgedehnt, daß sie der Breite der feindlichen Aufstellung gleich war, um der Gefahr der Umzingelung zu entgehen und den Perfern die attische Macht möglichst groß erscheinen
Aus allen Jahrhunderten. 5
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Altertum.
zu lassen. Miltiades verstärkte die beiden Flügel, um mit diesen vornehmlich den Kampf zu entscheiden, während das Mitteltreffen, zu dem
die Stämme Leontis und Antiochis gehörten, wahrscheinlich nicht mehr als drei Mann tief aufgestellt war; die Sklaven ersetzten einigermaßen die sehlenden Glieder.
Curtius: Die Schlacht bei Marathon. 67
In voller Ruhe waren die Truppen über die Gräben und Verhaue ihrer Lagerstätte vorgerückt, wie es ohne Zweifel schon öfter geschehen war. So wie sie sich aber auf 500 Fuß dem Feinde genähert hatten, gingen sie im Geschwindschritt, welcher sich nach und nach zum Sturm-laus steigerte, unter Hellem Schlachtruf vorwärts. Die Perser glaubten Wahnsinnige vor sich zu haben, als sie die Männer von den Höhen her-nnterstürmen sahen; sie stellten sich rasch in Schlachtordnung, aber ehe sie noch zu einem wirksamen Bogenschüsse gelangen konnten, waren die Athener da, mit erhitztem Mute den Nahekampf zu beginnen, Mann gegen Mann in dichtem Handgemenge, wo persönlicher Mut und gymnastische Gewandtheit, wo die Wucht der Schwerbewaffneten, der Stoß der Lanzen und das Schwert entschied. So hatte man durch einen geschickten und kühnen Angriff erreicht, daß die ganze Siegeskraft, welche auf seiten der Athener war, zur Geltung kam.
Dennoch war der Erfolg kein allgemeiner. Das feindliche Mitteltreffen stand; hier waren des Heeres Kerntrnppen, die Perser und Saker, vereinigt, hier war der Kamps am blutigsten, die Gefahr am größten; ja es wurden die dünnen Reihen der attischen Bürger, in deren Mitte Aristides und Themistokles fochten, mit der Nachhut der Sklaven unaufhaltsam zurückgedrängt von der Küste weit in die Ebene hinein. Inzwischen hatten aber beide Flügel den Feind geworfen, und nachdem sie einerseits auf dem Wege nach Rhamnus, andererseits nach der Küste siegreich vorgedrungen waren, erteilte Miltiades, der die Leitung des Kampfes vollkommen in seiner Hand behalten hatte, zur rechten Zeit den Befehl, baß die Flügel von der Verfolgung umkehren und vereinigt die Perser des Mitteltreffens im Rücken angreifen sollten. Nun war die Flucht bald allgemein, unb in der Flucht wuchs das Unheil der Perser; denn ihnen fehlte, wie Miltiades vorausgesehen, jeder Rückzugsort, wo sie sich zu neuer Ordnung hätten sammeln können; sie wurden in die Sümpfe gedrängt und hier massenweise getötet. Glücklicher waren die, welche an die Küste gelangten und auf den Landungsbrücken die Schiffe erreichen konnten. Die in größerer Entfernung ankernden Fahrzeuge hatte mau schon während des Handgemenges abfahren sehen; aber auch die näher liegenden Schiffe waren fo schnell flott gemacht und von den Bogenschützen so nachdrücklich verteidigt, daß die heranstürmenden Griechen nur sieben Schiffe am Ufer fassen und erbeuten konnten. In diesem User-kampse, welcher halb zu Lande, halb zu Waffer mit Feuerbränden, mit Schwert und Faust geführt wurde, fielen als Vorkämpfer die wackersten Männer; unter ihnen Kallimachus, dem der unsterbliche Ruhm blieb, durch seine Stimme die Losung zum Kampfe gegeben zu haben, und Kyuägirus, des Äfchylus Bruder, welcher vom Bord eines Schiffs, das er erklimmen wollte, mit abgehauener Hand in das Meer zurücksank.
68 Altertum.
Überbliest man die dürftigen Darstellungen des Kampfes von Marathon, welche die Alten uns überliefert haben, so befremdet vor allem ein doppelter Umstand. Wo war denn die Reiterei, fragen wir, auf welche von Anbeginn der Rüstung her die Siegeshoffnung der Perser gebaut war, um derentwillen in Marathon gelandet war, die allein im stände gewesen wäre, den ganzen Schlachtplan des Miltiades zu vereiteln? Sie wird in keinem Berichte erwähnt; es wird vielmehr ausdrücklich berichtet, daß sie abwesend war, als der Kamps begann. Das zweite, was befremdet, ist die Schnelligkeit, mit welcher die Einschiffung der persischen Truppen erfolgte. Es ist vollkommen unbegreiflich, wie diese schon während des Kampfes beginnen, und wie sie nach dem Kampfe ohne Verzug fo glücklich und unbehindert ausgeführt werden konnte, wenn nicht die Kriegs- und Transportflotte schon vor der Schlacht zur Abfahrt vorbereitet gewesen wäre. Danach ist es sehr wahrscheinlich, daß die Perser infolge der festen Aufstellung und Verschanznng der Athener den Plan aufgaben, durch den marathonifchen Paß gegen Athen vorzugehen. Ihre Landung in Marathon beruhte ja auf der Voraussetzung, daß sie ohne Hindernis in die hauptstädtische Ebene vorrücken könnten. Einen gut verteidigten Paß deshalb mit Blutvergießen zu erzwingen, konnte gar nicht in ihren Absichten liegen. Da war es viel zweckmäßiger, nachdem die Reiterei in der Ebene die nötige Erholung gesunden hatte, an einem Punkte der athenischen Ebene zu landen, wo keine Passe im Wege lagen, und wo die persische Partei der Hauptstadt mehr im stände war, gute Dienste zu leisten. Ich glaube also, daß am Morgen der Schlacht die Flotte schon bemqnnt und namentlich die Reiterei schon am Bord war. Miltiades machte also seinen Angriff, als das Perserheer geteilt und die gefährlichste Waffe vom Kampfplatze entfernt war; er griff den Rest der Truppen an, welcher noch aus dem Lande stand und die Einschiffung deckte. Dann begreift sich auch, warum Miltiades nicht früher und nicht später feinen Angriff ausführte. Denn warum sollte er auf den Tag, welcher der ursprüngliche Tag seines Oberbefehls war, gewartet haben, nachdem der Wechsel des Oberbefehls einmal aufgegeben war? Daß aber in der Darstellung des marathonifchen Kampfes, wie sie unter den Athenern sich allmählich feststellte, der wirkliche Sachverhalt verdunkelt wurde, so weit er den attischen Ruhm zu beeinträchtigen schien, ist sehr begreiflich.
Den Siegern von Marathon war nach dem heißen Tage keine Ruhe gegönnt. Aristides, der Mann von zweifelloser Rechtlichkeit, wurde mit den Genossen seines Stammes, der am meisten gelitten hatte, auf dem Schlachtfelde zurückgelassen, um die Beute zu hüten und die Sorge für die Toten zu übernehmen. Die übrigen Truppen wurden nach kurzer Rast zurückgeführt, und am Abende des Schlachttags lagerten sie wieder unweit Athen, nordöstlich von der Stadt, bei dem hochgelegenen Gymnasium
Curtius: Die Schlacht Bei Marathon. 69
Kynosarges. Als die Perser in rascher Fahrt die phalerische Bucht erreicht hatten, sahen sie, wie es Tag wurde, die Helden von Marathon zu neuem Kampfe bereit sich gegenüberstehen. Was nun aber die Perser veranlaßte, von jedem Versuche der Landung abzustehen, ist schwer zu enträtseln. Vielleicht lag ein Hauptgrund in der Persönlichkeit des Hippias.
Hippias hatte als hinfälliger Greis den Boden seiner Heimat wieder betreten. Wenn er bis dahin den Gedanken an Wiederherstellung seines Hauses festgehalten hatte, so war ihm nach dem Tage von Marathon jede Hoffnung geschwunden und der Mut gebrochen. Mit der Verzicht-leistung des Hippias waren die Instruktionen der Feldherren erloschen; aus eigenen Vollmachten hatten sie keinen Mut zu handeln, um so weniger, da die Partei, auf deren Unterstützung man gerechnet hatte, nach dem marathonischen Kampfe entmutigt war. Unter diesen Umständen läßt es sich erklären, daß die Feldherren, auch ohne eine wesentliche Einbuße an Streitkräften erlitten zu haben (die Zahl ihrer Toten wird auf 6400 angegeben), den Beschluß faßten, vor Eintritt der herbstlichen Witterung heimzukehren und sich diesmal mit der Züchtigung von Naxos und Eretria und der Unterwerfung der Cykladen zu begnügen. Die Straße nach Athen war osten; sie konnten zur Vollendung des Begonnenen in jedem Frühjahre wiederkehren.
Die Spartaner, welche Zuzug versprochen hatten, sobald der Vollmondstag vorüber wäre, an welchem sie mit ihrer ganzen Bürgergemeinde beim Opfer des Apollo Karneios zugegen sein müßten, kamen am Tage nach der Schlacht in Athen an und fanden nun statt der bedrängten und geängsteten Stadt eine stegesfrohe, von Dank gegen die Götter und edlem Selbstgefühl erwärmte Bürgerschaft. Die Spartaner zogen nach Marathon, bewunderten an Ort und Stelle die That der Athener und kehrten heim. Die Anerkennung, welche die Krieger Spartas aussprachen, mag ehrlich und treu gemeint gewesen sein, die Politik Spartas war es nicht. Die alte Eifersucht war durch das neue Bündnis nicht beseitigt; denn wenn die Spartaner in lauterer Gesinnung und von nationalem Gesichtspunkte die Gefahr der Schwesterstadt aufgefaßt hätten, so würden sie das Karneenfeft nicht zum Vorwande ihrer Säumnis benutzt haben, so wenig wie sie bei einem Angriffe auf ihr eigenes Land um eines Festes willen die kräftigste Abwehr versäumt haben würden. Es kamen ja auch nur 2000 Bürger, und kein König führte sie. Es war also die rechte Strafe ihrer Falschheit, daß sie vom größten Ehrentage hellenischer Waffen ausgeschlossen waren, unb daß die Spartaner den Athenern, die Dorer den Jonern für alle Zeiten den Ruhm bes ersten Perserkrieges überlassen mußten. So wie bie Zeit ber Not vorüber war, bachten bie Athener vor allem daran, ihr Gelübde zn bezahlen und das Andenken ihrer Toten zu ehren. Nach ihren Stämmen
70 Altertum.
geordnet, wurden sie, 192 an der Zahl, bestattet, wo sie fürs Vaterland gefallen waren; auf ihren Grabstätten wurden die Pfeiler aufgerichtet, auf welchen ihre Namen aufgeschrieben waren. Ein zweiter Grabhügel deckte die in treuer Bundesgenossenschaft gefallenen Platäer und die Sklaoen, welche mitgesochten uud durch ihren Opfertod Anspruch auf Bürgerehre erworben hatten. Die Walstätte wurde ein Heiligtum des Landes und den Gefallenen gleich Heroen ein Jahresopfer eingesetzt. Von der reichen Siegesbeute wurde der Zehnte den hilfreichen Gottheiten Athene, Apollo und Artemis geweiht. Auch nach Delphi gelobte man ein Weihgeschenk, und dem Gotte Pan, der dem attischen Staatsboten auf dem Wege nach Sparta erschienen war, wurde zum Dank für die bewährte Freundschaft eine Grotte am Abhange der Burg gewidmet und zugleich ein Jahresfest mit Fackellauf gestiftet. Das große Siegesfest wurde aber achtzehn Tage nach der Schlacht in Agrä am Jlisfus gefeiert, an einem Festtage der Artemis, dem sechsten des Monats Bos-dromion, welcher zugleich dem Apollo heilig war. Führte dieser doch selbst vom Schlachtgeschrei des Angriffs den Namen „Boedromios", und nach dem Vorbilde ihres Gottes hatten die Athener sich im Sturmschritte auf die feindlichen Reihen geworfen.
X.
Themistokles und paufanias.
(M. Duncker.)
Themistokles hatte nach dem glorreichen Siege bei Salamis als Netter und Befreier in Athen und in ganz Griechenland groß dagestanden. Aber geleistet hatte er seitdem nur noch in einer Beziehung etwas, nämlich durch die Vollendung der Befestigung von Athen und dem Piräus. Mehr zu thun ward ihm nicht gestattet. Er wurde nach einiger Zeit durch den Ostracismus verbannt; wir wissen nicht genau, in welchem Jahre, wahrscheinlich 471 v. Chr. Auch über die Gründe seiner Verbannung sind wir nicht bestimmt unterrichtet. Was die Alten darüber angeben, ist ganz allgemeiner Natur: man gab ihm Ehrgeiz und Hoffart schuld. Und in der That wird in Dingen, welche seine Gegner in dieser Weise bezeichnen konnten, der Grund seiner Verbannung zu suchen sein. Der geniale Mann, der sich über manche Vorurteile hinwegsetzte, ward leicht unbequem, und dann war es nicht schwer, ihn zu stürzen, da er in Athen keine Partei, auf die er sich verlassen konnte, hinter sich hatte und die Spartaner ihn haßten. Trotz seiner Verbannung aber stand Themistokles in Argos, wohin er sich begeben hatte, den Lacedämoniern
Athcn mit Piräus (Rekonstruktion).
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611
72 Altertum.
mcht minder im Wege, als Pausanias nach 479 v. Chr. im Bosporus nnd am Hellespont den Athenern irrt Wege gewesen war.
Pausanias hatte ungenötigt, vielmehr gegen den Willen seines Staates Sparta verlassen, um zu seinem Vorteil Politik auf eigene Hand zu treiben; sein Staat hatte sich im stillen die Folgen dieses Treibens, obschon er auf seiten des nationalen Feindes gefochten, gefallen lassen; Themistokles hatte Athen gezwungen verlassen; auch er trieb außerhalb Attikas Politik auf seine Hand; aber es war gesunde attische, gesunde hellenische Politik, die nicht der Hilfe des Landesfeindes bedurfte. Attika konnte sich offen zu den Folgen seiner Politik bekennen und hatte Grund, ihm dafür zu danken, Sparta ebenso triftigen Grund zu grollen. Wie hatte dieser Mann den Spartanern die hohen Ehren, die sie ihm nach Salamis angethan, vergolten! In der Befestigungsfrage Athens hatte er sie hinterlistig getäuscht, die Festsetzung im Norden mittelst Umbildung des Amphiktiouenbnndes hatte er ihnen vereitelt, die Schiffe der Peloponnesier hatte er zu Pagasä verbrennen wollen. Und nun, nachdem er in Athen nicht hatte durchgingen können, hatten die Argiver auf seinen Betrieb mit den Tegeaten Myceuä uud Tiryns niedergeworfen, hatte sich Argos wieder zu seiner alten Macht erhoben. War der Aufstand Gesamtarkadiens sein Werk oder nicht, in Sparta wird man ihm den reichlichsten Anteil daran beigemessen haben. Welchen anderen Zweck konnte denn sein Hin- und Herreisen von Argos aus im Peloponnes haben, als Elis, als andere Kantone gegen Sparta aufzuregen und aufzutreiben?
Genug, Themistokles war Sparta in Argos nicht minder gefährlich, als er es in Athen gewesen war. Und gingen die zehn Jahre seiner Verbannung vorüber, dann brachte er zweifellos das Sparta erdrückende Bündnis zwischen Athen und Argos zu stände. So lange durste man ihm nicht Frist geben. Wollte man Ruhe auf dem Peloponnes haben, wollten die Spartauer sich ihre Machtstellung nicht untergraben lassen, so mußte Themistokles von Argos entfernt werden und Athen dem Entgegenkommen, das man chm mit der Abberufung des Pausanias gemacht, die Gegengewährung folgen lassen. Für die Partei in Sparta vollends, die den Krieg gegen Athen wollte, mußte die Schwächung Athens durch Beseitigung des Themistokles Vorbedingung und Einleitung sein. Man hatte Aussicht, in Athen zum Ziele zu kommen, wenn man dort glauben machen konnte, Themistokles habe um das Einverständnis des Pausanias mit Persien gewußt, sei Teilhaber seiner persischen Pläne und Verhandlungen gewesen. Das übrige würden dann seine Gegner und Neider in Athen, die sein Übergewicht, seine gewaltige persönliche Kraft, seinen Scharfblick und seine Entschlossenheit fürchteten und seine Rückkehr nach Ablauf der von ihnen bewirkten Ausweisung fürchten mußten, auf sich nehmen.
Duncker: Themistokles und Pausanias. 73
Welche Mittel besaß man, jenen Glauben zu wecken? Themistokles hatte ja doch wohl, als 9cer$e§ in Hellas stand, vor und nach der Schlacht bei Salamis ihm geheime Sendungen zugehen lassen; hatte er sich nicht danach der medisch gesinnten Hellenen, der thessalischen Dynasten wie der Argiver, angenommen, als die medisch Gesinnten aus der Amphiktiouie ausgeschlossen werden sollten; hatte er nicht seinen Wohnsitz in dem medisch gesinnten Argos ausgeschlagen, trieb er nicht von hier aus allerlei geheime Dinge? Athen hatte ihn verbannt — sollte er nicht darauf ausgehen, sich sür diese Verbannung ein seinen Gegnern, an Athen zu rächen? Und wo anders, als bei den Persern sand er die Mittel zu solcher Rache? Alle diese Anzeichen bekamen Bedeutung, sobald man in Athen mit der Beschuldigung auftrat, des Pausanias Geheimnissen, seinem Verrate der Hellenen — dem Sparta freilich zehn Jahre hindurch gelassen zugesehen — fei Themistokles nicht fremd geblieben.
Pausanias hatte im Tempel der Chalkioikos geendet. Eine Gesandtschaft Spartas ging nach Athen, nicht etwa den Athenern Mitteilung über die Kriegspläne Persiens zu machen, die man bei Pausanias gefunden, sondern um die Forderung zu überbringen, die Todesstrafe gegen Themistokles zu verhängen; aus den Beweisen gegen den Pausanias habe man gefunden, daß Themistokles dessen Mitschuldiger fei; feine Auslieferung fei durch gemeinsame Forderung von feiten Athens und Spartas zu bewirken. Man teilt nicht nach Athen mit, was man gegen den Themistokles gefunden hat, gefunden zu haben glaubt oder gefunden haben will; man stellt den Athenern nicht etwa anheim, was sie darauf hin gegen ihren verbannten Mitbürger zu beschließen für gut erachten würden — man verlangt fofort und in der förmlichsten Weife von Staat zu Staat durch eine besondere Gesandtschaft den Tod des Themistokles. Es galt einen nachdrücklichen Versuch zu machen; selbst wenn man ungünstigen Falles nicht weiter kam, als den Themistokles aus Argos zu entfernen, so war auch dies ein unverächtlicher Gewinn. Gemeinsamer, hierauf gerichteter Forderung Spartas unb Athens konnte sich Argos schwerlich entziehen. Ein Mann, ber, soweit wir sehen können, bem Geschlechte ber Alkmäoniden angehörte, hat seinen Namen für bie Anklage ber Spartaner hergegeben. „Leobotes, Alkmäons Sohn von Agrhle, erhob bie Anklage auf Verrat gegen Themistokles. Aristibes gab auch hier einen großen Beweis feiner billigen Gesinnung. Themistokles war währenb seiner ganzen politischen Laufbahn fein Gegner gewesen; The-miftokles hatte feine Verbannung bewirkt, unb als biefer nun, wegen Vergehens gegen ben Staat angeklagt, gleichen Anlaß zum Angriff bot, bei gebachte Ariftibes bes Früheren nicht, unb währenb Alkmäon unb Simon unb viele anbere hetzten unb anfchulbigten, that Aristides allein nichts, noch sprach er Nachteiliges, noch freute er sich des Unglücks bes
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Gegners, wie er ihn früher in glücklichen Tagen nicht beneidet hatte." So erzählt Plutarch. Wir stimmen zu, wenn er ausruft: „Niemand ist so niederer Gesinnung und Art, daß er lieber Leobotes, der Ankläger, als Themistokles, der Flüchtling, wäre!" Seinem Lobe des Aristides müssen wir jedoch hier ein gutes Teil entziehen. Plutarch sagt uns, daß Aristides sich zurückgehalten, er sagt uns nicht, daß er widersprochen habe, noch weniger, daß er seine Parteigenossen gehemmt.
Von dem Hergang des Prozesses vernehmen wir nur, daß die Klage in der Form der Anzeige von Leobotes eingebracht worden ist. Über Anzeigen dieser Art hatte der Rat der Fünfhundert den Beschluß des Volkes einzuholen, ob darauf einzugehen sei. Wurde die Frage bejaht, so konnte die Volksgemeinde den aus Grund der angenommenen Anzeige anzustrengenden Prozeß einem Gerichtshose der Heliasieu überweisen oder selbst urteilen. Da eine Anzeige und mit dieser zugleich eine Forderung Spartaö vorlag, wird die Vollsgemeinde selbst, wie vordem über den Miltiades, gerichtet haben, was auch wohl die kurzen Worte des Thucy-dides: „Die Athener ließen sich überreden", andeuten. Ob eine Vorladung an den Themistokles unter Aufhebung der Verbannung erfolgt ist, erfahren wir nicht; der Inhalt der angeblichen schriftlichen Verteidigung, die Themistokles nach Plutarchs Angabe von Argos den Athenern zugehen ließ: „Nach dem Befehlen habe er wohl getrachtet, zum Gehorchen sei er weder geartet noch gewillt; demnach könne er sich und Hellas den Barbaren unmöglich haben überliefern wollen", mag den Reden entnommen sein, durch welche des Themistokles Parteigenossen und Anhänger ihn vor dem Volke verteidigten. Das Gesetz bestimmte: Der des Verrats der Stadt schuldig Befundene hat den Tod zu erleiden, sein Vermögen wird konfisziert, eine Grabstätte in Attika darf ihm nicht zu teil werden, über feine Kinder ist Ehrlosigkeit und Rechtlosigkeit zu verhängen. Gegen den themistokles ist in Abwesenheit des Angeklagten erkannt worden. Die Athener verurteilten den Mann zum Tode, dem sie die Flotte, dem sie und Hellas die Rettung vor des Terxes gewaltiger Macht, dem sie die Befestigung ihrer Stadt und des Piräus, dem sie ihre Flotte und den Bund, den sie eben über die Meerengen erweiterten, zu danken hatten, ohne ihn zu hören; sein Vermögen wurde eingezogen, seine Frau und seine Kinder zu Bettlern gemacht, feine Söhne des Bürgerrechts, des Rechts, eine Klage zu führen, beraubt; auf attischem Gebiete, auf dem Gebiete des attischen Bundes sollte der Sieger von Salamis keine Grabstätte finden. Wenn auch fein Hans zu Melite nicht niedergerissen, nicht mit jener schimpflichen Inschrift versehen, die Verurteilung nicht in eine eherne Säule gegraben wurde — wir find hierüber nicht unterrichtet; nur daß des Themistokles Haus späterhin gezeigt wurde, wissen wir — man war eifrig bemüht, das Todesurteil an dem Sieger von Salamis
®under: Themistokles und Pausanias. 75
thatsächlich zu vollstrecken. Kommissare Athens und Spartas machten sich aus, Themistokles' Auslieferung in Argos, oder wohin er sonst flüchte, zu erwirken. Der Bund zwischen Sparta und Athen, die Gemeinschaft der Hellenen wird wiederhergestellt, um den Mann, dem die Hellenen verdankten, daß sie Hellenen geblieben waren, den Tod des Verbrechers sterben zu lassen.
Sparta hatte sein Aiel erreicht, Eimon uud Alkmäon hatten wacter geholfen, der biedere und gerechte Aristides war ihnen nicht in den Weg getreten. Jeder Athener, der der Entschiedenheit, mit der Themistokles feit dem Tage von Platää bis zu seiner Verbannung der Politik Spartas entgegengetreten war, auch nur mit halbem Ange, mit halbem Ohre gefolgt war, mußte selbst dann, wenn er keine Ahnung dessen hatte, was sich seitdem auf dem Peloponnes zugetragen, wenigstens davon eine starke Empfindung haben, daß die Spartaner durch naheliegende Interessen ihres Staates zur Anklage dieses gewaltigen und gefürchteten Gegners getrieben würden. Je maßgebender diese Interessen für Sparta waren, um so vorsichtiger hatte man in Athen Anzeigen, Mitteilungen, Forderungen der Spartaner aufzunehmen. Sparta forderte die gleiche Strafe für den Themistokles, die den Pausanias getroffen. Aber hatte denn dort ein Gericht gegen Pausanias gesprochen? Mit Nichten. Man hatte ihn ohne Urteil und Recht eingesperrt und verhungern lassen, d. H. man. hatte ihn beseitigt. Sparta sprach von Beweisen gegen Themistokles, die sich aus den Beweisen gegen Pausanias gesunden. Welches Gericht hatte diese Beweise geprüft und festgestellt? Da kein Prozeß, keinerlei gerichtliche Prüfung stattgefunden, gab es keinen Beweis, der nicht gefälscht fein konnte, den großen Gegner Spartas zu verderben. Wir erfahren nichts von Beweisen gegen Themistokles, die den Athenern übergeben worden sind; von der Korrespondenz zwischen Pausanias und Terxes, die Thncydides mitteilt, mögen Abschriften nach Athen gesandt fein; es sind Urkunden, die gegen den Pausanias, nicht gegen den Themistokles sprechen. Gab es solche von einigem.Belang, so 'wäre schwer begreiflich und noch schwerer zu rechtfertigen, daß Thncydides nicht diese wie jene gegeben. Aber der Geschichtschreiber Ephorus sagt uns, daß Pausanias den themistokles zur Teilnahme an feinen Plänen und Absichten aufgefordert, daß Themistokles davon keine Anzeige gemacht. Art welchem Plan teil zu nehmen, konnte Pausanias den Themistokles einladen? Wollte er die Tyrannis von Byzanz oder das Fürstentum von Kolonä mit ihm teilen, oder sollte Themistokles ihm helfen, Byzanz gegen den Simon zu halten und die Athener im Hellespont zu bekämpfen, oder die Heloten in Sparta zu den Waffen zu rufen? Das besorgte Pausanias wohl besser allein, und die Herrschaft über Sparta, wenn er sie errang, mit dem Themistokles zu teilen,
7 6 Altertum.
toirb ihm gleichfalls kaum wünschenswert erschienen sein. Welcher Art sollte benn also ber Verrat sein, besten Teilnehmer Themistokles gewesen wäre? Pansanias hatte Verrat gegen Hellas geübt, inbem er bie von ben Hellenen, von Xanthippus unb ihm selbst eroberten Meerengen ben Persern wieber in bie Haube spielte, inbem er an ber Seite ber Perser kämpfte — was er bann, nach Sparta zurückgerufen, hier gesponnen hatte, war zunächst Hochverrat an Sparta, nicht Verrat gegen Hellas. Verrat an Hellas konnte Themistokles von Argos aus boch nur baburch üben, baß er ben Xerxes einlub, eine Streitmacht nach Hellas zu seuben, unb bieser bie Wege zu bereiten sich anheischig machte. Aber Persien war nicht in ber Offensive, unb keines hellenischen MannesEr-bietungen hätte König Terxes we-nigerGlanben geschenkt, als betten bes Themistokles.
Es mag sein, baß Themistokles unb Paufauias frü-herhiu tn persönlicher Beziehung gewesen waren.
Bei bes Themistokles Anwesenheit in Sparta (bei ber zweiten
da Themistokles verbannt in Argos lebte; wir könnten solchen Verkehr höchstens für bie Zeit zugeben, ba Paufauias, nach Sparta zurückgerufen, bort weilte. Aber auch ba waren boch bie Ziele bes Pansanias unb Themistokles einanber biametral entgegengesetzt. Des Themistokles Sinnen unb Trachten war feit bretßtg Jahren barauf gegangen, Athen zur Seemacht zu machen, bie nur im Gegensatz gegen Persien auf bem Ägäischeu Meere zu haben uttb zu behaupten war. Niemanb sah früher unb beutlicher, baß bamit zugleich ber Gegensatz zwischen Athen unb Sparta geschärft würbe, unb feit ber Zurückweisung bes Terxes hatte Themistokles keinen anbeten Gebanken, als ben ber Bekämpfung Spartas — in Athen wie in Argos hatte er stattliche Erfolge in biefer
Themistokles.
führte Paufauias bereits bie Regentschaft), bei ber Feststellung bes Kriegsplanes für ben Felbzug gegen Cypern uub Byzanz mögen beibe einanber bekannt geworben fern. Seitbem waren ihre Wege weitauseiuauber-gegangen. Plu-tarch legt benn auch bie angeblichen Aufforbe-rungen, bie Pau-fauias an bett Themistokles gerichtet haben soll, erst in bte Zeit,
Duncker: Themistokles und Pausanias. 77
Richtung erzielt. Und während er Argos' Macht gegen Sparta emporhob, sollte er mit einem Manne konspirieren, der die Joner vergewaltigt, der Athens Seeherrschaft hartnäckig bekämpft und jetzt im Dienste Persiens Spartas Kräfte gegen Athen vorzutreiben gedachte ?^ Mochte Pausanias immerhin voraussetzen, daß Themistokles nicht abgeneigt sein könnte, seine Ausweisung den Athenern zu vergelten; mochte er ihm sagen lassen, er fei damit beschäftigt, sich an den Spartanern dafür zu rächen, daß sie ihm vor zehn Jahren den Oberbefehl entzogen, Themistokles möchte ein Gleiches den Athenern thun — welchen Nutzen konnte Pausanias sich von solcher oder ähnlicher Botschaft versprechen? Sollte Themistokles fein Ansehen in Argos gebrauchen, falls des Pausanias Plan in Sparta gelang, neben Sparta Argos gegen Athen zu führen? Pausanias wußte sehr gut, daß Argos niemals mit Sparta gegen Athen gehen werde, um sich nicht selbst das eigene Grab zu graben. Gefetzt aber, Pausanias hätte sich von Botschaften solcher Art die Wirkung versprochen, The-miftokles könnte Athens zukünftige Gegenwehr mittelst feiner Anhänger dort lähmen — welchen Grund hatte Themistokles gehabt, davon in Athen Anzeige zu machen? Er am wenigsten sonnte sich gedrungen fühlen, dev Pausanias Plänen mit den Heloten Einhalt zn thun; je kühner Pausa-nias in Sparta vorging, um so sicherer traten dort Spaltung, Verwirrung und Schwächung ein. Daß Spartas Freunde in Athen, daß Eimon jede Anzeige des Verbannten zur Warnung der Behörden Spartas verwerten würden, stand ja wohl außer Zweifel. Themistokles wird jedoch keine Veranlassung gehabt haben, hierüber Betrachtungen in Argos anzustellen; Botschaften jener Art hat ihm Pausanias sicherlich nicht zukommen lassen. Doch gab es andere Gesichtspunkte, die den Pausanias zu Mitteilungen an den Themistokles bestimmen konnten. Xerxes ließ in den Häfen Phöniziens eine Motte rüsten, die des Pausanias Anschlag auf Sparta zu unterstützen, dessen Gelingen weiter zu führen bestimmt gewesen sein wird. Ihre Rüstung stand freilich noch weit zurück, als Pausanias wieder in Sparta eingetroffen war. Gelang es danach jener Flotte, die attische, die Mische Bundesflotte zu schlagen ober, ihr zuvorkommend, die Küsten von Hellas zu erreichen, so mochte die Bucht von Argos als geeigneterer Ankerplatz erscheinen, als der Busen von Sparta. Hierzu in dem doch nicht anti-perfifch gesinnten Argos Vorbereitung zu treffen, konnte Pausanias dem Themistokles vielleicht zumuten. Aber welche Vorteile war er in der Lage, ihm dafür zu bieten: wollte er gegen solchen Dienst die Herrschaft über Hellas mit ihm teilen, wenn er sie gewann, oder ihm einen Fürsten-sitz drüben bei Kolonä anbieten? Wir dürfen uns erlassen, Möglichkeiten dieser Art näher zu erwägen: war Themistokles auf irgend ein Zusammen wirken mit Pausanias eingegangen — so mußte er, in Athen verurteilt, als Athen und Sparta feine Auslieferung von Argos zu fordern sich
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anschickten, von hier aus geraden Weges über das Ägäische Meer, das offen vor ihm lag, an die persische Küste fliehen; er' hätte dann nicht nötig gehabt, sich auf persischem Boden verborgen zu halten, nicht nötig gehabt, Leben, Sicherheit und Gunst vom Könige der Perser zu erbitten: durch seine eben Persien geleisteten Dienste im wohlerworbenen Besitz der Gnade des Großen Königs wäre er in Susa eingezogen. Daß das Gegenteil der Fall war, daß er schließlich als der Mann, der dem Xerxes die tiefste Wunde geschlagen, nach Persien kam, daß er einen Vorfall, (die Nachricht vom Abbruche der Brücke über den Hellespont) der fünfzehn Jahre zurücklag, in persischem Sinne umdeuten und dieser Deutung einen falschen Zusatz geben mußte, um sein Leben in Persien zu retten, daß Herodot selbst im Kreise der Alkmäoniden. die die Anklage in Athen gestellt, die den dringendsten Anlaß hatten, sich wegen dieser schnöden That, so gut es irgend angehen wollte, zu rechtfertigen, von des Themistokles Anteil an den Plänen des Pansanias nicht das mindeste erfuhr, daß ihm lediglich die Umdeutung, die Themistokles notgedrungen jenem Vorgänge gegeben, als Thatsache aufgetischt wurde, thut neben dem Schweigen des Thucydides in evidentester Weise dar, daß die Gesandtschaft Spartas keine Beweise für des Themistokles Verbindung mit dem Pansanias in Athen vorgelegt hat, daß alles, was sie etwa an mündlichen Äußerungen des Pansanias angeführt haben mag, hinfälligster Natur war.
Sparta hatte den Pausauias beseitigt, die Mehrheit des attischen Volkes den Themistokles zu schimpflichem Tode verurteilt. Sparta tastete die Rechte der Familie des Pausauias nicht an, weder die seines Bruders auf die Regentschaft, noch die seines Sohnes auf den Thron. Athen konfiszierte das Vermögen des Themistokles — es soll achtzig Talente etwa 360 000 Mark betragen haben — enterbte und verstieß seine Söhne, machte seine Frau und seine Töchter zu Bettlern. Sparta hatte sich eines Raubtiers, das in seine Hürde gefallen, erwehrt, Athen seinem besten Manne, der auch in der Verbannung unermüdlich für Athen arbeitete, dem gefährlichsten Feinde Spartas mit eigener Hand den Rest gegeben, seine stärkste Waffe gegen Sparta selbst zerbrochen. Nicht zufrieden, den Tod gegen ihn verhängt, sein Geschlecht niedergeworfen zu haben, beeilte sich Athen, mit Sparta nicht nur wetteifernd, sondern Sparta überbietend, an dem Gründer seiner Macht, an seinem Erretter den Tod des Verbrechers zu vollstrecken. Niemals hat Parteiwut, hat Erbitterung gegen die überragende Wucht und Größe eines Mannes, Verblendung und Thorheit einer Bürgerschaft eine verwerflichere, ihre Stadt schärfer brandmarkende That vollführt als jene Mehrheit der Athener, die das Urteil über den Sieger von Salamis sprach, sein Haus entehrte und vernichtete, ihre Kommissare mit denen Spartas aussendete, des Verbaunten Auslieferung zu erzwingen, um ihn den Tod der Missethäter sterben zu lassen.
Curtius: Perikles' Bedeutung.
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XI.
perikles1 Bedeutung.
(E. Curtius.)
Die verderbliche Pest, die kurz nach dem Ausbruche des peloponnesischen Krieges sich über die Stadt Athen gelagert hatte und die beste Kraft des athenischen Volkes verzehrte, ergriff, nachdem sie das Haus und den Freundeskreis des Perikles verödet hatte, auch ihn selbst, aber nicht aus einmal, sondern wie ein heimliches Gift zehrte sie langsam an seinem Marke und warf ihn endlich auf das Krankenbett. Auch die hohe Kraft des Willens war gebrochen, und um den Freunden zu zeigen, was aus dem großen Penkles geworden sei, wies er sie aus das Amulett hin, welches abergläubische Frauen ihm als Schutzmittel umgehängt hatten.
Da lag er, von den besten seiner Mitbürger umgeben, welche sich mit trostlosen Blicken fragten, was aus Athen ohne Perikles werden solle, und während sie ihn schon bewußtlos glaubten und wie zu seinem Andenken von den herrlichen Thaten des Mannes redeten, da erhob er sich noch einmal und fragte sie, warum sie doch das Beste verschwiegen, nämlich daß um seinetwillen kein Athener ein Trauerkleid angelegt habe! Also nicht seinen hohen Geist, nicht die Herrscherkraft seines Wortes, nicht sein Feld Herrn glück hielt er für das Beste an sich, sondern seine Mäßigung, seine Selbstbeherrschung und vorsichtige Besonnenheit; er konnte sich das Zeugnis geben, daß auch die giftigsten Anfeindungen ihn niemals verleitet hatten, sich in Zornaufwallung an seinen Feinden zu rächen.
Zwei Jahre unb sechs Monate hatte der Krieg gedauert, als Perikles starb (429 v. Chr.). Er wurde im äußeren Kerameikos bestattet, rechts von
Perikles (nach Kresilas). Vatikan.
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der Heerstraße, die zu den Häsen führte, nahe bei dem großen Friedhofe der für das Vaterland gefallenen Athener. Sein Bild blieb der Nachwelt in trefflichen Darstellungen erhalten; die vorzüglichste tpar von der Hand des Kresilas, welcher darin seine Kunst bewährte, einen edlen Mann wahrheitsgetreu darzustellen und doch die geistige Persönlichkeit noch deutlicher auszudrücken, als die Körperformen selbst es vermocht hatten. Die Tiefe des sittlichen Ernstes, der unerschütterliche Mut des Staatsmanns und Feldherrn, die königliche Ruhe des Weisen treten auch in der erhaltenen Nachbildung unverkennbar entgegen; die überlegene Denkkraft zeigt sich in Auge und Stirn, während man den zartgeformten Lippen die Anmut der Rede anzusehen glaubt, welche ihnen einst entflossen ist.
Niemand wird von Perikles behaupten wollen, daß er durchaus neue Gesichtspunkte attischer Staatsverwaltung aufgestellt habe; er knüpfte vielmehr in allen wesentlichen Punkten an die ältere Geschichte der Stadt an, und sein ganzes Streben ging nur dahin, Athens Größe auf den gegebenen Grundlagen zu erhalten, zu befestigen und in würdigster Weise darzustellen. Wenn Perikles das Seine that, um die Bürgerschaft von dem Einfluffe bevorzugter Stünde immer mehr zu befreien und den Anteil aller Staatsbürger an den öffentlichen Angelegenheiten zu fördern, so trat er in die Fußstapfen von Sofort und Klisthenes. Wenn er aber von der Ansicht ausging, daß sich auf dem Meere entscheiden müsse, welcher Staat der herrschende in Griechenland sein werde, und von den Athenern verlangte, daß sie die Landschaft preisgeben und ihre Stadt wie eine Insel verteidigen sollten, so waren dies ja die Gedanken des Themistoktes, dessen Scharfblick die wahren Grundlagen der attischen Macht zuerst erkannt hatte. Aber wie sehr unterschied er sich von ihm in der Kraft der Mittel und in der Vielseitigkeit seiner Politik! Denn in der sittlichen Auffassung seines Berufs war er der treueste Nachfolger des Aristides; alle gegen seinen Charakter gerichteten Angriffe sind gescheitert, und Thueydides, der große Geschichtschreiber seiner Zeit, welcher zugleich der strengste und wahrhaftigste Sittenrichter ist, hat ihn von jedem Vorwurse des Eigennutzes frei sprechen können. Wenn er aber die wahre Größe Athens nicht in den Mauern und Schiffswerften suchte, sondern in der hervorragenden Geistesbildung nnd deshalb alle höheren Richtungen hellenischer Bildung in Athen einbürgerte, um hierin seiner Vaterstadt einen unbestrittenen Vorrang zu sichern, so waren das ja schon die Gedanken Solons gewesen, welche dann von den Pisistratiden mit ruhmwürdigem Eifer verfolgt worden waren. Auch von anderen Staaten nahm er auf, was nachahmungswürdig war, wie er z. B. in der Gründung überseeischer Städte korinthische Staatsklugheit zum Muster nahm. Kurz, Perikles' Bedeutung besteht darin, daß er alle großen und fruchtbaren Jdeeen früherer Zeiten in sich vereinigte, aber geläutert, geordnet und in groß-
Curtius: Perikles' Bedeutung. 81
artigem Zusammenhange. Die Größe Athens, für welche er bis an sein Ende gestrebt hat, ohne sich weder durch Glück noch durch Unglück irre machen zu lassen, sie war also nicht eine von ihm ersonnene, sie war kein aus philosophischen Theorieen gebildetes Ideal, sondern die Entfaltung und Blüte dessen, wozu die Athener von Natur geschaffen waren, und das Ziel, welches die Vergangenheit forderte, ein Ziel, das Athen erreichen mußte, wenn es nicht sich selbst und seinem geschichtlichen Berufe untreu werden wollte.
Wer will behaupten, daß er vollkommen selbstlos seine Lebensaufgabe erfüllt habe? Wenn aber Perikles ohne Selbstüberhebung sich sagen konnte, daß er zur Leitung des Staats vor allen Athenern berufen fei, so war es kein gemeiner Ehrgeiz, der ihn antrieb, diese Stellung mit aller Energie zu erstreben. Dazu mußte er das Vertrauen des Staatsoberhauptes, d. H. des Demos von Athen, haben; der geborene Aristokrat, der mit Mißtrauen angesehen wurde, mußte ein Mann des Volks werden, wenn seine Jdeeen von der Größe Athens nicht Träume bleiben sollten. Dazu konnte er nur durch demagogische Mittel gelangen, indem er sich der Reformpartei anschloß und der Menge Vorteile verschaffte, welche an sich nicht unberechtigt waren, aber, wie er sich nicht verhehlen konnte, manche Gefahren mit sich führten, indem sie Ansprüche weckten, die sich steigern und vervielfältigen und das Volk zur Genußsucht und zum Müßiggänge verleiten mußten. Perikles war hier, wenn er seinen Lebensberuf erfüllen wollte, in der Auswahl der Mittel nicht frei. Ist er hier weiter gegangen, als er verantworten konnte? Trifft ihn eine Mitschuld an der Entartung des Demos, die mit den Festgeldern und Löhnungen zusammenhängt? Täuschte er sich in dem Gedanken, daß er die üblen Folgen wieder gut machen könnte, wenn er aus diesem allein möglichen Wege die Herrschaft erlangt habe? Diese Fragen zu beantworten sind wir außer stände, da wir über Anfang und Fortgang des Löhnungswesens zu mangelhaft unterrichtet sind.
Noch weniger find wir im stände, über Perikles als Feldherrn zu richten. Hier haben die scharfen Augen seiner Gegner am wenigsten zu tadeln gefunden, und wer sich in der Republik so lange unangefochten an der Spitze des Heerwesens gehalten hat, der muß auch auf diesem Gebiet als der erste gegolten haben, und zwar wurde den Fehlern gegenüber, zu welchen eine Demokratie vorzugsweise neigt, an Perikles vor allem die höchste Besonnenheit und Vorsicht gerühmt. Ob darunter bei aller persönlichen Tapferkeit in einzelnen Fällen die Kühnheit des Entschlusses gelitten habe, welche größere Erfolge hätte erzielen können, wer will darüber heute zu Gericht sitzen, da kein Kampf so genau beschrieben ist, daß wir die Taktik des Feldherrn zu beurteilen im stände sind? Daß aber die einseitige Seepolitik ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden
Aus allen Jahrhunderten. g
g2 Altertum.
sönne, dafür zeugen die schweren Unglücksfälle, welche nach kurzen Erfolgen mit allen Unternehmungen verbunden waren, die eine Kontinentalherrschaft in Mittelgriechenland zu ihrem Ziele hatten.
Am meisten könnte man berechtigt sein, eine Schwäche des Staatsmannes darin zu erkennen, daß er in seiner panhellenischen Politik sich getäuscht habe.
Mit prophetischem Blick erkannte er vor allen seinen Zeitgenossen daß die Eisersucht der hellenischen Volksstämme untereinander ihre Beruhigung finden müsse, und daß in attischer Bildung das Gemeinsamhellenische einen Ausdruck finden werde, dem die allgemeine Anerkennung nicht fehlen könne. Er hatte zu dem nationalen Sinne der Hellenen das Vertrauen, daß sie auch ohne ziellose Fortsetzung der Perserkriege sich immer mehr als ein Ganzes fühlen, und daß in den überseeischen Kolonieen die feindlichen Gegensätze sich allmählich ausgleichen würden. Er selbst war, wie kein anderer, zugleich Hellene und Athener, und was in seinem Bewußtsein sich harmonisch verbunden hatte, verleitete ihn wohl zn dem Glauben, daß das, was in der That das höchste Ziel und die einzige Rettung nationaler Enwickelnng war, leichter und schneller erreichbar sei, als es die realen Verhältnisse gestatteten. Wenn Perikles sich in diesem panhellenischen Optimismus getäuscht hat, so dürfen wir ihn deswegen doch nicht als einen kurzsichtigen Staatsmann anklagen; denn eine höhere Ausgabe konnte er sich nicht stellen, und das schöne Vertrauen, mit dem er sein Werk durchführte, so weit es menschliche Kräfte vermochten, war die Quelle seiner Kraft und seines bis ans Ende ausharrenden Mutes. Und wer wagt es, den Wunsch auszusprechen, Perikles möchte nüchterner und kleinmütiger gewesen sein während der Jahre, in welchen er unbedingt über die Hilfsmittel der Stadt gebot?
Perikles hat ohne Verfassungsbruch die bestehende Demokratie so umgestaltet, daß der Schwerpunkt der Macht den Ämtern zurückgegeben wurde, welche nicht durch den Zufall des Loses, sondern durch das Vertrauen der Gemeinde besetzt wurden. Er hat die letztere so an seine Leitung gewöhnt, daß sie ihn jahraus, jahrein zu ihrem Feldhaupt-maun erwählte, als konnte es gar nicht anders sein, und während er diese einzigartige Stellung einnahm, hat er sich aller Anfeindungen ungeachtet zu keinem Mißbrauche feiner Macht verleiten lassen. Er beherrschte seine Mitbürger, indem er sie zu sich emporhob und sie immer höher von ihrer Stadt denken lehrte. Je mehr bei wachsenden Schwierigkeiten und Gefahren feine Politik sich bewährte, um so mehr konnte er hoffen, daß man die Unentbehrlichkeit seiner Person erkennen werde, da die Majoritäten großer Bürgerversammlnngen unfähig waren, die verwickelten Verhältnisse eines weitläufigen Reichs zu überblicken und in kritischen Füllen rasch zu handeln.
Curtius: Perikles' Bedeutung. 83
Aber, fragt man, wie sollte sich ein solches Regiment auf die Dauer erhalten, wie sollte es nach Perikles von einem andern übernommen werden können? Gewiß hat Perikles dies jahrelang vorbedacht, und unter den Vertrauten, welche um ihn standen, bis die Seuche ihn vereinsamte, waren gewiß Männer, welche ihm geeignet schienen, sein Werk fortzusetzen. Aber auch, wenn er in keiner Weife darauf rechnen konnte, daß die Größe Athens eine dauerhafte fein würde, durfte dies ihn abhalten, an die Verwirklichung des vorgesteckten Ziels feine volle Kraft zu fetzen? Um so mehr galt es, mit entschlossener Thatkraft die Gegenwart zu benutzen, welche so niemals wiederkehren konnte. Er wußte, daß der Inhalt einer großen Zeit nicht von der Dauer derselben abhängig sei; er wußte, daß es ein ewiger Besitz seiner Stadt und seines Volks sein würde, wenn das höchste Ideal einer hellenischen Gemeinschaft in Athen verwirklicht würde. Sein Streben war ein hohes Wagen, aber zugleich von voller Besonnenheit getragen, und darum ist sein Lebenswerk, so wehmütig auch sein Ende war, von einem unvergänglichen Erfolge gekrönt worden.
Freilich ist dieser Erfolg nicht gleich zu Tage getreten; denn niemals ist wohl ein großer Staatsmann ungerechter beurteilt und auch von den Besten seines Volks mehr verkannt worden, als Perikles. Die Stimmen der Zeitgenossen zeigen, wie widerwillig man seine Größe anerkannte, und wie man sich dem lästigen Gefühle unbedingter Bewunderung durch hämische Ausstellungen und Verleumdungen zu entziehen suchte. In der aufgeregten Zeit, welche dem Kriege vorausging, war eine unbefangene Würdigung feiner Verdienste unmöglich. Alle Parteien waren gegen ihn, und feine Verunglimpfung war das einzige, worin Aristokraten und Demokraten sich begegneten. Nachdem aber der Krieg begonnen und eine so ungünstige Wendung genommen hatte, warf man die Schuld auf ihn als den Anstifter des Kriegs, ohne zu bedenken, daß das Mißgeschick eine Folge von Ereignissen war, die auch der weiseste Staatsmann nicht in Anschlag bringen konnte.
Auch von der nachfolgenden Generation ist Perikles nicht unbefangen beurteilt worden. Denn man machte ihn für alle Mißbrauche der entarteten Demokratie verantwortlich, indem man die Demagogen als feine Nachfolger ansah, deren Haltung und Wirksamkeit das volle Gegenteil perikleifcher Staatsleitung war. So ist er von Geschichtschreibern und Philosophen, auch von Plato und Aristoteles verkannt worden. Um so dankbarer sind wir dem einen, der es uns möglich macht, aller Entstellungen ungeachtet die ursprünglichen Züge des Bildes wiederzn^ erkennen; um so erfreuender ist die Aufgabe, an der Hand des Thucydi-des allen Spuren, welche der große Geist der Geschichte feines Volks eingedrückt hat, mit Bewunderung nachzugehen.
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Altertum.
XII.
Die Akropolis von Athen zur Mi des penkles.
(E. Curtius.)
Der wichtigste Schauplatz, auf dem Perikles in Athen seine kunst-schöpferische Thätigkeit entfaltete, war die Akropolis, und erst die neuesten Entdeckungen haben darüber, wie sich hier die Bauten der Tyrannen, die des Cimon und seines Nachfolgers aneinander angeschlossen haben, ein unerwartetes Licht verbreitet.
Nordwestliche Ansicht des Erechtheion (Rekonstruktion).
So vorzüglich von Natur die athenische Burghöhe zur Aufnahme großartiger Kunstwerke geeignet und vorbereitet erscheint, so war sie doch in ihrem ursprünglichen Zustande auf ihrer Oberfläche fehr uneben, zerklüftet und abschüssig; der harte Fels machte viel Arbeit, um günstigen Baugrund zu gewinnen, und war für die Athener eine Schule ausdauernder Geduld.
Hart neben dem Erechtheion, dem Tempel des Erechtheus, an der südlichen Seite desselben, wurde in der vorpersischen Zeit zuerst durch Aufschüttung und Felsbearbeitung eine breitere Terrasse hergestellt, um auf derselben einen dorischen Prachtbau aufzurichten.
Dieser Tempel, welcher der Tyrannenzeit angehört, wurde im Perserbrande zerstört und ist niemals vollständig hergestellt worden; die Säulentrümmer und Gebälkstücke wurden für die neue Burgmauer
Curtius: Die Akropolis von Athen zur Zeit des Perikles. 85
benutzt, und die ganze Akropolis erhielt eine neue Gestalt. Denn oben wurde über dem Schutte des Brandes und den zu Bodeu geworfenen Denkmälern eine breitere Hochfläche hergestellt, und gleichzeitig errichtete man an beiden Langseiten der Burg neue Mauern, um derselben, nachdem die alten Befestigungen aus der Tyrannenzeit niedergerissen waren, von neuem ein würdiges Aussehen zu geben und geräumige Bauplätze zu stützen. Für diesen Terrassenbau hat Cimon den größten Eifer gehabt, und sein Andenken erhielt sich besonders an dem Bau der Südmauer, welche wesentlich dazu beitrug, von der Seeseite her einen imponierenden Eindruck zu machen. Diese „Cimonische" Mauer galt alle Zeit hindurch für einen Prachtbau hellenischer Befestigung. Cimon hat aber auf der neugewonnenen Hochfläche für den älteren Tempel auch einen zweiten, weiter nach Süden vorgeschobenen Prachtbau gegründet mit acht Säulen an den Fronten, von dessen äußeren Hallen die Spuren noch erkennbar sind. Daran wurde emsig gearbeitet, so lange (Simon lebte. Dann stockte der Bau; die unvollendeten Säulenstücke wurden für die Vollendung der Südmauer benutzt, unb nun würbe auf bern von Cimon geschaffenen Baugrunbe unb über ben Funbantenten seines Tempels nach Überwinbung bes heftigen Wiberspruches ber Cimonischen Partei ein neuer Tempel errichtet, ber Perikleische Parthenon.
Der Baumeister, nach bessen Entwürfen im Einverstänbnis mit Perikles unb Phibias, bern größten Künstler bes Altertums, ber Parthenon aufgeführt würbe, war Jktinus; ber gefchäftskunbige Architekt Kalli-krates staub ihm zur Seite.
Es hanbelte sich nicht um etwas wesentlich Neues im Grundriß und Ausbau; man schloß sich vielmehr in der Hauptsache ganz an das Hergebrachte an, die Einteilung des Gebäudes in Bildraum unb Schatzraum, bie breischiffige Cella, bas Hinterhaus unb die offenen Vorhallen im Osten und Westen, — dies alles entsprach durchaus dem Tempel ber Pisistratiben. Auch ging man beim Parthenon nicht daraus aus, burch kolossale Verhältnisse etwas Außerordentliches zu leisten. Die Maße blieben bescheiben, bie Höhe von ber untersten Stufe bis zur Giebelspitze betrug nur 65 Fuß. Wenn man aber bie übliche Zahl ber Säulen an ben Tempelfronten von sechs auf acht vermehrte, fo war hierin schon der Cimonische Tempel vorangegangen.
Dennoch hatte der Parthenon in vielen Stücken seinen eigentümlichen Charakter. Vor allem war das Augenmerk daraus gerichtet, Architektur und Plastik vollständiger, als es bisher geschehen war, miteinander zu verbinden, die bildliche Ausstattung zu höherer Vollendung zu erheben und mit feinem Verständnis das zu vereinigen, was an verschiedenen Orten für den hellenischen Tempelbau an künstlerischen Erfindungen gemacht worden war. Den feierlichen Ernst des dorischen Stils
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zu überbieten, war unmöglich. Aber eine reiche Anmut tourbe erzielt, unb bie gleichmäßige Verwenbnug bes pentelischen Marmors machte es möglich, bie Werkstücke mit vollkommnerer Technik zusammenzufügen unb auch bie kleinsten Banglieber sauber auszuführen. Man machte sich zugleich von beut strengen Schema bes älteren Dorismus frei; man nahm ben anmutigen Schmuck bes Bilbsrieses (Zophoros) aus ber jonischen Kunst herüber; beim hier sollten bie alten Unterschiebe hellenischer Kunstweisen ausgeglichen unb zu einer höheren Harmonie tierbunben werben; man baute also nicht borisch noch jonisch, sonbern attisch.
Das Langhaus selbst war um 50 Fuß länger als bas bes ältesten ber brei Tempelgebäube. Aus bem östlichen Säulengange trat man in eine Halle von sechs Säulen, bas Pronei'on. Von hier öffnete eine Erzthür ben inneren Raum, bie 100 Fuß tiefe Cella, ben Hekatompebos, ber burch eine boppelte Säulenreihe ber Länge nach in brei Schiffe geteilt war; betrüber erhob sich eine zweite Säulenstellung, welche eine obere Galerie unb bie Marmorbecke trug. Hinter ber Cella lag ber Opisthobomos, welcher im engeren Sinne ben Namen Parthenon führte, um ihn von bem Hinterhause bes Pisistratischen Baus zu unterscheiben, ein von vier Säulen getragener rechteckiger Raum, welcher sich nach ber westlichen Vorhalle öffnete.
Bei ber bilblichen Ausstattung bes Tempels bewährte sich ber Genius bes Phibias in seiner vollen Bebeutuug, weil er hier als schaffen-ber Künstler thätig war unb eine Welt lebensvoller Gestalten, wie sie Grie-chenlanb noch nie gesehen, aus seinen Werkstätten hervorgehen ließ. Freilich ist es unmöglich, bie mehr als 50 kolossalen Statuen unb bie 4000 Quabratsuß von Hoch- unb Flachrelief, welche in 14 Jahren für ben Parthenon ausgeführt würben, als Werke von Phibias anzusehen. Aber er waltete über allem, er war ber geistige Urheber ber reichen unb sinnvollen Ausstattung, unb bei aller Verschiebenheit im einzelnen tragen bie Skulpturen alle ben Stempel besselben Geistes; man erkennt eine burchgebilbete Schule unb einen inneren Zusammenhang, in welchem ber leitenbe Gebanke bes Meisters unverkennbar ist, nach bessen Zeichnungen unb Mobellen bas einzelne ausgeführt tourbe.
Die architektonischen Räume, welche mit Bilbwerken ausgestattet würben, waren von breierlei Art, unb banach unterschieben sich auch bie Bilbtoerke nach Stil unb Ausführung. Der stattlichste Raum toar bas große Dreieck, welches bie nach ben Langfeiten abfaüenben Dachschrägen an ber Ost- unb Westfronte bilben. Diese Giebelfelber pflegten mit kolossalen Bilbwerken angefüllt zu werben, unb so hatten schon bie Pisi-stratiben an ihrem Tempelbau bie Besiegung ber Giganten barstellen
lassen. Die letzten Vorbilber aber waren bie beiben Giebel bes Zeus-
tempels in Olympia, ber Wettkampf bes Pelops unb ber Centauren-
Curtius: Die Akropolis von Athen zur Zeit des Perikles. 87
kämpf. Phidias ging hier am kühnsten über alles Hergebrachte hinaus. Er wagte es, die beiden bedeutendsten Thatsachen der Athenereligion, welcher das ganze Gebäude gewidmet war, darzustellen. Den Giebelraum der Ostseite füllte die Versammlung der olympischen Götter, eingefaßt von den Gottheiten des Tageslichts und der Nacht. In der Mitte der Olympier erscheint Athene, neugeboren, aber vollkommen reif, schön und wehrhaft, neben ihrem Vater Zeus der leuchtende Mittelpunkt der großen Versammlung, zu dem von beiden Seiten mit staunender Bewunderung die Götter und Göttinnen hinschauen. Der Westgiebel dagegen ist durch die Gottheiten attischer Gewässer, welche nach dem Vorgänge des olympischen Ostgiebels in liegenden Eckfiguren die Darstellung einschließen, als attischer Boden bezeichnet. In der Mitte steht Athene neben Poseidon, jene mit ihrem Gefolge attischer Landesgottheiten, dieser von den Dämonen begleitet. Sie haben um Athen miteinander gestritten. Der Kampf ist entschieden, der wildere Gott muß weichen; aber das glückliche Land, um das die unsterblichen Götter einander beneiden, hat von beiden Seiten Gaben unvergänglicher Bedeutung empfangen, und auch der Streit ist ihm zum Segen geworden.
Unter dem Tempeldache erstreckt sich der Architrav, der an beiden Schmalseiten mit goldenen Schildern geschmückt wurde, und darüber der Triglyphenfries. Die zwischen den Triglyphen eingelassenen Metopentaseln wurden sämtlich mit Bildwerk ausgestattet; 92 Tafeln von fast quadratischer Flüche, deren jede eine in sich abgeschlossene Komposition forderte. Phidias wählte meist Kampfgruppen, Kämpfe der Gottheiten, namentlich der Athene gegen die Giganten, Kämpfe der Heroen, die als Vorbilder der attischen Jugend in höchster Kraftanstrengung mit den rohen Gewalten kämpfen, welche einem sittlich geordneten Staatsleben widerstreben, wie die der Ehe feindlichen Amazonen und die Centauren, die Friedensstörer und Frauenräuber, die Feinde des Theseus, des Gründers gesetzlicher Ordnung. Aber auch friedliche Thaten waren dargestellt, Stiftungen heiliger Satzungen, auf denen das attische Religionswesen beruhte.
Endlich zog sich innerhalb des Säulenumgangs ein Fries entlang, welcher 528 Fuß lang wie ein schmales Band die äußere Wand der Cella umfaßte. Für einen solchen Raum konnte keine angemessenere Darstellung ersonnen werden ,als die eines figurenreichen Zuges, welcher einen ununterbrochenen Zusammenhang hatte, eines Festzuges, der in unmittelbarer Beziehung zu dem Gebäude stand. Bei dem Parthenon konnte man nur an die Panathenäen denken, und wenn man nun von zwei Seiten die Frauen mit heiligen Geräten, die von Männern geführten Opfertiere, die Züge von Musikern mit Blas- und Saiteninstrumenten, die Viergespanne und die Reitergeschwader herankommen sieht und in der Mitte der Frontseite die Götter erblickt, welche vom Olymp herabgestiegen sind, um sich als
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Zuschauer an dem Bürgerfeste der Athener zu erfreuen, fo ist in der Hauptsache kein antikes Kunstwerk verständlicher als der Parthenonfries Doch sehen wir keine Kopie des in voller Ordnung einherschreitenden Festznges vor uns; jede Darstellung dieser Art würde weit hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben und in eine langweilige Feierlichkeit verfallen sein. Man gab ihm also dadurch größere Mannigfaltigkeit und dramatisches Leben, daß man den Festzug noch im Werden darstellte. Ein Teil der Reiter rüstet sich erst zum Zuge, dienende Teilnehmer werden von den Beamten noch unterwiesen, Festgeräte werden ausgegeben. Dadurch erhielt der Künstler größere Freiheit und eine Mannigfaltigkeit von Motiven für losere und geschlossenere Gruppen. Zugleich hatte mau den Vorteil, auf diese Weise den Eifer und Ernst zur Anschauung zu bringen, mit dem man das Fest ins Werk setzte; darin bezeugte sich der Gemeinsinn der Bürger und der religiöse Sinn, mit dem sie ihre Götter ehrten.
Diese großartigen Tempelskulpturen zeigen uns die attische Bildkunst, wie sie durch Phidias ihren eigentümlichen Charakter erhalten hat, in Rundgestalten, sowie im Relief. Auch im Relief ist der Unterschied des Stils festgestellt. Denn von den Metopentaseln springen die gymnastischen Gestalten in kräftigem Hochrelief hervor, so daß sich die Leiber zum Teil ganz von der Rückfläche ablösen; im Friese dagegen heben sich die Gestalten nur wenig von der Grundfläche ab, und das Auge gleitet an ihnen wie an einer Zeichnung entlang. Es ist der milde Fluß einer dem bürgerlichen Leben entlehnten, aber durch religiöse Feierlichkeit erwärmten und gehobenen Darstellung, während in den Giebelgruppen ein dramatisches Leben uns entgegentritt, dessen Bewegung in einem bedeutungsvollen Momente gipfelt und dann nach rechts und links in die epische Ruhe sitzender und lagernder Gestalten austönt.
Die Kunst, den Marmor zu beseelen, ist in Athen zur Entfaltung gekommen. Man erkennt an den Marmorkoloffen noch die Strenge der Zeichnung, wie sie der älteren Schule eigen war, und die scharfe Gliederung, aber jede Härte steifer Symmetrie ist überwunden; in anmutiger Nachlässigkeit liegen und sitzen die Gestalten nebeneinander, die Gewänder schmiegen sich in natürlichen Massen und Falten dem Körper an; man fühlt den Atem, welcher die Glieder bewegt, und fpürt in den verklärten Gestalten, welche den Giebel füllen, etwas von dem seligen Leben der olympischen Götter. In den Metopen, welche Kämpferpaare darstellen, tritt die Einwirkung peloponnesischer Kunstschulen deutlicher zu Tage. Ganz eigentümlich attisch ist dagegen wieder der Stil des Frieses, dessen Anmut darin besteht, daß auch nicht die geringste Absicht auf Effekt zum Vorschein kommt, sondern alles vollkommen schlicht und einfach dargestellt wird.
Auch im Erzguß war Athen nicht zurückgeblieben, und wie sehr
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Phidias ein Meister desselben war, zeigt die Statue der Athene Promachos, ein Erzkoloß über 50 Fuß hoch. Er stand auf der Burg unter freiem Himmel, zwischen dem Burgthore und dem alten Athenetempel auf einem mächtigen Fußgestelle; es war die kriegerische Göttin mit Lanze und vorgestrecktem Schilde; die goldene Lanzenspitze und der Helmbusch waren die ersten Wahrzeichen, an denen man, von Snninm heranfahrend, die attische Burg erkannte. Entschlossener Kriegsmut, der jedem Feinde entgegentritt, war in dem Bilde der Göttin ausgeprägt; sie war das Ideal, welchem das Geschlecht der Marathonkämpfer nacheiferte; aus der marathouifchen Beute war das Standbild geweiht worden um die Zeit, da Aristides starb und Perikles anfing Geltung zu erlangen.
Die Promachos war die Göttin des Cimonischen Athens, die „Vorkämpferin" von Hellas. In der Perikleifchen Zeit erweiterte und vertiefte sich die Staatsidee und damit auch die Vorstellung von der Schutzgöttin des Staats. Es war also schon mit dem Entwürfe des Parthenon der Plan entstanden, im Innern desselben ein neues Bild der Athene aufzurichten, und die breitere Raumanlage, welcher die Cimouische Gründung geopfert wurde, hangt gewiß mit diesem Vorhaben zusammen. Alle Mittel sollten aufgeboten werden, um hier ein kolossales Prachtwerk herzustellen, welches staunende Bewunderung erweckte uud von dem Reichtnme der großen Handelsstadt, von der Blüte der Künste und dem religiös- politischen Sinne, der in den Bürgern lebte, ein volles Zeugnis gab. Darum verschmähte man die einfachen Stoffe und wählte die glänzendste aller Gattungen plastischer Darstellung, die Goldelfenbeinarbeit. Werke dieser Art gingen über das engere Gebiet der Plastik weit hinaus. Denn wenn auch dem Bildhauer die Hauptaufgabe blieb, indem er die Idee des Ganzen faßte und in körperliche Formen zu gestalten hatte, so war es doch auch eine architektonische Aufgabe, das feste Gerüste herzustellen, welches den Holzkern des Kolosses bildete, die vielerlei und vielartigen Teile desselben zweckmäßig und dauerhaft zu verbinden uud das Ganze so aufzustellen, daß alles zusammenwirkte, das großartige Götterbild voll zur Anschauung zu bringen. Endlich beruhte der Gesamteindruck des Kunstwerks wesentlich auch auf der Pracht uud Harmonie der Farben. Der milde Glauz der Elfenbeinplatten, welche die nackten Teile bildeten, wurde durch den Schimmer des Goldes gehoben; die Wahl der bunten Edelsteine für die Augen, die Färbung der Wangen und Haare, die Verteilung von Licht und Schatten in der Anordnung des Gewandes, dies und anderes verlangte den Kunstverstand eines Malers.
Ein solches plastisches, tektonisches und malerisches Kunstwerk war die Athene des Phidias, welche vorzugsweise als Jungfrau, „Partheuos", aufgefaßt wurde, als die keusche, unnahbare Tochter des Zeus, in welcher ' des Vaters Weisheit und Denkkraft sich persönlich darstellt. Sie ist die
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heimatliche Göttin; darum sah man die Burgschlange, das Sinnbild des Einheimischen, zu ihrer Linken sich emporringeln; sie ist die kriegerische Göttin mit Helm, Schild und Speer und die siegverleihende mit einem Standbilde der Nike auf der ausgestreckten Rechten; aber ruhig und friedlich steht sie da, nicht kampflustig und herausfordernd, sondern still und gesammelt vor sich hinblickend, sich selbst genügend, mit milden und klaren Gesichtszügen; der Helm, unter dem das volle Haar hervorquillt, ist mit den Symbolen von Sphinjc und Gleisen ausgezeichnet, welche Denkkraft und Scharfblick bedeuten. Diese Athene war aber keine allegorische Figur, den Kolossen ähnlich, welche man in alten und neuen Zeiten als Personifikationen einer Landschaft oder einer Stadt aufgerichtet hat, sondern einer Gottheit Bild, die von Anfang her des Staates Schutzgöttin gewesen war, und dies Gottesbild dachte man sich mit allen Vorzügen ausgestattet, deren Athen sich bewußt war, mit allen Tugenden, welche den attischen Bürger auszeichnen sollten. Darum ist denn auch die Parthenos des Phidias, wie kein anderes seiner Bildwerke, in die volkstümliche Kunst übergegangen, und während wir an den älteren Urkunden- und Weihreliefs die Gestalt der kämpfenden Göttin vorherrschend finden, tritt auf den jüngeren die Idee der friedlichen Göttin, welche der Parthenos zu Grunde liegt, in den Vordergrund.
Indem es nun Phidias gelang, in solcher Weise dem Volke seine Götter zur Anschauung zu bringen und hierbei den Besten des Volks für alle Zeit zu genügen, wurde er ein Gesetzgeber im Gebiete der religiösen Kuust; der Künstler gewann das Ansehen eines Theologen, der die natürliche Religion vertieft und veredelt habe; seine Werke waren wie Offenbarungen des Göttlichen uud verlangten eine allgemeine Anerkennung, weil er nicht willkürlich und nach persönlichem Geschmack neuerte, sondern aus dem Volksgeiste heraus und in vollem Einklang mit den Dichtern des Volks. Darum waren seine Werke, wiewohl echt attisch, zugleich national; die attische Kunst war auch hier nur die Vollendung der früheren Stufen, und es war die größte Genugthuung für die Bestrebungen des Perilletfchen Athens, daß feine Künstler auch nach Olympia berufen wurden, und daß dort aus attischen Werkstätten das Bild des Zeus hervorging, welches noch prachtvoller ausgestattet war, als das der Parthenos und als Ideal des hellenischen Zeus bei allen Hellenen mustergültig wurde.
Um die der Burggöttin geweihte Akropolis auf eine des Staats würdige Weise zur Vollendung zu bringen, bedurfte es zuletzt noch eines neuen Eingangsthores, welches den ganzen Burgbezirk als einen heiligen Festraum der Athene bezeichnete. Das war ebenfalls ein Bau des Pe= rifles, die Thorhallen oder „Propyläen" nebst der Ausgangstreppe. Der Baumeister war Muesikles. Seine Aufgabe war, das westliche Ende des Burgfelseus, wo derselbe allein zugänglich ist, mit einem Gebäude
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Ansicht von Athen mit der Akropolis in der Gegenwart.
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Curtius: Die Akropolis von Athen zur Zeit des Perikles. 93
zu überspannen, welches bestimmt war, den Burgraum an seiner schmälsten Stelle abzuschließen, aber ihn zugleich in feierlicher Weise zu eröffnen. Eine dorische Säulenreihe mit tempelförmigem Giebel empfing den Heraufsteigenden; dann trat mau in eine Halle von 50 Fuß Tiefe, deren prachtvolle Marmordecke von sechs jonischen Säulen getragen wurde. Diese Halle wurde durch eine Quermauer geschlossen, welche mit fünf Gitterthoren den Verschluß der Burg bildete. Aus ihnen trat man wieder in eine sechssüulige dorische Halle und durch sie auf den inneren Raum der Burg. Von dem Mittelbau, dem eigentlichen Thorgange, sprang rechts, und links ein Flügel vor, um den Abschluß des Burgselsens zu vervollständigen; der nördliche umfaßte den für Gemälde bestimmten Raum, die Pinakothek. Beide Flügel öffneten sich mit Säulenhallen nach der breiten Freitreppe, welche in gemächlicher Steigung zur Thorhalle hinanführte und die Oberstadt mit der Unterstadt verband. Rechts von diesem Aufgange trat die Cimonische Mauer mit einer turmartigen Bastion, die das Heiligtum der Athene-Nike trug, gegen die Treppe vor sonst war alles entfernt, was an die alte Festung erinnerte. Mit gastlichen Säulengängen, welche weithin in die Ebene hinabglänzten, erschloß sich die Akropolis allen, welche die Tempel und Feste der Athener besuchen wollten; sie erhob sich aus der Unterstadt, wie die Krone des Ganzen, wie ein großes Weihgeschenk, mit ihren Kolossen, Tempeln und Hallen, und wie ein Geschmeide glänzte an ihrer Stirnseite der Marmorbau der Propyläen.
XIII.
Epaminondas und Pelopidas.
(Fr. Chr. v. Schlosser.)
Theben erhielt durch das Talent der beiden einzigen großen Männer, welche es besessen hat, des Epaminondas und Pelopidas, diejenige Einrichtung und Stellung, vermöge deren es nicht nur den Spartanern die Spitze bieten konnte, sondern auch auf einige Zeit die Hauptstadt von Griechenland wurde und die Hegemonie in Griechenland erlangte, welche seither die Spartaner und vor diesen die Athener besessen hatten. Der leitende Geist dieser Männer ist in dem Gange der thebanischen Angelegenheiten überall unverkennbar, und Theben wäre ohne sie ebensowenig zu der Stellung gelangt, die es jahrzehntelang einnahm, als es dieselbe nach dem Tode dieser beiden großen Bürger behaupten konnte. Die Thebaner sowie die Bewohner des Landes Böotien überhaupt waren ihrem Stammcharakter nach von den Athenern und Spartanern sehr
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verschieden und durchaus nicht geeignet, eine Bedeutung, wie diese sie hatten, dauernd zu behaupten. Sie waren von jeher den gröberen Genüssen ergeben und hatten sich durch das Wohlgefallen an Schwelgereien stets so sehr vor den übrigen Griechen ausgezeichnet, daß sie deshalb bei diesen sogar sprichwörtlich geworden waren. Ein Volk aber, bei welchem das Essen und Trinken eine so große Bedeutung hat, ist nicht im stände, einen geistigen Aufschwung auf die Dauer zu bewahren und längere Zeit hindurch große Anstrengungen für höhere Güter zu machen. Jene vorherrschende Richtung der Böoter erhielt durch alle Zeiten hindurch eine gewisse Roheit und Härte bei ihnen; ihre Genußsucht machte sie außerdem egoistisch und bannte aus ihrem Gemeinwesen die Triebfedern der Ehre und Vaterlandsliebe, fo daß in ihrem Staatsleben nichts enthalten war, was ganze Generationen hätte antreiben können, alle ihre Kräfte dem Staate zu widmen. In Böotien bestanden z. B. ebenso, wie überall in Griechenland, jene Einrichtungen, welche aus dem Streben des griechischen Volkes, das Leben und den Genuß mit den Künsten, dem Staat und seinen höchsten Zwecken zu verbinden, hervorgegangen waren, und es fanden deshalb auch in den böotischen Städten gemeinschaftliche Mahle der einzelnen Gemeinden lind ihrer Unterabteilungen, wie auch größere Gastereien bei Gelegenheit religiöser Feste statt; allein diese echt griechische Sitte verlor bei den Böotern schon srüh ihre ursprüngliche Bedeutung und nahm einen ganz anderen Charakter an, als bei den Athenern und den anderen Griechen. In Athen entstanden selbst in der späteren Zeit, in welcher der Geist dieser Stadt bereits entartet war, neben solchen öffentlichen Schmausereien und Bewirtungen viele Privatvereinigungen, welche von einzelnen Mitgliedern Stiftungen für Mahle, die an bestimmten Tagen gehalten werden sollten, erhielten; solche Vermächtnisse wurden aber nicht des bloßen Schmausens wegen gemacht, sondern um beim geselligen Mahle sich der Vereinigung zu freuen oder geistreiche und^ gelehrte Unterhaltungen zu pflegen. Die philosophischen (Sekten oder schulen zu Athen, wie z. B. die Anhänger des Plato und Aristoteles, hatten solche gemeinschaftlichen Mahle und Fonds für dieselben, und die Stifter machten besondere Vorschriften, wie es mit diesen gehalten werden sollte: ganz anders in Theben. Es wurden dort zu jenen Zeiten viele Klubs und Brüderschaften errichtet und von einzelnen Mitgliedern derselben Stiftungen gemacht, aber der Zweck war nicht die Unterhaltung und die Freude des Zusammenseins, sondern die größere Üppigkeit und Wohlfeilheit des Genusses; die bloßen Schmausegesellschaften nahmen in Böotien so sehr an Zahl zu, daß es daselbst viele Bürger gegeben haben soll, welche als Mitglieder solcher Vereine jeden Monat zu mehr Schmausereien berechtigt waren, als der Monat Tage hatte.
Bei diesem Geiste des thebartifchen Volkes ist es nicht zn verwundern,
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daß die unter des Epaminondas und Pelopidas Leitung errungene Macht desselben nur kurze Zeit dauerte, oder daß, wie ein griechischer Schriftsteller sich ausdrückt, Thebens Macht mit der Leiche des Epaminondas zu Grabe getragen wurde. Auf der andern Seite stellt aber eben diese angeborene Unfähigkeit der Thebaner, die Hegemonie von Griechenland zu behaupten, die Größe jener beiden Männer erst recht ins Licht.
Epaminondas und Pelopidas, welche schon früh durch innige Freundschaft mit einander verbunden waren und mit vereinter Kraft für die Erhebung Thebens arbeiteten, waren ihren äußeren Verhältnissen wie ihrem inneren Wesen nach von einander sehr verschieden. Pelopidas war von vornehmer Geburt, und er besaß einen großen ererbten Reichtum, während sein Freund Epaminondas von Hause aus arm war uud es sein ganzes Leben hindurch blieb. Pelopidas war eine verständige und mehr nach außeu als nach innen gerichtete Natur, welche nur für das praktische Leben geschaffen war, und liebte neben den Staatsgeschüsten und dem Kriege vorzugsweise die Übungen der Ringschule und die Jagd. Er stand seinem Freunde an Bildung des Geistes weit nach, war aber wegen seiner rein praktischen Richtung uud der erlangten Gewandtheit im äußeren Leben mehr als Epaminondas für diplomatische Verhandlungen befähigt und zeichnete sich in diesen um so mehr aus, als er neben seiner großen Geschicklichkeit im Unterhandeln zugleich die Ehre eines von edleren Motiven geleiteten Mannes aufrecht zu erhalten wußte. Beide Mäuner besaßen einen angeborenen höheren Adel, welcher den Grundzug ihres Wefens bildete, und welcher der Betrachtung ihres Handelns und Wirkens eine in rein menschlicher Hinsicht wohlthuende Seite giebt. Beide gehören zu den größten Staatsmännern des griechischen Altertums, sowohl dem Endziele ihrer Bestrebungen nach, als auch in betreff der Einsicht und Gewandtheit, mit welcher sie dasselbe zu erreichen suchten. Beide, namentlich aber Epaminondas, waren als Feldherren ausgezeichnet und ragten über ihre Zeitgenossen Agesilans, Jphikrates und Ehabrias nicht bloß durch ihre Kriegsthaten hervor, sondern auch durch den umfassenden und schöpferischen Geist, mit welchem sie die Kriegskunst auf eine neue Stufe der Entwickelung hoben. Sie schufen ein ganz neues System der Taktik und Strategie, welches bald nachher von den maeedonifchen Königen Philipp und Alexander weiter ausgebildet wurde; und obgleich der damals in Griechenland herrschende Geist und die ganz veränderte Kriegskunst fast überall das Anwerben von Mietstruppen herbeigeführt hatten, so setzten Epaminondas und Pelopidas doch ihre Heere nur aus Bürgern zusammen, wußten diesen aber nicht bloß Geschicklichkeit und Gewandtheit im Gebrauche der Waffen und in den Bewegungen zu geben, sondern auch einen Geist einzuhauchen, vermöge dessen dieselben ebensowohl der Tapferkeit der Spartaner, als der kriegerischen Tüchtigkeit der
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berühmtesten Söldnerscharen gewachsen waren. Epaminondas zeichnete sich nicht weniger durch seine sittliche Größe und seine wissenschaftliche Bildung, als durch seine Feldherrneigenschaften und seine praktischen Kenntnisse im Staatswesen aus. Er besaß philosophische Erkenntnis und widmete sein ganzes Leben hindurch die Zeit der Muße ebenso den wissenschaftlichen Beschäftigungen, wie sein Freund Pelopidas den Vergnügungen der Jagd und der Ringschule. Seine Beredsamkeit und seine Einsicht in das menschliche Wesen und die Verhältnisse der griechischen Völkerschaften waren so groß, daß er einst, als er zugleich mit den Gesandten anderer Staaten den Friedensuuterhaudlungen in Sparta beiwohnte (371 v. Chr.), durch seine Darstellung der spartanischen Herrschsucht und Tyrannei den Spartanern vielleicht eben so sehr schadete, als Pelopidas einige Jahre früher durch den Sieg bei Tegyra ihrem militärischen Rufe geschadet hatte. Des Epaminondas Grundsätze waren denen der athenischen und spartanischen Generale seiner Zeit so durchaus entgegengesetzt, daß man sie mit den Grundsätzen der pythagoreischen Schule verglich und ihn selbst zuweilen einen Pythagoreer nannte, weil er den Unterricht des Lysis, eines der wenigen Männer genossen hatte, die sich rühmen konnten, die Lehren dieser Schule rein bewahrt zu haben. Seine von Natur milde und menschenfreundliche Seele wurde stets von Motiven edlerer und höherer Art geleitet. Namentlich aber bildete seine Einfachheit, Mäßigkeit und Uneigennützigkeit einen schneidenden Gegensatz gegen den herrschenden Geist jener Zeit. Die ans diesen sittlichen Vorzügen beruhende äußere Erscheinung des Epaminondes zeigt zugleich in der Art, wie die Mit- und Nachlebenden seines Volkes dieselbe beurteilten einen großen Unterschied zwischen den Lebensansichten der alten und neueren Zeit. Epaminondas war ein Mann, welcher, arm geboren, auch arm bleiben wollte, ungeachtet dessen aber durch seine äußere Erscheinung seinen Landsleuten nicht allein keinen Anstoß gab, sondern sogar in ganz Griechenland bis an sein Ende die erste Rolle spielte. Während selbst in den republikanischen Staaten unserer Zeit äußere Repräsentation von hohen Staatsämtern unzertrennlich scheint, konnte dagegen unter den Griechen auch in den Zeiten des Verfalls der Reichtum niemals den Rang geben, auf welchen das Verdienst ein Recht hat; nur das griechische Volk war und blieb weit entfernt, das Festhalten an der einfachsten und natürlichsten Lebensweise für lächerlich zu halten und einen, der dies that, einen Sonderling zu nennen, wie dies bei uns zu geschehen pflegt. Den besten Beweis davon giebt das Beispiel des Epaminondas, welches diese rühmliche Seite des griechischen Nationalgeistes auf das glänzendste anschaulich macht. Epaminondas ward, wie die Philosophen Sokrates, Anti-sthenes und Diogenes, unter seinen Landsleuten gerade dadurch ein Gegenstand der Bewunderung, daß er die Geringschätzung der äußeren Zierden
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des Lebens bis zum Übermaße trieb. Ja, Epaminondas übte sogar, gerade weil dieser der neueren Zeit fremde Charakterzug den Griechen eigentümlich war, durch diese Einfachheit seines äußeren Lebens einen besonders großen Einfluß auf sein Volk aus und fühlte sich zum Teil eben durch diese Wahrnehmung zu derselben bewogen. Er besaß, wie berichtet wird, manches Hausgeräte nicht, welches selbst in den Wohnungen ganz geringer Leute sich fand, und er soll, auch als er an der Spitze seiner Vaterstadt stand, nur einen einzigen Mantel besessen haben, so daß er, so oft dieser gewaschen wurde, einige Tage nicht ausgehen konnte; er hatte aber bei dieser Ärmlichkeit, die er doch leicht hätte beseitigen können, den edlen Zweck, daß er seinen Landsleuten zeigen wollte, wie wenig das Leben eigentlich erfordere, und wie thöricht es sei, sich beständig zu Plagen, um sich die Mittel zum Leben zu verschaffen, die man doch so wohlfeil haben könne. Als einst ein persischer Gesandter ihn durch ein Geschenk von 30 000 Goldstücken für das Jnterefse seines Königs gewinnen wollte, nahm Epaminondas dies nicht nur nicht an, sondern verbot auch dem Gesandten den ferneren Aufenthalt in Theben. „Wertn deines Herrn Absichten", sprach er zu ihm, „meinem Vaterlande vorteilhaft sind, so bedarf es keiner Geschenke; sind sie es aber nicht, so vermag alles Gold der Welt mich nicht für dieselben zu gewinnen. Ich selbst verzeihe dir, daß du mein Herz nach dem deinigen beurteilt hast; aber ich kann dir den Aufenthalt in Theben nicht länger gestatten, weil du mit deinem Golde auch andere in Versuchung führen könntest." Ein anderes Mal wies er 2000 Goldstücke, welche der mächtige thessalische Fürst Jason bei seiner Anwesenheit in Theben ihm geben wollte, gerade weil sie von diesem ihm angeboten wurden, zurück, obgleich er in großer Geldverlegenheit war und bei dem bevorstehenden Ausmarsch des Heeres sich genötigt sah, zur Anschaffung seines Feldgeräts zwölf Thaler von einem Freunde zu borgen. Als er einst auf einem Feldzuge erfuhr, daß sein Waffenträger einen Gefangenen für vieles Geld freigegeben habe, verabschiedete er denselben mit den Worten: „Gieb mir meinen Schild zurück und kaufe dir eine Trödlerbude; denn da du jetzt ein Reicher geworden bist, so wirst du nicht ferner Mut und Lust haben, dich der Todesgefahr auszusetzen." Wer so handelte, der konnte mit mehr Erfolg, als jeder andere, gegen die Entartung seiner Landsleute, die Roheit und Sinnlichkeit seiner Böoter und die in ganz Griechenland herrschende Habgier und Eigennützigkeit auftreten. In diesem Sinne antwortete Epaminondas selbst einst, als an einem festlichen Tage in Theben alle sich beim Weine belustigten, einem seiner Bekannten auf die Frage, warum er allein sich der Teilnahme an der allgemeinen Lust entziehe: „Damit ihr andern euch desto ruhiger der Sorglosigkeit überlassen könnet." Auch mußte ein Staat, an dessen Spitze ein solcher Mann stand, ganz anders in seinen Unternehmungen
Aus allen Jahrhunderten. 7
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gedeihen, als z. B. Athen, dessen größte Männer damals, ein Jphikrates, Chabrias und Timotheus, vorzugsweise nach Reichtum, Genuß und Glanz strebten, so daß sie zugleich den Gesetzen der Moral ungetreu und in ihren Vermögensumständen zerrüttet wurden.
XIV.
Älerander der Große.
(O- Jäger.)
In Alexander dem Großen tritt uns das Bild des glänzendsten uud gewaltigsten aller Herrscher entgegen. Der scharfe und klare Verstand seines Vaters Philipp und die enthusiastische, stürmisch-leidenschaftliche Natur seiner Mutter Olympias waren in ihm zu einer unvergleichlichen Harmonie vereinigt. Die natürliche Anmut seiner Gestalt war durch die hellenische Gymnastik zu einem vollen und edlen Ausdruck gekommen: man bemerkte an ihm ein eigentümliches, gefälliges Zurückwerfen des Hauptes nach der linken Seite (s. die Abbildung S. 104), und das Seelenvolle seines Auges, verbunden mit seiner blühenden Gesichtsfarbe, gab seiner Persönlichkeit etwas überaus Gewinnendes. Im Reiten, Schwimmen, im raschen Lauf that es ihm niemand zuvor: feine unaufhaltsam dahinstürmende Tapferkeit, mit der er, der erste der macedonifchen Ritter, an der Spitze dieser seiner „Waffenfreunde" auf den Feind eindrang, bringt uns jenes großartige, leider teilweise verstümmelte Mosaikgemälde zur Anschauung, das am 24. Oktober 1831 in der Casa bei Fanno zu Pompeji aus 2000 jährigem Schutte wieder aufgegraben wurde. Es zeigt den Alexander, wie er in der Schlacht bei Jssns (333 v. Chr.) an der Spitze seiner Reiter sich ans den Mittelpunkt des Perferheeres wirft, wo sich der hitzigste Kampf um den Streitwagen des Darms entsponnen hat. Von seiner heldenmütigen Tapferkeit geben ferner die vielen Wunden Zeugnis, die er im Kampf davontrug, und die mancherlei Abenteuer, bei deueu sie sich zeigte, bildeten das Vorbild und das Gespräch der Truppen. Auf ihr vornehmlich beruhte der Zauber, den er auf den gemeinen Mann ausübte, wenn er feinen schwarzen Hengst, den Bucephalus, bestiegen hatte — es geschah stets nur in dem Augenblicke, wo der Angriff begann, und man betrachtete es als das Signal zum Kampfe — da zweifelte keiner seiner Krieger, denen er seine eigene Furchtlosigkeit mitzuteilen wußte, am Siege. Aber seine ritterlichen und soldatischen Tugenden bildeten nur einen Teil einer höheren Eigenschaft, seiner Feldherrngröße. Mit dem stürmischen Mute verband er die klarste Besonnenheit; kundige Augen hatten sie schon an dem Knaben bemerkt; voll unbegrenzten Vertrauens
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auf sein Glück war er doch keinen Augenblick sorglos; er verachtete den Feind me, ehe er ihn überwältigt hatte, und unterließ keine Vorsichtsmaßregeln, selbst wo die Feinde hinlängliche Proben ihrer Unfähigkeit abgelegt hatten. Sein Scharfsinn im Erraten des Wahrscheinlichen, seine Umsicht in der Wahl der Personen waren unvergleichlich; sein Blick traf überall sicher den rechten Mann für die rechte Stelle, und bewundernswürdig war vor allem die strenge Disziplin und die unbedingte Autorität, mit der er, der Jüngling, das Veteranenheer seines Vaters und die bunte Menge der Hilfskontingente im Banne hielt. Die trotzigen Generale Philipps, welche ihren rafchgewonnenen Reichtum in rohem Schwelgen zur Schau zu tragen liebten, beugten sich vor ihm; sie nahmen es hin, wenn er ihnen ihren unsinnigen Luxus verwies; wir begreifen es, wenn wir hören, wie er die vertrautesten seiner Freunde, Hephästion und Kraterus, deren Entzweiung einen wilden Tumult erzeugt hatte, in ihre Schranken zurückschreckte. „Beim Ammon und den übrigen Göttern"! rief er ihnen zu, „ich liebe euch unter allen Menschen am meisten, aber ich werde euch mit eigener Hand durchbohren, wenn ihr wieder hadert." Wie vertraut er mit ihnen ward, er blieb immer der König: ihn allein besiegte der Wein nicht, wenn er ihre Trinkgelage teilte, und die Ausschweifungen hatten keine Gewalt über ihn; so beugte sich vor seiner Überlegenheit, wer immer mit ihm zusammentraf. Denn so schrecklich im Zorn, so liebenswürdig war er, wenn er wohlwollte: es ist ein schöner Zug, daß kein Thebaner bei ihm in späteren Tagen eine Fehlbitte that. Den Besiegten erschien er wie ein höheres Wesen, unb die gemeinen Soldaten hingen mit schwärmerischer Verehrung an ihm. Sie wußten, wie er ihrer gebachte: nach bem Siege war es sein erstes, baß er bie Verwunbeten besuchte unb selbst — denn er, ber alles zu wissen schien, war auch ber Heilkunst nicht unknnbig — besorgte unb verordnete, was ihnen bienltch war. Denn sein Genius umfaßte Großes unb Kleines zugleich und wußte, wie in der Schlacht, so auch in den unenblich mannigfaltigen Geschäften, welche bie Regierung eines solchen Reiches mit sich brachte, mit sicherem Blicke bas Richtige herauszufinden unb — in viel-umfassenben Stellungen von schwerer Verantwortung bie glücklichste Gabe — bas Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Seine Kraft zeigte sich allen Anforderungen feiner Stellung vollkommen gewachsen. In der Vielseitigkeit seines Wissens erkennt man den Schüler des Aristoteles, der selbst in seinem Geiste den Inbegriff aller Erkenntnis seines Zeitalters darstellte; aber diese vielseitigen Kenntnisse unb diese Fähigkeit raschen Aneignend wurden erst dadurch fruchtbar, daß sie sich bei Alexander mit einer eben so wunderbaren Arbeitsfähigkeit und einem durch nichts zu ermüdenden Thätigkeitsdrang vereinigten. Den Geschäften entzog ihn weder die Tafel noch der Schlaf, noch irgend eine
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der frivolen Vergnügungen, in welchen gewöhnliche Menschen ihre Erholung suchen; kaum die Physische Notwendigkeit, Verwundung, Krankheit nötigten ihm eine kurze Ruhe ab. Wo ihn nicht unmittelbar drängende Staatsangelegenheiten in Anspruch nahmen, sehen wir ihn mit Ballspiel, mit Jagen — der Fuchs- oder Hühnerjagd etwa, in der er seine Erholung findet, wo kein edleres Wild zu erbeuten ist — beschäftigt oder finden ihn im Verkehr mit Künstlern, Philosophen, Schauspielern, denen allen er ein lebhaftes Interesse entgegenbringt. Für alle die vielseitigen Pflichten einer Regierung, welche ein Reich von etwa 200000 □ Meilen mit einer Bevölkerung von vielleicht 100 Millionen umfaßte, zeigte er ein ebenso vielseitiges Verstünbnis. Es liegt in der Natur einer solchen Stellung, daß seine Korrespondenz ins Ungeheure ging: aber aus dem Wenigen, was uns daraus erhalten ist, sehen wir zugleich, wie sehr ihm neben dem Größten auch das Kleine und Einzelne gegenwärtig war. Bei der Tafel fürchteten die Diener seinen scharsen Blick, dem die kleinste Nachlässigkeit nicht entging; er schreibt an Parmenio, weil zwei gemeine Soldaten seines Kommandos sich vergangen hatten, und befiehlt die Untersuchung; dem Seleukus ist ein Sklave nach Cilicien entlaufen, er erwähnt es in einem Briefe, in einem anderen lobt er ben Penkestas, baß er ben bes Kraterus festgenommen habe: er erinnert sich ber kleinsten Vorgänge aus seiner Knabenzeit unb schickt seinem Erzieher, bem Leonibas, ber ihn einst als Knaben bei einem Opfer getabelt hatte, weil er zu viel Räucherwerk in bie Flammen warf, arabischen Weihrauch, bamit er nicht mehr nötig habe, an ben Göttern zu sparen. So war er überall unb gleichsam für jeben, ber ihm nahte, in befonberem Sinne ber erste, unb mit ber bewunbernstoür-bigsten Kunst handhabte er die verschiedenen Seiten seiner so mannigfaltig zusammengesetzten Stellung. Für die Barbaren entfaltete er die ■ ganze Pracht des königlichen Scheins, wertn er in seinem großen Prunkzelt, das auf acht vergoldeten Säulen ruhte, unter dem golddurchwirkten Baldachin, von ben Leibwächtern unb von betn ganzen glänzenben Hofstaat umgeben, er selbst ans golbenem Throne sitzenb, Recht sprach ober feierlichen Empfang hielt; ben Hellenen zeigte er sich auf ben verschobenen Gebieten, in benen sie glänzten, in heiterer Kunst wie in ernster Wissenschaft gewachsen; für bie Gelage seiner macebonischen Waffengenoffen hatte er sich bie freie Heiterkeit aUmacebortischer Königssitte gerettet. Nach allen Seiten hin Leben schassenb, begann bie Kraft eines großen Mannes ben ungeheuren Länderraum zu burchbrirtgen, ber seither tot gelegen: was in Jahrtausenben kaum einmal geschieht, war enbtich einmal wieber eingetreten: ber größte Mann seiner Zeit staub an ihrer höchsten unb wirksamsten Stelle — einer jener schöpferischen Geister, von benen sein Lehrer Aristoteles sagt, baß es kein Gesetz für sie gebe, weil sie selbst Gesetz seien, unb baß ein solcher wie ein Gott unter ben Menschen wanble.
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Indes sollte auch er auf eine schmerzlicheWeise an das allgemeine und unerbittliche Gesetz der Sterblichkeit erinnert werden. Es war zu Ekbatana, wo der vertrauteste seiner Freunde, der mit ihm aufgewachsen, Hephästion — sie liebten es, ihr Verhältnis mit den Idealen ihrer Jugendzeit, Achilles und Patroklus, zu bezeichnen — erkrankte, und die Krankheit nahm den raschesten Verlauf: vom Wettkampf der Knaben bei den Dionysien wurde Alexander an sein Sterbelager gerufen; er traf ihn schon nicht mehr am Leben. Des Königs Trauer war groß und sehr aufrichtig, denn der Verlust war für ihn vollkommen unersetzlich. Das Schicksal hatte ihm einen Jugendvertrauten gegönnt, der mit ihm den Weg zur Größe gewandelt und doch sein Freund geblieben war; dies war ein Besitztum, das er nur verlieren, aber nicht wieder erlangen konnte, seitdem er König von Asien geworden war. Er wollte, daß auch die Welt erfahre, wie fehr er den Toten geehrt, und traf Anstalten zu einer großen Leichenfeier, welche zu Babylon gefeiert werden sollte.
Dorthin kehrte der König zurück, durch wichtige Geschäfte und neue Gedanken, die ihrer Verwirklichung harrten, gerufen. Den Weg von der Provinz Medien nach den Euphratlandschaften machte das Gebirgs-volk der Kossäer unsicher, einer jener zuchtlosen Raubstämme, welche die Plage des persischen Reichs gewesen waren, und gegen welche Alexander deshalb stets mit besonderer Schärfe zu verfahren pflegte. Er überfiel sie in ihren Dörfern, erschlug ihrer eine große Zahl und zwang den Rest zu einem seßhaften Leben. Die griechische Rhetorik hat sich darin ge-sallen, die Opfer dieses notwendigen und gerechten Kampfes als ein Totenopfer für Hephästion darzustellen. Schriftsteller alter und neuer Zeit, unter deren Feder der größte Mann der alten Geschichte zum eitlen Theaterhelden geworden ist, sind weiter gegangen und haben die Befriedigung dieser Homerischen Grille als den eigentlichen Zweck der Expedition angegeben. Sie ist nicht anders anzusehen, als der Kampf gegen die cilicischen Gebirgsstämme im Jahre 333, gegen die Araber des Libanon während der Belagerung von Tyrns, gegen die Uxier auf dem Wege nach Persepolis, und jene Ansicht widerlegt sich schon durch die einfache Thatsache, daß Alexander eben aus diesem kosfäifchen Stamme Mannschaften seinem Heere einverleibte.
In Babylon wartete seiner eine Menge von Geschäften, und er wollte deshalb dort für die nächste Zeit seine Residenz nehmen. Eine große Anzahl von Gesandtschaften aus allen Ländern war bereits angelangt, andere waren unterwegs; außer denen aus den hellenischen und anderen Städten des Reichs manche von den Enden der Erde: europäische Scythen, Celten, Äthiopen, Libyer, Karthager, Iberer, Bruttier, Lukauer, und unter denen aus dem fernen Westen befand sich auch die Gesandtschaft einer Stadt, welcher die Vorsehung bestimmt hatte, sein eigenes Werk
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weiterzuführen und zu vollenden: der Stadt Rom an dem Tiber, deren Name sich bis dahin noch von keinem gleichzeitigen griechischen Schriftsteller erwähnt findet. Der maeedonische König war zum allgemeinen Schiedsrichter der Völker geworden. Es bedurfte eines besonderen Kriegszuges in die westlichen Länder nicht: hier in Babylon, wo er unter dem Jubel der Bevölkerung einzog, nmgeben von den Vertretern der Völker aller Zonen und Zungen, durfte er sich bereits als den allgemeinen Herrscher,-als den „Herrn über Land und Meer sühlen.
Man hat sich allzusehr daran gewöhnt, in Alexander bloß den Eroberer zu sehen, ohne der wichtigeren Seite seiner Thätigkeit, der des Regenten und Organisators gerecht zu werden. Jener erste ^.eil seiner Ausgabe war nach der Rückkehr aus Indien nahezu vollbracht: es bedurfte im Grunde nur noch einer Expedition von Wichtigkeit, zu welcher Alexander auch sofort Anstalten traf, der Umschiffung Arabiens, um volle Gewalt über diese Halbinsel zu bekommen, welche, zum großen Teil eine kahle Wüste, die Kulturländer des Euphrat und des Nil auseinanderhält. Eine rasche uud sichere Verbindung zwischen diesen beiden wichtigen Teilen seines Reichs herzustellen, dessen Ost- und Westhälfte auf einem neuen Wege wirksam zu verbinden, war notwendig; die Befehle ergingen sofort; große ^Dchiffv-bauten wurden an der phönizifchen Küste und am hyrkanischen Meer angeordnet, bei Babylon Docks für 1000 Fahrzeuge gebaut, das Kanalsystem des unteren Euphratgebiets vervollständigt, Rekognoszierungsschiffe an der arabischen Küste entlang vorausgesendet, ein Grieche, Mikkalus von Klazomenä, mit 500 Talenten nach Phönizien gesandt, um dort Arbeitsleute und Matrosen zu werben. Denn mit der Umschiffung Arabiens verband Alexander einen zweiten Plan: an der Ostküste des persischen Meerbusens und aus seinen Inseln sollte ein neues Phönizien, eine großartige Volkspflanzung erstehen. So berührten sich auch hier die Thätigkeit des Eroberers und des Regenten, beide vereint bilden sie die überwältigende
Größe dieses einzigen Mannes.
Wir wissen, welcher Mittel sich die persischen Könige bedient hatten, um Einheit in ihr znsammenerobertes Reich zu bringen, oder was dasselbe ist, um dieses Reich zu regieren. Einige große Straßen durchzogen das Reich, an deren wichtigsten Punkten Kastelle mit Garnisonen lagen; stehende Truppen, deren Besehlshaber der König ernannte, standen der Centralgewalt zur Versügung, ein ausgebildetes Polizeisystem, Kontrolle der Reisenden, bevorzugte Stellung der Perser und Erziehung der Vornehmsten in unmittelbarer Nähe des Königs, eine Münze, grausame Strafen, glänzende Belohnungen, unumschränkte, überirdische Stellung der Person des Königs, dessen Knecht zu sein der Stolz der Großen und die Religion der Geringen war. Diese Regierungsmittel sand Alexander zum großen Teile schon erschlafft; er bildete fie um, indem er in
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Alexander der Große.
sie seinen eigenen überlegenen Geist und den Geist des überlegenen Volkstums, dem er entsprossen war, den macedonisch-hellenischen hineintrug.
Auch in seinem Reiche bildete den ersten unb wichtigsten Einheits-Punkt bie Person bes Königs. Von Stufe zu Stufe hatte sich ihm bie Vollgewalt bieses Königstums entwickelt; seit ber Rückkehr von Jnbien war sie vollstänbig, unb auch an ihren glänzenden äußeren Ausdruck begannen die Gemüter sich zu gewöhnen. Die unabhängigen Gewalten hörten auf; ber Gegensatz zwischen Demokratie und Oligarchie in den hellenischen Städten, das selbstäubige Herrentum in Macedonien unb Thessalien verloren ihre Bebeutung, bie Satrapen würben wieber, was sie ursprünglich hatten sein sollen, königliche Beamte. An bie Stelle ber freien Machte traten bie glänzenben Dienstkarrieren, bie höfischen Ehren, bie Solbznlagen, bie golbenen' Kränze unb anbcre Orbenszeichen. Nicht mehr mit bem „Rate ber Freunde", sonbern mit ben Knnbigen jeber Stellung und jeder Nationalität beriet der König, von dem alle Gnaden und Beförderungen ausgingen, nach freier Wahl, um dann nach persönlicher Entschließung Großes unb Kleines zu schlichten unb für jebe Aufgabe ben rechten Mann unter Maceboniern, Griechen und Barbaren mit souveräner Macht zu bestimmen.
Daneben aber ward kein Mittel versäumt, diese verschiedenen Nationalitäten einander näher zu bringen und sie, soweit es immer ging, zu verschmelzen. Die äußeren Mittel, deren Alexander sich bediente, waren Zwischenheiraten, welche allmählich eine gemischte Bevölkerung über das ganze Reich hin verbreiteten, ferner Feste unb Spiele, welche ein überaus wichtiges Einheitsmittel darstellten, unb benen Alexanber deshalb überall, am Ufer bes Nil, wie am Hyphasis unb Choaspes, in bcr babylonischen Ebene, wie in ben Bergen von Ekbatana eine besonbere Aufmerksamkeit roibmete; ein noch weit wichtigeres Mittel zur Verschmelzung ber verschiebenen Bevölkerungsteile aber bilbeten bte Stäbte, welche Alexander an ben wichtigsten Punkten grünbete, unb bei beren Anlegung er- überall seinen großen natürlichen Scharfblick bewährte. Etwa 70 solcher Alexanber stäbte, bie über bas Reich zerstreut waren, zählen bie Altert; sie Bilbeten bie Sammelpunkte, in welchen bnrch ben täglichen Verkehr, ben Hanbel, bie Garnisonen bie Bevölkerungen sich zusammeusanben unb mischten. Durch Straßen verbnnben stellten sie vor allem bie Reichseinheit lebenbig bar, unb es ist nicht zufällig unb nicht eine bloße Befrie-btgung ber Eitelkeit, baß Alexanber ihnen überall ben eigenen Namen ober Namen, bie an Vorgänge aus feinem persönlichen Leben erinnerten,
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verlieh. Neben den Städten aber spielte eine wichtige Rolle das Heer, in welchem, wirksamer vielleicht noch als in den Städten, die Völker des Reichs sich durchdrangen und'der Reichseinheit sich bewußt wurden, die in ihrer Körperschaft zum lebendigsten Ausdrucke kam. In Babylon vollendete Alexander seine Reorganisation. Der Satrap von Persis, Penkestas, führte ihm wiederum 20 000 aus seiner und den Nachbarprovinzen ausgehobene Barbaren zu; er verschmolz sie jetzt mit den Maee-doniern vollständig zu einem Ganzen, indem er die Phalanx umbildete. Die Phalanx bestand nur aus vier Gliedern Macedoniern, welche in ihrer gewohnten Bewaffnung die drei ersten uud das hinterste Glied dieses taktischen Körpers bildeten; die zwölf mittleren Glieder bestanden aus Personen, welche den Vogen uud den Wurfspieß führten. Es war der letzte Schritt zur Verschmelzung der Nationalitäten. Wohin immer diese gemischten Truppen gingen, am Hindukusch wie an den Ufern des Nil stellten sie Einheit und Wesen des alexandrinischen Reiches in sich dar und waren seinem Gedanken dienstbar. Aber tiefgreifender und durchdringender noch wirkten zwei andere Mittel, die auch der mächtigste Herrscher nicht schaffen, denen er nur die Wege ebueu und mit seiner Macht, indem er dieselbe einsichtig verwendet, die Bahn frei machen kann: der Handel und die Civilisation. In dieser Beziehung war die Umgestaltung der Weltverhältnisse durch Alexanders Siegeszng durchgreifend und großartig. Der Handel folgte den Spuren seiner Siege: was wir gelegentlich davon erfahren, giebt uns den Maßstab für das viel Mehrere, das wir voraussetzen muffen. Auf bem Marsche durch die gedrosische Wüste sah man die phönizischen Kaufleute, welche bem Heere folgten, ben Gummi ber Myrtenstaube unb bie wohlriechenben Stengel ber Narbe, mit denen der Boden stellenweise rasenartig bewachsen war, begierig aufsammeln und die Zugtiere damit belasten. Jetzt sah der Kaufmann die unermeßlichen Handelswege sich dehnen, gesichert durch eine kräftige Regierung, die in eines Mannes Hand vereinigt war, sichere Straßen zu Land und See, eine Menge baren Gelbes aus allen Verstecken hervorströmenb, eine Münze, eine Sprache, allwärts verstanden oder leicht gedolmetscht, bequeme Märkte, sichere Stationen. Mit Einsicht und Kraft unterstützte Alexander diesen wichtigen Verbündeten. Er verpflanzte die Produkte des einen Landes nach dem andern, inbifches Rinbvieh, nisäische Pferbe nach Mace-bonien. Der Luxus bes Hofes unb ber Großen, wie ber Austausch ber ProbuEte mußten die Industrie mächtig heben und beleben, die großartigen Entdeckungsfahrten, die Sicherung der Land- und Wasserstraßen kamen vor allem dem Handel zn gute, und den Gütern des Kaufmanns folgten die Segnungen der Eivilifation. Hier war die Stelle, wo dem Hellenentum ein Ersatz für seine entschwindende politische Bedeutung blühte. Die Blüten der Dichtung waren längst abgefallen, Homer und Sophokles,
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Pindar und Aristophanes waren nicht mehr. Der schaffende Trieb im Baume der hellenischen Litteratur war, dem Gesetze alles Irdischen folgend, allmählich erstorben. Aber die Früchte dieser Entwickelung ohnegleichen, eine allseitige Bildung, Fertigkeiten der mannigfaltigsten Art bis zur höchsten — die Arbeiten des Töpfers in irgend einem Winkel Athens, der seine Geschirre mit ungeschlachten Figuren aus der alten Mythologie verzierte, bis zu denen des großen Gelehrten, welcher die zerstreuten Gegenstände des Denkens und Wissens in den Brennpunkt seines Geistes sammelte und in der intellektuellen Welt dasselbe geworden ist, was sein Schüler in der materiellen — sie alle ergossen sich jetzt in unendlicher Fülle, durch tausend Kanäle über alle Länder, deren Pforten Alexanders Schwert erschlossen hatte. Hier geschah das Beste freilich ohne Alexanders Zuthun, aber er wußte, was diese hellenische Civilisation ihm war; er förderte die Wissenschaft mit königlicher Freigebigkeit, wie er dem Aristoteles zu seiuen naturhistorischen Forschungen die Summe von 800 Talenten (gegen 3 600 000 Mark) angewiesen haben soll, wie er manchen andern freigebig Pensionen gab; und was mehr ist, er förderte sie mit königlichem Sinne: in den Werkstätten der Künstler, des Lysippus, des Apelles, im Gespräch mit Philosophen, Historikern, Dichtern suchte er Belehrung und Erholung, und noch bei seinem letzten Mahle soll er im Wettstreit mit den Schauspielern eine längere Stelle aus Euripides aus dem Gedächtnisse hergesagt haben.
XV.
Griechische Jugenderziehung.
(I. v. Falke.)
In einem schönen Körper mnß'auch eine schöne Seele wohnen. Dieses berühmte Wort des Sokrates hatte gewiß in Griechenland, aber auch vielleicht nur in Griechenland seine volle Berechtigung; denn was das Wort sagen will, das war dem Griechen das Ideal des Menschen, das Ideal des Hellenen.
Seit den Zeiten, daß sich das Hellenentum in seiner Weise festgesetzt hatte, d. i. seit den Tagen Solons, dessen Verfassung, dessen Gesetze für Erziehung und Unterricht schon von dem gleichen Geiste eingegeben waren, seit jenen Tagen war die gleichmäßige Entsaltung und Ausbildung aller: geistigen und körperlichen Anlagen und Kräfte, die Harmonie zwischen Leib und Seele, das Endziel aller Erziehung, das Endziel des persönlichen Strebens. Und Schönheit, Schönheit des Leibes und der Seele, stand dabei in erster Linie. Das Schöne und Edle, lehren selbst die Philosophen,
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muß den ersten Platz einnehmen, dann folgt das Gerechte und zuletzt erst das Nützliche.
Entsprechend dieser erstrebten Harmonie war die Erziehung eine doppelte, eine geistige und eine körperliche. Für einen freien und edlen Mann sollte keine ohne bte andere sein, denn jene allein mache schlaffe Gemüter, biese aber rauhe unb toilbe Naturen. Die Mittel btefer hoppelten Erziehung nannten bte Griechen Musik unb Gymnastik: Musik in ihrem Sinne, bas siub bte Künste ber Musen, also vor allem auch bie Dichtkunst, selbst bte Philosophie mit eingeschlossen, imb Gymnastik, bas ist die Fülle der verschiedenartigen, wohlgeregelten körperlichen Übungen. Sie zusammen sollten einen schönen, möglichst vollkommenen Menschen schaffen; sie sollten den Staatsbürger bilden, denn der Hellene existierte nur im Staat als Glied desselben; sie sollten ihn befähigen, allen Pflichten des Bürgers zu genügen, sei es, daß er zur Teilnahme an der Verwaltung, zur Leitung der öffentlichen Angelegenheiten berufen werde, sei es, daß das Vaterland der waffenfähigen, tapferen und ausbauenden Söhne zn Schirm und Trutz bedürfe.
In Sparta gehörte daher das Kind schon seit seiner Geburt dem Staate an. Der Staat hatte bas Recht ber Entscheibnng über seine Zukunft, über Leben unb Tob. Schien bas neugeborene Kinb zu schwächlich, so griff er mit rauher Haub ein; es würbe ausgesetzt unb betn Zufall bes Daseins überlassen^ In Athen selbst hatte ber Vater bas gleiche Recht, unb bie Furcht vor Übervölkerung ober vor Zersplitterung bes Vermögens würbe auch Veranlassung, zuweilen von biesem Rechte Gebrauch zu machen, aber auch in solchem Falle wachte oftmals ein freundliches Geschick über bie Rettung bes Finblings.
Sonst war auch in Griechenlanb bie Geburt eines Kinbes ein srohes Familienereignis. Drei Tage danach fand das erste Fest statt; bie Thüre bes Hauses würbe mit Kränzen geschmückt unb bas Kinb um den Herd des Hauses getragen zur symbolischen Anerkennung als berechtigter Hausbewohner. Ant zehnten Tage würben bie Freunbe unb Verwanbten zu neuem Feste eingelaben, betn Feste ber Namengebung, wozu sie Geschenke barbrachten. Der Name — nur einer würbe gegeben — öfter von einem Gotte genommen, war nicht selten herkömmlich in einer Familie, wie er benn besoubers häufig vom Großvater auf ben Enkel überging. Wohlgewickelt — eine Sitte, welche allerbings spartanische Erziehung als zu weichlich verschmähte — in einem an Stricken aufgehängten Korbe gewiegt, auf ben Armen umhergetragen, von der Mutter oder häufiger von der Amme genährt, gedieh das Kind, wenigstens im wohlhabenden Hause, in sorgfältigster Pflege. Früh wurden ihm Kinderlieber vorgesungen, hübsche Geschichtchen erzählt, bie Phantasie aber auch mit Ammenmärchen erfüllt, bte mit ben vampirartigen Spukgestalten ber Lamien
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und dem Schreckbilde der Mormo (gespensterhafte Weibsgestalt) von allerlei Unarten zurückscheuchen sollten. Dann folgten die Fabeln des Äsop mit ihrer uralten und ewig jungen Weisheit und die Erzählungen von denHelden-. thaten der Vorzeit, die frühzeitig den Keim der Nacheiferung erweckten. Auch an Spiel und Spielzeug fehlte es dem Kinde nicht. Eine Klapper, mit raffelnden Metallstückchen gefüllt, war das erste Spielwerk, Auge und Ohr des Kindes zu fangen. Der Markt bot beständig eine Auswahl von Puppen, bemalten oder nnbemalten Figürchen von Thon und Wachs, auch mit beweglichen Gliedern; ein Rohr diente als Steckenpferd, das selbst König Agesilaus mit seinen Knaben ritt; man ließ Reif und Kreisel lausen, welcher letztere mit der Schnur losgelasfeu und mit der Peitsche angetrieben wurde.
Die Zucht des Hauses war strenge von seiten der Mutter, wie der Wärterin; denn auch diese hatte das Recht der Strafe. Früh galt es Folgsamkeit und gute Sitte zu erzwingen und gute Lehren wirksam zu machen. „Sobald", so läßt Plato den Protagoras sagen, „ein Knabe versteht, was andere sagen, wetteifern Ammen und Mütter, der Pädagog und der Vater miteinander, ihn nach Möglichkeit gut zu machen, indem sie ihn bei allem, was er thut, belehren, daß dieses recht, jenes unrecht, das eine schön, das andere häßlich sei, daher er denn das eine thut und das andere läßt. Gehorcht er von freien Stücken, so ist es gut; wenn nicht, so sucht man ihn wie ein verzogenes und gekrümmtes Holz durch Drohungen und Schlüge gerade zu machen."
Bis zum sechsten oder siebenten Jahre bleibt der Knabe so unter der Aufsicht der Mutter, gemeinsam erzogen mit den Mädchen in der Abgeschlossenheit des Hanfes. Die Mädchen bleiben auch ferner in der gleichen Zucht und Erziehung, einzig von der Mutter unterrichtet oder von den besseren Dienerinnen des Hauses, wenn anders diese etwas zu lehren hatten. Der Knabe aber wurde mit dem siebenten Jahre der Schule übergeben. Im wohlhabenden Hanse erhielt er einen beständigen Begleiter, den Pädagogen, der aus den älteren, zuverlässigsten und anständigsten Sklaven auserwählt wurde. Der Pädagog war nicht sein Lehrer, aber er hatte über Zucht und Anstand zu wachen und durfte sich den Gehorsam selbst durch Schlüge erzwingen. Er führte den Knaben zur Schule und holte ihn wieder ab.
Die Schule war nicht Sache des Staates, sondern Privatunternehmen eines Lehrers, der von dem Ertrage des Schulgeldes lebte. Lehrer und Schule standen aber unter der Aufsicht des Staates, nicht was den Unterricht, wohl aber was Sitte und Sittlichkeit betrifft. Es gab eigene Beamte dafür, Pädonomen, Schulinspektoren, und die höchste und letzte Aufsicht führte der Areopag, der oberste Wächter der öffentlichen Sitten. Es gab keinen Schulzwang; der Vater aber, der es unterließ, seinen Söhnen den nötigen Unterricht zu geben, erhielt vom Areopag eine Rüge.
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So war denn der Unterricht völlig allgemein. Der Staat hatte schon seit Solon noch weitere Bestimmungen gegeben; er kümmerte sich um die Dauer und die Zeit des Unterrichts und duldete z. B. nicht, daß die Schule vor Sonnenaufgang eröffnet oder nach Sonnenaufgang geschlossen wurde.
Aber früh mit Sonnenaufgang ging es in die Schule. Von allen Seiten eilten die Knaben herbei, die vornehmeren mit ihrem Pädagogen, der Bücher und Instrumente nachtrug, die ärmeren ohne Begleitung, alle aber zu Ruhe und Anstand gezwungen. So war es wenigstens der alte Brauch, wie ihn Aristophanes in den „Wolken" schildert:
„Erst durfte man nie von den Knaben Geschrei, nie trotziges Mucksen vernehmen;
„Dann zog aus jeder Gasse der Schwarm in die Citharaschule mit Anstand
„In dem düuusten Gewand durch die Straßen dahin, und stöberte Schnee wie der
Mehlstaub."
(Donner.)
Aus nichts wurde mehr gesehen, als auf die äußere Sittsamkeit und den Anstand in der Schule wie außerhalb derselben. Der Knabe ging
DaS Moraspiel. (Vasenbild.)
ans der Straße, so lautete die Vorschrift, gesenkten Hauptes, die Augen auf den Boden gerichtet, die Arme und Hände in die Falten seines Kleides gehüllt, älteren Männern, die ihm begegneten, mit Ehrfurcht ausweichend, selbst errötend, wenn er angesprochen wurde. Den Marktplatz, den Ort des Verkehrs der Männer, des Getreibes jeglicher Art, mußte er auf seinem Wege vermeiden, und am wenigsten durfte er sich dort aufhalten. Aber die Lustigkeit uud die Spiele der Jugend im Freien waren ihm darum nicht versagt. Der griechische Knabe kannte die Spiele alle,
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Altertum.
wie sie noch heute in Übung sind; er übte das Ballspiel in verschiedener Art, erkannte die Schaukel, die auch vorzugsweise von den Mädchen benutzt wurde; er hatte das Fingerzühlen, die Mora, (s. die Abbildung S. 109) wie sie heute die Italiener spielen, er hatte das Anwerfen mit Scherben oder Münzen, Klumpsack und Blindekuh, Jagen und Fangen, das Erraten der Zahl von Bohnen oder Nüssen in der geschlossenen Hand, das Anwerfen kleiner Sternchen, um sie wieder zu fangen, das Königsspiel, wobei einer der Knaben zum König erwählt wurde, anführte und gebot, die anderen gehorchten und seine Gebote ausführten. Er hatte auch wohl Spiele eigener Art, z. B. das Springen auf einen prall gefüllten Lederschlauch, der mit Fett bestrichen war, wobei es darauf ankam, im Sprung oben stehen zu bleiben und nicht hinabzugleiten, oder ein Seilziehen, bei welchem das Seil oben über einen Pfahl lief nnd es galt, den Gegner in die Höhe zu ziehen. Im Übermute wurde auch wohl ein Esel abgefangen und mit ihm ein kühner und grotesker Ritt ausgeführt, oder mit einem gravitätischen Bocke, wie uns Bilder uud Verse belehren, das Gleiche versucht. Auch die Obstbäume waren nicht sicher vor der kühnen Schar und ihren Steinwürfen. So klagt in einem Epigramm ein Nnßbanm, der am Wege steht:
„Wahrlich ein arges Ziel für den Schwarm der spielenden Knaben „Und für des Steinwurfs Wut pflanzten sie mich in den Weg "
lind über den Ritt auf dem Bock lautet ein Epigramm folgendermaßen „Spielende Knaben umschlangen, o Bock, mit der Binde des Maulkorbs „Dir Dein zottig Gebiß und mit dem purpurnen Zaum;
„Riugs um den Tempel herum vollbringen sie Kämpfe des Roßlaufs,
„Rasch und mit flüchtigem Lauf trägst Du die fröhliche Schar." — (Jacobs.)
Allzuviel Zeit, scheint es, blieb allerdings den Knaben zu solchem freien und fröhlichen Treiben nicht übrig, denn die Schule und die Übungen nahmen sie ziemlich den ganzen Tag in Anspruch. Bequemlichkeit gab es in der Schule nicht, noch war irgend eine solche Einrichtung an Bänken oder Tischen vorhanden, wie sie heute mit Rücksicht auf die Gesundheit ausgeklügelt wird. Das dürftige Gerät an Sitzen ohne Lehnen, auf denen der Knabe saß und schrieb mit der Schreibtafel auf dem Knie, war Sache des Lehrers. Es kam auch nicht selten vor, daß der Unterricht im Freien stattfand. Aber die Disciplin war strenge, und der Stock führte das Regiment. „Wird der Knabe zu einem Lehrer geschickt", so sagt Plato in der bereits oben angeführten Stelle aus dem Protagoras, „so wird diesem auferlegt, weit mehr auf die Sittsamkeit und auf das Betragen des Knaben, als auf die Fortschritte im Lesen und in der Musik zu achten." Aber auch Fehler im Lesen und in der Grammatik zogen leicht blaue Flecken nach sich. Sentimentale Humanität dieser Art kannte die griechische Schule nicht.
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Der Unterricht begann mit dem Lesen und Schreiben. Der Lehrer schrieb die Buchstaben vor, und der Knabe schrieb sie nach. Auf das Rechnen wurde in der Schule weniger Nachdruck gelegt; es lernte sich mehr nebenbei mit Hilfe von Rechensteinen, Äpfeln oder ähnlichen Zahl-mitteln. Wenn Lesen und Schreiben eingeübt waren, dann ging es gleich an die Dichter. Es war derjenige Unterricht, welcher die eigentliche Bildung der Seele herbeiführen sollte. Man hatte dabei so wenig eine Fülle von Kenntnissen im Auge, wie die Nützlichkeit der Dinge, die man lernte. Der Nutzen des Gelernten, die spätere Anwendung standen ganz außer Frage. Nur eins die Bildung des Geistes und der Seele war es abgesehen, auf die Ausbildung eines schönen, edlen, freien, hochgesinnten Gemütes. Darum standen die Dichter im Mittelpunkte alles geistigen Unterrichts. Es war schon zu Solons Zeiten so gewesen und änderte sich auch in späterer Zeit nicht, als wohl einzelne Disciplinen wie Zeichnen oder Geometrie hinzukamen. Weisheit oder Tugend durch die Lehre den Kindern beizubringen, das schien den Griechen unmöglich; denn so sagt Theognis:
„Könnte man Weisheit lehren den Sterblichen oder nur Klugheit,
„Stünde dem Vater der Sohn nimmer an Trefflichkeit nach,
„Wenn er folgte dem Wort des Belehrenden; aber die Lehre ^Wandelt ein schlechtes Gemüt nie in ein treffliches um. (Jacobs.)
Von der Beschäftigung mit den Dichtern aber erwartete man die Gewöhnung zur Liebe der Tugend und zum Haffe des Lasters; ihre Gesäuge und Lieder, glaubte man, würden sich wie Zaubersprüche der jungen Seelen bemächtigen und sie ohne Ahnung und Absicht, während sie nur ein Spiel schienen, ernsten Zielen entgegenführen. Vor allem glaubte man an die Wirksamkeit Homers, an die Wirksamkeit jenes Gemäldes heroischer Großthaten, das er von den eigenen Ahnen entrollte. Man verkannte nicht, daß auch in den Gedichten Homers mancherlei enthalten sei, was dem jugendlichen Gemüte nicht entspreche, aber man sah auf den Geist, der in ihnen lebte, aus die Begeisterung, die ihnen entstrahlte, aus den großartigen ©mit, mit dem Menschen und Dinge so ergreifend geschildert sind. Man glaubte zugleich, daß der Rhythmus, die Harmonie, der Wohllaut dieser Verse mäßigend, säuftigend, fittigend auf die Leidenschaften wirken würden. Zu Homer gesellten sich die gottesdienstlichen Hymnen mit ihrem wundervollen religiösen Inhalt und ihren uralten heiligen Sagen, die tüchtige Tagesklugheit Hesiods, die tiefe, leimige Weisheit der Spruchdichter, die begeisternden Verse eines Thr-täns und seiner Genossen, die zur Liebe des Vaterlandes, zur Ausdauer, zur Tapferkeit, zum Opfertode für Stadt und Land entflammten und begeisterten. Wie ein Wunder standen fast alle diese Dichter schon am Anfange der griechischen Geschichte, wenigstens lange vor der Höhezeit, um das Volk zu dieser selber heranziehen zu können.
112 Altertum.
In den Schulen wurden diese Dichter fortwährend gelesen, abgeschrieben, auswendig gelernt und — gesungen. Denn von Anfang an gesellte sich zur Dichtkunst die Musik als ihre unzertrennliche Genossin. In ältester Zeit waren Dichter und Musiker dasselbe gewesen, und erst seit den Zeiten Platos begann die Musik sich vom Worte zu lösen und eine selbständige Kunst zu werden, womit sie in der Achtung eher sank als stieg. Wer Musik als Profession trieb, der galt als Handwerker und erfreute sich geringen Ansehens; als Teil der Erziehung, der Bildung aber waren Gesang und Zitherspiel eine Zierde des freien Mannes; schon bei Homer sang und spielte Achilles; für einen Epaminondas selbst, den Schüler der Philosophen, den siegreichen Lenker des Staates und des Heeres, galt es als ein Ruhm, daß er ein guter Musiker und selbst Tänzer sei. Man trieb die Musik in der Schule, nicht um ein Mittel des Vergnügens, der Unterhaltung zu haben, sondern man schrieb der Musik reinigende und bildende Kräfte zu; man trieb sie um der edlen Wirkung willen, welche sie auf die Seele üben sollte. „Die Erziehung in der Musik", sagt Plato, „ist deshalb so wesentlich, weil Rhythmus und Harmonie in das Innere der Seele dringen, sie auf das kräftigste bewegen und ihr Maß und Haltung geben." Ebendeshalb durfte die Musik in der Schule auch nicht jenen virtuosen, gauklerischen Charakter haben, der es auf Kunststücke und Künsteleien absieht; edle, einfache, würdevolle Melodieen sollten die Worte begleiten.
Die Musik gehörte auch seit Lykurgs Zeiten zur spartanischen Erziehung, und sie hatte hier umsomehr den Zweck, auf das Gemüt einzuwirken, als das andere Element der musischen Erziehung, nämlich das wissenschaftliche, bei weitem mehr zurücktrat, als in Athen und anderen griechischen Staaten. In Athen hatten Musik — das Wort im antiken Sinne genommen — und Gymnastik vereinigt die Bestimmung, einen geistig uud körperlich möglichst vollkommenen Menschen zu bilden, in Sparta dagegen kam es nur darauf an, wehrhafte Bürger oder, fast richtiger gesagt, die vollkommensten, ausdauerndsten Soldaten zu schaffen. Dasjenige, was außer Lesen unb Schreiben, das schnlmäßig gelehrt wurde, zu wisfeu nötig sei, werde der Knabe schon aus dem Umgange mit ben älteren Männern erlernen, unb btefer Umgang würbe auch in Sparta von frühe an begünstigt, toährenb zu Athen ber Knabe vielmehr aus ber Männergesellschaft ausgeschlossen war. Mit ber Richtung ber Erziehung auf ben Krieg waren baher körperliche Übung, körperliche Abhärtung , Ertragung von Beschwerben jeder Art in Sparta Absicht unb Ziel ber Erziehung, in Athen nur bas Mittel. In Sparta war ber Krieger bas Enbziel, in Athen ber freie, unabhängige hochgesinnte Mann. Diesen brauchte das Vaterland hier, jenen dort.
Während daher in Athen die Erziehung frei war, auch die gym-
Falke: Griechische Jugenderziehung.
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nastische, nahm in Sparta der Staat die Knaben alsbald vom siebenten Jahre an in seine eigene Hand. Er erzog sie wie junge Soldaten gemeinsam in Kasernen.' Die Altersgenossen wurden znsammengethan und bildeten Abteilungen und Unterabteilungen, jede unter der Führung des tüchtigsten Knaben ans ihrer Mitte, das Ganze unter der Leitung des Pädonomos, welcher Vorstand der Jugenderziehung war. Der L>taat kannte kein Erbarmen: er hielt die Jugend in eiserner Zucht, ließ sie aufwachsen in mitleidloser Härte. Vom zwölften ^zahre an genügte ein kurzer Mantel unverändert als Kleidung für Sommer und Winter; die Füße blieben unbeschuht; das Lager war hart und kalt, von den Knaben selbst aus dem Schilf des Eurotas ohne Hilse eines Messers zusammengerafft. Eine einfache und knapp zugemessene Nahrung sollte früh an Entbehrung gewöhnen. Dem Hungernden war aber Diebftahl von Nahrungsmitteln erlaubt; ja, derselbe wurde gern gesehen, wenn er mit kühner List und Erfolg — einer Übung für den Krieg — ausgeführt worden; wehe aber dem, der ungeschickt war und sich ergreifen ließ! Hunger und Geißelhiebe waren die Strafe.
Den Geist des jungen Spartaners zu schärfen, überließ man dem Umgänge, dem steten Zusammenleben. Die Neckereien und Spöttereien reizten zu Witz und schneller Antwort; je treffender sie kam in „lakonischer Kürze," je mehr fand sie Beifall. Die gymnastischen Übungen dagegen wurden schulgemäß getrieben und nahmen nicht bloß den Knaben und Jüngling, sondern auch den jungen Mann bis zum dreißigsten Jahre in Anspruch. Erst dann wurde er, obwohl längst ein Krieger, so zu sagen der Schule entlassen. Ihrer Art nach waren die Übungen keine anderen, wie die überall in Griechenland gebräuchlichen — nur waren die rohe-» ren Kämpfe, die zur Athletik führten, ausgeschlossen. Dennoch war man in den Staaten, wo man eine freiere und humanere Auffassung des Lebens halte, nicht mit der spartanischen Art einverstanden: Sparta sei ein ununterbrochenes Kriegslager; sein Leben gleiche einem ewigen Gesäng-nis, aus dem nur der Tod erlöse; und nicht die wilden Naturen, meinten die Philosophen wenigstens, seien es, woraus sich das Vaterland in Gefahren verlassen könne, sondern die edelgesinnten.
In Athen, wie gesagt, waren die gymnastischen Übungen der Jugend frei, das heißt, ohne den Zwang des Staates; der Staat übte nur die Sittenaufsicht und baute und erhielt für die Erwachsenen die öffentlichen Gymnasien. Waren von diesen die alteren Knaben auch nicht ausgeschlossen, so geschah der schulmäßige Unterricht ber Jugend doch in Privatschulen, welche, gleich den musischen Schulen von Lehrern auf ihre eigenen Kosten eingerichtet und gehalten waren. Die Einrichtung war nicht von Bedeutung, denn die gymnastischen Übungen ber Griechen geschahen ohne ben gewaltigen Apparat von Gerüsten, ben unsere Turnplätze nötig haben. Diese
Aus allen Jahrhunderten. 8
114 Altertum.
Schule führte den eigentlichen Namen Palästra, welcher Name später zu erweiterter Bedeutung kam und dann mit dem des Gymnasiums fast gleichbedeutend gebraucht wurde.
Im größeren Teile Griechenlands, zumal in Athen, und allem, was seiner Art folgte, war es nur das männliche Geschlecht, welches der Gymnastik oblag. Das Mädchen, in der Stille und Abgeschlossenheit des Hauses gehalten, konnte mit Tanz und Schaukel, mit Ball- und Knöchelspiel oder Ähnlichem die Bewegung und Unterhaltung suchen, deren es bedurfte. Die Übungsstätten waren ihm verschlossen, wie die öffentliche
Schule, wie die Welt überhaupt. Nur die öffentlichen Feste, zu denen die Mädchen in Chören und Tänzen mitwirkten , führten sie aus dem engen Kreise des Hauses hinaus in das Leben, in den Verkehr der Jünglinge und der Männer.
Anders in Sparta und den übrigen dorischen Staaten. Hier wuchsen die Mädchen freier und ungezwungener auf. Der Verkehr mit den Knaben und Jünglingen war
ihnen keineswegs versagt oder durch die häusliche Sitte unmöglich gemacht. Feste, Tänze und Spiele führten sie häufig zusammen. Hier in Sparta trieben die Mädchen auch gemeinsame gymnastische Übungen, Laufen, Ringen und Springen. Sie hatten die Übungen nicht, wie man auch wohl gemeint hat, gemeinsam mit den Knaben, noch hatten sie diese zu Zuschauern.
Mit dem vollendeten sechzehnten Jahre schloß gewöhnlich der schul-mäßige Unterricht ab. Jeder freie Hellene sollte ihn in dieser Weise wie einen regelmäßigen Kurs durchmachen. Danach aber gingen wenigstens
I
Das Knöchelspiel.
Falke: Die äußere Entwickelung des römischen Staates. 115
die gymnastischen Übungen noch fort, mit denen die Waffenübungen, Reiten und Fechten, dann die Unterhaltungen der erwachsenen Jugend, der jungen Männer, in Verbindung traten. Aber auch die geistige Bildung war nicht immer abgeschlossen, denn gar viele, die sich dem höheren Dienst doo Staates widmeten, bedurften der Rechts-- und Gesetzeskunde, der Verwaltungskunde und der Beredsamkeit, die mancherlei Künste und Kenntnisse erforderte. Es war auch seit den Zeiten des Perikles, seit den Zeiten, da die jonischen Philosophen nach Athen herübergekommen, ein unbezwing-Iicher Wissens- und Bildungsdrang unter den Hellenen, zumal in Athen entstanden. So strömten denn die jungen Männer, die Söhne der Vornehmen und Reichen — denn dieser Unterricht war kostspielig — nach Vollendung des normalen Schnlganges noch in die Schulen der Rhetoren, Sophisten und Philosophen.
XVI.
Die äußere Entwickelung des römischen Staates.
(I. von Falke).
Sollte das Mittelmeer ringsum mit seinen anliegenden Ländern, wie es vom Lenker der Weltgeschichte bestimmt war, ein Weltreich bilden, das die Strahlen antiker Kultur in eins zusammenfaßte, so konnte nur Italien der Ausgangspunkt fein, nur ihm konnte die Herrschaft zufallen. So sehr scheint es durch Lage und Beschaffenheit bestimmt zu dieser Rolle. Ungefähr gleichen Weges westwärts bis zur Straße des Herkules und ostwärts bis zur syrischen Küste scheint die langgestreckte Halbinsel von Nord nach Süd das Meer fast in der Mitte zu durchschneiden. Im Norden mit dem steilen Gürtel der Alpen von jenen damals noch
barbarischen Völkerschaften getrennt, denen die neue Geschichte gehören
sollte, erreicht es mit seiner steilianischen Südspitze fast die Küste Afrikas
und nähert sich der Südgrenze der antiken Kultur. Rechts und links
scheint ihm so die Herrschaft über das Meer zu gebühren. Stark und fest zusammengefügt durch die Kette der Apenninen, nicht zerrissen und zerlegt durch Gebirge und Buchten gleich Griechenland, bietet es die Bedingungen der Einheit, des Einheitsstaates. Eine mannigfache Produktion, nicht allzuhohe Berge, lachende Thäler, weite, fruchtreiche Ebenen, ein mildes, glückliches Klima sind ihm zu teil geworden. Mit Gnaden überhäuft, hat es auch die höchste landschaftliche Schönheit zur Mitgift erhalten, nicht jene, die mehr Erhabenheit als Schönheit ist, die in der Gewaltthätigkeit der Natur, in wilden und grandiosen Bergformen, in
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Altertum.
der menschen- und pflanzenleeren Öde, in eis- und schneebedeckten Gipfeln und finsteren Schluchten ihren Ausdruck findet, sondern jene Schönheit des stilleren Zaubers, der wechselnden, sanft geschwungenen Linien und anmutig bewegten Formen, jene Schönheit, welche in der Tiefe und Sättigung der Farben, in dem Reichtum ihrer Töne von höchster Kraft bis zum zartesten Hauche, in der Reinheit der Luft, endlich in dem Reize des Lichts besteht, das alles verklärend umspielt.
So scheint Italien, wie zur Herrschaft über das Meer, so auch zur höchsten Kultur bestimmt, wenn anders ein von Natur begabter Volks-stamm es war, der es zu seinem Sitze erkor. Und das geschah durch jene den Hellenen nahverwandten Völkerschaften, die vielleicht früher schon aus der gleichen Heimat in Vorderasien aufgebrochen waren, von der Apenninischen Halbinsel Besitz zu ergreifen. Schon vor ihnen gab es Bewohner in Italien. Sie wurden von den Ankommenden so in den südlichen Winkel zurückgedrängt und nach und nach so von ihnen, man möchte sagen, ausgezehrt, daß uns nichts als der Name übrig geblieben; wir wissen nicht, wes Stammes, welcher Herkunft sie waren.
Die Ankömmlinge, die Verwandten der Hellenen — wir fassen sie unter dem Namen der Italiker zusammen — erreichten Italien auch nicht in geschloffener Masse, sondern bereits in zwei getrennten Stämmen, der Latiner und Sabeller, von denen dieser wieder in eine Anzahl von Völkerschaften zerfiel, in Umbrer, Sabiner, Samniten, Volsker it. s. w. Die Latiner waren wohl die ersten. Zusammengedrängt behielten sie feste Sitze in Latium, jener breiten Landschaft am linken Ufer des Tiber, südlich der Mündung. Die sabellischen Völkerschaften, voran die Samniten, zogen auf die Höhen des Gebirges, behielten im Gebirge ihre Sitze, aber sandten von hier aus ihre junge Mannschaft, ihre „heiligen Frühlinge," strahlenförmig in die Ebenen zu Eroberungen und Ansiedlungen.
Aber die Italiker blieben nicht die einzigen Bewohner der schönen, verlockenden Halbinsel. Von zwei Seiten her fanden sie Gegner und Mitgenossen. Von Norden oder Nordosten her kam ein barbarischer, gänzlich unbekannter vielnamiger Volksstamm, Etrusker, Tusker, Tyr-rheuer, Rhüter genannt, der, so viel er zu allen Zeiten von sich reden gemacht hat, dennoch, was Verwandtschaft, Herkunft, Sprache betrifft, immer ein Rätsel geblieben ist. Er drängte die Italiker abwärts und setzte sich rittlings auf den nördlichen Apenninen fest, reichend von Meer zu Meere, von der Adria bis znm Tyrrhenischen Meere, von der Mündung des Po bis zur Mündung des Arno. In Berührung mit handeltreibenden und Kolonteen gründenden Griechen wnrden die Etrusker selber ein Seevolk, auf Handel und Seeraub gleich bedacht, und gründeten eine Kultur, die auch noch der Rätsel viele bietet. Aber auch sie vermochten nicht zu behaupten, was sie an Sitzen eingenommen hatten. Zu einer
Falke: Die äußere Entwickelung des römischen Staates. 117
Zeit, als es in Griechenland schon helle Geschichte gab, brachen eeltische Völkerschaften durch die Alpen herein, nahmen die weite Ebene des Po zu beiden Seiten des Flusses ein und verdrängten die Etrusker völlig von der Adria, daß ihnen nur etwa übrig blieb/ was heute Toskana heißt, das Land von der Mündung des Arno bis zur Mündung des Tiber. So geschah es nördlich. Vom Süden her waren es die griechischen Ko-lonieen, die zu beiden Seiten, im Westen und Osten, immer zahlreicher wurden, immer höher nordwärts drangen, die Italiker vom Meere abschlössen und endlich gleich den Tuskern selbst von Meer zu Meere reichten, daß das Land von ihnen den Namen Großgriechenland erhalten konnte. Aber drängten sie die Italiker zurück, legten sie ihnen zum Teil selbst ihre Herrschaft auf, so gaben sie ihnen dafür, was dieselben nicht hatten, Schrift, Maß, Gewicht und viele andere Mittel des Verkehrs und Künste der Kultur.
So etwa in großen Zügen angedeutet, hatte sich die Bewohnerschaft Italiens festgestellt zu jener Zeit, als Rom aus dem Dunkel seiner sagenhaften Vorgeschichte heraustrat, seinen Weltruf zu erfüllen. Anfangs ein offener Ort, zwischen Hügeln sich ausbreitend, deren kleinster und steilster seine Burg, die Zufluchtsstätte in Kriegsgefahr, bildete, inmitten einer-weiten, aber nicht flachen Ebene, die keineswegs eines besonders gesunden Klimas sich ersreute, so schien die Latinerstadt durchaus nicht von der Natur begünstigt. Aber wie Italien die Mitte des künftigen Weltreichs einnahm, so lag Rom in der Mitte Italiens, gerade recht, seine Eroberungskreise weiter und weiter, einen hinter den andern zu ziehen. Am linken Ufer des Tiber wenige Stunden vor der Mündung des Muffes gelegen, konnte es der Seehandel mit feinen Schiffen erreichen, und doch war es sicher gegen plötzliche Überfälle der Seeräuber oder feindlicher Flotten. Eine Grenzstadt gegen Etrurien auf einem Übergangspunkte des Tiber und durch diesen selber geschützt, war es in vorderster Linie zugänglich dem friedlichen und ausgesetzt dem feindlichen Verkehr. So war die ackerbauende Bevölkerung, die den aristokratischen Kern bildete, doch zugleich hingewiesen ans den Handel und den Krieg, auf die See und auf das Land.
Die Sage hat von dem friedlichen Verkehr wenig Erinnerungen erhalten, desto mehr von den Kriegen und Fehden, welche Roms Geschichte unausgesetzt begleiten sollten vom ersten Ansang bis zum letzten Ende. Im ersten Ringe sind es die verwandten Latinerstädte, Alba an der Spitze, mit denen die Kriege geführt werden. Das Resultat dieser ersten Periode, der Periode der Könige, ist die Hegemonie Roms im Bunde der Latinerstädte. Rom ist aus der einfachen Stadt das Haupt Latiums, das Haupt seiner eigenen, ihm verwandten Landschaft geworden. Nun kommt es in eint Epoche, die mit der Gründung der Republik beginnt und wiederum
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mehrere Jahrhunderte begreift, der zweite Ring, der Kampf mit den italischen Völkerschaften und den Etruskern, welche nördlich den Umkreis schließen. Rasch ist der Erfolg nicht. Kein glänzendes Schlachtgenie bezwingt die Gegner auf einen Streich, kein Staatsmann weiß die Besiegten so zu fesseln, daß sie nicht aufs neue den Kampf um Sieg, Freiheit und Selbständigkeit versuchen. Zweimal im Anfang dieser Epoche stand Rom selbst am Rande des Abgrunds, einmal da es dem Etrusker Porfenna erlag und dann, als es von den Galliern überrannt wurde; aber die Stürme konnten es biegen, nicht brechen. Diese Fülle ausgenommen, schloß das werdende Rom niemals einen Frieden nach einer Niederlage. So groß die Macht der Gegner ringsum, so zähe und tapfer der immer neu sich erhebende Widerstand, so drohend ihre Vereinigung, zäher, ausdauernder, unerschütterlicher noch zeigte sich die gestählte, nie schwankende Natur der Römer. Niemals waren sie größer, niemals leuchteten ihre Tugenden Heller, als in dieser Epoche. Erst beugten sich die Vvlsker und Äquer, daun sanken Fidenä und Veji in den Staub, dann mußten in weiterem Kreise nach langen Kämpfen die Sabiner, Umbrer, Samniten, ganz Etrurien die Herrschaft Roms anerkennen, und als nach diesen auch die griechischen Städte sielen, da gehorchte ganz Italien, der gallische Norden noch ausgenommen, dem Gebote der Römer. Das war 266 Jahre vor Christi Geburt, 488 Jahre, seitdem man die Gründung der Stadt rechnet.
Fünf Jahrhunderte also hatten sie gebraucht, bis so weit ihr Geschick zu
erfüllen.
Bis so weit, denn in diesem stetigen, wenn auch langsamen Fortschritt war es unmöglich stehen zu bleiben: jeder Krieg führte neue Feinde,
neue Verwicklungen herbei. Schon hatten die letzten Kampfe einen frem-
den Gegner auf den Boden Italiens gerufen. In Pyrrhus hatten die Römer die überlegene griechisch-macedonische Kriegskunst kennen gelernt, und nur mit dem, was sie von ihm gelernt hatten, war es gelungen, des kühnen Abenteurers Herr zu werden. Dann erstand ihnen, nun schon außerhalb Italiens, ein mächtigerer, ihnen völlig gewachsener Gegner in Karthago und rief sie auf die See uud bald über die See nach Afrika und Spanien. Karthago hatte unbestritten damals die Herrschaft über die westliche Hälfte des Mittelländischen Meeres; sie zu bezwingen mußte Rom selber eine Seemacht werden, mußte Flotten auf Flotten bauen, wie sie den Stürmen oder den Gegnern erlagen, mußte seine Heere nach Sicilien, dem ersten Zankapfel des Krieges, nach Sardinien, nach Spanien und Afrika hinüberführen. Zwei lange, gewaltige Kriege, wie sie Rom bis dahin nicht geführt hatte, brauchte es, die mächtige, an Mitteln unerschöpfliche, aber von Parteien zerrissene, vom Egoismus beherrschte Gegnerin zu demütigen, einen dritten Krieg, sie zu vernichten und vom Erdboden verschwinden zu machen. Schwankend und nicht mit gewohnter Energie wurde
Falke: Die äußere Entwickelung des römischen Staates.
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ber erste geführt, bis bte Erschöpfung einen leiblich vorteilhaften Frieben, in Wirklichkeit mehr einen Waffenstillstanb herbeiführte. Karthago, bte finge Stabt, fand neue Kriegsmittel, neue Heere in Spanien unb in ber Familie ber Barkiben große Männer, sie zu unerhörten Siegen zu führen. In Hannibal, Harnilkars Sohn, erstanb ben Römern ein genialer Gegner, wie ihre ganze Geschichte feinen zweiten kennt; nicht selber haben sie einen Felbherrn hervorgebracht, ber ihm an bie Seite zu stellen wäre. Groß unb großmütig, klug unb erfinderisch, kühn unb besonnen, führte er ben Krieg burch ben Krieg, feine Mittel sinbenb in ber Größe feines Geistes unb in ber Stärke feines Charakters. Fast von ber Heimat verlassen, hielt er fünfzehn Jahre lang ben Krieg in Italien aufrecht; selber unbezwungen, erfocht er Sieg auf Sieg bis zur Vernichtung ber feinbüchen Heere; Nieberlagen erlebten bie Römer gleich ber zu Cannä, wie sie beren nicht gesehen hatten, unb mehr benn einmal war es nur bie Unzulänglichkeit seiner Kräfte, welche Hannibal von ben Thoren Roms zurückhielt. Nur bie Gefahr feiner Vaterstabt rief ihn nach Afrika zurück. Wenn er bei Zama ben Sieg verlor, so war es Karthago, bas Rom erlag, nicht Hannibal bem Sci-pio. Die unerschütterliche Ausbauer ber Römer, bie nur größer würben im Unglück, trug ben Sieg bavon. Mit Hannibal
war Karthago verloren. Wenn es noch einmal bie Waffen erhob, so war es nur ein hoffnungsloser Kampf ber Verzweiflung, ein Enbe mit allen Schrecken unb Schaubern, aber mit Ruhm unb Ehren. (146 v. Chr.).
Aber bis bahin, bis Karthago bem jüngeren Seipio erlag unb vom Erbboben verfchwanb, waren bie Römer auch nach anberen Seiten weit über bie Grenzen Italiens hinausgeschritten. Zwischen ben ersten unb
PyrrhuS.
120 Altertum.
zweiten pumschen Krieg fällt die Bezwingung der Celten im nördlichen Italien und damit die Unterwerfung der Poebene, die als Gallia eisalpina noch nicht zu Italien gerechnet wurde. Bald darauf führten die illyrischen Kriege römische Heere unb Flotten über das Adriatische Meer hinüber und brachten Rom in unmittelbarere Berührung mit Griechenlaub unb bem eifersüchtig wachsamen Philipp von Macebonien. Spanien fiel als Beute bes zweiten pumschen Krieges, boch kostete es immer erneuerte, immer blutigere unb grausamere Kämpfe, bis ber Unabhängigkeitssinn ber Iberer gebrochen, bie spanischen Provinzen beruhigt waren. Enblich war es mehr bie römische Kultur als bas römische Schwert, welches bie Pyreuäische Halbinsel zu einem wirklichen unb bleibeuben Beftanbteile bes römischen Weltreichs machte. Der Besitz von Spanien zeigte bie Notwendigkeit direkter Landverbindung mit Italien, und so wurde auch das südliche Gallien römische Provinz. Rechnet man die numidischen Könige als gehorsame Bundesgenossen hinzu, so war der Ring der römischen Herrschaft um die Westhälfte des Mittelmeeres mit dem Fall Karthagos geschloffen.
Fast zur selben Zeit schon war mit der Ostseite das Gleiche geschehen. Zwischen dem zweiten und dritten pumschen Kriege erlag in zwei Kriegen Macebonien, bas Stammlanb Alexanbers bes Großen. Schon vor seinem Enbe waren römische Heere über ben Hellespont gegangen, hatten im syrischen Kriege einen anbeten hellenistischen König, Antiochus von Syrien, ber sich ben Großen nannte, bezwungen unb unschäblich gemacht. Ein Teil Kleinasiens würbe römische Provinz, im anberen blieben Stabte unb Fürsten gehorsam unb ergeben bem Worte Roms. Mit Griechenland bem uneinigen unb zerrissenen, hatten ber römische Senat unb bie römischen Felbherren aus ehrfurchtsvoller Achtung vor hellenischer Geistesbildung noch eine Zeitlang ein gebulbiges Zusehen gehabt, enblich machten sie ben Wirren ein Ende, unb in bemselben Jahre ber Zerstörung Karthagos ging mit bem grausamen Schlußeffekt ber Zerstörung Korinths auch bie griechische Freiheit zu Grunbe.
So konnte man bei ber Demütigung Syriens und der Schwäche Ägyptens, das sich selbst in ben römischen Schutz stellte, das Reich bes Mittelmeers, wenn auch noch lange nicht tiollenbet, boch als einen geschlossenen Ring betrachten. Was bazwischen noch unabhängig schien, lebte nur noch burch bie Gnade ber Römer. Stück um Stück fiel es bem Weltreiche anheim, wenn feine Zeit gekommen war. Der etwaige Wibcr-stanb bebeutete nur ein Tobeszucken. So fiel Kreta, so Rumibien, bas Reich bes verschlagenen Jugurtha, so enblich Syrien, so Pontus unb Armenien.
Peter: Wert und geschichtlicher Gehalt der römischen Königsgeschichte. 121
XVII.
Wert und geschichtlicher Gehalt der römischen Lönigsgeschichte.
(C. Peter).
Unsere Hauptquelle für bie römische Königsgeschichte ist Titus Livius. Außer ihm giebt es nur noch einen Quellenschriststeller, von bem wir eine zusammenhüugenbe, ausführlichere Darstellung ber Königsgeschichte. besitzen. Das ist Dionysius von Halikarnaß. Beibe haben ihre Werke in ber Zeit bes Augustus verfaßt, also in betreff ber Königsgeschichte über ein halbes Jahrtausenb nach ben Ereignissen, bie sie berichten. Sie haben ihre Kenntnis hauptsächlich aus ben sogenannten Annalisten geschöpft, bie zuerst bie römische Geschichte von ben ältesten Zeiten an nach ber Orb-nnng ber Jahre aufzuzeichnen begonnen haben, von benot aber auch bie ältesten, Q. Fabius Pictor unb Cincius Alimentus, nicht über bie Zeit bes zweiten punischen Krieges zurückreichen. Nun haben biese Annalisten allerbings für bie Zeit nach ben Königen einen Anhalt an mancherlei gleichzeitigen Aufzeichnungen gehabt, z. B. an ben sogenannten Annettes Maximi, chronikenartigen Aufzeichnungen, bie von bem Pontifex Maximus Jahr für Jahr angefertigt unb öffentlich ausgestellt würben, ferner an ben Privatchroniken, bie in einzelnen Familien geführt würben, an ben Verzeichnissen ber Magistrate unb an allerlei Urknnben, bie im Verlauf ber Zeit immer zahlreicher würben unb beren Aufbewahrung in Rom Gegenstanb befonbercr Sorgfalt war. Aber für bie Königszeit gab es bis auf einige wenige Urfunben gar nichts bergleicheu. Die Schreibkunst ist in Rom wahrscheinlich erst unter unb mit bem älteren Tarquinius eingeführt unb in ben ersten Zeiten selbstverstänblich nur sehr sparsam angewenbet worben. Wir hören bemnach aus ber Königszeit nur von zwei Urkuubeu, bie sich bis in bie spätere Zeit erhalten haben sollen; unb auch beren Echtheit ist nicht ohne Grnnb bezweifelt worben. Diese sinb bas Bünbnis, welches unter Servius Tullius zwischen ben latinischen St übten abgeschlossen würbe, unb ein Bunbesvertrag zwischen Rom unb Gabii, welcher nach bem Zeugnis bes Dionysius von Halikarnaß, ber bie Urkuube noch selbst gesehen haben will, auf eine über ein Brett gezogene Kuhhaut geschrieben war. Daß jene chronikartigen Auszeichnungen nicht schon unter ben Königen ftattfanben, geht schon baraus hervor, baß uns bie Ereignisse biefer Zeit nicht nach Jahren georbnet überliefert sinb. Eben so wenig kann selbstverstänblich in Bezug auf jene Zeit von Verzeichnissen ber Magistrate bie Rebe sein.
Außer ben Werken bes Livius unb Dionysius besitzen wir zwar auch für bie Königszeit noch eine ziemliche Menge einzelner, zum Teil wert-
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voller Notizen. Allein auch diese beruhen auf keinem anderen Grunde, als die Darstellung des Livins und Dionysius oder der Annalisten.
Unsere Nachrichten über diese Zeit können sonach im wesentlichen nur auf mündlicher Überlieferung beruhen. Da aber durch diese eine so ausführliche Kunde, wie wir sie besitzen, unmöglich fortgepflanzt sein kann, so muß ferner angenommen werden, daß die späteren Aufzeichner vielerlei ergänzt und ausgeführt haben. Schon hieraus ergiebt sich, daß der geschichtliche Wert dieser Nachrichten nur ein sehr bedingter und zweifelhafter sein kann. Die mündliche Überlieferung pflegt ihren Stoff im Lauf der Zeit vielfach umzugestalten, sie liebt es, einzelne Persönlichkeiten hervorzuheben und unter ihrem Namen weit auseinander liegende Vorgänge zusammenzufassen, sie kehrt sich wenig an die Zeitfolge, sie verändert den historischen Hintergrund, sie schmückt aus, sie erweitert, zieht aber auch wieder zusammen, endlich hat sie bei jugendlichen Völkern namentlich auch den Trieb, natürliche Vorgänge in das Gebiet des Wunderbaren hinüberzuspielen. Und dazu kommt nun noch die Zuthat der Aufzeichner, die das, was sie vorfanden, in Zusammenhang zu bringen suchten, die aus dem, was die Überlieferung bot, oder auch aus bestehenden Einrichtungen und Sitten, wohl auch aus bloßen Namen Schlüsse zogen und die Ereignisse oder Zustünde auf eine frühere Zeit übertrugen, die überhaupt ohne alle Kritik verfuhren und ihren Stoff zwar nicht durch absichtliche Erdichtungen, die wir nur in wenigen einzelnen Füllen anzunehmen haben, wohl aber durch allerlei Willkürlichkeiten, durch Phantasiespiele und Verirrungen der Reflexion entstellten.
Wie wir aber hiernach schon aus allgemeinen Gründen annehmen müssen, daß die Königsgeschichte nur einen sehr bedingten historischen Wert habe, so wird dies auch durch die wirkliche Beschaffenheit derselben aufs vollkommenste bestätigt.
Es wird kaum nötig sein, an die zahlreichen Beispiele von Wundern und sonstigen Vermischungen der Götter- und Menschenwelt zu erinnern, welche alle den sagenhaften Charakter dieser Geschichte verraten, wie wenn Romulus der Sohn eines Gottes ist und endlich auch selbst zu den Göttern erhoben wird, wenn Nurna und Servins Tnllins Göttinnen zu Gemahlinnen haben, wenn letzterer ebenfalls Sohn eines Gottes ist, wenn Tullus Hostilius von Jupiter im Zorn durch den Blitz erschlagen wird, wenn dem älteren Tarqninins seine hohe Bestimmung durch einen von den Göttern gesandten Adler, dem Servius Tullius durch eine göttliche» Flamme angezeigt wird u. s. w. Ferner aber: wird man es glauben wollen, wenn alle wesentlichen bürgerlichen Einrichtungen auf Romulus, die religiösen auf Nurna als Schöpfer und Urheber zurückgeführt werden, während diese Dinge vielmehr überall die Mitgift der Völker aus ihrer frühesten unbewußten Entwickelungsperiode bilden? Nicht minder uu-
Peter: Wert und geschichtlicher Gehalt der römischen Königsgeschichte. 123
glaublich ist es, daß sieben Könige nacheinander geherrscht haben sollen, von denen jeder seine besondere bestimmte Bedeutung hat, so daß jeder an seinem Teile als Mitgründer des römischen Staates angesehen werden kann. Denn wie Romnlus und Numa die bürgerlichen und religiösen Einrichtungen geschaffen haben, so gilt Tullns Hostilins als der Gründer eines dritten Stammes der Patricier, der Lucerer, Aucus Marcins als der Schöpfer des plebejischen Standes, Tarqninius Priscus als der Urheber der politischen Macht und des äußeren Glanzes der Stadt (ihm wurden die ältesten mächtigen Bauwerke Roms zugeschrieben, von denen
Cloaca maxima.
sich Überreste, wie die Cloaca maxima, bis auf den heutigen Tag erhalten haben), Servins Tullius als der Schöpfer der Ceuturiatverfassung und des darin enthaltenen Keimes zu der Ausgleichung beider Stände, während endlich Tarqninins Superbus die Ausartung des Königtums repräsentiert, die nicht minder ihre besondere Darstellung erforderte, um die Vertreibung der Könige zu motivieren. Nicht minder auffallend ist es ferner, daß wie in Romulus und Remns, in Romnlus und Tatins, fo auch in der wechselnden Aufeinanderfolge von Königen aus romulifchem und sabinischem Stamme (Romulus, Numa, Tullus Hoftilius, Aucus Marcius) der schon erwähnte Dualismus des römischen Staates zum Vorschein
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Altertum.
kommt. Sodann ist aber auch die Zahl der sieben Könige von der Art, daß sie gerechte Bedenken erregt, teils an sich, weil sie eine heilige Zahl ist, teils weil es kanm glaublich ist, daß eine Zeit von 244 oder nach einer andern, wahrscheinlich ursprünglicheren Rechnung von 240 Jahren durch sieben gewählte, in gereifterem Alter zur Herrschaft gelangende Könige, von denen überdem nur zwei eines natürlichen Todes und im Besitze des Thrones gestorben sind, ausgefüllt sein sollte, während z. B. bei den Dogen von Venedig, so lange ihre Wahl in ähnlicher Weise stattfand, wie sie von den römischen Königen berichtet wird, auf jeden derselben nicht mehr als 1212 Jahre als Durchschnittszeit ihrer Regierung kommen. Endlich erregt auch noch die Zahl von 240 Jahren, wofern tun; diese als die echte und ursprüngliche annehmen, einiges Bedenken, da sie gerade das Doppelte der Zahl von Jahren ist, die zwischen der Vertreibung der Könige und dem Brande Ronis liegen, ein Verhältnis, das man kanm als zufällig wird ausehen wollen.
Hierzu kommen aber noch mancherlei besondere Unwahrscheinlichkeiten oder Widersprüche. Es ist kaum denkbar, daß man wiederholt Fremde, wie Tarquinius Priscns, wie Servius Tullius, auf den Thron gehoben haben sollte, während bekanntlich die Alten durchweg sogar hinsichtlich der Aufnahme von Fremden ins Bürgerrecht ungemein schwierig waren. Wie kann ferner Tarquinius Superbus der Sohn des Tarquinius Pris-cus und bereits beim Regierungsantritt des Servius Tullius erwachsen sein, so daß ihm dieser König seine Tochter verheiraten kann, dann nach einer 44 jährigen Regierung des Servius Tullius noch selbst 24 Jahre regieren und nach seiner Vertreibung noch 15 Jahre in der Verbannung leben? Wie kann Juuius Brutus sich wahnsinnig stellen und allgemein dasür gelten uud gleichwohl die wichtige Stelle eines Tribunus Celerum bekleiden? Wer wird es glauben, daß die benachbarten Völker, nachdem sie von Romulus fortwährend durch Eroberungskriege gereizt worden, der Stadt während der 43 jährigen Regierung des Nnma einen nie unterbrochenen Frieden gewährt haben sollen? Sollte Gabii, wie die Überlieferung berichtet, mit Gewalt unterworfen und gleichwohl, wie ebenfalls berichtet wird, ein Bundesvertrag mit ihm abgeschlossen worden fein? Und ist es nicht endlich ein offenbarer Widerspruch, wenn z. B. die Einsetzung der Auguren bald dem Romulus, bald dem Numa, und eben so die der Fetialen bald diesem letzteren, bald dem Ancns Mareius beigelegt, und wenn Numa der Gründer des Vcstatnenstes durch die vestalischen Jungfrauen genannt wird, während schon Rhea Silvia, die Stammmutter des römischen Volkes, in der Sage als Vestalin erscheint?
Es ist demnach kein Zweifel, daß wir in der Zeit der Könige überall auf einem schwankenden, unsicheren Boden stehen. Wir werden anzunehmen haben, daß nicht Rom von Romulus seinen Namen be-
Peter: Wert und geschichtlicher Gehalt der römischen Königsgeschichte. 125
kommen hat, sondern daß Romulns selbst nicht nur seinen Namen, sondern seine ganze Existenz Rom verdankt, welches einen Gründer haben mußte, und den daher die Sage ihm in Romulns verlieh. Ebenso wird auch die Persönlichkeit des Numa kaum aufrecht zu erhalten sein. Doch ist kein Grund vorhanden, daran zu zweifeln, daß z. B. Römer und Sabiner sich zu einem aus zwei Stämmen bestehenden Volke vereinigt, daß zu diesen zwei Stämmen noch ein dritter, der der Lueeres, hinzugekommen, daß der Stand der Plebejer durch Ausnahme von Latinern in das römische Bürgerrecht entstanden, daß unter den letzten Königen Rom nicht nur seine Herrschaft über das Gebiet der latinischen Städte ausgedehnt, sondern auch im Inneren in Bezug auf die Verfassung und seine sonstige innere Entwickelung große Fortschritte gemacht habe. Endlich wird auch in Bezug auf den Sturz des Königtums die Überlieferung im wesentlichen festzuhalten und demnach anzunehmen sein, daß die Reihe der Könige mit einem Tyrannen geschlossen habe, der durch seine Grausamkeit und Willkür eine Vereinigung der angesehensten Männer und eine Umwälzung herbeiführte. Andere Ereignisse find wenigstens ihrem Kern nach in der Überlieferung zu erkennen. So ist zwar die Zerstörung Albas durch die Römer unhistorisch; dagegen steht der Annahme nichts entgegen, daß Alba von andern, vielleicht von den sich gegen seine Oberhoheit auflehnenden Latinern zerstört und Rom durch Aufnahme zahlreicher Albaner vergrößert worden sei, die bei dieser Voraussetzung süg-lieh unter den günstigsten unb ehrenvollsten Bedingungen Ausnahme finden konnten. Allein ob es sieben Könige, ober mehr, ober weniger gegeben, wie viele Jahre bie ganze Königszeit, wie viele die Regierungszeit jedes einzelnen Königs gefüllt habe, ob die verschiedenen Vorgänge, die an sich für historisch gelten können, sich unter diesem oder jenem Könige ereignet haben, dies alles wird freilich immer dahin gestellt bleiben müssen.
Was wir im vorstehenden über die Königsgeschichte bemerkt haben, das gilt, wie sich denken läßt, in noch viel höherem Grade von der Vorgeschichte Roms, also von den latinischen Königen Janns, Satnrnns, Faunus und Latinus, von des Äneas Ankunst in Italien und von der 400 jährigen Geschichte Albas von seiner Gründung durch Aseanius bis aus Amulius und Nunütor herab. Hier kann noch weniger von gleichzeitigen Aufzeichnungen die Rede fein, und auch an sich ist die Überlieferung noch weniger glaubhaft als für die Königsgeschichten. Janus, Saturnus und Faunus sind nicht ausgezeichnete Könige, die, wie die Sage berichtet, zu Göttern erhoben worden sirtb, sondern altlatinische Götter, welche die Sage aus die Erde hat herabsteigen und unter ihren Verehrern segensreich walten lassen, itrtb auch Latinus unb Äneas sirtb nichts als bie Stammgötter (bie clii indigetes) von Lavininm unb Lan-rentum; unb wenn ber letztere mit ber Sage vom trojanischen Kriege ver-
126 Altertum.
flochten wird, so ist dies nichts anderes, als was auch sonst von mehreren italischen Städten (Präneste, Lanuvium, Ardea, Antinm, Politorium u. a.) behauptet wurde, und ist durch den Einfluß des griechischen Cumä und durch dessen Zusammenhang mit der trojanischen Sage genügend zu erklären. Was endlich die lange Reihe der albanischen Könige anlangt, so ist deren Wesenlosigkeit schon an dem Umstande deutlich zu erkennen, daß uns die Überlieferung nichts als die bloßen leeren, überdem immer wiederkehrenden Namen von ihnen bietet.
Gleichwohl ist diese ganze Überlieferung, so wenig sie uns auch eine sichere, glaubhafte Geschichte Roms sür die Zeit bis zur Vertreibung der
Könige bietet, für uns nicht ohne historischen Wert, weil sie bis auf die
wenigen, in unserer obigen Darstellung bereits hervorgehobenen einzelnen Punkte burchaus echt römisch unb ein Erzeugnis bes eigenen nationalen Geistes ber Römer ist unb bemnach, wenn nicht ein Mittel, so boch selbst ein nicht unwichtiges Objekt ber historischen Erkenntnis bitbet. Wenn im Wiberspruch hiermit behauptet worben ist, baß sie ber Phantasie der Griechen und deren Wunsche, sich die Gunst ber mächtigen Römer zu erwerben, ihren Ursprung verbanke, so wiberlegt sich bies baburch, baß sie ihren Hauptbestandteilen nach älter ist, als biese Bemühungen ber Griechen, unb baß sie überall mit römischen Einrichtungen unb Gebräuchen unb Örtlichkeiten aufs engste verflochten ist, bie ben Griechen unmöglich so genau bekannt sein konnten. Wir erinnern in bieser Beziehung nur an den Vestakult, an das Fetialenrecht, an die Auspicien, von denen namentlich die letzteren eine so große Rolle spielen, und an das Kapitol, au den RuminaUfchen Feigenbaum, an den Lacus Cur-tius u. a.
Eben dieser Umstand, daß sie echt römisch ist, verleiht ihr aber auch noch in einer andern Hinsicht einen nicht unbedeutenden historischen Wert. Wenn auch das Gebäude der Thatsachen vielfach aus unhistorischen Bestandteilen zusammengesetzt ist, so ist dies doch viel weniger mit der Grundlage der inneren Zustände der Fall, auf der dieses Gebüube aufgeführt ist. Diese inneren Zustänbe bilben gleichsam ben ruhenden, weniger beweglichen, bie Phantasie weniger heraussorbernben Bestanbteil ber Überlieferung unb lassen sich also in viel höherem Grade als historisch annehmen. Und hierzu kommt noch, daß bei ihnen eine gewisse stetige, nach bestimmten Gesetzen sich entwickelnd Fortbilbung vorauszusetzen ist, unb baß also Schlüsse unb Kombinationen aus diesem Gebiete vielmehr zu leisten im staube sinb, als auf bem ber äußeren Thatsachen.
Wir sinb beshalb im staube, über Verfassung, Religion, Sitten unb Gebräuche auch in betreff ber Königszeit mancherlei zu erkennen ober boch mit großer Wahrscheinlichkeit zu vermuten.
Schwegler: Die Lage der Plebejer nach dem Sturze des Königtums. 127
XVIII.
Die Lage der Plebejer nach dem Sturze des Königtums.
(A. Schwegler.)
Daß der Sturz des Königtums von den Patriciern ausgegangen ist, daß einzig der patricische Geschlechteradel dadurch gewonnen, die Plebs dagegen nur verloren hat, kann einer aufmerksamen Betrachtung nicht verborgen bleiben. Die Könige hatten über den beiden Parteien gestanden; diese ihre übergeordnete Stellung hatte ihnen ebenso den Beruf, wie die Macht gegeben, zwischen denselben zu vermitteln, auf eine Ausgleichung des Gegensatzes, der die Nation spaltete und lähmte, hinzuwirken, eine Unterdrückung oder Vergewaltigung der plebejischen Gemeinde durch die patricische Bürgerschaft zu verhindern. Ja, es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Könige die Plebs begünstigt haben und, um den Ansprüchen des Geschlechteradels ein Gegengewicht gegenüberzustellen, auf ihre Hebung bedacht gewesen sind. Die Plebs verlor folglich mit dem Sturze der Könige ihre natürlichen Patrone, ihre Beschützer gegen den patricischen Stand; wogegen die Patricier infolge jener Umwälzung nicht bloß aufhörten unter dem vermittelnden Regiment von Königen zu stehen, sondern auch in den Besitz der Staatsgewalt traten, die bisher von den Königen ausgeübt worden war, uud die sie von jetzt an als Partei und ausschließlich im Interesse ihres Standes ausübten.
Die Überlieferung erzählt, der herrschende Stand habe in den ersten Jahren der Republik, so lange eine monarchische Gegenumwälzung zu befürchten und der vertriebene Tarqninius noch am Leben gewesen sei, ein gerechtes und gemäßigtes Regiment geführt, die Gemeinde zuvorkommend und rücksichtsvoll behandelt. Namentlich wird berichtet, der Senat sei auf die Nachricht, daß Porfeuna, um den vertriebenen Tar-quinius zurückzuführen, gegen Rom ziehe, der Plebs mit allen möglichen Gunstbezeigungen entgegengekommen, in der Besorgnis, sie möchte die Wiedereinsetzung des vertriebenen Königs dem Kriege vorziehen. Er habe daher, um sie für die neue Ordnung der Dinge zu gewinnen, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zu verbessern gesucht; habe, um die hohen Kornpreise herabzudrücken, auf Rechnung des Staates Getreide aufgekauft; habe den Salzhandel der Privatspekulation entzogen und zum Staatsmonopol gemacht, um billigere Salzpreise ansetzen zu sonnen; habe die Eingangszölle abgeschafft und das niedere Volk von der Steuer entbunden. Als dagegen die Nachricht von Tarqninius Tode in Rom angelangt fei, habe der herrschende Stand begonnen, übermütig zn werden, die Plebejer als Knechte zu behandeln uud ein despotisches Regiment zu führen.
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Altertum.
An diesen Überlieferungen ist unstreitig so viel wahr, daß der Plebs bei bcr Grünbung bcr Republik politische Zugeständnisse gemacht worden sind, um sic für bie neue Staatsordnung zu gewinnen. Dahin gehört bic Einführung oder Wiederherstellung der Centurienverfassung, die Aufnahme von Plebejern in den Senat, wofern diese Nachricht gegründet ist, endlich das Malerische Provoeationsgcsctz. Auch sonst mag bcr herrschend Staub, so lange bie neue Verfassung noch nicht gesichert war, ein entgegenkommendes und gewinnendes Benehmen gegen die Plebs beobachtet haben.
Nur darin kann man der Tradition feinen Glauben schenken, wenn sie die Veränderung im Benehmen der Machthaber und die Gärung der Plebs erst im Jahre 259 (d. i. 495 v. Chr.) als dem angeblichen Todesjahr des Tarquiuius, eintreten läßt; denn schon das Jahr darauf, 260, (494 v. Chr.) kam cs zum Bruch zwischen beiden Ständen und zur Auswanderung der Plebs. Die Beweggründe dieser Auswanderung lagen in der sehr unbefriedigenden und gedrückten Lage, in welcher sich die Plebs in politischer, rechtlicher und am meisten in wirtschaftlicher Hinsicht befand.
In politischer Hinsicht: denn am Regiment hatte sie feinen Teil; sie hatte nur zu gehorchen. Der Einfluß, den sie durch die Wahl bcr Magistrate aus bie Regierung ausübte, war äußerst gering. Denn freie Wahl sictrtb ihr nicht zu; sie hatte nur über bic vom Senat vorgeschlagenen Kanbibaten abzustimmen; der Vorsitzenbe bcr Wahlversammlung, ein patri-cischer Magistrat ober Jntcrrcx, hatte bas Recht, Stimmen abzulehnen, ober bie Versündigung des Gewählten zu verweigern; die vollzogene Wahl bedurfte noch der Bestätigung der Knrien; endlich waren nur Patricier wählbar. Es erklärt sich unter diesen Umständen, daß bie Plebs mehr als einmal bie Komitien ober bas Marssclb verlassen hat, ohne abzustimmen. Verhinbert, ben Männern ihres Vertrauens ihre Stimme zu geben, wollte sie lieber gar nicht abstimmen, als Gegner ihres Stanbcs wählen. Ebenso einflußlos war die Plebs in der Gesetzgebung, da sie des Rechts, selbst Gesetzesanträge zu stellen, ermangelte und nur über die Gesetzesvorschläge, die der Senat an die Centuriatkomiticn bringen ließ, abzustimmen hatte. Solcher Gesctzesvorschläge aber sind damals nur wenige eingebracht worden: von der Gründung ber Republik ein bis zum Dccemvirat werben nur bret Gesetze erwähnt, bie in Centuriatkomiticn beschlossen worben sind. Wie ans den Motiven der Decemviralgesetzgcbung hervorgeht, so war bis auf diese Zeit das geltende Recht fast durchaus ungeschriebenes Gewohnheitsrecht. Kurz, der Plebs fehlte es au jedem verfassungsmäßigen Organ, um ihre Anliegen und Bedürfnisse auch nur zur Sprache und Verhandlung zu bringen; es fehlte ihr jedes Mittel, um auf gesetzlichem Wege eine Verbesserung ihrer Sage herbeizuführen, eine Erweiterung ihrer
Schwegler: Die Lage der Plebejer nach dem Sturze des Königtums. 129
Rechte zu erwirken. Nicht einmal freies Reden für und wider fand in den von einem Konsul berufenen Volksversammlungen statt.
Nicht günstiger war die Lage der Plebs in Beziehung auf ihren persönlichen Rechtsstand. Zwar erstreckte sich das Valerische Provokationsgesetz, das jeden Bürger berechtigte, von dem Ausspruche der Magistrate, wenn er auf Tod oder Züchtigung lautete, Berufung an das Volk einzulegen, auch auf die Plebs, gewahrte ihr aber feinen hinreichenden Schutz. Denn das Recht der Provokation ist von den patricischen Magistraten, da es nicht durch Strafandrohungen geschützt war, nie sehr gewissenhaft geachtet worden; auch sonnte es in jedem Augenblick durch Bestellung eines Diktators zeitweilig außer Kraft gesetzt werden. Gab der Konsul der Provokation keine Folge, so fehlte dem Plebejer jedes gesetzliche Mittel, sich Recht zu verschaffen oder den gesetzwidrig handelnden Magistrat zur Verantwortung zu ziehen. Provokation war überdies nur gegen solche Strafurteile statthaft, die auf Tod oder körperliche Züchtigung lauteten; indem Rechte, Geldbußen oder Gefängnisstrafen nach Gutdünken zu verhangen, war der Konsul bis zur Lex Aternia Tarpeja (300 d. St. 454 v. Chr) völlig unbeschränkt.
In der Civilrechtspflege mußte der Mangel eines geschriebenen, der allgemeinen Kenntnis zugänglichen Rechts für die Plebs um so drückender sein, da die Rechtspflege in den Händen der Patricier war. Nur die Patricier besaßen die Kenntnis des Rechts und seiner Handhabung, namentlich der sogenannten Formeln, in welchen jeder Rechtsanspruch gerichtlich geltend gemacht werden mußte, wenn die Klage Erfolg haben sollte. Diese Kenntnis erbte sich, einer Geheimlehre ähnlich, im patricischen Stande fort. Auch an welchen Tagen gerichtliche Verhandlungen vorgenommen wurden, an welchen nicht, war nur den Patriciern bekannt. Über alle diese Dinge mußte der Plebejer, um eine gerichtliche Klage anstellen, einen Prozeß einleiten zu können, sich vorher bei einem Patricier Rats erholen. Man ermesse hieraus, in welcher Abhängigkeit vom herrschenden Stande die Plebs bei dieser Einrichtung der Rechtspflege gestanden hat.
Am schlimmsten aber war die Lage der Plebs in wirtschaftlicher Beziehung. Es wird einstimmig überliefert, daß der nächste und unmittelbarste Beweggrund der ersten Auswanderung die wirtschaftliche Not und die grenzenlose Verschuldung gewesen ist, in der sich der größte Teil der Plebs damals befunden hat.
Es fragt sich vor allem, was diesen außerordentlichen Notstand der Plebs herbeigeführt hat. Die Tradition giebt mehrere Ursachen an: die feindlichen Einfälle und Verheerungen, den unaufhörlichen Kriegsdienst, endlich die unter diesen Umständen doppelt erschöpfenden Steuerauflageu.
Die Besteuerung lastete viel härter auf den Plebejern, als auf den
Aus allen Jahrhunderten. g
130 Altertum.
Patriciern. Das Tributum (die Steuer) war nämlich Grundsteuer: der Maßstab, nach dem es bestimmt wurde, war nicht das reine Vermögen, sondern das liegende Grundeigentum. Es wurden also bei der Berechnung und Umlage des Tributum weder den Plebejern ihre Geldschulden in Abzug gebracht, noch den Patriciern ihre ausgeliehenen Kapitalien angerechnet. Hierzu kam die große Unbilligkeit, daß der patricische Gläubiger als Pfandinhaber der Grundstücke seines Schuldners die Nutznießung derselben hatte, während die Entrichtung der Steuer von diesen Grundstücken dem plebejischen Schuldner oblag.
Außerdem waren die Patricier bei der Steuerumlage insofern im Vorteil gegen die Plebs, als ihr Grundbesitz zum größeren Teil in Besitzungen am gemeinen Feld bestand; diese aber waren nicht steuerbar. Die Plebejer dagegen hatten keinen Teil am Ager Publicus, sondern nur Grundeigentum, das steuerbar war.
Die damalige Steuerverfassung war folglich zum Nachteil der Plebejer, die als Grundeigentümer einen großen Teil des römischen Bodens besessen haben mögen, aber sehr verschuldet waren; sie war in gleichem Maße vorteilhaft für die Patricier, die mehr Kapitalvermögen als Grundeigentum besaßen. Überdies war es für den Landmann, der nur Naturalien producierte, viel schwieriger Zahlungen in Geld zu leisten, als für den Patricier, der Kapitalien besaß.
Daß nämlich die Patricier die Kapitalisten des damaligen Roms gewesen sind, geht ans vielfachen Anzeichen hervor. In den beiden Epochen plebejischer Schuldennot, deren die römische Geschichte gedenkt, in der unglücklichen Zeit vor der ersten Auswanderung der Plebs und in den Zeitläufen nach der gallischen Verwüstung stehen sich als Gläubiger und Schuldner immer Patricier und Plebejer gegenüber. Der patricische Stand erscheint als der eigentliche Kapitalistenstand; der Kampf über das Schuldenwesen, über Schuldentilgung und Zinsfuß war zugleich ein Kampf der beiden Stände. Wie diese Erscheinung, der Geldreichtum der Patricier, zu erklären isi, darüber giebt uns die Tradition keine Auskunft. Vielleicht darf man, besonders in Betracht des karthagischen Handelsvertrags, den Rom schon i. I. 509 v. Chr. geschlossen haben soll, die Vermutung wagen, daß die Patricier damals nicht bloß Ackerland, sondern auch Seehandel getrieben haben, und daß sie sich infolge hievon, welches auch sonst die Lage der Republik sein mochte, immer im Besitz von barem Gelde befunden haben. Als Grund der Verarmung und Verschuldung der Plebs werden die zerstörenden Wirkungen des Kriegs, die Verwüstungen der Fruchtfelder, die Einäscherung der Meierhöfe angegeben. Aber diesen Nachteilen waren die Patricier ebenso gut ausgesetzt, als die Plebejer, sie müssen folglich, wenn sie nicht gleichfalls verarmt, sondern reiche Kapitalisten geblieben sind, noch eine andere Einnahmequelle gehabt haben, als den Ackerbau.
Schwegler: Die Lage der Plebejer nach dem Sturze des Königtums. 131
Auch der Kriegsdienst lastete schwerer auf der Plebs, da sie nur an den Opfern und Gefahren, nicht aber am Gewinn des Kriegs teil hatte und vom Genusse der eroberten Ländereien ausgeschlossen war. Selbst die Kriegsbeute ist nicht selten den Truppen entzogen und für Rechnung des Staatsschatzes, vielleicht sogar zum Besten der patricischen Bürgerschaft verkauft worden.
So konnte es nicht ausbleiben, daß der größte Teil der Plebs tief verschuldet war. Diese Schuldennot aber mußte in rascher Progression zunehmen und den wirtschaftlichen Ruin des Schuldners vollenden, da der Zinsfuß, als in einer geldarmen Zeit und bei einem ackerbautreibenden Volke, bei welchem Handel und Gewerbesleiß noch in der Kindheit standen, außerordentlich hoch war. Zahlte der Schuldner die verfallenen Zinsen nach Verslnß des Jahres nicht, so wurden sie — denn ein Darlehen war nur auf ein Jahr — zum Kapital geschlagen, und so wuchs das Schuldkapital durch die aufgelaufenen Zinsen, bis der wirtschaftliche Ruin des Schuldners vollendet war.
Zu diesem wirtschaftlichen Elend kam die Strenge des alten Schuldrechts. Wer unter der damals gewöhnlichen Form Geld auf Zinsen lieh, der haftete mit feiner Person für die Erfüllung der übernommenen Verbindlichkeit. Kam er ihr nicht" nach, ließ er die Zahlungsfrist verstreichen, so führte ihn der Gläubiger in die Schuldknechtschaft ab. In dieser Haft aber wurden die Schuldknechte mit großer Härte behandelt; sie wurden in Zwangshäusern zum Arbeiten angehalten, oft unter schweren körperlichen Mißhandlungen, denen sie schutzlos preisgegeben waren. Um ihr Entweichen zu verhüten, wurden sie gefesselt, mit Ketten, Hals- oder Beinreifen angeschmiedet, auch mit Fußblöcken oder eisernen Gewichten beschwert. Erschien nicht ein Vindex, der sie durch Zahlung der Schuld aus der Knechtschaft befreite, so konnten sie ihr Leben in diesem Zustande vertrauern, wofern der Gläubiger es nicht vorzog, sie als Sklaven in die Fremde zu verkaufen.
Durch die Knechtsdienste des Schuldsklaven suchte sich der Gläubiger für den ihm erwachsenden Zinsenverlust zu entschädigen: nur war dies nicht der Hauptgesichtspunkt und Hauptzweck der Schuldknechtschaft. Wir finden ja auch die Nexi (die Schuldkuechte) jener Zeit nicht mit Ackerbau oder anderer nutzbringenden Arbeit beschäftigt, sondern in den Häusern ihrer Gläubiger eingekerkert und mit Fesseln beschwert, wobei eine nutzbare Verwendung derselben für jene Zeit nicht recht denkbar ist. Man darf sich also die Sache nicht so vorstellen, als ob die Nexi durch ihre körperliche Arbeit ihre Schuld abverdient hätten, als ob der Geldwert ihrer Dienste in Anschlag genommen und von der Schuld abgerechnet worden sei, so daß durch langjährige Dienstbarkeit völlige Tilgung der Schuld und Freilassung hätte bewirkt werden können. Die Haupt-
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132 Altertum.
absicht des Gläubigers war vielmehr durch die Gefangenhaltung des Nexus und die Zumutung von Knechtsdiensten einen Zwang auf den Schuldner auszuüben, ihn und seine Angehörigen dadurch anzuspornen, alle Kräfte zur Herbeischaffung von Zahlungsmitteln aufzubieten, ähnlich, wie ein Pfand nicht unmittelbar zur Befriedigung des Gläubigers dienen, sondern nur ein Mittel sein soll, um dem Schuldner durch die Nachteile des längeren Entbehrens der Pfandsache die Erfüllung seines Versprechens abzunötigen.
XIX.
Die Kämpft der Plebs mit den Patriciern.
(A. Schwegler).
Die Plebs hat in ihrem Kampfe mit dem Geschlechtsadel ein gemäßigtes und berechtigtes Ziel verfolgt und dieses Ziel nicht durch Anwendung von Gewalt, sondern auf gesetzlichem Wege erreicht.
Was die Plebs in ihrem Kampfe mit den Patriciern erstrebt hat, war anfangs Sicherstellung gegen den Mißbrauch der konsularischen Gewalt, später die Teilnahme an der Regierung oder, was hiermit zusammenfällt, die politische Gleichstellung mit dem patricischen Stande. Daß gegen die erste Forderung der Plebs nichts einzuwenden ist, versteht sich von selbst; gegen willkürliche Gewalt geschützt zu sein, dieses Recht hat jeder Bürger eines Staats anzusprechen. Aber auch bei der zweiten Forderung war die Plebs in ihrem Recht. Es ist ein naturrechtliches Gesetz, vou dem schon die Servische Verfassung ausgeht, daß die politischen Rechte eines Bürgers mit seinen Verpflichtungen und Leistungen für den Staat in Übereinstimmung stehen, daß jeder Staatsbürger so viel politische Geltung hat, so viel Einfluß auf die Regierung ausübt, als er zu dem Bestände des Staats beiträgt. In dieser Beziehung nun konnte sich die Plebs mit dem Geschlechtsadel recht wohl messen. An Kopfzahl war sie den Patriciern weit überlegen. Auf der Plebs beruhte die Wehrkraft Roms: sie stellte den Kern des Heeres, das Fußvolk, so wie die Mehrzahl der Reiterei. Die Plebs war es auch, welche den größern Teil der Steuern zahlte. In Beziehung auf das Vermögen stand sie den Patriciern nicht nach; ja, was vom römischen Boden Grundeigentum war, befand sich vermutlich zum größern Teil in den Handen der Plebs. Kurz, die Existenz des römischen Staates beruhte ebeu so sehr auf der Plebs, als auf dem Patriciat. Wenn die Plebs unter diesen Umständen bestrebt gewesen ist, ihre rechtlose und gedrückte Lage zu verbessern, politische Gleichstellung mit den Patriciern zu erringen, so kann man ihr nur recht geben. Auch der Erfolg hat dies gethan. Denn die
Schwegler: Die Kämpfe der Plebs mit den Patriciern. 133
Aufnahme der Plebs ins volle Bürgerrecht, ihre Gleichstellung mit dem Geschlechtsadel hat eine Verjüngung der Republik herbeigeführt, und es ist auf diese politische Reform das nach anßen thatkräftigste, nach innen gesundeste Zeitalter Roms gefolgt.
Auch in Beziehung auf die Mittel, mit welchen die Plebs ihren Kampf mit den Patriciern geführt, verdient sie alle Anerkennung. Obwohl durch manches Unrecht herausgefordert, hat sie doch nie Gewalt gebraucht, sondern sich immer auf gesetzlichem Boden gehalten- Sie hat überhaupt in diesen Kämpfen große Mäßigung an den Tag gelegt. Die Tribunen (die plebejischen Magistrate) hatten sie immer nur zu spornen, nie zu zügeln.
Ihre Waffe war der passive Widerstand. Wurde bei den Konsulwahlen vom Vorsitzenden der Wahlkomitien unrechtmäßig verfahren, so begnügte sie sich, auf die Wahl zu verzichten uud das Marsfeld zu verlassen. Befehligte das Heer ein verhaßter Konsul, so ließen sie sich von dem Feind in die Flucht schlagen, um ihrem Bedränger nicht den Sieg und die Ehre eines Triumphes zu erringen: aber zu einer Empörung des Heeres ist es nie gekommen. Besonders charakteristisch sind die zwei Auswanderungen der Plebs. Kam es in den griechischen Staaten zu einem Konflikt zwischen den Oligarchen und dem Demos, so vertrieb dieser, wenn er der Stärkere war, die Oligarchen aus der Stadt. Auch in den deutschen Freistädten des spätern Mittelalters ist es häufig vorgekommen, daß die Geschlechter von den Zünften mit Waffengewalt ausgetrieben und verbannt worden sind. In Rom dagegen hat die Plebs den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Statt die Patricier aus der Stadt zu vertreiben, ist sie selbst ausgewandert, um-durch diesen Schritt den herrschenden Stand zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Das äußerste Zwangsmittel, das sie gegen die Patricier anzuwenden wagte, war die Drohung, sie werde im Notfall aus dem Staatsverbande ausscheiden und ein abgesondertes, selbständiges Gemeinwesen gründen.
Die Haltung, welche die Plebs in ihrem Kampfe mit den Patriciern beobachtet hat, wird von Livins wiederholt mit dem Ausdruck „modestia“ bezeichnet, ein Urteil, mit dem man nur einverstanden sein kann. Dieser Charakter der Plebs ist ohne Zweifel davon herzuleiten, daß sie eine ackerbautreibende Bevölkerung war. Schou im Altertum ist die Wahrnehmung gemacht worden, daß Bevölkerungen, die vom Ackerbau leben, sich für olig-archische Verfassungen besonders eignen, Handelsstaaten und seefahrende Völker dagegen einen entschiedenen Zug zur Demokratie haben. Diese Erfahrungsthatsache erklärt sich von selbst. Der Landmann ist an seine Scholle gefeffelt. Seine Arbeiten und Geschäfte sind ihm durch den Wechsel der Jahreszeiten genau und streng vorgeschrieben und kehren jedes Jahr gleichförmig wieder. Der Gesichtskreis, in dem er sich bewegt, ist eng. Er harrt jedes Jahr ängstlich auf den Verlauf der Naturprozeffe, weil feine
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Existenz davon abhängt. Diese Lebensart erzeugt in ihm einerseits den Sinn für Ordnung, andererseits ein Gefühl der Abhängigkeit. Da er seine Heimat nie verläßt, von den Sitten und Einrichtungen fremder Völker nichts erfährt, so hält er sich an das Herkommen, an die Überlieferungen seiner Vorfahren. Hieraus erklärt sich der geduldige Sinn und das bedächtige Vorwärtsschreiten der römischen Plebs.
Der Kampf der römischen Stünde bildet insofern einen Lichtpunkt in der Geschichte des Altertums, als er auf gesetzlichem Wege und durch organische Entwickelung des Bestehenden eine zeitgemäße und innerlich berechtigte Reform der römischen Verfassung herbeigeführt hat. Man kann diesem Kampfe, defsen stetiger und folgerichtiger Verlauf ebeuso für den politischen Beruf des römischen Volks, wie für die moralische Tüchtigkeit der damaligen Römer zeugt, kein zweites Beispiel aus der alten Geschichte an die Seite stellen: er ist einzig in seiner Art. Das langsame, bedächtige, ausdauernde Vorwärtsschreiten der römischen Plebs, die gesetzliche Haltung, die sie in jenen erbitterten Kämpfen jederzeit bewahrt hat, ist beispiellos in der Geschichte der antiken Oligarchien. Auch das zeichnet die römischen Parteikämpfe jener Epoche aus, daß sie, so leidenschaftlich sie auch geführt wurden, doch nie in Bürgerkriege ausgeartet, sondern jedesmal friedlich beigelegt worden sind, sei es durch gegenseitiges Übereinkommen, sei es durch Nachgiebigkeit des einen Teils. Gerade hierin bildet der Kampf der römischen Stände einen augenfälligen Kontrast gegen die gleichzeitigen Parteikämpfe der Hellenen, die einen völlig verschiedenen Charakter tragen.
In Griechenland sind die politischen Parteikämpfe nicht, wie in Rom, auf gesetzlichem Boden und mit gesetzlichen Mitteln gekämpft worden, sondern die Waffe, der sich die Parteien gegeneinander bedienten, war die nackte Gewalt. Noch mehr: die Parteikämpfe der griechischen Staaten bieten ein empörendes Schauspiel von frevelhaften Gewaltthaten. Es geht durch sie ein Geist blutdürstigen Parteihasies; sie sind mit Greueln aller Art, mit Ausbrüchen unmenschlicher Grausamkeit befleckt. In den griechischen Staaten und Kolonien standen sich die Parteien wie feindliche Heere gegenüber; keine Partei ließ eine Gelegenheit vorüber, der andern zu schaden; jede ging darauf aus, ihre Gegnerin zu vernichten, und sie scheute, um diesen Zweck zu erreichen, vor keiner Frevelthat zurück. Mit einem Wort: diese Kämpfe geben ein trauriges Bild sittlicher Verworfenheit. Auch Thucydides knüpft an seine Schilderung der haarsträubenden Greuelthaten, welche der Demos zu Korcyra an den gefangenen, wehrlosen Aristokraten verübt bat, erschütternde Betrachtungen über die Entsittlichung und moralische Begriffsverwirrung seiner Zeit.
Von welcher Gesinnung die politischen Parteien gegeneinander beseelt waren, beweist der Schwur, durch welchen sich die Oligarchen in
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ihren Hetärien (Vereinigungen) zu grundsätzlicher Feindseligkeit gegen den Demos verpflichteten. Dieser Eid lautete so: „Dem Demos will ich feindselig sein und alles Böse, was ich weiß, gegen ihn ersinnen." Der Demos seinerseits gab den Oligarchen an unversöhnlichem Parteihaß nichts nach.
Die gewöhnlichen Waffen, mit welchen die Parteien einander bekämpften, waren Mordwaffen — Schwert oder Dolch. Auch Meuchelmord, auch Justizmord wurden nicht verschmäht. Daß die Oligarchen sich ihrer politischen Widersacher durch Meuchelmord entledigt haben, ist mehrfach bezeugt. Die Dreißig, die nach Beendigung des pelopouuesischen Krieges in Athen herrschten, haben in ihrem Parteiinteresse fünfzehnhundert Bürger ohne Urteil und Recht hinrichten lassen. In Korinth wurden etliche Jahre nach dem peloponnesischen Kriege die Männer der Friedenspartei, die es mit Sparta hielten, an einem Festtage aus offenem Markt von den Demokraten überfallen und niedergemacht: nicht einmal derjenigen wurde geschont, die sich zu den Altären oder Standbildern der Götter geflüchtet hatten. Eine ähnliche Greuelthat wird aus Argos berichtet, wo um Ol. 102, 3 (370 v. Chr.) der von den Demagogen aufgereizte Demos sechzehnhundert Bürger, die reichsten und angesehensten Männer der Stadt, mit Keulen erschlug. Aber jeden andern Frevel übertreffen durch rohe Grausamkeit die Greuelthaten, die der entmenschte Demos in Korcyra zu wiederholten Malen, im fünften Jahr des peloponnesischen Kriegs Ol. 88, 2, (427 v. Chr) und wiederum im siebenten Jahr dieses Kriegs Ol. 88, 4 (425 v. Chr.) an den gefangenen Oligarchen verübt hat: empörende Greuel, die alles weit hinter sich lassen, was znr wildesten Zeit der französischen Revolution geschehen ist.
Kam es zum offenen Krieg zwischen beiden Parteien, so endigte dieser in der Regel damit, daß der siegende Teil den besiegten ans der Stadt anstrieb. Diese Austreibungen und Verbannungen sind nicht zu zählen. Zur Zeit des peloponnesischen Krieges und nach demselben wimmelte Griechenland von Flüchtlingen und Verbannten.
So ist die Geschichte der griechischen Parteikämpfe voll von Freveln und Mordthaten. Jede Versafsungsändernng hat in Griechenland Blut gekostet, während der Kampf der römischen Stände, der eine tief eingreifende Reform der Verfassung herbeiführte, ohne blutigen Konflikt vorübergegangen ist.
Hierzu kommt eine zweite Eigentümlichkeit, durch welche sich die römische Verfasfungsgeschichte von derjenigen der meisten griechischen Staaten unterscheidet. In Griechenland hat jeder Sieg einer Partei über die andere auch eine neue, im Interesse der Sieger entworfene Verfassung und Gesetzgebung zur Folge gehabt. Auch Aristoteles sagt: „Wenn das Volk und die Reichen miteinander im Kampf liegen, so giebt diejenige
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Partei, welcher es gelingt, die Gegenpartei zu überwältigen, nicht eine Verfassung, die beiden Teilen gleiche Rechte gewährt, sondern sie eignet sich als Siegespreis die Obergewalt im Staate zn." In Rom hatte es mit dem Kampf der Stände eine andere Bewandtnis: die Plebs hat nie ben Umsturz der bestehenden Verfassung, nie die gänzliche Verdrängung der Gegenpartei angestrebt, sonbern nur einen verhältnismäßigen Anteil an den bestehenden Gewalten und Behörden beansprucht.
XX.
Charakter des Lebens in der römischen Heldenzeit.
(Fr. Chr. Schlosser).
Seitdem durch die Gleichstellung der beiden Stände Roms die letzten Reste des Kastenwesens vertilgt worden waren und der vornehmere Teil der Plebejer an der Leitung des Staates teilnahm, trat ein neuer Adel an die Stelle des alten Patricias, dessen Stolz freilich noch lange fortdauerte. Diese neue Aristokratie, die man zum Unterschied von der früheren patricischen die senatorische nennen kann, bildete sich teils ans den nach und nach aussterbenden alten Familien, teils aus den Familien der Männer, die sich durch Verdienste emporgeschwungen hatten. Der neue Adel bestand also nicht mehr wie früher aus einer ewig unveränderlichen Kaste, sonbern aus bem sich ewig neu verjüngenben Kern ber verbientesten Männer und ihrer Nachkommen. Er hatte beiher auch bie Volksstimme durchaus für sich- Dieser Abel war es eigentlich, der Rom groß und mächtig machte; denn die meisten von denen, deren Namen in den Annalen der Römer verewigt sind, waren Plebejer, die sich im Kriege emporarbeiteten, und es war unmöglich, anders als durch großes Verdienst durchzudringen, da bie neue Aristokratie eben so streng als bie alte jeben Ehrgeizigen abzuhalten suchte.
Das Kastenwesen warb also in Rom nicht burch ben gewerbthätigen Teil der Bürgerschaft verdrängt, sondern durch eine neue Art von Aristokratie, welche an die Stelle der alten trat. Dies mußte in Verbindung mit der von Anfang an vorherrschenden kriegerischen Richtung dem römischen Wesen einen eigentümlichen Charakter geben. Durch Handel und Industrie konnte man sich in Rom nur geringe, durch geistige Bemühungen gar keine Auszeichnung erwerben, die ganze Einrichtung des Staates war viel mehr ans Ackerbau, aus strenge Ordnung des bürgerlichen Rechts und aus Kriege berechnet. Es darf uns daher auch nicht auffallen, daß die Jahrbücher der römischen Geschichte neben den inneren Zwistigkeiten unaufhörlich von auswärtigen Kriegen reden, und daß namentlich die
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Zeit, welche auf die endlich durchgesetzte Einführung gleicher Rechte im Staate folgte, ebenso wie die erste Hälfte des christlichen Mittelalters, eine ritterliche Zeit war. Sie beginnt ihrer ersten Entstehung nach im Grunde mit der Herstellung der Republik, erhielt aber ihre höchste Entwickelung erst anderthalb Jahrhunderte nachher und dauerte dann als eigentliches Heldenzeitalter der Römer bis zum zweiten punischen Kriege oder bis gegen den Beginn des zweiten Jahrhunderts v. Chr. hin fort. Der römische Staat hatte nach der Vertreibung der Könige den Charakter der strengsten erblichen Aristokratie angenommen, und die Tugend der ausgezeichneten Männer war damals nichts anderes, als dieser allgemeine Charakter, der sich in einzelnen hervorragenden Erscheinungen offenbarte. Eine Anzahl patricifcher Güterbesitzer, die man dem Adel der schottischen Hochlande im sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert vergleichen kann, bildete den Kern des Staates und fetzte ihren Stolz nicht in Reichtum und Glanz, sondern in die Menge und Anhänglichkeit ihrer Klienten. Die Könige hatten den etruskischen Glanz gesucht, die patricische Aristokratie der Republik dagegen fetzte diesem Streben die Einfalt und Einfachheit des Lebens entgegen und wußte sehr verständig den Haß des Königtums auf den Kontrast der Sitten der königlichen und republikanischen Zeit zu gründen. Als die altadelige Aristokratie nach und nach anderen Geschlechtern Platz machte, blieb dieser Grundsatz oder vielmehr diese Gewohnheit einer spartanischen Strenge des Lebens und der Zucht bestehen, weil der Charakter des römischen Staats völlig militärisch war, das gauze Wesen der Nation auf Krieg, Landban und einfachen Lebensverhältnissen beruhte und nur Vaterlandsliebe, Mut und Kriegsthaten für Verdienste galten und ein Ansehen gewährten. Rom ging auch in betreff der Sitten ans der einmal betretenen Bahn fort. Je mehr sich Rom zu einem ganz neuen Staate gestaltete, je mehr es eine durchaus kriegerische Stellung annahm, desto mehr siegten die famnitifchen Sitten über die etruskischen und latirtifchen, welche zur Zeit der Könige vorgewaltet hatten. Während früher, wie die großartigen Gebäude der Tarqninier zeigen, die Künste und eine gewisser Luxus in Rom Eingang gesunden hatten, ward dagegen in der ersten Zeit der Republik das Leben immer einfacher, schlichter und rauher. Dies war namentlich in der Zeit von dem Einbruch der Gallier an bis zum Beginn der punischen Kriege der Fall. Infolge der Zerstörung der Stadt und der ewigen Kriege verarmte und erstarkte damals das römische Volk zu gleicher Zeit und ward in seinem äußeren Leben auf die einfachsten Verhältnisse und auf ein rauhes, kriegerisches Leben zurückgeführt.
Die Römer befaßen damals weder Bergwerke, noch hatten sie viel Industrie und Handel, sie waren also von Haus aus ein armes Volk. Man macht sich jedoch von der Armut der Römer eine idyllische Vor-
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stellung und nimmt Anekdoten wie die von Cincinnatus und die Geschichten von Curius Dentatus, Fabricius und Regulus allzu wörtlich. Dies geht schon aus der Volkseinteilung des Servius Tullius hervor und wird überdies auch durch einzelne Züge des Privatlebens widerlegt, die uns aus den früheren Zeiten überliefert worden sind. Industrie, Handel und einen gewissen Grad von Luxus hatte Rom auch damals schon. Die Bauwerke eines Tarqninius und die großen Straßenbauten, wie die Via Appia, welche nachher unter Appius Claudius und anderer Leitung gemacht wurden, setzten eine große Anzahl von geschickten Gewerbsleuteu voraus. Die Appische Straße ward so gebaut, daß sie durch alle Zeiten hindurch unübertroffen geblieben ist und mehr als alle anderen Heerstraßen die römische Größe beweist. Die noch vorhandenen Reste derselben geben ein Werk zu erkennen, welches die ungeheueren Mauern der alten etruskischen Städte weit hinter sich zurückließ, weil es ebenso solid als diese war und doch über einen noch viel größeren Raum sich erstreckte. Sie war so breit, daß zwei Wagen bequem einander ausweichen konnten. Ihre Unterlage bestand aus gebrochenen Steinen, welche vier bis fünf Fuß int Gevierte hatten und nicht gelegt, sondern fest gemauert waren. Diese 'L-teine wurden nach Lineal und Winkelmaß gehauen und so genau zusammengefügt, daß man kaum die Fugen bemerkte. Sie bildeten also einen sehr festen Quaderdamm. Dieser wurde mit Kies überschüttet und von strecke zu Strecke mit Meilenzeigern, mit Häusern zum Einkehren und mit Steinen, die zum Aufsteigen aufs Pferd dienten, versehen. Zu beiden Seiten erhoben sich nach und nach überall Grabmäler, welche von den alten Römern ebenso, wie andere Denkmale, an den Landstraßen angelegt wurden, von diesen das Einförmige unserer Kunststraßen fernhielten, dem Reisenden Belehrung und Unterhaltung gewährten und ihn mit Bewunderung gegen die Hauptstadt des großen römischen Reiches erfüllten.
Einen gewissen Grad von Luxus beweist auch der Umstand, daß schon in den ersten Zeiten der Republik römische Frauen Purpurgewüuder mit einem Goldsaume trugen, und in den zwölf Tafeln findet sich ein Gesetz gegen den herrschenden Luxus, goldenen Schmuck mit den Toten zu verbrennen. Ferner kommt schon vierzig Jahre vor der Verbrennung Roms durch die Gallier der Gebrauch vor, einen goldenen Kranz als Ehrenzeichen der Tapferkeit zn geben, und die Römer haben also noch weit früher, als die Griechen Preise von Gold an die Sieger verteilt, obgleich die letzteren Goldbergwerke besaßen und sowohl deshalb, als auch wegen der Nähe des Orients und wegen ihres frühen Handels viel reicher an Gold waren. Auch Handel trieb Rom schon früh, nur konnte derselbe freilich nicht so bedeutend sein, da die kriegerische Richtung des Staates alle Vornehmen und Reichen dieser Beschäftigung abgeneigt machte, die Thätigkeit der übrigen
Die Nia Appia mit beit Grabdenkmälern. (Rekonstr. von Rehlender.)
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140 Altertum.
aber vorzugsweise vom Landbau in Anspruch genommen ward. Der handeltreibende Teil des römischen Volkes bestand daher auch säst nur aus Fremden, die im römischen Gebiet angesiedelt waren, nämlich aus Latinern und Etruskern. Übrigens zeigt sich die Bedeutung, welche der römische Staat schon in sehr srühen Zeiten aus den Handel legte, namentlich darin, daß bereits im ersten Jahr der Republik ein Handelsvertrag mit Karthago geschlossen ward, und daß dies in den folgenden zwei Jahrhunderten noch zwei oder dreimal geschehen sein soll.
Die lausenden Staatseinnahmen bestanden ans der Grund- und Vermögensteuer der Bürger, aus Zöllen, aus den Abgaben von Staatsdomäne, die an Privatleute abgetreten worden waren, und aus dem Pachtgelde von Ländereien, welche Staatseigentum blieben und als Ackernder Weideland verpachtet wurden. Zu diesen regelmäßigen Einnahmen kam noch als eine außerordentliche die Kriegsbeute hinzu. Die Ausgaben des Staates waren in Rom von Anfang an bedeutender als in Griechenland. In den griechischen Staaten wnßte man nichts von Verwaltnngskosten, mit der einzigen Ausnahme, daß in Athen die Bürger für ihre Anwesenheit in der Volksversammlung und in den Gerichten entschädigt und die Prytanen auf öffentliche Kosten gespeist wurden. In Rom dagegen wurden die Beamten zwar ebenfalls nicht besoldet, sie wurden aber auf Staatskosten mit allem Nötigen ausgerüstet und konnten sich, ohne darüber zur Rechenschaft gezogen werden zu können, auf Unkosten anderer bereichern. Außerdem hatte Rom wegen der beständigen Kriege und wegen der fortwährenden Erweiterung seiner Herrschaft, welche im Anfang wenig eintrug, große Ausgaben zu machen, dadurch wurden zahlreiche llnterbeamte (Apparitorcrt genannt) nötig, welche alle vom Staat bezahlt wurden, und die, da sie von den eigentlichen Staatsbeamten nach Belieben gewählt wurden und daher größtenteils jedes Jahr wechselten, znm Teil eilen mußten, sich zu bereichern, ehe ihr Patron wieder abtrat, zum Teil aber den Vorteil ihrer Stelle mit diesem teilten. Auch von der Kriegsbeute floß vieles den Magistratspersonen zu. Schon die Vorwürfe, die man dem Camillas wegen der Ausschmückung seines Hauses mit Kostbarkeiten von der Beute Vejis machte, beweisen, da)3 schon damals diese Art von Bereicherung nicht unerhört war, und die Uneigennützigkeit, welche man von einigen andern römischen Helden rühmt, selbst für jene Zeit als eine Ausnahme anzusehen ist.
Sehr viel ward in früheren Zeiten auf Werke, die zu allgemeinem Nutzen dienten, verwendet, namentlich auf Wasserleitungen, auf Abzngs-gräben und Heerstraßen. Die Hauptdenkmale der römischen Größe, welche mehr Bewunderung verdienen als alle ägyptischen Prachtgebäude und alle indischen Felsentempel, zeichneten sich ebenso sehr durch den Nutzen aus, den sie leisteten, als durch den ungeheuren Aufwand, den sie erfordert haben müssen. Die Römer übertrafen hierin selbst das griechische Volk.
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„Die Römer", sagt ein griechischer Schriftsteller, „haben mit klugem, verständigem Sinne zu den natürlichen Vorteilen, welche die Lage ihrer Stadt gewährt, noch andere hinzugefügt. Der Grieche glaubt bei Städtegründungen alles gethan zu haben, wenn er eine fruchtbare Gegend und einen guten Hafen ausfindig gemacht und dann seine Stadt mit schönen Gebäuden geschmückt und mit tüchtigen Festungswerken versehen hat; der Römer dagegen denkt bei seinen Städten mehr auf das, was der Grieche versäumt: er pflastert Straßen, er legt Wasserleitungen an und baut Kanäle, durch welche der Unrat weggeführt wird. Auch die Landstraßen bauen die Römer ohne Rücksicht auf Mühe und Kosten so dauerhaft und zweckmäßig, daß sie zu diesem Zwecke selbst ganze Hügel abtragen und Abgründe mit Erde anfüllen." Zu Rom war in den älteren Zeiten alles auf den Staat und seine Größe, nichts auf den Glanz des Privatlebens gerichtet. Das aus der Kriegsbeute uud den Abgaben der Unterworfenen eingenommene bare Geld ward zu öffentlichen Anlagen verwendet, die einen bestimmten Zweck hatten und einen allgemeinen Nutzen gewährten. Solche Werke erforderten natürlich bedeutende Summen. So sehr daher auch die Erzählungen von der Armut und Einfachheit der angesehenen römischen Familien früherer Zeit übertrieben sein mögen, so sind sie doch im wesentlichen nicht unwahrscheinlich. Sie würden dies wegen der Berichte über den Wucher der Patricier gegen die Plebejer doppelt sein, wenn wir nicht wüßten, daß die Römer zwar erst zu Pyrrhus' Zeit eigene Münzen prägten, vorher aber sich des etruskischen, latiuischen und griechischen Geldes bedienten. Die Sitten und die Lebensweise waren höchst einfach. Einen großen Gegensatz gegen jene öffentlichen Gebäude bildeten die Privathänser, die nach den Angaben römischer Schriftsteller bis auf Pyrrhus' Zeit entweder ganz von Holz oder wenigstens mit Holz gedeckt waren. Diese Einfachheit ward durch die ganze Einrichtung des römischen Lebens lange Zeit erhalten, und sogar die ewigen Kriege trugen viel dazu bei. Die Römer waren nämlich fast beständig in neue Kriege verwickelt, jeder Bürger war Soldat, der Senat und alle höhere Beamten bestanden aus verdienten Offizieren, die Sitten des Lagers erhielten also gleich anfangs das Übergewicht über den Luxus, der in der letzten Zeit der Könige herrschend zu werden begonnen hatte, das allgewaltige Beispiel des ersten Standes aber wirkte auf die niederen Stände wohlthätig zurück. Nur das weibliche Geschlecht kannte uud übte einigen Luxus im Privatleben, das männliche dagegen ward in den gallischen und fairnutifchen Kriegen, welche bald nach dem Ausgleich des Ständekampfes eine ganze Generation hindurch geführt wurdeu, noch strenger und rauher. Der Landban und der Kriegsdienst bildeten die Hauptgeschäfte des Römers und waren die einzigen ehrenvollen Arten von Thätigkeit. Der letztere war den Römern dasselbe, was den Völkern des Mittelalters die Jagd war, ein zur Gewohnheit gewordenes
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Spiel, ein Vergnügen, ein auf dem Herkommen, der ganzen Lebenseinrichtung und dem herrschenden Geiste beruhendes Bedürfnis. Die Jagd selbst sonnte in dem stark bevölkerten und angebauten Gebiete des römischen Staates nur wenig getrieben werden und ward daher auch selten zur Leidenschaft, wie dies bei den Völkern des Nordens der Fall war. Patriotismus und Ruhmbegierde machte jedem Römer nach der Beendigung eines Krieges einen neuen Feldzug wünschenswert. Auch die durch die Kriege sich mehrende Zahl von Sklaven wirkte in der früheren Zeit nicht nachteilig auf den Geist und die Sitten des römischen Volkes ein. Der Sklave stand damals in einem ganz anderen Verhältnis zu seinem Herrn als später, weil er meistens nur zum Ackerbau verwendet wurde und dieses Geschäft in Gemeinschaft mit dem Herrn und seiner Familie trieb Außerdem standen aber auch die Völker, mit welchen die Römer damals Suicg führten, ihnen sehr nahe, und dies mußte der Sklaverei einen viel milderen Charakter geben. Römer und Italer betrachteten sich im Grunde nur als ein Volk, ihre Sitten waren nicht wesentlich voneinander verschieden, und viele Kriegsgefangenen wurden entweder freiwillig losgegeben oder von ihren Freunden und Verwandten losgekauft.
Das Familienleben war in Rom weit edler und reiner als in Griechen-sanb. Es war ganz samnitisch, d. h. ländlich, sittsam und mäßig. Die vornehmen Römer wohnten mit Ausnahme der Senatoren früher meistens auf dem Sande, sie begaben sich nur vorübergehenb in bie Stadt und kehrten zurück, sobald ihre Geschäfte vollbracht waren. Bei dem Vater oder in feiner Rahe wohnten die Kinder und die diesen gleichgestellten Klienten. Er war nicht bloß das Haupt, sondern auch der Herr und Richter seiner Familie, und der Staat bekümmerte sich nicht um das, was im Innern der Familie geschah. Der Vater konnte, ohne darüber zur Rechenschaft gezogen zu werben, ferne neugeborenen Kinder aussetzen, er bürste sich bas ganze Eigentum feiner Söhne zueignen, ja, er konnte sie breimal hintereinanber als Sklaven verkaufen unb war Herr über Leben und Tod derselben. Ein solches Recht scheint aus den ersten Blick eine schreckliche Tyrannei mit sich zu führen; bekanntlich ist aber das Naturgefühl mächtiger unb, wenn es genährt wirb, besser unb wohlthätiger als jedes Recht und jeder Schutz durch Gesetze. Obgleich zuweilen Beispiele vom Mißbrauche der väterlichen Gewalt vorkamen, so waren sie doch selten, und die Familien-regterung gewährte in den früheren Zeiten den Vorteil, daß man leicht Gerichtshof und Gesetzbuch entbehren konnte. Die Gattin des Römers hatte, weil Sklavinnen die Hausarbeit verrichteten, mit vielen häuslichen Geschäften nichts zu thun, welche bei uns der Hausfrau obliegen. Sie war nicht, wie die griechische Frau, vom bürgerlichen Verkehr und vom Staatsleben getrennt und auf das Haus und die Familie beschränkt; sie blieb auch nicht von der Bildung des männlichen Geschlechts ausgeschlossen,
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unb bie Geschichte ber römischen SMtur zeigte baher auch, zum Unterschieb von ber griechischen üöilbung, einen Einfluß ber SBeiber auf bie (Snttoicfe-lung ber Nation. Kurz, bie römische Hausfrau hatte eine ehrenhafte Stellung, sie war gebilbet, sie nahm am geselligen Leben ber Männer Anteil, unb eine Ehescheibung blieb, obgleich sie für ben Mann sehr leicht zu bewerkstelligen war, in ber älteren Zeit etwas Unerhörtes.
Die Munterkeit unb Lust besLebens, bie wir bei ben Griechen finben, bars man bei betn ernsten, berbett, vorzugsweise auf bas Nützliche unb Praktische bebachten Volke ber Römer nicht erwarten; bafür war basselbe auch von jener genialen Leichtfertigkeit frei, bie man bei ben Griechen überall gewahr wirb, unb bie sich selbst unter ben Spartanern in ber Ausgelassenheit ber Weiber und in betn losen Banbe ber Ehe zeigte. Die eigentlich nationalen Lustbarkeiten ber Römer waren Pferberennen unb Kriegsspiele; beibe stammen, wie es scheint, aus ben ältesten Zeiten her, alles bagegen, was auf Kunst unb Gewaubtheit beruhte, war ihnen ursprünglich fremb. Von ben Etruskern, bie sich gern an ben anstößigen Bewegungen unb Gebärben ber Mimen unb Tänzer belustigten, nahmen bie Römer biese Art von Unterhaltung an, so wie wahrscheinlich auch bie Glabiatorenspiele, bie ihnen jeboch in ber Zeit, von welcher hier bie Rebe ist, noch unbekannt waren. Doch behauptete sich sowohl hierin, wie auch bei ben Tänzen unb ben später eingeführten theatralischen Darstellungen ber ursprüngliche Charakter ber Nation insofern, als jeber, ber sich öffentlich zur Schau gab, verachtet war unb blieb. Die Musik der Römer war eine lärmenbe ober luftige unb warb im Laufe ber Zeit nur wenig verebelt. Diejenigen Opferfeierlichkeiten, bei denen man Musik anwanbte, würben stets unter lärmenbetn Schreien unb mit starnpsenbem Tanzen unb Springen begangen; auch ber beim Trinken übliche Gesang unb bas einheimische Flötensptel würben nie', wie bie Musik ber Griechen, vervollkommnet. Dagegen zeigte sich bei ben Römern schon bie niebrigste Art bes Luxus, bas Vergnügen unb ber Auswanb ber Tafel, unb begann schon so früh herrschend zu werben, baß man sich genötigt sah, Verorbnungen bagegen zu machen.
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Altertum.
XXI.
Die Seeschlacht bei Mylii.
(B. G. Niebuhr).
Während die Römer im ersten finnischen Kriege nach der Einnahme von Agrigent immer festeren Fuß ans Sicilien faßten, verwüsteten die Karthager mit einer Flotte von sechzig Schiffen die Küste Italiens, welche auch durch die erschöpfendste Anstrengung einer Postenkette gegen die Übermacht eines Heeres, wie eiue damalige Flotte es landen konnte, nirgends zu verteidigen war, und veranlaßten viele Küstenstädte, sich wieder unter die finnische Herrschaft zu begeben. Im Innern der Insel hingegen, wo kein karthagisches Heer denen, die ihre Treue bewahrten, Entsatz versprach, unterwarfen sich allmählich alle Städte den römischen Heeren.
Fragmente eines römischen Kriegsschiffes.
Diese Wendung des Krieges entfernte bei den Römern die schon gefaßte Hoffnung, Frieden und darin den völligen Besitz Siciliens bald zu erlangen: Italiens wehrlose Zugänglichkeit forderte die einzige angemessene Verteidi-Qun9; denn es fehlte in Karthago nur an einem Feldherrn, um das römische Reich in der Heimat zu erschüttern, uud man sah in Rom ein, daß nur Siege iu Afrika den Krieg endigen könnten. Daher beschloß der Senat, eine Flotte zu bauen uud die Punier aus ihrem eigenen Elemente anzugreifen. Chne ein Modell jedoch, oder wenigstens bis sie dieses aus weit entfernten befreundeten Gegenden erhalten, würden die Römer dem Bau der Flotte
Niebuhr: Die Seeschlacht bei Mylä. 145
entsagen gemußt haben, wenn nicht bei dem ersten Versuch, den Übergang über den Faro (die Meerenge von Messina) zu wehren, eine karthagische Pentere (Fünfruderer) an der bruttischen Küfle gestrandet und in der Römer Gewalt geblieben wäre. Nach diesem Modell wurden hundertund* dreißig Schiffe gebaut, deren Bau am sechzigsten Tage, nachdem die Bäume gefällt waren, vollendet war: also von ganz grünem Holz und von nicht größerer Dauer als Feinheit des Baus; die unbeholfenen Gebäude gehorchten dem Steuerruder unvollkommen und bewegten sich schwerfällig unter Segeln und Rudern. Auch eine hinreichende Anzahl geübter Ruderer fehlte; nicht daß die italischen Seestädte keine Handelsschiffe gehabt, aber diese waren nicht als Galeeren (Ruderschiffe), sondern als Segler erbaut; und ihre wenigen Kriegsschiffe konnten nur Lehrer für die Rudednechte hergeben. Hundert Penteren erforderten dreißigtausend Ruderer und zwölftausend Marinesoldaten; wahrscheinlich bestanden auch jene aus Freien, nicht aus Sklaven; zu den letzteren wurden wohl, außer Bundesgenossen, die Proletarier gebraucht, von denen es bekannt ist, daß sie auf der Flotte dienten, und höchst wahrscheinlich nicht als Ruderknechte. Die Ruderer wurden aus Gerüsten geübt und eine kurze Zeit, so lange die Flotte noch vor Anker lag, auf den Schiffen. Denn Ungeduld, die neue Waffe zu versuchen, und die verschlimmerte Lage Sieiliens rief die Konsuln auf das Meer. Hamilkar hatte die Offensive genommen (260 v. Chr.), Segesta eingeschlossen, den Legaten C. Cäcilius, welcher einen Entsatz versucht hatte, geschlagen; von Rom ward der Prätor nach Sicilien abgesandt, um den Befehl zu übernehmen, weil die Konsuln, durch die Leitung des Baus beschäftigt, die Stadt noch nicht verlassen konnten. Doch verfügte sich C. Dnilius, der eine der beiden Konsuln, sobald als möglich in seine Provinz. Sein Kollege C. Cornelius Scipio segelte mit der Avantgarde der Flotte, siebzehn Penteren, nach Messana; die übrige folgte, sobald sie seefertig war, längs der Küste.
Zn Messana meldeten sich bei dem Konsul, dessen Leichtgläubigkeit und Ungeschick ihm den Beinamen Asina (Esel) zuzog, falsche Boten aus Lipara, einer griechischen Stadt der Knibier, als entfernte Insel den Karthagern gehorsam, ihn einladend, Besitz von ihren Inseln zu nehmen. Bei diesen lag, den Erfolg der List erwartend, ber punische Schiffshauptmann Bogud mit zwanzig Galeeren und zeigte sich den Römern, sobald sie in den Hafen eingelaufen waren, vor demselben. Die römische Schiffsmannschaft ward von einem panischen Schrecken ergriffen, entfloh auf das Lartb, wo sie bem Sieger am wenigsten entgehen konnte, unb ber Konsul mit benen, bie, wie er, am Borb ber Schiffe blieben, würbe kriegsgefangen. Diese ganze Abteilung ging so verloren.
Die Karthager hatten ber römischen Unternehmung gespottet; nach biesem Erfolge glaubte Hannibal, ihr Abmiral, bie ganze feinbliche Flotte
Aus allen Jahrhunderten. 10
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zerstören zu können, ehe sie Sicilien erreichte. Er segelte an die italische Küste mit fünfzig Ualeeren, fand sich aber unerwartet uud unvorbereitet mitten unter den Feinden, von denen er nur mit dem Verluste der größeren Zahl seiner Schiffe enttarn. So waren die unentscheidenden Nachteile gleich gewogen.
Die Anführer der römischen Flotte, als sie ihres Konsuls Schicksal vernommen, luden den Konsul C. Duilius ein, den Besehl zu übernehmen, und dieser entzog sich für eine Zeitlang dem Landkriege, dessen Ausgang sichtbar auf der See entschieden werden mußte. Er verhehlte sich nicht, daß der Spott der Karthager über die Unbrauchbarkeit der römischen Galeeren begründet sei, und er fand das Mittel, mit diesen un-
Enterbrücke (Rekonstruktion).
beweglichen Massen zu siegen. Dies war nur möglich, wenn den Feinden alle Vorteile der Beweglichkeit entzogen und ihre Schiffe durch Entern genommen werden konnten. Denn eine afrikanische Galeerenbemannung, welche ohne Zweifel nicht die beste Mannschaft war, konnte römischen Soldaten unmöglich widerstehen.
Dies zu bewirken, ward auf jedem römischen Schiff eine Enterbrücke mit Haken auf eine einfach rohe Weife vorgerichtet. Am Vorderteil des Schiffes ward ein Mast 24 Fuß hoch und 3;4 Fuß im Durchmesser ausgerichtet, der oben in einer Schraube endigte. Eine 4 Fuß breite, 36 Fuß lange Leiter war um diesen Mast so befestigt, daß zwei Dritteile der Länge jenseits des Mastes lagen. Die Sprossen waren in der Quere mit Brettern benagelt, welche Stufen bildeten, und die Seiten bis zur Kniehöhe durch Geländer gedeckt. An dem äußersten Ende der Leiter war ein äußerst starkes und zugeschärftes Eisen angebracht, oben mit einem Ring, wodurch ein Tau zu der Schraube lief. Durch dieses ward
Niebuhr: Die Seeschlacht bei Mylä. 147
die Enterbrücke in die Höhe gehoben, so daß sie 12 Fuß über dem Mast hervorragte; sie muß, wo sie um diesen befestigt war, ein Gelenk gehabt haben. Näherte sich nun ein feindliches Schiff hinreichend, so ward das Tau nachgelassen, die Brücke siel herab, und befestigte sich durch den eisernen Stiel, welcher die Bretter des Verdecks im Herabfallen durchbohrte; dann wareine zweifache Leitertreppe gebildet, worauf die Römer von ihrem Verdeck bis-zum Mast heraufstiegen, alsdann mit einem sehr allmählichen und sichern Abhang ans das Verdeck des feindlichen Schiffes gelangten. Zwei Maun besetzten diese Brücke in der Front, und wenige Minuten reichten hin, um die beiden Manipeln, welche damals als Besatzung auf jeder römischen Pentere eingeschifft waren, auf das feindliche Schiff zu werfen.
So gerüstet, ging Dnilius der feindlichen Flotte unverzagt entgegen, als er vernommen hatte, daß sie die Küste von Mylä verheere. Die Karthager aber eilten mit hundertdreißig Schiffen zur Schlacht wie zu einem Triumph, ohne auch nur eine Schlachtordnung zu bilden. Dreißig Schiffe, welche die Römer zuerst anfielen, wurden von den Enterbrücken gefaßt und genommen. Die übrigen versuchten durch Evolutionen und Manöver den Römern eine günstige Stellung des Angriffs abzugewinnen; aber entweder konnten sie sich nicht nähern, oder wenn sie nahe genug herankamen, so wurden sie von jenen furchtbaren Maschinen ergriffen und zerstört oder erobert. Hoffnungslos und beschämt nahmen sie zuletzt die Flucht. Einunddreißig Schiffe, unter ihnen das Admiralsschiff, eine Heptere (Siebenruderer), welche die Karthager in der Seeschlacht gegen Pyrrhns erbeutet hatten, wurden erobert, vierzehn zerstört: siebentausend Gefangene genommen, dreitausend Feinde getötet. Die Römer scheinen kein einziges Schiff verloren zu haben.
Die Frucht dieses Sieges war die Aufhebung der Belagerung von Segesta, welches schon anss Die Säule des DEus.
äußerste gebracht war, und die Einnahme eines unbedeutenden Ortes, Macella. Der Triumph über diesen Seesieg war größer als seine Früchte. Er ward dem Feldherrn sür sein ganzes Leben verlängert; denn ihm ward gut geheißen, daß er sich abends von Gastmählern mit einer Fackel vorleuchten und mit der Musik eines Flötenspielers nach Hause geleiten ließ. Ein Denkmal, von dem eine uralte Nachbildung noch jetzt erhalten ist, verewigte in Marmor den Titel des Duilischen Triumphes und das Verzeichnis der heimgeführten Beute.
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148
Altertum.
XXII.
Hamilkar, Hasdrubal, Hannibal in Spanien.
(Th. Mommfen).
Der Vertrag mit Rom vom Jahre 241 v. Chr. gab den Karthagern Frieden. Aber wer bürgte für die Dauer desselben? Daß Regulus die Vernichtung der Selbständigkeit Karthagos gefordert, und wie wenig ihm gefehlt hatte, um das, was er forderte, zu erreichen, konnte nur vergeffen, wer vergessen wollte; und wenn Rom den Versuch, den es von Italien aus mit so großem Erfolge unternommen hatte, jetzt von Lilybäum ans erneuerte, so war Karthago, wenn nicht die Verkehrtheit des Feindes oder ein besonderer Glücksfall dazwischen trat, unzweifelhaft verloren. Es mochte sein, daß Rom an die Eroberung Afrikas jetzt noch nicht dachte und noch Italien ihm genügte; aber wenn der Bestand des karthagischen Staates an dieser Genügsamkeit hing, so sah es übel damit aus, und wer bürgte dafür, daß die Römer nicht eben ihrer italischen Politik es angemessen fanden, den afrikanischen Nachbarn zwar nicht zu unterwerfen, aber doch zu vertilgen? Kurz, Karthago durfte den Frieden von 241 nur als einen Waffenstillstand betrachten und mußte ihn benutzen zur Vorbereitung für die unvermeidliche Erneuerung des Krieges; nicht um die erlittene Niederlage zu rächen, nicht einmal zunächst um das Verlorene zurückzugewinnen, sondern um sich eine nicht von dem Gutfinden des Landfeindes abhängige Existenz zu erfechten. Da kam der Söldnerkrieg und mit ihm die Wegnahme Sardiniens von seiten der Römer. Die drohende Stellung, welche Rom dabei einnahm, zeigte deutlich auch dem geringsten Manu, daß das Damoklesschwert der römischen Kriegserklärung stets über Karthago hing, und daß, wenn Karthago unter den gegenwärtigen Verhältnissen mit Rom zum Kriege kam, dieses notwendig den Untergang der karthagischen Herrschaft in Libyen zur Folge haben müsse. Es mochte in Karthago nicht wenige geben, die, an der Zukunft des Vaterlands verzweifelnd, die Auswanderung uach den Jnfeln des Atlantischen Meeres anrieten; wer durfte sie schelten? Aber edlere Gemüter verschmähen es, ohne die Nation sich selber zu bergen, und große Naturen genießen das Vorrecht, aus dem, worüber die Menge der Guten verzweifelt, Begeisterung zu schöpfen. Man nahm die neuen Bedingungen an, wie sie Rom eben diktierte; es blieb nichts übrig, als sich zu fügen und, den neuen Haß zu dem alten schlagend, ihn sorgfältig zu sammeln und zu sparen, dieses letzte Kapital einer mißhandelten Nation. Zu allen übrigen Schwierigkeiten der Lage kam noch hinzu, daß, wollte man das Vaterland retten, die Mittel dazu geschaffen werden mußten, ohne daß weder die Römer, noch die eigene
Mommsen: Hamilkar, Hasdrubal, Hannibal in Spanien. 149
römisch gesinnte Regierung recht darum gewahr wurde. Es ward daher zunächst nur beantragt und auch durchgesetzt, daß Hamilkar, der in unglaublich kurzer Zeit durch sein unvergleichliches Organisatoren- und Feldherrngenie den Söldneraufstand völlig niedergeworfen und das empörte Afrika zum Gehorsam zurückgebracht hatte, zum Oberfeldherrn für ganz Afrika auf unbestimmte Zeit in der Art ernannt wurde, daß er eine [von den Regiernngs-kollegien unabhängige Stellung erhielt und nur von der Volksversammlung abberufen und zur Verantwortung gezogen werden durfte. Selbst die Wahl eines Nachfolgers ging nicht von den Behörden der Hauptstadt aus, sondern vom Heere, d. h. von den im Heere als Gerusiasten oder Offiziere dienenden Karthagern, natürlich blieb der Volksversammlung daheim das Bestätigungsrecht.
Spitze des Heeres ein Mann, der im sicilischen und im Söldnerkriege es bewährt hatte, daß die Geschicke ihn oder keinen zum Retter'das Vaterlandes bestimmten. Großartiger als von ihm ist vielleicht niemals der großartige Kampf des Menschen gegen das Schicksal geführt worden. Das Heer follte den Staat retten; aber was für ein Heer? Die karthagische Bürgerwehr hatte unter Hamilkars Führung im libyschen Kriege sich nicht schlecht geschlagen; allein er wußte wohl, daß es ein anderes ist, die Kaufleute und Fabrikanten einer Stadt, die in der höchsten Gefahr schwebt, einmal zum Kampfe hinauszuführen, und ein anderes, Soldaten aus ihnen zu bilden. Es galt ein Heer zu schaffen aus den libyschen Zwangsrekruten und aus Söldnern, was einem Feldherrn wie Hamilkar möglich war, allein auch ihm uur, wenn er seinen Leuten pünktlich und richtig den Sold zu zahlen vermochte. Daß er aber von den karthagischen Staatseinkünften zu diesem Zweck nichts zu erwarten hatte, wußte -er nur zu gut. Es mußte also der Krieg sich selbst ernähren. Aber noch mehr. Gegen die unversöhnliche und der Gelegenheit, ihn zu stürzen, begierig und geduldig harrende Regierungspartei, mußte Hamilkar auf die Bürgerschaft sich stützen, und mochten deren Führer noch so rein und edel sein, die Masse war tief verdorben und durch das unselige Beftechungs-fyftem gewöhnt, nichts für nichts zu geben. In einzelnen Momenten schlug wohl die Not oder die Begeisterung einmal durch, wie das überall selbst in den feilsten Körperschaften vorkommt; wollte aber Hamilkar für feinen im besten Fall erst nach einer Reihe von Jahren durchführbaren Plan die Unterstützung der karthagischen Gemeinde dauernd sich sichern, so mußte er seinen Freunden in der Heimat durch regelmäßige Geldsendungen die Mittel geben, den Pöbel bei guter Laune zu erhalten. So genötigt, von der lauen und feilen Menge die Erlaubnis, sie zu
Hamilkar.
So stand nun an der
150 Altertum.
retten, zu erbetteln ober zu erlaufen, genötigt, bem Übermute ber verhaßten Feinbe seines Volkes burch Demut unb Schweigsamkeit bie unentbehrliche Gnabenfrist abzubingen, genötigt, ben verachteten Vaterlanbs-verrätern, bie sich bie Herren feiner Stabt nannten, mit seinen Planen seine Verachtung zu verbergen — so staub ber hohe Mann mit wenigen gleichgesinnten Freuuben zwischen ben Feinbeu von außen unb ben Feinben von innen, auf bie Unentschlossenheit ber einen unb ber anbern bauenb, zugleich beibe täuschenb unb beiben trotzenb, um nur erst bie Mittel, Gelb unb Solbaten, zu gewinnen zum Kampfe gegen ein Laub, bas, selbst wenn bas Heer schlagfertig baftanb, mit biefem zu erreichen schwierig, zu überwinben kaum möglich schien. Er war noch ein junger Mann, wenig hinaus über bie breißig; aber er schien zu ahnen, als er sich anschickte zu seinem Zuge, baß es ihm nicht vergönnt fein werbe, bas Ziel seiner Arbeit zu erreichen unb bas Land ber Erfüllung anders als von weitem zu schauen. Seinen neunjährigen Sohn Hannibal hieß er, ba er Karthago verließ, am Altare bes höchsten Gottes bem römischen Namen ewigen Haß schwören unb zog ihn unb bie jüngeren Söhne, Hasbrubal unb Mago, bie „Löwenbrut", wie er sie nannte, im gelblager auf als bie Erben feiner Entwürfe, seines Genies unb seines Hasses.
Der neue Oberseldherr von Libyen brach unmittelbar nach der Be-eitbigung bes Sölbnerkrieges von Karthago auf (etwa im Frühjahr 236). Er schien einen Zug gegen bie freien Libyer im Westen zu beabsichtigen; sein Heer, bas besonbers an Elefanten stark war, zog an ber Küste hin, neben ihm segelte bie Flotte, geführt von feinem treuen Bunbesgenossen Hasbrubal. Plötzlich vernahm man, er fei bei ben Säulen bes Herkules über bas Meer gegangen unb in Spanien gelanbet, wo er Krieg führe mit ben Eingeborenen, mit Leuten, bie ihm nichts zuleide gethan, unb ohne Auftrag feiner Regierung, klagten bie karthagischen Behörben. Sie konnten wenigstens nicht klagen, baß er bie afrikanischen Angelegenheiten vernachlässige; als bie Numibier wieber einmal aufstanben, trieb sein Unterselbherr Hasbrubal sie so nachbrücfltch zu Paaren, baß auf lange Zeit an ber Grenze Ruhe war unb mehrere bisher unabhängige Stämme sich bequemten, Tribut zu zahlen. Was er selbst in Spanien gethan, können wir im einzelnen nicht mehr verfolgen; bem alten Cato, ber ein Menfchenalter nach Hamilkars Tobe in Spanien bie noch frischen Spuren seines Wirkens sah, zwangen sie trotz allem Pönerhaffe ben Ausruf ab, baß kein König wert sei, neben Hamilkar Barkas genannt zu werben. In ben Erfolgen liegt auch uns wenigstens im allgemeinen noch vor, was von Hamilkar als Militär unb als Staatsmann in ben neun letzten Jahren feines Lebens noch geleistet worben ist, bis er im besten Mannesalter in offener Felbfchlacht tapfer kämpfenb ben Tob fanb, wie Scharnhorst, eben als seine Pläne zu reifen begannen, unb was alsbann
Mommsen: Hamilkar, Hasdrubal, Hannibal in Spanien. 151
während ber nächsten acht Jahre ber Erbe seines Amtes unb seiner Pläne, sein Tochtermann Hasbrnbal, an bem angefangenen Werke im Sinne bes Meisters weiter geschaffen hat. Statt ber kleinen Nieberlassnngen sür
ben Hanbel, bie nebst betn Schutzrecht über Gades bis bahin Karthago
an ber spanischen Küste allein besessen unb als zu Libyen gehörig be-hanbelt hatte, warb ein karthagisches Reich in Spanien burch Hamilkars Felbherrnkunst begrünbet unb burch Hasbrubals staatsmännische Gewanbt-heit befestigt. Die schönsten Lanbschasten Spaniens, bie Süb- unb Ost-küste würben phönizisches (karthagisches) Provinzialgebiet; Stäbte würben gegrünbet; por allem an bem einzigen guten Hafen bei* Sübküste Spanisch-Karthago (Kartagena) von Hasbrußal angelegt mit bes Grünbers prächtiger „Königsburg"; ber Ackerbau blühte auf unb mehr noch bie Grubenwirtschaft in ben glücklich aujgefunbencn Silberminen von Kartagena, bie ein Jahrhunbert später über 7^ Mill. Mark (36 Mill. ©est.) jährlich eintrugen. Die meisten Gemeinben bis zum Ebro würben abhängig von Karthago unb zahlten ihm Zins; Hasbrnbal verstanb es, bie Häuptlinge auf alle Weife, selbst burch Zwischenheiraten in bas karthagische Interesse zu ziehen. So erhielt Karthago hier für seinen Hanbe'l unb seine Fabriken eine reiche Absatzquelle unb bie Einnahmen
ber Provinz nährten nicht bloß bas Heer, sonbern es blieb noch übrig,
nach Hause zu senben unb für bie Zukunft zurückzulegen. Aber bie Provinz bildete unb schulte zugleich bie Armee. In betn Karthago unterworfenen Gebiet fanben regelmäßige Aushebungen statt; bie Kriegsgefangenen würben untergesteckt in bie karthagischen Korps; von ben abhängigen Gemeinben kam Zuzug unb kamen Söldner, so viel man begehrte. In betn langen Kriegsleben sanb ber Solbat im Lager eine zweite Heimat ttttb als Ersatz für ben Patriotismus ben Fahnensinn unb bie begeisterte Anhänglichkeit an seine großen Führer; bie ewigen Kämpse mit ben tapferen Iberern unb Celten schufen zu ber vorzüglichen numibischen Reiterei ein brauchbares Fußvolk.
Von Karthago aus ließ mau bie Barkas machen. Da ber Bürgerschaft regelmäßige Leistungen nicht abverlangt würben, sonbern vielmehr für sie noch etwas abfiel, auch ber Hanbel in Spanien wieberfanb, was er in Sicilien unb Sarbinien verloren, würbe ber spanische Krieg unb bas spanische Heer mit seinen glänzenben Siegen unb wichtigen Erfolgen balb so populär, baß es fogar möglich warb, in einzelnen Krisen, z. B. nach Hamilkars Fall, bebentenbe Nachfenbuugen afrikanischer Truppen nach Spanien durchzusetzen, und baß bie Regierungspartei wohl ober übel bazn schweigen ober boch sich begnügen mußte, unter sich unb gegen bie Freunbe in Rom aus bie bemagogischen Offiziere unb ben Pöbel zu schelten. — Auch von Rom aus geschah nichts, um ben spanischen Angelegenheiten ernstlich eine anbete Wenbttng zu geben. Die erste unb vornehmste Ursache
152 Altertum.
der Unthätigkeit der Römer war unzweifelhaft eben ihre Unbekanntschaft mit den Verhältnissen der entlegenen Halbinsel, welche sicher auch die Hauptursache gewesen ist, weshalb Hamilkar zur Ausführung seines Planes Spanien und nicht, wie sonst wohl auch möglich gewesen, wäre, Afrika selbst erwählte. Zwar die Erklärungen, mit denen die karthagischen Feldherren den römischen, um Erkundigungen an Ort und Stelle einzuziehen, nach Spanien gesandten Kommissaren entgegenkamen, die Vorführungen, daß alles dies nur geschehe, um die römischen Kriegskontributionen prompt zahlen zu können, konnten im Senat unmöglich Glauben finden; allein man erkannte wahrscheinlich von Hamilkars Plänen nur den nächsten Zweck: für die Tribute und den Handel der verlorenen Inseln in Spanien Ersatz zu schaffen, und hielt einen Angriffskrieg der Karthager und namentlich einen Angriff auf Italien von Spanien aus, wie das sowohl ausdrückliche Angaben als die ganze Lage der Sache bezeugen, für schlechterdings unmöglich. Allmählich allerdings mußte die unbegreiflich rasche und gewaltige Ausbreitung der karthagischen Macht in Spanien die Aufmerksamkeit und die Besorgnisse der Römer erwecken; wie sie ihr denn auch in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Krieges in der That Schranken zu setzen versuchten. Um das Jahr 226 schlossen sie, ihres jungen Hellenentums eingedenk, mit den beiden griechischen oder halbgriechischen Städten an der spanischen Ostküste, Zakyuthos oder Saguut und Emporiü ein Bündnis, und indem sie den karthagischen Feldherrn Hasdrubal davon in Kenntnis setzten, wiesen sie ihn zugleich an, den Ebro nicht erobernd zu überschreiten, was auch zugesagt ward. Es geschah dies keineswegs, um einen Einsall in Italien auf dem Landweg zu hindern — den Feldherrn, der diesen unternahm, konnte ein Vertrag nicht fesseln — sondern teils um der materiellen Macht der spanischen Karthager, die gefährlich zu werden begann, eine Grenze zu stecken, teils um sich an den freien Gemeinden zwischen dem Ebro und den Pyrenäen, die Rom unter seinen Schutz nahm, einen sicheren Anhalt zu bereiten für den Fall, daß eine Landung und ein Krieg in Spanien notwendig werden sollte. Für den bevorstehenden Krieg mit Karthago, über dessen Unvermeidlichst der Senat sich nie getäuscht hat, besorgte man von den spanischen Ereignissen schwerlich größere Nachteile, als daß man genötigt werden könne, einige Legionen nach Spanien zu senden, und daß der Feind mit Geld und Soldaten etwas besser versehen sein werde, als er ohne Spanien es gewesen wäre — war man doch fest entschlossen, wie der Feldzugsplan von 218 beweist, und wie es auch gar nicht anders sein konnte, den nächsten Krieg in Afrika zu beginnen und zu beendigen, womit dann über Spanien zugleich entschieden war. Dazu kamen in den ersten Jahren die karthagischen Kontributionen, welche die Kriegserklärung abgeschnitten hätte, alsdann der Tod Hamilkars, von dem Freunde und
Mommsen: Hamilkar, Hasdrubal, Hannibal in Spanien. 153
Feinde urteilen mochten, daß feine Entwürfe mit ihm gestorben feien, endlich in den letzten Jahren, wo der Senat allerdings zu begreifen ansing, daß es nicht weife fei, mit der Erneuerung des Krieges noch Jange zu zögern, der sehr erklärliche Wunsch, zuvor mit den (balliern im ^ochal fertig zu werden, da diese mit der Ausrottung bedroht, voraussichtlich je-den ernstlichen Krieg, den Rom unternahm, benutzt haben würden, um die transalpinischen Völkerschaften aufs neue nach Italien zu locken ^und die immer noch äußerst gefährlichen Celtenzüge zu erneuern. Daß weder Rücksichten auf die karthagische Friedenspartei noch auf die bestehenden Verträge die Römer abhielten, versteht sich; Überdies boten, wenn man den Krieg wollte, die spanischen Fehden jeden Augenblick einen Vorwand dazu dar. Unbegreiflich ist das Verhalten Roms demnach keineswegs; aber eben so wenig läßt sich leugnen, daß der römische Senat diese Verhältnisse kurzsichtig und schlaff behandelt hat - Fehler, wie sie feine Führung der gallischen Angelegenheiten in der gleichen Zeit noch viel unverzeihlicher aufweift. Überall ist die römische Staatskunst mehr ausgezeichnet durch Zähigkeit, Schlauheit und Konsequenz, als durch eine großartige Anf-faffung und rasche Ordnung der Dinge, worin ihr vielmehr die Feinde Roms von Pyrrhus bis auf Mithradates oft überlegen gewesen sind.
So gab dem genialen Entwurf Hamilkars das Glück die Weihe. Die Mittel zum Kriege waren gewonnen, ein starkes kämpf- und sieggewohntes Heer und eine stetig sich füllende Kaffe; aber wie für den Kampf der rechte Augenblick, die rechte Rüstung gefunden werden sollte, fehlte der Führer. Der Mann, dessen Kopf und Herz in verzweifelter Lage unter einem verzweifelnden Volke den Weg zur Rettung gebahnt hatte, war
nicht mehr, als es möglich ward, ihn zu betreten. Ob fein Nachfolger
Hasdrubal den Angriff unterließ, weil ihm der Zeitpunkt noch nicht gekommen schien, ober ob er, mehr Staatsmann als Feldherr, sich der Oberleitung des Unternehmens nicht gewachsen glaubte, vermögen wir nicht zu entscheiden. Als er im Anfang des Jahres 220 von Mörderhand gefallen war, beriefen die karthagischen Offiziere des spanischen Heeres an feine Stelle Hamilkars ältesten Sohn, den Hannibal. Er war noch ein junger Mann, geboren 249, also damals im neunundzwanzigften Lebensjahr; aber er hatte schon viel gelebt. Seine ersten Erinnerungen zeigten ihm den Vater im entlegenen Lande fechtend und siegend auf dem Erkte; er hatte den Frieden des Catulus, die bittere Heimkehr des unbesiegten Vaters, die Greuel des libyschen Krieges mit durchempfunden.
Noch ein Knabe, war er dem Vater ins Lager gefolgt; bald zeichnete er sich ans. Sein leichter und fest gebauter Körper machte aus ihm einen vortrefflichen Läufer und Fechter und einen verwegenen Galoppreiter; sich den Schlaf zu versagen, griff ihn nicht an, und Speise wußte er nach Soldatenart zu genießen und zn entbehren. Trotz feiner im Lager ver-
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stoffenen Jugend besaß er die Bildung der vornehmen Phönizier jener Zeit; im Griechischen brachte er, wie es scheint', erst als Feldherr unter der Leitung seines Vertrauten Sosilus von Sparta es weit genug, um Staatsschriften in dieser Sprache selber abfassen zu können. Wie er heranwuchs, trat er in das Heer seines Vaters ein, um unter 'dessen Augen seinen ersten Waffendienst zu thun, um ihn in der Schlacht neben sich fallen zu sehen. Nachher hatte er unter seiner Schwester Gemahl Hasdrubal die Reiterei befehligt und durch glänzende persönliche Tapferkeit wie durch sein Führertalent sich ausgezeichnet. Jetzt riefen ihn, den erprobten jugendlichen General, die Stimmen seiner Kameraden an ihre Spitze, und er konnte nun ausführen, wofür fein Vater und sein Schwager gelebt uud gestorben. Er trat die Erbschaft an, und er durfte es- Seine Zeitgenossen haben auf seinen Charakter Makel mancherlei Art zu werfen versucht: den Römern hieß er grausam, den Karthagern habsüchtig; freilich haßte er, wie nur orientalische Naturen zu hassen verstehen, und ein Feldherr, dem niemals Geld und Vorräte ausgegangen sind, mußte wohl suchen, zu haben. Indes, wenn auch Zorn, Neid und Gemeinheit seine Geschichte geschrieben haben, sie haben das reine und gwße Bild nicht zu trüben vermocht. Von schlechten Erfindungen, die sich selber richten, unb von dem abgesehen, was durch Schuld seiner Unterfeldherren, namentlich des Hanmbal Monomachns unb Mago des Samniten, in seinem Namen geschehen ist, liegt in den Berichten über ihn nichts vor, was nicht unter Den bamaligen Verhältnissen unb nach dem bamaligen Völkerrecht zu verantworten wäre; unb barin stimmen sie alle zusammen, baß er wie kaum ein anberer Besonnenheit unb Begeisterung, Vorsicht und Thatkraft miteinander zu vereinigen verstanden hat. Eigentümlich ist ihm bie erstnberifche Verschmitztheit, bie einen ber Grnnbzüge bes phonizischen Charakters bildet; er ging gern eigentümliche unb ungeahnte Wege, Hinterhalte unb Kriegslisten aller Art waren ihm geläufig, unb ben Charakter ber Gegner ftubierte er mit beispielloser Sorgfalt. Durch eine Spionage ohnegleichen — er hatte stehende Kundschafter sogar in Rom — hielt er von den Vornahmen bes Feindes sich unterrichtet; ihn selbst sah man häufig in Verkleibungen unb mit falschem Haar bies ober jenes auskundschaftend. Von feinem strategischen Genie zeugt jedes Blatt der Geschichte dieser Zeit und nicht minder von seiner staatsmännischen Begabung, die er noch nach dem Frieden mit Rom durch seine Reform der karthagischen Verfassung und durch den beispiellosen Einfluß bekundete, den er als landflüchtiger Fremdling in den Kabinetten der östlichen Mächte ausübte. Welche Macht über die Menschen er besaß, beweist seine unvergleichliche Gewalt über ein buntgemischtes und vielsprachiges Heer, das in den schlimmsten Zeiten niemals gegen ihn gemeutert hat. Er war ein großer Mann; wohin er kam, ruhten aus ihm die Blicke aller.
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Hannibal beschloß sofort nach seiner Ernennung (Frühling 220) den Beginn des Krieges. Er hatte gute Gründe jetzt, da das Celtenland noch in Gärung war und ein Krieg zwischen Rom und Macedonien vor der 2chür schien, uugesäuint loszuschlagen und den Krieg dahin zu tieigen, wohin es ihm beliebte, bevor die Römer ihn begannen, wie es ihnen bequem war, mit einer Landung in Afrika. Sein Heer war bald marsch-
fertig, die Kasse durch einige Razzias (Raubzüge) in großem Maßstab gefüllt; allein die karthagische Regierung zeigte nichts weniger als Lust, die Kriegserklärung nach Rom abgehen zu lassen. Hasdrnbals, des patriotischen Volksführers, Platz war in Karthago schwerer zu ersetzen, als der Platz des Feldherrn Hasdrnbal in Spanien, die Partei des Friedens hatte jetzt daheim die Oberhand und verfolgte die Führer der Kriegspartei mit politischen Prozessen. Sie, die schon Hamilkars Pläne beschnitten und bemängelt hatte, war keineswegs gewillt, den unbekannten jungen Mann, der jetzt in Spanien befehligte, auf Staatskosten jugeud-
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lichen Patriotismus treiben zu lassen; und Hannibal scheute doch davor zurück, den Krieg in offener Widersetzlichkeit gegen die legitimen Behörden selber zu erklären. Er versuchte, die Saguntiner zum Friedensbruch zu reizen; allein sie begnügten sich, in Rom Klage zu sühreu. Er versuchte, als darauf von Rom eine Kommission erschien, nun diese durch schnöde Behandlung zur Kriegserklärung zu treiben; allein die Kommissare sahen, wie die Dinge standen; sie schwiegen in Spanien, um in Karthago Beschwerde zu führen und daheim zu berichten, daß Hannibal schlagfertig stehe und der Krieg vor der Thür sei. So verfloß die Zeit. Jeder Tag war kostbar; Hannibal entschloß sich. Er meldete kurz und gut nach Karthago, daß die Saguntiner karthagischen Unterthanen, den Terboleten, zu nahe träten, und er sie darum angreifen müsse; und ohne die Antwort abzuwarten, begann er im Frühling 219 die Belagerung der mit Rom verbündeten Stadt, das heißt, den Krieg gegen Rom. Was man in Karthago dachte und beriet, mag man sich etwa vorstellen nach dem Eindruck, den Yorks Kapitulation in gewissen Kreisen machte. Alle „angesehenen Männer", heißt es, mißbilligten den „ohne Auftrag" geschehenen Angriff; es war die Rede von Desavouierung, von Auslieferung des dreisten Offiziers. Aber fei es, daß im karthagischen Rat die nähere Furcht vor dem Heer und der Menge die vor Rom überwog, sei es, daß man die Unmöglichkeit begriff, einen solchen Schritt, einmal gethan, zurückzuthuu, sei es, daß die bloße Macht der Trägheit ein bestimmtes Auftreten hinderte — man entschloß sich endlich, sich zu nichts zu entschließen und den Krieg, wenn nicht zu führen, doch führen zu lassen. Sagunt verteidigte sich, wie nur spanische Städte sich zu verteidigen verstehen;' hätten die Römer nur einen geringen Teil der Energie ihrer Schutzbefohlenen entwickelt und nicht während der achtmonatlichen Belagerung Sagunts mit dem elenden illyrischen Räuberkrieg die Zeit verdorben, so hätten sie, Herren der See und geeigneter Landungsplätze, sich die Schande des zugesagten und nicht gewährten Schutzes ersparen und dem Kriege vielleicht eine andere Wendung geben können. Indes sie säumten, und die Stadt ward endlich erstürmt. Wie Hannibal die Beute nach Karthago zur Verteilung sandte, ward der Patriotismus und die Kriegslust bei vielen rege, die davon bisher nichts gespürt hatten, und die Austeilung schnitt jede Versöhnung mit Rom ab. Als daher nach der Zerstörung Sagunts eine römische Gesandtschaft in Karthago erschien und die Auslieferung des Feldherrn und der im Lager anwesenden Gerusiasten forderte, und als der römische Sprecher, die versuchte Rechtfertigung unterbrechend, die Verhandlung abschnitt und, sein Gewand zusammenfassend, sprach, daß er darin Frieden und Krieg halte, und daß die Gerusia wählen möge, da ermannten sich die Gerusiasten zu der Antwort, daß man es ankommen lasse auf die Wahl des Römers; und als dieser den Krieg bot, nahm man ihn an (Frühling 218).
Ihne: Der Untergang Karthagos.
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XXIII.
Der Untergang Karthagos.
(W. Ihne).
Nicht zwei Menschenalter (200—146) dauerte der Kampf, welcher Rom die Oberherrschaft über die ganze griechische Welt gab. Während fast des ganzen Verlaufes dieser Zeit ruhte der Kampf mit Karthago, der die zwei vorhergehenden Menschenalter hindurch die Kräfte Roms in einem viel höheren Grade in Anspruch genommen hatte. Dieser Kampf, zuerst geführt um den Vorrang, dann um die Existenz, konnte auch nach dem zweiten Friedensschlüsse nicht als beendigt betrachtet werden. Zu tief ins Herz hinein waren dem römischen Volke Furcht und Haß gedrungen, als daß es mit Gleichmut Karthago als einen unabhängigen, blühenden und starken Staat neben sich hätte dulden können. Zwar war Karthago in dem langen Kampfe so geschwächt, daß es Rom nicht mehr gefährlich werden konnte. Aber die Erinnnerung und die Einbildungskraft beherrschen den Menschen oft nicht weniger, als die Wirklichkeit. Auch das besiegte und gedemütigte Karthago war immer noch derselbe Staat, der mit seinen Heeren fünfzehn Jahre lang Italien bedrängt hatte, es war derselbe Staat, der sich nach den Niederlagen des ersten Krieges so wunderbar schnell erholt und gekräftigt hatte. Wer konnte klar genug sehen und behaupten, daß dieses Karthago für immer in die Reihe harmloser Mittelstaaten getreten sei, daß es nie wieder den Kampf aufnehmen, nie die Gelegenheit benutzen würde, um im Verein mit andern Feinden über Rom herzufallen. Lebte doch noch der Mann, der Rom ewige Feindschaft geschworen hatte und in seinem fruchtbaren Geist unberechenbare Hilfsmittel besaß. Und nicht bloß noch am Leben war Hannibal, sondern er war es auch, der die karthagische Politik leitete. Daß er sie leiten würde, um mit Rom dauernden Frieden zu halten, konnte niemand sich träumen lassen. Von ihm durfte man erwarten, daß er stets wachsam auf der Lauer fein würde, die Blöße zu erspähen, wo er dem verhaßten Rom den Todesstoß geben könnte.
Solche Gefühle und Überzeugungen hatten den Frieden von 201 diktiert und wachten über dessen Ausführung. Karthago war durch diesen Frieden in Fesseln geschlagen, und zum Wächter war ihm Masi-uissa beigegeben, das wirksamste Werkzeug, dessen sich je die römische Politik bedient hat, um ihre Interessen durchzuführen. Es war ausbedungen worden, daß diesem Nomadensürsten von Karthago herausgegeben werden sollten,, alles Land und alle Städte, die früher ihm oder einem semer Vorfahren gehört hätten"; es war ferner verlangt, „daß Karthago
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gegen römische Bundesgenossen keinen Krieg sühren dürfe." Diese zwei Friedensbedingungen wurden in den Händen Masinissas und des römischen Senats die Folterwerkzeuge, womit sie nach Belieben den gebundenen Feind quälen, erschöpfen, erbittern und zu Tode martern konnten, und neben dem Können war ein Wollen, das keine Rücksichten der Großmut, des Erbarmens oder der Scham kannte, eine Glut des Hasses, die nicht eher erlosch, bis Karthago in einen Schutthaufen oerwandelt war.
Die Zeit 0om Frieden von 201 bis zum Ausbruche des Vernichtungskrieges (149) ist ausgefüllt mit unaufhörlichen Angriffen Masinissas auf bald diesen, bald jenen Teil des karthagischen Gebietes, Angriffen, zu denen er sich durch die römische Gunst berechtigt uud geradezu herausgefordert fühlte, und denen die Karthager nichts entgegensetzen konnten, als die Berufung auf den Schiedsspruch Roms. Wiederholt wandten sie sich klagend dorthin, ohne jedoch bei den stolzen Siegern Gehör oder Recht zu ffuden. Im Jahre 157 schickte der Senat zur Untersuchung der Angelegenheit eine Gesandtschaft nach Afrika, bei der sich auch der ältere Cato befaud. Diesem gegenüber beriefen sich dieKarthager auf ihr klares Recht. Masinissa dagegen erklärte sich der Entscheidung der Römer unbedingt unterwerfen zu wollen. Cato sah in dem Benehmen der Karthager einen unerträglichen Trotz, und von dem Augenblicke an war er ihr geschworener Feind. Mit Staunen und Scheelsucht bemerkte er den blühenden Zustand des Landes. Die Karthager hatten sich mit unermüdlichem Fleiße aus der Not herausgearbeitet, in welche sie der lange Krieg mit Rom gestürzt hatte. Nichts schien diese beharrlichen Pnnier auf die Dauer ruinieren zu können. Trotz des Verlustes ihrer auswärtigen Besitzungen, trotz der Leiden des Krieges und der unaufhörlichen Quälereien des Masinissa, trotz der Abtrennung so vieler einträglicher Landestelle, strotzte Karthago von Leben und Reichtum. Im Hafen drängte sich Schiff an Schiff, in den Straßen, auf den Märkten wogte die emsige Menge. Das Land war bebaut wie ein Garten, überall waren die Zeichen von Wohlstand und Kraft. Es schien nicht mehr das Karthago, das erschöpft und ermattet vor fünfzig Jahren um Frieden gebeten hatte. In der engen Brust Catos lebten die alten Erinnerungen auf an die schweren Zeiten des Hannibalischen Krieges, welche das jüngere Geschlecht fast vergessen hatte, weil es sie nicht, wie er, selbst erlebt. Er kehrte nach Rom zurück mit der festen Überzeugung, Karthago müsse von der Erde vertilgt werden, wenn Rom bestehen solle. Es wird erzählt, daß er bei jeder Gelegenheit immer auf denselben Gedanken zurückkehrte und jede seiner vielen Reden mit dem Satze endete, „Karthago müsse zerstört werden." Er arbeitete mit Erfolg, weil er willige Hörer fand. Nichts ist ja leichter anzufachen, als der Haß, besonders wenn er mit Raub- und Gewinnsucht im Bunde ist; und kein Haß kleidet sich so
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leicht und gern in den Schmuck der Tugend, als der Nationalhatz, der sich fälschlich Patriotismus nennt. Es bestand bald nach dem Jahre 157, in welches Catos Gesandtschaft fällt, ein stillschweigendes Einverständnis unter den Hauptführern der römischen Diplomatie, daß dem karthagischen Staate ein Ende gemacht werden müsse. Nur die Zeit, die Gelegenheit, die Mittel waren noch nicht bestimmt. Man beeilte sich auch nicht damit, da man im Gefühl der Stärke ruhig abwarten konnte, bis der rechte Augenblick kam.
Obgleich der Vertilgungskrieg gegen Karthago nunmehr in Rom beschlossene Sache war, so zog doch der Senat vor, zuerst feinen bereitwilligen Knecht, den Numidierkönig Masinissa, gegen die dem Untergang geweihte Stadt loszulassen, um dann mit leichter Mühe dem niedergeworfenen Feind den Todesstoß zu geben. Da Rom den Masinissa ganz in feiner Gewalt hatte und ihn anhetzen unb zurückrufen konnte, wie es wollte, ba ferner Karthago ohne römische Erlaubnis ober Dulbung bisher selbst zur Notwehr nicht bie Waffen gebraucht hatte, so können wir mit Sicherheit annehmen, baß ber Krieg, ber jetzt zwischen ben beiben afrikanischen Staaten ausbrach, bie Frucht römischer Eingebungen war. Masinissa griff eine karthagische Stabt (Oroskopa) an, unb bie Karthager, statt wie gewöhnlich sich bittenb nach Rom zu wenben, fetzten sich zur Wehr unb schickten ein Heer gegen Masinissa. Der Sieg war auf feiten Masinissas, aber es war kein leichter unb kein ganz entscheidender Sieg gewesen. Die Karthager versuchten, unter römischer Vermittelung Frieden zu erlangen und waren zu großen Opfern bereit; aber die Verhandlungen zerschlugen sich an der Forderung Ma-sinissas, die Verbannungsdekrete gegen feine Anhänger in Karthago sollten widerrufen werden. So dauerte also der Krieg fort, ohne daß auch jetzt noch die Römer sich beteiligten. Der alte Masinissa, jetzt nahe an der Grenze der neunziger Jahre stehend, aber noch immer rüstig am Körper wie am Geiste, wußte bas karthagische Heer in einer oben Gegeub festzuhalten unb enbltch vollkommen einzuschließen, bis es vom Hunger unb von Krankheiten aufgerieben, zuletzt sich auf Gnabe unb Ungnabe ergeben mußte. Der karthagische Felbherr Hasbrubal erkaufte ben Abzug bes elenben Restes seiner Leute dadurch, daß er im Namen Karthagos auf alle Bedingungen Masinissas einging. Aber auch dieser schmähliche Vertrag soll von den Numidiern verletzt worden fein. Die unter dem Joche erschöpft und unbewaffnet entlassenen Karthager wurden auf dem Heimwege von Masinissas Sohn Gulussa überfallen und fast bis auf den letzten Mann niedergemacht.
Masinissa glaubte sich am Ziel. Karthago war überwunden, und er durfte nur feine Hanb ausstrecken, um feine Herrschaft über das ganze Afrika auszudehnen. Da wurde ihm von Rom aus halt geboten. Rom
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batte den Untergang Karthagos beschlossen, nicht dessen Bereinigung mit Numidien, nnd indem es jetzt mit festem Entschlüsse in den Gang der Ereignisse etngrtff, schob es ohne Bedenken den alten Verbündeten auf die Seite.
Der Krieg Roms mit Karthago, der nun beginnt, war kein Krieg im eigentlichen unb ehrenvollen Sinne des Wortes. Es war eine Exekution. An Händen und Füßen gefesselt, ermattet und entmutigt, befand sich Karthago in der Gewalt seines Todfeindes. Aber im Wahnsinn der Verzweiflung zerriß es seine Bande und rang mit seinen Peinigern, wie ein zum Tode Geführter noch auf dem Schafott mit den Henkersknechten einen grausigen Kampf ums Leben kämpft. Es konnte nicht hoffen auf Sieg. Nur ein Untergang, würdig seiner großen Vergangenheit, konnte der Preis des letzten Heldenmutes sein; und diesen Preis hat es errungen.
Wir übergehen die Einzelheiten, die dem letzten verzweifelten Ringen vorausgingen, die hinterlistige Tücke, mit der die Römer ihr Opfer, das ihnen nicht mehr entgehen konnte, mit trügerischer Hoffnung täuschten. Nachdem sie sich für die Verletzung des Friedensvertrages, für den Kamps gegen einen römischen Bundesgenossen, zunächst hatten Geiseln geben, bann die Waffen und Schiffe hatten ausliefern lassen, da erst nach der Landung ihres Heeres in Afrika eröffneten sie den karthagischen Gesandten, die gehofft hatten, daß es nunmehr genug sei, daß sie den Zorn der Feinde abgewendet hätten und in die entwaffnete Stadt die Friedensbotschaft zurückbringen würden, sie müßten ihre Stadt verlassen und sich zwei Meilen vom Meere ansiedeln, der Beschluß des römischen Volkes sei unwiderruflich, Karthago müsse zerstört werden. Mit einem Aufschrei des Entsetzens vernahmen die Abgeordneten diese Schreckensbotschaft. Sie warfen sich in den Staub und flehten verzweiflungsvoll um Erbarmen. Aber vergeblich. Als es in der Stadt bekannt wurde, was die Römer verlangten, durchzuckte ein einmütiges Gefühl das ganze karthagische Volk: lieber sterben, als den heiligen Boden ihrer Heimat der Zerstörung preisgeben. Ohne Heer, ohne Waffen und Schiffe, ohne Bundesgenossen, verraten und betrogen, umzingelt von einem mächtigen Feindesheere, beschränkt auf den Umkreis ihrer entblößten Mauern, beschlossen sie dennoch zu widerstehen, wäre es auch nur, um den Untergang ihrer Stadt nicht zu überleben. Bald war die ganze Stadt in eine einzige Waffenwerkstätte verwandelt, wo ohne Unterlaß Tag und Nacht Männer und Frauen arbeiteten. In einem großen, reichen Mittelpunkte des Welthandels, wie Karthago, konnte es nicht an Vorräten aller Art fehlen: Eisen, Holz, Leder und anderes Material war gewiß vorhanden, und auch an geschickten Arbeitern war kein Mangel. Wenn wir hören, daß die Frauen ihr Haar hergaben für die Sehnen der Wurfmaschinen, so ist dies vielleicht mehr ein Beweis für den Eifer der
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Frauen, als für den herrschenden Mangel an Tierhaaren. In kurzer Zeit war das Nötigste geschaffen. Jeden Tag fertigte man 100 Schilde, 300 Schwerter, 500 Wurfgeschosse und eine Anzahl Katapulten (Schleudermaschinen.) Die ganze große Bevölkerung war von einem Gefühle beseelt, von dem Mute und der Begeisterung, zu kämpfen bis zum Tode. Es wurde beschlossen, die Sklaven zu befreien und zur Teilnahme am Kampfe aufzurufen. Der den Römern zuliebe nach dem Kriege gegen Masinissa verbannte Hasdrubal wurde aufgefordert zurückzukehren. Dieser hatte auf eigene Faust ein Heer gebildet, welches sich auf 20000 Mann belief. Er stellte sich damit seinem Vaterlande zur Verfügung und erhielt den Oberbefehl im Felde, während ein anderer Hasdrubal, obgleich er ein Enkel Masinissas war, mit der Leitung der Verteidigung der Hauptstadt beauftragt wurde.
Als nun nach kurzer Frist die Konsuln, die gar nicht daran gedacht hatten, daß die gänzlich entwaffnete Stadt ernstlichen Widerstand leisten würde, von Utifa heranrückten, fanden sie die Lage sehr verändert. Doch glaubten sie, ohne große Mühe die Stadt mit Sturm nehmen zu können. Sie griffen im Westen und Süden die Mauern an, sahen aber bald die Vergeblichkeit eines Angriffes ohne Vorbereitungen ein. Nachdem sie zweimal zurückgeschlagen worden waren, mußten sie sich entschließen, eine Belagerung in aller Form zu unternehmen. Wiederholte Versuche, mit Sturm die Stadt zu nehmen, wurden von den Belagerten tapfer zurückgewiesen. Der Sommer war nutzlos verstrichen; die römischen Waffen hatten weder im Felde, noch vor den Mauern Karthagos im ersten Jahre des Krieges im geringsten dazu beigetragen, mit dem Glanz des militärischen Erfolges die Perstdie der römischen Politik zu bedecken. Das Jahr 148 war übrigens den Römern nicht günstiger, als das vorhergehende. Die neuen Konsuln gaben, wie es scheint, die Belagerung von Karthago ganz aus und setzten sich die Ausgabe, das karthagische Gebiet und die noch treuen Städte zu unterwerfen. Sie belagerten Klypea zu Lande und zur See, aber ohne Erfolg. Der ganze Sommer ging hin mit vergeblichen Versuchen, die Stadt Hippo Diarrhy-tus zu nehmen. Bei einem Ausfall, den die Besatzung machte, griffen die Karthager kräftig ein. Die römischen Belagerungsmaschinen wurden zerstört, und die Konsuln mußten mit Schimpf und Schande abziehen.
Da wählten die Römer mit Beseitigung des entgegenstehenden Gesetzes den erst siebenunddreißig Jahre alten jüngeren Seipio Ämilianus zum Konsul und übertrugen ihm mit Umgehung der üblichen Losung die Kriegführung in Afrika. Sein Großvater Seipio hatte den langen, schweren Krieg gegen Hannibal zu glücklichem Ende geführt. Von einem Seipio konnte man erwarten, daß er auch jetzt den Sieg über Karthago heimbringen werde.
Aus allen Jahrhunderten. 11
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Der bisherige Mißerfolg war nicht sowohl durch den Mangel an Truppen verursacht worden, als durch die Unfähigkeit der Führer und die schlechte Zucht der Soldaten. Die römischen Soldaten dachten mehr an Raub und Schwelgerei, als an eifrige Kriegsführung. Sie hatten sich vorgestellt, daß das reiche Karthago, das man ja vorher entwaffnet hatte, eine leichte Beute werden würde. Zahlreiche Freiwillige waren durch diese lockende Aussicht angezogen worden. Eine Unmasse von Händlern, Spekulanten, Marketendern, Gesindel aller Art war dem Heere gefolgt uud lockerte die Zucht. Scipio mußte damit anfangen, die entarteten Soldaten zu ihrer Pflicht zurückzuführen, das Lager zu säubern, die Zügel der Kriegszucht stramm anzuziehen. Als dies geschehen, entwickelte er ein planmäßige, zähe Energie, die ihn Schritt für Schritt, zwar langsam, aber sicher seinem Ziele näherte.
Seinen ersten Angriff beschloß er von der Landseite zu machen, auf dem Isthmus, der Karthago mit dem Fest-lande verband. Als die Karthager diese Absicht merkten, bezog Hasdrnbal auf derselben Seite, vor den Mauern der Vorstadt, ein Lager. Indem aber Scipio an einer Stelle einen Scheinangriff machte, wodurch er Hasdrubal täuschte, gelang es ihm, von Überläufern geleitet, in der Nacht an einem entfernteren Teile unbemerkt in die Stadt zu dringen, ein Thor zu öffnen und feine Truppen einzulassen. Zwar war er nun erst in der Vorstadt, und in diesem mit Hecken und Gräben durchzogenen Raume konnte er sich nicht ausbreiten noch festsetzen; auch scheint es, daß die Örtlichkeit nicht erlaubte, von dieser Stelle einen Angriff auf die innere Stadt zu machen; Scipio entschloß sich also freiwillig oder gezwungen, die Vorstadt wieder zu räumen. Aber Hasdrubal konnte doch nun nicht mehr seine Stellung vor den Mauern halten. Er gab sein Lager auf der Landenge auf und zog sich in die Stadt zurück. Scipio verfolgte den errungenen Vorteil. Er verbrannte das verlassene Lager Hasdrnbals und zog nun eine doppelte Befestigungslinie vor der Stadt quer durch die Landenge von See zu See, innerhalb welcher seine Truppen gesichert standen und alle Verbindung zwischen Karthago und dem festen Lande abschnitten. Dadurch war der erste Schritt zur Aushungerung der Stadt gethan. Es ist wahrscheinlich, daß ein großer Teil der Einwohner sich schon jetzt ergab oder flüchtete
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Ihne: Der Untergang Karthagos. 166
Der entschlossenere Teil der Bürgerschaft zog sich in die Altstadt zurück, nm hier den Kampf fortzusetzen. Nach Absperrung der Zufuhren, die bisher zu Lande gekommen waren, war man auf die Verproviantierung zur See angewiesen, die nur unter den günstigsten Umständen gelingen konnte, wenn ein starker Wind die verwegenen Seeleute mit ihren Luftschiffen durch die römischen Kreuzer hindurch trieb. Um auch dieses zu verhindern, sperrte Scipio durch einen Steindamm die Mündung des Hafens, ein Werk, das an den Damm erinnert, den Alexander vom Lande aus au die Jnfelftadt Tyrus baute. Anfangs verlachten die Karthagerin Unternehmen, das ihnen eitel und aussichtslos vorkam; dann suchten sie es zu verhindern; aber ruhig arbeiteten die Soldaten, die Scipio im Überflüsse zur Hand hatte, Tag und Nacht weiter, und endlich war das schwierige Werk fertig und der Hafen von Karthago geschlossen. Während aber die Römer emsig arbeiteten, die alte Hafenmündung zu sperren, gruben in aller Stille die Karthager eine neue. Tag und Nacht arbeiteten Männer, Frauen und Kinder nm die Wette. Zugleich erbauten sie aus altem Holz eine Flotte, und mit solcher Heimlichkeit ging das Werk vor sich, daß die Gefangenen den Römern nur berichten konnten, sie hörten ein Hämmern und Pochen, wüßten aber nicht, woher •es rühre. Endlich war dieses klar. Als die letzte Erdschicht beseitigt war, welche das Meer und das Hafenbecken trennte, segelte eine Flotte .von 50 Dreirudrern und einer großen Anzahl kleinerer Schiffe stolz in die See hinaus und setzte die Römer durch ihr bloßes Erscheinen in ^Erstaunen und Furcht; wären sie sogleich zum Angriff geschritten, so wären die unvorbereiteten römischen Schiffe verloren gewesen. Aber nach einer kurzen Probefahrt, die gewiß bei den neuerbauten schiffen und den neuen Mannschaften nötig war, kehrten die Karthager in den Hafen zurück, um erst am dritten Tage wieder hinauszusegeln und den Kampf mit den Feinden aufzunehmen. Diese hatten sich mittlerweile gerüstet, und e* entspann sich eine mörderische Schlacht, die den ganzen A.ag dauerte und zu keiner Entscheidung führte. Als gegen Abend die Karthager in ihren Hasen zurückkehren wollten, verstopften die kleineren Fahrzeuge die gewiß unvollkommen hergestellte Mündung und zwangen die größeren draußen zu bleiben. Hier wurden sie sofort von der römischen flotte angegriffen und fochten diese letzte Seeschlacht des karthagischen Volkes mit einem Mute, der der alten Seebeherrscherin würdig war. Die Römer behielten aber schließlich die Oberhand und zerstörten einige^ der karthagischen Schiffe, von denen wir uns wohl denken können, daß sie, in der Eile aus altem Holz gezimmert, den römischen nicht gewachsen waren. In der Nacht kehrten die Karthager in den Hasen zurück, und sie unternahmen es nicht, zum zweiten Male den Kamps zur See zu erneuern.
Weitere Versuche Scipios, nunmehr durch Dreschmaschinen die
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Mauern der Stadt zu zerstören, hatten zunächst bei dem angestrengten Eifer, mit dem die Belagerten sofort die zerstörten Stellen wiederherstellten, keinen wesentlichen Erfolg.
Das dritte Jahr des Krieges neigte sich nun zum Ende und immer noch stand die heldenmütige Stadt trotzig da und uubezwungen. Es war, wie es scheint, um diese Zeit, daß Hasdrubal einen letzten Versuch machte, wegen des Friedens zu unterhandeln. Er verlangte nichts als Schonung der Stadt und ihrer Verteidiger; alles andere waren die Karthager bereit, über sich ergehen zu lassen. Gulussa war der Unterhändler und riet Scipio zur Nachgiebigkeit, weil der Erfolg noch immer ungewiß sei und bei dem bevorstehenden Ablauf des Jahres es leicht kommen könne, daß ein anderer Konsul von Rom geschickt würde, die Fortsetzung des Krieges zu übernehmen. Vielleicht hatte der Numidier den schlauen Hintergedanken, daß das Fortbestehen Karthagos für seine Sicherheit vorteilhafter wäre, als die Nachbarschaft eines römischen Prokonsuls. Aber Scipio wies den Rat mit Entschiedenheit ab. Nur eins wollte er zugestehen: Hasdrubal sollte für sich, seine Gattin und Kinder nebst zehn ihm näher stehenden Familien freien Abzug haben. Die übrigen Bewohner sollten sich auf Gnade und Ungnade ergeben. Wäre Hasdrubal der elende Feigling gewesen, als welchen ihn unbegreiflicher Weise der Grieche Polybius schildert, so hätte er nichts Besseres thun können, als auf die Bedingungen eingehen. Aber er verschmähte es, seine tapferen Mitbürger in ihrem letzten Todeskampfe zu verlassen, und wies die angebotene Schonung mit Entrüstung zurück.
Noch einen festen Platz von Bedeutung hatten die Karthager jetzt in ihrem Gebiete, von dem aus trotz der Hafensperrung und der Blokade ihnen von Zeit zu Zeit durch verwegene Schisser Vorräte zugeführt wurden. Dieses war Nepheris, ein Ort, dessen Lage wir leider nicht mehr bestimmen können, und der trotz seiner offenbaren Wichtigkeit sonst nicht bekannt ist. Hier stand Diogenes, der jetzt das von Hasdrubal gebildete und früher so vortrefflich geführte Heer befehligte. Scipio schickte einen Teil seines Heeres unter C. Lälius und dem Numidierfürsten Gulussa gegen Nepheris und leitete von Karthago aus die Belagerung. Die Einzelheiten derselben sind wenig bekannt. Die Stadt und das Lager des Diogenes fielen im Winter in die Hände der Belagerer, und es wurden, wie Appian berichtet, dabei 70000 Menschen aus der Flucht getötet und 10 000 gefangen, eine Heldenthat, bei welcher Gnlnssa mit seinen Elefanten uud seiner nnmidischen Reiterei das Hanptverdienst gehabt zu haben scheint.
Nun war das unglückliche Karthago in der That ohne Rettung verloren. Die Römer konnten ruhig abwarten, bis der Hunger ihr Werk vollenden würde. Obgleich die Zahl der Verteidiger sehr zusammen-
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geschmolzen war, so brach doch jetzt eine so entsetzliche Not aus, daß, wenn wir der Erzählung glauben können, viele sich den Tod gaben, andere die Leichen verzehrten oder sich den Römern, d. H. der Sklaverei überlieferten. Am Anfange des Frühjahrs 146, als schon Ermattung, Krankheit und Verzweiflung Sehnen und Geist der Verteidiger gelähmt hatten, ging Scipio zum Sturme vor. Es war nicht mehr nötig, die Mauerbrecher in Bewegnng zu setzen. Die Karthager gaben den so lange verteidigten Handelshafen auf und überlieferten ihn mit allem, was er enthielt, den Flammen. In der Verwirrung, die dadurch entstand, gelang es den Römern unter Führnng des C. Lälius, die Mauer, welche den Kriegshafen umgab, unbemerkt zu ersteigen und von dort in die Stadt zu dringen. Die Legionen besetzten zuerst den nahe gelegenen Marktplatz. Von diesem führten dreiengeStraßenzurByrfa, der Burg der Stadt, zwischen Häusern, die bis zu sechs Stockwerk emporragten. Hier entspann sich noch ein blutiger Straßenkampf, der um so beklagenswerter war, da er ohne allen denkbaren Zweck, bloß aus Wut und Erbitterung geführt wurde. Von Haus zu Haus mußten sich die Römer den Weg bahnen, die Seitenwände durchbrechend, auf den flachen Dächern kämpfend und von einem zum andern ans Brettern und Balken vorwärts dringend. Am Fuße der Byrsa angelangt, ließ Scipio den ganzen eroberten Stadtteil anzünden, um zum Angriff auf deu letzten Zufluchtsort der Besiegten freien Raum zu gewinnen. Aber es kam nicht mehr zum Sturm. Am siebenten Tage, nachdem die Römer in die Stadt eingedrungen waren, unterwarf sich der klägliche Rest des karthagischen Volkes. 50000 Männer, Weiber und Kinder wurden durch eine Pforte aus der Burg herausgelassen und als Gefangene abgeführt. Der Rest der Verteidiger, bestehend ans einer Schar von 900 römischen Überläufern, warf sich in den Tempel des Äskulap auf der Burg, um sich unter dessen Trümmern zu begraben. Unter ihnen befand sich auch Hasdrnbal mit seiner Gemahlin und seinen Kindern, wie es uns bedünken will, als unfreiwilliger Teilnehmer an dem Verzweiflungskampfe der dem Tode Geweihten. Es gelang ihm endlich, den Rasenden zu entkommen, und er ergab sich der Gnade des Siegers. Seine Gemahlin aber, wie erzählt wird, hatte einen höheren Geist als er. Sie verschmähte es, ihr Vaterland zu überleben. Von den Zinnen des schon brennenden Tempels herab, wohin der Rest der Überläufer zurückgedrängt war, verfluchte sie ihren Gatten, den sie zu Seipios Füßen sah, als einen Feigling und Verräter und warf vor seinen Augen erst ihre beiden Söhne unb dann sich selbst in die Flammen. Die eroberte Stadt wurde nun der Plünderung übergeben. Die Beute selbst nach allen Drangsalen des Krieges war unermeßlich groß. Das Gold und Silber wurde für den Staatsschatz der Republik zurückbehalten. Die Kunstwerke, welche die Karthager
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zu den Zeiten der Macht aus Sieilien weggeführt hatten, wurden, tote der berühmte eherne Stier des Phalaris aus Agrigent, den ursprünglichen Besitzern zurückerstattet. Die ausgeplünderte Stadt wurde den Flammen überliefert. Als Scipio das Feuermeer überschaute, welches siebzehn Tage lang in den Straßen wütete, da überkam ihn der Gedanke an die Vergänglichkeit aller Größe so mächtig, daß er, im Geiste den Untergang der eigenen Vaterstadt vorausschauend, unwillkürlich die Homerischen Worte sprach:
„Einst wird kommen der Tag, wo das heilige Jlium hinsinkt,
Priamus auch und das Volk des lanzengewaltigen Königs."
An seiner Seite stand sein Freund und Ratgeber Polybins. Er hörte und merkte sich diese Worte. Ob er wohl eine Ahnung hatte, daß um dieselbe Zeit die Hauptstadt seines eigenen Vaterlands, das herrliche Korinth, in Trümmer sank?
Über die Stätte des verwüsteten Karthago wurde der Pflug gezogen und eine feierliche Verwünschung ausgesprochen gegen jeden, der je auf derselben eine neue Stadt zu gründen unternehmen würde. Rom war endlich befreit von der ewig nagenden Furcht, von dem Neide uud der Mißgunst, welche auch das gedemütigte und gebrochene Karthago immer noch eingeflößt hatte, so lange es aufrecht stand. Der alte Cato hatte es nicht erlebt, seinen sehnlichen Wunsch erfüllt zu sehen, er war im Anfang des Krieges gestorben. Aber die überschwengliche Freude, welche die Nachricht von Karthagos Fall in Rom verursachte, war ein Beweis, daß Cato nur ausgesprochen hatte, was die große Mehrheit des römischen Volks fühlte. Scipios harrte ein glänzender Triumph, würdig der Triumphe, die sein Vater Ämilins Paulus über Perseus uud sein Großvater über Karthago gefeiert hatte. Der beispiellose Heldenmut, mit dem die Karthager gekämpft hatten bis auf die letzte bittere Stunde, hatte es ganz vergeffen lassen, daß sie am Anfange des Krieges wehrlos dagestanden hatten. Sie hatten sich zu ebenbürtigen Feiudeu emporgeschwungen und noch einmal den Römern Achtung eingeflößt, eine Achtung, die leider nur in der Freude über Scipios Sieg ihren Ausdruck fand. Das römische Volk war nicht fähig, seine Achtung vor gefallenen Feinden durch Großmut zu bethätigen. Die gefangenen Karthager wurden zum Teil als Sklaven verkauft, aber viele fanden im Kerker durch Hunger und Elend ihren Tod. Nur Hasdrubal und einige andere hervorragende Männer erfreuten sich milder Behandlung. Sie verlebten den Rest ihrer Tage ruhig, wenn ihnen das Bewußtsein Ruhe ließ, daß ihre Vaterstadt in Schutt uud Trümmern lag. Das karthagische Gebiet kam größtenteils an Utika, die nunmehrige Hauptstadt der römischen Provinz Afrika. Die Städte, welche treu zu Karthago gehalten hatten, wie Hippo, Klypea und andere, wurdeu mit Gebietsverlust bestraft. Der Keim semitischer Kultur,
Falke: Die innere Entwickelung des römischen Staates rc. 167
bie phönizifche Sprache, Kunst, Wissenschaft, Religion wichen allmählich, wenn auch nur langsam, bem römischen Wesen, um enblich spurlos zu verschwinben. Das nnmibische Reich erhielt, wie es scheint, ferne Vergrößerung. Es würbe seinen inneren Streitigkeiten überlassen, bie aus ihm einen ungefährlichen Nachbarn machten. Unb so hatte Rom Ruhe auf biefer Seite für geraume Zeit.
XXIV.
Die innere Entwickelung des römischen Staates seit dem Äms-gange des Ständekampfes.
(I. von Falke).
Um bas Jahr 300 v. Chr. war ber alte, jahrhuubertelang fortgeführte Verfassungskampf zwischen ben Patriciern unb Plebejern mit ber gesetzlichen Anerkennung ber oollen Gleichberechtigung beiber ©täube ausgeglichen; bie Verfassung war vollenbet. Aber sofort trat ein neuer Kampf an bie Stelle bes alten, ober vielmehr ber alte pflanzte sich fort in neuer Gestalt mit veränberten Parteien. An bie Stelle ber Patricier unb Plebejer traten bie Reichert unb bie Armen, bie Vornehmen unb bie Proletarier, bie Aristokraten unb bas Volk; eine beschränkte Anzahl von Familien patricischen Geschlechts, zu bettelt sich anbere reich geworbene von plebejischer Herkunft gesellten, hatten bie Herrschaft wie ein Erbrecht an sich gerissen; sie ließen nur teilnehmen, wer zu ihnen gehörte, ob mit ober ohne Verhieltst, während ber Emporkömmling aus bem Volke, ber homo novus, mit vereinter Gewalt unterbrückt würbe. Was bie vielen Siege, bte Eroberungen brachten, bie reiche Beute, bie gewonnenen, bem römischen Staatsgut zugeschlagenen Länbereien, bie Vorteile aus ber Verwaltung ber abhängigen Lanbschasten, bas kam alles jenen Herrschen-ben Familien ber Optimalen allein zu gute. Das Volk bagegen wuchs an Menge, aber nahm ab im Vermögen bis zu allgemeiner Verarmung.
Das Übet rührte schon aus bett früheren Zeiten bes inneren Kampfes Her. Die Schnlbenlaft, welche bie Plebejer brückte, spielt barin mit. Mehr unb mehr waren biese gezwungen worben, ihren Grunbbesitz ben Gläubigern abzutreten, sich in bie Abhängigkeit zu begeben ober sich bcm Proletariat zuzugesellen. Der kleine Gruubbesitzer, ber solibe Mittelstand bie eigentliche Kraft bes Volkes, fchwanb aus ber Mitte heraus, unb bie Bevölkerung schieb sich in reich unb arm, einerseits in bie Groß-grunbbesitzer unb Kapitalisten, anderseits in bie brotbebürstige Menge, bie zum Spielball unb Werkzeug ber Volkssührer, zur Reife für bte
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Monarchie heranwuchs Die politische Frage war zur socialpolitischen geworden.
-Lay Übel war früh vorhanden, aber auch früh erkannt worden und ebenso die Heilung; aber mit dem Erkennen war diese noch nicht geschehen.
Teilung konnte nur in der Bildung eines neuen grundbesitzenden Mittelstandes gesunden werden, und diesen zu schafseu, dahin zielte schon das erste agrarische Gesetz des Spurius Cassius Viseellinus. Das Mittel war vorhanden. Er verlangte (468 v. Chr.) die Verteilung der Staatioländereien, welche bisher ausschließlich nicht im Besitz, aber im Genuß der Patricier gestanden, an die bedürftigen Bürgerfamilien. Die Patricier widerstanden mit aller Krast; Eassins erlag und siel als Hochverräter, aber die unheilvollen Zustände blieben und wuchsen fort und
fort, und drohend stand im Hintergründe als Heilmittel das agrarische Gesetz.
, Mittlerweile war Italien erobert worden und das römische Stadtgebiet, das Gebiet der römischen Bürgergemeinde, hatte sich erweitert vom Po bis zur Südspitze der Halbinsel. Aber auch das sociale Übel hatte sich in gleicher Weise über ganz Italien ausgedehnt. In den zahlreichen, überaus blutigen, ost bis zur Vernichtung geführten Kriegen war die ^>ahl der freien Männer überall in den Landschaften zusammengeschmolzen, der Mittelstand ging unter in der Verarmung, der Bauer verschwand vor dem Großgrundbesitzer uud dieser bewirtschaftete die ausgedehnten Ländereien im großen durch Tausende von Sklaven, die, unter harter Behandlung stehend, wiederum eine neue Gefahr boten.
Zwar gab es Abzugskanäle, indem die gedienten Soldaten dann und wann in die eroberten Landschaften zu Kolonieen ausgesendet wurden. Dadurch wurde wohl die Entscheidung verzögert, aber nicht verhindert. In den Zeiten des höchsten Glanzes der römischen Waffen, da Spanien unterworfen, Karthago gefallen, Griechenland, Macedonien, Kleinasien zu Provinzen geworden, erschien die Gefahr so drohend, daß Scipio Amilianus, nicht, wie man bisher im Staatsgebet gewohnt war, um die Vermehrung des Landes, sondern nur noch um die Erhaltung Roms zn den Göttern betete. Und doch wollte sich niemand finden, das Vaterland zn retten, galt es ja doch einen Kampf aus Leben und Tod mit der herrschenden Macht im Staate.
Zwei junge Männer wagten endlich den Kampf, zwei Brüder aus dem Kreise der Optimalen, einem der edelsten Geschlechter angehörig; Tiberins und Gajns Sempnmius Gracchus. Durch ihre Mutter Cornelia waren sie Enkel Scipios, des großen Afrikaners; durch Geburt, ^amilienverbindnngen, durch eigene Talente und früh erworbene Auszeichnungen standen ihnen auf dem gewöhnlichen Wege die höchsten Ehren bevor, sie aber erkannten die Not des Vaterlandes und widmeten
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sich feiner Rettung. Tiberius, der ältere Bruder, Volkstribun im Jahre 134 v. Chr., nahm zuerst die Idee des agrarischen Gesetzes wieder auf und beantragte die Verteilung der Staatsländereien durch ganz Italien an die ärmeren Bürger. Zwar fein Antrag wurde Gesetz und auch zum großen Teile ausgeführt, aber im gewaltsamen Widerstände der Optimalen fiel Tiberius als ein Opfer feines Strebeus.
In Gajns Gracchus, feinem jüngeren Bruder, fand er zehn Jahre später einen Rächer und Vollender feines Werkes. Gajus, mehr Staatsmann als fein Bruder, erkannte, daß die Durchführung des agrarischen „ Gesetzes nicht zu erreichen, die Heilung des Übels, die Lösung der socialen Frage, überhaupt unmöglich fei, so lange die Macht der Gegner, die ihre Stütze im Senat hatten, nicht gebrochen fei, so lange eine Aristokratie über Rom regiere. Seine feurige Natur schreckte vor einer Umänderung der Staatsverfaffung nicht mehr zurück, feine Klugheit zeigte ihm Mittel und Wege, feine Energie und Thatkraft ließen in den zwei Jahren feines Tribunats das Ziel erreicht scheinen. Gajus konnte sich eine Zeitlang als den Herrn Roms betrachten, und vielleicht mochten solche Gedanken bleibender Größe bereits fein jugendlich kühnes und männlich kluges Haupt umschweben. Aber die Zeit der Alleinherrschaft war noch nicht gekommen. Auch er fand feinen Tod im Straßenkampf, den die Gegner als letztes Mittel des Widerstandes hervorgerufen hatten.
Was Gajus Gracchus stürzte, war mit die Lösung einer zweiten Frage, die ebenfalls immer stärker Rom bedrohte, die Frage des Bürgerrechts für die italischen Bundesgenossen. Rom hatte fein Gebiet über die ganze Halbinsel ausgedehnt, alle Bewohner derselben mußten feine Kriege führen; sie dienten in seinen Heeren, aber durchaus nicht mit dem gleichen Rechte, mit dem gleichen Anteil am Gewinne. Rom, die Stadt, allein regierte, und die Bevölkerung Italiens, statt sich zu gleichem Rechte emporzuarbeiten, sank nur tiefer in Bedrückung und Abhängigkeit. Immer lauter, immer dringender forderten die Italiker das Bürgerrecht, und Gajus Gracchus war geneigt, es ihnen zu gewähren, hoffend zugleich, daß er mit ihnen feine Partei verstärken werde. Aber gerade in dieser fand er Widerstand. Sie wollte Recht und Gewinn für sich behalten. So ging er selbst darüber zu Grunde, vom Volke im Stich gelassen, und einen jahrelangen Krieg, Ströme von Blut und säst völlige Verwüstung Italiens sollte es kosten, bis das Bürgerrecht gewährt wurde, bis die Stadtgemeinde sich zur Landesgemeinde erweiterte.
Durch die Gracchen war die regierte Menge zu einer geschloffenen Volkspartei geworden, die den Aristokraten gegenüber stand und sich mit ihnen im Kampfe gemessen hatte. Schon war es zweimal zur blutigen Revolte, zum Straßenkampf, gekommen. Der Boden des Gesetzes war
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verlassen worden, der Weg der Revolution beschritten, die friedliche Lösung war ausgeschlossen. Siegte die Aristokratie, so stand der Zerfall
des Reiches in Aussicht; siegte die Demokratie, die zum Proletariat
herabgedrückte Menge, so war das Ende die Herrschaft eines einzigen. Gajus Gracchus hatte es ahnen lassen. Aber mit der Alleinherrschaft war Rom und das Weltreich gerettet.
Eine elende Zeit folgte den Gracchen. Der Volkspartei fehlten die Häupter, und der Senat stellte seine Macht wieder her, ohne selber be-• deutende Menschen an der Spitze zu haben. Das Proletariat wachsend, Italiens Wohlstand im Verfall, die Verwaltung schlecht und in den Händen habgieriger und bestechlicher Menschen, drohende Sklavenaufstände, das Mittelländische Meer von Seeräubern beherrscht, welche Rom und Italien die Zufuhr abschnitten; in Nnmidien der Krieg gegen Jugurtha, der sich durch die Käuflichkeit der Feldherren schmachvoll in die Länge zog; im Norden das drohende Schreckgespenst germanischer Völker, der Cimbern und Teutonen, welche den Römern Niederlagen auf
Niederlagen beibrachten, wie sie deren seit Cannä
nicht erlebt hatten; die italischen Bundesgenossen zum Aufstande geneigt; im Osten ein neuer Feind in Mithradates entstehend: so war die Lage des römischen Staates in den Jahrzehnten nach den Gracchen. Zwar Jugurtha und Nnmidien wurden endlich bezwuugeu, die Germanen von Marius in zwei gewaltigen Schlachten vernichtet, aber in Rom selber kam der innere Krieg zwischen dem Volk und den Optimalen wieder zum gewaltsamen Ausbruch und zog sich unter entsetzlichem Blutvergießen in den Krieg mit den Bundesgenossen uud in den pontischen Krieg hinüber. Mit Marius, dem sieggekrönten, aber von Blut und Ehrgeiz bis zum Wahnsinn trunkenen Feldherrn, glaubte die Volkspartei gewonnenes Spiel zu habeu, aber Sulla, der mit kalter Überlegung nicht minder mordete und morden ließ als Marius und die Seinen in wilder Raserei, entriß ihr den Sieg. Rom hatte solche Zeiten noch nicht gesehen; während Tugend uud Ver-sassung mit Schrecken untergingen, war es für einen Herrn reif geworden. In Sulla hatte es fein Haupt gefunden, aber Sulla war nicht der Mann, Staat und Volk umzuschaffen und in neue Bahnen zu lenken. Ein Aristokrat in Fehlern und Vorzügen, konnte er sich nicht von seiner Partei losmachen. Durch Macht und Recht mit aller Gewalt des Alleinherrschers ausgestattet, beauftragt, den Staat neu zu ordnen nnd ihn dem Frieden zurückzugeben, beschränkte er sich darauf, die Herrschaft der Optimaten und den Einfluß des Senats wiederherzustellen. Alsdann
Marius.
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banste er freiwillig ab, mitten heraus aus feiner unangefochtenen Größe, ein Rätsel ber Weltgeschichte, bas nur psychologisch zn lösen ist, um halb barauf sein mübes Haupt znr Rnhe zn legen unb von ganz Italien, als wäre ber glücklichste unb geXiebteste Herrscher, ein Vater bes Vater-lanbes, gestorben, im wahren ^rinmphznge zur (Grabstätte geleitet zu
werben (78 v. Chr.).
Mit seinem Tobe ging sein Werk toieber unter. Der Kampf ber Parteien bauerte fort, mit bem Übergewicht schwankend von ber einen zur anberen Seite. Den Ausschlag zwischen ber Volkspartei unb ben Dptimaten konnte nur ber Hinzutritt einer britten Macht geben, welche schon für Sulla ben Sieg entschweben hatte, bie Armee. 9?och war day römische Heer kein stehenbes geworben, aber es war auf bem Wege dahin; noch würben bie Legionen aus Bürgern unb Bundesgenossen ausgehoben unb nach bem Kriege toieber entlassen. Aber bie Kriege nahmen kein Enbe mehr; Solbaten waren überall, im Innern selbst, wie rings an den Grenzen erforberlich. Auch in ihrem Charakter verwandelte sich bie Legion. Früher war Solbat geworben nur, wer etwas hatte, um nach bem Felbzuge zu feinem Besitze toieber zurückzukehren, Marius aber hatte jeben aufgenommen, ber sich freiwillig meldete und kräftig genug war. So war das Proletariat in bie Armee eingebrungen, unb aus bem Bürgerfolbaten war ber Berufsfolbat geworben. Der Berufssolbat aber, mit Gegenwart unb Zukunft von feinem Felbherrn abhängend, mußte besten Stütze auch im politischen Streite werben. So mußte es kommen, ba alles ber Alleinherrschaft zubräugte, baß Rom bem glücklichsten unb größten Felbherrn als Beute zufiel.
Nach Sullas Tobe war es lange Zeit Pompejus, ber als Feldherr bie erste Stelle einnahm. Schon in früher Jugenb hatte ihm bas Glück gelächelt, baß er, kaum in ben Zwanzigern ftehenb, sich ben Beinamen des Großen erworben hatte. Ein kühner unb tapferer Soldat, aber überaus vorsichtiger Felbherr, hatte er unter Sulla unb allein stets mit Erfolg gekämpft. In Afrika hatte er bie letzten Marianer vernichtet, in Spanien ben langen Krieg mit Sertorius unb feinen Nachfolgern be-enbet; mit außerorbentlicher Vollmacht ausgestattet, hatte er binnen wenigen Wochen bie Plage bes römischen Reichs, bie übermächtigen, bas ganze Mittelmeer beherrfchenben Seeräuber aus ber Welt geschafft; in Asien hatte er ben politischen unb armenischen Krieg beenbet, bem Reiche weite Provinzen hinzugefügt, Könige unb Fürsten bem Gebote Roms unterworfen unb statt ber Verwirrung biefer Länber als kluger Organisator eine georbnete Verwaltung geschaffen. Er war ber erste Mann in Rom unb im römischen Reiche. Die Männer neben ihm, ein Cato, der starren und beschränkten Geistes sich an das brechende Wrack ber Republik anklammerte, ein Cicero, ber eitel unb selbstgefällig von
172 Altertum.
einer Partei zur andern schwankte, ein Grass US, ber als Spekulant und Banquier Reichtum und mit dem Reichtum auch Macht erworben sie konnten alle neben Pompejus nicht oder nur alz Helfer und Diener in tfrage kommen. Mehr als einmal sah Pompejus Me Krone m seinen tf*1' °ber ihm fehlte der entschlossene Mut. sie aufzuheben, und die glücklichen Momente gingen vorüber.
Aber während er zögerte, erstand chm in der That ein Nebenbuhler, der ihm den Preis entreißen sollte. Gajus Julius Cäsar, einem der ältesten und besten Geschlechter entsprossen, das die Tradition aus des Aueas Nachkommenschaft ableitet, hatte säst schon als Knabe die Augen Mullas auf sich gelenkt, der mehr als einen Marius in ihm erblickt hatte. Ein Aristokrat von Herkunft und Erscheinung, von feinster griechischer Bildung, ein Gelehrter und Meister in seiner eigenen Sprache, ganz und voll das Leben eines vornehmen jungen Römers genießend,' hatte er dennoch mit richtigem Blick die Zukunft in der Volkspartei erkannt. Durch Spiele und Freigebigkeit hatte er die größten Schulden ans |tch geladen, aber auch die Gunst des Volkes sich erworben und galt schnell als sein anerkanntes Haupt. Aber der Siegesruhm des Pompejus hatte ihn lange in Schatten gestellt, und in dem Triumvirat, das Pom-pqus mit ihm und Crassus abgeschlossen, hatte er doch nur die zweite Rolle gespielt. Er bedurfte zur Volksgunst des kriegerischen Ruhmes und der Legionen, um zum Ziele zu kommen.
Beides, Ruhm und Soldaten, verschaffte ihm seine Statthalterschaft m Gallien. ^ Die unaufhörlichen Siege über Helvetier, Germanen, Gallier, Belgier, Briten ließen den Volksführer, den man bisher für unkriegerisch gehalten hatte, als den ersten Feldherrn Roms erscheinen; seine sieg- und kriegsgewohnten Legionen, die ihn vergötterten, die bereit waren, ihm zu folgen wohin er sie führte, machten ihn zum gefährlichsten Gegner der Republik. Auch abwesend gewann er in Rom an Bedeutung, das Anlehen und der Ruhm des Pompejus erblaßten. Wie von selber, durch das Schreckgespenst des großen Gegners gedrängt, schlossen sich Pompejus und die Optimaten, d. H. die Verteidiger der bisherigen Republik, zusammen.^ Der letzte Kamps, der so lange hinausgeschoben worden, mußte zur Entscheidung kommen. Leicht siel Italien, das von den Republikanern schmählich im Ltiche gelassen worden, dem rasch vordringenden Cäsar in die Hände, aber viele und schwere Kämpfe kostete es bis zur Vernichtung der Gegner, die in den Provinzen ausgesucht werden mußten, ■^n kurzer Zeit zwar, aber nicht ohne Gefahr, wurden die Pompejanischen Legionen in Spanien bezwungen. Ans griechischem Boden schien noch einmal das alte Glück Pompejus dem Großen bei Dyrrhachinm zu lächeln, aber bei Pharsalus verließ es ihn, oder er vielmehr ließ Heer und Glück seige im ^tich, bevor das Schlachtfeld verloren war, um einsam und
Falke: Die innere Entwickelnng des römischen Staates rc. 173
verlassen an ägyptischer Küste von Mörderhand zu fallen. Während Cäsar in Ägypten einen blutigen Ausstand bezwang, vielleicht auch bei der griechische orientalischen Circe, der Königin Kleopatra, schöne Tage verlor, während er nach Kleinasien eilte und den Pharnazes kommend und sehend wie in einem Atemzüge besiegte: währenddes hatten sich die republikanischen Führer nach Afrika gerettet und dort ein neues Heer gesammelt. Aber bei Thapsus erlagen sie wiederum ihrem großen Gegner bis zur Vernichtung, und Cato, der letzte echte, wenn auch beschränkte Repräsentant des alten, starren, unbeugsamen Römertums, gab sich selbst und der Republik den Todesstoß (46 v. Chr.).
Cäsar stand allein als Herrscher da, ein Gegner war im offenen Felde nicht mehr zu finden. Die Republik war zu Ende, das Reich der Casaren begann. Ein absoluter Wille allein konnte das zerfallene Römerreich retten, die zerfahrene Welt wieder in Ordnung bringen und sie fortan lenken. Es gab unglaublich viel zu ordnen, zu bessern, umzugestalten, moralisch und politisch. Es mußten die Dinge völlig in neue Bahnen gelenkt werden. Und nur wenige Monate waren dem großen Casar dazu gegeben, wenn man die Zeit von der Schlacht bei Thapsus bis zu seinem Tode rechnet. Aber in seinem Geiste schien alles, was zu geschehen hatte, längst fertig und zur Ausführung bereit. In unglaublich kurzer Zeit wurden die Maßregeln getroffen, welche das gewaltige und bunte Reich in Ordnung brachten und zur Alleinherrschaft hinüberführten oder wenigstens den Grund zur Wiedergeburt legten. In Wahrheit nahm Cäsar alle Gewalt für sich selbst, aber nicht mit dem verhaßten Titel eines Königs, sondern mit dem eines Imperators, der das Imperium, den Befehl, hatte. Die Formen der Republik ließ er bestehen, aber die Macht der Ämter übertrug er auf sich selber. Der Senat, erst die Ursache von Roms Größe, dann von Roms Verfall, wurde zur machtlosen Körperschaft herabgedrückt; auch dem Volke blieb nur zum Scheine noch ein Wort der Zustimmung. Die Verwaltung der Provinzen, nunmehr abhängig vom Winke Cäsars, wurde neu organisiert, dem Mißbrauch der Beamten gesteuert, die verwirrten Finanzen geordnet, Kolonieen mit seinen Veteranen gegründet, in Rom Sicherheit geschaffen, die Stadt verbessert und verschönert, Bibliotheken beschlossen, die verwirrte Jahresrechnung in Orbnung gebracht unb ein neuer Kellen-ber eingeführt. Auf alles unb jedes schien sich bie Sorge bes großen Staatsmannes zu erstrecken, kein Übelftartb, keine Not, kein Bebürfnis feinem klaren, burchbringenben Verstaube zu entgehen, unb für alles fanb er bie Hilfe.
Aber nicht für sich selber. Mit beispielloser Milbe — in Rom wenigstens beispiellos — hatte er seiner Gegner geschont, seine Feiube selbst zu Freunben zu machen gesucht. Aber die Anhänger der Republik
174 Altertum.
waren nicht auf einmal durch Gewalt oder Güte aus der Welt zu schaffen. Noch lebten die kleinen Catonen, die Brutus und Cassius, aber an die Stelle des offenen Krieges war die dunkle Verschwörung getreten, und von Dolchen durchbohrt, sauk der vertrauensvolle Cäsar tot an der Bildsäule des Pompejus nieder (44 v. Chr.). Aber der Mörderstahl schus statt des milden Tyrannen nur der grausamen mehrere. Die Folge war nicht die Republik, sondern ein neuer Bürgerkrieg um den neuen Herrn: erst aus neuen Schlachten und einem Blutvergießen, einem kalten Morden, das die schlimmsten Tage von Marius und Sulla überbot, sollte er geboren werden. Bei Philippi fielen die Epigonen der Republik; dann kämpften die beiden Sieger um die Herrschaft, Octavianus, Cäsars Nceffe uud Erbe, der schon das Erbrecht für sich in Anspruch nahm, und Arttontu», Cäsars begabter, aber entarteter Schüler und Streitgeuosse. Mit ihnen standen die östliche und die westliche Hälfte des Reichs sich einander gegenüber. Die Seeschlacht bei Actium (31 v. Chr.) entschied auch diesmal für den Westen, und Oetavian, der sich Augustus, d. i. der Erhabene, nannte, war unbestritten Herr der Welt. —
XXV.
Die Schlacht bei pljarsöhts und der Tod des Pompejus.
(O. Jäger).
Pompejus hatte während des ganzen Sommers 49 v. Chr. nichts anderes gethan, als Rüstungen im kolossalsten Maße betrieben. Es mag sein, daß die Kopflosigkeit, die Unklarheit, der Hochmut der Optimaten in seiner Umgebung die wir nach allem, was darüber bekannt ist, uns nicht groß genug vorstellen können — ihn auch da, wo er Besseres wollte, gelähmt hat: aber dennoch giebt es einen sehr geringen Begriff von seinem Feldherrntalent, wenn wir sehen, daß er den ganzen entscheidenden Sommer mit diesen thatenlosen Rüstungen verbrachte, Spanien, Italien, Sardinien, die Stadt Massilia, Sicilien und, so viel au ihm lag, auch Afrika dem Gegner überließ, ohne selbst irgendwo anzugreifen, und ihm sogar die Zeit gönnte, einige Kräfte zur See zufammeuzubringeu. Der Sammelplatz der Optimalen und Pompejaner war Macedonien: zu Thessalonich hielt ihr Senat, der bis auf 200 Mitglieder gestiegen war, seine Sitzungen. Eine seltsame politische Unfähigkeit vereinigte sich hier mit dem ganzen Dünkel aristokratischer Vorurteile und in allerlei wilden Reden und Racheplänen erging sich die ohnmächtige Wut dieser Leute, die, durch eigene Schuld geschlagen, mit großen Worten sich für Cäsars energische Thaten rächten. Jedes Friedenserbieten, das Cäsar auch jetzt noch er-
Jäger: Die Schlacht Bei Pharsalus und der Tod des Pompejus. 175
neuerte, wies dieser starre Hochmut zurück und gefiel sich dagegen in racheschnaubenden Deklamationen, in denen man bereits die Güter Cäsars und seiner Anhänger verteilte: „Sie sind", so schreibt Cicero, der sich endlich auch eiugefuudeu hatte, von seinen Lagergenossen, „im Kriege räuberisch und in ihren Reden so wild, daß mir selbst vor ihrem Siege schaudert: es sind die vornehmsten Männer, aber tief in Schulden: was willst du? hier ist nichts Gutes als die Sache." Aber auch diese Sache war schlecht, wenn sie keine anderen Kämpfer mehr sand als diese. Es ist natürlich, daß Pompejus sich beengt fühlte inmitten dieser vornehmen Generale, dieser unfähigen Offiziere; jedoch wenigstens die reichen Hilfsquellen, welche ihm der Osten, über den sein .Ansehen noch unbedingt gebot, eröffnete, hatte er sich aufs beste zu nutze gemacht: 11 Legionen, 7000 Reiter, Selten, Thracier, kommagenische Schützen, armenische, numidische Reiter — eine Flotte von 500 Segeln, eine reichgefüllte Kriegskasse standen zu seiner Verfügung.
An der epirotifchen Küste zog er seine Streitkräfte zusammen.
Cäsar war inzwischen von Spanien zurückgekehrt, ließ sich zu Rom — nach kurzer Diktatur — zum Konsul für das Jahr 48 wählen und vereinigte im Anfange dieses Jahres seine Truppen zu Brundi-sium. Mit großer Mühe hatte er eine Flotte zusammengebracht, die ihn und sechs seiner Legionen zu großer Überraschung der Feinde glücklich an die akrokeraunische Küste brachte. Allein der kühne Wurs konnte verhängnisvoll werden: die seindliche Flotte beherrschte das Meer, und der zweite Transport erschien nicht. Cäsar sah sich mit kaum 25000 Mann von Italien abgeschnitten: er war verloren, wenn Pompejus von Dyrrhachium aus rasch gegen ihn rückte. Die Ungeduld ergriff ihn, er bestieg selbst ein Schiff, um nach Bruudisium hinüberznsegeln und die übrigen vier Legionen, es koste, was es wolle, herüberzuholen: der ©türm aber ließ das Schiff nicht anslanfen. Das Glück verbesserte die unbesonnene Raschheit, mit der Cäsar sein Schicksal herausgefordert hatte. Wie durch ein Wunder gelang es dem führten und geschickten M. Antonius, mit seinen vier Legionen und 800 Reitern an den feindlichen Flotten vorbei nördlich
Pompejus.
176 Altertum.
von der Stellung des Pompejus bei Liffus zu landen und dann, nicht minder wunderbar, durch eine Umgehung dieser Stellung sich mit Cäsar zu bereinigen. Trotzdem war Cäsars Lage noch immer eine verzweifelte. Eine regelmäßige Verpflegung ließ sich bei der Überlegenheit der feindlichen Seemacht nicht herstellen, unb Pompejus durfte den Krieg nur mit Beharrlichkeit in die Länge ziehen, um den Feind, der schon zu den kümmerlichsten Nahrungsmitteln greifen mußte, sicher zu vernichten. Beide Teile operierten nun in der Nähe von Dyrrhachium mit Schanzen und Gräben gegeneinander: dabei geschah es, daß Cäsar zweimal und das zweite Mal mit schwerem Verlust von Pompejus geschlagen wurde. Jedem anderen Feldherrn hätte unter diesen Umständen das Heer den Gehorsam versagt; nicht so dieses Heer, welches von seinem Feldherrn selbst die härteste Strafe für die verschuldete Niederlage, das Todeslos für jeden zehnten Mann, begehrte. Darauf ging Cäsar nicht ein, aber seine Lage war hoffnungslos: ein letztes Mittel nur war ihm übrig, aber es war ein Mittel der Verzweiflung und das ihm zu wehren gleichfalls in der Hand des Pompejus lag: ein Rückzug ins Binnenland. Cäsar bewerkstelligte diesen Rückzug über Apollonia, überschritt die Bergkette zwischen Thessalien und Epirus, das Thal des Aous aufwärts marschierend, zog das Korps des Cu. Domitius Calvus, das er zuvor gegen den von Pompejus nach Thessalien befehligten Metellus Scipio entsendet hatte, wieder an sich und stand so an den Quellen des Peneusflusses. Von hier aus setzte er sich dann in Thessalien fest, noch ehe Pompejus ihn erreichen konnte, der sich mit der Verfolgung nur wenig beeilt hatte.
Der Übermut der siegreichen Partei kannte nach den Erfolgen von Dyrrhachium keine Grenzen mehr. Sie versäumten es, sich, wie einsichtige Männer rieten, sofort Italiens wieder zu versichern: die Gefahr, wenn sie je dagewesen, schien ihnen vorüber. Der übrige Zug werde nichts mehr sein, als ein ungefährlicher Marsch: die wilden Rachepläne, mit denen sie die sullanische Restauration und ihre Schrecken noch weit überboten haben würden, schienen ihrer Verwirklichung ganz nahe. So war die Stimmung im Heere, vor allem unter der übermütigen jungen Aristokratie, als Pompejus7 Heer mit dem Korps Seipios bei Larissa sich vereinigte, während Cato mit 18 Kohorten in Dyrrhachium zurückblieb und die Pompejanische Flotte von 300 Schiffen sich bei Corcyra vor Anker legte.
Am linken Ufer des Enipensbaches, welcher die Ebene zwischen der Hügelreihe der Kynoskephalä im Norden und den Verbergen des Othrys-gebirges im Süden durchschneidet, bei der Stadt Pharsalus stand Cäsar; am rechten Ufer, am Fuße der Kynoskephalä nahm Pompejus seine Stellung. Auch hier hätte es bei Pompejus gestanden, den Gegner durch Verlängerung des Krieges zu vernichten, und er selbst, kriegserfahren, wie
Jäger: Die Schlacht bei Pharsalus und der Tod des Pompejus. 177
er war, besaß sicher Einsicht genug, dies nicht zu verkennen. Aber er war längst nicht mehr Herr in seinem Lager. Hier herrschte ein vielköpfiges Regiment vornehmer Leute, und die heißblütige Adlige Jugend, welche bereits, wie im sichern Besitze des Sieges, um die Würden Cäsars, um die Güter seiner Anhänger stritt, drängte zur gewaltsamen Entscheidung: sie gaben dem Pompejus zu verstehen, daß er sich allzusehr in seiner Rolle als Agamemnon, als „König der Könige", als Oberfeldherr so vieler Prätorier und Konsulare, der Vasallenkönige und Klientelfürsten zu ge-schweigen, gefalle, und sie wiesen siegesgewiß auf die 47 000 Mann zu Fuß, die 7000 Reiter des eigenen Heeres hin, welche den geschlagenen 20000 Mann Casars weit überlegen sein mußten. Diesem Drängen war Pompejus nicht gewachsen; er hatte sich selbst in diese schiefe Lage gebracht; er zauderte nicht länger und führte an dem verhängnisvollen 9. August 48 sein Heer über den Enipensbach. Seine zahlreiche, weitüberlegene Reiterei sollte Cäsars rechten Flügel, der gegen die Ebene hinaus stand, umgehen, und so geschah es; während auf Cäsars linkem Flügel ohne Entscheidung gefochten wurde, schienen hier die Dinge rasch eine entschiedene Wendung zu nehmen. Die schwache Reiterei Cäsars hielt ben Pompejanischen Reitermassen nicht lange stand. Titus Labieuus befehligte hier gegen seinen früheren Imperator: aber wie er siegreich vorwärts drang, stieß er auf 2000 auserlesene Legionäre, welche Cäsar, den feindlichen Angriffsplan voraussehend, hier aufgestellt Zhatte. „Stoßt den schönen jungen jTänzern dort nach dem Gesicht", hatte' ihnen ihr Feldherr zugerufen; ihr entschlossener, unerwarteter Sturmangriff, bei welchem sie gegen die Gewohnheit das Pisum als Stoßlanze gebrauchten, brachte die Reitermassen in Unordnung, die bald in volle Flucht umschlug. Diesen Augenblick benutzte Cäsar und ließ seine Reservelinie zu einem allgemeinen Angriffe vorgehen. Pompejus' Legionen, 'den Veteranen Cäsars an soldatischer Tüchtigkeit bei weitem nicht gewachsen, begannen fechtend über den Enipensbach zurückzugehen. Noch war nichts verloren, aber Pompejus, zu sehr vom Glücke verwöhnt, als daß er seine Ungunst einen Augenblick hätte ertragen können, fehlte seinen Pflichten — er ließ den Dingen ihren Laus und ritt ins Lager zurück. Dort kamen auch die geschlagenen Legionen, in deren Reihen es bereits bekannt war, daß den Italikern vom Feinde Gnade und Schonung zugesichert sei, allmählich an; neue Angriffe trieben sie aus dem Lager, das um Mittag von den Cä-sarianern erstürmt ward. Noch ehe dieser Augenblick eintrat, war Pompejus zu Pferde gestiegen und hinweggeritten. Seine Soldaten, mehr und mehr ohne Ordnung und Führung, doch noch immer fechtend, zogen sich die Höhen hinauf, um auf diesem Wege Larissa zu erreichen. Aber von Stunde zu Stunde nahm die Auflösung zu: eine Menge warf die Waffen weg, der verheißenen Gnade vertrauend: auch denen, die sich nach den
Aus altert Jahrhunderten. 12
178 Altertum.
Höhen gerettet hatten, ward ihre Hoffnung, Larissa zu erreichen, vereitelt, da Cäsar noch am Abend Linien ziehen ließ, um sie einzuschließen. Des andern Morgens streckten auch sie, 20 000 Mann, ein ganzes Heer, die Waffen, während der vorige Tag die Pompejancr schon 15 000 Mann — doch an Toten nicht mehr als 6000 — gekostet hatte. Den Cäsar kostete sein Sieg nicht über 1000 Mann. Das feindliche Heer war vernichtet, aber noch ließen sich die Folgen der Schlacht kaum übersehen: es kam darauf an, was Pompejus weiter unternehmen würde. Von ihm wußte niemand etwas Weiteres zu sagen, als daß er den Weg nach dem Meere zu genommen habe und entkommen sei. Es ist klar, daß diese Schlacht vor allem aus Mangel an Führung verloren ging. Aber wie kam es, daß Pompejus sie so rasch, so ohne jeden Versuch, den Gang des Schicksals aufzuhalten, verloren gab ? Es ist uns kein Bericht aus seinem Hauptquartier erhalten, der uns über diese Verhältnisse im einzelnen aufklärte, aber aus allem geht hervor, daß die Partei, deren Feldherr er war, ihm selbst über den Kops gewachsen war, daß eine tiefe Unzufriedenheit und Verstimmung sich seiner Seele bemächtigt hatte, und daß ihm die Sache oder die Partei, sür^welche er sich schlug, schon vor der Schlacht zum Ekel geworden war. Dies allein erklärt fein Benehmen in der Schlacht. Und wie konnte es anders fein ? Seine Ziele uud Zwecke waren ganz andere, als die der Partei, an die er nun doch gekettet war, und sie hatten ihn so völlig in der Gewalt, daß auch der endliche Sieg nur ihnen, nicht ihm zu gute gekommen wäre. Jetzt mag ihn zu der eiligen Flucht die Scham bewogen haben, nach einer verlorenen Schlacht der eigenen Partei wieder unter die Augen zn treten: vielleicht drohte selbst feiner Person von den wütenden Parteigenossen Gefahr; denn dieses Pompejanifche Lager war von allen Leidenschaften zerrissen; genug, er war entflohen, und diese Flucht erst machte die Niederlage verhängnisvoll — seine Person war der Einheitspunkt gewesen, um welche die Partei des Widerstandes sich gesammelt hatte. Er enteilte nach Larissa, vermummt, mit wenigen Begleitern weiter nach der Peneusmündung, dem berühmten Tempethal, von da zu Schiffe nach Amphipolis. Bei Mytilene nahm er feine Gattin Cornelia und feinen Sohn Sextus an Bord, aber feines Bleibens war hier nicht: schon hatte sich allenthalben in Kleinasien die Kunde von der verhängnisvollen Schlacht und ihrem so unerwarteten Ausgang verbreitet. Hier weitere Versuche zu machen, hielt er nicht für ratsam. Aber vielleicht boten sich ihm andere Wege, er konnte sich an die Spitze feiner zahlreichen Flotte stellen, dem siegreichen Landheere in Afrika die Hand bieten. Er wählte einen anderen Weg und ein anderes Land, in welchem er selbständiger aufzutreten hoffen mochte. Er beschloß, nach Ägypten sich zn wenden und dieses Land im Vertrauen aus den damaligen König, der ihm seine Herstellung verdankte, und gestützt auf seine treffliche Lage, zur Basis
Jäger: Die Schlacht bei Pharsalus und der Tod des Pompejus. 179
fernerer Unternehmungen zu machen—Unternehmungen und Pläne freilich, zu denen er, einmal vom Glück im Stiche gelassen, selbst kein rechtes Vertrauen mehr hegen mochte. Während die Fürsten und Mächte dev Ostens sich beeilten, infolge der pharsalischen Schlacht ihre Waffen niederzulegen oder wegzuwerfen und sich um die Gunst des Siegers zu bewerben, verfolgte Pompejus feinen ungastlichen Weg, um sein Geschick zu erfüllen.
An der kleinasiatischen Küste hin segelte er nach Cypern und steuerte von Paphus (Cypern), weiter der ägyptischen Küste zu, nachdem er dem Könige, der noch unter Vormundschaft stand, seine bevorstehende Ankunft hatte anzeigen lassen. Der Eunuche Pothinus überredete den Ptolemäer, einen dreizehnjährigen Knaben, durch eine blutige That sich der Gunst des Siegers, wie er glaubte, zu versichern, dessen er gegen die Ansprüche seiner Schwester Kleopatra, die ihm den Thron streitig machen konnte, bedürfen werde. Die Schiffe des Pompejus kamen östlich von Pelusium, beim fasst]chen Vorgebirge in Sicht. Ägyptische Truppen sammelten sich am Ufer, in ihrer Mitte der König. Da stieß ein kleines Boot vom Lande, in welchem der Oberbefehlshaber des ägyptischen Heeres, Achillas, und zwei römische Osstziere sich befanden. Einer von diesen begrüßte den Imperator und lud ihn ein, das Boot zu besteigen, da wegen der Untiefen des Strandes ein größeres Schiff nicht habe geschickt werden können. Die Begleitung schöpfte Verdacht: Pompejus, vergeblich gewarnt und beschworen, bestieg mit zwei Begleitern das Boot, man hörte ihn, ehe er es bestieg, gegen Cornelia noch den Sophokleischen Vers sagen:
„Ja, wer zu den Tyrannen seine Schritte lenkt,
Wird dessen Sklav, selbst wenn er als ein Freier ging."
Das Boot näherte sich der Küste. — „Darf ich in dir einen Kriegsgefährten begrüßen?" äußerte Pompejus gegen einen der Offiziere, der schweigend mit dem Kopfe nickte, worauf Pompejus, ohne weiter zu sprechen, ein Blatt zur Hand nahm, auf welchem er die Anrede an den König in griechischer Sprache niedergeschrieben hatte. Man war zur Stelle. Pompejus erhob sich, um ans Land zu gehen. In diesem Augenblicke erhielt er einen Stich von hinten, und sosort fielen auch die beiden anderen Männer über ihn her. Widerstand war vergeblich: ohne einen Saut ergab sich Pompejus in sein Schicksal, verhüllte sein Gesicht und sank sterbend zu Boden. Es war das 58. Jahr seines Lebens, das 35. seiner Feldherrnlaufbahn, in welchem er starb. Der Leichnam wurde von den Mördern am Gestade den Tieren preisgegeben, uud vielleicht haben ihn einige Getreue heimlich bestattet; den Kopf, das Zeichen ihrer schimpflichen That, nahmen die Ägypter mit sich.
Dies war das jammervolle Ende eines Mannes, den die tiefe Zerrüttung des römischen Staates und ein tückisches Glück zu einer Höhe erhoben hatten, die außer Verhältnis stand zu seiner inneren Größe. Er
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180 Altertum.
War wie Marius vor allem ein tüchtiger Soldat, geschickt, übernommene Aufgaben mit Glück zu lösen, aber nicht, hohe Ziele selbständig sich zu stecken und selbständig zu erreichen. In kriegerischem Mut, soldatischer Gewandtheit, persönlicher Tapferkeit unübertroffen, beschämte er zugleich durch sein mäßiges Leben bei großem Reichtum die schwelgerischen Op-timaten seiner Zeit, aber die höheren Eigenschaften, mit denen große und dauernde Erfolge errungen, verlebte Staatsordnungen gestürzt, neue gegründet werden, fehlten ihm durchaus. Er war hart, selbstsüchtig uud ohne Milde, „versteckter," wie ein späterer Römer von ihm urteilte, „nicht besser, als Marius oder Sulla." Auch als großen Feldherrn bewährte er sich nicht, als die-Zeit der Prüfung, als d.er wirklich Große über ihn kam, und daß er als Staatsmann so gänzlich unselbständig und unfähig war, war die Klippe, an der fein Leben strandete, wie dagegen Cäsars Sieg eben darauf beruhte, daß er Feldherr und Staatsmann zugleich war und das eine immer durch das andere ergänzte. —
XXVI.
Gajus Julius Cäsar.
(Th. Mommsen).
Der erste Alleinherrscher über das ganze Gebiet römisch-hellenischer Civilisation, Gajus Julius Cäsar, stand im sechsundfünfzigsten Lebensjahr (geb. 12. Juli 102), als die Schlacht bei Thapsus, das letzte Glied einer langen Kette folgenschwerer Siege, die Entscheidung über die Zukunft der Welt in seine Hände legte. Weniger Menschen Spannkraft ist also auf die Probe gestellt worden wie die dieses einzigen schöpferischen Genies, das Romf und des letzten, das die alte Welt hervorgebracht und in dessen Bahnen sie denn auch bis zu ihrem eigenen Untergange sich bewegt hat. Der Sprößling einer der ältesten Adelsfamilien Latiums, welche ihren Stammbanm auf die Helden der Ilias und die Könige Roms, ja auf die beiden Nationen gemeinsame Venns-Aphrodite zurückführte, waren seine Knaben-nnd ersten Jünglingsjahre vergangen, wie sie der vornehmen Jugend jener Epoche zu vergehen pflegten. Auch er hatte von dem Becher des Modelebens den Schaum wie die Hefe gekostet, hatte recitiert und deklamiert, auf dem Faulbett Litteratur getrieben und Verse gemacht, sich einweihen lassen in alle Rasier-, Frisier- und Manschettenmysterien der damaligen Toilettenweisheit, sowie in die noch weit geheimnisvollere Kunst, immer zu borgen und nie zu bezahlen. Aber der biegsame Stahl dieser Natur widerstand selbst diesem zerfahrenen und windigen Treiben; bei Cäsar blieb sowohl die körperliche Frische ungeschwächt wie die Spannkraft des Geistes und des Herzens. Im Fechten und im Retten nahm
Mommsen: Gajus Julius Cäsar. 181
er es mit jedem seiner Soldaten nuf, und sein Schwimmen rettete ihm bei Alexandria das Leben; die unglaubliche Schnelligkeit seiner gewöhnlich des Zeitgewinns halber nächtlichen Reisen — das rechte Gegenstück zu der prozessionsartigen Langsamkeit, mit der Pompejus sich von einem Orte zum andern bewegte — war das Erstaunen seiner Zeitgenossen und nicht die letzte Ursache seiner Erfolge. Wie der Körper war der Geist.
Sein bewunderungswürdiges Anschauungsoermögen offenbarte sich in der Sicherheit und Ausführbarkeit all seiner Anordnungen, selbst wo er befahl, ohne mit eigenen Augen zu sehen. Sein Gedächtnis war unvergleichlich, und es war ihm geläufig, mehrere Geschäfte mit gleicher Sicherheit nebeneinander zu betreiben. Obgleich Gentleman, Genie und Monarch, hatte er dennoch ein Herz. So lange er lebte, bewahrte er für feine würdige Mutter Aurelia — der Vater starb ihm früh — die reinste
] §2 Altertum.
Verehrung; seinen Frauen und vor allem seiner Tochter Julia widmete er eine ehrliche Znneiguug, die selbst auf die politischen Verhältnisse nicht ohne Rückwirkung blieb. Mit den tüchtigsten uud kernigsten Männern seiner Zeit, hohen und niederen Ranges, stand er in einem schönen Verhältnis gegenseitiger Treue, mit jedem nach seiner Art. Wie er selbst niemals einen der Seinen in Pompejus' kleinmütiger und gefühlloser Art fallen ließ und, nicht bloß aus Berechnung, in guter und böser Zeit ungeirrt an den Freunden sesthielt, so haben auch von diesen manche, wie Aulus Hirtius und Gajns Matius, noch nach seinem Tode ihm in schönen Zeugnissen ihre Anhänglichkeit bewährt. Wenn in einer so harmonisch organisierten Natnr überhaupt eine einzelne Seite als charakteristisch hervorgehoben werden kann, so ist es die, daß alle Ideologie und alles Phantastische ihm fern lag. Es versteht sich von selbst, daß Cäsar ein leidenschaftlicher Mann war, denn ohne Leidenschaft giebt es keine Genialität; aber seine Leidenschaft war niemals mächtiger als er. Er hatte eine Jugend gehabt und Lieder, Liebe und Wein waren auch in sein Gemüt in lebendigem Leben eingezogen; aber sie drangen ihm doch nicht bis in den innerlichsten Kern feines Wesens. Die Litteratur beschäftigte ihn lange und ernstlich; aber wenn Alexandern der Homerische Achill nicht schlasen ließ, so stellte Cäsar in seinen schlaflosen Standen Betrachtungen über die Beugungen der lateinischen Haupt- und Zeitwörter an. Er machte Verse wie damals jeder, aber sie waren schwach; dagegen interessierten ihn astronomische und naturwissenschaftliche Gegenstände. Wenn der Wein für Alexander der Sorgenbrecher war und blieb, so mied nach durchschwärmter Jugendzeit der nüchterne Römer denselben durchaus. Noch in späteren Jahren blieb ihm eine gewisse Stutzerhaftigkeit im äußeren Auftreten oder richtiger das erfreuliche Bewußtsein der eigenen männlich schönen Erscheinung. Sorgfältig deckte er mit dem Lorbeerkranz, mit dem er in späteren Jahren öffentlich erschien, die schmerzlich empfundene Glatze und hätte ohne Zweifel manchen seiner Siege darum gegeben, wenn er damit die jugendlichen Locken hätte zurückkaufen können. Wie gern er auch als Monarch mit den Frauen verkehrte, so hat er doch nur mit ihnen gespielt und ihnen keinerlei Einfluß über sich eingeräumt; selbst sein Verhältnis zur Königin Kleopatra ward nur angesponnen, um einen schwachen Punkt in seiner politischen Stellung zu maskiereu. Cäsar war durchaus Realist und Verstandesmensch; und was er angriff und that, war von der genialen Nüchternheit durchdrungen und getragen, die seine innerste Eigentümlichkeit bezeichnet. Ihr verdankte er das Vermögen, unbeirrt durch Erinnern und Erwarten energisch im Augenblick zu leben; ihr die Fähigkeit, in jedem Augenblick mit gesammelter Kraft zu handeln und auch dem kleinsten uud beiläufigsten Beginnen seine volle Genialität zuzuwenden; ihr die Vielseitigkeit, mit der er erfaßte und beherrschte,
Mommsen: Gajus Julius Cäsar. 183
was der Verstand begreifen und der Wille erzwingen kann; ihr die sichere Leichtigkeit, mit der er seine Perioden fügte, wie seine Feldzugs-, plane entwarf; ihr die „wunderbare Heiterkeit", die in guten und bösen Tagen ihm treu blieb; ihr die vollendete Selbständigkeit, ^ die keinem Liebling und keiner Frau, ja nicht einmal dem Freunde Gewalt über sich gestattete. Aus dieser Verstandesklarheit rührt cs aber auch her, daß Cäsar sich über die Macht des Schicksals und das können des Menschen niemals Illusionen machte; für ihn war der holde Schleier gehoben, der dem Menschen die Unzulänglichkeit seines Wirkens verdeckt. Wie klug er auch plante und alle Möglichkeiten bedachte, das Gefühl wich doch nie aus seiner Brust, daß in allen Dingen das Glück, d. H. der Zufall, das gute Beste thun müsse; und damit mag es denn auch zusammenhängen, daß er so ost dem Schicksal vertraut und namentlich mit verwegener Gleichgültigkeit seine Person wieder und wieder auf das Spiel gesetzt hat. Wie ja wohl überwiegend verständige Menschen in das reine Hasardspiel sich flüchten, fo war auch in Cäsars Rationalismus ein Punkt, wo er mit dem Mysticismus gewissermaßen sich berührte.
Aus einer solchen Anlage konnte nur ein Staatsmann hervorgehen. Von früher Jugend an war denn auch Cäsar ein Staatsmann im tiefsten Sinne des Wortes und sein Ziel das höchste, das dem Menschen gestattet ist, sich zu stecken: die politische, militärische geistige und sittliche Wiedergeburt der tiefgesunkenen eigenen und der noch tiefer gefunkenen, mit der seinigen innig verschwisterten hellenischen Nation. Die bittere Schule dreißigjähriger Erfahrungen änderte seine Ansichten über die Mittel, wie dies Ziel zu erreichen sei; das Ziel blieb ihm dasselbe in den Zeiten hoffnungsloser Erniedrigung wie unbegrenzter Machtvollkommenheit, in den Zeiten, wo er als Demagog und Verschworener auf dunklen Wegen zu ihm hinschlich, wie da er als Mitinhaber der höchsteiN8ewalt und sodann als Monarch vor den Augen einer Welt im vollen Sonnenschein an seinem Werke schuf. Alle zu den' verschiedensten Zeiten von ihm ausgegangenen Maßregeln bleibender Art ordnen in den großen Bauplan zweckmäßig sich ein. Von einzelnen Leistungen Cäsars sollte darum eigentlich nicht geredet werden; er hat nichts Einzelnes geschaffen. Mit Recht rühmt man den Redner Cäsar wegen seiner aller Advokatenkunst spottenden männlichen Beredsamkeit, die wie die klare Flamme zugleich erleuchtete und erwärmte. Mit Recht bewundert man an dem Schriftsteller Cäsar die unnachahmliche Einfachheit der Komposition, die einzige Reinheit und Schönheit der Sprache. Mit Recht haben die größten Kriegsmeister aller Zeiten den Feldherrn Cäsar gepriesen, der, wie kein anderer, ungeirrt von Routine und Tradition, immer daran festhielt, daß immer diejenige Kriegsführung die rechte ist, durch welche in dem gegebenen Falle der Feind besiegt wird; der mit divinatorischer
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Sicherheit für jeden Zweck das rechte Mittel fand; der nach der Niederlage schlagfertig dastand wie Wilhelm von Oranten und mit dem Siege ohne Ausnahme den Feldzug beendigte; der das Element der Kriegsführung, dessen Behandlung das militärische Genie von der gewöhnlichen Offizierstüchtigkeit unterscheidet, die rasche Beweglichkeit der Massen, mit unübertroffener Vollkommenheit handhabte und der massenhaften Streitmacht die mobile, den zeitverderbenden Vorbereitungen das rasche Handeln selbst mit unzulänglichen Mitteln bis zur Verwegenheit vorzog. =
Allein alles dieses i^t bei Cäsar nur Nebensache; er war zwar ein großer Redner, Schriftsteller und Feldherr, aber jedes davon ist er nur geworden, weil er ein vollendeter Staatsmann war. Namentlich spielt der Soldat in ihm eine durchaus beiläufige Rolle, und es ist eine der hauptsächlichsten Eigentümlichkeiten, die ihn von Alexander, Hamtibal und Napoleon unterscheidet, daß in ihm nicht der Offizier, sondern der Demagog der Ausgangspunkt der politischen Thätigkeit war. Seinem ursprünglichen Plan zufolge hatte er sein Ziel wie Perikles und Gajus Gracchus ohne Waffengewalt zu erreichen gedacht, und achtzehn Jahre hindurch hatte er als Führer der Popularpartei ausschließlich in politischen Plänen und Intriguen sich bewegt, bevor er, ungern sich überzeugend von der Notwendigkeit eines militärischen Rückhalts, schon ein Vierziger an die Spitze einer Armee trat. Es war erklärlich, daß er auch späterhin immer noch mehr Staatsmann blieb als General — ähnlich wie Cromwell, der auch aus dem Oppositionsführer zum Militärchef und dann Demokratenkönig sich umschuf, und der überhaupt, wie wenig auch der Puritanerheld dem lockeren Römer zu 'gleichen scheint, doch in seiner Entwickelung wie in feinen Zielen unb Resultaten vielleicht unter allen Staatsmännern Cäsar am nächsten verwandt ist. Selbst in seiner Kriegsführung ist diese improvisierte Feldherrnschaft noch deutlich zu erkennen. Ein geschulter Offizier würde es schwerlich fertig gebracht haben, ans politischen Rücksichten nicht durchaus zwingender Natur die gegründetsten militärischen Bedenken in der Art beiseite zu schieben, wie dies Casar mehrmals, am auffallendsten bei seiner Landung in Epirns that. Während Napoleon in Boulogne unb in Ägypten den zum Felbherrn aufgebienten Artillerieleutnant nicht verleugnete, war Cäsars Verhalten in ben gleichartigen Unternehmungen bas bes zum Felbherrn umgewanbelten Demagogen. Allein, wenn einzelne seiner Hanblnngen militärisch tabel-hast sein mögen, so verliert ber Felbherr nur, was ber Staatsmann gewinnt. Die Aufgabe bes Staatsmannes ist universeller Natur wie Cäsars Genie: wenn er bie vielfältigsten unb von einanber entlegensten Aufgaben zu lösen unternahm, so gingen sie boch alle ohne Ausnahme zurück auf bas eine große Ziel, bem er mit grenzenloser Treue unb Folgerichtigkeit diente; und nie hat er von den vielfältigen Seiten und
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Richtungen seiner großen Thätigkeit eine vor der andern bevorzugt. Obwohl ein Meister der Kriegskunst, hat er doch aus staatsmännischen Rücksichten das Äußerste gethan, um den Bürgerkrieg abzuwenden und um, da er dennoch begann, wenigstens keine blutigen Lorbeeren zu ernten. Obwohl der Begründer der Militärmonarchie, hat er doch mit einer in der Geschichte beispiellosen Energie weder Marschallshierarchie noch Prätorianerregiment aufkommen lassen. Wenn überhaupt eine Seite der bürgerlichen Verdienste, so wurden von ihm vielmehr die um die Wissenschaften und die Künste des Friedens, als die militärischen bevorzugt. Die bemerkenswerteste Eigentümlichkeit seines staatsmännischen Schaffens ist dessen vollkommene Harmonie. In der That waren alle Bedingungen zu dieser schwersten aller menschlichen Leistungen in Cäsar vereinigt. Durch und durch Realist, ließ er die Bilder der Vergangenheit und die ehrwürdige Tradition nirgends sich anfechten; ihm galt nichts in der Politik, als die lebendige Gegenwart und das verständige Gesetz, eben wie er auch als Grammatiker die historisch-antiquarische Forschung beiseite schob und nichts anerkannte als einerseits den lebendigen Sprachgebrauch, anderseits die Regel der Gleichmäßigkeit. Ein geborener Herrscher, regierte er die Gemüter der Menschen, wie der Wind die Wolken zwingt, und nötigte die verschiedenartigsten Naturen, ihm sich zu eigen zu geben, den schlichten Bürger und den derben Unteroffizier, die vornehmen Damen Roms und die schönen Fürstinnen Ägyptens und Mauretaniens, den glänzenden Kavalleriegeneral und den kalkulierenden Banquier. Sein Organisationstalent ist wunderbar; nie hat ein Staatsmann seine Bündnisse, nie ein Feldherr seine Armee aus ungefügen und widerstrebenden Elementen so entschieden zusammengezwungen und so fest zusammengehalten, wie Cäsar seine Koalitionen und seine Legionen, nie ein Regent mit so scharfem Blick seine Werkzeuge beurteilt und ein jedes an den ihm angemessenen Platz gestellt. Er war Monarch; aber nie hat er den König gespielt. Auch als unumschränkter Herr von Rom blieb er in seinem Austreten der Parteichef: vollkommen biegsam und geschmeidig, bequem und anmutig in der Unterhaltung, zuvorkommend gegen jeden, schien er nichts sein zu wollen als der erste unter seinesgleichen. Den Fehler so vieler ihm sonst ebenbürtiger Männer, den militärischen Kommandoton auf die Politik zu übertragen, hat Cäsar durchaus vermieden; wie vielen Anlaß das verdrießliche Verhältnis zum Senat ihm auch dazu gab, er hat nie zu Brutalitäten gegriffen. Cäsar war Monarch; aber nie hat ihn der Tyrannenschwindel ersaßt. Er ist vielleicht der einzige unter den Gewaltigen des Herrn, welcher im großen wie im kleinen nie nach Neigung oder Laune, sondern ohne Ausnahme nach seiner Regentenpflicht gehandelt hat, und der, wenn er auf sein Leben zurücksah, wohl falsche Berechnungen zu bedauern, aber keinen
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Fehltritt der Leidenschaft zu bereuen fand. Es ist nichts in Cäsars Lebensgeschichte, das auch nur im kleinen sich vergleichen ließe mit jenen poetisch-sinnlichen Aufwallungen, mit der Ermordung des Klitns oder dem Brand von Persepolis, welche die Geschichte von seinem großen Vorgänger im Osten berichtet. Er ist endlich vielleicht der einzige unter jenen Gewaltigen, der den staatsmännischen Takt für das Mögliche und Unmögliche bis an das Ende seiner Laufbahn sich bewahrt hat und nicht gescheitert ist an derjenigen Aufgabe, die für großartig angelegte Naturen von allen die schwerste ist, an der Aufgabe, die eignen Schranken zu erkennen. Was möglich war, hat er geleistet und nie um des unmöglichen Besseren willen das mögliche Gute unterlassen, nie es verschmäht, unheilbare Übel, so gut es ging, wenigstens zu lindern. Aber wo er erkannte, daß das Schicksal gesprochen, hat er immer gehorcht. Alexander am Hyphasis, Napoleon in Moskau kehrten um, weil sie mußten, und zürnten dem Geschick, daß es auch seinen Lieblingen nur begrenzte Erfolge gönnt; Cäsar ist an der Themse und am Rhein freiwillig zurückgegangen und gedachte auch an der Donau und am Enphrat nicht, ungemessene Pläne der Weltüberwindung, sondern bloß wohlerwogene Grenzregulierungen ins Werk zu setzen. So war dieser einzige Mann, den zu schildern so leicht scheint und doch so unendlich schwer ist.
XXVII.
Markus Tullius Cicero.
(W. S. Teuffel und C. Peter).
Es ist nicht leicht ein Mann so viel und so hoch gepriesen worden wie Cicero; wie zur Ausgleichung ist er dagegen in neuester Zeit nicht nur getadelt, sondern geschmäht und auf die tiefste Stufe des Werts herabgesetzt worden, wobei man vorzüglich auch die zahlreichen vertrauten Briefe, die wir von ihm besitzen, benutzt hat. Um so notwendiger ist es, daß wir uns seine Individualität mit ihren Licht- und Schattenseiten wenigstens den Hauptzügen nach zu vergegenwärtigen suchen.
Als Hauptquelle seiner Vorzüge und Mängel dürfte vielleicht eine außerordentliche Erregbarkeit der Empfindung und der Phantasie anzunehmen sein, wie wir sie auch sonst bei ausgezeichneten Männern, insbesondere solchen, die in der Litteratur Bedeutendes geleistet haben, wieder-sinden, und wir glauben uns nicht zu irren, wenn wir in ihr vorzüglich den Schlüssel für die Erklärung der Vorzüge wie der Mängel Ciceros suchen. Diese Erregbarkeit ist es, die ihm im Augenblick des Handelns tausend Möglichkeiten vor Augen stellt und ihm dadurch nicht selten die Fähig-
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feit benimmt, einen raschen Entschluß zu fassen unb ein bestimmtes Ziel mit unwandelbarer Festigkeit zu verfolgen; sie ist es, bte seinen Empsin-bnngen zuweilen eine zu große, seine Selbstünbigkeit beeinträchtigende Gewalt verleiht, bte ihn ber Liebe unb bes Beifalls ber Menschen be-bürstig und babnrch von anberen abhängig macht; sie ist es ferner, bie ihn zeitweise, namentlich wenn er von ber Woge der Volksgunst ober bes Beifalls hochstehenber, von ihm be-sonbers geschätzter Männer getragen wirb, gewissermaßen über sich selbst erhebt imb ihn außerordentlicher Leistungen fähig macht, bie ihn aber wieberum in Zeiten ber Abspannung in eine Mutlosigkeit zurücksinken läßt, in ber er an sich selbst wie an ber Welt verzweifelt unb wohl auch hier unb bet Dinge thut, bie seiner besseren Überzeugung zuwiberlausen, um sie bann selbst zur Vermehrung seiner unglücklichen Stimmung attss bitterste zu beraten unb auf bas härteste zu verurteilen. Es ist gewiß keine geringe Leistung, wenn er als Vorkämpfer ber Senatspartei gegen Catilina unb zwanzig Jahre später in bem Kampfe gegen Antonius cineZeitlang bie Geschicke bes römischen Staats bestimmt, währenb von ber Thatkraft unb Entschlossenheit, bie er bet entwickelt, in Zeiten wie beim Ausbruch bes Bürgerkriegs zwischen Cäsar unb Pompejus ober nach ber Schlacht bei Pharsalus auch nicht eine Spur vorhanden zn sein scheint.
Nach Art reizbarer, mit einer leicht erregbaren Phantasie begabter Menschen lebt er mit seiner ganzen Seele in einer Vergangenheit, in bie er sich zurücksehnt, uttb bie er mit ben hellsten Farben ausmalt, unb es ist wohl anzunehmen, baß er in ber früheren bessern Zeit im Anschluß an eble, kräftige, vaterlanbsliebenbe Männer seinen Platz im Staate mit Ehren ausgefüllt, wenn auch nicht bie erste Stelle eingenommen hätte, ber er nach Montesquieu^ treffenber Bemerkung bei bewunbernngswür-bigen Talenten für bie zweite Stelle nicht gewachsen war. Nun waren zwar in ber ersten Hälfte feines Lebens bis zu seinem Konsulate bie Verhältnisse von ber Art, baß sie seine Wirksamkeit nicht völlig ausschlössen, baß er ben Traum einer Wieberherstellung ber alten glücklichen Zeit hegen unb sogar für bie Verwirklichung bieses Traumes mit glän-zenbem, wenn auch vorübergehenbem Erfolge thätig sein konnte. Aber
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M. Tullius Cicero.
188 Altertum.
als nachher nicht der Senat, sondern einzelne Männer alle Macht im Staat in der Hand hatten, als die Republik mit aristokratischem Regiment, für die er schwärmte, sich als völlig unhaltbar erwies, da war für ihn kein Raum mehr, da mußte er notwendig mit seiner ganzen Art und Weise in Konflikte geraten, denen er nicht gewachsen war. Er war nicht kalt genug, um an dem Vaterlande zu verzweifeln und es aufzugeben, nicht hart und fest genug, um gleich einem Cato den Kampf gegen die Feinde der Republik, die er wenigstens als solche ansah, unablässig auch ohne Hoffnung auf Erfolg fortzuführen, und endlich auch nicht resigniert genug, um sich aus freiem Entschluß den Umständen zn fügen und sich entweder ganz von dem öffentlichen Leben zurückzuziehen oder sich dem Staate in untergeordneter, ihn von aller Aussicht auf den so sehnsüchtig erstrebten Nachruhm ausschließender Stellung durch seine Dienste nützlich zu machen.
Sind aber seine Leistungen als Staatsmann von bedingtem Wert, so werden wir ihm als Redner und Schriftsteller einen viel höheren Rang einzuräumen haben. Er hat die Beredsamkeit unb Die Prosa überhaupt auf bie höchste Stufe erhoben, welche bcn Römern vermöge ihrer Sinnesweise unb ihrer bisherigen Entwickelung gestattet war, unb in beiberlei Hinsicht Werke geschaffen, burch welche er auf Jahrhunberte hinaus eine Wirkung ausgeübt hat, wie kaum irgenb ein anderer, und welche noch heutzutage in allerdings bedingter Art ihre Mustergültigkeit bewahren. Der Grund dieser ausgezeichneten Leistungen ist neben seiner sonstigen vorzüglichen Begabung hauptsächlich auch in seiner Liebe und Bewunderung für die griechische Litteratur und in dem hieraus fließenden unablässigen, hingebenden Studium derselben zu suchen, welches ihn in den Stand setzte, teils die lateinische Sprache immer vollkommener nach dem Muster der griechischen auszubilden, teils den in den griechischen Meisterwerken enthaltenen Ideenreichtum, so weit es die Eigentümlichkeit des römischen Volks zuließ, auf einheimischen Boben zu verpflanzen. Es war bies ein unerläßliches Erforbernis für bie Vervollkommnung ber römischen Litteratur, bie, einmal aus griechischer Wurzel entsprossen, nur irtbcm sie weitere Nahrung aus derselben zog, auf ihren Höhepunkt gebracht werden konnte; man wird aber vielleicht noch weiter gehen und sagen dürfen, daß dies für die Entwickelung der Menschheit überhaupt notwendig war, da die Errungenschaft des griechischen Geistes Jahrhunderte hindurch lediglich durch die Römer vermittelt und erst eine späte Nachwelt wieder durch die römische Litteratur zu den Griechen zurückgeführt werden sollte.
Wenn sich aber seine erregbare und empfängliche Natur für allge-gemeirte litterarische Zwecke hauptsächlich zu den eigentlichen klassischen Meisterwerken und unter diesen wiederum vorzugsweise zu denen des Thucydides, Plato, Demosthenes hingezogen fühlte, so ist es für feine
Teuffel und Peter: Markus Tullius Cicero. 189
sittliche Beurteilung von nicht geringer Wichtigkeit, daß er auch einer anderen Klasse von Schriftstellern um ihres Inhalts willen ein lebhaftes Interesse zuwendete, nämlich den späteren griechischen Philosophen, die, der durch Sokrates gegebenen Anregung folgend, sich hauptsächlich mit sittlichen Fragen beschäftigten. Wie diese philosophischen Forschungen und Lehren, insbesondere die der Stoiker, denen man, wenn man sie mit dem Maßstab ihrer Zeit mißt, eine gewisse Größe und Erhabenheit nicht absprechen wird, bei ihren Urhebern selbst gewissermaßen an die Stelle der veralteten und wirkungslos gewordenen Volksreligionen treten, so war es auch bei Cicero hauptsächlich eine Art religiöses Bedürfnis, was ihn zu diesen Philosophen trieb, aus denen er seine sittlichen Ideale schöpfte, die er immer in seinem für das Hohe und Edle gestimmten Geiste trug, wenn ihn auch die Verhältnisse in Verbindung mit seiner Weichheit uud Nachgiebigkeit zuweilen hinderten, ihnen im Handeln treu zu bleiben. Diese innige, gemütliche Beteiligung drückt sich deun auch in seinen eigenen philosophischen Schriften aus. Wir werden den wissenschaftlichen Wert derselben nicht eben hoch anschlagen dürfen; dagegen werden wir, wenn wir sie unbefangen lesen, die Warme, die sich in ihnen ausspricht, und die Reinheit der in ihnen niedergelegten Vorstellungen nicht verkennen und ebensowenig in Abrede stellen, daß sie nicht allein auf die Römer, sondern auch noch lange Zeit nach dem Untergange des römischen Reichs auf die zahlreichen Leser einen sittlich erhebenden und reinigenden Einfluß ausgeübt haben.
Es ist gewiß unhistorisch, einen Mann von dieser Bedeutung, der von den Alten selbst mit wenigen Ausnahmen und zwar selbst von seinen Gegnern aufs höchste geehrt und gepriesen wird, in der Weise, wie es heutzutage mehrfach geschieht, geringschätzig zu behandeln.; Daß dies überhaupt hat geschehen können, hat feinen Grund nach unserer Ansicht teils darin, daß man an ihn den absoluten sittlichen Maßstab, nicht den seiner Zeit angelegt hat, teils und hauptsächlich darin, daß man seine vertrauten Briese, in denen er alle feine wechselnden Empfindungen niederzulegen pflegte, als Zeugnisse gegen ihn benutzt hat, hauptsächlich um ihn der Schwäche und der Unentschlossenheit zu überführen. Es heißt aber in der That, das Aus-uni) Niederwogen der Empfindungen und Gedanken, wie es besonders bei geistig erregbaren Naturen stattfindet, gänzlich verkennen, wenn man einzelne vertrauliche Äußerungen derselben als Zeugnis und als Norm für ihre Beurteilung annimmt; und wenn man einmal solche vertrauten Briese hierzu benutzen will, wiewohl wir es für unbillig halten, warum hebt man nur die Anwandlungen von Schwache und Selbstliebe, an denen es allerdings nicht fehlt, hervor und läßt nicht wenigstens ebenso die nicht minder häufigen Äußerungen des Edelmuts und der Vaterlandsliebe gelten?
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Altertum.
XXVIII.
Die Verhältnisse des römischen Reiches unter ^ütgultus.
(K. Peter).
Suchen wir uns die einzelnen Stände und Klassen der Bevölkerung nach ihrer Stellung und Lage unter Angnstns zu vergegenwärtigen, so
leuchtet von selbst ein, daß zunächst die römische Aristokratie eine ganz andere Stellung einnehmen mußte. Diese Aristokratie war der besiegte Teil, und sie war es, deren Rechte und Privilegien der Kaiser an sich zog und sich selbst aneignete, um daraus das neue Gebäude der Alleinherrschaft auszurichten; es gingen ihr also, und dies ist der Hauptgrund ihrer Entartung, mit den politischen Rechten auch die politischen Interessen verloren. Dazu kam, daß die alten edlen Geschlechter zum großen Teil durch die Bürgerkriege den Untergang gefunden hatten, und' daß ihre Stelle durch Augustus. zahlreiche Empor-
kömmlinge aus niederen Stünden und zum nicht geringen Teile von nicht römischer Abkunft, die sich durch ihre den Machthabern geleisteten Dienste emporgehoben hatten, ersetzt
Peter: Die Verhältnisse des römischen Reiches unter Augustus. 191
worden war. Aber auch diejenigen höher stehenden Römer, welche sich durch die Bürgerkriege hindurch gerettet hatten, verdankten dies hauptsächlich der Bereitwilligkeit und Fügsamkeit, mit welcher sie sich entweder sogleich beim Beginn der Bürgerkriege, oder doch im Laufe, oder auch wohl noch nach Beendigung derselben den Führern der siegreichen Partei unterworfen hatten; es wurde ihnen daher leicht, ihr republikanisches Selbstgefühl abzulegen und mit jenen Emporkömmlingen in Unterwürfigkeit gegen den Herrscher zu wetteifern, von dem ihr Wohlleben und ihre Stellung lediglich abhing. So verwandelte sich die alte stolze Aristokratie immer mehr in einen Hofadel, der seine Entschädigung für den Verlust an Geltung und Macht und an sittlichen Interessen, wie zu geschehen pflegt, in Schwelgerei und Müßiggang suchte.
Den Mittelpunkt und das verknüpfende Band für die Aristokratie bildete nach wie vor der Senat, für den Augustus einen Census, erst von 400000 Sest. (90000) M., dann von 1000000 Sestertien (225000) M. festsetzte und der auch hierdurch, noch mehr freilich durch die allgemeine Umwandlung der Dinge allmählich immer mehr den Charakter einer bloßen Rangklasse annahm, so daß auch die Frauen und Kinder der Senatoren dazu gerechnet wurden. Die wirklichen Senatoren hatten, wie der Inhaber der öffentlichen Ämter, die Hauptaufgabe, den Sinn des Herrschers zu erraten und ihm durch ihre Abstimmungen und sonstigen Handlungen zu dienen, während sie zugleich vor den Augen der Welt den Schein der Selbständigkeit möglichst zu bewahren suchen mußten. Neben dem Senat richtete sich Augustus bereits im I. 27 v. Chr. einen engeren, aus einer-kleinen Zahl besonders vertrauter und ergebener Anfänger bestehenden Rat ein, und wenn dieser anch lange Zeit keine anerkannte öffentliche Autorität hatte, mit der er erst im I. 13 n. Chr. bekleidet wurde, so läßt sich doch denken, daß der wirkliche Einfluß sich schon von Anfang an auf ihn zurückzog, während dem eigentlichen Senat nur die Repräsentation und ebenfalls noch die Verantwortung für unpopuläre Maßregeln, deren Gehässigkeit der Kaiser von sich abzuwenden wünschte, verblieb.
Als ein besonders deutliches Kennzeichen für die Entartung der Aristokratie verdient es hervorgehoben zn werden, daß Augustus schon im I. 22 v. Chr. den Frauen und Söhnen von Senatoren verbieten mußte, aus den öffentlichen Schaubühnen bei den Mimenspielen als Tänzer aufzutreten, seruer daß viele sich aus selbstsüchtigen Motiven weigerten, in den Senat einzutreten und öffentliche Ämter zu übernehmen, und erst durch sanftere oder strengere Mittel dazu genötigt werden mußten.
Die weite Kluft zwischen dem Senatorenstande und der Masse des Volkes wurde einigermaßen ausgefüllt durch die Ritter, d. h. diejenigen, welche mindestens 400000 Sestertien (90000) M. besaßen und von freien Eltern abstammten. Die Angehörigen dieses Standes trieben, wie früher,
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hauptsächlich Geldgeschäfte; es gehörten dazu aber auch die Söhne von Senatoren, so lange sie noch nicht Mitglieder des Senats waren, die jedoch von den übrigen Rittern durch den Zusatz „die erlauchten" (equi-tes illustres) unterschieden werden, ferner diejenigen, welche ein viel größeres, vielleicht den senatorischen Census weit übersteigendes Vermögen besaßen, aber nicht Senatoren waren, weil sie es entweder nicht werden konnten oder wollten, wie z. B. der mächtige Freund und Günstling des Augustus, Mäcenas, der es verschmähte, mehr zu sein und zu heißen als römischer Ritter, und mit diesem Titel sogar einen gewissen bescheidenstolzen Pruuk trieb.
- Diesen bevorzugten Klassen gegenüber stand in Rom eine, mit verhältnismäßig nur wenigen besseren Bestandteilen untermischte, besitz- und erwerblose, müssige, unruhige und anspruchsvolle Volksmasse, so zahlreich, wie keine andere Stadt sie je aufzuweisen gehabt hat, und wie sie eben nur durch die eigentümlichen Verhältnisse Roms groß gezogen werden konnte, die Nachfolgerin und Erbin des ehemaligen römischen Herrschervolks, die eben deshalb ein Recht zu haben meinte, statt von ihrer Arbeit, von dem Tribut der Unterthanen zu leben, die daher schon in den letzten Zeiten der Republik nicht nur auf Staatskosten durch Brotspenden ernährt, sondern auch von den Magistraten durch Feste und Spiele unterhalten worden war, und die jetzt beides, Brot und Belustigungen (panem et circenses), in erhöhtem Maße empfing. Diese ganze große beschäftigungslose und von jedem Wind erregte Masse in einer Stadt von überhaupt etwa l1/4 Millionen Einwohnern hatte zwar keine eigentliche politische Macht; denn die Volksversammlungen, welche allerdings hauptsächlich durch sie gebildet wurden, hatten alle politische Bedeutung verloren; demnngeachtet aber übte sie durch die Gunst oder Ungunst, die sie dem Kaiser bezeigte, einen bedeutenden Einfluß aus. Sie war es, die noch immer den Namen des römischen Volkes führte und dasjenige hauptsächlich bildete, was von einer öffentlichen Meinung noch übrig war.
Das übrige Italien ist, seitdem das römische Bürgerrecht über die ganze Halbinsel ausgedehnt worden war, gewissermaßen als die Vorstadt Roms anzusehen. Seine Kraft und Blüte war zum großen Teil schon durch die Kriege, durch welche es der römischen Herrschaft unterworfen wurde, gebrochen worden; was davon noch übrig blieb, war durch die Vertreibung der bisherigen Einwohner aus den Städten uud Ansiedelung der Veteranen zur Zeit des letzten Triumvirats und durch die sonstigen zerstörenden Wirkungen der Bürgerkriege vernichtet worden. Augustus bemühte sich zwar, die Lage des Landes zu verbessern. Er gründete daselbst, um die freie Bevölkerung zu vermehren, nicht weniger als 28 Ko-lonieen, in denen er neben den Veteranen auch ärmere Bürger der Hauptstadt ansiedelte; er teilte die ganze Halbiusel in 11 Regionen, für die er
Peter: Die Verhältnisse des römischen Reiches unter Angustus. 193
besondere Verwaltungsbehörden einsetzte, um überall die langentbehrte Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen; er traf endlich die Einrichtung, um den außerhalb Roms wohnenden römischen Bürgern die Teilnahme an den Volksversammlungen zu erleichtern, daß die Dekurionen der Städte (d. H. die Mitglieder des Rats) für die Wahlen in Rom zu Hause abstimmen und das Ergebnis ihrer Abstimmung nach Rom schicken sollten, eine Maßregel, die auch deswegen bemerkenswert ist, weil in ihr eine gewisse Analogie zu dem heutzutage herrschenden, den alten Völkern sonst unbekannten Repräsentationssystem enthalten ist. Indessen konnte durch alle diese Maßregeln weder die Bevölkerung des Landes wesentlich gehoben, noch ein eigentümliches und selbständiges Leben darin geweckt werden. Ein nicht geringer Teil desselben diente lediglich dem Luxus und der Bequemlichkeit der römischen Großen, die ihre Landgüter immer mehr vergrößerten und weiter ausbreiteten und ans denselben nur Sklaven zur Bearbeitung des Landes und zu den sonstigen Diensten gebrauchten. Die übrigen Bewohner waren wenig zahlreich, meistenteils arm unb ohne politische Interessen, nur etwa Oberitalien ausgenommen, welches am spätesten von Rom unterworfen und vorzugsweise durch Fruchtbarkeit begünstigt war, und daher wenigstens einen gewissen Wohlstand bewahrte, obgleich auch hier die Ackeranweisungen der letzten Jahrzehnte der Republik zerstörend genug gewirkt hatten.
In den Provinzen war die Lage der Bewohner, wie leicht begreiflich, durch die mehr einheitliche Regierung, die sie unter den Kaisern genossen, wesentlich verbessert. Wie aber Rom zur Zeit der Republik die Eigentümlichkeiten der Provinzen, so weit sie nicht mit der Aufrechthaltung seiner Herrschaft kollidierten, unangetastet gelassen hatte, so griff auch jetzt die Regierung nicht so tief ein, um eine Verschmelzung der Provinzen zu einem einheitlichen Reiche bewirken zu können. Demnach war und blieb die Stellung der Provinzen und die Art der Menschen in denselben eine sehr verschiedene. In Asien war die Nationalität der verschiedenen Völker bereits durch die Herrschaft der Griechen und Maeedonier vernichtet; es war dort ein Halbgriechentum verbreitet, selbst veraltet und verblichen und doch an Bildung sich über alle anderen Völker, auch über die Römer weit erhaben dünkend, welches durch die Notwendigkeit, den Römern zu dienen und zu schmeicheln, nur noch tiefer herabgedrückt wurde und jeden sonstigen besseren Einfluß von sich abwies. Anderwärts, wie in Palästina und Ägypten, traf Rom mit einem so in sich abgeschlossenen, so völlig verschiedenen Volkstum zusammen, daß jede Annäherung und jede Art einer Verschmelzung unmöglich war und Rom also nur durch Niederhaltung, oder, wie in Palästina, durch völlige Unterdrückung der Nationalität herrschen konnte. Wiederum gab es Völker, wie die im Nordosten von Italien und in den Donaugegenden,
Aus allen Jahrhunderten. 1Z
194 * Altertum.
wo Rom jetzt nicht über die erste Niederwerfung der rohen, ungebändigten Naturkraft hinauskam. Anders war es allerdings in Gallien, Spanien und Afrika, wo in der That die griechisch-römische Bildung der Herrscherin die bereitwilligste Aufnahme fand, und wo die Studien in mehreren Städten, wie in Augustoduuum, Mafsilia, Lngdunnm, Bnrdigala, in Gades, in mehreren der blühenden Städte Vätikas und in Karthago, fast mit mehr Eifer getrieben wurden, als in Rom selbst; indes war es nicht viel mehr als die Schale der Litteratur, die Rhetorik, auf die sich der jugendliche frische Trieb dieser Völker wars, freilich bald auch in Rom selbst das einzige, was von der Litteratur noch übrig blieb. Daß im allgemeinen das stolze Vorurteil der Römer /gegen alles Fremde auch unter den Kaisern trotz der milderen Behandlung der Provinzialen dasselbe blieb wie früher, zeigt sich unter anderem darin, daß schon Angustus seine göttliche Verehrung in den Provinzen zuließ, indem er im Jahre 29 der Provinz Asien gestattete, ihm und der Stadt Rom in Pergamum einen Tempel zu errichten, und daß auch die folgenden Kaiser hierin seinem Beispiele folgten, während das Gleiche in Rom zur Zeit noch unmöglich hätte geschehen können. Innerhalb der Provinzen beharrteu die Kaiser, wenn sie auch hier und da die Privilegien bevorzugter Klassen der Bevölkerung beseitigten, doch nach wie vor bei dem System der Spaltung unter ihren Unterthanen, bei dem Divide et impera, welches von jeher ein Grundprinzip ihrer äußeren Politik gebildet hatte. Noch immer wurden die civitates liberae und foederatae und liberae et immunes beibehalten und gelegentlich vermehrt, und dazu kamen jetzt noch die römischen Kolonieen, die Mnnicipien und die Städte mit dem alten latinischen Recht, welches, nachdem es in Italien selbst durch die allgemeine Verleihung des römischen Bürgerrechts außer Anwendung gekommen, nunmehr auf die Provinzen übertragen wurde; endlich kam auch noch der weitere Unterschied hinzü, daß einem Teile der Kolonieen und vielleicht auch der Muuieipieu als besondere Auszeichnung teils gewisse Vorrechte hinsichtlich der Verwaltung, teils Freiheit von der Grund- und Kopfsteuer, teils unter dem Namen des italischen Rechts diefe beiden Vorzüge zusammen verliehen wurden. So gab es z. B. in dem diesseitigen Spanien unter 179 Städten 12 Kolonieen, von welchen 2 als abgabenfrei, 2 als Städte italischen Rechts bezeichnet werden, 13 Mnnicipien, 18 latinische und 1 verbündete Stadt. Alle diese bevorzugten Städte waren eben so viele Bande, durch welche die Provinzen eng mit Rom verkettet, in sich aber zerteilt ltrtd zerrissen wurden.
Es bleibt jetzt noch derjenige Bestandteil des römischen Staates übrig, auf welchem dessen Existenz hauptsächlich beruhte und in welchem wenigstens etwas von dem alten römischen Wesen erhalten war. Dies
Peter: Die Verhältnisse des römischen Reiches unter Augustus. 195
ist das Heer. Es gab jetzt infolge der Entwickelung der Dinge im rörnischen°Staate zum ersten Male in der Welt ein stehendes Heer; denn die verhältnismäßig geringen Scharen von Leibwächtern der griechischen Tyrannen lassen sich eben so wenig als solches ansehen, wie etwa die 10000 Unsterblichen der Perserkönige. Augustus hatte von den ungefähr 50 Legionen, die nach Beendigung der Bürgerkriege sich in seiner Gewalt vereinigten, anfangs 18 im Dienst behalten. Hierzu fügte er später, vielleicht im Jahre 5 u. Chr., noch 8 hinzu, verlor aber durch die Niederlage des Varns 3, von denen er nachher nur 2 wieder ersetzte, so daß er also nach seinem Tode deren 25 hinterließ. Alle diese Legionen standen in den Provinzen, 8 in den beiden Germanien längs des linken Rhein-users, 3 in Spanien, 7 in Dalmatien, Pannonien und Mösien, 4 an der Ostgrenze von Asien, 2 in Ägypten, 1 in Afrika; Rom und Italien wurde durch die Prätorianer und die städtischen Kohorten geschützt, von denen die ersteren als der Persou des Kaisers am nächsten stehend selbstverständlich unter allen Truppen den höchsten Platz einnahmen. Diese gesamten Streitkräfte — mit den Hilfstruppen der Provinzen mindestens 300 000 Mann — bildeten einen geschlossenen Körper und einen abgesonderten Stand, in dem wenigstens einige der echt römischen Tugenden, insbesondere Tapferkeit und Römerstolz, erhalten waren; wie ehedem die Streitkraft des römischen Staates in dem römischen Volk geruht hatte, so war sie jetzt fast gänzlich in diesem stehenden Heere ausgegangen. Die Dienstzeit wurde im Jahre 13. v. Chr. für die Prätorianer auf 12 für die übrigen Truppen auf 16, nachher im Jahre 5 v. Chr. für jene auf 16, für diese auf 20 Jahre festgestellt. Viele blieben aber auch nach Ablauf dieser Frist unter besonderen Vergünstigungen noch länger bei den Fahnen, bei ihrem Austritt wurdeu sie mit einem Geldgeschenk, welches in dem letztgenannten Jahre für die Prätorianer auf 5000, für die übrigen auf 3000 Drachmen normiert wurde, gewissermaßen zur Ruhe gesetzt. Auf ihnen beruhte die Macht des Kaisers, der als Imperator der oberste Kriegsherr war; auf ihnen die Sicherheit der Provinzen nach innen wie nach außen und des ganzen Reichs. Freilich konnte es nicht ausbleiben, daß sie allmählich das Geheimnis ihrer Macht erkannten und über den Thron, der hauptsächlich von ihnen abhing, auch die Disposition in Anspruch nahmen, wie es zuerst von den Prätorianern und dann auch von den Legionen in den Provinzen geschehen ist.
196 Altertum.
XXIX.
Der Ausbruch des Vesuv am 24. August des Jahres 79 v. Chr.
(C. Peter).
Unter der Regiernng des Kaisers Titns (79—81 n. Chr.) wnrde das römische Reich von mancherlei Unglücksfällen heimgesucht.
Der bekannteste und merkwürdigste von diesen Unglücksfällen ist der Ausbruch des Vesuv am 24. August des Jahres 79, der außer seiner Furchtbarkeit und zerstörenden Wirkung auch deshalb merkwürdig ist. weil der Vulkan, bis dahin seit Menschengedenken ruhend, seitdem seine Thätigkeit fast nie völlig ausgesetzt hat. Es ist derselbe Ausbruch, bei dem Plinius der ältere als Opfer seiner Wißbegierde den Tod fand, und von dem wir aus diesem Aulaß eine ausführliche Schilderung aus der Feder feines Neffen, des jüngeren Plinius, besitzen.
Der Berg bildete bis dahin einen einzigen geraden, abgestumpften Kegel, deffen Oberfläche jedoch etwas eingedrückt war, so daß sie den Anblick eines gigantischen Amphitheaters bot; die Entstehung dieser Oberfläche durch Einsinkuug eines Eruptionskegels war an der Bodenbeschaffenheit derselben deutlich zu erkennen; die Abhänge waren bis zum Rand hinauf an der Nordseite mit Eichen und Kastanienbäumen, an der Südseite mit Weingärten aufs reichste geschmückt. An dem genannten Tage nun wurde der ältere Plinius, der sich als Befehlshaber der Staatsflotte mit feinem Neffen zusammen in Misenum befand, um die 7. Tagesstunde, also etwa 1 Uhr unserer Zeitrechnung, auf eine Rauchfäule von auffallender Gestalt aufmerksam gemacht, die, einer Fichte ähnlich, erst einen hoch aufsteigenden dichten Stamm bildend, dann sich in mehrere Zweige ausbreitend, vom Vesuv aufstieg. Von seiner Amtspflicht, nicht minder aber von feiner glühenden, nie rastenden Wißbegierde angetrieben, ließ er sofort ein Schiff ausrüsten, um teils den dortigen Küstenbewohnern, wo möglich, Hilfe zu bringen, teils das Naturereignis in größerer Nähe zu beobachten. Die Fahrt war durch den immer dichter und heißer werdenden Regen von Asche und kleinen Steinen und durch das stürmisch bewegte, bis in den Grund erregte und erschütterte Meer aufs äußerste erschwert und gefährdet; er setzte sie aber gleichwohl fort, immer die Vorgänge aufmerksam verfolgend und seine Beobachtungen dem Schreiber diktierend, bis nach Stabiä, wo er ausstieg und sich nach der Villa seines Freundes Pomponianus begab. Hier brachte er den Rest des Tages und die folgende Nacht unter den gewöhnlichen Beschäftigungen oder ruhig schlafend zu, bis der Aschenregen die Umgebungen des Hauses bis zu solcher Höhe anfüllte, daß die Bewohner fürchten mußten, sich den Ausweg versperrt zu sehen. Nun brach man auf, der Küste zu, um bei einer günstigen Wendung des Windes durch das Schiff Rettung zu suchen.
Peter: Der Ausbruch des Vesuv am 24. August des Jahres 79 v. Chr. 197
Es war jetzt Tag der Zeit nach, in Wirklichkeit aber die finsterste Nacht die nur zuweilen durch die aus dem Krater aufleuchtenden Flammen und durch den glühenden Lavastrom einigermaßen erhellt wurde; der Boden bebte unter fortwährenden Erdstößen; der Aschen- und Steinregen nahm so zu, daß die Wandernden sich durch Kissen, die sie über den Kopf banden, schützen mußten. Endlich verließ den Plinius die Kraft; er legte sich erst aus den Boden nieder, suchte sich dann mit Hilfe zweier Sklaven, die bei ihm zurückgeblieben waren, wieder aufzurichten, sank aber alsbald tot zusammen und ward am folgenden Tage (am 26. August) an derselben Stelle ausgefunden, ohne alle äußere Verletzung, woraus sich ergab, daß er den Tod durch Erstickung gesunden hatte.
Als an diesem Tage der Hauptsturm ausgetobt hatte, als die Auswürfe nachließen, die Erderschutterungen nur noch in verminderter, .milderer Weise stattfanden, als die Sonne wenigstens wieder einen matten Schein gab, nach dem Ausdruck des Plinius ähnlich wie zur Zeit von Sonnenfinsternissen, da trat das Werk der Zerstörung allmählich vor die Augen der unglücklichen Bewohner der Gegend, so viele ihrer das Leben ans den von allen Seiten ans sie eindringenden Gefahren gerettet hatten Der Berg selbst hatte seine ganze Gestalt verändert: von dem ehemaligen Kraterrande war nur der nördliche Teil (die heutige Somma) übrig, der übrige Teil war durch den neuen Eruptionskegel zerstört und umgestaltet, so daß sich jetzt zwei Spitzen einander gegenüber erhoben; die Vegetation der Abhänge war durch die Lavaströme und die Äschert-und Bimsteinmassen völlig vernichtet; aber auch im übrigen war oder schien doch alle Fruchtbarkeit und aller Anbau rings um den Meerbusen herum zerstört; die Städte Pompeji und Herculaneum und die Reste des früher im Bundesgenossenkriege zerstörten Stabiä wurden durch den Aschen- und Steinregen begraben; durch einen Lavastrom, der über die Aschendecke hinging, wurde Herculaneum noch ein tieferes Grab bereitet; das Meer selbst wurde von seiner Stelle zurückgedrängt; die ganze frühere Schönheit des Meerbusens von Neapel schien den Zeitgenossen für immer vernichtet. Erst allmählich kehrte unter den Bewohnern — trotz mancher ferneren Beunruhigungen — wieder Zuversicht und Vertrauen und damit auch die Fruchtbarkeit und der hohe Reiz der herrlichen Gegend zurück. Auch die Oberfläche von Pompeji und Herculaneum wurde wieder bepflanzt, die von Herculaneum sogar mit einem neuen Orte bebaut; die Städte selbst ruhten, Pompeji 18 bis 20 Fuß, Herculaneum dreimal so tief, ungewußt oder doch unbeachtet unter der Erde, bis man sie endlich nach beinahe 17 Jahrhunderten wieder entdeckte und nach und nach teilweise ans Licht förderte, um der staunenden Welt ein Bruchstück des antiken Lebens, unangetastet von Menschenhand, vor Augen zu führen.
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Altertum.
XXX.
Die Schauspiele zur Kailerzeil.
(L. Friedländer).
Für jeden Versuch, die Kultur der römischen Kaiserzeit zu schildern, ist eine möglichst umfassende Anschauung der Schauspiele unentbehrlich; nicht bloß weil sie den besten Maßstab für die Großartigkeit des damaligen Rom geben, sondern auch weil sie in so hohem Grade und in so vielen Beziehungen für die geistigen und sittlichen Zustände der Weltstadt charakteristisch sind.
Die Schauspiele, ursprünglich größtenteils zur Verherrlichung von Götterfesten eingeführt, hatten ihre religiöse Bedeutung so gut wie völlig verloren. Schon in der späteren Zeit der Republik waren sie das wirksamste Mittel zur Erwerbung der Volksgunst gewesen, und so benutzten sie auch die Kaiser, um das Volk in guter Stimmung zu erhalten. Aber die Schauspiele hingen bald nicht mehr von dem Belieben der allmächtigen Weltherrscher ab. Sie waren in dem kaiserlichen Rom schnell zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden. In der Bevölkerung der Hauptstadt war das Proletariat überwiegend, und dieser Pöbel war wilder, roher und verdorbener als in den modernen Weltstädten, weil hier wie nirgend der Auswurf aller Nationen zusammenfloß, und doppelt gefährlich, weil er großenteils müßig war. Die Regierung sorgte durch die großen, regelmäßigen Getreideverteilungen für seinen Unterhalt, und die Folge war, daß sie auch die Sorge für seinen Zeitvertreib übernehmen mußte. Diesen gewährten die Schauspiele. Brot und Spiele (panem et circenses) sah man bald nicht mehr als Gnade der Regierung an, sondern als Recht des Volkes; jede neue Regierung mußte wohl oder übel die Hinterlassenschaft ihrer Vorgänger antreten, und in Pracht und Großartigkeit dieser Feste haben die besten Kaiser mit den schlechtesten gewetteifert. —
Ursprünglich waren die Spiele des Cirkus die vornehmsten von allen und darum der Beschluß jedes Volksfestes gewesen. In der letzten Zeit der Republik waren die damals schon mit ungeheurer Pracht und Verschwendung gegebenen Kämpfe der Gladiatoren bei der Masse am meisten beliebt. Die Bühnenspiele, obwohl auch sie noch in der Kaiserzeit eine große Anziehungskraft übten, standen doch erst in dritter Reihe. Außer diesen drei Hauptgattungen der Schauspiele hatten schon während der Republik aus Griechenland Athletenkämpfe und musikalische Aufführungen Eingang gefunden, die teils an besonderen periodischen Festen veranstaltet, teils mit anderen Schauspielen verbunden wurden. Bei größeren, glänzend
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ausgestatteten Festen wurde auch noch auf manche andere Weise für Abwechslung gesorgt, als durch Feuerwerk, Seiltänzer, Gaukler, Kunstreiter u. dgl.
I. Die Cirkusspiele.
Das lange, verhältnismäßig schmale Thal, das sich zwischen den säst parallel streichenden Abhängen des Aventin und Palatin hindehnt, erscheint zum Schauplatz von Wettkämpfen, namentlich rennender Wagen, wie geschaffen. Aus dem Rasen dieser Hügelabhänge hatten sich schon in ältesten Zeiten die Bürger der jungen Stadt mit Weibern und Kindern gelagert, wenn an seltenen Festtagen eine Wettfahrt oder ein Faustkampf veranstaltet wurde; hierher verlegte die Sage auch datz Schauspiel, bei dem die ersten Römer sich ihre Bräute raubten. Mit der wachsenden Macht und Größe der Stadt wuchs auch die Pracht und Feierlichkeit des Kultus. Immer häufiger und regelmäßiger wurden die Feste der einheimischen oder vom Staate anerkannten fremden Götter, die in der Regel eine Cirkuslustbarkeit beschloß; und neben diesen bestimmten Feiertagen mehrten sich die außerordentlichen Veranlassungen, die das Volk in der Rennbahn versammelten. Einrichtungen für Sitzplätze waren hier schon von den Königen getroffen worden. Ans hölzernen Gerüsten wurden mit der Zeit steinerne Bauten, endlich ersetzte Marmor den Tuffstein, Vergoldung den farbigen Anstrich. Schon nach dem von Julius Cäsar beendeten Ausbau gehörte der große Cirkus zu den ersten Prachtbauten Roms. Die Länge der Bahn betrug 3*2 Stadien (650 m), ihre Breite 4 Plethren (125 m). Um die Bahn zog sich ein Graben von 3 m Breite und Tiefe; die Sitzreihen aus eiuem Unterbau aufgeführt, der aus einem dreifachen Stockwerk von Bogenwölbungen bestand, erhoben sich im Innern amphitheatralisch. Nur die untersten waren von Marmor, die oberen von Holz. Die Sitzreihen hatten in Cäsars Zeit eine Gesamtlänge von 8 Stadien (1480 m) und vermochten 150 000 Menschen zu fassen. Das Wachsen der Bevölkerung und die Zunahme der Leidenschaft für die Cirkusspiele veranlaßte wiederholte Neubauten und Erweiterungen; infolge dieser fortgesetzten Bauten war die Zahl der Plätze im 4. Jahrhundert auf 385000 angewachsen. Die untersten der Bahn zunächst gelegenen Sitzreihen waren sür die Senatoren, die nächst höheren für die Ritter, die übrigen für den dritten Stand bestimmt. Die Frauen hatten hier nicht, wie in den übrigen Schauspielen, gesonderte Plätze, sondern saßen unter den Männern. Der Platz des Kaisers und seiner Familie war unter den Senatoren und eben dort auch die Logen, die sich einige Kaiser erbauen ließen.
Der Cirkus war in jeder Beziehung prächtig ausgestattet. Sein Hauptschmuck war der von Angustus in seiner Mitte ausgestellte Obelisk (jetzt aus Piazzo bei Popolo), zu dem Constautius noch einen zweiten, größeren
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(jetzt auf dem Platz des Lateran) hinzufügte. Non außen zogen sich um den ganzen Cirkus fortlaufende Arkaden mit Eingängen und Treppen vermittelst deren viele Tausende leicht und ohne Gedränge hinaus und hinein gelangen konnten. —
Die Schauspiele des Cirkus hatten, wie alle übrigen, im Laufe der Jahrhunderte an Dauer, Mannigfaltigkeit und Pracht der Ausstattung ungemein zugenommen. Die hauptsächlichsten waren zu allen Zeiten die Wagenrennen. Das Interesse für dieses Schauspiel, das in einer so beispiellosen Weise die Neigungen nnd Leidenschaften der Masse absorbierte, beruhte zunächst nicht, wie bei den heiligen Spielen der Griechen, auf der Teilnahme für die Personen der Wettsahrenden, noch,- wie bei modernen Wettrennen, auf dem Juteresse an den rennenden Pferden, sondern ganz vorzugsweise aus der Parteinahme für die sogenannten Faktionen, welchen Pferde unb Lenker angehörten. Da nämlich bie Festgeber nur ausnahmsweise die Cirkusspiele mit eigenen Leuten und Pferden bestreiten konnten, übernahmen Gesellschaften von Kapitalisten und Besitzer großer Sklavenfamilien und Gestüte die Lieferung und Ausrüstung. Wie in der Regel vier Wagen um die Wette raunten, so gab es auch vier solche Gesellschaften, die zu jedem Rennen je einen Wagen stellten, und seit Wagen und Lenker Farben als Abzeichen trugen, je eine dieser Farben zu ber ihrigen machten. So unterschied man die Faktionen oder Parteien der Weißen, Roten, Grünen unb Blauen. Die Grünen unb Blauen hatten schon seit Anfang ber Kaiserzeit bie kiben älteren Parteien in ben Hintergrund) gebrängt; zuletzt öerbanben biefe sich mit jenen (unb zwar bie weiße mit bcr grünen, bie rote mit ber blauen), ohne baß sie ganz zu existieren aufhörten. Die Parteiung, bie sich in ber Bevölkerung von Nom unb später auch von Konstantinopel für bie Farben ber Cirkusfaktionen bildete, ist eine der bedeutsamsten und merkwürdigsten Erscheinungen der Kaiserzeit. Sie spaltete die ungeheure Mehrzahl des Volkes von den Beherrschern ber Welt bis zum Proletarier und Sklaven in vier unb später in zwei Parteien. Nichts anbercs ist so bezeichnend, für bie Unnatürlichkeit ber politischen Zustänbe, als biefe Konzentration bes allgemeinen Interesses aus biesen Gegenstanb, unb nichts zeigt so bentlieh bie wachsende geistige und sittliche Verwilderung Roms. Für Pferde uud Wagenlenker konnte eine verhältnismäßig nur geringe Zahl von Sachverständigen und Anhängern sich interessieren, für die Farben jedermann. Pferde und Wagenlenker wechselten, die Farben waren permanent. Während eines halben Jahrtausends pflanzte sich das Feldgeschrei der Farben von Geschlecht zu Geschlecht fort, und zwar in einer mehr und mehr verwildernden Bevölkerung, unb wenn schon bei allen Schauspielen Excesse unb Tumulte gewöhnlich waren, so war vorzugsweise ber Cirkus ber Schauplatz wilber, selbst blutiger Scenen.
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Die Cirkusspiele leitete eine gottesdienstliche Feierlichkeit ein. Vom Kapitol kam eine große Prozession mit zahlreichen Götterbildern herunter über das festlich geschmückte Forum, dann rechts zwischen den Läden des Toskanerquartiers über den Ochsemnarkt gehend, zog sie in das mittlere Hauptthor des Cirkus ein und die Bahn entlang um die Zielsäule herum. Der Magistrat, der die Spiele veranstaltete, führte sie an, wenn es ein Prätor oder Konsul war, auf hohem Wagen stehend, in der Tracht eines triumphierenden Feldherrn, von den Falten der weiten goldgestickten Purpurtoga umwallt, darunter die mit Palmenzweigen geschmückte Tunika, den Elsenbeinseepter mit dem Adler in der Hand; einen gewaltigen Kranz aus goldenen Eichenblättern, mit Edelsteinen besetzt, hielt ein öffentlicher Sklave über seinem Haupte. Die Versammlung empfing diesen Zng sowie den ihn führenden Magistrat mit Ausstehen, Klatschen und Beifallrufen.
Um die Richtung des Laufes zu bestimmen, waren sowohl zu Anfang, als zu Ende des zu durchmessenden Raumes je drei Kegelsäulen aufgestellt und zwischen diesen beiden Zielen durch die ganze Länge der Bahn eine niedrige Mauer (oder Mauern, die Wasserbecken umgaben,) gezogen, worauf die beiden oben erwähnten Obelisken und außerdem Säulen, Götterbilder und kleine Heiligtümer standen. Der große Cirkus hatte zu beiden Seiten des mittleren Hauptthores je vier, im ganzen also acht Thore. Die in der Regel rennenden vier Wagen liefen aus den vier dem Hauptthore auf der rechten Seite zunächst gelegenen Thore aus. Um den Unterschied der Bahnen auszugleichen, welche die Wagen zurückzulegen hatten, bildete die die Thore enthaltende Eingangsseite nicht eine gerade, sondern eine krumme Linie, so daß das der Mitte zunächst befindliche Thor am weitesten zurück, bie folgenden mehr nach vorne lagen, überdies wurden, wie es scheint, die Plätze verlost. Die Wagen durchmaßen die Bahn auf der rechten Seite der Mauer (vgl. bie Abbildung S. 202) bis an die hinteren Ziel-säulen, bogen um dieselben herum und fuhren auf der linken Seite der Mauer bis zur Stelle des Ablaufs zurück. Dieser Doppellauf wurde siebenmal wiederholt, Sieger war der, welcher beim siebenten Rücklauf zuerst über eine nah am Eingänge auf dem Boden mit Kreide gezogene Linie fuhr. Außer den Preisen der Sieger wurden auch zweite und dritte Preise verteilt.
Die Zahl der aus sieben Umläufen bestehenden Rennen war nicht immer dieselbe. Noch in der ersten Kaiserzeit waren zehn oder zwölf an eitlem Tage das Gewöhnliche: im Jahre 37 veranstaltete Kaligula bei der Einweihungsfeier eines Tempels für Augustus am ersten Tage zum ersten Male 20, am zweiten 24. Diese Zahl, bei welcher das Schauspiel den ganzen Tag, von Morgen bis Abend, dauerte, wurde bald gewöhnlich und seit Nero, wie es scheint, stehend, so daß eine geringere nur an untergeordneten Festtagen stattfand.
Die gewöhnlichsten Rennen waren mit Zwei- und Vier- seltener mit
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Dreigespannen. Mit Zweigespannen versuchten sich die Ansänger zuerst. Virtuosen der Kunst, die sich überhaupt mit mancherlei ungewöhnlichen Fertigkeiten sehen ließen, fuhren auch mit sechs- sieben- acht- und zehu-spännigen Wagen um die Wette. Mit einem Zehngespann trat Nero zu Olympia aus uud erhielt den Preis, obwohl die Fahrt sehr unglücklich verlies. Die zweirädrigen Wagen waren sehr leicht und klein. Bei dem beliebtesten Rennen mit Viergespannen waren die Pferde nebeneinander gespannt, das beste als linkes Außenpferd, die mittleren gingen im Joch, zuweilen auch die drei rechts gespannten. Die Wagenlenker standen auf den Wagen, bekleidet mit einer kurzen, am Oberkörper festgeschnürten Tunika ohne Ärmel, auf dem Kopfe eiue helmartige Kappe, die auch Stirn und Wangen deckte und bei einem Sturze einigen Schutz gewähren konnte, in der Haud die Peitsche, in dem breiten Gürtel ein Messer zum Durchschneiden der Zügel im Falle der Not, eine Vorsicht, die um so nötiger war, als die Zügel am Gürtel befestigt zu sein pflegten.
Wenn das Schauspiel beginnen sollte, ging durch die aufgeregte Menge ein dumpfes Brausen, gleich dem Gebranse des wogenden Meeres. Aller Augen hingen an den gewölbten, durch ein Seil gesperrten Thoren auf der Eingangsseite, in denen stampfend und schnaubend die zum Rennen bestimmten Gespanne standen. Der Vorsitzende, der sich auf einem über dem Haupteingange angebrachten Balkon befand, gab das Zeichen zum Anfange, indem er ein weißes Tuch in die Bahn warf. Nun fiel das Seil, das die Thore sperrte, die Wagen stürmten in die Bahn, und ein ungeheueres Geschrei erfüllte von allen Seiten die Luft. Bald hüllte (obwohl vermutlich in den Pausen immer mit Wasser gesprengt wurde) eine dichte Staubwolke die rennenden Wagen ein, auf.denen die Lenker, weit vorgebeugt, ihre Pferde mit Zurufen antrieben. Zur Gewinnung des Sieges wurden von erfahrenen und geschickten Lenkern die mannigfachsten Künste angewendet. Bald fuhren sie, wenn sie die Spitze genommen hatten, in schrägen Linien, so daß sie den Nachfolgenden die Bahn sperrten, bald beschrieben sie, wenn sie sich in der Mitte der rennenden Wagen befanden, „der freien Bahn vertrauend", weite Kreislinien auf der rechten Seite, bald fuhren sie gerade auf das Ziel los, besonders aber suchten sie die Entscheidung bis zum Schluß des Rennens hinzuhalten, sparten die Kraft ihves Gespanns bis zum letzten Laus und überholten dann leicht die Neulinge, die anfangs vorausgeeilt waren und ihre erschöpften Pferde nun umsonst mit der Peitsche antrieben. Jede Wendung des Rennens, jedes neue Moment in seinem Verlauf war für die Lenker, wie für die kundigen Zuschauer von Wichtigkeit und auf die Schätzung des gewonnenen Sieges von Einfluß. Siege von solchen, die sich anfangs unter den letzten befunden hatten, scheinen höher geachtet worden zu sein, als wenn gleich anfangs die Spitze genommen, oder die zweite Stelle behauptet worden
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war; manche gaben auch ihren Mitbewerbern eine Strecke voraus und trugen deuuoch den Sieg davon. Oft stürzten die Lenker und wurden von den Pferden geschleift; doch die Hauptschwierigkeit und Gefahr lag in der siebenmaligen Wendung um das hintere Ziel. Durch das Bemühen, hier die kürzeste Wendung zu machen, wurden die Wagen oft aneinander und an das Ziel geschleudert, die folgenden stürzten darüber, die Wagenlenker schlugen aus einander los, und Menschen, Tiere und Trümmer waren in einem wüsten blutigen Knäuel geballt.
Das größere Schauspiel aber waren die Zuschauer selbst. Die in bedeutender Weite sich hinziehenden, hoch über einander aufsteigenden Sitzreihen waren vou einem wogenden Menschenmeere überflutet, und diese Hunderttaufende erfüllte eine Leidenschaft, die in der That an Raserei grenzte. Je mehr das Rennen sich seinem Ende näherte, desto mehr steigerten sich Spannung, Angst, Wut, Jubel und Ausgelassenheit. Mit den Angen unablässig die Wagen verfolgend, klatschten und schrieen sie aus allen Kräften, sprangen von den Sitzen auf, bogen sich vor, schwenkten Tücher und Gewänder, trieben die Pferde ihrer Partei mit Zurufen an, streckten die Arme aus, als wenn sie in die Bahn reichen könnten, knirschten mit den Zähnen, drohten mit Mienen und Gebärden, zankten, schimpften, frohlockten und triumphierten. Endlich kam der erste Wagen am Ziele an, und das donnernde Jnbelgefchrei der Gewinnenden, in das Flüche und Verwünschungen der Verlierenden sich mischten, hallte weit über das verlassene Rom hin, verkündete denen, die in ihren Wohnungen geblieben waren, das Ende des Wettkampfes und traf noch das Ohr des Reifenden, der die Stadt schon weit hinter sich gelassen hatte. Obgleich das Rennen sehr gewöhnlich mit geringen Pansen (namentlich um die Mittagszeit) vom frühen Morgen bis zum Abend dauerte, harrte das Volk doch trotz Sounen-glut und Regenschauern unablässig aus und ward nicht müde, das über alles geliebte Schauspiel mit derselben leidenschaftlichen Aufmerksamkeit zu verfolgen.
II. Das Amphitheater.
Während in den Spielen des Cirkus das Volk durch das Partei-iutereffe in so hohem Grade beteiligt war, daß es beinah mithandelte, und deshalb hier ein verhältnismäßig geringer Aufwand von Mitteln hinreichte, um es in unablässiger Spannung zu erhalten, war es bei den übrigen Schauspielen, wo es müßig zusah, um so schwerer zu beschäftigen und zu befriedigen. Die ungeheuersten Anstrengungen wurden zu diesem Zwecke im Amphitheater gemacht, wo neben Schauspielen der aufregendsten Art eine wahre Feenpracht der Ausstattung, eine Aufeinanderfolge stets wechselnder Überraschungen und der ganze Reiz „des Unzähligen, Seltsamen uud Ungeheuren" immer von neuem aufgeboten ward, um die Erwartungen
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und Ansprüche der in so hohem Grade verwöhnten und übermütigen Hauptstadt zu erfüllen und zu übertreffen.
Die Gladiatorenspiele.
Die Gladiatorenkämpfe waren in Latium ursprünglich unbekannt. In Rom wurden sie fast fünfhundert Jahre nach der Erbauung der Stadt zum ersteu Male gesehen und während der Republik bis auf die letzte Zeit nur zur Feier von Begräbnissen, nicht, wie Wettrennen und Bühnenspiele, bei Staatsfesten veranstaltet. Das anfangs feltene Schauspiel ward mit der Zeit häufiger und häufiger, und je öfter es sich wiederholte, desto größer wurde die Pracht der Ausstattung und die Verschwendung von Menschenleben. Die Gladiatoren traten in den verschiedensten Rüstungen und Waffen auf, Mann gegen Mann oder in ganzen Scharen; aber auch förmliche Schlachten wurden geliefert, in denen Tausende fochten, und nach welchen der Boden mit Leichen bedeckt war. Doch selbst die Aufregung blutiger Gefechte und die märchenhafte Pracht der Scenerie reichte zuletzt nicht mehr hin, die abgestumpften Nerven des vornehmen und niederen Pöbels zu reizen; das Seltsamste mußte erdacht, das Unsinnigste und Widernatürlichste hervorgesucht werden, um dem kannibalischen Schauspiel neue Würze zu geben. Domitian gab Tierhetzen und Gladiatorenspiele bei Nacht, und die Schwerter blitzten beim Schein von Lampen und Kandelabern. —
Das Schauspiel begann mit einem Paradezug der Gladiatoren durch die Arena; vielleicht war dabei der einmal von Sueton erwähnte Zuruf an den Kaiser: „Heil dir, Imperator, die zum Tode gehn, grüßen dich" gewöhnlich. Dem Festgeber wurden die Waffen zur Prüfung vorgelegt. Eine Gattung der fchärfften Gladiatorenschwerter führte den Namen von Tiberius' Sohne Drusus, der bei dieser Prüfung in angeborener Grau-
samkeit besonders unnachsichtig verfuhr.
Zuerst fand ein Scheingefecht statt, wobei namentlich auch Lanzen geschleudert und, zuweilen wenigstens, wie es scheint, nach dem Takt der Musik gefochten wurde. Zu dem Gefecht mit scharfen Waffen gab der düstere Schall der Tuben das Zeichen, und unter dem Schmettern der
Tuben und Hörner, dem schrillen Ton der Pfeifen und Flöten begann
der Kamps. «Die mannigfaltigsten Scenen lösten hier in fortwährendem Wechsel einander ab. Einzeln und in Scharen traten die Rettarier auf, halbnackte bewegliche Gestalten, fast ohne Rüstung mit Netz, Dreizack.und Dolch bewaffnet. Bald von den mit Visierhelm, Schild und Schwert leicht bewaffneten Secutoreu verfolgt, bald die schwergerüsteten Gallier und Myrmillonen umschwärmend, die sie mit geschlossenem Visier in halb kaueruder Stellung erwarteten, suchten sie ihren Gegnern das Netz überzuwerfen, um ihueu dann mit dem Dreizack oder Dolch den Todesstoß zu
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geben. Die Samniterr, von dem großen viereckigen Schilde von Manneslänge gedeckt, kreuzten ihre kurzen geraden Schwerter mit den gebogenen der schwerer gerüsteten, aber nur mit einem kleinen runden Schilde versehenen Thracier. Die Waffenkämpfer, wie mittelalterliche Ritter ganz in Eisen gehüllt, zielten mit ihren Stößen nach den Fugen und Öffnungen in der Rüstung des Gegners. Die Reiter rannten mit langen Lanzen gegeneinander, die Essedarier fochten von britannischen Streitwagen herab, deren Gespanne von einem neben dem Kämpfer stehenden Lenker gezügelt wurden. Noch manche andre Arten von Gladiatoren werden erwähnt, aber zu selten und beiläufig, um uns von ihrer Bewaffnung und von ihrer Kampfart eine deutliche Vorstellung zu geben.
Wnrde im Einzelkampfe ein Fechter getroffen, so ertönte aus den Reihen der Zuschauer der Ruf: „Er hat's!" War der eine von beiden überwunden und noch lebend in der Gewalt des Gegners, so überließ der Festgeber die Entscheidung, ob er getötet werden sollte, in der Regel den Zuschauern. Die verwundeten, um ihr Leben bittenden Kämpfer hoben einen Finger in die Höhe. Von seiten der Zuschauer war das Zeichen der Gewährung, wie es scheint, das Schwenken von Tüchern; das Wenden des Daumens nach unten bedeutete den Befehl zur Erteilung des Todesstoßes. Tapfere Fechter wiesen wohl die Einmischung des Volkes zurück und zeigten durch Winke an, ihre Wunden seien nicht erheblich; während sie am meisten Teilnahme fanden, erregten Zaghafte gerade die Erbitterung des Volkes, das es als eine Art Beleidigung gegen sich empfand, wenn ein Gladiator nicht gern sterben wollte. Mit Peitschen und glühenden Eisen wurden Säumige und Furchtsame in den Kampf getrieben. Aus den Reihen der zur Wut entflammten Zuhörer ertönte es: „Töte, peitsche, brenne! Warum fällt dieser so furchtsam in das Schwert? Warum führt der den Todesstoß so wenig herzhaft? Warum stirbt jener so verdrossen?" Sehr häufig wurde, wie es scheint, dem Sieger sogleich ein durchs Los bestimmter Ersatzmann als neuer Gegner gegenüber gestellt, zuweilen sogar ein zweiter und dritter. In den Pausen des Gesechts wurde der blutgetränkte Boden von Knaben umgeschaufelt, und Mohrensklaven schütteten frischen Sand darauf. Die Sieger schwenkten vor den Zuschauern ihre Palmenzweige. Die Gefallenen nahmen Menschen in der Maske des Unterweltgottes Merkur in Empfang, andere in der Maske des etruskischen Dämon Charon prüften mit glühendem Eifen, ob sie nicht etwa den Tod nur heuchelten. Totenbahren standen für die Leichen bereit, auf denen sie durch das „Thor der Todesgöttin" hinausgetragen und in die Leichenkammer geschafft wurden. Dort wurden auch die vollends getötet, in denen noch Leben war. Große Massen-kümpse, sür welche die Arena des Amphitheaters keinen Raum hatte, fanden an verschiedenen Orten, natürlich nur selten statt. So ließ z. B.
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Julius Cäsar bei seinen Triumphalspielen eine Schlacht im Cirkus aufführen, wo die Zielsäulen weggenommen und zwei Lager aufgeschlagen waren: auf jeder Seite fochten 500 Mann zu Fuß, 300 zu Pferd und 200 Elefanten, die bemannte Türme auf dem Nacken trugen. Claudius ließ nach der Besiegung Britanniens im Jahre 44 die Eroberung und Plünderung einer dortigen Stadt und die Übergabe der Häuptlinge auf dem Marsfelde in vollster Wirklichkeit vorstellen, wobei er im Feldherrnmantel präsidierte.
Die Tierhetzen.
Die erste bekannte Tierhetze gab in Rom M. Fnlvins Nobilior, der Besieger Ätoliens, 186 v. Chr. Seitdem wurde dies Schauspiel, das während der Republik meist im großen Cirkus, später gewöhnlich im Amphitheater stattfand, häufig und mit immer größerer Pracht veranstaltet. Die Tiere wurden teils nur gezeigt, teils gehetzt und erlegt, indem man sie abwechselnd miteinander und mit Menschen kämpfen ließ. Die Schauspiele im letzten Jahrhundert der Republik lassen erkennen, daß die römische Macht bereits bis in die äußersten Fernen der Erde reichte. In den dreizehn Jahren von 58—46 v. Chr. folgten drei Schauspiele von beispielloser Pracht aufeinander, in welchen Tiere dem Volke vorgeführt wurden, deren Namen bis dahin kaum nach Rom gedrungen, und deren Fang mit den ungeheuersten Schwierigkeiten verknüpft war: die Ungeheuer des Nil, Krokodil und Hippopotamus, das Rhinoceros, eine weder vorher noch nachher gesehene afrikanische Affenart, der Luchs, die Giraffe u. s. w. Am 'meisten erstaunt man jedoch sowohl über die Zahlen der Tiere von einer Gattung, als die Gesamtzahlen der verschiedenen, die bei einzelnen großen Schauspielen in Rom zusammengebracht sein sollen. In dieser Beziehung sind die Spiele des Pompejns und Cäsar später nicht nur nicht übertroffen, sondern auch nicht erreicht worden. Bei den ersteren sah man angeblich 17 oder 18 Elefanten, 500 oder 600 Löwen, 410 andere afrikanische Tiere; bei den letzteren 400 Löwen und 40 Elefanten. Doch, daß 100 und selbst 200, ja 300 Löwen, 300, 400, 500 Bären, ebensoviel afrikanische Tiere bei einem einzigen Schauspiel gezeigt und gehetzt wurden — solche Angaben sind bei den Geschichtschreibern der Kaiserzeit nichts weniger als selten. Bei dem hnnderttügigen Feste, das Titus zur Eiuweihuugsseier des Flavischen Amphitheaters im Jahre 80 gab, sollen an einem Tage 5000 wilde Tiere aller Art gezeigt, im ganzen 9000 zahme und wilde getötet worden sein. Bei den viermonatlichen Festen, die Trajan im Jahre 107 zur Feier des zweiten daeischen Triumphes veranstaltete, sogar 11000. Mit den Tieren, die damals in Rom zu einem einzigen großen Feste in Rom zusammengebracht waren, könnte man also gegenwärtig alle zoologischen Gärten Europas reichlich versorgen.
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Die Zahlen der im Amphitheater gezeigten gezähmten und abgerichteten Tiere war ebenso groß, als die Leistungen der Tierbändiger erstaunlich. Sie schienen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, die ^iere zu dem abzurichten, was ihrer Natur am meisten zuwider war. Wilde Tiere ließen Knaben aus sich tanzen, standen auf den Hintersüßen, zeigten zugleich mit Pferden ihre Kunststücke im Wasser und blieben auf schnellfahrenden Zweigespannen „als Wagenlenker" unbeweglich. Hirsche lernten dem Zügel gehorchen, Parder tm Joche gehen. Kraniche beschrieben im Laufen Kreise und bekämpften sich gegenseitig. Friedliche Antilopen rannten mit den Hörnern aneinander, bis eine oder beide tot aus dem Platze blieben. Löwen wurden bis zum äußersten Grad hündischen Gehorsams gebracht, man sah sie in der Arena Hasen fangen, unversehrt in den Zähnen halten, loslassen und wieder fangen. Elefanten ließen sich aus den Wink ihrer schwarzen Lehrmeister auf die Kniee nieder, führten Tänze auf, zu denen einer von ihnen die Zimbel schlug, lagen zn Tische, trugen je vier einen fünften in einer Sänfte, gingen auf dem Seile und schrieben lateinisch. Mit den Produktionen gezähmter Tiere, wechselten die Kämpfe der aufeinander gehetzten wilden, wie des Rhinoceros mit dem Elefanten, dem Bären, dem Stier, des Elefanten mit dem Stier n. f. w. Die natürliche Wildheit der Tiere ward durch scharfe Reizmittel gesteigert. Man trieb sie mit Peitschengeknall an, verwundete sie mit Stacheln und Bränden, warf ihnen mit Lappen behängte Strohpuppen vor, die sie wütend in die Lust schleuderten, fesselte sie je zwei an langen Seilen zusammen, und das Volk jauchzte vor Entzücken, wenn sie, rasend gemacht, einander zerfleischten. Auch traten gewiegte und gut bewaffnete Jäger aus, die mit Hunden von guter Raffe einzeln oder in Menge den wilden Bestien standzuhalten vermochten. Endlich gehörten zu den Schauspielen des Amphitheaters auch die Voll. ftreefimgen jener entsetzlichen Todesurteile, durch welche Menschen, teils an Pfähle gebuudeu und völlig wehrlos, teils zur Verlängerung ihrer ^nal mit Wassert versehen, den wilden Bestien überliefert wurden, die zuweilen überdies zum Menschenfreffen abgerichtet waren. Welch ein Anblick, wenn diese Elenden mit zerrissenen Gliedern, von Blut bedeckt, nicht um Gnade, sondern um Aufschub ihres Martertodes bis zum nächsten Tage flehten! Wenn ihre ungeheuren Wunden so weit auseinander klafften, daß sie wißbegierigen Ärzten die willkommene Gelegenheit boten, die inneren Teile des Körpers sehen zu können! Und wenn nun vollends dieser gräßlicheu Wirklichkeit der Schein einer Theaterfcene gegeben wurde! Vielleicht meinte man, dies unmenschliche Schauspiel so minder abschreckend zu machen: für unser Gefühl ist es doppelt empörend, daß Maschinist und Dekorateur aufgeboten wurden, um die Todeskümpfe von Verurteilten zu verlängern und mit dem Prunk der Bühne zu umgeben.
Friedländer: Die Schauspiele zur Kaiserzeit. 209
Aus den bisherigen Mitteilungen ergießt sich, welch kolossale Mittel zur Unterhaltung der Bevölkerung Roms aufgeboten wurden. Die Wirkungen der Schauspiele konnten sich aber nicht ans die Masse des niederen Volkes beschränken, für welche sie zunächst bestimmt waren. Wer hätte sich auch der Gewalt dieser aufregenden und berauschenden, die Sinne berückenden, die Leidenschaften entfesselnden Eindrücke zu entziehen vermocht? Sie erfüllten die geistige Atmosphäre Roms mit einem Ansteckungsstoff, dessen Einflüsse selbst hohe Bildung und bevorzugte Lebensstellung nicht zu brechen vermochte, für die auch das weibliche Geschlecht nur zu empfänglich war. Man atmete das leidenschaftliche Interesse für den Cirkus, die Bühne, die Arena gleichsam mit der Lebenslust ein. So gewiß nun aber die verderblichen Wirkungen der Schauspiele aus die sittlichen Zustände auch der höheren Klassen sich im allgemeinen voraussetzen lassen, so schwer, ja unmöglich ist es begreiflicherweise, sie im einzelnen nachzuweisen. Doch eine Erscheinung muß hier erwähnt werden, die allerdings hinreicht, um die Tragweite dieser entsittlichenden Einflüsse aufs klarste erkennen zu lassen: das öffentliche Auftreten von Männern und selbst grauen aus edlen Familien, sowie mehrerer Kaiser auf dem Theater, in der Arena und Rennbahn. Allerdings wirkten verschiedene Motive zusammen, um eine so beispiellose Abweichung von der Bahn der Sitte und des Gesetzes möglich zu machen, namentlich Verkommenheit und Verarmung eines Teils der höheren Stande und ein von den Kaisern geübter Zwang; aber diese Ursachen reichen nicht hin, um eine solche Erscheinung völlig zu erklären, und schon die persönliche Beteiligung der Kaiser an den Schauspielen genügt, um zu beweisen, daß auch in den höchsten Sphären der Gesellschaft eine zur Manie ausgeartete Leidenschaft für sie verbreitet war, die keine durch Sitte und Gesetz gezogenen Schranken zurückzuhalten vermochten.
Nichts zeigt so sehr den ungeheuren Unterschied zwischen der Denk-und Empsindungsweise des römischen Altertums und des heutigen Europa, als die Beurteilung, welche die Schauspiele des Amphitheaters damals und jetzt bei den Gebildeten fanden. Wenn man in ber ganzen römischen Litteratur kaum einer Äußerung bes Abscheus begegnet, ben bie heutige Welt gegen biefe unmenschlichen Lustbarkeiten empfinbet, so bars man Wohl behaupten, baß biefe Schauspiele auch ben Besten unb Gebilbetsten unenblich unschulbiger erschienen, als sie waren. Die Ursachen, welche zwischen ber sittlichen Auffassung ber bamaligen und ber heutigen Welt einen so unermeßlichen Abstanb hervorbrachten, sind hauptsächlich drei: die Scheidung der Menschheit in eine berechtigte und eine unberechtigte Hälfte, die Macht der Gewohnheit und die blendende unb beranschenbe Großartigkeit unb Pracht in ber Ausstattung ber Schauspiele. Dem römischen Altertume war ber Begriff ber Menschenrechte fremb unb
Aus allen Jahrhunderten. 14
210 Altertum.
deshalb auch die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Menschenlebens an sich, die zarte Fürsorge für seine Erhaltung. Die geringe Entwickelung des Völkerrechts, vor allem aber das Institut der Sklaverei befestigte zwischen der berechtigten und unberechtigten Menschheit eine weite und unübersteigliche Kluft, nährte bei jener die Gewohnheit, die Existenz dieser mit einem besonderen Maßstabe zu messen und gering zu achten, ihre Leiden und ihren Untergang ohne Teilnahme anzusehen. Die Kämpfer der Arena waren Landesfeinde, Barbaren, Verbrecher, Sklaven oder verlorene Menschen; ihre Existenz war für die Gesellschaft entweder gleichgültig oder schädlich. — In einer rauhen und kriegerischen Zeit hatte Rom das etruskische Schauspiel bei sich eingeführt; anfangs selten gesehen, war es langsam häufiger und erst nach Jahrhunderten gewöhnlich geworden. Allmählich übte die von Geschlecht zu Geschlecht vererbte, tiefer und tiefer wurzelnde Gewohnheit ihre unwiderstehliche Gewalt Keine Macht ist so ungeheuer als diese, sie ist die einzige, welche den ursprünglichen Widerwillen am Gräßlichen in Behagen zu verwandeln vermag, und niemand ist im stände, sich dem Einfluß des Geistes zu entziehen, der sein Zeitalter durchdringt. Endlich darf man nicht vergessen, daß das Amphitheater, auch abgesehen von den Kämpfen der Arena, eine große Anziehungskraft zu üben vermochte; denn hier und hier allein bot sich ein Schauspiel, so überwältigend groß, wie es die Welt nie, weder vorher noch nachher gesehen hat. Wenn es in der Kaiserzeit noch etwas gab, was den Traum von der vergangenen römischen Größe hervorrufen konnte, so war es der Anblick des im Amphitheater der Flavier versammelten Volkes. Das Bewußtsein, einer Nation anzugehören, die auch in ihrem Sinken noch so gewaltig erschien, mochte manche Brust mit einem stolzen Gefühl schwellen. Der Bau der Flavier wurde mit Recht von den Zeitgenossen den Wundem der Welt beigezählt. Auf 80 mächtigen Bogen gegründet, erhob er sich mit 4 Stockwerken bis zur Höhe von 150 Fuß und vermochte 87000 Zuschauer zu fassen. Die innerste und unterste Reihe unmittelbar über der Arena war der Sitz der Senatoren. Hier saßen die Stammhalter der alten fürstlichen Geschlechter, die Würdenträger der Monarchie in ihrer Amtstracht, die Priesterkollegien im Ornat, die Vestalinnen; in der Mitte dieses glänzenden Kreises, aus offenem Sitz oder in einer prachtvollen Loge, der Kaiser mit seinem Hause und Ge-sslge. Hier zog auch wohl ein orientalischer Fürst in hoher Mütze und weiten, bunten, juwelenbedeckten Gewändern den Blick auf sich, oder ein deutscher Häuptling in knapp anschließender Tracht erregte durch seine Riesengestalt die Bewunderung und durch sein blondes Haar den Neid der Römerinnen. Denn hier war der Platz der fremden Könige und Gesandten, und auch vornehme Gefangene versäumte man nicht, bei solchen Gelegenheiten dem Volke zu zeigen. Die Tausende und aber sausende
Friedländer: Die Schauspiele zur Kaiserzeit. 211
der übrigen Stände bedeckten die marmornen Sitze, die sich über dieser ersten Reihe in immer weiteren Kreisen erhoben. Unter sie mischten sich die Formen, Farben und Trachten aller Rassen und Nationen. Alle römischen Bürger waren mit Rücksicht auf die kaiserliche Gegenwart und zu Ehren des Festes in die weiße Toga gekleidet und bekränzt. Die Plätze der Frauen befanden sich in den höheren Reihen des Amphitheaters; nur die Vestalinnen und die Frauen der kaiserlichen Familie hatten das Vorrecht, die blutigen Scenen der Arena aus unmittelbarster Nähe anzusehen. Auf den höchsten Plätzen drängte sich die Menge derer, die ihr niederer Stand und zerlumpter, schmutziger Anzug von den unteren Sitzen ausschlossen. Dem Auge, das über den weiten Raum hinschweifte, erschienen diese ungeheuren Massen in einer ebenso einfachen als im-
Kolosseum (Flavisches Amphitheater).
posanten Anordnung. Alle architektonischen Linien waren durch reiche und kunstvolle Verzierungen gehoben, und das gewaltige Bild in den würdigsten Rahmen gefaßt. Über den ganzen Zuschauerraum konnte zum Schutz gegen die Sonne ein ungeheueres Zeltdach gespannt werden, dessen bunte Felder dann einen farbigen Schimmer über das Innere des Gebäudes gossen; bei einem Schauspiel des Nero stellte es den gestirnten Himmel vor. Aus der Arena warfen Spingbrnnnm Strahlen wohlriechender Wasser bis zn erstaunlicher Höhe und kühlten die Luft, welche sie zugleich mit Düften füllten. Eine rauschende Musik übertönte den Lärm des Gefechts. Alles vereinigte sich also, die Sinne mit einer Trunkenheit zu befangen, die ebenso geeignet war, die Seele für den Eindruck des Wunderbarsten und Ungeheuersten empfänglich zu machen, als die Regungen sittlicher Empfindung in Schlummer zu wiegen. In einer
14*
212 Altertum.
großen leidenschaftlich aufgeregten Masse hörte die geistige Selbständigkeit des einzelnen momentan bis zu einem gewissen Grade auf, und auch der Widerstrebende ward in den allgemeinen Taumel fortgerissen. —
XXX.
Der Tafellurus der Hörner in der späteren Zeit.
(I. von Falke).
Die Hauptmahlzeit des Römers fand in später Stunde statt. Es war die letzte Mahlzeit des Tages. In der Frühe, bevor man ausging, wurde ein Imbiß von Brot und Salz mit Früchten, Käse oder Oliven genommen; dann folgte um die Mittagsstunde das Frühstück, das Pran-dium, und etwa um die mittlere Zeit zwischen Mittag und Sonnenuntergang —doch häufig auch viel später — die Cöna, die Hauptmahlzeit, welche sich bis in die tiefe Nacht verlängern konnte. D.as Prandium mit kalter Küche, Fischen, Eiern, Schaltieren und Getränken war schon ausgiebiger, aber die eigentliche Kunst der Küche gehörte der Cöna. Sie hatte es auf mannigfache, den Appetit reizende Vorkost gebracht, auf zwei reich besetzte, sehr solide Gänge und einen Nachtisch.
So luxuriös hatte der Römer nicht begonnen. Ein Brei aus Dinkel (puls) war in alten Zeiten seine Hauptspeise gewesen, und sie blieb es, nebst Gemüsen und Hülsenfrüchten, insbesondere Bohnen, bei dem gemeinen Manne durch' alle Zeiten. Bis zum Jahre 174 v. Chr. hatte es weder Bäcker noch Köche gegeben, das heißt solche, die ein Gewerbe daraus machten. Erst die asiatischen Kriege machten die Römer mit den Genüssen der Tafel bekannt und verschafften ihnen Backkünstler und Köche, als Sklaven natürlich, die nun mit großen Preisen bezahlt wurden'. Dann wurde das Essen ein Studium und ein Genuß und die Verrichtung des Mahles eine Wissenschaft und eine Kunst. Die Republik hatte schon.ihren Lueullus gehabt, der dem üppigen Mahle für alle Zeiten seinen Namen gegeben' hat, aber die Kunst der Tafel, welcher er, ober vielmehr welche ihm zu so großem Ruhme verhelf, sah ihre höchste Blüte und Ausbildung doch erst unter den Kaisern. Damals brachte die Herrschaft über die Welt mit dem neu aufblühenden Handel und Verkehr die Leckerbissen aller Länder nach Rom: der fernste Osten und der fernste Westen, die Produkte Indiens, die Gewürze Arabiens und die Fische und Schaltiere des Atlantischen Ozeans, das Wildbret Galliens und Germaniens und die Datteln der Oasen, sie vereinigten sich in der römischen Küche. Kaiser Vitellins, vielleicht der größte Esser, den das Römerreich
Falke: Der Tafelluxus der Römer in der späteren Zeit. 213
gesehen hat, schickte seine Legionen aus, das Wild zu erjagen, wo er es am besten glaubte, und benutzte seine Flotten, um es so frisch und so schnell, wie möglich, nach Rom zu schaffen. So viel Menschen setzte ein einziger Magen in Bewegung! Damals geschah es, daß zum Zweck der Tafel alle die Brut- und Mastanstalten eingerichtet wurden sür Fische, Vögel und Vierfüßler. Damals wurden für ganz besondere Exemplare großer oder seiner Fische, die aus den Markt kamen, von den reichen Feinschmeckern die kolossalen Preise gezahlt, von denen die anekdotische Geschichte erzählt, mehr aus Renommisterei jedoch, um in der Stadt von sich reden zu machen, als des Genusses halber.
Fische, Austern, Muscheln, Schnecken und andere Schaltiere, deren Mannigfaltigkeit aus der römischen Tasel bei weitem größer war, als aus der unsrigen, wurden aus allen Teilen des Reichs herbeigeschafft. Der Feinschmecker hatte sich bald gemerkt, wo dieses oder jenes am besten zu finden war, oder in welcher Weise bereitet, es am besten schmeckte. Den beliebten Mullus, die Seebarbe, ließ mau selbst vor den Augen der Gäste sterben, um zu beweisen, daß er ganz frisch sei, wie er verlangt wurde. Als man sich an den italienischen Austern satt gegessen hatte, holte man sich die Vorfahren der „Natives" aus Britannien. Die Villa lieferte Hühner, die im Dunkeln gefüttert wurden, Enten und Gänse, die mit Feigen und Datteln gemästet waren, das Volarium (der Vogelbehälter) Krammetsvögel, Schnepfen, Wachteln, Fasanen und kleinere Vögel. Auch Störche, Krauiche, Flamingos und insbesondere Pfauen wurden viel gegessen. Vitellius und Apicius, jener Feinschmecker, der sein großes Vermögen essend durchbrachte und vor der letzten Million, mit der noch ferner zu leben ihm nicht der Mühe wert schien, sich den Tod gab, diese berühmten Esser ließen sich ein Gericht aus den Zungen der Flamingos machen, Heliogabal aber aus dem Gehirn dieser Vögel. Unter den Vierfüßlern war das Schwein am beliebtesten; in mehr denn fünfzig Arten wußte man fein Fleisch zuzubereiten. Der wilde Eber kam nicht selten in ganzer Gestalt auf die Tafel. Feinschmecker wußten herauszuschmecken aus welcher Gegend er stammte. Würste waren in mannigfachen Arten überaus beliebt, kalt, warm oder gebraten; in kleinen Blechöfen wurden sie auf der Straße verkauft gleich deu heißen Frankfurtern in unseren größeren Städten. Die besten Würste wie die besten Schinken lieferte Gallien. An Zukost von Salat und Gemüsen war kein Mangel; man zog Spargeln in besonderer Größe, man hatte Kohl von verschiedener Art, feine Rüben, Artischocken, Kürbisse und Gurken, Erbsen und Bohnen, Schwämme und Trüffel und verschiedene Pflanzen, um Geschmack zu geben.
Ebensowenig fehlte es dem Römer an einer Auswahl guter und feiner Weine, die er sorgfältig in thönernen Fässern oder Flaschen ans-
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bewahrte. Je älter der Wein war, um so besser. Sein Alter wurde mit einem Täfelchen bezeichnet, das den Namen des Konsuls trug, unter dessen Konsulat er gewachsen war. Von italienischen Landschaften lieferte Kampanien die besten Weine. Der Cäcnber hatte den ersten Namen, ihm folgte der Falerner, um den dritten Rang stritten mehrere Weinewer aber Vatikaner zu trinken hatte, war schon ein Gegenstand des Bedauerns. Bald füllten auch die griechischen Weine die Keller der Reichen. Wie überhaupt die römischen Speisesitten mit vorschreitendem Luxus sich ganz und gar nach griechischer Art richteten, nur ohne Vergleich üppiger wurden, so trank auch der Römer gleich dem Griechen den Wein gewöhnlich nicht ungemischt. Er mischte ihn mit Wasser und kühlte ihn mit Schnee, und wenn es kalt war in Winterszeit, machte er auch ein heißes Getränk, die Calda, aus Wein, Wasser, Honig und Gewürzen. Er hatte zu seiner Zubereitung ein besonderes Gefäß, das Caldarinm, das in seiner Einrichtung dem russischen Samowar mit seinem Kohlenbehälter im Innern ähnlich war. Noch ein anderes Getränk, das Mulsum genannt, das viel zum Frühstück getrunken wurde, bereitete er aus Honig, Most und Gewürzen.
So konnte der Römer seine Tafel reich besetzen, und wenn auch manches, was berichtet wird, an der Feinheit seines Geschmackes Zweifel erregt, so macht ihm doch die Leistungsfähigkeit der Kochkunst alle Ehre. Schon zu Cäsars Zeit kamen bei einem priesterlichen Mahle, an welchem sechs Priester und sechs Priesterinnen teilnahmen, die folgenden Speisen ans die Tafel: zu der Vorkost, welche eigentlich nur den Appetit reizen sollte, gab es Meerigel, Austern, zwei Muschelarten; Drosseln auf Spargeln, gemästete Hennen, ein Auster-uud Muschelragout nebst schwarzen und weißen Maronen; dann folgten verschiedene Muscheln und Meertiere mit Feigenschnepfen, Rehschlegel, Wildschwein, Geflügel in einer Teigkruste mit Feigenschnepfen; zum dritten kam der Hauptgang mit Saueuter, Schweinskopf, Frikassee von Fischen, Frikassee von Saueuter, Enten von verschiedener Art und Zubereitung. Hasen, gebratenes Geflügel, eine Mehlspeise und pieentinische Brote. Dieser Speisezettel wurde später- weit überboten, namentlich auch in Bezug auf die Feinbäckerei, welche bei dem Nachtisch ebensowohl durch ideenreiche Erfindung, wie durch Formvollendung — der Zuckerbäcker wetteiferte mit dem Bildhauer — zu überraschen und zu glänzen hatte,
Wie für den Appetit uud den Geschmack, so sorgte der Römer bei seiner Tafel auch für die Augenweide. Kostbare Gesäße aus Gold, Silber, Glas oder edlem Gestein standen auf den Schenktischen; Kandelaber und Lampen von Silber oder Erz zeigten die zierlichste Arbeit; Speifetische und Lagerstätten aus edlem Holz, mit anderen Hölzern, mit Elsenbein oder Metall eingelegt, mit kostbarem Behang umzogen; weiche
Falke: Der Tafelluxus der Römer in der späteren Zeit. 215
Federpolster', seidene oder gestickte Überzüge, orientalische Decken: alles sollte vom Reichtum und Kunstsinn des Wirtes zeugen. Das Speise-
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Geräte der Römer in der Kaiserzeit.
zimmer selbst war gewählt nach seiner Lage, um je nach der Jahreszeit Wärme oder Kühle zu bieten. Es zeigte den reichsten Schmuck in
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Mosaik und Malereien, besonders gerne mit Gegenständen, die sich auf die Freuden der Tafel bezogen, wie Stillleben von Fischen, Geflügel, Früchten, Wildbret. Auch war es vor allen anderen Zimmern geräumig; ja, als es für den vornehmen Römer Sitte wurde, große Gastmähler zu geben, wuchs das Speisezimmer zu einem gewaltigen, mit vielen Säulen geschmückten Saale heran.
In seiner gewöhnlicheren und einfacheren Gestalt führte das Speisezimmer den Namen Triklininm, d. i. Dreilager, einen Namen, der in erster Bedeutung nur dem Speisetisch selber mit seinen Bänken und Lagern zukam. Der Speisetisch nämlich hatte regelmäßig in jener Zeit, als sich die formelle Speifefitte ausgebildet hatte, eine viereckige Gestalt. An drei Seiten standen Lagerbänke für die Gäste, die vierte blieb frei für die Diener, um die Speisen, die sie wohlgeordnet und künstlich geordnet aus einem Tragbrette hereinbrachten, von hier aus auf die Tafel zu setzen. Jede der drei Lagerstätten war für drei Personen eingerichtet, die mittlere hatte den Ehrenplatz. Neun Personen also bildeten ein volles Triklininm; gab es mehr Gäste, so wurden neue Triklinien, je nach der Anzahl, aufgeschlagen; eine gute Einrichtung, denn bei der Neunzahl ist ein allgemeines und um so lebhafteres Gespräch möglich; bei der großen Tafel wie heute ist jeder allein auf seinen Nachbar angewiesen.
Der Römer lag bei der Tafel schräg über das Lager mit einem Polster unter dem linken Arm, auch die Frauen, wenigstens schon seit der ersten Kaiserzeit. Der Römer, der nach und nach alle ©peifefitten den Griechen entlehnt hatte, ließ sich doch die eine, die Ausschließung der Frauen nicht gefallen. Vielmehr waren sie Würze und Anmut eines jeden Mahles, doch gab es leider auch solche unter ihnen, die in den Freuden der Tafel und namentlich des Weines mit den Männern wetteiferten. Nur die Kinder faßen unten an der Familientafel. Zu jedem Festmahl schmückten sich die Gaste um Haupt, auch um die Brust mit Kränzen von Epheu, von Rosen und Veilchen; andere Blumen liebte der Römer nicht zu diesem Zwecke, aber Rosen standen auf dem Blumenmarkte immer bereit das ganze Jahr hindurch.
Geistreiche Leute begnügten sich bei der Tafel gerne mit geistreichen Gesprächen und konnten namentlich die böse Zugabe einer lärmenden Musik nicht leiden. Aber da nicht alle zu solcher Unterhaltung Geist genug haben, wenn auch dem Römer wie dem Griechen Witz und Rede leicht von der Lippe stoffen, so war es allgemeine Sitte geworden, mancherlei Künste zum Vergnügen der Gäste heranzuziehen. Es wurde das Mahl mit Musik begleitet, Deklamatoren und Vorleser suchten Ohr und Geist zu feffelrt, braune, geschmeidige Andalusierinnen tanzten ihre üppigen Tänze, Taschenspieler und Seiltänzer zeigten ihre Kunststücke, Narren und Possenreißer mühten sich in schlechten Späßen und Witzen ab;
Falke: Der Tafelluxus der Römer tu der späteren Zeit. 217
Schauspieler traten in Komödien und Tragödien auf, Pantomimen führten oft sehr schlüpfrige Scenen vor, zumal wenn Frauen nicht anwesend waren. Es lag in all dieser Unterhaltung etwas Derbes und Gemachtes, das wie der Ersatz des eigenen Mangels an Unterhaltungsgabe aussieht. Das meiste fand aber auch erst statt, wenn die Speisen abgetragen waren und die Gäste sich dem Trinken, jenem Symposion, Hingaben, das ebenfalls ganz nach griechischer Weise mit einem Rex an der Spitze durchgeführt wurde.
Die Römer der Kaiserzeit aber mußten nach ihrer Art immer etwas Außergewöhnliches haben, und so kamen ihnen auch in den Angelegenheiten der Tafel und der Tafelfreuden ganz absonderliche Einfülle. Nero z. B. ließ sich in seinem Goldenen Hanse zum Speisen einen Kuppelsaal erbauen, der sich Tag und Nacht um seine Achse drehte, und Otho, Nero's Günstling und Zech genösse, ließ bei einem Gastmahl, welches er seinem kaiserlichen Herrn veranstaltete, plötzlich aus verschiedenen Teilen des Speisesaals Röhren von Gold und Silber hervortreten, welche den kostbarsten Dust in wohlriechenden Wässern ausstrahlten, die Gäste wie mit einem Regen übergössen und den Fußboden überschwemmten. Nero ahmte das nach, indem er in seinem Kuppelsaal die Decke sich öffnen ließ, um seine Gäste mit einem Blumenregen zu überschütten.
Ein Gastmahl Neros ist es vermutlich auch, welches Petronius unter dem erfundenen Namen eines Trimalchio beschreibt. Dieser Schlemmer machte seinen Gästen lauter ungewöhnliche und überraschende Dinge vor, wie sie gewiß damals vorkamen und sich des Beifalls erfreuten. Als die Gäste sich gelagert hatten, kamen junge ägyptische Sklaven, ihnen Hände und Füße mit Schneewasfer zu waschen. Zwei andere Sklaven setzten zur Vorkost ein mit Schildkrot belegtes Plateau auf den Tifch, in dessen Mitte ein eherner Esel stand. Der Esel hatte zu seinen Seiten zwei silberne, mit weißen und schwarzen Oliven gefüllte Körbchen hängen; auf seinem Rücken saß ein Silen, welcher aus einem Schlauche die beliebte Sauce, das Garum, ergoß. Daneben lagen seine Würste auf silbernem Rost, Pflaumen mit roten Granatkernen stellten die Kohlen vor, sie warm zu halten. Ringsum gab es noch allerlei Gemüse, Schnecken und Austern, und was sonst die Borkost verlangte. Wie die Gäste schon zugegriffen hatten je nach Gefallen, kam noch ein neuer kleiner Aufsatz und wurde auf eine leere Stelle des ersteren gesetzt; es war eine Henne ans Holz geschnitzt mit ausgebreiteten Flügeln, wie auf Eiern brütend. Es waren auch Eier darunter, Pfaueneier, welche an die Gäste, zugleich mit silbernen Löffeln, ausgeteilt wurden. Aber die Eier waren nur künstlich, und als sie geöffnet waren, lag fchon ein Hühnchen darin, und das'Hühnchen war eine fette Feigendroffel.
Während man dieses Gustatorium entfernte, kam hundertjähriger
218 Altertum.
Wein, der mit höchster Sorgfalt behandelt wurde, und dann wurde ein neues Repositorium gebracht, welches den ersten Gang des eigentlichen Mahles darstellte. Neue Überraschung. Zur Enttäuschung der Gäste standen darauf die ordinärsten Gerichte, aber alsbald wurden sie mit dem Deckel abgehoben, und darunter lachten nun Tauben und Krammetsvögel, Kapaunen unb Enten, prächtige Barben und Rhomben den Feinschmeckern entgegen; die Mitte nahm ein fetter Hase ein, der mit Federn — auch eine Idee! — künstlich zu einem Pegasus umgeschaffen worden. Nun trat ber Scissor, ber Zerleger, vor bie Tafel unb zerschnitt alles mit anmutigen Bewegungen nach betn Takte ber Musik gewaubt unb schnell.
Den zweiten Gang bilbete ein Eber, ber an seinen Hauern zwei mit Datteln gefüllte Körbchen aus Palmenzweigen trug. Ihm zu Seite lagen acht Ferkelcheu, bie vom Bäcker ans süßem Teige sehr natürlich gebilbet waren. Jeber ber Gäste — so war es bie Sitte — sollte eines bavon mit nach Hause nehmen. Zu neuer Verwuuberuug folgte bem wilben Schwein ein zahmes, bas nicht einmal ausgeweitet schien. Der Koch würbe gerufen unb mußte sich über biese Vergeßlichkeit weiblich auszanken lassen; als er es mit einem gewaltigen Schnitt ben Bauch entlang öffnete, stürzten eine Menge ber leckersten Würste hervor. Währenb bas Schwein entfernt unb ber Nachtisch erwartet würbe, öffnete sich ber Plasonb über ben Gästen, unb es senkte sich ein silberner Reisen herab mit Salbenfläschchen aus Silber unb Alabaster, mit silbernen Kränzen unb anberen zierlichen Dingen, welche bie Gäste ebenfalls zur Erinnerung mit nach Hause nahmen. Auch ber Nachtisch Verbiente unb erwarb sich bie Be-wunberung. Die Gebäcke erschienen in ber Gestalt von Muscheln unb Krammetsvogeln, Quitten mit Manbeln gespickt stellten Meerigel vor. In ber Mitte staub ein wohlgeformter Vertumnus mit allerlei Früchten in seinem Schoße. Als aber bie Gäste nach ben Äpfeln unb Trauben griffen, spritzte ihnen bei jeber Berührung ein Strahl von Sasraneffenz entgegen.
Ein Vergnügen anberer Art schaffte sich einmal Domitian mit feinen Gästen. Es war zur Zeit, ba er als boshafter Tyrann schon Furcht unb Entsetzen um sich verbreitete. Den Abenb vorher hatte er bem Volke ein großartiges Mahl gegeben. Für ben folgenben Tag lub er bie ersten ber Senatoren unb Ritter, bie Vornehmsten unb Reichsten von Rom zu sich ein in später Stunbe. Sie kamen bei Nacht unb fanbert ben Festsaal schwarz verhängt. Wänbe, Decken, Fußboben, Lagerstätte ohne Kiffen, alles schwarz. Bei jedem Platze stand das memento mori, eine kleine Grabessäule mit dem Namen des Gastes und einer Lampe, wie sie bei Leichenbegängnissen üblich war. Junge Sklaven, nackt und schwarz angestrichen, traten ein wie Gespenster, tanzten schaurige Tänze und setzten sich dann zur Bedienung zu den Füßen der Gäste, denen man in schwarzen
Falke: Der Tafelluxus der Römer in der späteren Zeit. 219
Gefäßen Speisen anbot, wie sie bei dem Totenmahl üblich waren. Tiefes Schweigen herrschte wie bei den Toten; von Zeit zu Zeit erhob sich nur die Stimme Domitians und redete von Tod und Todesurteilen. Endlich gehen die Gäste, aber im Vestibül finden sie ihre Sklaven nicht mehr. Unbekannte Diener lassen sie in Sänften einsteigen und führen sie in ihre Wohnung zurück. Kaum sangen sie an, sich von ihrem Schrecken zu erholen, als man ihnen eine Botschaft vom Kaiser ankündigt. Diesmal ist es nur eine graziöse Aufmerksamkeit des Herrschers. Zur Erinnerung an dieses liebenswürdige Fest schickt er einem jeden die silberne Trauersäule, welche seinen Namen trägt, irgend ein Stück von dem Trauergeschirr und einen jener jungen Dämonen, welche sie bedient hatten, gereinigt, schön geschmückt und lächelnd.
Nur ein Teufel wie Domitian konnte sich diesen diabolischen Scherz erlauben.
Inhaltsverzeichnis.
I. Das Königtum der Ägypter. (Mit 2 Illustrationen im Text) ... 1
II. Handel und Wandel der Ägypter................................................ 6
III. Die Pyramiden. (Mit 3 Illustrationen im Tsxt).................................io
IV. Das Handelsvolk der Phönizier. (Mit 1 Illustration im Text). . . 16 V. Die Kultur der Assyrier und Babylonier. (Mit 1 Illustration im Text
und 1 Vollbild)....................................................................25
VI. Die welthistorische Bedeutung des griechischen Volkes. (Mit 1 Illustration im Text)..............................................................................
VII. Das Homerische Zeitalter. (Mit 4 Illustrationen im Text) .... 41
VIII. Das olympische Fest. (Mit 1 Vollbild)..........................................52
IX. Die Schlacht bei Marathon. (Mit 2 Illustrationen im Text) . . . * 62 X. Themistokles nnd Pausanias. (Mit 1 Vollbild und 1 Illustration im Text) 70
XI. Perikles' Bedeutung. (Mit 1 Illustration im Text)................................. 79
XII. Die Akropolis von Athen zur Zeit des Perikles. (Mit 2 Vollbildern
und 1 Illustration)................................................................84
XIII. Epaminondas und Pelopidas...........................................................93
XIV. Alexander der Große. (Mit 1 Vollbild und 1 Illustration im Text) . 98'
XV. Griechische Jugenderziehung. (Mit 2 Illustrationen im Text) ... 106
XVI. Die äußere Entwickelung des römischen Reiches. (Mit 1 Illustration
im Text).............................................................................
XVII. Wert und geschichtlicher Gehalt der römischen Königsgeschichte. (Mit 1
Illustration im Text).............................................................121
XXIII. Die Lage der Plebejer nach dem Sturze des Königtums.............................127
XIX. Die Kämpfe der Plebs mit den Patriziern.........................................132
XX. Charakter des Lebens in der römischen Heldenzeit. (Mit 1 Vollbild) . 136 XXI. Die Seeschlacht bei Mylä. (Mit 3 Illustrationen im Text) .... 144 XXII. Hamilkar, Hasdrubal, Hannibal in Spanien. (Mit 2 Illustrationen im Text) 148
XXIII. Der Untergang Karthagos. (Mit 1 Illustration im Text) . ... 157
XXIV. Die innere Eutwickeluug des römischen Staates seit dem Ausgange
des Ständekampfes. (Mit 1 Illustration im Text)...................................167
XXV. Die Schlacht bei Pharsalus und der Tod des Pompejus. (Mit 1 Illustration im Text).............................................................................174
XX\ I. Gajus Julius Cäsar. (Mit 1 Illustration im Text)....................................180
XXVII. Marcus Tullius Cicero. (Mit 1 Illustration im Text)...................................186
XXA III. DieVerhältnisfe des römischen Reiches unter Augustus. (Mit 1 Illustration
im Text)..........................................'...............................190
XXIX. Der Ausbruch des Vesuv am 24. August des Jahres 79 n. Chr. . . 196
XXX. Die Schauspiele zur Kaiserzeit........................................................198
1. Cirkus spiele. (Mit 1 Vollbild)..............................................199
2. Das Amphitheater. (Mit 1 Illustration im Text)...............................204
XXXI. Der Tafelluxus der Römer in der späteren Zeit. (Mit 1 Illustration
im Text)..........................................................................212