B. Zur Länderkunde. 6. Das norddeutsche Tiefland. Von Friedrich Ratzel. („Deutschland", 2. Aufl., Leipzig 1907, Fr. Wilh. Grunow.) Indem die deutschen Mittelgebirge von den Karpaten bis znm Teutoburger Walde uordwestwärts hinausziehen, bleibt ein Raum zwischen ihnen nnd dem Meere frei, der im Osten breit ist und sich im Westen am Ärmelkanal auskeilt: das nord¬ deutsche Tiefland. Das ist ein Teil des vom Jenissei bis zur Nordsee gleichartigen asiatisch-enropäischen Tieflandes: weites Land, weiter Horizont, über weite Strecken armer Boden. Es ist als Tiefland meerverwandt nach Lage wie Geschichte: überall sinkt es langsam zum Meeresspiegel hinab, uud die Einflüsse des Meeres machen sich bis in die letzten Tieflandbuchten am Gebirgsrand geltend. An den freien Horizont des Meeres erinnert das Tiefland, wo es am ebensten ist uud die Wolkenberge, der Feuerball der uutergeheuden Sonne und die unerschöpflichen Feinheiten der Luft¬ perspektive die hervorragendsten Züge der Landschaft sind. Aber es ist doch keine einförmig schiefe Ebene. Flach liegt es vor dem Gebirge, langsam taucht es in die Nordsee, aber der Ostsee legt es sich in unabsehbaren Hügelwellen gegenüber, und seine Ströme dämmt es mit 100 Meter hohen Steilufern eiu. Weuu es auch Tief- laud ist, birgt es uoch so viel Höhen- und Formunterschiede, daß es weder Flachland noch Tiefebene genannt werden sollte. Wenn der Kreuzberg bei Berlin, der nur 25 Meter hoch ist, seine Umgebung schon merklich überragt, so ist der Turmberg bei Danzig mit 330 Metern eine bedeutende Erhebung. Man muß die Bäche an seinen walddunkeln Flanken herabbrausen sehen und hören, um zu verstehn, daß die Tief- landbewohner in diesen Höhen schon etwas Gebirgshastes sehen. Ist doch dieser Berg die höchste Erhebung überhaupt zwischen der Nordsee und dem Ural! Gerade die Natur dieses Tieflands läßt sich nicht aus den gewöhnlichen Karten erkennen, die solchen Höhenunterschieden mit ein Paar dünnen Gebirgsranpen oder im besten Fall mit einem Farbenton gerecht werden wollen. Ten Eindruck der zwischen Kulm uud Marienwerder 100 bis 150 Meter hohe Hügelufer durchbrechenden Weichsel oder der Tauseude in den tiefen Trichtersenkungen der in von großen und kleinen Seebecken gleichsam durchlöcherten baltischen Höhenrücken liegenden Waldseen gibt keine Karte wieder. Die Höhenunterschiede des Tieflands sind nur am Menschen selbst zu messen. Außerdem gehört aber die massige Breite des Hingelagertseins zu ihrem Wesen, samt den ebenso breiten uud zahlreichen Wasserflächen. Wo die Höhenunterschiede zusammeuschwiuden, bleiben doch die Verschiedenheiten in der Art und Lagerung der Gesteine übrig, die sich von einer dichten „Steinpackung" erratischer Granitblöcke bis zum Flugsand und der weichen schwarzen Marscherde abstufen mit einer Fülle von Wirkungen auf Pflanzendecke, menschliche Daseinsformen und Landschaft. Daß sich aber über Wald und Meer, Moor und Heide überall ein hoher Himmel wölbt, und daß, je niedriger das Land, desto höher der Himmel ist, desto mehr Licht, Blau und mächtigere, freiere Wolkengebilde im Gesichtskreis sind, darf man am wenigsten vergessen, wenn man die deutschen Tieflandschaften würdigen will.