86 B. Zur Länderkunde. 10. Die Fjorde, Strandebenen und Inseln Norwegens. Von Sophus Rüge. („Norwegen", Bielefeld und Leipzig 1899, Velhagen & Klasing.) Der Steilabfall der Hochlande nach dem Ozean zu ist furchtbar zerklüftet, wie wir es an keiner anderen Küste wiederfinden. Und auch der felsige Festlaudssaum ist noch umlagert von zahllosen hohen uud uiedrigeu Felsinseln, wie sie in der Art an keiner europäischen Küste wiederkehren. Hier liegen die besonders augenfälligen Landfchaftsformen Norwegens, die dem Beschauer immer neuen Reiz gewähren. Beide, Fjorde und Inseln, verdienen eine eingehende Betrachtung. Güßseldt charakterisiert die Fjorde mit den Worten: „Fjord ist ein Mittelding zwischen Fluß, Alpensee uud Meeresbucht. Vom Fluß haben sie die Längenaus- dehnung, gewundeneu Lauf und Nebenarme." Wir wollen hier einschalten, daß z. B. der Sognesjord so lang wie die Ems oder wie die Themse ist. „Vom Alpensee haben die Fjorde den Landschaftscharakter, Blicke auf Schnee und Gletscher, vou der Meeres- bucht das Salzwasser, die Ebbe uud Flut." An der See erheben sich meistens nur nackte, kahle Felsen, an denen das Meer brandet; im Inneren der Fjorde wird die Luft immer milder, frischgrüne Wiesen und Wald schmücken die sanfteren Gehänge. Aber wenn man vom Fjelde her sich einem Fjorde nähert, sieht man wohl den blauen Wasserspiegel in der Tiefe wie einen Alpensee; allein einen Ausblick aufs offene Meer gewinnt man nicht, denn es liegt zu fern, und die Ausgänge der Fjvrde sind von unzähligen Inseln besetzt. Die Frage nach der Entstehung der Fjorde ist vielfach erörtert. Ein Vergleich mit ähnlich zersprengten Küsten hat gezeigt, daß die Fjorde fast nur an Längsküsten vorkommen, das heißt an solchen Küsten, an denen Gebirge entlang ziehen, im Gegen- satz zu solchen Küsten, an denen Gebirgsketten nur iu Vorgebirgen auslaufen und Täler oder Ebenen zwischen sich frei lassen. Solche Längsküsten finden sich zwar iu alleu Erdteilen und in allen Zonen, aber Fjordbildungen gibt es nur au der West- küste Grönlands, an den nördlichsten und an den südlichsten Strichen der Westseite Amerikas und an der Westseite der südlichen Insel von Neuseeland. Man könnte auch noch die Westseite Großbritanniens dazu rechueu. Man findet demnach die Fjorde nur in dem kühleren Teil der gemäßigten Zone, nie in dem heißen Erdgürtel, uud ferner stets auf der Westseite. Die Westseite ist aber iu allen genannten Gegenden die Regenseite. Man weiß aber auch, daß die Fjord- küsteu ehemals vergletschert waren. Auch sind diese schmalen Meeresarme stets in sehr hartes Gestein eingeschnitten. Also werden die fließenden Gewässer und die Gletscher an der Aushöhlung der steilwandigen Täler mitgearbeitet haben. Aber da man nur die inneren Teile großer Fjorde als reine Erosionstäler ansehen kann, so müssen auch noch andere Ursachen für die Entstehung dieser merkwürdigen Tal- bildnngen gesucht werdeu. Die größeren Täler sind schon im Aufbau des Gebirges, also tektonifch, vorgezeichnet oder durch einen Wechsel der Gesteine oder durch Risse uud Spaltungen bediugt. Hier sammelten sich die Wasseradern zu Flüssen und schufen die Flußtäler schon vor der Eiszeit oder zwischen den Eiszeiten. Aber in den Eiszeiten wurden durch die stärkere Gewalt der Eisströme die Täler noch be- deutend vertieft und erhielten im Querschnitt ein Profil, das dem II gleicht, während das Profil der Alpentäler dem V ähnelt. So sind die Fjorde, bei denen auch noch eine Senkung der ganzen Gesteinsmasse angenommen werden muß, um den unteren