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Erdkundliches Lesebuch
für die Oberstufe
höherer Lehranstalten und Seminare
herausgegeben von
Oberlehrer O. Lerche
an der Cecittenschule zu Wilmersdors-Berlin
Ceorg-Eckert-tastitut
(8r iskrnstionale Schulbuchfcrschunf
Brs^ftschwetg
Ferdinand Hirt % - eid!iow«tc -
Äottiglichc llniversitäts- und Verlagsbuchhandlung
Breslau, König^platz 1, 1911
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Vorwort.
Zu den wichtigsten Neuerungen, die die letzten Bestimmungen für höhere
Lehranstalten und Seminare brachten, gehört die Forderung einer Einführung
der Schüler in die gemeinverständliche wissenschaftliche Literatur.
Das gilt auch für den Erdkuudeunterricht. Vielfach find aber gerade für diefes
Lehrfach unsere Lehrer- und Schülerbibliotheken nicht umfangreich genug,
dem Lehrer interessante, bildende Stoffe in einiger Abwechselung zur Klasseu-
lektüre zu bieten, und selbst wo das der Fall ist, stellt sich immer die zweite
Schwierigkeit ein, daß nur ein Exemplar zur Lektüre für die ganze Klaffe
vorhanden ist. Darin liegt aber zweifellos ein großer Mangel. Beim Mitlefen
ist eine Konzentration der Gedanken viel eher erreichbar und die Gefahr des
Abschweifens nicht so groß. Ohne Buch wird dem Gedächtnis der Schüler
jede Stütze entzogen; wertvolle Aufsätze gehen nach flüchtigem Anhören verloren.
In wirklich nutzbringender Weise läßt sich diese Forderung der neueu Be-
stimmungen durch die Herausgabe eines geographischen Lesebuches erfüllen.
Um dem Lehrer die Einführung der Schüler in die Lektüre wissenschaftlicher
Werke zu erleichtern, hat Herausgeber den ausgewählten Lesestücken eine Ein-
leitung vorangeschickt. Nach einer kurzen Erörterung über das Wesen und die
Aufgabe der Geographie gibt er den Schülern einen literarischen Wegweiser in die
Hand, der, ohue Anspruch auf Vollständigkeit zu machen, über gute geographische
Bücher orientiert. Der einleitende Aufsatz verfolgt noch einen anderen Zweck: Die
geographische Lektüre ist den letzten Schuljahren vorbehalten. Bald treten die jungen
Menschen ins Leben hinaus, und die Gefahr liegt fehr nahe, daß unsere lese-
freudige Jugend an seichter, wertloser Lektüre ihren Geschmack verbildet und einer
oberflächlichen Halbbildung, wie sie in unserer Zeit leider so häufig sich zeigt,
in die Arme getrieben wird. Gerade unsere geographische Wissenschaft bietet so
viel des Guten uud Schönen. Darum der warme Appell am Schluß der Ein-
leitung und der Hinweis auf den Bildungswert der Geographie!
An die Einleitung schließen sich Stichproben aus wissenschaftlichen geogra-
phifchen Werken. Sie sind in erster Linie aus der Länderkunde gewählt,
da diese durchaus im Mittelpunkt des Geographieunterrichts stehen soll. Um
diese länderkundliche Betrachtung wirklich zu einer vertiefenden zu machen,
find die Abschnitte nicht zu kurz gewählt. Es sind aus demselben Grunde
auch vielfach Reifebeschreibungen, Schilderungen von Augenzeugen, geboten
worden, die rascher und oft instruktiver in das Wesen der geographischen Einzel-
landschast einzuführen vermögen als gründliche Handbücher. Damit nun der
eigentliche Zweck der Bestimmungen, das Interesse der Schüler zu erregen, er-
füllt werde, haben die besten wissenschaftlichen Werke nach Inhalt uud Form
sehr gesichtet werden müssen. Die Stoffe mußten inhaltlich dem Verständnis
der Schüler angemessen gewählt werden; sie mußten überall interessieren, der
Stil nicht zu lehrhaft und trocken, die Darstellung frisch und lebendig, die Aus-
wähl möglichst abwechselungsreich sein. Demnach ist unter besonderer Berück-
sichtigung Deutschlands und seiner Kolonien auch der Behandlung aller
anderen Erdteile Rechnung getragen, und nicht nur die Länderkunde, sondern
auch die fünf Hauptdisziplinen der allgemeinen Erdkunde sind durch einige
1*
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Inhaltsübersicht,
Aufsätze meist bekannter Antoren berücksichtigt worden. Sie sollen in Verbindung
mit den länderkundlichen Abschnitten ein deutliches Bild von dem außerordent-
lichen Umfang der geographischen Wissenschaft geben.
Ein großer Teil der vorliegenden Musterdarstelluugen ist vom Herausgeber
in zwei Jahreskursen erprobt worden, andere Aufsätze werden zum ersten
Male dargeboten. Sollte sich das eine oder das andere dieser Lesestücke nicht
bewähren, so nimmt Unterzeichneter jeden Vorschlag etwaiger Änderung dankbar an.
An einigen wenigen Stellen mußten kurze Erläuterungen als Fußnoten
gegeben werden. Sie siud durch ein eingeklammertes H [H], als vom Heraus-
geber geboten, gekennzeichnet.
Den Herren Autoren, die in liebenswürdiger Bereitwilligkeit notwendigen
Kürzungen zugestimmt oder selbst wüufcheuswerte Äuderuugeu vorgenommen
haben, spreche ich hiermit meinen wärmsten Dank aus.
Wilmersdorf, Mai 1911.
O. Lerche.
Inhaltsübersicht.
Seite
Einleitung..............................................................5
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
1. Die Stellung der Erde im Weltall...................13
2. Über Bergformen..........................23
3. Das tropische Klima.........................28
4. Das Meer im Leben der Völker . ..................39
5. Der Mensch als Schöpfer der Kulturlandschaft..............45
B. Zur Länderkunde.
6. Das norddeutsche Tiefland......................54
7. Berlin...............................61
8. Die Grafschaft Glatz.........................64
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge............69
10. Die Fjorde, Strandebenen und Inseln Norwegens............86
11. Italien, eine länderkundliche Skizze...................90
12. Über den Kamm des Kara-korum. — Die Entdeckung der Jndusquelle . . . 105
13. Die Weltlage des Kiautschougebietes............
14. Upolu.........................
15. Zum Gipfel des Kibo..................
16. Ruanda........................
17. Die physikalischen Grundbedingungen südwestafrikanischen Lebens
18. Das Leben einer Buschmannfamilie.............
19. Die Bevölkerung Kameruns ...............
20. Gesamtbild der Wirtschaft der Union und ihrer Hauptteile • .
21. Chile.........................
22. Auf dem antarktischen Inlandeis..............
Einleitung.
Die Berliner Universität hat vor kurzem ihr hundertjähriges Jubiläum gefeiert.
Ein Markstein in der Entwicklung unseres größten Wissensinstituts war erreicht, —
da richtete sich der Blick des gebildeten Deutschen rückwärts iu die Vergangenheit,
und Chroniken verkündeten der heutigen Generation, welch eine Reihe großer und
würdiger Vertreter der Wissenschast während eines Jahrhunderts die Lehrstühle der
Universität innegehabt, die Jugend begeistert, das Wissen gefördert hat. Da ist
es von besonderem Interesse zu hören, daß die Berliner Universität die erste
unter den deutschen Hochschulen war, die — bereits im Gründungsjahr — der
geographischen Wissenschast eine bleibende Stätte bot: der erste akademische
Lehrstuhl für Geographie wurde begründet. Das ist um so bemerkenswerter, als
damals eine wissenschaftliche Geographie in nnserm Sinne noch gar nicht vor-
Händen war. Wohl wurde bereits Erdkunde getrieben, und zwar in der be-
kannten Dreiteilung: mathematische, politische und physische Geographie; die
drei Disziplinen bestanden aber streng gesondert nebeneinander. Für sich allein
konnte sich keine von ihnen einen einflußreichen Platz unter den Wissenschaften
erwerben. Darum lehnte sich die mathematische Geographie an die Astronomie
an, die politische Geographie wurde eine Dienerin der Geschichte, und die phy-
sische Erdkunde führte ein bloßes Scheindasein; den Naturwissenschaften stand sie
zunächst ziemlich fremd gegenüber, obwohl diese insolge der Entdeckungen eines
Newton, der Forschungen eines Linne ihr längst schon die Hand entgegengestreckt
hatte zu gemeiusamem Vorwärtsschreiten. Der erste, der eine Annäherung an die
Naturwissenschaften herbeiführte, war Alexander v. Humboldt. Ausgehend von
seinen Studien über die Verbreitung der Pslauzeu, erkannte Humboldt die absolute
Abhängigkeit der Pflanze vom heimatlichen Standort und kam durch gründliche
Untersuchung und durch Vergleich zur Idee der Einheit des belebten Erd-
ganzen. Er verlieh damit dem toten Formelwesen der Geographie den ersten
Funken von Leben und regte die Geister an, die großen Richtlinien dieser neuen Ge-
danken nun zu verfolgen und auszufüllen. Zu demselben Resultat kam auf anderem
Wege Humboldts Zeitgenosse, der eigentliche Schöpser der modernen Erdkunde, Karl
Ritter. Er ging vom Studium des Menscheu aus, untersuchte seine Beziehung
zum Boden, und fand durch Vergleich auch hier allerorts eine ursächliche Verknüpfung
von Land und Leuten, eine Abhängigkeit des Menschen von der Scholle in solchem
Grade, daß er die Erde als das Erziehungshaus des Menschen bezeichnete. Daß
diese Ideen zu einem stattlichen Gebäude emporwuchsen, dafür sorgte der dritte
große Klassiker der Erdkunde im 19. Jahrhundert, Oskar Peschel. Seitdem hat
die Erdkunde als selbständige Wissenschaft an unseren Universitäten festen Fuß gefaßt
und gewinnt mehr und mehr an Bedeutung.
6
Einleitung.
Wesen und Einteilung der Geographie. Das eigentliche Gebiet der Geo-
graphie ist die Erdoberfläche mit all ihren mannigfachen, wechselnden Formen, in
ihrer ursächlichen Verknüpfung mit ihren Bewohnern. Ihrem innersten Wesen
nach ist die geographische Wissenschaft Länderkunde, d. h. sie hat es mit be-
greuzteu Erdräumen zu tun, sei es mit einem oder mehreren Erdteilen oder auch nur
mit kleineren Landschaften.
Will man die Wechselbeziehungen zwischen der Erde und ihrem Leben überall
klarlegen, so ist eine genaue Kenntnis der einzelnen Faktoren notwendig, eine Kenntnis
der Atmosphäre, eine Untersuchung über die Zusammensetzung der Erdkruste und
ihren inneren Kern usw. Diese Kenntnisse werden durch die allgemeine Erd-
künde vermittelt. Als notwendige Voraussetzung für die Länderkunde bildet sie
einen Hauptteil der Geographie. Man teilt daher die geographische Wissenschaft
in zwei Hauptgebiete ein: a) die allgemeine Erdkunde, b) die spezielle Erdkunde
oder Länderkunde.
Gemäß den verschiedenen Fragen, die die allgemeine Erdkunde zu beaut-
Worten hat, zerfällt sie in eine große Zahl von Einzeldisziplinen, die im Laufe der
Zeit zu selbständigen Wissenschaften emporgeblüht sind. Die wichtigsten unter ihnen
sind:
1. Die mathematische Geographie. Sie hat es mit der Gestalt uud Größe
der Erde zu tun, mit ihrer Bewegung im Weltenraum und ihrer Beziehung zu den
übrigen Gestirnen. Viele Probleme der mathematischen Geographie lassen sich ohne
die Astronomie oder Sternenkunde nicht lösen. Diese betrachtet die Millionen
von Gestirnen, unter denen die Erde nur ein winziges Weltstäubcheu ist.
2. Vom Himmel schreiten wir zur Erde. Unser Planet ist von einer Lufthülle
umgeben. Ihre Temperatur, ihr Feuchtigkeitsgehalt, ihre Bewegung usw. sind
für die Erde uud ihre Bewohner von größtem Einfluß. Die Wissenschaft, die sich mit
den Beziehungen der Atmosphäre zur Erde und ihrem Leben beschäftigt, ist die
Klimakunde oder Klimatologie. Als Voraussetzung bedarf sie der Meteoro-
logie, d. h. der Wissenschaft von der Physik der Lust.
3. Nachdem die Schiffahrt im 19. Jahrhundert einen so ungewöhnlich großen
Aufschwung genommen hat, ist das Interesse an den Tiefenverhältnissen der Ozeane,
an ihren Bewegungen, Gezeiten, Meeresströmungen in besonderem Maße erwacht. So
ist die Ozeanographie oder Meereskunde als besondere Wissenschaft entstanden.
4. Doch noch tiefer als auf den Grund des Meeres sucht der grübelnde Verstand
des Menschen einzudringen. Unserem Erdball wohnen die mannigfachsten Kräfte
inne (z. B. Erdmagnetismus). Eine gewaltige Kugel, von einer starren Kruste
umgeben, so schwebt er im Weltenraum. Was birgt er in seinem Innern? Ist's
eine gewaltige lodernde Fenerseele oder ein starrer Eisenleib? Diese Fragen sucht
die Geophysik zu beantworten.
5. Bisher ist es dem Menschen nur vergönnt gewesen, von einem geringen Bruch-
teil der Erdkruste Kenntnis zu nehmen. Er erkannte, daß die Erde aus den verschie-
densten Gesteinen zusammengesetzt ist. Er schloß aus ihrer Lagerung und Struktur
auf die Art ihrer Entstehung, ans ihren mannigfachen Einschlüssen und den Ab-
drücken fremdartiger Tiere und Pflanzen auf das Alter der einzelnen Gesteins-
schichten. Alle diese Probleme erörtert die Geologie oder Erdgeschichte.
6. Mit ihr untrennbar verbunden ist die Morphologie oder Gestaltnngs-
lehre. Sie zeichnet uns das Antlitz der Erde, wie wir es heute schauen, und wie es
sich in ewigem Wechsel dauernd umgestaltet.
Einleitung.
7
7. Wie die Lebensschicksale und der Einfluß der Außenwelt dem Charakter eines
jeden Menschen ein eigenartiges Gepräge geben, so zeigen auch die einzelnen Erd-
räume unter der verschiedenen Einwirkung von Luft und Wasser die denkbar größte
Mannigfaltigkeit. Diese Verschiedenartigkeit des Bodens bedingt wiederum eine
verschiedene Verteilung von Pflanze und Tier. Sie zu erkennen und zu begreifen
ist Aufgabe der Pflanzen- und Tiergeographie.
8. Wichtiger noch ist die Kenntnis von den Beziehungen des Menschen zur
Mutter Erde. In seiner körperlichen und geistigen Eigenart selbst ein Produkt seiner
Heimat, wird der Mensch wiederum krast seiner Intelligenz und kulturellen Höhe zum
Schöpfer der Kulturlandschaft. Die Anthropogeographie gibt uns von diesen
Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Erde Kunde. Die Aufgaben, die diese
Wissenschaft zu lösen hat, sind so mannigfacher Art, daß eine Reihe von Seiten-
difziplinen zu Gevatter gebeten werden mußten, so die Ethnologie oder Völker-
künde, die Staatenkunde, die Wirtschafts- und Handelsgeographie.
Literarischer Wegweiser. Die großen Entdeckungen, die während der letzten
Dezennien in fernen Erdräumen gemacht worden waren, brachten eine Menge neuen
Beobachtungsstoffes. Der internationale Güteraustausch verschaffte unserem Lande
in steigendem Maße intime Beziehungen zu fremden Kulturelementen. Seitdem
ist das Interesse für geographische Probleme in die breitesten Volksschichten ge-
drungen, und zahlreiche populäre Werke suchen neuen geographischen Wissens- und
Bildungsstosf dem Volke zu vermitteln. Freilich ist es für den Laien nicht leicht,
aus der fast unübersehbaren Fülle der Werke die geeignete Wahl zu treffen. Ein
kurzer Wegweiser soll darum auf gute uud nutzbringende Literaturwerke aus allen
Gebieten der geographischen Wissenschaft hinweisen:
A. Über Fragen allgemein erdkundlicher Natur orientieren wohl Hand-
bücher am bequemsten. Unter ihnen nimmt „H. Wagners Lehrbuch der Geographie"
die erste Stelle ein. Einen vortrefflichen größeren Ausschnitt aus der allgemeinen
Geographie bieten „A. Supans Grundzüge der physischen Erdkunde". Wer all-
gemeine Erdkunde und Länderkunde gemeinsam einsehen will, greife zu „v. Seydlitz,
Handbuch der Geographie", oder zu dem etwas ausführlicheren „Geogr. Handbuch
vou Scobel". Kompendien dieser Art werden aber vielfach auf eingehendere
Fragen nicht befriedigende Antworten geben; darum mögen hier noch einige spezielle
Darstellungen genannt werden: „A. Penck, Beobachtung als Grundlage der
Geographie"; „W. Trabert, Meteorologie" (G.-S.)*; „W. Köppen, Klimakunde"
(G.-S.); „O. Krümmel, Der Ozean"; „I. Walther, Geschichte der Erde und des
Lebens"; „Fr. Frech, Aus der Vorzeit der Erde" (N. u. G.); „W. von Knebel,
Der Vulkanismus"; „F. Machacek, Gletscherkunde" (G.-S.); „F. von Nicht-
Hofen, Vorlesungen über allgemeine Siedlungs- und Verkehrsgeographie";
„A.Kirchhof, Mensch und Erde" (N. u. G.); „K. Hassert, Die Städte" (N. u.G.);
„G. Buschan, Illustrierte Völkerkunde". —
B. Die länderkundliche Literatur ist in der letzten Zeit ungeheuer angewachsen.
Es kann daher hier nur eine ganz beschränkte Zahl mustergültiger Werke Berücksichtigung
1 Wiederholt werden in diesem Zusammenhang einzelne Bändchen aus den beiden
bekannten Sammlungen wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen „Aus Natur
und Geisteswelt" (abgekürzt N. u. G.) und Sammlung Göschen (abgekürzt G.-S.) zitiert.
Sie haben tüchtige Männer der Wissenschaft als Bearbeiter, sind vorzüglich ausgestattet
und haben außerdem den Vorzug der Billigkeit.
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Einleitung.
finden. Ein treffliches Sammelwerk ist „W. Sievers, Allgemeine Länderkunde",
von der besonders die kleinere Ausgabe in 2 Bänden zu empfehlen ist. „F. W. Leh-
manns Länder- und Völkerkunde" verdient wegen ihrer klaren und leicht ver-
stündlichen Darstellung besonders gewürdigt zu werden. Von „A. Hettners Grund-
züge der Länderkunde" ist erst Bd. I. „Europa" erschienen. —
I. Europa: Das wichtigste Eiuzelwerk der letzten Jahre ist „I. Partsch, Mittel-
europa". Die souveräne Beherrschung des Stoffes, die absolute Zuverlässigkeit des
Tatsachenmaterials und die Schönheit der Sprache verleihen dem Werke bleibenden
Wert. Für das Studium unseres Vaterlandes ist das kleine Büchlein von „Ratzel,
Deutschland" aufs wärmste zu empfehlen, vielleicht das Beste und Abgeklärteste, was
dieser bekannte Geograph geschrieben hat. „Kutzen, Das deutsche Land" zeigt
immer wieder durch neue Auflagen, daß es lebensfähig ist und gern gelesen wird.
Für die Oberflächengestaltung der Norddeutschen Tiesebene ist die Eiszeit von großem
Einfluß gewesen. Der beste Kenner der norddeutschen Vereisung, F. Wahnschass e,
bringt die neuesten Ergebnisse der glazialen Forschung Norddeutschlands in knapper,
aber inhaltsreicher Darstellung: „Die Eiszeit in Norddeutschleud". Unter den Be-
arbeitungen einzelner Gebiete Deutschlands nimmt „Partsch, Schlesien" eine her-
vorragende Stellung ein. Daneben sei noch auf einige gute Monographien deutscher
Landschaften aus der reich illustrierten Sammlung „Land und Leute" hingewiesen:
„G. Wegen er, Deutsche Ostseeküste"; „H.Haas, DentscheNordseeküste"; „F. Lampe,
Berlin und die Mark Brandenburg"; „Fr. Günther, Der Harz"; „L. Neu-
mann, Der Schwarzwald"; „S. Rüge, Dresden und die sächsische Schweiz" n. a.
Auch die Sammlung Göschen weist gute Bearbeitungen einzelner deutschen Gebiete
auf. Für das übrige Europa sind vor allem empfehlenswert: „R. Sieger, Die
Alpen" (G.-S.); „I. C. Heer, Die Schweiz"; „A. Hettner, Das europäische
Rußland"; „R. Neuse, Landeskunde der britischen Inseln"; „Th. Fischer,
Mittelmeerbilder"; „A. Philipp so n, Das Mittelmeergebiet".
II. Asien: Dieser größte Erdteil nahm besonders in letzter Zeit das Interesse
weiter Kreise in Anspruch durch die abenteuerlichen, kühnen Fahrten des Schweden
Sven Hedin. Sein Ziel war die Erforschung Hochasiens, besonders Tibets und
seiner hohen Randgebirge. Was er dort erlebte und entdeckte, hat er in mehreren
lebendig geschriebenen Reisewerken niedergelegt. Zu nennen sind vor allem „Durch
Asiens Wüsten" und „Transhimalaya". Seine letzte Reise führte den schwedischen
Forscher auf dem Landwege über das Iranische Hochland nach Indien. Sein zwei-
bändiges Werk „Zu Land nach Indien" gibt uns ein anschauliches Bild von Persiens
Steppen und Wüsten. Für das westliche Vorderasien verdient P. Rohrbachs
Büchlein „Um Bagdad und Babylon" Berücksichtigung wegen der Beleuchtung, die
die deutsche Arbeit in dieser Schrift erfährt.
Südasien ist ein Gebiet unvergleichlicher Fruchtbarkeit, „sonnige Welten" sind
es, ein Dorado für Botaniker und Zoologen. Kein Wunder, daß sich unsere Ge-
lehrten immer wieder zu diesen paradiesischen Ländern hingezogen fühlen. Wer
diese traumhaft schöne indische Natur aus Büchern kennen lernen will, der lese
„E. Höckel, Aus Jusulinde", „E. u. L. Selenka, Sonnige Welten", „Sarasin,
Reisen in Celebes". Von Indien nach Ostasien führt uns des Zoologen F. Doflein
Reisewerk „Ostasienfahrt". Die reizvollen Landschastsschilderuugen, die interessanten
Ausführungen über die merkwürdige Fauna der ostasiatischen Meere und nicht zum
mindesten die lebendigen Schilderungen japanischen Lebens machen das Buch zu einer
anregenden, wertvollen Lektüre. Während das aufstrebende Japan bereits in die
Einleitung,
9
Reihe der Großmächte getreten ist, erwacht China erst langsam aus seinem Dorn-
röschenschlummer. Die grundlegende landeskundliche Darstellung dieses ostasiatischen
Reiches aus der Feder des Freiherrn von Richthofen wendet sich an wissen-
schaftliche Kreise. Für uns kommt sein Büchlein in Betracht „Kiautschou, die
Eingangspforte von Schantung". Allgemein verständlich ist „E. Thiessens China",
von dem bisher Bd. I erschienen ist.
III. Afrika: Afrika ist heute nicht mehr der dunkle Erdteil. In keinem Kon-
tinent hat deutsche Forschertätigkeit zur Entschleierung seiner Geheimnisse so viel
mitgewirkt wie hier. Die Reiseerlebnisse eines Barth, Nachtigal, Schwein-
surth, Wissmann und anderer werden für uns so bald nicht ihren Reiz verlieren.
Die Berichte dieser Männer geben uns uicht nur abenteuerliche Erlebnisse, sondern
entrollen wahrheitsgetreue Bilder der durchreisten Gebiete und ihrer Bevölkerung.
Afrika hat aber für uns noch ein besonderes Interesse, weil dieser Erdteil unsere
größten und zukunftsreichsten Kolonien birgt. Die beiden besten Gesamtdarstellungen
unserer Kolonien sind „Kurt Hassert, Deutschlands Kolonien", ein Werk aus
einem Guß, und „Hans Meyer, Das deutsche Kolonialreich", ein Kompendium,
an dessen Zusammenstellung die besten Kenner der einzelnen Kolonien beteiligt
sind. Für Deutsch-Ostafrika kommen etwa in Betracht: „O>. Baumann, Durch
Massailaud zur Nilquelle"; „F. Stuhlmann, Mit Emin Pascha ins Herz von
Afrika"; „H. Meyer, Ostafrikanische Gletscherfahrten" und „Der Kilimandjaro";
„Graf Götzen, Durch Afrika von Ost nach West"; „R. Kandt, Caput Nili, Eine
empfindsame Reise zu den Quellen des Nils"; „K. Weule, Negerleben in Ost-
afrika"; „Herzog Adolf Friedrich, Ins innerste Afrika". Für Deutsch-Süd-
westafrika: „Leutweiu, Elf Jahre Gouverneur in Deutsch-Südwestafrika";
„P. Rohrbach, Deutsch - Südwestafrika" (Deutsche Kolonialwirtschaft, Bd. I.);
K. Schwabe, „Im deutschen Diamantenlande". Für Kamerun: „S. Passarge,
Adanmua"; „Fr. Hutter, Wanderungen und Forschungen im Nord-Hinterland
von Kamerun"; „H. Dominik, Kamerun" und „Vom Atlantik zum Tsadsee".
Außerdem: „Karl Dove, Togo und Kamerun" (G.-S.).
Von größeren Teilen des Kontinents hat der Süden eine hervorragende Be-
arbeitung erfahren durch „S. Passarge, Südafrika", eine Landes-, Volks- und
Wirtschaftskunde. Die hochinteressanten Forschungen des Ethnographen L. Fro-
benius sind in dem prächtig geschriebenen Reisewerk „Im Schatten des Kongo-
staates" niedergelegt. Das kleine selbständige Sultanat Marokko, das die euro-
päischen Diplomaten so oft beschäftigt hat, ist in einer kurzen Monographie von
Kampsmeyer beschrieben worden.
IV. Amerika: Aus der Literatur über Nordamerika verdient das grund-
legende Werk von „Deckert, Nordamerika" besondere Erwähnung. Unter den
Staaten Nordamerikas nimmt die Union wegen ihrer hervorragenden Stellung
in der Weltwirtschast den ersten Platz ein. Oppel gibt uns in seiner „Wirtschafts-
geographie der Vereinigten Staaten von Nordamerika" ein Bild von den Wirt-
schaftlichen Kräften, die diesem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten zu Gebote
stehen. Der beste deutsche Kenner Mittelamerikas ist Karl Sapper, der in mehr-
jährigen Reisen die großen Vulkauphänomene des mittelamerikanischen Festlandes
und das Antillenarchipels studierte („Mittelamerikanische Reisen und Studien").
Zu dem Allerbesten, was jemals über Amerika geschrieben worden ist, gehört das
klassische Werk von „A. von Humboldt, Reise in die Äquinoktialgegenden des neuen
Kontinents". Die unvergleichlichen Naturschilderungen dieses großen Forschers finden
10
Einleitung.
sich in seinen „Ansichten der Natur". Aus der völkerkundlichen Literatur Süd-
amerikas verdient „Karl von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-
brasilieus" (Volksansgabe) an erster Stelle hervorgehoben zu werden. Es nimmt
wegen seines lebenssrischen Stils uuser Interesse von der ersten bis zur letzten Zeile
in Anspruch. Wer sich ein Bild von der großartigen Gebirgsnatur der südamerika-
Nischen Anden machen will, der lese „H. Meyer, In den Hochanden von Ecuador".
„Es zieht etwas wie Rousseausche Natursehnsucht durch das Buch, eiue Sehnsucht,
die ohne weiteres allen denen verständlich ist, denen es vergönnt war, jungfräuliche
Natur zu schaueu, und die allen denen begreiflich werden wird, die mit ähnlichen
Empfindungen das Buch studieren". Eine gute Gesamtdarstellung von Süd- und
Mittelamerika gibt W. Sie Vers.
V. Australien: Über das Festland Australien, besonders über seine Tierwelt
hat uns der Zoologe Semon ein interessantes Werk geschrieben: „Im austrat. Busch
und an den Küsten des Korallenmeeres". Ein Gesamtbild der deutschen Kolomen
in der Südsee liegt uns von Georg Wegner vor: „Deutschland im Stillen Ozeau".
Die Perle Ozeaniens, Samoa, hat in Aug. Krämer eiuen trefflichen Bearbeiter er-
halten („Hawaii, Ostmikronesien und Samoa").
VI. Die Polarländer: Den Namen Nansen kennt jeder gebildete Deutsche.
Sein Werk „Ju Nacht und Eis" — zwar etwas breit geschrieben — führt uns am
besten in die Polarwelt ein. Der Kapitän seinerFram, Otto Sverdrnp, unternahm
später noch eine eigene Reise in die vereiste Inselwelt Nordamerikas und erzählt
uus in seinem „Neues Land" betitelten Werke von den Schwierigkeiten eines Vor-
dringens in die Eiswüsten des hohen Nordens. Mylius Erichseu faud bei der
Durchforschung der noch fast ganz unbekannten Nordostküste Grönlands seinen Tod.
Einer seiner Begleiter, der Maler Friis, schildert uns den traurigen Untergang
seines Expeditionsführers. Sein Künstlerauge erschaut die starre Schöuheit der
Polarregionen und gibt sie uns in Wort und Bild meisterhaft wieder. („Im Grön-
landeis mit Mylius-Erichsen".)
Um die Aufklärung der Südpolargebiete oder der Antarktis hat in jüngster Zeit
ein wahrer Wettlauf der Völker stattgefunden. Von verschiedenen Seiten aus
versuchten es die Engländer, Franzosen, Schweden, Deutschen und andere Nationen,
die Umrisse und das Innere dieses unter einem dicken Eismantel begrabenen „Kon-
tinents" zu entschleiern. Von NW aus durchforschten die Schweden unter Norden-
skiöld das Grahamsland („Antarctic, Zwei Jahre in Schnee nud Eis am Süd-
pol"); eine deutsche Expedition unter E. von Drygalski erreichte den Rand des
antarktischen Festlandes am Ganßberg („Zum Kontinent des ewigen Eises"). Die
günstigste Operationsbasis für ein Vordringen nach dem Südpol haben zweifellos
die Engländer gewählt. Wie es ihnen gelungen ist, von Viktorialand aus mit
zäher Energie über ein hohes, schneegepeitschtes, vereistes Gebiet bis auf wenige
Breitengrade sich dem heißersehnten Ziel, dem Südpol, zu nähern, das erzählt uns
das fesselnde Reisewerk „Shackletons, 21 Meilen vom Südpol".
VII. Erforschung der Meere und Weltreisen: Die zur Erforschung der
formenreichen Tiefseefauna in den tropischen Meeren ausgesandte Valdivia-Ex-
peditiou ist von ihrem Leiter, dem Leipziger Zoologen Karl Ehnn, in dem hochinter-
essauten Buche „In den Tiefen des Weltmeeres" beschrieben worden.
Seit Magalhaes' Weltumsegelung sind Reisen um die Erde sehr oft unternommen
uud beschrieben worden. Aus der großen Zahl der teilweise vorzüglichen Reise-
beschreibuugen empfehlen wir zur Lektüre „Darwins Reise eines Naturforschers".
Einleitung.
11
C. Zeitschriften und Atlanten. Wer fortlaufend die Fortschritte der geogr.
Wissenschaft verfolgen will, lese den „Geographischen Anzeiger", „Petermanns
geographische Mitteilungen", „Hettners Geographische Zeitschrift" oder die „Deut-
sche Rundschau für Geographie".
Unter den Handatlanten sind die von Andree, von Stieler und von Debes
die beliebtesten.
Der bildende Wert der Geographie. Ein großes Wissensgebiet liegt vor unsern
Augen ausgebreitet, und wer den Weg hinein und hindurch finden will, wird manche
Mühe und Beschwerde uicht scheuen dürfen, denn der Weg ist lang und nicht überall
gleich interessant. Da fragt man sich wohl, welcher Wert einer solchen eingehenden
Beschäftigung mit der geographischen Wissenschaft für den Laien beigemessen werden
darf. Die Antwort liegt klar auf der Hand: Wie ein Musikverständiger einen nn-
gleich höheren Genuß von einem musikalischen Werke hat, das er durch Studium
sich zu eigen machte, als der gebildete Laie, wie ein Malerauge die Schönheiten
eines Gemäldes mit weit stärkerem Hochgefühl trinkt und empfindet als der naive
Beschauer, fo geht es auch dem geographisch Gebildeten beim Anblick der Natur: er
gibt sich nicht aus iu dem ästhetischen Frohgefühl beim Anschauen landschaftlicher
Reize, sondern hat einen tieferen, nachhaltigeren Genuß auf Grund seines reiferen
Verständnisses für das Antlitz unserer Erde: empfindet er doch nicht mit den Sinnen
allein, sondern unter Beihilfe des denkenden Verstandes und seiner Wissenschaft-
lichen Schulung. Wir leben in einer Zeit der Reisefreudigkeit. Lassen wir uns
von denen, die vor uns gewandert sind und das Geschaute in ernstem Denken ver-
arbeitet haben, hinführen zu den großen Wundern unserer Erde, die Lektüre ihrer
Bücher wird uns das Lesen im großen Buch der Natur erleichtern und verschönen.
Doch wenn wir nur um unserer Reisen willen Geographie trieben, so umfaßte
unser Studium ein gar begrenztes Gebiet, denn nicht vielen Menschen ist es ver-
gönnt, fernere Erdräume zu schauen und zu durchwandern. Und doch ist es von
besonderem Wert, auch über diese uns von Kennern und Forschern belehren zu lassen.
Vor allem gilt das für unsere deutschen Kolonien. Mit dem reiferen Verständnis
für alles das, was deutsche Kraft dort geleistet hat, und für die Aufgaben, die uuserm
Heimatlande noch zu leisten übrigbleiben, wächst auch das Interesse für koloniale
Bestrebungen und wird weiter getragen in die Kreise der Gebildeten. Dies Interesse
aber regt zur tätigen Mitarbeit an den Kulturwerken unsers Vaterlandes an! So
wird die Erdkunde eine Erzieherin zum Patriotismus uud fördert die Wohlfahrt
unsers Staates.
Und wollen wir noch mehr zum Ruhme der Geographie aufzählen? Ist es
wirklich auch notwendig, an den großen formalen und ethischen Wert zu erinnern, der
dieser Wissenschaft vor vielen anderen innewohnt, indem sie unsern Gesichtskreis
weitet, unser logisches Denken schult, uuser Interesse auf große, wertvolle Probleme
hinlenkt? All das wird sie als schönes Geschenk demjenigen zurücklassen, der mit
Freudigkeit und Interesse geographischen Fragen sich zuwendet.
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
1. Die Stellung der Erde im Weltall.
Von Z. Scheiner („Der Bau des Weltalls", 3. Aufl., Leipzig 1909,
B. G. Teubner).
In jedem Menschen steckt ein eigentümlicher Gegensatz: Neben der Liebe und
Anhänglichkeit zur engeren Heimat lebt der Drang nach außen, der Wunsch, andere
Gegenden und Menschen kennen zu lernen, bei dem einen mehr, bei dem anderen
weniger. Den einen saßt dieser Drang so stark, daß er seine Familie und geordnete
Verhältnisse verläßt, um in der Ferne nach unbekannten Zielen zu streben, der andere
vermag ihn so zu unterdrücken, daß er jahrelang kaum aus seiner Schreibstube heraus-
kommt. Es sind meist die äußeren Lebensverhältnisse, welche in dieser Beziehung
das Mehr oder das Weniger bestimmen, und während es in gewissen Gesellschasts-
klassen zum guten Ton gehört, mindestens einmal die Erde umfahren zu haben, müssen
die meisten sich damit begnügen, nur an Sonn- und Feiertagen aus der engen Stadt
in die nächste Umgebung zu eilen. Und wenn vielleicht auch die Verpflegung dort
schlechter und teurer ist als zu Hause, das nimmt jeder gern mit in den Kauf, wenn
er nur seinen Drang nach außen befriedigen kann.
Nur die wenigsten Menschen können wirklich reisen und aus eigener Anschauung
größere Teile unseres Wohnsitzes, der Erdoberfläche, kennen lernen. Da muß die
fremde Anschauung aushelfen, und einem einigermaßen phantasiebegabten Gemüte
fällt es nicht schwer, sich mit Emin Pascha in das innerste Afrika oder mit Nansen in
die eisstarrenden Einöden des Nordens zn versetzen und in gedrängter Folge alles mit-
zuerleben. Und wo die Phantasie nicht ausreicht, da tritt in neuerer Zeit die Photo-
graphie als mächtiges Hilfsmittel hinzu und bringt nicht bloß fremde Gegenden und
Menschen zur exakten Anschauung, sondern läßt unter Umständen sich wichtige und
interessante Beweguugsvorgänge in aller Treue abspielen. Karten und Sitnations-
Pläne helfen mit, und es ist heute jedem einzelnen möglich, unsere Erdoberfläche auf
das genaueste kennen zu lernen.
Die Sehnsucht nach der Ferne begnügt sich aber nicht immer mit dem Verweilen
auf der Erdoberfläche. Mancher möchte sehen, wie es im Innern der Erde aussieht,
und wer hat nicht schon einmal Stunden erlebt, in denen er auf einen blinkenden
Stern hätte enteilen mögen, um von dort mit Verachtung auf das kleinliche Getriebe
der Menschen herabzuschauen. Derartige Wünsche sind aber nur im allerbescheidensten
Maße zu erfüllen. Tiefer als einige tausend Meter ist noch nie ein Mensch in das
Innere der Erde eingedrungen, und das ist nur ein verschwindender Teil der Entfernung
von der Oberfläche bis zum Mittelpunkt, und diejenigen, die ihre Tätigkeit dort hin-
führt, sind eher zu bemitleiden als zu beneiden. Nicht viel besser sieht es mit dem Er-
heben über die Oberfläche aus. Die äußerste, bei BallonfMten erreichte Höhe beträgt
.etwa 9 Km, und die in solchen Höhen durch die Luftverdünnung hervorgebrachten
Beschwerden sind so heftig, daß auch hier von einem Genüsse keine Rede mehr sein
kann. Diese 9 km sind aber geradezu ein Nichts gegenüber der Entfernung auch nur
des nächsten Himmelskörpers, des Mondes.
14
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Nur wenige Menschen gibt es, die, wenn anch nicht körperlich, so doch geistig
weiter dringen können, die ihr ganzes Leben einer bestimmten Aufgabe widmen
müssen, wenn sie vorschreiten wollen, sei es ins Innere der Erde, sei es nach außen
zu den Sternen. Sie sind es, die geistig die Rolle des Entdeckungsreisenden spielen,
dessen Berichte allein der übrigen Menschheit zur Anschauung bringen müssen, was er
erforscht hat. Und wie bei diesem, so ist im übertragenen Sinne auch ihr Weg ein
schwieriger und anstrengender, und nicht umsonst lautet der alte Wahrspruch der
Astronomie: Per aspera ad astra: Der Pfad zu den Sternen ist ein rauher.
Ich will nun versuchen, dem Leser den Psad zu den Sternen nach Möglichkeit
zu ebnen.
Wenn man aus dm Weltraum berichten will, so bleibt nichts anderes übrig,
als von Millionen und Billionen von Kilometern so zu sprechen, wie z. B. der Hand-
werker seine Maße in Zentimetern und Millimetern angibt. Bei diesen ungeheueren
Zahlen kann sich der Laie nichts denken; sie wirken daher auch gar nicht auf ihn,
meist geht er mit mitleidigem Lächeln darüber hinweg und bedauert höchstens die
Astronomen, die mit den „unnützen" Zahlen ihren Kops belasten müssen. Um solche
Zahlen einigermaßen begreiflich zu macheu, kann man nur schrittweise vorgehen und
muß, um Begleichungen anstellen zu können, die Zeit rechnend hinzuziehen.
Eine Strecke, die jedermauu verständlich uud auschaulich ist, ist uusere Maßeinheit,
das Kilometer. Auf den Chausseen läßt sich dasselbe von einem Stein zum andern
bequem übersehen, und man weiß, daß man je nach seiner Rüstigkeit 10 bis 13 Mi-
nuten braucht, um 1 km zurückzulegen. Auch die Wegstunde, gleich 5 km, ist noch
sehr gut zu erfassen, sie läßt sich aus einigermaßen ebenem Gelände noch vollständig
übersehen. Die Anfchauuug von weiteren Strecken macht schon etwas mehr Schwierig-
keit, doch läßt sich eine gute Tagessußreise vou 8 Stunden, gleich 40 km, nach einiger
Übung immerhin noch als Wegeeinheit auffassen. Hierbei bietet sich zwar nur selten
Gelegenheit, diese Strecke direkt zu übersehen, das ist meist nur möglich, wenn man
auf der Ebene einem fernen Gebirge zustrebt; es ist hierbei mehr das Ermüduugs-
gefühl des Körpers, welches eiu indirektes Maß für die durchwanderte Strecke abgibt.
Bei noch größeren Entfernungen fehlt die Anfchauuug gewöhnlich schon gänzlich,
uud zwar hauptsächlich deshalb, weil solche Strecken fast nur uoch mit der Eisenbahn
zurückgelegt werden. Wer soll auch eiue Vorstellung z. B. von der Entfernung Berlin-
Hamburg, gleich 286 km, gewinnen, wenn er bequem im O-Zuge sitzend innerhalb
4 Stunden diese Strecke durcheilen kann! Etwas besser würde dieser Weg in der Vor-
stelluug haften bleiben, wenn man ihn zu Fuße iu 7 angestrengten Marschtagen
zurückzulegen hätte.
Man glaubt für gewöhnlich, aus den Atlanten eine richtige Anschauung von
den Entfernungen auf unserer Erdoberfläche gewinnen zu können. Auch das ist im
allgemeinen nicht richtig, da der Maßstab der Karten um so kleiner ist, je größer die
darzustellende Länderpartie ist. Unwillkürlich prägen sich unrichtige Größenver-
Hältnisse ein, wenn man Deutschland auf derselben Blattgröße dargestellt sindet wie
Asien, und Karten, die die halbe oder gar ganze Erdoberfläche gleichzeitig darstellen,
sind infolge der Projektion auf die Papierebene derartig verzerrt, daß sie erst recht
zu unrichtigen Vorstellungen führen. Richtig lernt man die Größenverhältnisse der
Länder und Meere nur auf einem größeren und gut ausgeführten Globus kennen, doch
steht ein solcher nur den wenigsten Menschen zur Verfügung.
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
15
Ein sehr lehrreiches Beispiel für das Fehlerhaste der geographischen Anschauung
bei den meisten Menschen ist das folgende:
Man lasse jemand aus dem Gedächtnisse, also ohne ihm einen Blick aus eine
Karte zu gewähren, angeben, welche Orte ungefähr eine Kreislinie treffen wird, die
man von Berlin als Mittelpunkt ans mit der Distanz Berlin-Nordkap zieht. Ge-
wöhnlich werden alsdann viel zu geringe Entfernungen angegeben, im Osten etwa
die russische Grenze oder Polen, im Süden Tirol oder eventuell auch einmal Ober-
italien, im Westen Paris oder höchstens England. In Wirklichkeit aber läuft dieser
Kreis folgendermaßen: Im Osten trifft er noch östlich von Kasan die Wolga, läuft
durch den östlichen Teil des Schwarzen Meeres und durch Kleiuafien, um nach Über-
schreitung des Mittelmeeres im Süden bei Tunis Afrika zu erreichen. Alsdann
wendet er sich durch Südspanien und Portugal zum Atlantischen Ozean und geht im
Nordwesten mitten durch Island hindurch. Die Ursache der falschen Schätzung liegt
wesentlich in dem Umstände begründet, daß die skandinavische Halbinsel gewöhnlich in
den Atlanten in verhältnismäßig kleinem Maßstabe dargestellt wird. Von der Ent-
fernnng Berlin-Nordkap selbst, die in der Luftlinie genau 300 geographische Meilen
oder 2250 km beträgt, gewinnt man eine einigermaßen verständliche Vorstellung,
wenn man bedenkt, daß zu einer Fußwanderung bis dahin auf der Luftlinie 56 Marsch-
tage erforderlich wären. Wir würden dabei noch innerhalb Europas bleiben. Wenn
man jetzt liest, daß in wenigen Jahren eine Reife rund um die Erde herum in etwa
30 Tagen möglich wird, so kann dies nur dazu beitragen, uns eine viel zu geringe
Meinung von der Größe unserer Erde beizubringen. Direkt vorstellbar ist deren
Größe überhaupt nicht mehr, auch die Angabe, daß der Erdumfang etwa 40 000 km
beträgt, gibt meines Erachtens kein Bild von den gewaltigen Dimensionen des von
uns bewohnten Himmelskörpers. Vielleicht trügt auch hier die Verrechnung mit
der Zeit zu besserem Verständnisse bei: Es würden rund 1000 Tage oder 2 j Jahre
für einen Fußmarsch um die Erde herum erforderlich sein, wenn ein solcher überhaupt
möglich wäre. Vergleichen wir hiermit beispielsweise die größten Marschleistungen,
welche von einigen Truppenkörpern während des französischen Kriegs notwendig
ausgeführt werden mußten, so dämmert uns doch vielleicht eine Ahnung davon auf,
daß unsere Erde eine ganz enorme Anhäufung von Materie im Weltall bedeutet.
Auf einem anderen, allerdings fchon vielfach betretenen Wege läßt sich wohl
noch besser das Verständnis für große Dimensionen unterstützen. Zu dem Zwecke
wollen wir uns die Erde als eine kleine Kugel von 37 cm Durchmesser vorstellen —
weshalb hier gerade diese Dimension gewählt ist, wird weiterhin klar werden —.
Auf dieser Kugel würden die höchsten Berge der Erde Erhebungen von etwa \ mm
Höhe, also von Sandkorngröße, und die Ozeane sich in ihrer mittleren Tiefe von
Schreibpapierdicke darstellen. Und wenn wir uns hochmütige Menschen selbst einmal
in diesem Maßstabe betrachten wollen, so würde uns dies mit dem besten Mikroskope
wohl schwerlich gelingen, unsere Länge würde etwa ^ö~ö"o¥ nun sein, d. h. ein Cholera-
bazillus wäre gegen uns ein wahres Ungeheuer ....
Gerade dieser Moment, in dem wir zur Anschauung unseres eigenen Nichts im
Verhältnis zur Erde gekommen sind, dürfte geeignet sein, den Übergang von unserem
Planeten auf das Sonnensystem zu wagen als auf denjenigen Teil des Weltalls, der
unseren Sinnen und unserem Verstände zunächst gelegen ist.
Schon im Sonnensystem ist die zahlenmäßige Angabe von Dimensionen und
Entfernungen für den Laien ziemlich zwecklos. Wer kann irgendeinen Begriff damit
verbinden, wenn er hört, daß der der Erde nächste Himmelskörper, der Mond, doch
16
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
sckon 385000 km entfernt ist, der entfernteste Körper des Sonnensystems, der Neptun,
dagegen im Mittel 4467 Millionen km? Hier hilft zunächst wieder in etwas die Be-
gleichung der Entfernungen mit Marschtagen. Jemand, der von der Erde bis zum
Monde marschieren könnte, würde als gereifter Mann ankommen, wenn er als Jung-
ling die Erde verlassen hätte, denn er brauchte ohne Einschiebung von Ruhetagen
26 bis 27 Iabre. Aus andere Entfernungen im Sonnensystem hat aber die Anwendung
dieser Vergleichsmethode schon keinen Zweck mehr, denn alsdann wächst die Zahl
der Jahre bereits ins Unverständliche; derselbe Wanderer würde von hier bis zur
Venus, der zweitnächsten Entfernung, die für unsere Erde in Frage kommen kann,
bereits gege,^2LMIahre Brauchen!
Hier muß mau wieder zu der anderen Vergleichsmethode zurückkehren uud den
Maßstab so verkleinern, daß man zu gut vorstellbareu Dimensionen gelangt. Es
soll daher der Sonnenball auf die Größe einer Kirchenkuppel, auf eine Kugel von
40 m Durchmesser verkleinert werden; dann entsprechen in der folgenden Tabelle den
links stehenden wahren Entfernuugeu im Sonnensystem die in der letzten Kolumne
stehenden reduzierten Entfernungen. Tie ersteren sind gleich in Millionen Kilometern
angegeben, die letzteren in Kilometern.
Entfernung in Millionen reduzierte Entfernungen
Sonne bis Kilometern in Kilometern
Merkur 58 1,7
Veuus 108 3,1
Erde 149 4.3
Mars 226 6,5
Jupiter 773 22,4
Saturn 1418 41,0
Uranus 2851 82,4
Neptun 4467 129,2
Es kann nun jeder leicht sich diese Kugel iu die Mitte einer ihm bekannten größeren
Stadt versetzen und dann aus der letzten Kolumne der obigen Tafel die Entfernuugeu
der einzelnen Planeten von der Sonne mit dem Zirkel auf einer Kante eintragen
oder die Planetenbahnen als Kreise um den Mittelpunkt herumziehen uud somit
eiu sehr anschauliches Bild von den Verhältnissen unseres Sonnensystems gewinnen.
Als Beispiel möge hier angenommen werden, daß die Sonnenkugel von 40 m Durch-
messer au Stelle der Domkuppel in Berlin gesetzt sei. Dann würden die Planeten
bei ihrem Laufe um die Sonne etwa folgende Puukte berühren: Die Merkurbahu
liegt ganz in Berlin; in: Westen geht sie durch das Reichstagsgebäude, im Norden
trifft sie die Zionskirche, und im Süden berührt sie beinahe die königliche Sternwarte.
Die Venus verläßt schon stellenweise das eigentliche Berlin; im Westen geht sie durch
beii Tiergarten in der Mitte zwischen dem großen und dem kleinen Stern, im Norden
berührt sie den Humboldtshain, und im Süden passiert sie die Jork- und Gneisenau-
straße. Die Erde berührt kaum noch Teile des eigentlichen Berlin; westlich geht sie
durch den Bahnhos Tiergarten, und im Süden liegt ihre Bahn bereits \ km südlich
vom Kreuzberg. Mars wandelt ganz außerhalb Berlins durch die nächsten Vororte,
z. B. Tempelhof, trifft aber noch den Zoologischen Garten, und Jupiter geht schon
durch die weiteren Vororte wie Spandau; Erkner und Wannsee liegen bereits ganz
innerhalb seiner Bahn. Für Saturn und Uranus müssen schon Karten der Provinz
1. Die Stellung der Erde im^Weltall.
17
Brandenburg benutzt werden; Liebenwalde und Nauen liegen der Saturnbahn nahe,
während Wittenberg und Frankfurt a. O. von Uranus besucht werden. Der ent-
fernteste unserer Planeten endlich, Neptuu, verläßt schon stellenweise das Königreich
Preußen, z. B. bleibt er nur 15 km von Leipzig entfernt; andere Städte, die auf
seiner Bahn liegen, sind Stettin, Landsberg und Magdeburg.
Wie verhalten sich nun diese Entfernungen zu unserer Erde, von deren Dünen-
sionen wir ja durch das Vorhergehende eine Anschauung gewonnen haben? In dem
gleichen reduzierten Maßstabe würde die Erde durch eine Kugel von 37 ein Durch-
messer dargestellt, das ist die Größe, die wir schon auf Seite 15 gewühlt hatten, und
um diese Kugel herum würde sich der Mond in 11 m Entfernung bewegen als Kugel-
cheu von 10 cm Durchmesser.
Und nun können wir auch leicht eine Vorstellung von der enormen Größe der
Sonne gewinnen, die scheinbar nicht größer ist als der Mond. Setzen wir die 37 ein
starke Erde mitsamt ihrem Monde in die 40 m im Durchmesser haltende Sonne, so
würde die Sonnenobersläche noch doppelt so weit von der Erde entfernt sein als
letzterer. Soll man mehr über die gewaltige Größe der Sonne staunen oder über
die gewaltige Entfernung derselben von uns, die es bedingt, daß sie uns nicht größer
erscheint als der kleine Mond von nur 3480 km Durchmesser?
t Wir wollen hier vorläufig diese Betrachtungen abbrechen. An der Hand der
gegebenen Zahlen und Vergleiche wird sich nunmehr der Leser bei wiederholten:
Durchdenken eine ganz klare Vorstellung von den räumlichen Verhältnissen in unserem
Sonnensystem verschaffen können. Auch auf die vielfach in populären Schriften
gegebenen Beispiele zur Anschaulichmachuug der Dimensionen möge nicht weiter
eingegangen werden. Jeder ist mit Hilfe dieser Zahlen leicht in der Lage, sich selbst
auszurechneu, wie lange eine Kanonenkugel von hier bis zur Sonne braucht oder
wieviel Zentner ein Zwirnsfaden wiegt, der die Erde mit der Sonne verbindet.
Tie räumlichen Dimensionen allein geben keine genügende Klarheit über die
Verhältnisse im Sonnensystem, sondern hierzu ist noch eiue Veranschaulichung der
Menge von Materie, welche im Sonnensystem vorhanden ist, erforderlich fowie ins-
besondere ein Begriff von dem Verhältnis dieser Massen zum ganzen zur Verfügung
stehenden Räume. In ersterer Beziehung liegt die Auffassungsschwierigkeit an der
enormen Menge der Materie, im zweiten Falle gerade umgekehrt an ihrer Gering-
fügigkeit. Gleichzeitig bietet eine derartige Betrachtung die Gelegenheit, noch über
andere wichtige Punkte Aufschluß zu geben.
Bekanntlich stellt die Sonne den Zentralkörper unseres Systems dar, um den
herum die Planeten in nahe kreisförmigen Bahnen sich bewegen. Dabei sind diese
Bahnen verhältnismäßig nur wenig gegeneinander geneigt, so daß wir uns das ganze
System als ein recht flaches vorstellen können, etwa einer Scheibe vergleichbar. Den
Raum zwischen den Planeten betrachtet man im chemischen und physikalischen Sinne
als leer; die Sonne, die Planeten und Monde sind als isolierte Massenanhäufungen
aufzufassen. Absolut leer ist dieser Raum, wie überhaupt das Weltall, nicht; man
stellt sich vor, daß derselbe mit einem Stoffe, dem sogenannten Äther, erfüllt ist, der
gegenüber der Materie auch selbst in deren verdünntesten Formen als unvorstellbar
dünn aufzufassen ist und mit der übrigen Materie wohl in gewissem Zusammen-
hange steht, nicht aber in einem solchen, der sinnlich zu erfassen wäre. Man ist zu der
Annahme dieses Äthers gezwungen worden, weil es sonst ganz unverständlich wäre,
wie Kraftäußerungen der Materie, z. B. Licht und Anziehung, von einem Himmels-
kvrper zun: anderen übergehen könnten. Dieser Äther hat also mit der eigentlichen
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 2
18
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Materie für unsere Betrachtungen hier nichts zu tun, er ist ein gegebenes Etwas,
welches die Physiker vorläufig noch nicht haben ergründen können, und dessen Existenz
für uns genau so rätselhaft bleibt wie die der Materie und der^ Kräfte. — Es sei bei
dieser Gelegenheit ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß Gedauken über das
Wesen der Materie oder der Kräfte oder über die Herkunft derselben oder über den
Anfang aller Dinge durchaus nicht in das Gebiet der exakten Forschung hineingehören.
Die Beantwortung derartiger Fragen ist den Menschen, wie so vieles andere, für
immer verschlossen, und alles Nachdenken und Philosophieren darüber führt niemals
zum Ziele. Es ist Sache jedes einzelnen, sich mit allen diesen sogenannten transzen-
denten Dingen abzufinden, so gut wie es geht. Der eiue nimmt sie hin als gegeben
und fragt nicht weiter woher und wohin, dem anderen erscheint es besser und edler,
noch einen Schritt weiter zu gehen und sie als geschaffen von einem über allen Dingen
stehenden Wesen anzunehmen, wobei dann erst dieses Wesen das uns nnerfaßliche
bleibt. Die Vertreter der exakten Wissenschaften sind vielleicht bescheidener als die
eigentlichen Philosophen, die zum Teil noch immer glauben, durch Nachdenken den
Gruud der Dinge erfassen zu können; wir »vollen uns hier den ersteren anschließen
und die Grenzen des durch unsere Sinne gefundenen und dann erst durch Denken
erweiterten Gebietes nicht verlassen. —
Tie Planeten beschreiben nahe kreisförmige Bahnen um die Sonne, entsprechend
einem an einem Faden befestigten Stein, der um die Hand herumgeschlendert wird.
Bei diesem ist es die Festigkeit des Fadens, welche den Stein in feine Bahn zwingt
und ihn verhindert, geradlinig wegzufliegen, bei jenen ist es die allgemeine Anziehungs-
oder Schwerkraft. Reißt der Faden, so fliegt der Stein in der Richtung fort, die er
gerade im Momente des Zerreißens hatte; würde plötzlich die Anziehungskraft der
Sonne aufhören, so würden sofort die Planeten in allen möglichen Richtungen der
Sonne auf Nimmerwiedersehen enteilen. Das wird aber niemals eintreten, denn
die Anziehungskraft ist die allgemeinste Kraft, welche wir kennen, sie ist der Materie
unzertrennlich beigegeben und dabei unabhängig von den übrigen physikalischen und
chemischen Eigenschaften derselben. Sie regiert in unserem Sonnensysteme nn-
beschränkt und hält den Menschen auf der Erdoberfläche genau so fest, wie den Mond
in seiner Bahn. Die Stärke dieser Kraft ist allein abhängig von der Menge von
Materie und von der Entfernung, in welcher sich die zu betrachtenden Teile der Materie
voneinander befinden. Statt der Menge von Materie hat man den Begriff der Masse
eingeführt und definiert die Masse nur nach der Anziehung. Wenn man z. B. auf
der Wage 1 kg Fleisch abwägt, so besagt dies, daß das Stück Fleisch genau so viel
Masse enthält wie das eiserne Gewichtsstück von 1 kg, da es von der Erde genau so
stark angezogen wird wie letzteres. Daß das Stück Fleisch viel größer ist als das Ge-
wichtsstück, tut nichts zur Sache, das Fleisch ist eben „leichter", oder wie man sich
exakter ausdrücken sollte, „spezifisch leichter" als das Eisen. Auf dieser Definition
beruht ja auch unser ganzes GewichtssystemWasser wird von der Erde mit
einer Kraft angezogen, welche man 1 g aenannt hat.
Sind die zu betrachtenden Massen alle gleich weit von der anziehenden entfernt
wie auf unserer Erdoberfläche, so ist das Wägen, wie jedermann weiß, eine sehr ein-
fache Sache, befinden sie sich aber in verschiedenen Entfernungen, so wird die Auf-
gäbe etwas schwieriger. Hier muß die andere Eigenschaft der Anziehungskraft hinzu-
gezogen werden, welche ihre Abhängigkeit von der Entfernung regelt und besagt,
daß die Anziehungskraft bei sonst gleichen Massen viermal so gering ist, wenn die
Massen zweimal so weit voneinander entfernt sind, oder neunmal so wenig, wenn die
1. Die Stellung der Erde im Weltall.
19
Entfernung die dreifache wird, usw. Mit Hilfe dieses Gesetzes kann man aus der
anziehenden Krast die Himmelskörper wägen und damit ihre Masse in Kilogrammen
ausdrücken. Es mögen zunächst die Resultate einiger derartiger Wägungen mitgeteilt
werden, und zwar soll auch hierbei uur schrittweise vorgegangen werden; aber wir
werden bald zu so enormen Zahlen kommen, daß jede Vorstellung schwindet, und es
gibt hierbei leider keinen anderen Weg, das Begriffsvermögen zu unterstützen. Als
Einheit soll das Kilogramm eingeführt werden, d. h. die Definition, daß ein Liter
Wasser 1 kg wiegt. In diesem Falle sind beide Einheiten, sowohl die Raumeinheit,
das Liter, als auch die Gewichtseinheit, das Kilogramm, vollständig bekannte und
vorstellbare Größen. Wenn wir hiervon auf das Tausendfache übergehen, so ist den
meisten Menschen auch noch hierfür Verständnis gegeben: 1 edm Wasser wiegt 1000 kg.
Ebenfalls anschaulich verhalten sich noch Maße wie diejenigen der großen Reservoire
der Wasserleitungen. Bei 50 in Durchmesser und 10 ra Höhe enthält ein derartiges
Reservoir bereits 20 000 edm; bei vollständiger Füllung beträgt das Wassergewicht
20Mill.kg. Ein Kubikkilometer, also einen Würfel, dessen Kanten 1 wir lang sind, kann
man sich noch ganz gut vorstellen, daß aber ledkm Wasser bereits 1000000000000 kg
(eine Billion kg) wiegt, erweckt in uns keine bestimmte Vorstellung mehr, wir können
uns nnter einer solchen Zahl nichts mehr denken. Zur Erläuterung dieser Zahl sei
hier an das bekannte Beispiel des Geldzühlens erinnert. Wollte ein geschickter Kassierer,
der in der Sekunde fünf Geldstücke aufzählen kann, die obige Summe in einzelnen
Markstücken auszahlen, so hätte er hierzu ohne jegliche Unterbrechung ungefähr
6000 Jahre nötig.
Vollkommen schwindelerregende Zahlen erhalten wir, wenn wir das Gewicht
der Erde angeben wollen. Dieselbe hat einen Inhalt von 1 082 841 320 000, also
von rund 1 Billion der uns bereits bekannten Kubikkilometer, 1 cbkrn unserer Erde
wiegt durchschnittlich 5 600 000 000 000 kg, das Gewicht der Erde beträgt also rund
56 mit 23 Nullen, oder 5| Quadrillionen kg.
Die Erde ist nuu einer der kleinsten Planeten, so wiegt Saturn schon 93mal mehr
als die Erde, und Jupiter ist gar 310 mal schwerer, und was will das erst bedeuten
gegenüber dem Gewicht der Sonne, die 350 000mal schwerer als die Erde ist und
mithin rund 2 Quintillionen kg wiegt. Bei solchen Zahlen hört zwar jeder Begriff
auf; man kann es aber an der Hand derselben allerdings nnnmehr erklärlich finden,
daß trotz der kolossalen Entsernuug der Planeten die Sonnenmasse groß genug ist, um
die ersteren in ihren Bahnen zu erhalten.
Während wir nun diesen Massenanhäufungen staunend gegenüberstehen, die
Natur, die mit solchen Massen operiert, gleichsam als Verschwenderin betrachtend,
wandelt sich dieses Bild in sein Gegenteil um, sobald wir die Massen des Sonnen-
systems mit dem Räume, in dem sie sich bewegen, vergleichen.
Soweit bis jetzt bekannt ist, und sofern wir von den flüchtigen und luftigen Ko-
meten absehen, ist die äußerste Grenze des Sonnensystems durch die Neptunsbahn
gegeben. Wenn wir uns also eine Kugel denken um die Sonne als Zentrum, deren
Oberfläche durch die Neptuusbahu geht, so enthält diese Kugel vollständig alle Teile
des Sonnensystems; was darüber hinaus ist, müssen wir schon zum weiteren Weltall
rechnen. Nach der allgemein angenommenen Kaut-Laplacescheu Weltbildungshypo-
these ist „zu Anfang" einmal diese Kugel (eigentlich noch eine wesentlich größere)
ziemlich gleichförmig mit Materie erfüllt gewesen, die sich infolge der allgemeinen
Anziehung allmählich uach der Mitte zu konzentriert und bei dieser Gelegenheit auch
die Plaueten abgeschnürt hat. Diese Kugel enthielt also die gesamte Materie, die auch
20
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
heute noch im Sonnensystem vorhanden ist, und wenn wir die Dichtigkeit dieser
Materie berechnen und in Vergleich mit der Dichtigkeit von Stoffen auf unserer Erde
bringen, so erhalten wir ein Bild von der Art und Weise, wie im Weltall, und zwar
speziell in der durch das Sonnensystem gekennzeichneten Gegend desselben, die
Materie verteilt ist.
Nun beträgt der Halbmesser der Neptunsbahn und damit auch der Halbmesser
unserer supponierten Kugel 4467 Mill. km, daraus ergibt sich der Inhalt derselben
zu 373 000 Quadrillionen cbkm, und auf diesen Inhalt käme die gesamte Materie des
Sonnensystems von rund 2 Quiutillionen kg in gleichmäßiger Verteilung, oder auf
0,187 cbkm käme 1 kg Materie, oder noch weiter reduziert: Die allgemeine Dichtig-
keit des Sonnensystems entspricht derjenigen eines luftleeren Würfels von 57 rn
Kantenlänge, in welchem 1 g Materie verteilt ist. Das ist ganz über alle Maßen
wenig, wie man sofort erkennt, wenn man das Gewicht der Luft berechnet, welche
bei normalem Barometerstande in einem solchen Würfel enthalten ist, nämlich ungefähr
230 000 kg.
Die Luft an der Erdoberfläche ist demnach über 230 000 000mal so dicht als im
Anfange die Materie unseres Sonnensystems war, d. h. es würde keinem Chemiker
möglich sein, in einem solchen Räume überhaupt Spuren von Stoffen zu finden,
und die Physiker sind stolz, wenn es ihnen gelingt, in einem Gefäße die Luft so aus-
zupumpen, daß die resultierende Dichtigkeit nur noch ein Hunderttausendstel der nr-
sprünglichen beträgt.
Es wird schwerlich jetzt noch jemand behaupten wollen, daß bei der Bildung des
Sonnensystems die Natur verschwenderisch mit der Materie umgegangen sei, man
wird ihr vielmehr die äußerste Sparsamkeit zugestehen müssen.
Ich hoffe hiermit das für unsere weiteren Betrachtungen zunächst notwendige
Ziel erreicht zu haben, infoferrt als der Leser nunmehr in der Lage sein dürfte, sich
ein Bild von den überwältigenden Verhältnissen im Sonnensystem zu machen und
einen Vergleich zu gewiuuen zwischen dem eigenen Nichts gegenüber den Mitteln,
mit welchen die Natur in unserem Systeme arbeitet. Damit ist aber eine feste Grund-
läge gegeben, von welcher aus wir den gewagten Schritt ins unendliche All tun können,
um auch dort zu messen und zu wägen, ja um nicht bloß Formen und Dimensionen zu
erfassen, sondern auch chemische und physikalische Untersuchungen anzustellen.
Nach den letzten Darlegungen kann es keinem Zweifel unterliegen, daß bereits
unser Sonnensystem den Namen einer erschrecklichen Einöde verdient, in der die
wenigen Massenzentren zerstreut sind wie die Oasen in der Sahara, nur noch mit
dem Unterschiede, daß letztere verhältnismäßig sehr viel größer sind. Betrachten wir
in einer klaren Nacht die Pracht des gestirnten Himmels, an dem einige tausend
Sterne dem unbewaffneten Auge entgegenblinken, deren Zahl im Fernrohre auf
viele Millionen wächst, dann macht uns das Weltall einen belebten Eindruck, wir
fühlen uns trotz der Allgewalt des Eindrucks nicht einsam. Leider aber müssen wir
hier diese schöne Illusion mit rauher Hand zerstören: Die Ode des Weltalls ist eine
noch viel grauenvollere als die des Sonnensystems. Die Dimensionen und Ent-
fernungen, die wir bis jetzt kennen gelernt haben, schrumpfen fast ins Nichts zusammen
gegenüber denjenigen, mit denen wir nun zu tun haben werden. Die Entfernung
des nächsten Fixsterns von uns ist um mindestens das 200 000sache größer als die von
der Erde zur Sonne. Was das besagen will, lehrt am besten ein Zurückgehen auf das
Beispiel vou den Entfernungen der Körper unseres Sonnensystems, bei welchem die
Sonne einen Durchmesser von 40 m besaß. Der entfernteste Planet, Neptun, ging
1. Die Stellung der Erde im Weltall.
21
durch Stettin oder Magdeburg hindurch, der nächste Fixstern fände in diesem Maß--
stabe nicht annähernd mehr Raum auf der Erde, er würde in nahe der doppelten
Mondentfernung stehen! Da reicht selbst der kleine Maßstab nicht mehr aus, um
eine direkte Anschauung zu gewinnen.
Sehr wahrscheinlich ist übrigens der nächste Stern in Wirklichkeit noch doppelt so
weit entfernt, und es gibt überhaupt nur sehr weuige Sterne, deren Entfernung von
uns annähernd diesen Zahlen gleichkäme. Durchschnittlich sind die sogenannten
näheren Sterne mindestens noch zehnmal weiter von uns abgelegen, uud wie weit
die entferntesten, die das Fernrohr noch erkennen kann, von uns liegen, das
läßt sich zunächst nicht exakt angeben; für unsere Betrachtungen genügt es, wenn
wir sagen, vielleicht 100 oder 1000mal weiter, und dann in diese Entfernungen die
Grenzen des uns zugänglichen Weltalls setzen. Um bei diesen Zahlen dem Ver-
ständnisse näher zu kommen, hat man eine neue Einheit eingeführt: das sogenannte
Lichtjahr.
Die größten Geschwindigkeiten, die man auf mechanischem Wege erzeugen kann,
sind diejenigen der Geschosse der modernen Gewehre und Kanonen. Die Anfangs-
geschwindigkeit solcher Geschosse beträgt nahe 1000 m in der Sekunde, ein Schnecken-
gang gegenüber den Geschwindigkeiten, mit welchen sich gewisse Naturkräfte wie Licht
und Elektrizität im Räume fortpflanzen. Die Lichtgeschwindigkeit ist gerade 300 000mal
größer, denn der Lichtstrahl legt in einer Sekunde 300 000 km zurück, d. h. er braucht
von hier bis zum Monde nur Sekunde, von hier bis zur Sonne schon über
8 Minuten und bis an die Grenze des Sonnensystems, bis zum Neptuu, bereits
4 Stunden. Den Weg bis zn dem snpponierten nächsten Fixstern aber legt er erst
in 3^ Jahren zurück, d. h. der nächste Fixstern ist 3^ Lichtjahre von uns ent-
fernt. Bei der Betrachtung des gestirnten Himmels wissen wir jetzt, daß das Licht
der hellsten Sterne, die wir sehen, bereits vor 30 Jahren die betreffenden Sterne
verlassen hat, um heute erst in unser Auge zu gelangen, und die entfernteren Sterne
sehen wir jetzt, wie sie etwa zur Zeit der Entdeckung Amerikas aussahen. Das sind
gewiß gewaltige Zahlen, und erst im letzten Kapitel dieser Schrift werden wir Ge-
danken darüber äußern können, ob damit die Grenzen des sichtbaren Weltalls gegeben
sind. Was wollen aber erst die Millionen von Sternen in dem ungeheuren Räume
bedeuten, den sie einnehmen? Machen wir die gewiß nicht übertriebene Annahme,
alle Sterne des Weltalls seien durchschnittlich so weit voneinander entfernt wie der
nächste Stern von uns, setzen wir ferner voraus, die Fixsterne hätten dieselbe Masse
wie unsere Sonne — es möge hier eingeschaltet werden, was wir in einem weiteren
Kapitel genauer kennen lernen werden, daß die Fixsterne nichts anderes als Sonnen
sind —, und sie seien von ähnlichen Planetensystemen umgeben wie unsere Sonne,
so können wir leicht die folgende Rechnung anstellen: Unser Sonnensystem reicht
dann bis zur Hälfte der Entfernung bis zum nächsten Fixstern, d. h. 3500mal weiter
als die Neptunsbahn, bis zu welcher Grenze wir bisher das Sonnensystem gerechnet
hatten. Um nun die mittlere Dichtigkeit des Weltalls zu finden, müssen wir daher
die Gesamtmasse des Systems verteilen auf eiue 3500mal größere Kugel, d. h. auf
einen 3500^mal größeren Inhalt, und in dem gleichen Verhältnis wird die Dichtig-
keit des Weltalls geringer als die des Sonnensystems, das ist noch 43 000 Millionenmal
dünner. Ich will dieser Zahl nichts weiteres hinzufügen; zu begreifen ist sie nicht,
und sie lehrt nur, daß im Verhältnis zun: Räume die Materie verschwindend gering
ist, unverständlich für Wesen, welche wie wir aus höchst konzentrierter Materie bestehen
und an dieselbe durch alle Funktionen gebunden sind.
22
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Es erübrigt noch, auf einen anderen Faktor einzugehen, der neben der räumlichen
Ausdehnung das Verständnis des Weltalls beherrscht, auf jenes kaum definierbare
Etwas, welches wir die Zeit nennen. Das All ist nicht bloß unendlich iu bezug auf
den Raum, es ist auch unendlich in bezug auf die Zeit, d. h. es bestand von Ewigkeit
her und wird in Ewigkeit bestehen.
Große Zeiträume zu erfassen ist viel schwieriger als große Entfernungen. Wir
sehen die Jahre unseres Lebens dahinrollen; aber ein rechtes Verständnis für die Zeit,
während welcher wir bereits mit Bewußtsein gelebt haben, ist nicht vorhanden, da die
Ereignisse, aus deren Aufeinanderfolge sich der Begriff der Zeit ergibt, um so mehr
aus dem Gedächtnis schwinden, je unbedeutender sie sind, und je weiter sie zurück-
liegen. Die Jahre der Kindheit schrumpfen daher im mittleren Alter für das Gefühl
außerordentlich zusammen, und deshalb fehlt uns bereits das richtige Zeitgefühl für
die selbst erlebte Zeit. Wie können wir da verstehen, daß wie wir später sehen werden,
in der Entwicklungsgeschichte eines Fixsterns die Jahrmillionen dieselbe Rolle spielen
wie in unserem Leben die Tage oder Monate? Es gibt wohl auch kaum ein Mittel,
die Zeitvorstellnng zu verbessern; denn wo die Möglichkeit der Erfahrung ausge-
schlössen ist, da kann von einer Vorstellung eben keine Möglichkeit sein.
Diese Schwierigkeit erkennt man auch sehr deutlich dariu, daß, wenigstens meiner
Erfahrung nach, von den Laien die Frage nach einer Erklärung, was die Ewigkeit
sei, viel häufiger gestellt wird als die nach der räumlichen Unendlichkeit.
Diese Frage ist, wie jede dieser Art, bekanntlich nicht zu beantworten; aber
ein berühmter Astronom, der wohl sehr häufig mit derselben geplagt worden ist, hat
es doch verstanden, eine sehr gute Antwort auf dieselbe zu geben, und zwar folgender-
maßen: Stellen Sie sich die Entfernung von hier bis zum nächsten Fixstern, 3^ Licht-
jähre, vor, und denken Sie sich einen Würfel, dessen Kantenlänge gleich dieser Ent-
fernuug ist. Dieser Würfel fei mit Tinte gefüllt, und mit dieser Tinte schreiben Sie
ans einen Papierstreifen eine Zahl hin, bis alle Tinte verschrieben ist. Wenn Sie dann
mit dieser Zahl die Zahl der Jahre bezeichnen, dann haben Sie — noch immer keine
Ahnung vou der Ewigkeit.
2. Über Bergformen.
23
2. Über Bergformen.
Von Prof. vr. Albrecht Penck. (Berlin 1895, Hermann Paetel.)
Unendliche Mannigfaltigkeit beherrscht die Gestaltung der Berge und Felsen.
Kaum je kehren genau dieselben Formen auf der Erdoberfläche zweimal wieder,
kein Berg gleicht genau seinem Nachbarn. Wohl gemahnt das Profil irgendeines
Gipfels gelegentlich an das eines anderen; aber gewöhnlich braucht man nur den
Standort zu wechseln, um ganz veränderte Umrisse gewahr zu werden. Die Sprache
vermag die Fülle einzelner Berggestalten nicht entsprechend wiederzugeben; bald
ist der Vorrat an Vergleichen mit geometrischen Körpern, wie mit Pyramiden und
Kegeln, oder mit Gebilden der Baukunst, mit Türmen, Wänden und Mauern er-
schöpft, und man muß sich dabei doch immer gesteheu, daß deu Bergen gerade das
fehlt, was geometrischen Körpern und Gebäuden eigen ist, nämlich die Regelmäßig-
feit der Anordnung und die Symmetrie des Aufbaues. Welch gewaltiger Unter-
schied in der Gestalt liegt doch zwischen der „kühnen Bergpyramide" eines Matter-
Horns und der eines Venedigers!
Wo die Sprache nicht ausreicht, tritt die Zeichnung in ihr Recht. Der jüngsten
Zeit sind mehrfache Versuche zu danken, durch bildliche Wiedergabe die Gestalten-
fülle eines einzigen Gebietes zu veranschaulichen. Aber in bloßen Bilderwerken
wird man schwer zur Auffindung von Gesichtspunkten gelangen, die zu einem tieferen
Verständnis der Bergformen führen. Hier muß die Beobachtung in der Natur ein-
setzen. Mau muß die Kräfte, welche die Erdoberfläche umgestalten, in ihrer Wirk-
samkeit verfolgen, man muß die Form des Berges mit seinen: Schichtbau vergleichen
— dann erst gewinnt man nicht bloß einen Einblick in die Entstehung der Erhebungen,
sondern erlangt auch zugleich eine Art natürlicher Klassifikation derselben. Dieser
naturgemäße Weg der Betrachtung ist verhältnismäßig spät betreten worden. Lange
Zeit hielt man die Berge gleich der gesamten Erdoberfläche ausschließlich für das
Werk gewaltiger Katastrophen, durch welche die Regelmäßigkeit des Aufbaus der
Erdkruste gestört und einzelne Schollen derselben wild durcheinander gewürfelt worden
seien. Durch solch eine allgemeine Erklärung war die Forschung um so mehr gehemmt,
als ihr eine Reihe der hervorragendsten Geologen beipflichtete. Erst vor wenigen
Jahrzehnten erschloß die genaue Untersuchung der Gebirge, daß sich die eiuzelnen
Berge nicht mit den Massen decken, welche durch die Bewegung der Erdkruste ver-
schoben wurden, sondern daß sie lediglich Teile von solchen sind. Bei weitem die
meisten Berge stellen Überreste früher zusammenhängender Erhebungen dar; sie
sind ans denselben herausgearbeitet.
Nicht bloß das Verhältnis zwischen Struktur und Oberfläche lehrt, daß die Berge
größtenteils ausgearbeitete oder Skulpturformen sind; auch der Verfolg der an der
Erdoberfläche wirkenden Kräfte vergewissert uns davon. In den letzten Jahren
hat man mehrfach Verschiebungen der Erdkruste durch Erdbeben wahrgenommen,
also Vorgänge, welche, entsprechend älteren Anschauungen, Berge oder Gebirge
bilden sollten. So wurde gelegentlich des Erdbebens vom 23. Januar 1855 ein 145 km
langer Streifen Landes auf der Nordinsel Neuseelands gehoben; es entstand ein ebenso
langer, höchstens 2,7 m hoher Abbruch, also kein ringsum abfallender Berg. Gleiches
geschah auf der Südinsel Neuseelands am 1. September 1888. Das große Erdbeben
von Japan am 22. Oktober 1891 war ebenfalls von der Erhebung eines Steilrandes,
24
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
nirgends aber von der Bildnng'eines Berges begleitet. Erst kürzlich hat sich beim
Erdbeben von Enböa Ende April 1894 wieder ein 55 Km langer Abbruch von 1 m
Höhe gebildet. Bei ruckweisen Erhebungen des Landes werden stets größere zusammen-
hängende Partien bewegt. Ties gilt auch von den allmählichen Verlegungen der
Erdkruste, wie eine solche heute in Schweden erfolgt.
Unzweifelhaft dagegen werden Berge durch vulkanif che Kräfte gebildet, wenn
auch nicht in der Weife, daß, wie man lange anzunehmen geneigt war, die Lava in
die Erdkruste eindrang und diese bnckelsörmig aufwölbte. Ist zwar heute ncich der
Untersuchung der Henry Mountains auf dem Coloradoplateau durch Groove Karl
Gilbert nicht daran zu zweifeln, daß solche Vorgänge wirklich eingetreten sind, so ist
doch höchst unwahrscheinlich, daß dabei jähe Erhebungen der Erdoberfläche, die man
als Berge bezeichnen würde, entstanden. Vielmehr dürfte sich die Injektion einer
knchenförmigen Lavamasse in die Kruste, nämlich die Bildung eines Lakkolithen,
oberflächlich nur durch Aufwölbung einer flachen Bodenschwelle geltend machen.
Die Berge, welche unmittelbar der vulkanischen Tätigkeit ihr Dasein danken, sind
durch dieselbe ausgeschüttet worden, indem sich die aus der Tiefe geförderteu Mate-
rialien rings um den Eruptionsschlund anhäuften.
Sind die letzteren lose, bestehen sie aus Aschen, Sanden uud Schlacken, so gleicht
der Vulkanberg einer Ausschüttung von Sand, welche uuter eiuem Wiukel vou höch-
stens 30° von der Spitze aus abfällt, dann sich mehr uud mehr verflacht. Die Kontur
eiues derartigen Vulkans stellt eine sanft abwärts geschwungene Kurve dar, welche
in solcher Regelmäßigkeit verläuft, daß man sie mit einer bestimmten mathematischen,
nämlich einer logarithmischen, verglich. Man kennt sie von den zahlreichen Darstel-
lnngen der japanischen Kunst, welche immer wieder die Umrisse des Fujiyama dar-
zustellen liebt. Sie ist bezeichnend für die Gestaltverhältnisse eines aus losen Mate-
rialien ausgeschütteten Vulkans. Da dieselben in der Regel leicht zu Tuffen ver-
backen, so spricht man meist von einem Tuffvulkan. Liefern Vulkaue vornehmlich
Laven, so bilden dieselben rings um den Eruptionsschlot flach abfallende Ströme
und Decken, so daß eine flach gewölbte Kuppel mit durchaus aufwärts gekrümmten
Konturen entsteht, wofür die Insel Hawaii ein treffliches Beispiel ist. Höchst selten
endlich sind ringsum steil abfallende Quellkuppen von Lava.
Große Vulkane machen einen äußerst imposanten Eindruck. Wie stattlich erhebt
sich schon der Vesuv über Neapel, und doch ist er nur ein Zwerg unter den großen
Vulkankegeln. Welchen großartigen Anblick gewährt der Ätna über Taormina; wie
gewaltig entsteigt der Pico de Teyde der Insel Tenerise den Fluten. In allen diesen
und den meisten anderen Fällen wirken die Vulkane mehr durch ihre Massen als durch
die Kühnheit ihrer Formen oder die Steilheit ihrer Abfälle. Man wird sich dessen
häufig nicht inne; um Vulkanberge in ihrer manchmal überwältigenden Wirkung
bildlich wiederzugeben, übertreibt der Stift leicht die Steilheit der Vulkankonturen,
wie denn überhaupt namentlich Maler gern geneigt sind, Erhebungen, welche durch
ihre Höhe und Breite zugleich das Auge des Beschauers fesseln, übermäßig steil zu
zeichnen. Wie oft wird doch der Vesuv mit Böschungen von 45° wiedergegeben,
während sein mittlerer Abfall nach Messungen nur 14° beträgt. Selbst ein Humboldt
hat die Vulkane mit übermäßiger Steilheit dargestellt; seine „Umrisse von Vulkanen"
haben durch die Ansichten des Eotopaxi wesentlich dazu beigetragen, daß mcm die
Vulkaue als förmliche Schornsteine auffaßte. Die von Reiß und St übel veröffeut-
lichten „Skizzen aus Ecuador" haben seither eines Besseren belehrt. Pllimp sitzt der
Ehimborazo (6254 rn) auf dem fast 4000 m tiefer liegenden Hochlande von Quito
2. Über Bergformen,
25
auf, weit eher einer niedrigen Glocke gleichend, denn einer Bergpyramide. Gleiches
gilt von allen seinen Nachbarn, gilt von den mexikanischen Vulkanen, sowie auch
vom Hauptgipfel des Kilimandscharo, dem 6010 in hohen Kibo. Hans Meyer hat
von demselben in seinen ostafrikanischen Gletscherfahrten vortreffliche naturgetreue
Ansichten gegeben.
Höchst eigenartig ist der große landschaftliche Gegensatz zwischen dem Kibo und
seinem Nachbarn, dem Mawensi. Steigt jener in ruhigen Formen auf, so ist dieser
zerrissen von zahlreichen Schluchten, zerschnitten in Zacken und Zinnen, ähnlich
einem Alpengipsel. Auch von diesem Gipfel ist Hans Meyer ein treffliches Bild zu
danken, während ein anderes den Berg nach dem Aquarell eines vorzüglichen Künstlers
wiedergibt, sichtlich überhöht wie so visle Bergansichten. Die Verschiedenheit zwischen
Kibo und Mawensi erklärt sich leicht. Sie verhalten sich wie zwei Generationen zu-
einander. Jugendfrisch erhebt sich der Kibo, gealtert der Mawensi; jener dankt seine
Gestalt ausschließlich der vulkanischen Ausschüttung, dieser seine Zerrissenheit den
Gewässern, die an ihm nagten. Wie ein Marmorblock uud eiu aus einem solchen
gefertigtes Bildwerk liegen beide Berge nebeneinander; sie veranschaulichen die ver-
schiedene Wirkungsart der beiden Gruppen von Kräften, welche die Erdoberfläche
ausgestalten. Bezeichnet man die auf Veränderungen in der Tiefe beruhenden
Krustenbewegungen und vulkanischen Erscheinungen als endogene Vorgänge, die an
der Erdoberfläche wirkenden Kräfte hingegen als exogene, so muß der Kibo als Werk
endogener, der Mawensi als das endogener und exogener Ursachen bezeichnet werden.
Jene bauteu den Block, diese arbeiteten die Skulptur an ihm heraus.
Von der Wirksamkeit der Flüsse (bei der Herausbildung von Bergformen)
kann man sich nirgends besser überzeugen als in den Klammen der Alpen. Oft nur
1—2 m breit, sind sie häufig 30—40 m tief eingefurcht; an ihren Wandungen sieht
man die Kessel, welche das wirbelnde Wasser ausdrechselte. Die Schlucht, welche die
Aare oberhalb Meningen durchbricht, und in welcher der weiter aufwärts 10—20 m
breite Fluß stellenweise auf 1 in zusammengepreßt wird, ist ein prächtiges Beispiel
für einen solchen Einschnitt des Wassers. Ihr gewundener Verlauf, ihre über-
hängenden, ausgewaschenen Wandungen lassen keinen Zweifel darüber, daß ein
solcher und nicht etwa eine klaffende Spalte der Erde vorliegt. Wie rasch unter Uni-
ständen die Bildung solcher Flußeinschnitte vonstatten geht, hat Eduard Brückner
in einem Aufsatze über die Geschwindigkeit der Gebirgsbildnng und der Gebirgs-
abtraguug gezeigt. Die Kauder im Berner Oberlande, welche 1714 geradegelegt,
d. h. direkt in den Thuner See geleitet wurde, hat ihr Bett binnen 180 Jahren
ans einer 10 km langen Strecke bis zu 90 in vertieft. So schnell arbeiten die Flüsse,
daß man die Anstiesung und Erweiterung ihres neuen Laufes der Aare selbst über-
lassen konnte, nachdem man ihr den Weg in den Bieler See gebahnt hatte.
Der durch die Flüsse gebildete steilrandige Einschnitt verwandelt sich nach uud
uach in ein breiteres Tal. Dazu tragen in erster Linie die Bewegungen bei, welche
sich an den Wandungen je nach der Beschaffenheit des zerschnittenen Gesteines ver-
schiedenartig entfalten. Sehr feste, kompakte Felsen bröckeln allmählich und langsam
ab; an ihnen bestehen, wie in den Klammen der Alpen, die rundlichen Abwaschsormen
noch lange fort, bis sie durch die eckigen Abbröckelungsformen ersetzt werden, oder aber
sie brechen in Form von Bergstürzen nieder. Lose Materialien geraten ins Rutscheu,
so daß die Erweiterimg rasch, wie in der Kanderschlncht, geschieht; letztere zeigt gegen-
26
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
über den Klammen, an denen das Wasser seit Jahrtausenden arbeitet, eine so statt-
liche Breite, weil sie in lockeren Moränenschutt eingeschnitten ist. Rutschungen
endlich finden in sehr ausgedehntem Umsang auch auf Gebirgen statt und tragen dazu
bei, sie mehr und mehr abzubuchen.
Neben allen diesen Massenbewegungen hilft das abrieselnde Regenwasser
die steilen Einschnitte der Flüsse abböschen. Es setzt alle die feinerdigen, bei der Ver-
Witterung entstandenen Bestandteile in Bewegung und spült sie zum Flusse hinab;
hat es den Felsen bloßgelegt, so wird dieser von neuem von der Verwitterung gelockert.
„Kein Tropfen Regen rinnt einen Zoll weit auf der Erdoberfläche", so schreibt Green-
wood im achten Kapitel seines Werkes „Regen und Flüsse", „ohne, so weit als er
auf seinem Wege zum Meere wandert, einige'Bodenteilchen zu bewegen, und diese
kehren nicht zurück. Rückfahrkarten werden nicht ausgegeben. Die Teilchen werden nur
gelegentlich warten, und mit dem nächsten Regen (the-nex-t-rain!1) weitergehen ... .
Der Erdboden ist in fortwährender Bildung auf der ganzen Erdoberfläche begriffen,
und von der gesamten Erdoberfläche ist er in fortwährender Bewegung zum See-
boden, dank dem Abwaschen durch den Regen." So entfaltet sich, wie Greenwood
weiter darlegte, die Denudation durch das abrinnende Regenwasser flächenhaft,
und diese Wirksamkeit beschränkt sich nicht bloß auf die Wandungen eines Flußeiu-
fchuittes, sondern erstreckt sich über die ganze Fläche zwischen Fluß uud Wasserscheide.
Allenthalben sind hier gleichsam trockene Flußbetten vorhanden; jeder Punkt erfährt
hier eine Abtragung, die im Laufe der Zeiten zu einer sehr stattlichen Größe anwachsen
kann. Das wußten schon die Gelehrten des vorigen Jahrhunderts. Aber dann
kamen die Zweifel: man hielt das abrinnende Regenwasser für zu unbedeutend, um
große Wirkungen zu entfalten; man vergaß dabei, daß es sich um recht beträchtliche
arbeitende Massen handelt. Man hat sich z. B. nie vor Augen gehalten, daß im
letzten Jahrtausend von jedem Flecklein des Deutschen Reiches die Gesamtheit des
abgelaufenen Wassers eine Säule von mindestens 250 in Höhe bilden würde. Es
ist undenkbar, daß dies wirkungslos geschehen sei. Sicherlich hätte zwar jene gesamte
Wassermasse, wenn sie mit einem Male abgelaufen wäre, viel mehr geleistet als
die abrieselnden Wässer von etwa 100 000 einzelnen Regengüssen, vor deren Wirkung
der Boden vielfach durch seine Pflanzendecke geschützt war; aber es ist zu beachten,
daß zwischen den einzelnen Regengüssen sich die Verwitterung zu entfalten vermochte.
Es wechselten im letzten Jahrtausend rund 100 000 mal aus deutschem Boden die
Wirkungen der Verwitterung und jene der Abspnlnng; was erstere lockerte, ergrisf
alsbald letztere: es wurde der losgelöste Staub immer wieder abgewaschen. Es
wandem nach sorgfältiger Berechnung jährlich etwa 10 cbkm Gesteins in den Flüssen
zum Meere, und das zum Ozeane entwässerte Land wird in rund 10 000 Jahren
um 1 in abgetragen.
Mit Recht schrieb daher Greenwood aufs neue dem Regenwasser einen großen
Anteil an der Ausgestaltung des Landes, und zwar im Vereine mit den Flüssen die
Bildung der Berge zu. Zerschneiden die Flüsse allein schon die massigen aufgebauten
Formen in einzelne Stücke, die man als Berge bezeichnet, so nagt an der gesamten
benetzten Landoberfläche das abspülende Regenwasser mehr oder weniger, je nach
dem Widerstande, den es trifft, so daß schließlich die festen Gesteine Aufragungen,
die leicht zerstörbaren tiefer gelegene Flächen bilden. Wie dies erfolgt, lassen die oft
abgebildeten Erdpyramiden Südtirols deutlich erkennen. Die dortigen Moränen
1 Man beachte das Wortspiel: nextrain (nächste Regen) bzw. next train (nächste Zug).
2. Uber Bergformen.
27
werden von den heftigen Herbstregen kräftig abgewaschen. Der feine Schlamm
wird entfernt, die Blöcke bleiben liegen; letztere schützen ihre Unterlage vor weiteren
Angriffen des Regens, und diese selbst wird wie ein Pfeiler unter ihnen erhalten,
während ringsum der Moränenschlamm weggespült wird. Nach dem Grundplane
der Erdpyramiden sind große Teile der Landobersläche gestaltet. Es wird in ihnen
die Verteilung von hoch und niedrig lediglich nach der Verteilung mehr oder weniger
widerstandsfähiger Gesteine geregelt, während in anderen Gebieten die Strecken,
welche von Flüssen ausgesucht wurden, zu Tälern vertieft sind, das dazwischen gelegene
Land aber als Berge stehen blieb. Sohin gibt es zwei extreme Typen der ausge-
arbeiteten Berge: die einen sind durch die Flüsse aus großen Krustenteilen heraus-
geschnitten, die anderen durch die Abspüluug aus leichter zerstörbarer Umgebung
herausgenagt. Beide Typen von Bergen kommen gesondert vor, die heraus-
geschnittenen sind weniger als die heransgenagten; gemeinsam ist beiden, daß ihre
Böschungen insgesamt einem großen Systeme von Abdachungen angehören.
Mannigfaltig sind die Kräfte, welche die Landoberfläche umgestalten; viele
von ihnen schaffen Erhebungen, aber nicht jede derselben macht den Eindruck des
Berges. Was die Kritsteubewegung aufbaut, gleicht großen ungeteilten Blöcken;
die Verteilung von hoch uud niedrig ist ihr Werk, nicht aber die Gestaltensülle der
Berge. Was an Bergen und Felsen gefällt, das sind im allgemeinen nicht die auf-
gebauten und aufgesetzten Formen der Landobersläche, das sind die Ruinen von
solchen.
28
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
3. Das tropische Klima.
Von Alfred R. Wallace. („Die Tropenwelt nebst Abhandlungen
verwandten Inhaltes". Braunschweig 1879, Vieweg & Sohn.)
Es ist für einen Bewohner der gemäßigteil Zone schwierig, sich einerseits in die
unvermittelten, gewaltigen Kontraste der arktischen Landschaften, andererseits in
die wunderbare Gleichförmigkeit des Tropenklimas zu versetzen. Das Längen und
Kürzen der Tage, der stete Wechsel von Frühjahr, Sommer und Herbst mit ihren
verschiedenen Farben und vom kahlen, farblosen Winter — alle diese Erscheinungen
sind für uus zur Lebensbedingung geworden und stellen den regelmäßigen Kreislauf
der Zeiten dar. Am Äquator findet sich nichts derart, vielmehr herrscht dort ein
ewiger Sommer, eine ewige Tag- uud Nachtgleiche; und wäre nicht die Regenmenge,
die Richtung und Stärke der Winde, die Dauer des schönen Wetters und des Sonnen-
scheins einem gewissen Wechsel unterworfen und dementsprechend auch das Pflanz-
liche und tierische Leben geringen Abänderungen ausgesetzt, so würde jene Gleich-
förmigkeit des Klimas in die äußerste Eintönigkeit ausarten.
Im vorliegenden Kapitel sollen nun die wesentlichsten Eigentümlichkeiten der
heißen Zone beschrieben und die Ursachen ihres Unterschiedes von der gemäßigten
Zone auseinandergesetzt werden — Ursachen, welche keineswegs so einfacher Art
sind, als man gewöhnlich glaubt.
Die drei großen klimatischen Abteilungen der Erde, die heiße, gemäßigte und
kalte Zone, lassen sich kurz als die der gleichmäßigen, der wechselnden und der sich in
extremen Gegensätzen bewegenden physikalischen Verhältnisse bezeichnen. In erster
Instanz hängen sie von der schiefen Stellung der Erdachse gegen die Ebene der Erd-
bahn ab; die Folge davon ist, daß während der Hälfte der Umlaufszeit der Erde um
die Sonne der Nordpol, während der anderen Hälfte der Südpol in einem beträcht-
lichen Winkel unserer Licht- uud Wärmequelle zugekehrt ist. Diese Neigung der Achse,
um welche die Erde sich selbst dreht, wird in der Regel durch den Winkel bestimmt,
den der Äquator mit der Erdbahn oder Ekliptik macht; er heißt die Schiefe der
Ekliptik. Die Größe dieses Winkels ist 23-|°; ebenso groß ist die Ausdehnung der
heißen Zoue oder der Tropen beiderseits vom Äquator, indem innerhalb dieses Erd-
gürtels die Sonne über jedem Punkte zweimal im Jahre senkrecht steht, auf der
Grenzlinie einmal im Jahre. Außerhalb dieser Grenze kann sie dagegen niemals
senkrecht auf die Erde scheinen. Es ist jedoch leicht einzusehen, daß die beiden Linien,
welche die geographische Grenze des Tropengürtels bezeichnen, durchaus keinen
plötzlichen klimatischen Gegensatz bedingen, wie ihn die heiße und gemäßigte Zone
in ihrer charakteristischen Ausbildung zeigen. Es findet vielmehr ein allmählicher
Übergang der einen zur anderen statt, und um sie jede für sich kennen zu lernen und
ihre Eigentümlichkeiten vergleichen zu können, müssen wir uns auf die Teile derselben
beschränken, in denen sie diese Eigenschaften in vollster Entwicklung zeigeu. Als Belege
für die gemäßigte Zone lassen sich die Länder zwischen dem 35. und 60. Breiten-
grade, für Europa also etwa zwischen Algier und Ehristiania, benutzen; die südlicheren
Gegenden bilden dagegen eine Art Ubergangszone, in welcher die Charaktere des
gemäßigten und heißen Klimas gemischt sind. Für das Studium der Tropenwelt
ist es andererseits geraten, unser Augenmerk hauptsächlich anf den Teil der Erde zu
richten, der sich ungefähr 12° nord- und südwärts vom Äquator erstreckt, in dem alle
3 Das tropische Klima.
29
wichtigen Erscheinungen der Tropen am auffallendsten hervortreten, und die wir
deshalb als „Äquatorialzone" unterscheiden können. In dem zweifelhaften Zwischen-
reiche zwischen den beiden ausgeprägten klimatischen Gürteln haben örtliche Ursachen
oft einen überwiegenden Einfluß, und es würde nicht schwierig sein, innerhalb
der gemäßigten Zone Punkte anzugeben, welche die Charaktere der Tropenwelt
in höherem Grade aufweisen als andere Orte, die ihrer geographischen Lage nach
zur heißen Zone gehören.
Temperatur der Äquatorialzone. — Der auffallendste und zugleich wich-
tigste Zug in der Physiognomie des Äquatorialgürtels ist die außerordentliche Gleich-
förmigkeit der Temperatur durch allen Wechsel von Tag und Nacht und durch alle
Jahreszeiten hindurch. In der Regel steigt die Hitze am Tage nicht über 32 bis
33° C, während das Thermometer zur Nachtzeit selten unter 23 bis 231° C füllt.
Stündliche Beobachtungen, welche drei Jahre hindurch auf der meteorologischen
Station der holländischen Regierung in Batavia angestellt sind, haben ergeben, daß
die Temperaturunterschiede überhaupt nur 15° C betrugen; das Maximum war 35°
und das Minimum 20° G. Diese Differenzen sind jedoch natürlicherweise viel be-
trächtlicher als die gewöhnlichen täglichen Schwankungen; diese betragen im Mittel
nicht viel über 6° C, nämlich im September, wo sie am größten sind, 7°, im Januar,
wo sie am kleinsten sind, nur 4|°.
Batavia, zwischen 6 und 7° südlicher Breite belegen, kann als gutes Beispiel
äquatorialen Klimas angesehen werden, obwohl man infolge feines Jnfnlarklimas
etwas geringere Schwankungen erwarten könnte als an Orten mit Kontinental-
klima. Beobachtungen in Para, dem entschieden eine kontinentale Lage, sehr nahe
dem Äquator, zukommt, stimmen indessen sast vollständig mit den obigen überein;
und so ist man berechtigt, die mit besonderer Sorgfalt und mit Hilfe der besten
Instrumente zu Batavia angestellten Temperaturmessungen als maßgebend an-
zuseheu.
Ursachen der gleichmäßig hohen Temperatur in der Nähe des
Äquators. — Es ist eiue gewöhnliche Annahme, daß die gleichförmig hohe Tem-
peratnr der Tropen durch den höheren Stand der Sonne um Mittag genügend er-
klärt ist. Ein wenig Nachdenken zeigt jedoch, daß diese Erklärung keineswegs aus-
reicht. Die Insel Java erstreckt sich von 61 bis 8|° Südbreite, und im Juni ist der
höchste Stand der Sonne nur 58 bis 60°. Im uämlichen Monate ist die Sonnenhöhe
um Mittagszeit zu London — auf 52|° Nordbreite — 61°. Zu diesem Unterschiede,
der schon zugunsten Londons spricht, kommt nun noch der hinzu, daß auf Java der
Tag im Juni nur 11-| Stunden lang ist, während er um dieselbe Zeit in London
16 Stunden dauert. Der Totalbetrag von Wärme, welchen die Sonne ausstrahlt,
muß daher um die betreffende Zeit in London viel größer sein als in Batavia. Und
dennoch beträgt das Mittel der Tages- und Nachttemperatur für jenen Monat zu
London nur etwa 15°, in Batavia über 26°, das Tagesmaximum dort 20°, hier
nahezu 32°.
Auch hängt die Temperatur an einem und demselben Orte keineswegs nur vom
Stande der Sonne ab; in Batavia z. B. steht die Sonne um Mittagszeit nahezu
senkrecht von Oktober bis Februar, und dennoch sind diese Monate bei weitem nicht
die wärmsten. Dies sind vielmehr der Mai, Juni und September, während der
Dezember, Januar und Februar, in welchen die Sonne nahezu den höchsten Stand
hat, gerade die kältesten Monate sind. Daraus ergibt sich, daß ein Unterschied von
30° in der Höhe des Sonnenstandes nm Mittag unweit des Äquators durchaus keinen
30
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
ersichtlichen Einfluß auf die Temperatur hat, und wir müssen annehmen, daß ander-
weite Einflüsse wohl imstande sind, die unleugbare Wirkung des höheren Sonnen-
standes aufzuheben.
Ein fernerer großer Unterschied zwischen der gemäßigten und heißen Zone
besteht in der direkten wärmenden Kraft der Sonnenstrahlen unabhängig von der
Sonnenhöhe. In unseren Breiten behelligt uns die Mittagssonne im Juni nur
selten durch Erhitzen der Haut; in den Tropen dagegen wird fast zu jeder Stunde
des Tages, bei einer Sonnenhöhe von 40 bis 50°, die Haut eiues Europäers, wenn
sie nur wenige Minuten den Sonnenstrahlen ausgesetzt ist, rot, schmerzhaft, oft mit
Brandblasen bedeckt und schält sich danach ab. Fast jeder Reisende in Tropeugegen-
den leidet unter den Folgen unvorsichtiger Entblößung des Halses, der Gliedmaßen usw.
bei Sonuenschein, der dort eine ebenso unerwartete wie für den ersten Augenblick
unerklärliche, von gar keiner außergewöhnlichen Zuuahme der Luftwärme begleitete
Kraft besitzt.
Diese ganz verschiedene Wirkuug einer und derselben Menge von Sonnenwärme,
die der Erde in verschiedenen Breiten zugeführt wird, hat vielerlei Ursachen. Die
wichtigsten derselben sind wohl die gleichförmig hohe Temperatur des Bodens und
der oberflächlichen Schichten des Meeres, — die große Menge von Wasserdampf in
der Luft, — die große Ausdehnung der Tropengegend, in welcher die Luftströmungen,
die den Äquator erreichen, beständig erwärmt werden, — endlich die latente Wärme,
welche bei der Bildung von Tau und Regen frei wird. Wir wollen kurz die Art und
Weise in Betracht ziehen, in welcher jede dieser Ursachen zu der Höhe uud Gleich-
förmigkeit der Temperatur des Äquatorialgürtels beiträgt.
Einfluß der Wärme des Bodens. — Es ist allgemein bekannt, daß schon
in geringer Tiefe der Erdboden eine gleichförmige Temperatur während des Tages-
lanfes beibehält, daß in etwas größerer Tiefe auch die Jahresschwankungen sich ver-
lieren, und eine gleichmäßige Temperatur, fast genau der mittleren Wärme des Ortes
gleich, sich das ganze Jahr hindurch behauptet. Je größer die Schwankungen, desto
größer diese Tiefe; daher ist sie in der Nähe vom Äqnator am geringsten und inner-
halb des Polarkreises, wo die größten Unterschiede zwischen Sommer und Winter
obwalten, am beträchtlichsten. Am Äquator, wo die Jahresdifferenzen so gering
sind, wie es z. B. für Batavia ermittelt ist, erreicht man die konstante mittlere Tem-
peratnr von etwa 26° C schon bei 4 bis 5 Fuß Tiefe. Der Mehrbetrag von Wärme,
den der Boden während des Tages erhält, wird daher sehr langsam in die Tiefe ge-
leitet; die Oberfläche wird stark überhitzt und gibt einen großen Teil ihrer Wärme
zur Nachtzeit wieder aus. So erhält sich die hohe Temperatur der Luft zu der Zeit,
wo keine Erwärmung durch die Sonne stattfindet. In der gemäßigten Zone liegt
die gleichmäßig warme Erdschicht tief, in Genf z. B. mindestens 30 bis 40 Fuß, in
England und Norddeutschland wohl 50 bis 60 Fuß. Die Temperatur in dieser Tiefe
ist ferner um etwa 20° niedriger als am Äquator. Die große Masse kühlen Erdreichs
absorbiert einen bedeutenden Teil der sommerlichen Wärme und leitet dieselbe ver-
hältnismäßig rasch nach abwärts, uud erst spät im Jahre — im Juli uud August —
habeu die oberen Bodenschichten genug überschüssige Wärme angehäuft, um zur
Nachtzeit eiue Wärmeausstrahlung zu veranlassen, die in Abwesenheit der Sonne
eine höhere Temperatur der Lust erhält. Diese Ausstrahlung findet am Äquator
jahraus, jahreiu statt, und so wird die Erdwärme zu einer der bedeutendsten Ursachen
der gleichförmig hohen Temperatur.
3. Das tropische Klima.
Einfluß des Wasserdunstes der Atmosphäre. — Der Wasserdampf, der
stets in namhafter Menge in der Luft sich befindet, steht in einer engen und sehr be-
merkenswerten Beziehung zu der Sonnen- und Erdwärme. Die Sonnenstrahlen
gehen unbehindert durch ihn hindurch; aber die Wärme, welche die erhitzte Erde wieder
abgibt, wird in sehr hohem Grade von ihm festgehalten. Auf diese Weise wird durch
ihn die Luftwärme vermehrt, uud da gerade die tieferen Luftschichten den meisten
Wasserdampf enthalten, so wirken sie wie eine schützende Decke der Erde und hindern
die Ausstrahlung der Erdwärme in den Weltraum. In der Äquatorialzone ist die
Luft während eines großen Teils des Jahres fast mit Wasserdampf gesättigt, so daß
trotz der hohen Wärme alles Salz und Zucker feucht wird und schmilzt und das Eisen
sich mit einem dicken Überzuge von Rost bedeckt. Wenn man völlige Sättigung mit
100 bezeichnet, so erreicht der Fenchtigkeitsgrad der Luft in Batavia im Maximum
die Ziffer 96 im Januar, 92 im September. Im Januar, dem feuchtesten Monate,
ist auch die Feuchtigkeit am beständigsten — sie wechselt von 77 bis 96 —, und zugleich
sind dann die Temperaturschwankungen am geringsten. Im September ist die
Feuchtigkeit größeren Schwankungen unterworfen — 62 bis 92 —, zugleich aber
auch die Temperatur, und die niedrigsten Thermometerstünde werden für diesen und
den vorhergehenden Monat angegeben. Es ist sehr zu beachten, daß in den feuchteren
insularen Ländern der gemäßigten Zone, wie z. B. England, die Feuchtigkeitsgrade
etwa so groß sind wie in Batavia. So hat man in Eliston 1853 bis 1862 einen mitt-
leren Feuchtigkeitsgrad von 92 für den Januar beobachtet, während in Batavia das
Monatsmittel in 4 Jahren nur 88 betrug; der niedrigste Monatsdurchschnitt war in
Elifton 79,1, in Batavia 78,9. Diese Zahlen, so wenig sie differieren, entsprechen
indessen einer außerordentlich verschiedenen Menge von Wasserdamps in jedem Knbik-
fuße Luft. Im Januar herrscht in Elifton eine Temperatur von 2 bis 5° C, und
daher beträgt die Wassermenge beim Sättigungspunkte nur 4 bis 4|- Gran auf
den Knbiksnßi, während in Batavia, bei 26 bis 33° C, 20 Gran in einem Kubikfuße^
enthalten sein würden. Sehr wichtig ist es dabei, daß das Vermögen der Luft, Wasser-
dampf aufzunehmen, rascher zunimmt als die Temperatur. Eine Abnahme der
Wärme von 10 auf 5° 0 kondensiert nur Grau Wasser pro Kubiksuß, während
ein Sinken der Temperatur von 32 auf 27° 6^ Gran in tropfbaren Zustand über-
führt. So wird es erklärlich, wie die ganz geringe Abkühlung während der Tropen-
nächte eine weit größere Menge von Tau und fühlbarer Feuchtigkeit der Luft ver-
anlaßt, als man jemals bei den viel größeren Temperaturdifferenzen der gemäßigten
Zone beobachten kann. So bewahrt die große Menge Wasserdampf in der Luft eine
gedeihliche Wärme zur Nachtzeit, indem sie die Wärmeausstrahlung aus dem erhitzten
Boden hindert. Daß dem so ist, wird sehr augenfällig durch den Gegensatz bewiesen,
in den das nördliche Indien gegen den Äquator tritt. Dort ist das Maximum der
Temperatur bei Tage weit höher, als es jemals unter dem Äquator ist, und dennoch
sind infolge der großen Trockenheit der Luft die Nächte sehr kalt; die Ausstrahlung
ist oft so intensiv, daß Wasser in flachen Schalen eine Eiskruste bekommt.
Da der erwärmte Erdboden samt allem, was sich auf demselben befindet, sich
in feuchter Luft langsamer abkühlt als in trockener, so folgt auch, daß bei ganz gleicher
Richtung und Zeitdauer der Bestrahlung durch die Soune an zwei verschiedenen
1 9,3 bis 10,4 Gramm auf den Kubikmeter.
^ 47 Gramm in einem Kubikmeter.
32
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Orten doch die meßbare und fühlbare Wirkung derselben sehr ungleich ausfalleu
wird, je nachdem die Atmosphäre viel oder wenig Wasserdampf enthält. In ersterem
Falle wird die Wärme rascher eingesogen, als sie wieder ausstrahlen kann; in letzterem
geht sie durch Ausstrahlung in den Weltraum rascher verloren, als sie absorbiert werden
kann. In beiden Fällen muß sich Gleichgewicht herstellen; aber in dem einen wird
die mittlere Temperatur, welche das Resultat dieses Gleichgewichtszustandes ist,
erheblich höher sein als im anderen.
Einfluß der Winde auf die Temperatur der Äquatorialgegend. —
Der Abstand des nördlichen Wendekreises vom südlichen beträgt mehr als 700 Meilen,
die Flüche der heißen Zone mehr als ein Dritteil der ganzen Erdoberfläche. Es ist
daher unmöglich, daß irgendein Luftstrom den Äqnator erreicht, ohne zuvor durch
die Berührung mit dem Boden oder dem Meere oder durch die Mischung mit der
erwärmten Luftschicht in der Nähe der Erdoberfläche erwärmt zu sein. Diese Er-
wärmung wird noch erheblich verstärkt durch den Umstand, daß alle Winde, welche
von Nord oder Süd dem Äquator zuströmen, durch die Vermehrung der Drehge-
schwindigkeit der Erde am Äquator ihre Richtung zu ändem gezwungen werden und
denselben als Ostwinde erreichen; sie wehen also in schräger Richtung über die breite
erwärmte Erdzone. Die Ursachen, welche die westlichen Monsuns hervorbringen,
wirken ganz dementsprechend, so daß reine Nord- uud Südwinde von größerer Be-
deutung als etwa rein örtliche Land- und Seewinde am Äquator so gut wie ganz
unbekannt sind. Die Beobachtungen in Batavia ergaben, daß 10 Monate des Jahres
hindurch die Windrichtung im Mittel nur 5 bis 30° von der West- oder Ostrichtung
abweicht, und die so gerichteten Winde sind zugleich die stärksten. Während der
beiden übrigen Monate — März und Oktober — ist die herrschende Richtung der
Winde eine nördliche, doch sind dieselben sehr sanft und vermutlich nur örtliche See-
winde, welche in Batavia natürlicherweise Nordwinde sein müssen. Im allgemeinen
hat jeder Wind anl Äquator eine sehr große Fläche der heißen Erdzone in sehr schräger
Richtung passiert und muß daher uotgedruugeu warm sein. »'
In den gemüßigten Zonen sind dagegen die Winde stets kühl und wirken oft
selbst im Hochsommer in hohem Maße kältend. Einesteils kommen sie als Ostwinde
aus kälteren Gegenden, anderenteils als Westwinde aus höheren Luftschichten. Die
stete Zufuhr kalter Luft, welche auf diese Weise stattfindet, führt die Sonnenwärme
in Verbindung mit der raschen Ausstrahlung durch eiue trocknere Atmosphäre iu so
energischer Weise fort, daß sich das Gleichgewicht erst bei eiuem sehr niedrigen Thermo-
Meterstande herstellt. Im Äquatorialgürtel häuft sich im Gegenteile die Wärme
infolge des Maugels jeglicheu kühlereu Mediums, welches sie ableiten könnte, sehr
rasch an, und so vermag sie jenen sengenden Einfluß zu äußern, der aus der Höhe
der Sonne und aus dem Thermometerstande allein nicht zu erklären wäre. Kommt
aber ausnahmsweise einmal Kälte in der Nähe des Äquators vor, so ist sie fast jedes-
mal auf ungewöhnlich kalte Luftströmungen zurückzuführen. So fand ich einstmals
in der Nähe der Arn-Jnseln im Juni, daß ein heftiger Südostwind trotz schönen,
sonnigen Wetters die gewöhnlichen Wirkungen der Tropenhitze fast aufhob. Dieser
Wind kam in gerader Richtuug von der Südsee her, in welcher es damals Winter war,
und hatte nirgends durch Wehen über Landstrecken seine ungewöhnlich niedrige
Temperatur mit einer wärmeren vertauscht. Bat es berichtet, daß am oberen Ama-
zonenstrome im Mai regelmäßig ein Südwind wiederkehrt, welcher eine merkliche
Abkühlung der äquatorialen Wärme veranlaßt. Berücksichtigt man aber, daß infolge
der größeren Umdrehungsgeschwindigkeit am Äquator ein Wind, welcher dort als
3. Das tropische Klima.
33
Südwind anlangt, ursprünglich ein Südwestwind gewesen sein muß, so ist
jener kalte Wind von der hohen Kette der peruanischen Andes zu Beginn der
südlichen Winterzeit herzuleiten; er ist also ein kalter Gebirgswind, der aus seinem
Wege über ausgedehnte Wälder nicht die sonst herrschende Tropenhitze annehmen
konnte.
Ein Vergleich wird die Ursache des großen Unterschiedes zwischen dem aqua-
torialen und dem gemäßigten Klima selbst dann, wenn beide nahezu gleiche Mengen
von Sonnenwärme empsangen, noch klarer machen. Man denke sich zwei Wasser-
behälter, in deren jedes ein Rohr 5000 Liter Wasser täglich fördert; dies Zuströmen
findet jedoch nur bei Tage statt, bei Nacht ist das Rohr geschlossen. Beide Behälter
sind undicht; aber während der eine pro Tag 4500 Liter verliert, läßt der andere in
derselben Zeit 5500 Liter durchsickern, vorausgesetzt, daß beide genau zur Hälfte voll
uud danach gleichem Wasserdrucke ausgesetzt sind. Läßt man nun beide Behälter
sich aus den Röhren füllen, so wird der eine mehr Wasser empfangen, als er verliert,
und der Stand in demselben wird sich von Tag zu Tag erhöhen, bis der größere Wasser-
druck das Durchsickern in dem Maße vermehrt, daß Gleichgewicht eintritt; in dem an-
deren wird dagegen der Wasserstand sinken, bis der verminderte Druck auch das Durch-
sickern so sehr mäßigt, daß es dem Zustrom gleichkommt. Alsdann wird die Wasser-
menge in beiden Behältern sich gleich bleiben, im einen jedoch bei einem höheren,
im anderen bei einem tieferen Niveau. Dies gilt von dem mittleren Stande, während
bei Tage, also während des Zustromes, das Wasser in beiden Behältern steigen, bei
Nacht fallen muß. Ganz dasselbe gilt von dem großen Wärmereservoir der Erde.
Die Temperatur, welche au irgendeinem Punkte herrscht, hängt nicht bloß von der
empfangenen Wärmemenge ab, sondern vielmehr von dem Punkte, auf dem sich
Einnahme und Ausgabe ins Gleichgewicht setzen. So wird es erklärlich, daß Schott-
land im Hochsommer bei 57° Nordbreite ebensoviel Sonnenwärme empfängt wie
Angola oder Timor bei 10° Südbreite, und sogar täglich noch mehrere Stunden
länger, und dennoch eine erheblich geringere Temperatur hat — 15° C im Mittel
und 21 bis 24° im Maximum gegen 26 £° C im Mittel und 32 bis 35° im Maxi-
mum, welche jenen Tropenländern zukommen —; und auf die nämliche Weise
erklärt es sich auch, daß man in Schottland durchaus keine unangenehmen Folgen
davon hat, wenn man die Haut der direkten Sonnenhitze um Mittagszeit aussetzt,
während dies in Timor schon von 9 Uhr morgens an bis 3 Uhr nachmittags fast ebenso
sicher Brandblasen auf der Haut hervorrufen würde, als wenn man sie mit heißem
Wasser übergösse.
Vermehrung der Wärme durch Kondensation des Wasserdampfes. —
Eine fernere Ursache der Erhaltung der gleichförmigen Hitze unter dem Äquator im
Vergleich zu den starken Temperaturschwankungen der übrigen Zonen ist die große
Menge von Wärme, welche bei der Kondensation des Wasserdampfes der Luft in
Form von Regen und Tau frei wird. Infolge davon, daß die Atmosphäre der Tropen
sich sehr oft dem Sättigungspunkte nähert, und daß sie bei ihrer hohen Temperatur
eine große Masse von Damps sassen kann, ist schon ein ganz unerhebliches Sinken des
Thermometers von der Kondensation einer beträchtlichen absoluten Menge Wasser-
dampses begleitet; reichlicher Tau und heftige Regengüsse stellen sich bei hoher Tem-
peratnr und bei geringer Meereshöhe ein. Die Regentropfen wachsen rasch an
Umfang, da sie durch eiue mit Dampf gesättigte Atmosphäre fallen; und hierbei
sowie beim Tauen wird die latente Wärme des Wasserdampfes frei und hilft die
hohe Temperatur der Luft erhalten.
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. Z
34
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Man könnte einwenden, daß die Verdunstung ebensoviel Wärme wieder latent
macht, als durch die Kondensierung frei wurde, uud das ist gauz richtig; da aber Ver-
dunstung und Verdichtung gewöhnlich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen
Orten stattfinden, so ist die Ausgleichung der Temperatur innner eine sehr wesent-
liche. Die Verdunstung ist am stärfsten bei heißestem Sonnenscheine, und da mäßigt
sich die extreme Hitze; die Kondensation — in Form von Regen und Tau — ist am
stärksten zur Nachtzeit, und dann ersetzt die Wärme, welche frei wird, zum Teil die
Sonnenhitze. Ferner wird die Kondensation in beiderlei Form in hohem Grade
durch die Vegetation, besonders durch den Waldwuchs, beeinflußt; nicht minder
durch Gebirge und hohe Lage. Die Verdunstung ist dagegen, sowohl infolge der
geringeren Zahl wolkiger Tage als der anhaltenderen Luftströmungen, auf dem
Meere weit größer. Das ist namentlich in dem großen Teile der Tropenzone uud der
Subtropeuzoue der Fall, wo die Passatwiude herrschen; dort wird bei geringer Regen-
menge die Dampfbildung ganz außerordentlich groß. Daraus folgt aber wiederum,
daß auf den Landflächen der Äquatorialzone ein erhebliches Übergewicht der Kon-
densation über die Verdunstung stattfindet; und dies muß uicht nur eine Mehrung
der Wärme daselbst zur Folge haben, sondern wegen der Verstärkung der Konden-
sation zur Nachtzeit ganz besonders zum Ausgleich der Temperatur beitragen.
Allgemeine Charakteristik des äquatorialen Klimas. — Die ver-
schiedenen Ursachen, welche bisher aufgezählt sind, machen es vollkommen verständ-
lich, wie die Grundzüge des äquatorialen Klimas sich bilden; wie es möglich ist, daß
eine so hohe Temperatur während der Nachtzeit erhalten bleibt, und warum der
Wechsel des Standes der Sonne auf ihrem Wege vom nördlichen zum südlichen
Wendekreise so genügen Einfluß hat. In dieser glücklichen Zone ist die Hitze nie
drückend, wie sie es an den Grenzen der Tropenwelt so oft wird; der hohe Grad von
Feuchtigkeit, welcher stets in der Luft vorhanden, ist der Gesundheit des Menschen
fast ebenso zuträglich, als er förderlich für den Pflanzenwuchs ist. Die Temperatur-
abnähme zur Nachtzeit ist so regelmäßig uud zugleich so gering, daß sie nie unan-
genehm wird, daß aber auch die Nächte nie so schwül sind, um den Schlaf zu hindern.
Während der feuchtesten Jahreszeit vergehen doch selten mehrere Tage hinterein-
ander, ohne daß nicht wenigstens einige Stunden Sonnenschein dazwischen kämen,
und selbst in den trockensten Monaten kommen gelegentlich Regenschauer vor, welche
die überhitzte Erde kühlen und erfrischen. Infolge dieser Beschaffenheit des Bodens
und der Luft tritt nie eine Unterbrechung des Pflanzenwuchses und höchstens ein
ganz geringer Unterschied der Jahreszeiten ein. Alle Pflanzen sind immergrün;
Blumen und Früchte, wenn auch zu manchen Zeiten in größerer Fülle vorhanden,
fehlen doch niemals; viele einjährige Getreidepflanzen und manche Fruchtbäume
liefern jährlich zweimalige Ernten. In anderen Fällen bedarf es mehr als eines
Jahres, um die großen, massigen Früchte znr Reife zu bringen, und daher ist es keines-
wegs selteu, daß man reife Früchte gleichzeitig mit den Blüten für die nächste Ernte
am nämlichen Baume sieht. So ist es z. B. mit der brasilianischen Nuß am Ufer
des Amazonenstromes der Fall, aber auch mit manchen anderen Fruchtbäumen der
Tropen und einigen wenigen der gemäßigten Zone.
Einförmigkeit des Äquatorialklimas der ganzen Erde. — Die Be-
schreibnng der klimatischen Erscheinungen der Äquatorialzone, welche ich hier gegeben,
stützt sich großenteils auf lange eigene Erfährung, die ich in Südamerika und in der
Snndawelt sammelte. In diesen Ländern herrscht fast durchgängig derselbe Grund-
charakter, nur wenig durch örtliche Verhältnisse modifiziert. Mögen wir in Singapur
35
oder Bolivia, auf beit Molukkeu ober auf Neuguinea, iu Para, au deu Quellen des
Rio Negro oder am obereu Amazonenstrome uns befinden: das Äquatorialklima
ist immer dasselbe, uud wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß es in Guinea
oder Kongo wesentlich verschieden ist. An einzelnen Orten findet sich indessen ein
stärker ausgesprochener Gegensatz der Regenzeit und der trockenen Jahreszeit und
ein größerer Totalbetrag der Temperaturschwankungen. Gemeiniglich ist dies der
Fall auf sandigem Boden, bei Mangel an Wald oder in offenen, angebauten Ge-
genden. Die ebenen sandigen Landstrecken mit zerstreuten Bäumen, Sträuchern
und kleinen Dickichten, wie z. B. bei Sautarem und Monte-Alegre am unteren Ama-
zonenstrom, sind ebensowohl Belege jener Modifikation wie die angebauten Ebenen
von Südcelebes; in beiden Fällen aber hat die Waldgegend in der Nachbarschaft
ein fruchtbares und gleichmäßiges Klima, und ist es höchst wahrscheinlich, daß nn-
günstige Bodeubeschasfeuheit und künstliche Entwaldung mächtige Ursachen sind,
die ein Abweichen von dem charakteristischen Äquatorialklima hervorbringen. Der
fast regenlose Distrikt von Ceara an der Nordostküste Brasiliens, nur wenige Grade
südlich vom Äqnawr, ist ein schlagendes Beispiel von der Wichtigkeit der Vegetation
für die Erzeugung des Regens. Für das abnorme Fehlen des Regens hat man
hier keine direkte Ursache als den Sandboden mit seinen kahlen Hügeln, von denen
bei der Bestrahlung durch die Sonne heiße Luftströme emporsteigen und die Kon-
densation des Wasserdampfes hindern. Vielleicht gibt es keine Gegend der Erde,
in welcher ein zweckmäßiges Anpflanzen von Wald so große und wohltätige Folgen
haben würde wie hier. Auch in Zentralindien ist der geringe Betrag und das hüu-
sige Ausbleiben des Regens samt seinem traurigen Gefolge von Hungersnot wohl
zum großen Teil dem Mangel einer genügenden Bedeckung der Erde mit Wald zu-
zuschreiben, und ein planmäßiges Bepflanzen aller Bergspitzen uud Bergzüge uud
der höher gelegenen Hänge ist das einzige Mittel, von welchem wir eine gründliche
Heilung des Übels erwarten können. Eine solche Waldkultur würde mit fast unbe-
dingter Gewißheit eine Vermehrung der Regenmenge hervorrufen; aber noch sicherer
und zugleich noch wichtiger würde die Behindentng der Verdunstung und daher
das Festhalten der Feuchtigkeit durch die Wälder sein, das immer fließende Bäche
erzeugen würde. Diese könnten dann in Teichen gesammelt und zum Bewässern
großer Laudstrecken verwandt werden, während die Anlage von Wasserreservoiren
ohne regelmäßigen Regen oder uuversiegliche Wasserzüge vollkommen wertlos sind.
In den kälteren Teilen der gemäßigten Zone fühlt man den Mangel an Maldung
nicht in dem nämlichen Grade, da hier die Hügel und Berggelände reichlich mit Rasen
bekleidet sind, dieser aber die Feuchtigkeit ansaugt und durch die Sonne nicht über-
müßig erhitzt wird; zugleich sind die Regengüsse selten so heftig, daß sie diese schützende
Decke des Bodens wegschwemmen. In den Tropen und schon in dem südlichen Teile
der gemäßigten Zone sind die Regengüsse meist periodisch und fallen in kürzerer Zeit
mit übermäßiger Heftigkeit; weuu dort die Wälder abgeholzt sind, so reißen die Wild-
bäche sehr bald den fruchtbaren Boden weg und vernichten in wenigen Tagen die
Ertragfähigkeit einer Gegend, die das langsame Erzeugnis des Pflanzenwachstums
vieler Jahrhunderte war. Der nackte, felsige Untergrund wird nun von der Sonne
überhitzt, jedes Teilchen Wasser, das nicht hinabfließt, verdunstet; so entsteht anhaltende
Dürre, die wieder heftigen, plötzlichen Stürmen Platz macht, und diese tragen ferner
zum Werke der Zerstörung bei, ja sie hindern jeden Versuch eiues neuen Anbaues.
Große Strecken fruchtbaren Landes sind aus diese Weise in Südeuropa verwüstet
und geradezu unbewohnbar geworden. Wissentlich solche Resultate herbeizuführen,
3*
36
A.L8ur Allgemeinen Erdkunde.
das wäre ein viel schlimmerer Frevel als irgendwelche Zerstörung von Eigentum,
das menschlicher Fleiß geschaffen hat und ersetzen kann; aber unwissentlich lasseu wir
die ausgedehntesten Entwaldungen in Indien und Ceylon der Kaffeepflanzungen
halber zu, Entwaldungen, die den sicheren Ruin von einer Menge fruchtbaren Bodens
herbeiführen müssen. Und da ein Ersatz dafür viele Generationen hindurch un-
möglich beschafft werden kann, so muß dies Verfahren, wenn nicht beizeiten darin
innegehalten wird, mit Notwendigkeit das Klima ferner verschlechtern und das Land
immer tiefer in Armut stürzen.
Kürze der Dämmerung in der Nähe des Äquators. — Ein Haupt-
unterschied der Äquatorialzone von der gemäßigten und kalten ist die Kürze der Däm-
mernng, der rasche Ubergang vom Tage zur Nacht und umgekehrt. Da dies uur
die Folge des senkrechten Hinabsteigens der Sonne statt des schiefen ist, so ist der Unter-
schied am auffallendsten, wenn wir die Dämmerung zur Zeit unseres längsten Tages
mit der der Tropen vergleichen. Sogar bei uns ist die Zeit der Dämmerung um die
Tag- und Nachtgleiche viel kürzer, und die der Tropen ist vermutlich nicht viel mehr
als um ein Drittel kürzer als unsere Äqninoktialdämmerung. Reisende übertreiben
in der Regel die Kürze des tropischen Zwielichtes, wenn sie z. B. sagen, man könne
nach dem Verschwinden der Sonne kaum noch eine Seite eines Buches leseu. Bei
Büchern mittlerer Größe uud mäßig raschem Lesen ist dies entschieden unwahr, und
es erscheint daher geraten, so genau wie möglich den richtigen Sachverhalt zu schildern.
Bei gutem Wetter ist die Luft unter dem Äquator durchsichtiger als bei uus,
und die Stärke des Sonnenlichtes ist gewöhnlich bis zum Augenblick, wo die Sonnen-
scheide den Horizont berührt, sehr bedeutend. Sobald sie verschwunden ist, tritt eine
merkliche Verdüsterung ein; diese aber nimmt während der nächsten 10 Minuten
kaum zu. Während der darauffolgenden 10 Minuten wird es jedoch rasch dunkler,
und 25 Minuten nach Sonnenuntergang ist die vollständige Dunkelheit der Nacht
nahezu erreicht. Des Morgens sind die Vorgänge vielleicht noch auffallender. Noch
um Uhr ist die Dunkelheit vollkommen; dann aber unterbricht hie und da ein
Vogelruf die Stille der Nacht, wohl ein Zeichen, daß Spuren von Dämmerlicht am
östlichen Horizont sich merkbar machen. Etwas später hört man den melancholischen
Laut der Ziegenmelker, Froschquaken, Klagetöne der Bergdrosseln und fremdartiges
Geschrei von allerhand Vögeln und Säugetieren, wie sie gerade der Gegend eigen.
Etwa um halb sechs Uhr bemerkt man den ersten Lichtschimmer; erst nimmt er lang-
sam, dann so rasch zu, daß es um 5^ Uhr sast taghell ist. Nun tritt die nächste Viertel-
stunde hindurch keine bedeutende Veränderung ein; dann aber taucht plötzlich der
Rand der Sonne ans und bedeckt die von Tau strotzenden Blätter mit goldglänzenden
Perlen, schickt goldene Lichtstrahlen weithin in den Wald und weckt die Nawr zu
Leben und emsigem Treiben. Vögel zwitschern und flattern, Papageien kreischen,
Affen schwatzen, Bienen summen zwischen den Blumen, und prachtvolle Schmetter-
linge wiegen sich langsam in den Lüften oder sitzen mit ausgebreiteten Flügeln in:
belebenden Lichte. Die erste Morgenstunde ist in den Tropen mit einem zauberischen
Reize ausgestattet, den man nie vergessen kann. Alles ist erfrischt, gekräftigt durch
den kühlen Tau der Nacht; junge Schößlinge sind oft mehrere Zoll lang seit dem Abend
gewachsen. Die Luft ist so erquickend wie möglich; die Kühle des ersten Frühlichts,
die an sich sehr angenehm war, weicht einer belebenden Wärme, und der helle Sonnen-
schein beleuchtet die herrliche Pflanzenwelt der Tropen und stattet sie mit jedem
Reize aus, den des Malers Zauberkunst oder des Dichters begeistertes Wort als Ideal
der Erdenschöne hingestellt hat.
3. Das tropische Klima,
37
Der Himmel am Äquator. — Im Bereiche der Äquatorialzone steht die
Soune um Mittag nicht nur zweimal des Jahres lotrecht, sondern sie steht auch meh-
rere Monate so nahe dem Zenit, daß ohne sorgsame Beobachtung der sehr kurzen
Schlagschatten aufrechter Gegenstände der Unterschied kaum wahrnehmbar ist. Der
Mangel der Schlagschatten auf horizontalen Flächen, der auf diese Weise einen großen
Teil des Jahres charakterisiert, ist in der Tat für jeden Bewohner der gemäßigten
Zone eine höchst ausfallende Erscheinung. Ebenso überraschend aber ist der Anblick
des Sternenhimmels. Das Sternbild Orion geht durch den Zenit, der Große Bär
steht dagegen tief unten am nördlichen Horizonte, und der Polarstern erscheint ent-
weder nächst dem Horizonte, oder er verschwindet ganz und gar, je nachdem der
Beobachter sich nördlich oder südlich vom Äquator befindet. Gen Süden sind das
südliche Kreuz, die Magelhanischen Wolken und die tieffchwarzen „Kohlensäcke" die
hervorragendsten Gegenstände, die in unseren nördlichen Breiten unsichtbar sind.
Aus demselben Grunde endlich, aus dem die Sonne den Zenit passiert, erscheinen
auch die Planeten viel häufiger in dessen Nähe als bei uns uud geben auf diese Weise
gute Gelegenheit zu astronomischen Beobachtungen.
Intensität der meteorologischen Erscheinungen. — Die große Heftig-
keit der Witterungserscheinungen, welche man allgemein als einen Charakterzug
der Tropen ansieht, ist dies durchaus nicht in irgendwelchem hervorstechenden Grade.
Störungen der Elektrizitätsverteilung sind viel häufiger als in der gemäßigten Zone,
aber im ganzen durchaus nicht gewaltsamer. Stürme sind selten sehr heftig, wie
denn auch das Barometer einen hohen Grad von Beständigkeit zeigt. Die täglichen
Schwankungen desselben übersteigen in Batavia selten | Zoll, und die größten
Unterschiede während dreier Jahre betrugen weniger als Zoll! Die Regenmenge
ist allerdings sehr groß, 70 bis 80 Zoll im Jahre sind etwa das Mittel, und da der
Hauptregenfall sich auf 3 bis 4 Mouate konzentriert, so sind die einzelnen Güsse oft
sehr bedeutend. Der heftigste Regenguß in Batavia während dreier Jahre lieferte
3,8 Zoll in einer Stunde — am 10. Januar 1867 von 1 bis 2 Uhr nachts —, doch war
dies ganz und gar eine Ausnahme; selbst eine halb so große Menge ist etwas Un-
gewöhnliches. Die Maximalmenge für 24 Stuudeu betrug 7^ Zoll; allein mehr
als 4 Zoll pro Tag kommen höchstens 2 bis 3 mal im Jahre vor. Die Bläue des
Himmels ist vermutlich nicht so dunkel wie in manchen Teilen der gemäßigten Zone,
der Glanz des Mondes und der Sterne nicht merklich größer, als in unseren klarsten
Winternächten und sicher geringer als in manchen Wüstenstrecken und selbst in Süd-
enropa.
Im ganzen muß man sagen, daß weit mehr Gleichförmigkeit und Fülle als
Übermaß der Einzelerscheinungen die Grundzüge der klimatischen Erscheinungen der
Äquatorialzone sind.
Schlußbemerkungen. — Wir können dieses Kapitel über das äquatoriale
Klima nicht besser schließen als mit der nachfolgenden Beschreibung der Vorgänge
zu Beginn der trockenen Jahreszeit in Para. Wir entnehmen sie aus Bates' Werk
über das Gebiet des Amazonenstromes (Naturalist on the Amazons), da sie viele
der Charakterzüge eines typischen Tages der Äquatorialwelt lebendig zur An-
schauung bringt.
„In der Frühe — während der ersten zwei Stunden nach Sonnenaufgang —
war der Himmel stets wolkenleer, das Thermometer zeigte 22 bis 23° C; der Tau,
der schwer auf den Blättern lag, oder der Regen der Nacht, welcher sie noch in reichem
Maße benetzte, verschwand rasch in der Glut der Sonne, die von Osten her gerade
38
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
aufstieg und sich rasch dem Zeuit näherte. Die Natur war safterfüllt, juuges Laub
und Blüten entfalteten sich mit großer Schnelligkeit .... Die Hitze wuchs stündlich
uud betrug gegeu 2 Uhr 33 bis 34°, während zugleich jede Stimme eines Vogels
oder vierfüßigen Tieres schwieg. Die Blätter, so frisch und saftig am Morgen, wurden
schlaff und hingen herab, die Blumenkelche schlössen sich. Im Juni uud Juli fiel
meist ein heftiger Regenschauer während des Nachmittags, der eine willkommene
Kühle brachte. Das Heranziehen der Regenwolke geschah immer auf eine Weise,
deren Beobachtung sehr interessant war. Zuerst ließ die kühle Seeluft nach, die gegen
19 Uhr morgens zu wehen angefangen und mit dem Höhersteigen der Sonne sich der-
stärkt hatte, und endlich hörte sie ganz aus. Alsdann wurde die Hitze uud elektrische
Spannuug der Luft fast unerträglich. Erschlaffung uud Unbehagen benmchtigte
sich jedes Wesens, selbst der Waldtiere. Nun zeigten sich weiße Wolken im Osten
uud ballten sich zu Haufen, deren unterer Teil dunkler und dunkler wurde. Der
ganze östliche Horizont ward plötzlich schwarz, und diese Farbe breitete sich nach auf-
wärts aus, bis die Sonne verdeckt ward. Darauf ertöute ein mächtiges Windes-
brausen durch den Wald und schüttelte die Baumwipfel; ein jäher Blitz zuckte, dann
ertönte ein Donnerschlag, und der Regen rauschte in Strömen nieder. Solche Ge-
Witter ziehen rasch vorüber und lassen blauschwarze, bewegungslose Wolken bis
zur Nachtzeit am Himmel zurück. Die ganze Natur ist erfrischt; nur die Blüten und
Blätter liegen haufenweise unter den Bäumen. Am anderen Morgen erhebt sich
die Sonne wieder am wolkenleeren Himmel und erfüllt so den Kreislauf des Tages,
in welchem sozusagen sich Frühjahr, Sommer und Herbst darstellen. Mehr oder
weniger gleichen sich alle Tage des Jahres; ein gewisser Unterschied besteht zwischen
der trockenen Zeit und der Regenzeit, aber die trockene Zeit — Juli bis Dezember —
ist doch von Regengüssen unterbrochen, und die Regenzeit — Januar bis Juni — hat
ihrerseits ihre Sonnentage. Daraus folgt dann auch, daß die periodischen Lebens-
erscheinungen der Tiere und Pflanzen für die verschiedenen Arten, ja selbst für die
verschiedenen Individuen einer Art, keineswegs an eine bestimmte Jahreszeit ge-
bunden sind wie in Europa. Hier hat jeder Wald seiu frühjährliches, sein sommer-
liches, herbstliches und winterliches Kleid. Unter dem Äquator ist der Wald das ganze
Jahr hindurch sich gleich oder fast gleich; das Sprießen, Blühen, die Fruchtzeit uud
der Blattfall gehen immerfort, bald für diese, bald für jene Pflanzenart. Jeder Tag
hat seinen Anteil an Lenz, an Sommer und Herbst. Da Tag und Nacht gleich lang
sind, so gleicht sich jede Störung vor dem nächsten Morgen aus; die Sonne durch-
läuft stets die Mitte des Himmels, und die Temperatur der einzelnen Tageszeiten
bleibt sich jahraus, jahrein gleich. Wie großartig ist dieses vollkommene Gleichgewicht
der Natur in ihrem einfachen Kreislaufe unter dem Äquator!"
4. Das Meer im Leben der Völker.
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4. Das Meer im Leben der Völker.
Von Ferdinand Freiherr von Richthofen. („Das Meer und die Kunde
vom Meer." Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität
König Friedrich Wilhelm III. in der Aula am 3. August 1904 gehalten.)
In welchem Land und in welcher Zone die Wiege des Menschen gestanden
haben mag, allenthalben ist die Natur karg in der Darbietung der Nahrung, solange
er nicht zielbewußt ihre Kräfte durch Anbau, Viehzucht oder Anwendung von Werk-
zeugen in seinen Dienst stellt. Zu den Erdstellen, wo ihr Erwerb von Anbeginn
leichter war, gehörte an bevorzugten Küsten der felsige Ebbestrand. In zweimaliger
täglicher Wiederkehr belebte er sich neu mit Geschöpfen, deren Aufsammeln mühe-
losen Unterhalt gewährte. Ein kühner Schritt aber gehörte dazu, ihnen nachzugehen
in das Element, aus dem die Brandungswelle sie herbeitrug; denn der dauernden
Existenz des Menschen setzte der Strand eine Grenze. Aus eigenem Antrieb haben
diesen Schritt nur wenige Völker getan. Wo es geschah, hat die Notwendigkeit der
Überwindung von Widerständen und Gefahren zur Erfindung von oftmals erstaun-
lich zweckentsprechenden schwimmenden Tragwerkzeugen geführt. Aber in wahr-
scheinlich weitaus dem größten Teil aller Küsten haben die Bewohner trotz der Meeres-
nähe das Festland niemals aus freiem Willen auf größere Entfernung verlassen,
auch wenn sie, wie Azteken und Inka, zu hoher Kultur gelangten.
Soweit es heute geliugt, die spontane Entstehung einer Schiffahrt zurück zu
verfolgen, knüpft sie sich an eine geringe Zahl solcher Küstenstellen, wo sichtbare
Gegengestade von Landvorsprüngen oder eng gedrängten Inseln ein erstrebens-
wertes Ziel boten. Auf der ganzen Linie, wo das amerikanische Festland sich mit
dem Meer berührt, gaben zur Zeit der Entdeckung die Fjordküsten des Feuerlandes
und des äußersten Nordwestens nebst der karibischen Jnselschnur die einzigen Bei--
spiele freier Bewegung der Bewohner auf der Wasserfläche; und an der gesamten
Küste Afrikas, soweit sie gegen die offenen Ozeane gerichtet ist, hat selbst die Übung
der Schiffahrt auf deu großen Strömen zu ihrer Ausdehnung nach dem Meer nur
in einem einzigen Fall, wo kleine Küsteninseln dazu verleiteten, geführt.
Im Gegensatz dazu steht die srühe Entwicklung eines räumlich ausgedehnten
Handelsverkehrs an den südlichen Küsten von Asien. An welchen Stellen er seinen
Ursprung hatte, ist nicht zu ergründen. Ein Entwicklungszentrum von allererster
Bedeutung lag offenbar in den Jnselländern der Malaien. Aus der Verbreitung
der Stämme dieser Rasse uud der Typen ihrer Fahrzeuge ist der wohlbegründete
Schluß gezogen worden, daß die bei ihnen in früher Zeit hoch gediehene Kunst der
Schiffahrt sich einerseits nach den Jnselschwärmen des Stillen Ozeans, andererseits
nach dem nahen Festland Ostasiens und entlang den Jnselschnüren ausbreitete, welche
dieses im Osten begleiten. Aber auch im Westen des Indischen Ozeans ist, anscheinend
ganz unabhängig davon, eine Schiffahrt erwachsen und hat zu lebhaftem Verkehr
geführt. Zu hoher Vollendung muß sie dort nach einer langen Geschichte zu der Zeit
gediehen sein, als die Phöniker sie nach dem Mittelmeer verpflanzten und hier sogleich
mit sehr leistungsfähigen Schiffen an die maritimen Endpunkte eines ausgedehnten
Landverkehrs an der beinahe hafenlosen syrischen Küste anknüpften. Denn diese
selbst kann als Entstehungszentrum nicht gedacht werden.
Die weitere EntWickelung des Seeverkehrs im Mittelmeer und sein Übergang
nach den Atlantischen Küsten gehört zu den lebensvollsten Elementen in der Geschichte
40
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
der Völker. Denn im Mittelmeer war der Seeverkehr mit der allgemeinen Kultur
und seine Geschichte mit ihrer Geschichte eng verbunden. Denen, welche ihn in der
Hand hatten, brachte er Reichtum, Wohlleben und Macht und damit die Mittel zu
innerem Fortschritt, zur Pflege von Kunst, Literatur und Wissenschaft und weiter-
hin zur Ausbreitung der Kultur; denn der eigene Besitz an geistigen und technischen
Errungenschaften konnte durch die Schiffahrt nach fremdem Boden verpflanzt werden.
Voraussetzung für solches Emporblühen war es freilich/ daß die Zügel des Seever-
kehrs sich an eine Küste hefteten, wo die wirtschaftliche Beherrschung eiues Hinter-
landes eine terrestrische Ergänzung zu der maritimen Quelle der Kraft bot. Ab-
gelegene Inseln konnten zu selbständiger Beherrschung des Handelsverkehrs nicht
gelangen; so hoch auch im Bereich des Mittelmeeres die Seefahrer der laudferuen
Balearen oder diejenigen von Malta und Lussin piccolo durch Geschicklichkeit hervor-
ragten, haben sie doch nur anderen gedient. Genua und Venedig hingegen, obwohl
zunächst nur Küstenstädte, denen andere an Bedeutimg gleichkamen, gediehen, unab-
hängig von der Frage uachheriger politischer Beherrschung umgebender oder fernerer
Landstriche, zu hoher Macht, weil jede dieser Handelsrepubliken ihren Sitz an einer
Stelle natürlicher Konvergenz von Verkehrswegen aus großen uud wichtigen Land-
gebieten hatte und die Verbindung mit solchen überseeischen Punkten herzustellen
wußte, wo die Radien des Landverkehrs ans andersgearteten Produktionsgebieten
sich vereinigten. Der Vermittlung des Handels zwischen Orient und Okzident und
dem Wirffamen Schutz, welchen sie den Handelsschiffen durch ihre Galeereuflotteu
angedeihen ließen, verdanken beide ihre hohe Blüte und ihre wichtige Rolle.
In der Geschichte eines jeden Gemeinwesens, welches zu irgendeiner Zeit eine
hervorragendere Stellung im Seeverkehr erlangt hat, scheint es einen Zeitpunkt
gegeben zu haben, wo das Verständnis für die Bedeutung des Meeres, als freien
Weges für den Verkehr nach jeder erreichbaren Küste und als eines Mittels zur Er-
langung einer nach irgendeiner Richtung beherrschenden Rolle über einen großen
Bereich der Erdoberfläche, wie die Enthüllung eines großen Geheimnisses zum Be-
wußtsein der Regierenden kam. Lange Perioden der Erwerbung der Seetüchtigkeit
der Küstenbewohner durch beschwerlichen Betrieb des Fischfanges uud des Kleiu-
Verkehrs sind wohl in jedem Fall vorausgegangen. Überraschend schnell hat sich
dann oft der Übergang zum Großverkehr uud Weltverkehr in deu jeweiligen Greuzeu
des Weltbildes der Zeit vollzogen.
Kaum dürften die Phöniker die offene See im Mittelmeer bei ihrem ersten Ein-
tritt herrenlos gefunden haben, da frühe ägyptische Nachrichten aus Freibeuterei vou
entfernten Küsten her deuten. Ihre schwerfälligeren Handelsschiffe bedurften des
Schutzes durch langgebaute Schnellruderboote. Leicht schaffte ihre Überlegenheit
ihnen die unbedingte Handelsherrschaft. Die Karthager gingen über sie hinaus,
indem sie systematischer Kolonien anlegten und eine stärker bewaffnete Seeherrschaft
im westlichen Mittelmeerbecken begründeten. Mächtiger noch erwachte das Ver-
ständnis für den Nutzen der Wasserwege bei den Griechen. Jahrhunderte hindurch
erweiterte sich für sie die übersehbare Welt durch maritime Unternehmungen, ehe
sie durch Mexanders^Züge zu Laude nach Osten anwuchs. Neben Handelsnieder-
lassungen schufen sie Siedeluugskolonien, und bei ihnen entstand in der Mzyälrj
cEXXccg zum erstenmal der Begriff eines erweiterten Heimatlandes, dessen Be-
nennung der Prototyp des Ausdrucks für die Weltteiche unserer Zeit geworden ist.
Eine erhabenere Fassung erhielt er bei den Römern in dem Imperium Romanum,
welches den rings um das Mittelmeer sich ausbreitenden und von dem einen Mittel-
4. Das Meer im Leben der Völker.
41
Punkt aus beherrschten Orbis Terrarum der Zeit in sich begriff. Das Meer hielt das
Weltreich zusammen. Die Herrschaft über die Wasserwege, ihre in großen Zügen
geregelte Benutzung für die Versorgung des Mutterlandes und für den Weltverkehr,
das heißt für die Verbindung Roms mit allen peripherisch an den Küsten gelegenen
Emporien des Handels und Ausgangspunkten der ebenfalls wohlorganisierten Land-
wege, dazu der Schutz, den eine Kriegsflotte den Handelsschiffen gab — das war es.
neben der staatsmännischen Kunst der Römer uud den wirksamen Maßregeln zur
Verbreitung ihrer Sprache und Kultur als Weltsprache und Weltkultur, was der
Macht ihre lange Dauer gesichert hat.
Die Gunst natürlicher Verhältnisse hat für sich allem ihre spontane Benutzung
für deu Seeverkehr nicht zur notwendige,: Folge gehabt. Oft bedurfte es äußerer
Impulse, um sie den Bewohnern zum Bewußtsein zu bringen und diese zu Taten
anzuspornen. Zu aller Zeit hatte die Iberische Halbinsel ihre wunderbar günstige
Lage, indem ihre Küsten sich nach dem Mittelmeer und dem Atlantischen Ozean
öffnen und die Straße zwischen beiden beherrschen. Aber mit Ausnahme der katala-
nischen Küste verstanden ihre Bewohner aus sich heraus nicht, daraus Vorteil zu
ziehen. Die Halbinsel wurde großenteils von anderen Mächten beherrscht, bis sie
als Provinz des Römischen Reiches dessen Sprache und Kulturelemeute annahm.
Und doch besaß sie an der galizischen Riasküste wahrscheinlich schon früh eine unter-
nehmende Fischerbevölkerung. Aber erst als Portugal, angespornt durch einen weit-
blickenden königlichen Prinzen, mit langsamen Schritten seine Schiffahrt an der
afrikanischen Westküste ausdehnte, um dann in schnellem Sprung den Arabern die
Alleinherrschaft über den indischen Handel streitig zu machen, unb als dem spanischen
Hof das außerordentliche Glück erwuchs, daß ihm durch den großen Genuesen der
Wert der Seewege für ungemessene Ausdehnung des Besitzes durch eine weltbe-
wegende Tat zu klarem Bewußtsein gebracht wurde, erstände» beide Reiche als
seebeherrschende Weltmächte.
Nach der Festsetzung der Scheidelinie durch den Papst befanden sich Spanien
ganz, Portugal zum Teil in der glücklichen Lage, welche sich weder vorher noch nachher
einer anderen Nation so vollständig geboten hat, daß sie die Seewege ohne Konkurrenz
benutzen durften; denn noch wurden diese von keinem anderen Staat begehrt. Un-
gehindert konnten sie auch von den Ländern, welche sie entdeckten, Besitz nehmen,
da sie für europäische Begriffe herrenlos waren. Wenn auch Portugals Glanzperiode
nur ein Jahrhundert währte, so zeigt sie doch, wieviel ein kleines Land und eine
geringe Volkszahl in der Ausdehnung und Besiedelung des Kolonialbesitzes durch die
Seewege zu tun vermag. Eine nachhaltigere Dauer hat das spanische Weltreich
gehabt. Seine Signatur ist die Ausbreitung eines römischen Idioms und einer an
die römische Kirche sich kettenden Form der Kultur über die Meere hin nach weit-
gedehnten Festlandsgebieten. In allen hat diese Kulturform ihren Bestand gewahrt, auch
nachdem der politische Zusammenhang in allmählicher Abgliedernng längst gelöst war.
An ein kleines, durch Stromentwickelung ungemein bevorzugtes, aber mit wenig
günstiger Küste versehenes Heimatland knüpft die glanzvolle Seebeherrschung der
Holländer an. Das spanische Joch hatte ihnen als hohen Gewinn die Einsicht in
die Bedeutung der weiten Meeresstraßen gebracht. Nachdem sie ein Jahrhundert
lang ihre in der Fischerei und im Küstenhandel, in der Beteiligung an spanischen
Unternehmungen und in selbständigen Versuchen zur Auffindung einer nordöstlichen
Durchfahrt nach Ostasien erworbene Seetüchtigkeit in den Dienst ihrer Beherrscher
gestellt hatten, waren sie, als das Joch abgeschüttelt war, sofort gewillt und geeignet,
42
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
eine führende Rolle zu übernehmen. Aber sie wurden überflügelt durch audere
Mächte, bei welchen, wie vorher in Spanien, königlicher Wille herrschte und, wie
in Rom, ein bedeutendes uud geordnetes Staatswesen den Unternehmungen zur
See als kraftvoller Rückhalt diente. Diese Momente traten jetzt, wo die Widerstände
des Wettbewerbes in der Seemacht sich fühlbar machten, neben der Seetüchtigkeit
in den Vordergrund. Letztere allein war nicht entscheidend.
Es ist nicht mehr zu ergründen, wann und wie die Schiffahrt an den Nordwest-
europäischen Küsten sich entwickelt hat. Sie hat zur Zeit des Pytheas (um 330
v.Chr.) bestanden und war damals bereits nach dem hohen Norden gerichtet. Ob sie
von Kelten ausgeübt wurde, oder sich schon damals an Küstensiedelnngen germanisch-
skandinavischer Seefahrer knüpfte, entzieht sich der Kenntnis. In der gebuchteten
armorikanischen Halbinsel, in Irland uud Teilen von Großbritannien, in der cim-
brischen Inselwelt und an anderen Küsten war sie früh vorhanden. Aber an Wage-
mut, kühnen: Unternehmungsgeist und seemännischem Geschick standen allen die See-
sahrer der norwegischen Fjorde voran. Es muß unsere höchste Bewunderung erregen,
daß sie Jahrhunderte hindurch mit kompaßlosen Schiffen über das stürmische Meer
nach Grönland und bis in das Mittelmeer zu fahren wagten. Dennoch war ihnen
eine Herrschaft so wenig als den seemächtigen, im Handel überlegenen und klug kolo-
nisierenden Hanseaten bestimmt; denn beiden fehlte ein mächtiges Reich, an das sie
sich hätten anlehnen können, und der Herrscher, der mit Verständnis für die Bedeutung
der See-Jnteressen ihnen Schutz und Schirm hätte angedeihen lassen. Unter den-
jenigen, welche diese Vorteile besaßen, standen die Britischen Inseln weit voran.
Denn hier mußte sich in: Kampf mit einem allseitig sich ausbreitenden sturmbewegten,
aber durch seinen Fischreichtum aulockeudeu Meer die seemännische Tüchtigkeit ent-
wickeln, welche das erste Erfordernis zu maritimeu Erfolgen ist. Dazu umschlossen
die an natürlichen Häfen reichen Küsten ein großes und schönes, an vielen Stellen
durch Vermittlung schiffbarer Flüsse nach der See sich öffnendes Land mit anbau-
fähigem Boden und körperlich stählendem Klima, zu dessen Bevölkerung von Rom
aus die Keime höherer Kultur gebracht worden waren. Wenn irgendwo, so konnte
sich hier latente Kraft für die Eroberung der Seeherrschaft ansammeln.
Wir können uns diese frühen Zustände einer nachher groß angewachsenen See-
macht nicht vorführen, ohne sogleich eines ganz analogen Zustandes zu gedenken,
aus welchem wir in unseren Tagen ein Land uud Volk zu überraschend schneller Ent-
faltuug der Kraft gedeihen sahen. Gewaltiger noch als die Britischen Inseln umtoseu
Stürme die gleichfalls dem Kontinent nahegelegene und doch noch mehr von ihm
abgeschlossene Japanische Inselwelt. Wenn auch die Natur hier gleichzeitig uoch
mehr als dort getan hat, um im Gegeusatz zu großartiger Wildheit den Zauber der
Anmut uud Lieblichkeit in dem herrlichen Binnenmeer und den reizvollen Meeres-
buchten zu schaffen, so hat doch der Kampf gegen Taifune uud erschreckende Änße-
ruugeu unterirdischer Mächte die Phantasie und den Charakter der Bewohner in noch
höherem Maße beeinflußt. Auch hier umwogt die Inseln ein fischreiches Meer, welches
hinauslockte und eiue seemännisch tüchtige Bevölkerung heranbildete. Durch ihre
Küsteu trotz der Jnselanslösnng zu einer Einheit umschlossen, erhielt sie ein starkes
nationales Bewußtsein. Nie ist bei einem Volk so unvermittelt latente Energie in
kinetische umgewandelt worden. Jene befand sich in einem Zustand so hochgradiger
Spannung, daß es nur eines geringen Anlasses bedurfte, um sie auszulösen. Dieser
Anlaß war gegeben, als um das Jahr 1860 plötzlich der Ausblick über die Meere sich
eröffnete und die Erkenntnis geweckt wurde, daß alle Staaten, welche aus der Ferne
4. Das Meer im Leben der Völker.
43
Schiffe nach dem abgeschlossenen Märchenreich sandten, an erreichbaren Gegen-
gestaden desselben Ozeans liegen müßten, dessen Bewältigung dem Japaner vertraut
war. Es war nur ein Schritt zur Beteiligung am Weltverkehr, und er führte er-
stauulich schnell zur geschickten Handhabung des vollendetsten technischen Organismus
unserer Zeit, wie er im gepanzerten Schlachtschiff gegeben ist.
Langsamer, als hier in der schnellebigen Neuzeit von Europa aus, gelangten
die nautischen Fortschritte der Mittelmeervölker im sechzehnten Jahrhundert nach
Frankreich und England. Spät und anfangs unter fremder Führung traten beide
in die überseeischen Fahrten ein. Zündend wirkten die raschen Erfolge der iberischen
Staaten; die Berührung der nordamerikanischen Küsten erwies die Überbrückbarkeit
des Atlantischen Ozeans auf herrenloser Wasserstraße; englische Seeleute stählten
ihre Kräfte in energischen Versuchen, die alte und die ueue Welt im Norden zu um-
fahren, während Drake den praktischen Beweis gab, daß die südlichen Wege von Spa-
nien und Portugal nicht beherrscht wurden und bei kühnem Vorgehen gefahrlos
betreten werden konnten.
Damit beginnt die Begründung des Britischen Weltreichs, welches bald die Erde
umspannte. Ohne Kampf, soweit die Meere in Betracht kamen, war das Spanische
entstanden; als es ihn später wiederholt ausnehmen mußte, hat es darin nie Erfolg
gehabt. Die Jagd nach unbekannten Goldländern hatte dem grundlegenden Ent-
deckungszug als Ziel vorgeschwebt; die Aneignung aufgespeicherter Goldschätze und
das Streben, die reichen Lagerstätten der Edelmetalle auszubeuten, blieben ein
leitendes Motiv der Verwaltung und der Verbindung mit dem Mutterland. Eng-
land und Frankreich hingegen bedurften von Anfang an bei ihren Unternehmungen
der Wehr und Waffe. Sie gelangten aber auch zur Erkenntnis, daß dauerndere Aus-
sichten auf eine glänzende Zukunft überseeischen Besitzes sich dort boten, wo zwar
nicht ein Reichtum angesammelter Erzeugnisse winkte, dafür aber den Angehörigen
der eigenen Rasse die Möglichkeit geboten war, sich unter gewohnten Bedingungen
des Klimas und der Arbeit neue Heimstätten zu gründen und dem jungfräulichen
Boden Schätze zu entlocken. Im Wettkampf trug das seetüchtigere uud durch seine
ozeanische Lage völlig auf das Meer angewiesene Jnselvolk den Sieg davon. Und
wenn auch in jüngster Zeit das Französische Kolonialreich durch kluge und zielbewußte
Leitung wieder einen gigantischen Umfang erreicht hat, so hat sich doch England
mit seinen großen Siedeluugskolouien, seinem reichen indischen Besitz und seinen
die Meere beherrschenden Jnselstationen die Vorhand im Handel und Verkehr zur
See gesichert. Es hat aber auch, wie ehemals die Römer, verstanden, den Kolonial-
besitz kraftvoll zu erweitern, mit der eigenen Sprache und Kultur zu durchdringen
und durch Hebung von Produktion, innerem Verkehr und Handel, wie durch Öffnung
für alle Nationen nutzbar auszugestalten, ohne dabei das Einsetzen hoher ethischer
Kräfte für die kulturelle Hebung der beherrschten Völker und die Wohlfahrt der eigenen
Kolonisten zu vernachlässigen. So konnte aus dem Britischen Kolonialreich als ein
zur Unabhängigkeit herangereiftes Glied das größte einheitliche Staatswesen der
Gegenwart hervorgehen, welches seine selbständige Macht zur See von den eigenen
Küsten aus nach dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean ausgedehnt hat.
Englands Wirksamkeit zur See geht über diese politischen und wirtschaftlichen
Großtaten hinaus. Denn es hat auch die Kunde vom Meer in höherem Maß als jede
andere Nation vermehrt. Nicht nur hat es in der Aufhellung der Grenzen zwischen
Meer und Land auf den glänzenden Errungenschaften der Spanier fortgebaut und
in erster Linie dazu beigetragen, durch große Entdeckungsfahrten das Erdbild bis weit
44
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
in die Polarregionen hinein festzulegen; wir verdanken ihm auch die Aufzeichnung
der meisten Küsteu'auf Karten und den größten Teil der Messungen der Meerestiefen.
Auch in der wissenschaftlichen Erforschung der Tiefsee war es ihm vorbehalten, den
Weg zu zeigen.
Das neue Deutsche Reich besitzt iu den Bewohnern der ihm kärglicher zuge-
messenen Weltmeerküste eine an die See gewohnte und darin erfahrene Bevölkerung,
und seine Küstenstädte haben sich seit langer Zeit, auch uachdem die Blüte der Hanse
erloschen war, mit Erfolg an dem überseeischen Handel beteiligt. Als unsere Univer-
sität gegründet wurde, war diese Küste dem Binnenbewohner eine ferne Welt; noch
weniger hatte er einen Begriff von der Bedeutuug, welche die Anlehnung an das
Meer für die Weite des von ihr aus sich eröffnenden Blickes hat. Die Meeresknnde
hätte in dem Programm des damaligen Lehrgebietes keinen Raum gehabt; uud
wäre sie eingeführt worden, so hätte es nur in dem Verhältnis eines uutergeordueteu
Gliedes iu einem anderen Lehrstoff sein können. Das Meer war ja überhaupt wissen-
schaftlich noch beinahe unbekannt, und von seinen vielen Wechselbeziehungen mit
anderen Wissenschaften hatte man nur eine geringe Vorstelluug.
Durch den Wandel der Zeiten ist es uns näher gerückt. Der Seehandel ist im
Wirtschaftsbetrieb ein Lebensnerv von höchster Bedeutung geworden; deutsche Schiffe
vermitteln ihn nach fast allen Küsten; hoch stehen durch ihre Organisation die regel-
mäßigen überseeischen Fahrten der Reedereien von Hamburg und Bremen; eine
Kriegsmarine ist erstanden, klein für die Größe ihrer Aufgabe, Schutz für Küsten und
Schiffahrt zu gewähren, aber hochstehend durch den Geist, der sie leitet und in ihr
waltet; Schiffe, welche jeden Wettbewerb aufnehmen, werden auf heimischen Werften
gebaut, und sie erfreuen sich der Fürsorge durch ausgezeichnete Einrichtung der wenigen
Häsen, welche die Küste besitzt. Auch die wissenschaftliche Meereskunde wird be-
trieben. Namhafte Gelehrte beteiligen sich an ihr; die Seewarte hat durch ihre
Arbeit der Nautik, der Ozeanologie und der maritimen Meteorologie allgemein nutz-
bare Dienste geleistet; die Marine wirkt mit zu der Herstellung vorzüglicher See-
karten; biologische Stationen bestehen an unseren Küsten; Deutschland betätigt sich
an der internationalen Erforschung der europäischen Nordmeere; wohlausgerüstete
Expeditionen sind ausgesandt worden, um an den Untersuchungen über die Tiefsee
und an grundlegenden, um die Antarktis zirknmpolar angeordneten wissenschaftlichen
Arbeiten ruhmvollen Anteil zu nehmen. Dazu bringen jetzt Fahrten zur See vielen
eine Erweiterung von Sinn und Verständnis sür andere Länder und Völker. So ist
auch bei dem Bewohner des deutschen Binnenlandes die Erkenntnis erwacht, daß
er durch seine Küste mit allen Kästelnder Erde in Verbindung steht, uud daß es an der
Weckung des Unternehmungsgeistes liegt, um eine der Größe des Reiches entsprechende
Beteiligung an dem wirtschaftlichen Nutzen zu erwirkeu, welchen der Verkehr über
die Meere bietet. Seit zwanzig Jahren erspäht der Blick jenseits der engen heimi-
schen Meeresgrenzen ferne Küsten eigenen überseeischen Besitzes. An sie knüpft sich
unmittelbares persönliches Interesse; daher sind sie geeignet, dem Blick in die Weite
festere Ziele zu weisen und jenseits der Meere gelegene Länder der Heimat unmittelbar
zu verbinden. Leider müssen wir es uns gestehen, daß diese Erkenntnisse noch lange
nicht allgemein durchgedrungen sind und die Einsicht noch nicht zur Herrschaft gelangt
ist, daß Seehandel und Kolonien, wenn ihr Bestand gesichert sein soll, des Schutzes
durch eine kraftvolle und ausreichende Flotte bedürfen.
5. Der Mensch als Schöpser der Kulturlandschaft. 45
5. Der Mensch als Schöpfer der Kulturlandschaft.
Von Alfred Kirchhoff. („Mensch und Erde", 3. Aufl., Leipzig 1910,
B. G. Teubner.)
Die EntWickelung der Erdkunde während der letzten drei Jahrzehnte, wo sie bei
uns in Deutschland nach so langem Harren endlich überall unter die Uuioersitäts-
Wissenschaften Aufnahme fand und somit auf ihre Methode und ihre Abgrenzung
gegen andere Gebiete des Wissens gründlicher geprüft wurde, lief einmal wirklich
Gefahr, auf einen Abweg zu geraten. Hatte Karl Ritter in seinem monumentalen
Werk „Die Erdkunde im Verhältnis zur Natur uud zur Geschichte des Menschen",
wie schon diese Titelworte verkünden, das physisch-historische Doppelantlitz der Wissen-
schast von der Erde von neuem enthüllt, wie es im engeren Umkreis antiker Länder-
kenntnis 18 Jahrhunderte vor ihm bereits Strabo getan, hatten manche Jünger der
Ritterscheu Schule in dem Interregnum der deutscheu Erdkunde, wie es 1859, mit
Humboldts und Ritters Tod, einsetzte, das historische Element dieser Wissenschaft
sogar überwuchern lassen, so erreichte die naturgemäß folgende Reaktion eines um-
gekehrt etwas einseitig naturwissenschaftlichen Betriebs der Geographie ihren Gipfel-
Punkt, als Georg Gerland in Straßburg die Losung ausgab: Die Erdkunde ist reine
Naturwissenschaft, die Werke des Menschen darf man nicht in sie hineinziehen, denn
sie sind Sondergegenstand der historischen Disziplinen.
Es darf wohl ein Glück genannt werden, daß dieser revolutionäre Weckruf, der
für den ersten Augenblick viel Bestrickendes hat und ernsthaft methodologischer Er-
wägung entstammt, keine allgemeinere Nachachtuug in Deutschland und, dürfen wir
stolz daznsügen, somit auch in der übrigen Welt erfuhr. Selbst unser führender
Geograph, F. v. Richthofen, unter dessen Banner die Geologie die ihr gebührende
Stellung gewann, der Erdkunde als Fundament zu dienen, erklärte sich rückhaltlos
gegen Ausschluß des Meuscheu aus der Geographie.
Gerland hatte freilich vollkommen recht mit seinem mahnenden Hinweis darauf,
daß die Erdkunde gleichsam ihre methodische Sauberkeit, bloß mit Naturkräften und
Naturgesetzen zu rechnen, preisgebe, sobald sie den Menschen in ihr Bereich ziehe,
denn unrettbar tritt dann sogleich menschliche Willkür in die Betrachtung ein, man
muß dann bald mit den Methoden des Naturforschers, bald mit denen des Historikers
oder des Volkswirtschaftlers operieren. Aber liegt das nicht eben in der eigenartigen
Natur der Erdkunde begründet? Nicht von ungefähr hat ihr der Altmeister Ritter
die zentrale Stellung zugewiesen mitteninne zwischen den naturwissenschaftlichen
und den geschichtlichen Fächern. Wäre die Erde nichts weiter als ein Naturkörper,
so wäre selbstverständlich die Erdkunde tatsächlich reine Naturwissenschaft; weil wir
uns jedoch uameutlich das landerfüllte Viertel der Erdoberfläche gar nicht vorstellen
können ohne die ihm tief eingeprägten menschlichen Züge, so wird es wohl bei dem
Schiedsspruch verbleiben: Die Erdkunde ist eine wesentlich naturwissenschaftliche
Disziplin, indessen mit integrierenden historischen Elementen.
Auch die Meere sind jetzt sämtlich eingesponnen in das Tnn und Treiben der
Menschheit. Nähme der Mensch seine Hand von ihnen, so wären sie nicht mehr, was
sie find, nicht mehr lebenerfüllte Räume, auf denen die Flaggen aller seefahrenden
Nationen sich entfalten, damit das Adersystem, wie es erst seit kurzem die Wirtschasts-
tätigkeit uuseres Geschlechts zu einem Ganzen zusammenschließt, unablässig seinen
46
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Segensdienst leiste. Ohne den Menschen würden die Ozeane tvieder rückfällig werden
in jenen Zustand, da Jchthyosauren und Plesiosanren zur Jurazeit ihr Wesen in ihnen
trieben, sie würden wieder wüstenhafte Odnngen, auf deuen an Stelle von Schiffen
nur noch Eisberge ihre kalten Pfade zögen.
Freilich hinter dem Kiel selbst der mächtigsten Kauffahrer, der gewaltigsten
Panzer verwischen die zusammenschlagenden Wogen stets wieder die Spur der
Wasserstraße. So allgemein fühlbar die Wirkungen des Verkehrs in jenem Geäder
der großen Seestraßen auch sind, in dem die Schiffe gewissermaßen die Blutkörperchen
vertreten, — diese Straßen selbst bleiben unsichtbar, nur der Kartograph zieht sie in
Liniengestalten auf feinen Weltbildern aus. Anders das Netz der Landverkehrswege!
Wie zeigt es uns in seinen engeren oder weiteren Maschen, in der Güte des Straßen-
baues, im Vorhandensein von Eisenbahnen neben glatten Kanallinien den Maßstab
für Beurteilung der Gesittuugshöhe des bewohnenden Volkes! Welch ein Abstand
zwischen solchen Bildern des wimmelnden Menschen- und Güterverkehrs auf den
nach einem Punkt zusammenstrahlenden Land- und Wasserwegen, wie sie sich um
unsere Handels- und Industrie-Metropolen alltäglich darbieten, gegenüber den bloß
vom Menschenfuß ausgetretenen zittrigen Wegen durch die unabsehbaren Grasslnren
des tropischen Afrika, auf denen die schwarzen Träger in langem Karawanenzug nur
einzeln hintereinander ihre armseligen Warenbündel dahinschleppen, oder gar gegen-
über den Urwaldgründen im Gebiet des Amazonenstromes, wo sich noch heute wie
seit grauer Vorzeit der braune Jäger seinen Weg immer von neuem mühsam durch
das Dickicht bricht!
Je mehr sich die wirtschaftliche Kultur eiues Volkes hebt und je mehr sich dessen
Zahl steigert, desto vielseitiger spiegelt das von ihm bewohnte Land seine Tätigkeit
wider, indem zuletzt wenig mehr übrigbleibt von dessen ursprünglichem Antlitz als
das Relief des Bodens. Das großartigste Schauspiel fast urplötzlicher Umwandlung
von Wildland in Kulturland haben nns in: Laufe der Neuzeit Nordamerika und
Australien geboten. Während noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts das große
Viereck der Vereinigten Staaten von heute im Ostdrittel bis über den Mississippi
hinaus von prachtvollen, bunt gemischten Wäldern rauschte, im ebenen Mitteldrittel,
das allmählich zum hochgelegenen Fuß des Felsengebirges ansteigt, ein Gräsermeer
sich ausbreitete, das nur dem Wild zustatten kam, douuerartig durchdröhnt vom
tausendfältigen Hufschlag der Büffel, und dann die kahle Hochlandwüfte, die Stätte
der ungehobenen Gold- und Silberschätze, folgte, bis an das Pazifische Küstengebirge
mit seinen riesigen Mammutbäumen und der noch völlig toten herrlichen Hafenbai
am Goldenen Tor, — da ist jetzt der Wald ungefähr wie bei uns in Deutschland auf
etwa ein Viertel der Gesamtfläche eingeschränkt worden. Goldene Weizenfelder
wogen an Stelle der Steppengräser, die größten Mais- und Baumwollenernten der
Welt spendet der nämliche Boden, der vordem öde Wildnis war; aus zahllosen Gruben
fördert man Eisenerz und Kohlen samt Erdöl an den Alleghanies, in deren Umgebung
wahre Wälder von rauchenden Schornsteinen die Jndnstriebezirke kennzeichnen; der
zentrale Riesenstrom ist gebändigt, daß er bis zum Meer die größten Flußdampfer
gehorsam auf seinem Rücken dahingleiten läßt, das großartigste Netz von Eisenbahn-
und Kanallinien verflicht das Mississippital mit der Atlantischen Küste wie mit den
Kanadischen Seen, wo Chicago als ein Seehafen mit Weltverkehr mitten im Konti-
nent zu einer Millionenstadt erwuchs; selbst durch die vorher in Todesschweigen
liegenden Jagdgründe der Indianer des fernen Westens zieht das Dampfroß schrillen
Pfiffs seine transkontinentale Eisenstraße zum wirtschaftlichen Zusammenschmieden
5. Der Mensch als Schöpfer der Kulturlandschaft.
47
der früher kaum sich kennenden Atlantischen nud Südseefront; die weiße Kalkwüste
am blauen Salzsee von Utah ist durch künstliche Bewässerung in ein grünes Garten-
gesilde verwandelt, Nevada nebst Kalifornien schütten ihre Milliarden aus, wo vorher
kaum ein paar streifende Horden von Rothäuten ein kümmerliches Dasein fristeten;
San Franzisko erstand in 50 Jahren aus dem Nichts zur stolzen Königin der West-
küste, ein strahlendes Gegenüber zu Nenyork, der merkantilen Beherrscherin des
Ostens, dieser volkreichsten Stadt der Welt nächst London, wo vormals an der Hudson-
münduug die Wigwams eines Jndianerdörfchens standen. Noch rascher, erst seit
1788, ist Australien aus einer gottvergessenen Armutsstätte des Hungers und Durstes,
ohne einen Getreidehalm, ohne Fruchtbäume und Melktiere, ja bis auf die spärlichen
Käuguruhherdeu fast auch ohne jagdbares Wild, durch englische Tatkraft umgestaltet
worden zu eiuer beneidenswerten Schatzgrube von Reichtümern aller drei Natur-
reiche. Klassisch wurde daselbst die graue Theorie, der zufolge die Geschöpfe vom
Schöpfer selbst überall da heimisch gemacht seieu, wo sie fortzukommen vermöchten,
durch die frische Tat des Versuchs widerlegt. Alle Misere Getreide- und Obstarten
wie unsere Nntztiere gedeihen vortresslich unter dem australischen Himmel; an Stellen,
die dem Australschwarzeu nicht mit einem Tropfen Wasser die Zunge lechzten, hat
Moseskunst Quellen angeschlagen oder sammeln tief ausgebrochene Felszisternen die
Regenwasser umgebender Höhen, um jene ungeheuren Schafherden zu tränken,
deren Vlies im Trockenklima Australiens so seidenweich auswächst, daß die Sqnatter
bereits heute dort vom Schafesrücken eine größere, vor allem aber eine ungleich
dauerndere Einnahme sich gesichert haben als Goldwäscher und Goldgräber. Dieser
einzige Erdteil, der bis vor 117 Jahren keine Stadt, ja kein Dorf trug, ist nun mit
blühenden Ortschaften übersät, ja sein Melbourne ist analog, aber noch schneller und
höher emporgekommen wie San Franzisko, denn diese vornehme Kapitale der Süd-
Hemisphäre gleicht Rom an Bewohnerzahl und wird dank seiner unvergleichlichen
Hafenbai die Haupthandelspforte Australiens bleiben, wenn längst auch die letzte
Goldader Viktorias ausgebeutet worden.
Hatte der europäische Ansiedler dem amerikanischen Boden vieles von daheim
mitgebracht, vornehmlich den Weizen und das Pferd, dazu Rind, Schaf, Schwein,
Esel, Ziege, aus Asien den Kaffeebaum, so bekam also Australien überhaupt erst
durch die Kolonisten sein Knlturgewand angetan, und zwar ein so gut wie ganz euro-
päisches. Doch auch unsere Ostfeste hat nicht ganz unähnliche Verwandlungswunder
in seiner Knltnrszenerie erlebt. Javas Bedeutung für den Welthandel beruht fast
allein auf dem Massenertrag an ursprünglich ihm fremden Erzeugnissen; der immer-
grüne Pflanzenteppich seines Kulturlandes, wie er sich über die Niederungen zu
Füßeu seiner alpenhohen Vulkane und über die Unterstufe seiner Gebirge ausbreitet,
besteht uebeu dem seit alters einheimischen Reis aus Zuckerrohr vom iudischeu Festland,
aus Tabakstauden von der Habana, aus dem Teestrauch Ostasiens, den: ursprünglich
nur afrikanischen Kaffeebaum und den herrlichen Cinchonen Perus, die uns in ihrer
Rinde das fieberbannende Chinin schenken. Die nächst Java ertragreichste Tropen-
insel Asiens, Ceylon, büßte unter der Hand seiner englischen Herren das prächtige
Urwaldkleid seines Südgebirges großenteils ein, um in unseren Tagen sogar zweimal
umgekleidet zu werden: zuerst überzog man den gerodeten Waldboden mit lauter
Kasseepflauzungen und nun aus Furcht vor dem verheerenden Blattpilz mit lauter
Teepflanzungen. Wer könnte sich die Sahara heute ohne das Kamel denken? Gleich-
wohl ist dieses für die große Wüste wie geschaffene Tier erst durch den Menschen dort-
hin eingeführt worden; man erblickt es nirgends unter den mannigfaltigen Tierbildern
48
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Ägyptens aus der Pharaonenzeit, es scheint vielmehr den Ägyptern bis zur
Ptolemäerzeit gauz fremd geblieben zu sein und hat seinen das Verkehrswesen
Nordafrikas umgestaltenden Einzug in die ganze Sahara und darüber hinaus
sicher erst im Gefolge der Ausbreitung des Islams bis in den Sudan gehalten.
Religionen sind auch sonst bei der Metamorphose des landschaftlichen Kulturbildes
mehrfach mit beteiligt gewesen, nicht allein durch bauliche Anlagen wie Moscheen mit
schlanken Minaretts, Pagoden und Buddhistenklöstern, die gerade so wie christliche
Wallfahrtskirchen und Klöster ans einem tief im Menschenherzen begründeten Zug
die Berggipfel suchen, wo sie dann landschaftlich um so bedeutender wirken; und was
wäre uns die Ebene am Niederrhein ohne den Kölner Dom, die oberrheinische
Ebene ohne Straßbnrgs Münster? Um uns aber bewußt zu werden, wie Religionen
z. B. unmittelbar eingriffen in die vegetativen Landschaftstypen, brauchen wir nur
desseu zu gedeukeu, daß die Weinpflanzungen überall zurückwichen, wo Mohammeds
puritanisches Nüchternheitsgebot erschallte, selbst in dem einst so weinreichen Klein-
asien, das Christentum hingegen den Anbau der Rebe uach Möglichkeit förderte, schou
um deu Weihekelch des Abendmahls rituell zu füllen. Mit dem Athenakultus war der
der Göttin heilige Ölbaum untrennbar verbunden; mit dem Apollodienst wanderte
der Lorbeerbaum um das Mittelmeer. Die Verdienste gewisser Mönchsorden um
deu Wandel des finsteren Waldes in lichtes, fruchttragendes Gefilde während des
Mittelalters sind hoch zu preisen. Ja wir haben geradezu den urkundlichen Beleg
eines solchen Wandels immer vor uns, sobald uns nur bezeugt wird, daß zu bestimmter
Zeit au dem betreffenden Ort ein Zisterzienserkloster gegründet sei; denn das durfte
nach der Ordensregel gar nicht wo anders geschehen als da, wo noch bare Wildnis
den Anblick der Urzeit bot, damit alsbald dort mit Rodung, Eutsumpsnng, Anbau be-
gouuen werde. Wo jetzt die Thüriuger Eisenbahn uns so gemächlich durch die grünen
Fluren des Saaltals an Weingeländen und hochragenden Burgruinen bei Schnlpforta
vorbei dem inneren Thüringen zuführt, kann beispielsweise im 12. Jahrhundert nur
eine versumpfte Talsperre bestanden haben, die zu umgeheu die Fahrstraßen ans
benachbarten Höhenrücken hinzogen, denn — die Porta Coeli ward damals als Zister-
zienserabtei angelegt. Gerade von ihr ist uns kürzlich durch einen hübschen geschicht-
lichen Fund die gärtnerische Bedeutung der alten Mönche in helles Licht gerückt worden;
man verstand früher nie, warum in Frankreich der auch dort weit und breit geschätzte
Borsdorfer Apfel pomine de porte heißt, — nun wissen wir den Grund: die fleißigen
Mönche von Pforta hatten auf ihrem Klostergut Borsdorf unweit von Kamburg an
der Saale eine neue feine Geschmacksvarietät einer kleineren Apfelsorte entdeckt und
verteilten alsbald Pfropfreiser derselben an ihre Ordensbrüder weit über Deutschland
hinaus, und nur die Franzosen bewahren zufällig durch den ihnen selbst nun unklar
gewordenen Herkunftsnamen pornme de porte die Eriuueruug daran, daß die rot-
bäckigen Borsdorfer alle Nachkommen sind von Stammeltern, die in einem stillen
Klostergarten an der thüringischen Saale gewachsen.
Ganz Europa ähnelt einem Versuchsfeld, auf dem nützlick)e Gewächs- und Tier-
arten gezüchtet wurden, um sie dann mit dem alle übrigen Erdteile durchflutenden
europäischen Kolonistenstrom nach systematischer Auslese auch dort einzubürgern, wo
es die geologische Entwickelnng nicht hatte geschehen lassen. Nicht ein Erdteil wird ver-
mißt unter den Darleihern von Zuchttieren, Nutz- oder Ziergewächsen an Europa.
Am schwächsten ist Afrika vertreten, nämlich bloß mit Schmuckpflanzen wie Calla
und Pelargonien; Australien schenkte uns in seinem Eukalyptus einen kostbaren rasch-
wüchsigen Baum, der durch die energische Saugtätigkeit seines mächtig ausgreifeudeu
o. Der Mensch als Schöpfer der Kulturlandschaft.
Wurzelwerks u. a. in den Pontinischen Sümpfen Wunder tut zur Austrocknung des
Bodens, zur Vernichtung des Fiebermiasmas; Amerika verdanken wir den Truthahn,
die Tabakpflanze, den Mais, vor allem aber die Kartoffel, ferner die eigenartig fremd-
ländische Staffage der Mittelmeerländer: Agave nebst Opuntie; am meisten jedoch
spendete uns Asien, mit dem Europa zufolge seines breiten Landanschlusses im Osten
sowie der bequemen Schiffahrt über das Mittelmeer stets im engsten Bunde gestanden
hat durch Wanderungen der Volker und durch Warenaustausch. Jeder Hühnerhof
stellt eine asiatische Geflügelkolonie dar, innerhalb deren nicht selten der Pfau eiue
echt indische Farbenpracht entfaltet. In vor- oder doch frühgeschichtliche Zeitfernen
reicht die Einführung des Weizens und der Gerste aus Asien, noch während des Alter-
tums folgten Walnuß und Kastanie, Mandel, Pfirsiche und Aprikose, erst durch Lucullus
die Kirsche. Oberitalien, vormals ein sumpfiges Urwaldgebiet rein europäischer
Baumformen, ward zu einem prangenden Fruchtgefilde, wo hier asiatischer Reis,
dort amerikanischer Mais blüht und aus China gekommene Seidenzucht tausend emsige
Hände beschäftigt; nur die Weinrebe, die im Poland so reizend sich von Ulme zu Ulme
schlingt, darf als alteuropäisches Eigengut gelten. Der Büffel, so heimisch er sich jetzt
in den Donansümpfen Rumäniens wie in den Morästen am Tyrrhenischen Gestade
Italiens fühlt, ist doch erst in: frühen Mittelalter durch Nomadenstämme aus West-
asien zu uns gelangt. Das Land, „wo die Zitronen blühn, im dunkeln Laub die Gold-
orangen glühn", ist Italien noch in Cäsars Tagen nicht gewesen, ja die Apfelsine,
die schon durch ihren Namen „Apfel von Sina", ihre chinesische Heimat verrät, wurde
sogar erst durch die portugiesische Kauffahrtei des 16. Jahrhunderts über Südeuropa
ausgebreitet.
Allein, um den Landschaftswandel durch Menschenhand zu gewahren, brauchen
wir uns gar nicht im Geist ans blaue Mittelmeer zu versetzen, etwa nach Sizilien,
dieser Lieblingsstätte der Ceres, wo man nun nicht mehr bloß Weizen, Wein und
Oliven wie vor alters erntet, sondern ganze Schiffsladungen von Hefperidenäpfeln
von Palermo nach Nordamerika und halb Europa verfrachtet, den Opuntienkaktus
die Etualava in fruchtbaren Humusboden verwandeln und gleichzeitig dem armen
Volk eine billige, labende Frucht schaffen läßt, — nein, unser eigenes Vaterland offen-
bart uns das eindringlich genug.
Als Tacitus seine Germania verfaßte, gab es zwar im römischen Provinzialgebiet
links vom Rhein, an Donau und Inn, auch im Zehntland zwischen Donau und süd-
deutschem Rhein schon mannigfachen Anbau; auf den Schieferfelsen längs der Mosel
und des norddeutschen Rheins pflegte man bereits die Rebe, auf Donau uud Inn
schwammen Getreideschiffe, wenn auch der Bodenanbau sich mehr an die Talwei-
tungen der Ströme hielt, sonst meist nur eine lichte Oase im Dunkel des Waldes bildete,
etwa um ein einsames Römergehöft, angeschmiegt an einen sonnigen Talhang mit
Auslage gen Süden. Dort im Donausüden und im rheinischen Westen bewegte sich
schon reger Verkehr auf den für den festen Tritt der Legionen solid gebauten Römer-
straßen; auf dem Markt der vindelizischen Angusta, des heutigen Augsburg, trafen
sich die verschiedensten Volksstämme, man redete in germanischer, keltischer, römischer
Sprache; Mainz war ein wichtiger Waffenplatz, im freundlich mit Weingärten und
Obsthainen umschmückten Talkessel von Trier schlugen gelegentlich römische Kaiser
ihren Sitz auf, um von wohlgeschirmter Stelle aus die Rheingrenze gegen Freigerma-
nien zu überwachen. Aber eben dies Land der freien Germanen lag noch über-
wiegend im Waldesschatten, der nur von weiten Moorslächen und wohl auch stellen-
weise von offenem Wiesenland unterbrochen wurde, wo leicht austrocknender Löß-
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 4
50
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
boden den Waldwuchs weniger begünstigte als den von Gras und Girant. Städte
sah man gar keine, kaum geschlossene Dorsschasten, gewöhnlich bloß verstreute Block-
Häuser, um sie her wohl etwas Feld, grasende Kühe, Schase oder Ziegen, ein grunzendes
Schwein, von Eichelmast genährt, aber keinen Baumgarten. Holzäpfel uud Holz-
birnen brach man sich aus dem nahen Wald, der in malerischem Durcheinander Laub-
mit Nadelholz mischte; die schöne Eibe war an ihrem dunkelgrünen Wipfel schon
von weitem erkennbar neben dem helleren Grün der Fichte oder der Kiefer; Eichen
und Buchen walteten unter den nur sommergrünen Waldbäumen vor, aber auch
Liudeubestünde mengten sich ein, auf den Gebirgshöhen turmhohe Edeltannen. Bär
und Luchs lauerten im Dickicht, in dem die wilde Taube girrte und über dem krächzende
Raubvögel ihre Kreise zogen; der Wolf ging auf Beute aus, fiel auch wohl weidende
Wildpferde an; Wildschweine durchwühlten das Erdreich, neben Hirsch uud Reh sah
man das Elen mit seinem Schaufelgeweih das Geäst der Bäume und das Gestrüpp
des Unterholzes geräuschvoll zur Seite drängen, um sich Bahn zu schaffen; in kleinen
Gruppen durchzog das Geschwister des amerikanischen Bison, der Wisent, Niedernngs-
wie Bergwald, in größeren Herden weideten Renntiere die grauen Flechten des Wald-
bodens ab; an den morastigen Flußufern führten Biber ihre Wasserbauten auf im
Schatten von Erlen, Eschen und Zitterpappeln.
Heute würde Tacitus sein Germanenland kaum wiedererkennen. Der Deutsche
ist nicht mehr bloß Jäger und Viehzüchter mit nebensächlichem Feldbau, seine weit
intensiver gewordene Arbeit gehört dem Ackerbau und der innig mit ihm verknüpften
Viehhaltung, dem Gewerbe bis zur Großindustrie, dem Bergwerksbetrieb, dem
Handel und der Schiffahrt. Das kündet Deutschlands Antlitz mit der nahezu die
Hälfte der Bodenfläche einnehmenden Feldflur, den zur menschlichen Nutzung regu-
lierteu Flüssen, der Fülle von Städten, den Fabrikschornsteinen uud Hochöfen, den
See- und Stromhäfen, den Leuchttürmen und Teichbauten längs der Küstenlinie,
dem umfassendsten Eisenbahnnetz in ganz Europa. Nur annäherungsweise haben sich
Reste altgermanischer Landschaft noch erhalten auf den höchsten Zinnen unserer Ge-
birge und in den Mooren, soweit diese noch nicht der Brandkultur unterworfen wurden,
oder durch Abtragen des Torfes bis zum festen Untergrund einer am Kanalgezweig in
sie eindringenden Fehnkolonie den Platz räumten. Der Urwald ist, wo man ihn nicht
durch Feuer oder Axt zerstörte, zum Forst geworden, also zum Kunstwald, der in ein-
tönig gleichmäßigen Beständen solche Holzarten enthält, die rasch wachsen und gut
bezahlt werden. Darum hat besonders auf unseren Gebirgen die Fichte die Vor-
Herrschaft erlangt, die hauptsächlich unser Bauholz liefert; selbst die stolzen Edeltannen,
von denen einige Patriarchen am obersten Schwarzatal noch aus der Stauserzeit
stammen mögen, finden wegen ihres langsamen Aufwuchses keine Gnade bei der
Forstverwaltung. Tie Eibe treffen wir sogar meist nur noch als seltenes Relikt der
Vorzeit an schwerer zugänglichen Stellen, so an der jähen Granitwand des Harzes,
die vom Hexentanzplatz zur Bode absällt; sie wächst erst recht langsam nach und erlag
daher, allzuviel geschlageu wegen ihres für Schnitzerei trefflich geeigneten Holzes, bei
uus wie in Skandinavien frühzeitig allmählicher Ausrottung. Renntier uud Wisent
verschwanden aus Deutschland schon während des Mittelalters, das Elen hält sich nur
noch in ein paar preußischen Forsten unseres äußersten Nordostens, das mäßig große
Wildpferd wird zuletzt in der Reformationszelt am Thüringer Wald erwähnt, Wolf
uud Bär wurden in den Folgejahrhunderten ausgerottet, vom Biber führt ein
kleines Häuflein an der untersten Mulde und in dem benachbarten Stück des Elbtales
oberhalb Magdeburg ein beschauliches Dasein, anderwärts sind dem merkwürdigen
5. Der Mensch als Schöpfer der Kulturlandschaft.
51
Nager unsere Gewässer durch Besahrung und industrielle Anlagen zu unruhig ge-
worden.
Unsere flüchtige Überschau hat ergeben, daß sich der umgestaltende Eingriff des
Menschen in die Naturwildnis teils richtet auf Veränderung der Pflanzen- und Tier-
Welt je nach dem Bedarf seiner vornehmlichen Beschäftigung, teils auf Ausführung
von Wege-, Wasser- uud Hochbauten. In beiden Richtungen stellt sich die Wasser-
uud die Waldfrage in den Vordergrund. Bei beiden wollen wir noch einen Augen-
blick verweilen.
In der Wüste schafft sich der Mensch Kulturboden, indem er den in lichtloser
Tiefe schlummernden Wasservorrat durch artesische Bohrung an die Oberfläche herauf-
fördert, um bald im Schatten von Dattelhainen zu wandeln, wo sonst der Verschmach-
tuugstod drohte. Im amphibischen Sumpfgelände gilt es im Gegenteil des Über-
maßes von Wasser sich zu entledigen, um dann mitunter den allerfruchtbarsten Boden
zu gewinnen. Letzteres war der Fall in Ägypten; in der Deltaslnr des Nils war nicht
zu leben als Fischer, Jäger oder Hirt, nur als seßhafter Ackerbauer, dann aber auch in
hohem Wohlstand und wachsendem Volksgewimmel, das zur Arbeitsteilung, folglich
zu hoher Kultursteigeruug führte. So zogen die Altägypter den Kulturboden durch
Entwässerung uud Dammbauten aus dem Nilschlamm empor und schufen die eine
Hauptwurzel der nachmals in Europa ausgestalteten Weltkultur. Die andere Haupt-
Wurzel leitet weiter hinaus in das Münduugslaud des Euphrat und Tigris. Hier
ward ganz in ähnlicher Weise Kulturboden als Grundlage erstaunlich früh gesteigerter
Menschheitsgesittuug dem Sumpfdelta der beiden Zwillingsströme enthoben. Aber
der ältere, darum höher an den Flüssen hinauf gelegene Deltaboden lag doch schon
zu hoch über dem Stromspiegel, er wurde deshalb nicht mehr vom Hochwasser erreicht
wie der am ägyptischen Nil, man mußte das Wasser durch Schöpfwerke emporheben
und in zahlreiche Kanäle leiten, die zugleich der Schiffahrt wie der Felderbefruchtung
dienten. Das war es, was das uralte Sumeriervolk und seine Nachfolger in diesem
Deltaland, die Chaldäer, zu weit mühevollerer Leistung stachelte als die Ägypter.
Indessen eben weil dieser Kulturboden von keinem Nil alljährlich von selbst getränkt
und gedüngt wird, verlor er seine Erzeugungskraft, als der gedankenöde, die Tat-
kraft lähmende Kismetglaube des Islams das Leichentuch über das Land breitete.
Babylonien versank in den Wüstenzustaud; trauernd blickt der Birs Nimrnd, der einzige
turmartige Trümmerrest Babels, dieser größten Stadt des Altertums, auf eine sonnen-
durchglühte Ebene; der nun das Wasser fehlt, das einst die Heidenvölker so schasfens-
froh heraufholten. Hier also harrt eine seit mehr denn tausend Jahren erstorbene
Kulturlandschaft ihrer Auferstehung, sobald nur das rechte Volk kommt. Glorreicher
erscheint darum die Bezeugung menschlicher Macht über rohe Naturgewalt in den
Niederlanden, weil da uoch zur Stuude das Siegeswort Wahrheit spricht: „Gott
schuf das Meer, der Bataver aber den festen Wall der Küste." Wo einst die nord--
westlichsten Deutschen, die Ehanken, ein kaum menschenwürdiges Dasein fristeten,
täglich zweimal zur Flutzeit vom einbrechenden Meer umgarnt, daß sie wie Schiff-
brüchige in ihren auf künstlichen Hügeln erbauten Hütten als Flüchtlinge lebten, da
hat der goldene Reif des Deichbaus, den ihre Nachkommen aufführten, fette Wiesen,
besten Ackerboden in dessen Schutz gewinnen lassen, und Hunderte von Kanälen durch-
ziehen wie weiland Babylonien zur Be- und Entwässerung das gesegnete Gefilde,
aus dem man künstlich das Wasser zun: Meer geleiten muß, denn reichlich ein Viertel
der Niederlande, der ganze Raum vou der Südersee bis zur Schelde, liegt tiefer als
der Meeresspiegel. Dies ganze Land ist mithin echtester Kulturboden sogar seinem
4*
52
A. Zur Allgemeinen Erdkunde.
Ursprung nach, ihn hat der Mensch nicht meliorierend umgeschaffen, sondern erschaffen,
dem Meere abgeruugeu.
Schulter an Schulter mit deu Niederländern haben wir auch auf deutschem
Boden den Deichbau zur Wehr gegen die anstürmende Nordsee ausgeführt, am Dollart
unterseeische Polder erworben und innere Lauderoberuugeu durch Urbarmachen der
Moore, Trockenlegung von Sumpfstrecken erzielt; ja Friedrichs des Großen Trocken-
leguug des Oderbruchs steht auf ähnlicher Höhe wie diejenige des Haarlemer Meeres,
die ueuerdiugs 18 000 Hektar ausgezeichneten Fruchtbodens lieferte, die Heimstätte
von zurzeit 14 000 zu ansehnlichem Wohlstand gelangten Holländern. In den deut-
scheu Mittelgebirgen, deren Begehung vielfach durch Torfmoore erschwert wurde,
hat der Abstich letzterer freilich die Wasserkraft der aus ihnen gespeisten Bäche be-
einträchtigt, denn jene gaben vorzügliche Reservoire ab für den Niederschlag: Regen-
wie Schmelzwasser speicherte sich in ihnen wie in einem Schwamm auf und erhielt
die Gewässer selbst bei Trockenheit und Hitze stark. Mancher unserer Gebirgsbäche,
der jetzt zur Sommerzeit nur als dünner Wassersaden durch sein Felsental nieder-
rieselt, hat noch vor wenigen Jahrhunderten selbst unweit seines Ursprungs rastlos
die Räder von Sägemühlen getrieben.
Eben in dieser Wasserökonomie haben wir nun auch die Hauptbedeutung des
Waldes zu erkennen. Daß Entwaldung stets zum Niedergang eines Landes führen
müsse, kann man allerdings nicht zugeben. Das hängt ja ganz von seiner Natur-
begabuug ab. Die Britischen Inseln sind durch ihre Bewohner zum waldärmsten
Glied des europäischen Körpers geworden und trotzdem eines der regenreichsten
geblieben, weil ihnen der Südwest vom Golfstrom her Regenwolken in Fülle zutreibt,
gleichviel ob diese Wälder autreffeu oder irische Viehtriften, englische Feldflur und
Parklandschaft. Waldrodung ist in jedem Waldland die unerläßliche erste Kulturtat
des Ansiedlers, denn er braucht geklärten Boden zu Hausbau wie Aussaat. Indessen
wehe dem Volk, das ohne Verständnis für die Eigenart seiner Heimat vermessen an-
tastet dessen Waldmitgift! Wie wir jetzt in Deutfch-Südwestafrika dazu schreiten,
das Beispiel der Australeugländer zu befolgen, den bisher nutzlos verlaufenden Wasser-
schatz sommerlicher Platzregen vorsorglich zu sammeln in Zisternen oder Stauteichen,
daß er der Viehzucht wie dem Landbau zugute komme, so beschirmt die Mutter Natur
iu glücklicher ausgestatteten Erdräumen das als Regen oder Schnee vom Himmel be-
scherte Wasser durch das grüue Dach des lieben Waldes gegen zu rasche Verdunstung,
gegen verheerenden Ablauf zumal in: Gebirge. Frankreich, noch weit schlimmer die
südlicheren Länder nms Mittelmeer, bezeugen, was geschieht, wenn zufolge fahr-
lässiger Waldverwüstung das Naß nicht mehr im schattigen Wald niedertropft auf
moosigen Boden, um entlang den Baumwurzelu wie iu tausend Kanälchen ins Erd-
reich zu sickern, Quelleu nährend. Wo sind sie hin, die schiffbaren Flüsse der Apenninen-
Halbinsel zur Römerzeit? Im Südeu vielfach zu tobsüchtigen Fiumaren geworden,
liegen sie in der regenarmen Sommerzeit trocken, reißen dagegen bei winterlichen
Gewittergüssen wie mit den Krallen eines Ungeheuers immer neue, immer tiefere
Risse iu die uackteu Felswände, von denen die für den Pflanzenwuchs so nötige Ver-
Witterungskruste krumiger Erde durch das nämliche Unwetter hastig in ihr Bett ent-
führt wird, bloß zur Versumpfung der Niederung, zur Verstopfung der Flußmündung.
So ist aus dem Land, da Milch und Honig floß, das skelettartig kahle Palästina ge-
worden; das Fett des Bodeus, besonders die kostbare Roterde, die aus der oberfläch-
licheu Auflösung des palästinensischen Kreidekalks durch den Regen zurückblieb und in
der Terrassenkultur der Israeliten sparsamst bewahrt blieb, mußte beim Verfall pfleg-
5. Der Mensch als Schöpfer der Kultur.
53
samer Bodenbehandlung, beim Abhieb der immergrünen Eichenhaine, von denen die
Bücher des Alten Bundes melden, der bleichen Steinwüste weichen.
Stets siud die Länder das, was ihre Völker aus ihnen machen. Das Aussehen
jener verkündet untrüglich den Grad der Werktätigkeit dieser. Immer höher klimmt
der Mensch empor, die Natur seiner Umgebung in seinen Dienst zu zwiugeu und seine
Herrschaft ums ganze Erdenrund auszudehnen. Boden wie Wasser sind beide längst
die Schemel seiner Macht, und sie werden es von Tag zu Tag mehr. Aus der mecha-
nischen Kraft des Flußgefälles holen wir uns elektrisches Licht, Triebkraft für unsere
Maschinen und übertragen sie vom Gebirge in die Niederung. Hier versetzen wir
gewissermaßen Gebirge, dort tuuueliereu wir sie; wir durchstechen Landengen und
lassen im künstlich erschlossenen Wasserweg Meere sich verbinden, wo es unser Ver-
kehrsbedürsnis erheischt. Ja wir lassen auf Schienen- wie Dampferlinien die irdischen
Fernen in der Praxis mehr uud mehr sich kürzen, wir heben sie völlig auf in der
Telegraphie.
Aber es ist nicht wahr, daß der Fortschritt der Kultur den Menschen loslöst von
der mütterlichen Erde; nein, sie verknüpft ihn nur immer inniger und umfassender
mit ihr. Wir fühlen uns immer heimischer auf dieser Erde, immer glücklicher in der
Verwertung ihrer Güter, ihrer Kräfte, stets jedoch bleibt sie das Grundmaß mensch-
lichen Schaffens.
B. Zur Länderkunde.
6. Das norddeutsche Tiefland.
Von Friedrich Ratzel. („Deutschland", 2. Aufl., Leipzig 1907,
Fr. Wilh. Grunow.)
Indem die deutschen Mittelgebirge von den Karpaten bis znm Teutoburger
Walde uordwestwärts hinausziehen, bleibt ein Raum zwischen ihnen nnd dem Meere
frei, der im Osten breit ist und sich im Westen am Ärmelkanal auskeilt: das nord-
deutsche Tiefland. Das ist ein Teil des vom Jenissei bis zur Nordsee gleichartigen
asiatisch-enropäischen Tieflandes: weites Land, weiter Horizont, über weite Strecken
armer Boden. Es ist als Tiefland meerverwandt nach Lage wie Geschichte: überall
sinkt es langsam zum Meeresspiegel hinab, uud die Einflüsse des Meeres machen sich
bis in die letzten Tieflandbuchten am Gebirgsrand geltend. An den freien Horizont
des Meeres erinnert das Tiefland, wo es am ebensten ist uud die Wolkenberge, der
Feuerball der uutergeheuden Sonne und die unerschöpflichen Feinheiten der Luft-
perspektive die hervorragendsten Züge der Landschaft sind. Aber es ist doch keine
einförmig schiefe Ebene. Flach liegt es vor dem Gebirge, langsam taucht es in die
Nordsee, aber der Ostsee legt es sich in unabsehbaren Hügelwellen gegenüber, und
seine Ströme dämmt es mit 100 Meter hohen Steilufern eiu. Weuu es auch Tief-
laud ist, birgt es uoch so viel Höhen- und Formunterschiede, daß es weder Flachland
noch Tiefebene genannt werden sollte. Wenn der Kreuzberg bei Berlin, der nur
25 Meter hoch ist, seine Umgebung schon merklich überragt, so ist der Turmberg bei
Danzig mit 330 Metern eine bedeutende Erhebung. Man muß die Bäche an seinen
walddunkeln Flanken herabbrausen sehen und hören, um zu verstehn, daß die Tief-
landbewohner in diesen Höhen schon etwas Gebirgshastes sehen. Ist doch dieser
Berg die höchste Erhebung überhaupt zwischen der Nordsee und dem Ural! Gerade
die Natur dieses Tieflands läßt sich nicht aus den gewöhnlichen Karten erkennen,
die solchen Höhenunterschieden mit ein Paar dünnen Gebirgsranpen oder im besten
Fall mit einem Farbenton gerecht werden wollen. Ten Eindruck der zwischen Kulm
uud Marienwerder 100 bis 150 Meter hohe Hügelufer durchbrechenden Weichsel oder
der Tauseude in den tiefen Trichtersenkungen der in von großen und kleinen Seebecken
gleichsam durchlöcherten baltischen Höhenrücken liegenden Waldseen gibt keine Karte
wieder. Die Höhenunterschiede des Tieflands sind nur am Menschen selbst zu messen.
Außerdem gehört aber die massige Breite des Hingelagertseins zu ihrem Wesen,
samt den ebenso breiten uud zahlreichen Wasserflächen. Wo die Höhenunterschiede
zusammeuschwiuden, bleiben doch die Verschiedenheiten in der Art und Lagerung
der Gesteine übrig, die sich von einer dichten „Steinpackung" erratischer Granitblöcke
bis zum Flugsand und der weichen schwarzen Marscherde abstufen mit einer Fülle
von Wirkungen auf Pflanzendecke, menschliche Daseinsformen und Landschaft. Daß
sich aber über Wald und Meer, Moor und Heide überall ein hoher Himmel wölbt,
und daß, je niedriger das Land, desto höher der Himmel ist, desto mehr Licht, Blau
und mächtigere, freiere Wolkengebilde im Gesichtskreis sind, darf man am wenigsten
vergessen, wenn man die deutschen Tieflandschaften würdigen will.
6. Das norddeutsche Tiefland.
55
Die Felsengrundlage. Das norddeutsche Tiefland ist mit dem Schutt der Eiszeit
bestreut, den man geologisch jung nennen kann, und aus den Alpen und Mittelgebirgen
führen seit Jahrtausenden die Flüsse Sand und Schlamm heraus, den sie im Tiefland
ablagern. Aber darum ist dieses Land doch kein junges Erzeugnis der dahinterliegenden
Gebirge. Man kann nicht sagen wie von Ägypten: es ist ein Geschenk seines Stromes.
Das angeschwemmte Land ist an der Ostsee, wo es überhaupt vorkommt, ein schmaler
Streifen und breitet sich nur im Weichsel- und Memeldelta aus. An der Nordsee
wird es größer und nimmt am meisten Raum im Rheindelta ein. Unter seiner ein-
förmigen Schuttdecke verbirgt das norddeutsche Tiefland einen gebirgshast unregel-
mäßigen Bau voll Spuren und Resten von Falten, Spalten und Verwerfungen.
Man kann hoffen, daß eines Tags die Gebirge dieser Zone vor unserm geistigen Auge
wiedererstehn werden, wie die uralten Alpen des Mittelgebirgs wieder ausgebaut
worden sind. Man ahnt schon jetzt Gesetzmäßigkeiten dieser begrabenen Gebirgs-
bildnng, wenn man Reste anstehender Kreidefelsen in Mecklenburg zwischen Süd-
osten und Nordwesten ziehen sieht, oder wenn in dieser oder einer rechtwinklig darauf-
stehenden Richtung Täler und Seebecken fast parallel aufeinander folgen oder sich
nebeneinander wiederholen. Wie mächtig auch der Gesteinsschutt an manchen
Stellen anschwillt, die großen Formen des norddeutschen Tieflands gehören diesem
alten Untergrund an. Sehr vereinzelt, aber an nicht wenigen Stellen tritt er selsen-
Haft zutage. Helgoland und Rügen (Kreide von Stubbenkammer 133 Meter) find
die klassischen Beispiele. Gipsberge der permischen Formation zeigen bei Segeberg
in Holstein, Lübtheen im Mecklenburgischen, Sperenberg bei Berlin, Hohensalza in
Posen darunterliegende Salzstöcke von einer Mächtigkeit an, die zum Teil gewaltig
ist. Wo nicht Gipsberge hervortreten, zeugen Höhlen und Erdfälle für das Dasein
des leichtlöslichen, bald ausgewaschenen Gesteins in der Tiefe. In Muschelkalk-
Hügeln bei Kalbe an der Milde und Rüdersdorf bei Berlin sind wichtige Steinbrüche
aufgeschlossen. An den Küsten und auf den Küsteninseln von Mecklenburg und Pom-
mern, bei Fritzow, Kammin, Soldin, Bartin tritt Jurakalk hervor, bei Dobbertin
blauer Liaston in einem 80 Meter hohen Rücken. Besonders verbreitet sind aber
Kreidegesteine, die von der Gegend von Itzehoe, wo sie eine Geestinsel bilden, über
Heiligenhafen, Schmölln, Usedom (Lübbiner Berg 54 Meter), Wollin bis Kalwe
bei Marienburg ziehen. Noch viel weiter verbreitet sind Ablagerungen eines Meeres
der mittleren Tertiärzeit, das sich allmählich nach Nordwesten zurückzog, nachdem
es an seichten Gestaden und in den Deltas der aus dem Gebirge herabsteigenden
Flüsse organische Massen begraben hatte, aus denen dann mächtige Braunkohlen-
flöze entstanden.
Die Schuttdecke. Der Boden Norddeutschlands trägt die Spuren einer großen
Bedeckung mit festem und flüssigem Wasser. Reste gewaltiger Stromtäler und Seen
und vor allem einer von West bis Ost reichenden Eisbedeckung geben ihm seine größten
und wirksamsten Formen. So allgemein verbreitet diese Reste sind, so ungleichmäßig,
ja verworren ist ihre Lagerung. Die Trümmer, die das Wasser in diesen verschiedenen
Formen hinterließ, sind ausgelaugt, großenteils der Fruchtbarkeit beraubt und höchst
ungleich verteilt. Es fehlen die erzreichen Gesteine der deutschen Mittelgebirge,
die großen Kohlenlager älterer Formationen. Tertiäre Braunkohlen treten in den
Landrücken auf. Solquellen verraten da und dort den Reichtum an Salz in der
Tiefe. Vereinzelte Lager von Raseneisenstein, Gips, Kreide werden sorgsam aus-
gebeutet. Der Ackerbau beklagt die Kalkarmut des Bodens, besonders des Sandes.
56
B. Zur Länderkunde.
Fruchtbar sind die Marschländer an der Nordsee und im Weichseldelta, günstig ist die
starke Vertretung des Geschiebelehms auf der Seenplatte, des Bodens der herrlichen
Buchenwälder und schweren Weizenähren Mecklenburgs. Am ungünstigsten sind die
Höhensande des südlichen Landrückens und der alten Talnngen sowie die Moore.
Diesen unfruchtbaren Strecken gewann nur die ausdauerndste und genügsamste Arbeit
Kulturboden ab.
Wo Schutt der Eiszeit den Boden bedeckt, haben sich besonders zwei Boden-
formen gebildet, die zugleich zwei Landschaftstypen sind. Wir haben flachgewölbte,
gleichmäßige Hochflächen bei Teltow und Barnim, zwischen Posen und Gnesen,
zwischen Königsberg und Eydtknhnen: leichtwelliger Boden, von den schmalen Rinnen
des Schmelzwassers der Eiszeit zerschnitten, die bald träge Bäche, bald Torfmoore
enthalten, bald auch von Flugsand verschüttet sind, den aus den slachen Höhen das
Wasser aus dem Ton und Mergel herausgewaschen hat. Tone und Mergelsande
sind als die feinsten Erzeugnisse der Schlämmung des Gletscherschutts in Vertiefungen
abgesetzt, wo einst Eisseen gestanden haben mögen; der fruchtbare, bis zu drei Meter
mächtige Decktou gehört zu ihnen. Runde Vertiefungen, Sölle oder Pfuhle, Wasser-
oder torfgefüllt, sind oft sehr zahlreich, wahrscheinlich bezeichnen sie die Stellen lang-
samen Abschmelzens verschütteter Eisblöcke, über denen der Schutt trichterförmig
einsank. Eine andre Landschaft ist die der Grundmoräne, die an: deutlichsten auf
dem baltischen Höhenrücken ausgebildet ist: verhältnismäßig starke Höhenunterschiede
auf geringe Entfernungen, zahllose, ganz unregelmäßig angeordnete Kuppen,
Wellen, Hügel, zwischen ihnen entsprechend zahlreiche und willkürlich zerstreute
Seen, Tümpel, Sümpfe, Moore, die häufig keinen oberirdischen Abfluß haben.
Auch hier hat die Auswaschung manches verändert, uud ein Anfang der Sichtung
der Felsblöcke, Tone und Sande ist manchmal sichtbar; aber der Grundzug bleibt
die Verworrenheit des Gletscherbodens. Die einst größern Wassermassen haben
auch weitere Täler gegraben, in denen sich heute Bächlein so verlieren, daß ein nord-
deutscher Geologe sie der Maus im Käsig des Löwen vergleicht, nnd mächtige Seen
sind zu Torfmooren geworden. Vor allem gehören aber in diese Landschaft die er-
ratischen Blöcke, zum Teil mächtige Felsen, die aus mancher purpurbraunen Heide
wie gewachsene Klippen hervortauchen. Ju das Grau ihrer Verwitterungskrusten
sind duuklere Fleckeu und Ringe gezeichnet, Flechten und Moose von nordischer Ver-
wandtschast, die wahrscheinlich zu derselben Zeit einwanderten, wo das Eis jenen Block
südwestwärts trug. In der Altmark gibt es Striche, wo große und kleine Geschiebe
fast pflasterartig dicht nebeneinander den Boden bedecken. In dem ganzen steinarmen
Tiefland haben sie als Bausteine für Kirchen, Burgen und Dorfmauern eine große
Bedeutung gewonnen, und das holprige Pflaster so mancher nord- und mitteldeut-
scheu Stadt erzählt von der unverwüstlichen Härte der nordischen Granitgeschiebe.
Die Landhöhen. Durchwandern wir das Tiefland vom Meer zum Gebirge, so
steigen wir aus dem dunkeln Waldhügellnnd Preußens, Pommerns, Mecklenburgs an
langgestreckten Seen hin in ein sandiges, sumpfiges, mooriges, stellenweis auch mit
Felsen bestreutes, aber mit gewaltigem Fleiß entwässertes, kanalisiertes und angebautes
Flachland hinab und erheben uns wieder nach Süden zu auf schiefen, sandigen Ebenen
oder in Waldtälern zu einem neuen waldreichen Hügelland. Das sind die Land-
rücken des ^norddeutschen Tieflandes und die breite Senke zwischen
ihnen. Die Eisenbahnen, die die Flächen uud die Eiuseukungen aufsucheu, zeigen uns
freilich nicht viel davon. Es durchziehen ja im norddeutschen Tieflande die ältesten und
6, Das norddeutsche Tiefland.
57
verkehrsreichsten Linien, wie Berlin-Breslan und Berliu-Thorn, die einförmigsten
Gegenden. Das hat dazu beigetragen, daß viele sich das norddeutsche Tiefland flacher
dachten, als es ist. Aber mau sehe sich auf der ersteru Linie um, wie rechts und links
die Lausitzer Vorberge und das Katzengebirge auftauchen, flache Höhen, die hier den
ernsten Schmuck des Waldes und dort die nördlichsten Weingärten Deutschlands tragen.
Die bescheidene Einfachheit ihrer Wellenlinien umweht an manchem grüngrauen
Sandhügel ein Hauch von weltabgeschiedener Ruhe. Von den Wellenhügeln der Lüne-
burger Heide schauen wie von Miniaturgebirgen dunkle Tannen herab. Als Waldrücken
taucheir auch der Elm bei Braunschweig, der Deister, die Göhrde an der Weser auf.
Der Fläming ragt mit seinem 200 Meter hohen Hagelsberg bei Belzig auf, den
Beinamen des „hohen" scheinbar wenig verdienend, den ihm der Volksmund gibt.
Wer aber an einem der wenigen, sandreichen Bäche hin in den Fläming hinein-
wandert, der steht plötzlich vor einer in Sand und Lehm tief eingerissenen Schlucht,
einer „Rummel", in deren Boden das Wasser im aufgeschwemmten Schutt versinkt;
ein unerwartet kräftiger Zug, der mächtige Wirkungen von Schneeschmelzen oder
Wolkenbrüchen im engen Raum verdeutlicht.
Die Landhöhen des südlichen Norddeutschlands erkennt man wohl auf
der Karte an ihrer von Polen bis zur Nordsee festgehaltueu südöstlich-uordwestlicheu
Richtung. Es ist die Richtung des herzynischen Systems. In Wirklichkeit bilden sie
keinen so zusammenhängenden Zug wie die nördlichen. Wir finden hier eine längere
uud dort eine kürzere Bodenanschwellnng und dazwischen breite Lücken. Die Abnahme
der Höhe nach Nordwesten zu ist ausgesprochen. Die Verhüllung mit Gletscherschutt
aus der Eiszeit verleiht ihnen eine übereinstimmende Bodenbeschaffenheit. Sehr
oft sind diese flachen Rücken vollständig mit Sand bedeckt, den die Ströme der Eiszeit
zerrieben haben. Bedenkt man, daß diese unbedeutenden Landhöhen nnsre sämt-
licheu Tieslandströme von der Weichsel bis zur Ems in die Nord Westrichtung zwingen
und damit dem norddeutschen Tiesland eines seiner folgenreichsten Merkmale ver-
leihen, so wird man sie trotz ihrer unbedeutenden Erhebung als wichtige Elemente
unsers Bodenbaues schätzen. Man wird sie auch nicht bloß als vereinzelte Land-
rücken auffassen, sondern es liegt hier ein zusammengehöriges System von Erhe-
buugen vor uns, worin sich die nordwestliche Richtung der Ostkarpaten, an die sie
sich anlehnen, über einen weiten Landstrich wirksam fortsetzt, wenn auch in immer
schmäler und niedriger werdenden Ausläufern.
Aus dem Weichselgebiet tritt die breite Massenerhebung des polnischen Land-
rückens in das südöstlichste Schlesien noch geschlossen ein, teilt sich dann in drei Flügel,
von denen einer das im Pfarrberg 360 Meter hohe Tarnowitzer Plateau bildet, eine
von schluchtenartigen Tälern zerschnittne kleine Hochebene, die vorgebirgsartig in
das fchlesische Tiefland zwischen Oder und Malapane vortritt. Weiter nördlich legen
sich Katzengebirge und Trebnitzer Berge (310 Meter) vor das Tiefland der obern
Oder, ein Höhenzug, aus dessen im Osten dicht bewaldetem, fast an Masnreu erinnern-
dem Hügelgewirr die Bartsch in hundert Seen, Teichen und engen sumpfigen Tälern
entspringt, während der westliche Teil dem Ackerbau gewonnen ist, soweit es Sand
und nordische Geschiebe zulassen. An dem Mittelgebirgsvorspruug östlich von der
Elbe liegen nur flache Senken zwischen der Landhöhe uud dem Gebirgsfuß: das
Becken von Liegnitz und die Bucht der Schwarzen Elster. Bei Soran sieht man vom
Rückenberg, dem Gipfel des lausitzischen Landrückens (230 Meter), die einst sumpfige
Senke als wohlangebantes Tiefland unter sich liegen; uud entschiedner nordwestlich
zieht dann bis Wittenberg der Fläming elbwärts. Von Süden her schauen aus dem
58
B. Zur Länderkunde.
welligen Lausitzer Hügelland die waldbedeckten Kuppen der Lausche und des Rottmar,
die an den Ausspruch eines Lausitzer Historikers erinnern: Was die Edelsteine in
einem Ringe, sind die Berge auf der Erde.
Nach Westen zu ziehen die Höhenrücken nur in schwachen Ausläufern über die
Elbe hinüber. Besonders fehlt Norddentfchland jene dreifache Gliederung, die so
bezeichnend für den Osten des norddeutschen Tieflandes ist. Nur die südlichen Land-
höhen setzen über die Elbe, wo die Lüneburger Heide, die höchste und größte von
allen, eine bis 170 Meter ansteigende wellige Wölbung bildet, aus deren heidebedeckten
Gehängen der gelbweiße Sand gleichsam ausblüht, während an andern Stellen die
Geröllbildung und die erratischen Felsblöcke vorwiegen. Wie man vom ähnlich
gearteten Fläming in der Magdeburger Gegend sagt: nur Handwerksburschen und
Bettler gehu über den Fläming, so ist auch dieser saudige Heiderücken ein vom Ver-
kehr wenig aufgesuchtes, dünn bewohntes Gebiet. Er hat Stellen, wo wie große
flache Maulwurfshügel scheinbar regellos durcheinander gehäufte Sand- und Kies-
massen ein kleines Hügelland schassen. Tamit verdichten sich die lichten Föhren-
Haine zu Wäldchen. Von den Höhen schauten eiust zahlreiche „Dolmen", gedeckte
Steinkammern aus fünf oder sechs unbehauenen Blöcken oder Platten. Der Fuß
dieser Höhen aber taucht schon in die Moore ein, die im Ems- und Weserland eine
gewaltige Ausdehnung erreichen.
Der Baltische Höhenrücken. Die Ostsee wird überall, wo sie an deutsches
Land grenzt, von einem Höhenrücken umzogen, der sich aus Rußlaud heraus uud bis
über die schleswigsche Grenze nach Iütland hineinzieht: eiue geschlossene, in Preußen
und Pommern 100 Kilometer breite Erhebung, die nur von den größten Strömen
durchbrochen wird, jedesmal mit starker Änderung ihres Laufes, an wenigen Stellen
größere Eiuseukuugeu zeigt und nur einem schmalen Küstenstreifen Raum läßt. Leicht
erkennt man die Abhängigkeit der Küstenumrisse von der Gliederung des Landrückens.
Dieser aber bleibt iu seiner ganzen Länge von 1200 Kilometern eine sanft gewölbte
Schwelle mit auf gefetzteu uiederu Rückeu uud Bergen uud verdient den gemein-
samen Namen Baltischer Höhenrücken auch wegen des übereinstimmenden geo-
logischen Baues, der aus dieselben Grundzüge der erdgeschichtlichen Entwicklung von
Preußen bis Iütland hindeutet. Nimmt er von Osten nach Westen an Höhe, Breite
und innerem Zusammenhang ab, so bleibt sich selbst sein landschaftlicher Charakter eines
dichtbewaldeten Hügellandes von den Fichtenwäldern Ostpreußens bis zu den Buchen-
Hainen Holsteins uud eiuer „Seenplatte" vou dem Spirdiugsee bis zu dem Ugleisee
gleich; an manchen Stellen sind gerade die Seelandschaften Preußens und Holsteins
zum Verwechseln ähnlich. Der Schutt der Eiszeit bedeckt ihn überall, an manchen
Stellen wohl 100 Meter mächtig, und selbst die Fruchtbarkeit manches gerühmten
Weizenfeldes in Mecklenburg und Pommern hängt von der Masse nordischer Kalk-
steine ab, die hier das Eis hergewälzt und im sandigen Ton begraben hat.
Das eigentümlichste Gebiet des Baltischen Höhenrückens bildet der Preußische
Rücken, der in der Danziger Bucht und im Weichseldurchbruch eine sehr scharfe
natürliche Grenze gegen den pommerfchen hat und durch die Memel von dem litaui-
schen getrennt wird. Wo die Ostseeküste im Samland sich nach Norden wendet, zieht
der Preußische Rücken nach Ostnordosten, und dadurch sowie durch die im allgemeinen
südlichere Lage dieses Rückens entsteht jenes von der Alle und Passarge durchfloffene
hügelige Vorland, das so bezeichnend für Preußen ist; in seiner Zugänglichkeit uud
Fruchtbarkeit liegt ein Hauptgrund des folgenreichen geschichtlichen Hervortretens
6. Das norddeutsche Tiefland.
59
des deutschen Landes zwischen Weichsel und Memel. Denn dieses Vorland mit seinen
Hügelzügen und fruchtbaren Schwemmländern macht aus Preußen ein in dieser Weise
an der südlichen Ostsee einziges Gebiet, das ebendeshalb seine eigene Geschichte und
sein Übergewicht hatte. Dahinter erst zieht der wegen seines Seenreichtums als
Seenplatte bezeichnete Höhenrücken, die massigste Erhebung in dem ganzen Zug,
ein 100 Kilometer breiter uud 120 Meter hoher Wall, über den sich im Westen wie
im Osten Hügel von mehr als 300 Metern erheben. Das Vorland bildet zwischen
den flachen Deltaländern an der Weichsel und Memel eine Kette von Hügelländern,
die, vom Meere gesehen, wie Inseln nebeneinander auftauchen. Im Südwesten
drängt sich das Land hinter der Drewenzlinie zu einer Wald- und Berginsel zusammen,
deren Eigentümlichkeit einst durch ausschließlich lettische Bevölkerung verstärkt war.
In derselben ostnordöstlichen Richtung wie der Preußische streicht auch der Pom-
mersche Rücken zwischen Oder und Weichsel nordwärts weiter. Die Hinterpommer-
sche Küste ist eine treue Wiederholung dieser Richtung. Aber der südwärts gekehrte
Rand des Landrückens zeigt dem Blicke von Köslin oder Stolp aus ein tal- und sor-
meureiches, waldiges Hügelland. Die höchsten Erhebungen liegen im Osten. Der
Turmberg (330 Meter) liegt südwestlich von Tanzig noch auf westpreußischem Boden.
Von da an sinkt nach Westen hin der Pommersche Höhenrücken, ohne tiefere Ein-
senkung auf der 300 Kilometer laugen Erstreckung bis zur Oder. Zwischen Ebers-
walde uud Stettiu tritt er mit einem steilen Ufer genau so an die Oder wie der
Preußische zwischen Fordon und Marienburg an die Weichsel. Die Höhen betragen
an der Oder kaum noch 100 Meter.
Im Mecklenburgischen Höhenrücken tritt uns eiue ganz andre Richtung
der Erhebung, die südöstlich-nordwestliche entgegen. Auch dieser Rücken zieht sich
250 Kilometer weit ohne tiefere Einsenkungen als von 60 Metern von der Oder bis
zu der Senke, die südlich von Lübeck Trave und Elbe verbindet. Auch hier sind die
einzelnen Höhen im Osten beträchtlich, aber die Wellenhügel um den Schweriner
See bleiben unter 95 Metern. Jenseits der Trave-Elbe-Senke haben wir endlich in
Schleswig-Holstein gar keinen zusammenhängenden Höhenrücken mehr, sondern
eine Reihe von Erhebungen, die noch einmal im Bungsberg 164 Meter erreichen,
aber durch mehrere breite Lücken so ties getrennt sind, daß sie eher an die inselähn-
lichen Hügelgruppen des ostpreußischen Vorlandes erinnern. Die Lübeckische Senke
ist 19 Meter hoch, die des Kaiser-Wilhelm-Kancils 11 Meter; das sind die Tore vom
Ostsee- ins Nordseegebiet, die man das Kattegatt des Landes nennen könnte.
Diese preußischen, pvmmerschen, mecklenburgischen und holsteinischen Abschnitte
des Baltischen Landrückens üben auf die Küstengestalt uud die Stromgliederung
Norddeutschlands einen bestimmenden Einfluß. Ihnen entspricht die Sonderstellung
der holsteinischen, der sast halbinselartige Vorsprung der mecklenburgischen und vor-
pommerschen, das Ansteigen der hinterpommerschen, das Zurücktreten der preu-
ßischeu Küste. Zwischen je zweien sließt ein Strom in tiefem Einschnitt dem Meere
zu, uud die Elbe wird durch den lanenbnrgifchen Vorsprung westwärts gedrängt.
Nicht zusällig entsprechen diesen Abschnitten alte politische Gebiete.
In der Geschichte Deutschlands ist aber der Baltische Höhenzug im ganzen der
Wall, den der zum Meere strebende Verkehr und jede Macht durchbrechen mußte,
die die Ostsee vom Südnser her beherrschen wollte. Daher ist jede Unterbrechung
dieses Walles eiue geschichtliche Stelle von größter Wichtigkeit. Lübecks große Stel-
lung in der Geschichte der Ostseeländer ist mit durch die Lücke des Höhenrückens be-
gründet, der sich nach der Elbe in der Richtung auf Lauenburg zu zieht. Seinen
60
B. Zur Länderkunde.
Wert verdeutlicht die Kanalisation der durch diese Lücke fließenden Stecknitz, die schon
im Mittelalter die Elbe mit der Trade schiffbar verband. In jener andern Senke, wo
die Eider in nur 11 Meter Höhe ihre Quellen bei Rendsburg sammelt, während die
Nordsee ihre Gezeiten ebensoweit eideranfwärts führt, durchschneidet der Kaiser-
Wilhelm-Kanal die cimbrische Halbinsel. Das 150 Kilometer lange Quertal Brom-
berg—Tanzig ist die erste große Naturstraße aus Poleu nach der Ostsee. Seine
politische Wichtigkeit bezeugen die Kämpfe zwischen Teutschherren und Polen, später
zwischen Preußen und Polen und Franzosen um die Festungen, die die Anfangs-
und Endpunkte dieses Durchbruchs decken. Ähnlich wie hier Thorn und Danzig
liegen Küstrin und Stettin zum Oderdurchbruch. Wie dort die Polen, hatten hier
die Schweden die Wichtigkeit der Passage erkannt. Und so gehörte zu den Grund-
tatsachen der Entwicklung der Macht Preußens die Befreiung des Weichselweges
aus polnischer und des Oderweges aus schwedischer Beschlagnahme.
Die großen Täler. Die einem flüchtigen Blick auf die Karte sich aufdrängende
Teilung des norddeutschen Tieflandes in Querabschnitte, die von den Strömen
Weichsel, Oder, Elbe und Rhein begrenzt sind, liegt nicht so tief in der Natur dieses
Landes wie die breiten Talnngen zwischen den: nördlichen und südlichen Höhenzug, die
durch diese Flüsse durchschnitten werden. Dieses sind die erdgeschichtlich tiefst begrün-
deten Senken des Tieflandes. Diese breiten Täler vermögen allerdings der Landschaft
nicht die energische Gliederung zn verleihen, durch die der Oder- und der Weichsel-
dnrchbrnch ausgezeichnet sind. Das Mächtige liegt vielmehr auch hier in der Breite.
Diese westöstlichen Talsenken verstärken den ozeanischen Charakter des Tief-
landes. Auch von den geschichtlichen Wirkungen gilt dies. Die flache Wölbung des
Fläming hielt keine Wanderschar auf, wohl aber vermochte das die über 3000 Quadrat-
kilometer umfassende Taluug, die nördlich davon liegt, besonders als sie noch mit
Sumpf und Wald bedeckt war. Da gewannen auch eiuzelue Übergänge und Durch-
gänge, Naturbrücken trocknen Landes in den See- und Sumpfgebieten, wie der Netze-
paß von Driesen, eine hohe Bedeutung, uud einige der größten Städte Norddeutsch-
lands daukeu ihr erstes Aufblühen der Lage an solchen Stellen, unter andern Berlin.
Der Eindruck dieser Täler, die kleine Flachlandgebiete für sich sind, ist besonders dort
merkwürdig, wo die jüngern, schmalen, wenn auch tief eingefurchten Täler mit ihnen
in Verbindung treten. So großartig das Weichseltal unterhalb Fordou auch ist,
es ist doch nur ein Nebental, ein schmaler Abzugskanal des breiten alten Weichsel-
tales. Es müssen sich gewaltige Wassermassen in diesen Tälern bewegt haben, und
vor der blauen Mauer des sich zurückziehenden Eises müssen sich in ihnen wahre Binnen-
meere gestaut haben. Später sind sie versumpft, vermoort, versandet. Erst seit-
dem sie das Bett der wichtigsten Querkanäle geworden sind, von der Elbe bis zur
Weichsel, hat der menschliche Verkehr ihnen etwas von der Bewegung wiedergegeben,
mit der einst die Schmelzwasser diluvialer Gletscher sie durchflutet hatten. Im mitt-
lern Norddeutschland flössen vier solche Ströme, die alle in der Gegend der heutigen
uutern Elbe in die bis gegen die Havel hereinragende Nordsee mündeten. Da war
ein altes Weichseltal, worin nun Strecken der Narew von der Bugmündung an, der
Weichsel bis Fordon, dann Netze und Warthe bei Bromberg, Nakel, Küstrin und der
Finow-Kanal bis Eberswalde fließen. Die Mündung in die Elbe muß bei Havel-
berg gelegen haben. An derselben Stelle mündete auch ein altes Odertal, das man
durch das Warthetal uud den Obrabrnch in das heutige Odertal und die Spree ver-
folgen kann. Ter Spreewald ist ein Rest eines südlicheren Odertals, und die Alte
Elster hat ein altes Elbtal aufgenommen; beide ziehen gegen Genthin hinaus.
7. Berlin.
61
7. Berlin.
Von Professor Dr. Z. Partsch. („Mitteleuropa", Gotha 1904,
Justus Perthes.)
Für Deutschlands Geschick war die Tatsache folgenreich, daß keiner seiner Land-
schaften durch Lage und Natur ein Übergewicht gegeben war, welches die Einheit des
ganzen, seine Beherrschung von einem Punkte aus sicherstellte. Nicht ein Machtspruch
der Natur, sondern der durch schwere Kämpfe bestimmte Gang der Geschichte hat dem
neuen Reiche das gegeben, was dem alten fehlte, eine Hauptstadt. Es war die Haupt-
stadt des die Nation zur Einigung führenden Staates. Ihre Lage war durch die Ent-
Wicklung dieses Staates bedingt, durch den Anschluß neuer Erwerbungen um einen
zentralen, ursprünglich schwachen Kern. Sein Zentrum war lange ein unbedeutender
Punkt; erst die Erweiterung der Peripherie des Kreises, das Fortschreiten der Wellen-
ringe seines Wirkungsbereichs hat dies Zentrum zur weltgeschichtlichen Größe erhoben.
Dennoch entbehrt die Lage Berlins nicht des geographischen Interesses. Nur
muß dieses, um ein den Tatsachen entsprechendes Bild zu gewinnen, für die Benr-
teilnng der Wahl des Ortes mit einem engen Horizont sich bescheiden uud dann erst
ermessen, wie Einsicht und Willenskraft die Ortslage derartig ausnutzen und ent-
wickeln konnten, daß sie den Forderungen einer Weltstadt genügt. Die Mark war
ein allmählich ostwärts sich erweiterndes Grenzland des alten Reiches. Mit ihrer
Ostgrenze verschob sich ihr Herrschersitz. Von Salzwedel rückte er 1150 über die Elbe
ostwärts nach Brandenburg; dessen Namen führt mit Recht das Kernland der Mon-
archie. Rasch dehnte es sich bis über die Oder ostwärts aus. Aber innere Wirren
entschieden im 14. Jahrhundert noch einmal ein Zurückweichen der Residenz auf das
linke Elbufer nach Tangermünde. Und doch bestand damals bereits als bescheiden
blühender Handelsplatz die Doppelstadt Berlin-Kölln am rechten Ufer der Spree und
ans einer den Übergang erleichternden Insel. Diese Übergangsstelle ward nicht nur
dadurch empfohlen, daß hier die sonst weit getrennten Ränder des von der Spree
erborgten Tales enger aneinandertreten, sondern es leiteten geradezu schwer über-
schreitbare Wasserläufe, im Nordwesten die Havel, im Südosten die Seenkette längs
der Dahme den von Magdeburg nordostwärts strebenden Verkehr, mochte er Stettin
oder Frankfurt zum Ziele nehmen, auf diesen Abschnitt des Spreelaufs gebieterisch
hin. Im Besitz verbriefter Vorrechte entwickelte sich die Stadt, dank ihrer zentralen
Lage, zum Vorort eines kleinen märkischen Städtebundes. Diese Periode schloß sehr
überraschend und unfreundlich ab, als 1442 der zweite der hohenzollernschen Kurfürsten
die alten Freiheiten von Berlin und Kölln vernichtete und zwischen beide Gemeinden
sich ein Schloß hineinbaute (1451). Dies ward seit 1491 die ständige Residenz der
Herrscher der Mark, mit deren Schicksal nun die Entwicklung Berlins engverknüpft
blieb.
In der Mitte zwischen den beiden parallelen Strömen Elbe und Oder, in der
Mitte des alten, nur teilweise von der Spree gefüllten Tallaufes, der jene diagonal
in nordwestlicher Richtung verband, war Berlin recht geeignet zum Sammelpunkt
der inneren Verkehrslinien der Mark. Aber seine Lage gewann eine weitergreifende
Bedeutung, als der Große Kurfürst 1668 den Kanal zwischen Oder und Spree eröffnete.
Damit ward Berlin der Mittelpunkt des Schiffahrtswegs Breslau—Hamburg, der
längsten Wasserstraße, die damals in Norddeutschland bestand. In ihrer heutigen
Vollendung von Kosel bis Hamburg 700 km lang, ist sie die große Verkehrsdiagonale
62
B. Zur Länderkunde.
des Norddeutschen Tieflandes, die Mittellinie seines ganzen schiffbaren Wassernetzes.
Dessen Ausbau vollendete Friedrich der Große durch die drei märkischen Kanäle,
welche unter Ausnutzung aller drei in der westlichen Mark konvergierenden Talzuge
der Vorzeit die Verbindung Berlins mit Magdeburg, Hamburg, Stettin verkürzten,
und durch den Bromberger Kanal zwischen Netze und Weichsel. Der Wirkungsbereich
dieser Wasserstraßen griff an mehreren Stellen über die Grenzen des Staates hinaus.
In viel gewaltigerem Maße aber taten dies, seit 1838 rasch sich mehrend und erweiternd,
die eisernen Arme der 15 Schienenwege, welche das frei im Tiefland liegende Berlin
zum Hauptzeutrum des europäischen Binnenverkehrs erhoben. Hier krenzen sich jetzt
die Weltwege Paris—Petersburg, London—Odessa, Stockholm—Rom, und auch die
größte kontinentale Bahn der Welt, welche die ganze alte Erdfeste von Lissabon über
Moskau bis Wladiwostok durchzieht, hat in Berlin eine Hauptstation. Insbesondere
aber ist darauf Bedacht genommen, Berlin mit allen, auch den fernsten Lebenszentren
des Reiches, speziell mit jedem wichtigen Seeplatz der deutschen Küsten in schnelle
Verbindung zu bringen. Den vollen Wert erlangte dies Strahlenbündel nach Berlin
zusammenschießender Linien erst, als nicht mehr jede in einem besonderen Bahnhof
im Häusermeer Berlins ihr Ziel fand, sondern die 1877 vollendete Ringbahn in 36 km
Länge die Stadt umspannte und durch ihr Inneres die Stadtbahn (12 km), eiue
Hochbahn auf langem Viadukt, deu Lauf der Spree begleitete.
Durch diese gewaltigen Verkehrsanlagen, im Verein mit den neuerdings ent-
sprechend den hoch gesteigerten Anforderungen verbesserten Wasserwegen, hat Berlin
eine Entwicklung genommen, die niemand vorausahnen konnte. Intelligenz und
Arbeitskraft haben die von Natur keineswegs glänzenden, aber entwicklungsfähigen
Anlagen der Artlichkeit ausgebildet, ihre Mängel so weit überwunden, daß der Fremde
mit Überraschung hier nicht nur eine große imponierende, sondern auch eine schöne
Stadt vorfindet.
Rastlose Arbeit ist das Lebensprinzip, von dem die Entstehung und die Zukunft
dieser Stadt abhängt. Manche Fremden, welche unter den Linden schlendern, die
Wachtparade und das Zeughaus begaffen oder in Schlössern, Museen, Theatern den
Kampf mit ihrer eigenen Langeweile führen, gehen weit irre, wenn sie Berlin als ein
Schaustück staatlicher Zentralisation und des bunt aufgeputzten willenlosen Militaris-
mus betrachten. Sie gewinnen keine Vorstellung von der freien Energie der Arbeit,
welche in den breiten Schichten des Berliner Volkes pulsiert und in ihren Blutumlauf
beständig neue, aus allen Teilen des Reiches hinzuströmende Elemente hineinzieht.
Berlin ist die größte Industriestadt Mitteleuropas. Die Anfänge seiner industriellen
Regsamkeit gehen bis in die Zeit zurück, als der Große Kurfürst die französischen Re-
fugies hier ansiedelte, die ein wertvolles Pfropfreis westlicher Kultur auf dem kräftigen
märkischen Stamme bildeten. Aber den großen Aufschwung brachte doch erst die
neueste Zeit. Von den Erwerbtätigen Berlins sind 53 Prozent in der Industrie,
24 Prozent in Handel uud Verkehr beschäftigt. Und zwar fallen von der Gesamtzahl
der industriell tätigen 31 Prozent auf die Bekleidungsgewerbe, in denen Berlin all-
mählich eine von der Pariser Führung unabhängige Stellung sich erwarb; 12 Prozent
kommen auf Maschinenfabrikation, die nicht nur alle Zweige des praktischen Lebens
versorgt, sondern auch iu der Herstellung wissenschaftlicher Präzisionsinstrumente sich
einen Weltruf erwarb. In allen Stoffen, Eisen, Bronze, Leder, Holz, Papier, hat die
Berliner Industrie einen hohen Rang erreicht und namentlich durch die Ökonomie und
Intensität der Arbeit und die daraus entspringende Größe der Produktion eine Billig-
keit der Erzeugnisse erzielt, die jedem Wettbewerb die Spitze bietet.
7. Berlin.
63
Eine wesentliche Hilfe aber für den wirtschaftlichen Kampf gewinnt Berlin auch
aus dem regen wissenschaftlichen Leben, das manchen Zweigen der Industrie erfin-
derifch neue Wege eröffnet, andern reiche Beschäftigung sichert. Die Technische Hoch-
schule zu Charlottenburg ist ein glänzendes Beispiel der wirtschaftlichen Schöpferkraft
geistiger Arbeit. Aber wer tiefer in die Entwicklung der Völker und das Schmieden
ihrer eigenen Geschicke zu blicken gewohnt ist, wird auch der Berliner Universität nicht
vergessen. Wie herrlich hat sie den Gedanken erfüllt, den der König zur Zeit der
tiefsten Demütigung Preußens bei der Gründung dieser Hochschule (1810) aussprach,
der Staat müsse durch Anspannung der geistigen Kräfte ersetzen, was er an materieller
Macht verloren habe! Es gibt keinen Zweig der Wissenschaft, in dem nicht diese
Hochschule zeitweise die Führerschaft übernommen und fruchtbar längere Zeit fest-
gehalten hätte.
In der Pflege des Geistes, der Berlins vielseitige Arbeit durchweht, liegt eine
sicherere Bürgschaft der Fortdauer seiner Blüte als in dem Gewicht der Menschenzahl,
die hier sich zusammendrängt. Von 200 000 im Jahre 1808 hat Berlin bis 1900 aus
1 900 000 Bewohner sich vergrößert, von denen allerdings nicht die Hälfte (42 Prozent)
in Berlin geboren, die meisten zugewandert sind. Aber das ist nicht alles! Die Haupt-
städte wachsen selten in fester Geschlossenheit. Sie stoßen, wie in Bildung begriffene
Weltkörper, von sich Bevölkerungssplitter ab, welche, bisweilen mit besonderen Auf-
gaben, iu engster Nachbarschaft ein eigenes Leben führen. Je größer eine Stadt wird,
desto mehr erzeugt die Sehnsucht nach Freiheit und Zurückgezogenheit im Gegensatz
zu dem zentripetalen Zwange des Berufs einen zentrifugalen Drang in der Ver-
Wertung der Stunden der Muße und der häuslichen Ruhe. So umgab sich Berlin
mit eiuem Schwärm von Vororten, die eine Zeitlang selbständig bestehen, aber all-
mählich doch wieder erreicht und verschlungen werden von dem nachrückenden Un-
geheuer der Weltstadt. Schon hängen unmittelbar mit Berlin zusammen die in der
Gemeindeverwaltung selbständig fortbestehenden Städte Charlottenburg (218 000 Em-
wohner), Schöneberg (113 000 Einwohner), Rixdorf (106 000 Einwohner) und eine
Menge Dörfer städtischen Charakters. Der ganze Hof von Vororten, der Berlin um-
gibt und von dem Glänze dieses Sternes sein Licht empfängt, fügt der obengenannten
Volkszahl der Hauptstadt mehr als 800 000 Köpfe hinzu. Dabei sind schon mit ein-
geschlossen die ganz in Berlins Bannkreis gezogenen alten Havelstädte Spandau
(70 000 Einwohner) und Potsdam (60 000 Einwohner). Spandau erhielt durch die
Vereinigung von Havel und Spree eine für das Mittelalter feste, freilich nicht sehr ge-
sunde Lage. Es ist die zentrale Depotsestung der Monarchie mit großen Arsenalen,
Fabriken von Waffen und Munition; auch der Reichskriegsschatz wird hier verwahrt.
Dagegen ist Potsdam, umgeben von den Parken der Schlösser Sanssouci, Babelsberg,
Glienicke, eine stille, anmutige Residenz. Die weiten Wasserspiegel der Havelseen,
die Baumgruppen und Ziergärten, zwischen denen die Schlösser hervorschauen, atmen
Ruhe uud Frieden und laden ein zum behaglichen Genuß edler Muße.
64
B. Zur Länderkunde.
8. Die Grafschaft Glatz.
Von August Sach. („Die Deutsche Heimat", 2. Aufl., Halle 1902,
Buchhandlung des Waisenhauses.)
Wenn man von Schweidnitz der Bahn nach Südosten folgt, so dehnt sich gerade-
aus und nach links hin eine weite Ebene aus, wie man jie seit der Lausitz so unab-
schlich nicht erblickt hat; desto schärfer aber wird sie zur Rechten durch die Wand des
Eulen- und Reichensteiner Gebirges beschränkt, die sich gleichfalls weiter hinaus-
zieht, als das Auge zu reichen vermag. Von dem bläulichen Grün des waldigen
Rückens heben sich in der Höhe die grauen Felseuwerke der Friedrichsfeste Silber-
berg ab, weiter südlich am Fuße und an weißen Erdflecken erkennbar, Reichenstein
mit seinen Arsenikhütten; zwischen beiden wird man zuletzt einen dunklen Qnerspcilt
gewahr, der die Stelle bezeichnet, wo die Neiße sich einen Eingang durch das Ge-
birge gebrochen. Wie um diese schmale Pforte zu überwachen, erhebt sich abwärts
am Fluß über deu langen Hügelrücken des Hartenberges die viertürmige Burg von
Kamenz; nach einem der mächtigsten Entwürfe Schinkels erbaut, glänzt sie über die
geschichtlich bekannte Zisterzienserabtei stolz hinaus in die Ebene wie gegen das Ge-
birge. Wenn irgendwo hat man hier das Gefühl, einer Landesgrenze gegenüber-
zustehen. Man erwartet wie jenseit des Riesengebirges so auch hinter diesen Kämmen
über buutgescharte Hügel in die reichen Ebenen Böhmens hinabzuschauen; sobald
man aber die prächtige Enge des Tales von Wartha durchschritten, dessen Flußrauschen,
Felsenklippen, Wälder und Felder lebhaft an das Neckartal bei Heidelberg erinnern,
oder auf den Hochstraßen über Silberberg oder Reichenstein die Höhenzüge selbst
erstiegen hat, sieht man sich erstaunt durch eine zweite Gebirgsparallele, die im Ab-
stände von 25 km den Horizont abschneidet, von dem eigentlichen Böhmen abermals
getrennt und statt dessen von allen Seiten in eine ganz eigene Landschaft einge-
schlössen, die, dem preußischen Schlesien wie ein Gartensaal angebaut, in die Ge-
lände Böhmens und Mährens hineinspringt.
Die Grafschaft Glatz ist eiu Gebirgsland eigentümlicher Natur, voll der merk-
würdigsten Gegensätze, die es jedoch zu einer Einheit wieder versöhnt und verbindet.
Bei jedem Schritte spürt man, daß man Norddeutschland hinter sich gelassen, und
fühlt doch zugleich, daß man in Süddeutschland noch nicht eingedrungen ist. Neben
der deutlichsten Gleichmäßigkeit in der allgemeinen Gestaltung des Bodens tritt uns
der sreieste Wechsel an landschaftlichen Einzelbildern entgegen. Dort von Mähren
her steigt die gewaltige Gruppe des Glatzer Schneebergs empor, eine dreieckige Ge-
birgsmasse, deren erhabene Grundlinie die Grafschaft gegen das Gebiet der zur
Donau eilenden March abriegelt; von der alten Glatzer Festung her reichen die Quader-
steine des Heuscheuergebirges keilförmig mitten ins Land herein und fallen an der
nördlichen Ecke zu dem seltsam zerrissenen Sandsteingebirge von Adersbach und
Weckelsdorf ab, die ganz zu Böhmen gehören. Ursprünglich ein geschlossenes Ge-
birge aus Quadersandstein, entstanden diese Felsbildungen, ähnlich denen in der
Sächsischen Schweiz, durch Waschungen eindringender Gewässer, die den Sand fort-
führten, die Spalten vergrößerten uud nur die festen Massen stehen ließen. Die
merkwürdige Gruppe der Adersbacher Steiue, die Goethe im Jahre 1790 besuchte,
bildet gleichsam einen Wald von Stämmen und eine Menge von Jrrgängen, die
ohne Führer schwer zu durchwandern sind. Diese sehen wie Pfeiler, Wände oder
Türme aus, jeue sind oben regelmäßig abgerundet; einige ragen 40 bis 50 m hoch
8. Die Grafschaft Glatz.
65
empor; meist sind die Spalteil und Einschnitte mit Bäumen und Gebüsch dicht be-
wachsen; ihre Zahl beläuft sich auf mehrere Tausende. Die Wunder des im wört-
lichen Sinne zugeschlossenen Labyrinths, das ein silberklarer Bach durchfließt, kün-
digen als Vorposten zwei Felsen an, von denen der eine, eine Art von roher Bild-
säule eines Knienden darstellend, der betende Mönch, der andere wegen seiner kegel-
förmigen Gestalt, die nach oben breiter wird, der „umgekehrte Zuckerhut" genannt
wird. Noch großartiger in ihren Naturgebilden sind die Felsen von Weckelsdorf,
die erst im Jahre 1824 ein größerer Waldbrand vollständig freilegte; ihr Glanzpunkt
ist der sogenannte Dom, eine hohe Felsschlucht, deren Gewölbe eine gewisse Ähn-
lichkeit mit gotischen Spitzbogen zeigen. Andere Naturwunder bietet der Gebirgszug
in der Nähe, die unter dem Namen der „versteinerte Wald" von Radowentz bekannt
sind. An manchen Punkten übersieht man mit einem Blicke mehr als hunderttausend
Kilogramm versteiuerteu Holzes, sast immer entrindete Stämme von Nadelhölzern
bis zu 1 rn Dicke und 2 m Länge: so großartige Lager, wie sie im Gebiete der Stein-
kohlensormation bis jetzt weder in Europa noch in einem anderen Erdteile beob-
achtet sind.
Man kann sich denken, welchen Reichtum an wirklich malerischen Aussichten die
eigentümliche Kreuzstellung der Glatzer Täler herbeiführt, wie die Gebirgsglieder
zwischen ihnen mit jedem Wechsel des Standpunktes in immer neuen Verschiebungen,
Freilegungen uud Bedeckungen gleich künstlich bewegten Kulissen sich zu anderen
und aber anderen Bildern gesellig aufreihen. Tie geringe Ausdehnung der Land-
schast, in der Länge kaum 80, der Breite nach höchstens 40 km, erlaubt überdies
stets das Ganze ins Auge zu fassen, wobei zugleich die verschiedenen Größen der
beiden Achsen jedesmal zahlreiche Grade der Fernblicke nebeneinander hinzeichnen.
Während im Süden das gewaltige Rundhaupt des mit dem Kaiser-Wilhelm-Turm
gezierten Schneebergs bis zu 1426 m emporsteigt, ziehen im Norden nur halb so hoch
die wagerechten Linien des Sandsteinplateaus entlang. Vom baumlosen Scheitel
des erstereu, wo in einer Grenzsäule die drei Lande Böhmen, Mähren und Glatz
einander berühren, stellt sich gegen Südost der ernste Altvater dar in thronender
Herrschaft über dem Gesenke seiner Genossen; ein Rundgang von wenigen Schritten
enthüllt das Waldversteck der Quellflüsse, die mit dumpf murmelndem Lebewohl
den Scheideweg einschlagen zur Ostsee, zur Nordsee und zum Schwarzen Meere.
Vom Großvaterstuhl, der höchsten Klippe der Heuscheuer, mit ihren meist senkrecht
zerklüfteten, schwarzgrauen Felsen, streift der Blick über die Engpässe von Nachod
und Trantenan hinweg die einander ablösenden Ketten der Lausitzer-, Jser-, Riesen-
und Waldbnrger Gebirge; den Vordergrund füllen im Norden die zopfigen Gebilde
des Sandsteinflözes von den Adersbacher Steinen an. Aber hier wie dort kehrt
das Auge wieder und wieder in die umfriedigte Welt der inneren Grafschaft zurück,
um sich an dem heiteren Wechselspiel dieser doch so streng verbundenen Landschasts-
bilder unaufhörlich zu erquicken. In dieser Mischung von gehaltener Ordnung und
entbuudener Kraft, von Einheit und Freiheit hat die Grafschaft Glatz im ganzen
Bereich der deutschen Mittelgebirge nirgend ihresgleichen. Die Verbinduugm dieser
Bergreihen bringen Verhältnisse hervor auf dem Äußeren des eingeschlossenen Landes,
denen nur, wie Leopold von Buch sagt, „ein griechischer Himmel fehlt, um die Be-
wohner glauben zu machen, eine besondere Welt sei für sie da. Mögen doch Feen-
romane ihre Phantasie aufbieten, eine Gegend bezaubernd und reizend zu schildern,
sie werden ihre Dichtungen hier als Wirklichkeit finden. Die Natur scheint sich ans
der Erde Plätze bestimmt zu haben, die sie mit allem Reichtum versorgte, den ihre
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 5
66
B. Zur Länderkunde.
wohltätige Haud zu verleihen vermochte; hier zeigt sie uns, daß sie anch noch hoch
im Norden sich Tempel erbauen könne, die besonders zu ihrer Heiligung bestimmt
zu sein scheinen." Das ist freilich die überschwengliche Sprache des achtzehnten
Jahrhunderts, aber das zwanzigste würde noch ärger fehlen, wollte es solchen Reizen
mit kühlem Schweigen den Rücken wenden.
Dort, wo sich in der Nähe des Schneebergs drei Linien des Quertals schneiden,
liegt das Dorf Wölfelsgrnnd, dessen Hütten und Häuser sich nach allen Seiten, an
den Bächen auf- und abwärts, zwischen steilen Wiesen, Ackerstücken, und Waldzipfeln
zerstreut, hinziehen: ein Rundbild von frischer Schönheit und holder Verwirrung;
der Wasserfall der Wölfel, die 25 m tief in einen engen Kessel stürzt, brauchte kaum
da zu sein, dennoch würde man eben hier ohne Mühe den Glanzpunkt der Glatzer
Gebirgslandschaften erkennen.
So friedlich eingehegt uud grün umfchräukt dieser Wölselsgruud ist, so bequem
vermittelt er den Besuch weitschauender Höhen; nach oben weist er den kürzesten
Weg zum Schneeberg; seinen Ausgang ins Neißetal säumt nördlich der Spitzberg,
von dessen scharfen: Rücken die Wallfahrtskapelle Maria zum Schuee heruiederfchaut.
Der Berg sticht durch [eine Kegelgestalt auffallend genug vou deu fauftgerundeteu
Kuppen der Brüder ab, und die zahlreichen Kammbecken rings um die geräumige
Kapelle sowie die breitgetreteue Spur des steilen Bußwegs beweisen die Anziehnngs-
kraft des geweihten Ortes für die römisch-katholischen Bewohner der Talsohle. Er-
frenlicher dehnt sich drunten das wohlgebaute Tal hin bis gegen Glatz; behäbige
Dörfer, zum Teil mit ansehnlichen Herrenhäusern und Parkanlagen, durchschneiden
die weizenreichen Fluren; auch drüben an den böhmischen Rücken reichen Korn-
felder hoch hiuauf; nur die Abwesenheit jedes Weinbaues zwingt, auch diesem reich-
gesegneten Talgebiete den eigentlich süddeutschen Charakter abzusprechen. Auf den
Höhen gedeiht fast nur Hafer neben vorzüglichem Flachs, auf dem sich viel Leinen-
Weberei und Bleicherei aufgebaut hat; ansehnliche Bergwiesen unterstützen dabei die
Viehzucht und habeu eine reiche Butter- und Käsewirtschast erzeugt. Zahlreiche
Mineralquellen eutsprudeln daneben dem Boden uud rufen alljährlich Tausende
von Fremden in das sonst so entlegene Land, das seine deutsche Art nicht verleuguet,
trotzdem bei der Bevölkerung schwarzes Auge und dunkles Haar durchaus vorherrscht.
Auch ihre uicht übel klingende ostfränkische Mundart beweist ihren rein deutschen
Charakter, wie ein altes Bauernlied zeigen mag:
Nai, ech muß uf Tschihak ziehn;
durte hots glöch gud zu laba,
kucha hots un guda baba,
madelkarne un rosinka
un au guda wein zu trinka,
nai, ech muß uf Tschihak ziehn.
Mila (Maria), wu du a su willt,
war ech glei a fuchs oasponna,
un wer fohra flugs von donna.
Mäst der gud die behn eipacka,
un vull struh a schlita sacka,
Mila, wu du a su willt.
8. Die Grafschaft Glatz.
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Un die mäd, die koan derweil
mit dem kährta (Hirten) schuta (Schoten) drescha,
un der knaicht hot kolk zu löscha.
Werd die grula (Großmutter) 's vieh berotha,
un pantukkas (Kartoffeln) 's obens brotha;
met dam andern hots ke eil.
Mila, hörsts? vergieß a ni,
bankazedel eizustecka,
doß uns ni die Bihma (Böhmen) necka,
wenn mer preußsche haller hoan,
die ma duft nie nahma koan;
Mila, hörsts? vergiß doas ni!
Nur in der nächsten Nachbarschaft der Hauptstadt Glatz finden sich noch slawische
Ortsnamen, die anderen sind echt deutsch und reichen meist schon in die Zeit Otto-
kars II. (1254—78) zurück, der eifrig die Einwanderung deutscher Bauern und Bürger
förderte. Der Bau der einfachen Holzhäuser des Gebirges, deren Fenster bisweilen
erst nachträglich aus den quergeschichteten Stämmen herausgesägt sind, weicht nur
dadurch vou der eigentlich schleichen Weise ab, daß zu ebener Erde regelmäßig ein
halboffener Gang umhergezimmert ist, um Holz und anderen Vorrat unter dem
Schutze des aus Einzelstützen aufliegenden Überdaches zugleich trocken und luftig
zu bergen. Heiligenbilder und Kruzifixe mit altmodischen Inschriften stehen an
Kreuzwegeu hier und da, doch spärlicher als im nahen Böhmen, das die geistliche
Hoheit über die längstverlorene Grafschaft solange behauptet hat. In seinen mittel-
alterlichen Formen zeigt sich das römische Christentum noch recht in Albendorf, dem
berühmten schleichen Jerusalem. Der Ort gleicht einem Marktflecken, in dem Ver-
kaufsbude an Verkaufsbude stößt, und bildet einen abgeschlossenen Kreis, in den
zwölf Tore führen wie in die alte heilige Stadt. Der hindurchfließende Bach wird
Kidrou genannt, ein Teich heißt Bethesda; man findet die Schädelstätte, das heilige
Grab, das Hans der heiligen Anna, den Palast des Hohenpriesters, das Richthaus
des Pilatus. Die Kirche stellt im Innern den Tempel Salomonis vor und macht
mit ihrer breiten Freitreppe einen bedeutenden Eindruck. Die Wände sind mit
Votivtaseln bedeckt, in vielen Nischen Szenen aus dem Leben des Heilandes dar-
gestellt, und zahlreiche seltsame, früher mehr als heute wundertätige Reliquien be-
finden sich in eingemauerten eisernen Behältnissen. Der Kirche gegenüber liegt
der Kalvarienberg mit vielen Kapellen, die ebenfalls Bilder aus der Leidensgeschichte
des Erlösers enthalten. Die heilige Stiege hat 47 Stufen, nach den 47 Blutstropfen,
die der Erlöser auf feinem Todeswege vergossen haben soll; alle sind in den Sinsen
durch messingene Ringe bezeichnet. Hinter den Stationen liegt Golgatha mit den
drei Kreuzen, von denen das linke, an dem der unbußfertige Schächer hing, wunder-
barerweife von selbst einige Fuß abgerückt sein soll. Das heilige Grab, der Speer,
ein Stück vom wahren Kreuze, einige Spitzen aus der Dornenkrone, ein Stück Stein
von dem Orte Nazareth, wo Maria sich gebettet, Schlamm und Wasser aus dem
Jordan, Moos, Holz und Stein aus der Wüste, in der der Herr 40 Tage weilte, gehören
zu den Merkwürdigkeiten des Ortes, der nach der Sage seine heilige Bedeutung
durch außerordentliche Erscheinungen erhalten hat. Schon im dreizehnten Jahr-
hundert soll ein blinder Mann, der öfter an einer Linde zu beten pflegte, plötzlich
5*
68
B. Zur Länderkunde.
sehend geworden sein und an dem Baume ein Marienbild, von Hellem Schein um-
strahlt, erblickt haben. Dies wundertätige Marienbild und ein später entdecktes
heilendes Marienbrünnlein begründeten den Ruf des Ortes bei den Gläubigen.
Die Zahl der Wallfahrer soll sich heute jährlich auf 100 000 belaufen, deren größter
Andrang vom Anfang Mai bis in die Mitte des Juli dauert. Von da bis zu Eude
der Ernte ist er schwächer; dann wächst er wieder uud reicht bis in den Spätherbst
hinein. Den Anfang der Wallfahrten machen alljährlich die Mähren, die überhaupt
den Ort in großer Zahl besuchen. Die Prozessionen kommen gezogen unter Gesaug
und Posaunenstößen in eintönigen Weisen. Der Kalvanenberg, die Freitreppe
der Kirche sowie diese selbst sind von knieenden Andächtigen erfüllt, und auf der
heiligen Stiege rutschen Bußfertige auf und nieder, für den unbefangenen Zuschauer
ein trauriger Anblick.
Eine Merkwürdigkeit in nationaler Beziehung bietet die Grafschaft in ihrer
Westecke dar, wo an der Böhmen zugekehrten Abdachung der Heuscheuer in sechs
kleinen Ortschaften gegen 4000 Tschechen unter preußischem Zepter wohnen. Es ist
kein Wunder, daß hier die Sprachgrenze herübergreift, denn der Bodengestalt nach
ist diese Ecke von der inneren Grafschaft aus- und vielmehr Böhmen angeschlossen,
wie umgekehrt das deutschredende Braunau in Böhmen geographisch dem Glatzer
Kessel zugehört. Äußerlich macht sich das fremde Volkstum sofort kenntlich; in den
langgestreckten Dörfern stehen die Häuser mit dem zweifenstrigen Giebel nach der
Straße eng in Reihe und Glied; zwischen ihnen, oft hart vor der Haustür, lagern
Düngerhaufen, die in slowakisches Hochrosa gehüllten Kinder bewegen sich unge-
zwungener, uud das Schwein tritt mit größerer Sicherheit auf als in den Höfen der
Deutschen. Die Frauen verstehen kein Deutsch; die Männer haben es im Heeres-
dienste gelernt. Alle aber unterscheiden sich mit festem Staatsgefühl als Preußen
von den Stammesgenossen jenseit der schwarzgelben Pfähle. Der tschechische Lohn-
kutfcher aus Kudowa ruft, wenn der Wagen die holperige österreichische Steinstraße
vor Nachod erreicht hat, mit höhnischem Mitleid aus: „wir sind in Böhmen!" Am
meisten germanisierend wirkt auf die slawischen Gebiete das überwiegend von Deut-
fchen besuchte Bad von Kudowa mit seiueu kohlensäurereichen alkalischen Eisen-
quellen, in dessen hübschen Promenaden man an der trefflichen Musik die Nähe des
glorreichen Königreichs Böhmen von seiner stärksten Seite empfindet. Von Kudowa
aus gelangt man durch windungsreiche, zum Teil mit Laubbäumen geschmückte
Täler auf die breiten Hochflächen des Sandsteinplateaus und findet zuletzt auf der
Heuscheuer selbst, im dichten Waldesmantel verborgen, die ganze Zaubergesellschaft
aller Spukgestalten der Sächsischen Schweiz oder der Adersbacher Felsenstadt hoch
in den Lüften wieder, eine zerklüftete Welt, in der die Seltsamkeit herrscht statt der
Schönheit und deren Anblick bei dem Wanderer grenzenloses Erstaunen hervorruft.
Man erreicht den tschechischen Außenwinkel des Ländchens am bequemsten von
dem böhmischen Nachod aus und fühlt sich durch die zahlreichen Trauerdenkmale
an beiden Seiten der Straße zum ernsten Andenken an einen Krieg bewegt, dessen
herrlichen Siegen Preußen den noch einmal in blutige Frage gestellten dauernden
Besitz einer der schönsten und eigenartigsten Landschaften verdankt, der Lieblings-
erobernng Friedrichs des Großen, der Grafschaft Glatz.
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge,
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9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
Von Z. Kutzen. („Das Deutsche Land", 5. Aufl., Breslau 1908,
Ferdinand Hirt.)
Die Oberrheinische Tiefebene ist ein einfaches, leicht übersichtliches Ober-
slächengebilde, ein allmählich absinkender Flachlandbusen mitten im Hochlande,
dessen Südende bei Basel 240 m, dessen Mitte bei Straßburg 140 in und dessen Nord-
ende bei Bingen 70 m über dem Meere liegt. Sie hat eine Flüche von 11 000 qkm,
eine westöstliche Breite von 22 bis höchstens 55 km und zieht sich von Süd nach Nord
fast 300 km weit hin.
In der Vorzeit ist das den Schwarzwald und Wasgenwald verbindende Gebirgs-
stück in die Tiefe abgesunken, und dann war die dadurch entstandene Tiefebene von
einem langen See zwischen den Abhängen der Bergkämme überflutet; das Becken
wurde darauf vom Rhein und seinen Zuflüssen bis 150 m Höhe mit Sand und Kies
angefüllt, uud bei trockuem Klima lagerte sich dann Löß und Flugsand ab. Es folgte
die Eiszeit, in welcher der Rhein die Grundmoränen und seine eigenen Ablagerungen
erodierte; wieder folgte eine Trockenzeit mit Löß- und Dünenbildung, die Flüsse
gruben sich tieser eiu, bis der Rhein sich durch das Schiefergebirge von Bingen nach
Koblenz den tiefen Talweg durch die Felsen nagte.
Die Gebirge zu beiden Seiten, die gleichsam als Grabenrand die vom Rhein
durchströmte Ebene einfassen, steigen sogleich im Süden hoch empor — der Rest
eines'uralteu Gebirges —, sinken gegen die Mitte und erstreben dann weiter nördlich
wieder eine größere Höhe, die jedoch den südlichen Abschnitten bei weitem nicht gleich-
kommt. Uberall aber, wie verschieden auch in den einzelnen Teilen ihre Erhebung
ist, sind beide Gebirge einander merkwürdig gleich, denn sie waren ja, bevor die Rhein-
ebene einbrach, ein zusammenhängendes Gebirge und sind nach Osten bzw. nach
Westen stafselförmig abgesunken. Sie gleichen einander in ihrer keilförmigen Gestalt,
deren Spitze nach Norden gerichtet ist; Schwarzwald und Wasgenwald wenden
der eingeschlossenen Ebene ihre steilen, schroffen Wände und ihre erhabensten Gipfel
zu, während die vom Rheinstrom abgewendeten Gehänge sanft absinken und all-
mählich in Hochflächen übergehen, auf der Ostseite in das Schwäbische und auf der
Westseite in das Lothringische Tafelland; beide bestehen in ihrer südlichen Hälfte
aus Granit und Gneis, von Porphyr durchsetzt, während rheinabwärts der Bunt-
saudstein dem Granit auflagert und auch an manchen Stellen noch Jura und Tertiär
erhalten geblieben ist.
Der Schwarzwald, im Mittelalter wegen der dunklen Tannen als Silva Nigra
bezeichnet, gehört besonders in seiner südlichen Hälfte wegen seiner Gesamterhebung
und der Mächtigkeit seiner Rücken, sowie wegen der Höhe seiner Gipfel zu den statt-
lichsten deutschen Mittelgebirgen, nur durch das Rieseugebirge übertroffen. Die
Gipfel — unter ihnen erreicht der Feldberg 1495 m — ragen nicht als freie Felsen-
spitzen empor, sondern wölben sich zu abgerundeten Kuppen, entsprechend der Neiguug
des Granits zu dieser Form, teilweise auch, weil die eiszeitlichen Gletscher die Berge
zu Rundhöckern abgeschliffen haben, und schließlich auch wegen des hohen Alters
dieser Gebirgsmasse. Mit dichten, düsteren Nadelholzwaldungen sind die mittel-
hohen Rücken und oberen Lehnen bedeckt, während die unteren, dem Rheintale zu-
gewandten Abhänge im Schmuck herrlicher Weinberge, Obstgärten und üppiger
Laubwaldungen prangen.
70
B. Zur Länderkunde.
Die früher schon durch treffliche Kunststraßen untereinander verbundenen,
aber immerhin gewissermaßen abgeschlossenen Täler sind durch die im Jahre 1873
eröffnete Schwarzwaldbahn (von Offenburg über Triberg nach Singen), die so
recht das Herz des Gebirges durchschneidet, dem Fremdenverkehr geöffnet. Diese
großartigste Gebirgsbahn des Reiches durchbricht auf kühn angelegten Brücken und
Viadukten in 38 Tunneln die Bergketten und gewährt durch ihre vielverschlungenen
Krümmungen in rascher Aufeinanderfolge stets neue überraschende Blicke aus die
bewaldeten Höhen und in die von einer gewerbtätigen Bevölkerung bewohnten
Talgründe. In neuester Zeit überschreitet auch im oberen schönen Kinzigtale eine
Bahn das Gebirge und mündet bei Freudenstadt, und noch an mehreren anderen
Stellen dringt der Verkehr mit Dampfkraft weit in die herrlichen Täler ein, um
schönen Punkten wie der Hornisgrinde oder dem sagenberühmten Mummelsee näher-
zukommen.
Der Schwarzwald nährt seine Bewohner fast nur durch die Erzeugnisse seiner
Oberfläche, doch finden sie in den großen Waldungen ein hinreichendes Auskommen.
Die meist engen und tief eingeschnittenen Täler der wilden Gebirgsbäche werden
durch Einrichtung von Stauwehren angeschwellt, und so gelingt es, die riesenhohen
Kiefern, Fichten und Weißtannen in den Rhein zu flößen; auf diesem schwimmen
sie häufig bis in die Niederlande, deren unerschöpfliches Holzlager seit Jahrhunderten
der Schwarzwald ist. Solche Holzstämme, die daher auch Holländer genannt werden,
haben bisweilen eine Länge von 25 bis 30 in. Der Erlös daraus ermöglicht deu
Bewohnern den Ankauf des Brotkorns, das besonders in den: südlichen Teile der
karge Gebirgsboden verweigert.
Auch verschaffen mancherlei Erzgänge und Heilquellen, das Kohlen des.Holzes,
das Teerschwelen und Harzreißen Beschäftigung und Unterhalt. Schwarzwälder
Holzschnitzereien, Strohhüte, vorzügliche Uhren find durch ganz Deutschland, ja weit
darüber hinaus bekannt. Es sind „kleine Gewerbszweige, wie sie sich fast in allen
Gebirgen finden, nicht so wichtig als Nahrungszweig wie als ,Salz des Landes', als
Beschäftigung für die kunstreichsten, aufgewecktesten Söhne des Gebirges, die auf
solche Weise der Heimat erhalten werden". (Mendelssohn.)
Die Uhrenfabrikation nahm seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ge-
fördert durch tüchtige Gewerbeschulen und die mit ihnen in Verbindung stehenden
Gewerbevereine, einen ganz ungeahnten Aufschwung. Dazu kommt in neuerer
Zeit die Herstellung von Musikwerken, vorzugsweise iu Furtwangen und Kirnach.
Gegenwärtig hat die rasche Zunahme des Absatzes der Schwarzwälder Uhren zu
einem fabrikmäßigen Betriebe geführt, der bereits seit längerer Zeit in Villingen,
Neustadt und Triberg herrschte, während daneben die Hausindustrie besonders im
westlichen Teile des Gebirges in alter Weise fortbesteht. Im ganzen finden etwa
14 000 Menschen in den Amtsbezirken Triberg, Villingen, Neustadt, Waldkirch und
Freiburg ihren Unterhalt durch die Uhrenfabrikation, und die Zahl der hergestellten
Uhren geht hoch in die Millionen.
Der Charakter der Schwarzwälder, die kurzweg „die Wälder" oder „die Leute
des Waldes" genannt werden, hängt unverkennbar mit der Eigentümlichkeit ihrer
Heimat zusammen. Naturwüchsig wie ihre Berge, sind sie im allgemeinen felsenfest
in Gesinnung und Wort, ohne Verstellung und berückende Schlauheit, die in ihrer
Brust keine wohnliche Stätte finden. Biedere, herzliche Leute von ungeschminkter
Zutraulichkeit und liebenswürdiger Gemütlichkeit; bei allen Träumen einer reichen
Einbildungskraft, die, wie überall in den Waldgebieten, die Felsen, Büsche,
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
71
Sümpfe und Seen des Berglandes mit guten und bösen Kobolden bevölkert, doch
aufgeweckten Sinnes für die Geschäfte der Wirklichkeit und für ein tüchtiges prak-
tisches Zugreifen — lauter Eigenschaften, die ihr markiger Körper noch verstärkt;
denn sie erfreuen sich bei genügsamem Leben eines kräftigen Gliederbaues, gesunden
Aussehens und ausdauernder Gesundheit.
Das Gebirge hört jenseit der Murg auf, den Namen Schwarzwald zu führen,
und seine Fortsetzuug nördlich von Durlach und Pforzheim hat nur vom Rheintal
aus, nach dem sie ziemlich steil abfällt, ein gebirgsartiges Ansehen. Diese unter dem
Namen des Kraichgaues bekannte Einsenkuug zieht sich auf 50 km als ein niedriges,
flachwelliges und angebautes Hügelland von nur 400 m mittlerer Höhe bis zu dem
Durchbruche des Neckar, zum größten Teil aus Muschelkalk bestehend. Jenseits des
Neckar erhebt sich der Odenwald, der wieder größtenteils die Massen des Urgesteins
zeigt und weithin seine schon von den Römern (im „Felsenmeer") ausgebeuteten
Bausteine liefert. Über die mittlere Höhe von 450 m steigert mehrere im Verhältnis
zur Niedrigkeit des Gebirges kühn geformte Gipfel empor, unter ihnen besonders
der Melibocus oder Malchen (515 m) am Westrande und der Katzenbuckel (626 m).
Den Osten des früher mit Eis bedeckten Gebirges bildet Buntsandstein, im Westen
tritt Granit nebst anderen alten Gesteinen zutage und fällt ziemlich schroff ins Rhein-
tal, zur vielbesuchten, von zahlreichen Ruinen überragten Bergstraße ab, an der
jetzt die Main-Neckarbahn entlang führt.
Auch die Hauptmasse des Wasgeuwaldes (Möns Vosegus der Römer, les
Vosges der Franzosen) liegt im Süden. Sein Kamm beginnt auf französischem
Gebiete bei der Burgunder Pforte (trouee de Beifort), die den Jura vom Wasgen-
walde scheidet, mit dem Elsässer Belchen (1245 m) und zieht sich, von der deutsch-
französischen Grenze begleitet, nordwärts bis zum Donon (1009 m) in einer Länge
von 100 und einer Breite von 50 km. Während der Hochwasgenwald sich in seinem
westlichen Abfall als ein wildes, seenreiches Waldgebirge darstellt, das sich längs
der Mosel und Menrthe allmählich nach Lothringen abstust, kehrt er ebenso wie der
Schwarzwald seinen steilen Abfall dem Rheintale zu, in dessen Einschnitten sich wiesen-
und quellenreiche Talgründe bergaufwärts ziehen, von einer gewerbtätigen Ein-
Wohnerschaft bevölkert. Waldlose Rücken des einst vergletscherten hohen Wasgen-
Wäldes dienen als Viehweide. Stille Seen, wie der Schwarze See, ein altes, durch
einen Moränenwall abgeschlossenes Gletscherbecken, liegen zwischen Felsentrümmern,
Höhlen öffnen sich in weltentrückten Tälern, und der Kamm trägt mächtige abge-
rundete, Kugelkappen ähnliche Kuppen, den Kratzen, Trumenkopf, Winterung,
Hoheneck n. a., die mit dichten Nadelholzforsten bedeckt sind und zu den schönsten
Bergwaldungen Deutschlands gehören. Die oberen Talanfänge sind bisweilen mit
kleinen Bergseen oder Torfmooren gefüllt; prächtige Täler, wie das Münstertal
und Steintal, ziehen sich zwischen steilen Bergen in die Ebene hinab, geschmückt mit
kleinen Städten uud überragt von Klöstern und Burgruinen. Erst in neuster Zeit,
besonders seit dem Wiederaufbau der Hohkönigsburg, findet diese Gegend den ihr
wegen ihrer Schönheit gebührenden Besuch. Am Ostrande erheben sich ebenfalls
hohe Bergkuppen, von denen der Sulzer Belchen mit 1426 m der höchste ist. Auf
das Urgestein legen sich ringsum devonische und karbonische Ablagerungen, die vom
Breuschtale an vorherrschend werden, bis schließlich dem Kraichgau gegenüber eine
Buntsandsteinmulde, die Pfalzburger Mulde, als natürliche Grenzlinie auftritt, über
die bei Zaberu eine Straße, eine Eisenbahn und der Rhein-Marne-Kanal die Ver-
bindung mit Lothringen herstellen.
72
B. Zur Länderkunde.
Jenseit der Zaberner Steige zeigt sich die Haardt (Hardt, Hart --Wald-
gebirge) wieder mehr gebirgig. Ihre ansehnlichsten, früher ebenfalls vergletscherten
Höhen liegen nahe ihrem zerklüfteten, steilen Ostrande, dessen Bergreihe sich als
eine stattliche Gebirgswand darstellt, den hinteren Hauptkamm überragt und be-
sonders in der Mitte als festgeschlossener Bergwall erscheint. Während das Gebirge
im Innern durch zahlreiche Täler vielfach gespalten ist, durchbricht deu Raud nur
ein einziges Haupttal, das des Speyerbaches. Tie Haardt, deren Sandsteinsläche
in 300 bis 450 in Meereshöhe liegt und nur im Eschkopf auf 610, im Kalmit aus 680 m
ansteigt, durchzieht die Pfalz ziemlich iu der Mitte vou Süd nach Nord und gibt ihr
eine östliche uud westliche Abdachung. Von ihnen geht die sanftere westliche in das
hochwellenförmige Westrich uud dann durch die Muschelkalkstufe in den Keuper
von Lothringen über; die östliche fällt jäh in die Rheinebene ab und bildet mit dieser
die Vorderpfalz. Sie enthält am Fuße der Berge das herrliche Pfälzer Weinland,
auf das in vollem Maße das paßt, was für die Oberrheinische Ebene überhaupt gilt.
Beide Abdachungen sind voll landschaftlicher, ethnographischer und geschichtlicher
Gegensätze; es gibt in Deutschland nicht viele Landstriche, wo sich auf so kleinem
Räume so wenig Einheitlichkeit, wo sich in der geologischen Natur und im Anbau des
Bodens, ferner in der Mischung vou Stammeseigentümlichkeiten, in geschichtlichen
Überlieferungen, in Brauch und Lebensweise, in Konfession und Weltanschauung
so scharfe Gegeusätze so schroff nebeneinander darboten.
Die Haardt sällt gegen Norden zu dem sumpfreichen Landstuhler Bruch
(Kaiserslauteruer Einsenknng) ab, durch deu die alte Straße von Worms nach Loth-
ringen, heute die Eiseubahn von Mainz nach Saarbrücken läuft. Nach dieser Ein-
senknng steigt, dem Odenwalds gegenüber, aufs neue ein niedriges, aus karbonischen
Ablagerungen mit Porphyr- und Melaphyrdurchbrüchen bestehendes Bergland auf,
das besonders durch seinen Reichtum an Steinkohlenlagern ausgezeichnet ist. Am
höchsten unter seinen unzusammenhängenden Berghaufen ragt der Donnersberg
auf, der in dem Königstuhl 687 m erreicht. Da feilte gewaltige Porphyrmasse die
umliegenden Bergflächen um 250 bis 300 rn, die tief eingeschnittenen Talsohlen um
fast 500 in überragt, so erklärt sich daraus der bedeutende Eindruck, den er in der
Rheinebene weithin macht. In einem Teile des sich unmittelbar anreihenden Landes
finden wir eine wildromantische Gebirgslandschaft mit stillen, tiefen, von mächtigen
Felsen umschlossenen Tälern, mit lieblichen Gründen und dunklen Wäldern. Mir
stehen hier in einem poetischen Lande, wo uns in finsteren Bergschächten, in wüsten
Trümmern stolzer Schlösser, die malerisch seinen Gürtel schmücken, und in den ruhigen
Tälern oft der Geist der Sage begegnet.
Nördlich bis zum Rhein hin ist das fruchtbare Hügelland des Alzeier Gaues
gelagert. An ihm vorüber und durch diesen Strich kommt die berühmte alte Kaiser-
straße; sie nimmt bei Kaiserslautern, dem Herzen der Pfalz, wo einsichtsvolle Feld-
Herren ihre Entscheidungsschlachten geschlagen haben, die alten Heerstraßen des Neu-
städter und Dürkheimer Tales auf und verbindet neben der Eisenbahn Lothringen
mit dem deutschen Stammlande.
Bei der Pfalz ganz besonders gestattet die Beschaffenheit des Landes einen be-
gründeten Rückschluß auf die Bewohner, so daß ihre Art und ihr Wesen gleichsam
nur der vergeistigte Ausdruck der Laudesnatur ist. In der lustigen, heiteren, reichen
Pfalz finden wir meist nur heitere, fröhliche, reichbegabte Menschen. Ausgerüstet
mit einem schlanken, geraden, von Kraft, aber noch mehr von Gewandtheit zeugenden
Körper, zeichnet sich dieser rheinfränkische Schlag der Pfälzer auch durch geistige
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
Erregbarkeit, Rührigkeit, Gewecktheit und ausdauernde Tätigkeit aus. Auch fehlt
es ihm, trotz aller Stürme der Vergangenheit und der Gegenwart, keineswegs an
einer gewissen Tüchtigkeit der Gesinnung und an einer festen Selbständigkeit. Freilich
geht die Stärke seines Selbstgefühls oft über das für Bescheidenheit zulässige Maß
hinaus; seine an uud für sich nicht tadelnswerte Mundfertigkeit nimmt wohl auch den
Mund zu voll und breitet sich in das sogenannte „große Maul" aus, das über alles
herfällt, alles besser weiß und alles besser macht. Ebenso ist der leicht erregbare Sinn
des Volkes vor Überstürzungen nicht sicher und fällt dann wohl, wenn es zum Bewußt-
sein kommt, nicht selten in die ganz entgegengesetzte Bahn.
So spiegelt sich in diesen allgemeinen Zügen, bei denen wir natürlich eine Menge
Ausnahmen an den einzelnen Menschen und einzelnen Landesteilen hier außer acht
lassen, recht kenntlich das Land ab. Wie in der Sinnesart der Bewohner, so auch hier
entsprechende Gegensätze: auf der einen Seite die herrlich prangende, wein- und
fruchtreiche Vorderpfalz in ihrer glanzvollen landschaftlichen Schönheit, auf der
anderen das rauhere hügelige Westrich mit seinen stillen Tälern und waldigen Bergen,
deren Tiefen erzene Schätze bergen.
Innerhalb dieser aus beiden Seiten einschließenden Gebirgszüge und Gebirgs-
landschaften erstreckt sich die Rheinebene, die wir, obwohl sie am Mittelrhein liegt,
doch im Gegensatze zu der niederrheinischen die Oberrheinische nennen. Die fast
wagerechte Fläche des breiten und kaum 100 m über dem Meeresspiegel befindlichen
Talgrundes wird nur im Süden durch das kleine (etwa 110 qkm), ganz vereinzelt
liegende Masseugebirge des Kaiserstuhls sehr merklich unterbrochen, das mit seinen
Ausbruchsgesteinen auf die alten Verwerfungsspalten dieser Gegend zurückweist.
Wie eiu inselartiger Lustpark baut er sich mit seinen 40 bis 50 malerischen Basalt-
und Doleritknppen auf, deren höchster Punkt, der Totenkopf, bis 557 in ansteigt, und
gewährt eine weite, hohen Genuß bietende Aussicht über die reiche, offene Landschaft.
Fast überall ist die Rheinebene mit mildem Klima, mit fruchtbarem Boden ge-
segnet; insbesondere aber ist reich damit beschenkt der Fuß der Berge, an dem eine
Reihe blühender Städte und stattlicher oder freundlicher Dörfer und die belebteren
Straßen sich hinziehen. Wer hier einmal zwischen den herrlichen Obsthainen und
Weinpflanzungen umhergewandelt ist, die in üppigster Fülle miteinander wechseln,
und den Blick erhoben hat zu dem alten Burggemäuer, das efeuumkränzt und oft
zwischen edlen Kastanien- und Walnußbäumen hervor- und herabschaut und mit
jenen Städten uns daran erinnert, daß auch ehemals an den Berglehnen das Haupt-
leben des Landes sich bewegt hat; wer zugleich den vollen landschaftlichen Zauber
jeuer Talbuchten genossen hat, aus denen Flüsse und Bäche vom Gebirge in die
weite Rheinebene hervorbrechen, — der wird diesen Gegenden das Lob nicht vor-
enthalten, daß sie zu den durch Fruchtbarkeit gesegneten, aber auch zu den schönsten
unseres Vaterlandes gehören. In ihnen vereinigen sich wohltuend Oberflächenform
und fließendes Wasser, Färbung des Gesteins und der Belaubung, Anbau und Ver-
kehr, reichbewegtes Leben und ernstmahnende Erinnerung an frühere Geschlechter.
An Bodenschätzen bietet die Ebene wenig; am wichtigsten sind wohl die Erdöllager
im Elsaß, entstanden aus den Fetten untergegangener Tiere.
Die Oberrheinische Ebene enthält auch einige minder ergiebige und angenehme
Striche. Hier und dort stößt man aus sandige, zum Teil mit Kiefern und Fichten-
wald bedeckte Flächen von nicht geringer Ausdehnung, die den ödesten Gegenden
Norddeutschlands nicht nachstehen. Sie liegen in der Nähe des Rheins und sind von
ihm angeschwemmt.
74
B. Zur Länderkunde.
Noch hat nämlich der Fluß die Heftigkeit nicht abgelegt, zu der ihn die Strom-
schnellen zwischen Schaffhausen und Rheinfelden und der Durchbruch durch die Felsen
und Bergklüfte beim Eintritt in die Ebene aufregen; vielmehr strömt er hier zunächst
bei starkem Gefälle mit großer Raschheit und reißt dabei viel Geröll mit sich. Dann
aber vermindert die ansehnliche Breite des Flußbettes seine Schnelligkeit, das Geröll
schiebt sich träger vorwärts, und durch das stetige Fortrücken seiner Sand- uud Kies-
betten wird er flacher. In viele Arme geteilt, von denen bald der eine, bald der
andere das Hauptbett bildet, umschließt er eine Menge Inseln uud drängt unstet
uud ungezähmt bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Er ist noch ein groß-
artiges Wildwasser. Versumpfungen, Versandungen und Überschwemmungen der
von den Flußarmen umschlossenen Inseln uud der Uferstrecken veranlaßten aus-
gedehnte Regulierungsarbeiten am Oberrhein. Durch Herstellung eines Nor-
malufers wurde der Strom in eine geschlossene Rinne eingeengt, die Verlandung
der verlassenen Flußarme bewirkt, durch Deichbauten das Überschwemmungsgebiet
entwässert, endlich durch Geradelegung des Stromlaufes zwischen Basel und der
hessischen Grenze seine Länge um 85 km verkürzt.
Anders gestaltet sich die Beschaffenheit des Rheins unterhalb der Murg. Hier
ist er bereits zu größerer Ruhe gelaugt und hält seine Gewässer mehr in einer Haupt-
ader zusammen. Arme und Inseln bilden sich seltener; in sicherem Bette, zwischen
geregelteren und anbaufähigeren Ufern, bei volleren Fluten, geringerem Falle er-
weckt er, durch Jll, Neckar uud Main verstärkt, schon weit mehr den Eindruck eines in
zuverlässiger Gleichmäßigkeit dahinwogenden Stromes.
Je uach der Verschiedenheit seines Laufes uud seiner Uferstriche hat der Rhein
auch die Geschicke und Gebilde der Menschenwelt gestalten oder veranlassen helfen.
In dem oberen Teile, besonders auf der an 125 km langen Strecke von Basel
bis Kehl, bereitete er wegen seines starken Gefälles (1:1600 bis 1 :1000) der Schiff-
fahrt stets viel zu große Schwierigkeiten, als daß sie sich hätte zu vollem Leben ent-
wickeln können. Hier findet fast nur Talfahrt statt, während die Bergfahrt meist
durch den Rhein-Rhone- und den Hüninger Kanal vermittelt wird und auf
dem Strome selbst erst neuerdings wieder zwischen Basel uud Straßburg anfge-
nommen worden ist; denkt man doch sogar daran, sie ans die Schweizer Seen und
ebenso vom Po her bis an den Fuß der Alpen auszudehnen. Daher bestand seit
alten Zeiten lebhafter Landverkehr für den Marenhandel im elsässischen Sundgau
auf der Straße von Straßburg über Kolmar und Mülhausen nach Basel. Von
Straßburg ab trägt der Rhein schon größere Lasten, und zumal die Bergfahrt wird
allmählich um vieles leichter; von hier beginnt eigentlich erst die Schiffbarkeit und
Schiffahrt. Im oberen Teile lohnen seine sandigen oder sumpfigen Ufer nicht immer
den Anbau; er bildet mit ihnen eine Art Wüstenstreifen, der die Überbrückung und
Besiedlung hindert und Völker und Staaten der beiden Beckenhälften trennt oder
doch getrennt hat. Als ein bequemer und breiter Grenzgraben wurde er lange Zeit
von den Römern gegen die Germanen festgehalten, ja Kaiser Augustus erachtete die
militärisch-politische Wichtigkeit des linken Ufers für so groß, daß er diese Grenzprovinz
in seine eigene Verwaltung nahm und ihre Obhut stets nur Mitgliedern seines Hauses
anvertraute. In früheren Jahrhunderten von den Franzosen unablässig als Grenze
erstrebt, ist er nach der Wegnahme von Elsaß und Lothringen wirklich die Scheide-
linie zwischen Frankreich und Deutschland gewesen, später aber, seitdem Deutschland
seiue alteu Anrechte auf das linke Ufer in blutigem Kampfe zurückerobert hat, von
Basel bis zu seinem Eintritt in Holland wiederum ein deutscher Strom geworden.
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
75
Eine Reihe von Städten hat in den Kämpfen um die Rheinstraße und Rhein-
grenze geschichtliche Bedeutung erlangt.
Bei Basel, wo der Rhein seinen Durchbruch durch den Jura vollendet, legt
sich der Jura in einer sanften Falte an den von seiner höchsten Erhebung plötzlich
und steil nach Süden abfallenden Wasgenwald an und bildet eine nur 375 m hohe,
breite Einsenkuug. Sie liegt mitten in der Wasserscheide des Rhein- und Rhone-
gebietes; durch sie führt außer mehrereu Eisenbahnen der durch die große Zahl seiner
Schleusen merkwürdige Rhein-Rhone-Kanal, der bei Montbeliard (Mömpelgard)
die Jll mit dem Doubs und somit die beiden großen Alpenströme in Verbindung
setzt. Niemals hat diese Einsenknng den Völkerströmungen, Heeres- und Handels-
zügen größere Schwierigkeiten entgegengestellt; daher ist dieser Eingang in die Ober-
rheinische Ebene seit uralten Zeiten bekannt und gesucht, und die Gegend ringsum
ist ebenso wie die Mährische Pforte auf der audern Seite Deutschlands der Schau-
platz wichtiger Vorgänge geworden. Durch die Burgunder Pforte drang wahr-
scheinlich zuerst eine Kunde vom Rhein zu der zivilisierten Welt am Mittelmeer, auf
der alten „Bernsteinstraße"; hier kamen höchstwahrscheinlich aus dem Rhonetale
griechische Händler zu den Völkern des mittleren Rheins; hier stieß Cäsar mit Ariovist
zusammen, der seine Germanen zwischen Masgenwald und Jura in das Rhonegebiet
zu führen beabsichtigte, schlug ihn zurück und drang mit seinen Legionen in das Ober-
rheinische Becken vor; und hier zogen von seiner Zeit bis zu der der Napoleone uu-
zählige Kriegerscharen der Romanen und Germanen zwischen dem südlichen Deutsch-
laud und Frankreich hindurch. Eine Zahl Schlachtennamen gibt Zeugnis von dem
blutigen Ringen, das in verschiedenen Zeiten an dieser Pforte und dem Rheiudurch-
bruche stattgefunden hat: St. Jakob (1444) und Dornach (1499) unfern der Birs,
Beuggen, Warmbach und Rheinfelden im Dreißigjährigen Kriege, Friedlingen und
Hüningen im Spanischen Erbfolgekriege, und in neuester Zeit Belfort, das diese Ein-
gangspforte sperrt, und um dessen Besitz hartnäckige Kämpfe stattfanden.
Der Übergang durch die Burgundische Pforte stößt, parallel mit der Längsachse
der Schweizer Hochebene, auf das Rheinknie an einer Stelle, wo der Rhein noch
nicht schwer zu überbrücken ist und sich zugleich wieder mehr für Talschiffahrt eignet,
und wo sich eine Verbindung mit dem Donaugebiet anknüpfen läßt. So erklärt es
sich leicht, wie das Straßennetz der Schweiz an jener Ecke einen Hauptknoten bildet,
und wie ein Ort in jener Gegend sich zu Bedeutsamkeit und Größe aufschwingen
kouute. Denn hier ist die natürliche Stätte eines Rheinhafens, ein Kreuzungspunkt
westöstlicher und nordsüdlicher Straßenzüge, der vor allen geeignet ist, den Verkehr der
Schweiz mit dem Norden und Westen, mit Deutschland und Frankreich zu vermitteln.
Die Römer hatten 10 km oberhalb, an der Mündung der Ergolz, unter Kaiser
Augustus eine ihrer ansehnlichsten befestigten Niederlassungen in der Schweiz, die
berühmte Augusta Rauracorum (jetzt das kleine Dors Basel-Augst) angelegt. Als
diese, nachdem sie lange Zeit eine große militärische Wichtigkeit behauptet hatte,
den Stürmen der Völkerwanderung erlegen war, gründeten geflüchtete Einwohner
abwärts an der Mündung der Birs und hart an dem Scheitel des Rheinwinkels in
noch vorteilhafterer Lage Basilea (= Königsstadt). Aus ihr wuchs allmählich die
Rheinstadt Basel heran, die später zur Blütezeit des Deutschen Reiches als einer seiner
ansehnlichsten und reichsten Handelsplätze und im fünfzehnten Jahrhundert als die
mächtigste freie Reichsstadt am Oberrhein austritt. Noch jetzt gilt Basel als der erste
Handelsplatz der Schweiz, mit dessen sprichwörtlichem Reichtume sich wenige Städte
Deutschlands messen können.
76
B. Zur Länderkunde,
Von den vier Städtereihen im Rheinbecken — zwei dicht am Rheinufer und
zwei längs der Bergstraßen am Fuße der Gebirge — enthalten die Uferreihen in:
oberen Teile wenige und meist unbedeutende Orte. Hier ist außer Hüningen nur
Alt-Breisach am Kaiserstuhl zu nennen, in alten Zeiten Festung, der „Schlüssel
des Deutschen Reiches", der die breit und bequem ins französische Rhonetal hinab-
führende trouee de Beifort verwahren sollte; jetzt hat es dieses Amt an Neu-Brei-
sach abgegeben.
Eine größere Zahl ansehnlicher Städte aus älterer uud ueuerer Zeit liegt mehr
am Fuße der Gebirge. Auf der Ostseite liegt Frei bürg in der Mitte eines durch
Schönheit uud Fruchtbarkeit ausgezeichneten Busens der Rheinebene, den anmutige
Berge umschließen, am Ausgange des Treisamtales, das durch die malerisch zer-
klüsteteu Felswände des Höllentales in das Tal der Wutach und weiterhin zur Donau
führt. Zur Vermittlung des Donau- und Rheiuverkehrs ist der Hauptort des ehe-
maligen Breisgaues sehr vorteilhaft gelegen; jetzt ist es Sitz eines Erzbischoss und
besuchte Universität, mit mehr als 60 000 Einwohnern der wichtigste Ort im süd-
lichen Teile des Großherzogtums Baden. Baden-Baden, von frühzeitiger Be-
dentung durch die Entdeckung seiner kräftigen Heilquellen, ist wegen der Anmut seines
üppigen Tals einer der meistbesuchten Knrorte Deutschlands; die herrlichen Eichen,
Platanen, Buchen und Ulmen, die dunklen Tannenberge, die gewaltigen Felsmassen
und herrlichen Gebäude geben ein prachtvolles Landschastsbild, auf das die Trümmer
des badischen Stammschlosses schwermütig niederschauen. Rastatt war früher als
Festung berufen, die Rheinebene an der Stelle zu sperreu, wo das Gebirge dem
Rhein am nächsten tritt. Karlsruhe, im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts
durch den Willen eines die Einsamkeit liebenden Fürsten ins Dasein gerufen, ist jetzt
als Industriestadt emporgekommen und durch eine Technische Hochschule und eine
Malerakademie eine Pflegestätte für Kunst und Wissenschaft. Auf der Westseite, wo
die III die Richtung der Städtereihe bestimmen half, liegt im Sundgau die ehemalige
freie Reichsstadt Mülhausen, einst in Blüte durch den Verkehr aus der alten Handels-
straße, die sich von Besancon in Burgund nach dem Rhein hinzog und somit die Hau-
delsstädte au der Rhone und dem Mittelmeere mit den rheinischen Märkten Mainz
und Köln verknüpfte, jetzt mit 90 000 Einwohnern ein Hauptsitz der Weberei und Spin-
nerei. Einen schönen Aufschwung nahmen auch seit ihrer Eingliederung in das Mutter-
reich die alte freie Reichsstadt Kol mar, jetzt die Hauptstadt vom Oberelsaß und be-
rühmt durch ihre Baumwollspiuuereien uud mechauischen Werkstätten, uud die
gleichfalls ehemalige Reichsstadt Schlettstadt.
Weiter abwärts, wo der Rhein nicht mehr so wild ist, erheben sich altangesehene
oder jetzt wichtige Städte nahe am Ufer. Schon Straß bürg neigt sich ihm zu.
Weiterhin finden wir in der Nähe des Stromes die Festung Ger Mersheim mit
ihrem den Rheinübergang schützenden Brückenkopfe, jetzt Wassenplatz zweiter Linie
hinter Metz nnd Straßburg. Das hochberühmte Speyer, eine der ältesten Städte
Deutschlands, war im Mittelalter mit Worms Wiege des deutschen Bürgertums uud
Stammsitz der Fürsten ans den rheinfränkischen Konradinern, eine blühende freie
Reichsstadt; die „Totenstadt des Reichs" ziert der erhabene Kaiserdom, eine Zierde
des Vaterlandes durch die alte deutsche Kunst, von der er mit seiner edlen Einfach-
heit, Großartigkeit und dem innigen Gleichmaße der Formen Zeugnis gibt, ehr-
würdig durch die Geschicke des Vaterlandes, die dort auf acht Kaisergräbern ver-
zeichnet sind, bedeutend durch die ueue deutsche Kunst, durch die er unter der Für-
sorge des kuustliebenden Königs Ludwig I. vou Bayern eine der prächtigsten Kirchen,
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
77
eins der geschichtlich wichtigsten Baudenkmäler, einer der erhabensten Dome Deutsch-
lands geworden ist; alte Paläste und die neue Protestationskirche erinnern an den
Reichstag von 1529. Worms, in der Mitte des einstmals vielgepriesenen Wonne-
gaues oder Wormsfeldes gelegen, von gleichem Alter und Ruhme wie Speyer, zur
Römerzeit von germanischen Vangionen, dann von Burgundionen besetzt, ist im
Mittelalter die Stadt der alten deutschen Heldensage und vom Duft der Dichtung
umhaucht wie keine der übrigen Rheinstädte, die Stadt des Nibelungenliedes
und des Rosengartens:
„Ein stat lit an dem Rine, diu ist so wünnefam,
unt is geHeizen Wormeze; sie weiz noch maneg man."
(Rosengarte v. 10f.)
Einst Herrschersitz ostfränkischer Könige, Lieblingsaufenthalt vieler Kaiser und ein-
flußreiche, durch ihren Handel bedeutende freie Stadt des Reichs, wurde es tief
gebeugt, ja wie Speyer fast vernichtet durch die beispiellos rohe Verwüstungswut
der französischen Heere gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts; aus alter Zeit
ist es mit einem herrlichen Dome, in neueren Tagen aber geschmückt mit dem nach
Rietschels Entwürfen ausgeführten großartigen Denkmale deutscher Reformatoren,
einem würdigen Zeichen der Erinnerung an Luthers heldenmütiges Auftreten auf
dem Wormser Reichstage 1521.
In der Mitte, wo Schwarzwald und Wasgenwald niedriger, schmaler und
gaugbarer werden, hat die Oberrheinische Tiefebene ebenfalls wichtige Einlässe.
Auf der linken Seite führt der Paß von Z abern aus Lothringen zum Rhein, und durch
ihn sind der Rhein-Marne-Kanal und die Straßburg-Pariser Eisenbahn geführt. Auf
der rechten Seite aber mündet der Paß von Pforzheim aus dem Neckarlaude durch
das Enztal in die Rheinebene. Da sich hier gar keine Schwierigkeiten darbieten,
gelangt man quer durch über Sträßburg leicht aus einer Paßgegend in die andere.
Auf diese Weise ist durch beide Einlässe die kürzeste und bequemste Wegerichtung aus
dem Becken der Seine mitten durch die Rheinebene in das Becken der oberen Donau
angelegt. Daß der Paß von Durlach und Pforzheim etwas nördlicher liegt als Straß-
bürg und sein Bergtor Zabern, also die Linie infolgedessen sich windet, ist bei ihrer
Länge für das Ganze von wenig Bedeutung.
Beide Pässe benutzten bereits die Römer zur kürzesten Verbindung zwischen
ihren Mosel-, Rhein- und Donanbesitznngen; denn unser Zabern, das Saverne der
Franzosen, war ihr Tabernae (d. h. Wirtshäuser), und unsere Paßstadt Pforzheim
ihr altes Gebirgstor Portae Hercyniae, d. h. Pforten, Pfortstadt. Sowohl hier durch
den Kraichgan in der Richtung auf die Donau, als auch dort von Straßburg über
Zabern durch den Wasgenwald finden wir die Spuren römischer Straßenanlagen.
Spätere Zeiten sind den Römern darin nachgefolgt: im Mittelalter kommt die über
die Zaberner Steige führende Straße als publica strata Tabernensis vor, und jetzt
wird sie von einer unserer wichtigsten europäischen Verbindungen, dem Orientzuge,
benutzt.
Natürlich mußte diese alte und wichtige Straßenlinie vorzüglich dem Orte in
der Rheinebene zugute kommen, bei dem der Übergang über den Strom stattfand.
Das war aber das bereits im sechsten Jahrhundert genannte, etwas östlich von dem
römischen Argentoratum gelegene Straßburg, dessen Lage nach Norden und
Süden nicht ihresgleichen hatte. Unfern der Stelle nämlich, wo es in einer schönen
und fruchtbaren Ebene an der Vereinigung der beiden Flüsse Jll uud Breusch liegt,
78
B. Zur Länderkunde.
drängt sich der Rhein infolge eines vortretenden Ausläufers des Wasgenwaldes
mehr zusammen und ist hier leichter zu überbrücken als eine weite Strecke auf- uud
abwärts, wo er in breitem Bette eine wildere Natur zeigt. Ferner gehört die Stelle
zu dem mittleren Teile der Rheinebene; wer also diesen Punkt innehatte, konnte
von ihm aus nach beiden Seiten, nach oben und nach unten, bis Basel und bis Mainz,
viel leichter Verteidigung und Herrschaft leiten als von einem andern, mehr gegen
eins der beiden Enden gelegenen Orte.
Diese Lage wendete der Stadt somit die Vorteile eines Brennpunktes zu, die
dadurch noch vermehrt wurden, daß der Strom erst hier durch ungehinderte Schiff-
barkeit recht nutzbar wird, und daß nirgends im Oberrheinischen Becken, abgerechnet
die Main- und Neckarmündung, ihm so viele Gewässer zugeführt werden wie in der
Nähe von Straßburg; dabei ist auch nicht zu übersehen, daß die von Kolmar an (80 km)
schiffbare Jll, die 24 km unterhalb Straßburg in den Rhein mündet, durch ihren das
Elsaß belebenden Wasserfaden eine natürliche Verbindung mit den oberhalb gelegenen
ansehnlichen Städten herstellt, deren Anlage sie zum Teil bestimmt hat.
Schon die Kelten hatten keinen bequemeren Übergang über den Wasgan zu
finden gewußt als durch die Gegend von Zabern. Daher führte ihre von den Römern
zu einer Heerstraße umgebaute alte Laudesstraße aus deu Moselgegeudeu von Metz
her über die Pässe von Zabern ins Rheinbecken hinab, wo sie, aus den sehr sanft ab-
fallenden Hängen des Wasgenwaldes hinlaufend, nach Straßburg zog. Dieser Ort
war auch der Sitz der weitgebietenden achten Legion der römischen Streitmacht,
der zeitweilige Aufenthalt vieler Kaiser, Könige und Fürsten im Mittelalter, die
Hauptstadt des rheinischen Schwaben, der große politische und zum Teil auch kirchliche
Mittelpunkt des ganzen elsässischen Landes uud ist noch jetzt der Hauptmarkt des
deutscheu Handels am ganzen linken Oberrhein.
So gelangte Straßburg durch seine Lage im engen Heimatbezirk zu hoher Be-
deutung; allein weit mehr noch wurde es gehoben durch das ins Weite gehende Ver-
hältnis seiner Lage an der europäischen Straßenlinie von der Seine nach der Donau,
von Paris nach Wien uud Konstantinopel und an dem nicht minder wichtigen nord-
südlichen, die Städte Köln, Hamburg, Rotterdam, Frankfurt, Mainz mit der Schweiz
uud dem Rhonegebiete verbindenden Straßenzuge, in deren Kreuzungspunkt es liegt.
Eine Stadt in solcher Lage konnte nicht leicht sinken oder konnte sich, wenn sie
durch allzu harte Schläge wilder Zeiten einmal sank, leicht wieder erheben. Die
Geschichte gibt Zeugnis, daß Straßburg oft angegriffen und mehrmals zerstört wurde,
aber immer aufs neue wieder fast an derselben Stelle erstand und sich zu gleich großem
Ansehen und Glanz emporschwang. Nachdem die „sernper freie deutsche Reichs-
stadt", „des Heiligen Römischen Reiches starke Vormauer" (Kaiser Maximilian) lange
genug wie ein Keil von Westen her vorgeschoben sich in unser eigenes Herz gebohrt
hat, bildet sie jetzt wieder des Deutschen Reiches starkes Bollwerk uud wird es mit
seinen weit hinausgeschobenen Festungswerken hoffentlich für immer bleiben. Und
wie glänzend hat sich die Stadt seit dem Kriege entwickelt! Sie ist jetzt wirklich mit
ihrem alten Münster und ihren neuen Prachtbauten, besonders der Universität und
dem Kaiserpalaste, eine „wunderschöne Stadt" geworden und bedeutend größer
als zur französischen Zeit, — 1905 mehr als 150 000 inwohner gegen 50 000 im
Jahre 1827.
Am rechten Rheinufer hat sich das moderne, in der regelmäßigen Bauart fast
amerikanische Mannheim zum Beherrscher eines weiten Hinterlandes emporge-
schwnngen. Als Neckarmündungsstadt ist es die Vermittlerin zwischen Neckar und
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
79
Rheinland, als Anfangspunkt der Dampfschiffahrt ein wichtiger Umladeplatz, der
erste Handelsort der oberen Rheinebene und der bevölkertste Ort des Großherzog-
tnms Baden, — die günstige Lage beweist das schnelle Aufblühen des gegenüber-
liegenden Ludwigshafen.
Wenige Stunden seitwärts am Ausgange des Neckartales aus dem Gebirge liegt
die frühere Residenz der Pfalzgrafen bei Rhein, in reichster üppigster Natur, in einer
Gegend von ergreifendem, von großem und zugleich anmutigem Charakter, Heidel-
berg, die „ländlich (d.h. landschaftlich) schönste Stadt Deutschlands", die alle Rei-
senden bezaubert und die noch keiner verlassen hat ohne den Stachel der Sehnsucht,
die Scheffel mit den Worten ausspricht: „Auch mir stehst du geschrieben ins Herz
gleich einer Braut". „Die Lage der Stadt hat etwas Ideales, das mau sich erst recht
deutlich machen kann, wenn man mit der Landschaftsmalerei bekannt ist, und wenn
man weiß, was denkende Künstler von der Natur genommen und in die Natur hinein-
gelegt haben." (Goethe.) Alles verbindet sich, um sie zu einer der angenehmsten
und zugleich merkwürdigsten Städte zu machen: mit der herrlichen Gegend, die
durch eine äußerst seltene Vereinigung von Berg, Wasser und Ebene bevorzugt ist,
das milde Klima, das uns namentlich aus den Geläuden der Weinrebe ringsum
anhaucht; die Poesie des Studentenlebens, die sich trotz der durch den gewaltigen
Zusluß von Fremden erfolgten Vergrößerung der Stadt an diesem alten Musensitze
immer noch erhalten hat; endlich die prachtvollen Trümmer des Schlosses, vor der
französischen Barbarei der schönste Fürstensitz Deutschlands, noch heute an Reichtum
und Pracht der Architektur von keinem anderen erreicht, jetzt als Ruiue die schönste,
umfangreichste und fast am herrlichsten gelegene unter allen Burgtrümmern, noch
immer ein Stolz Deutschlands, die „deutsche Alhambra". Und oben im Grünen
steht das Bild eines Wanderers, der einst alle die Herrlichkeit mit vollen Zügen ein-
gesogen und mit srischem Liede in die Welt gesungen hat: I. V. v. Scheffel blickt
hernieder auf Alt-Heidelberg, die feine.
Aus den Beispielen erhellt bereits, daß das Hauptgewicht stromnaher Städte
auf das linke Ufer fällt. Kein Wunder, denn das linke Ufer ist höher, anmutiger,
bewohnbarer. Es ist weit weniger Überschwemmungen und Versumpfungen aus-
gesetzt uud leidet, da es im Wiud- und Regenschatten des Wasgenwaldes liegt, weniger
uuter den kalten Rheinnebeln und Reifsrösten als das rechte, das bis fast an die Berg-
straße aus einer tieferen Niederung besteht und Wald-, Schilf- und Sumpfstriche
des Stromes enthält, wohl auch im Rufe regnerischen Klimas steht. Daraus erklärt
sich, besonders in früheren Jahrhunderten, die größere Dichtigkeit der Bevölkerung,
eine größere Zahl von Städten, ein stärkerer Verkehr und ein volleres Leben am
linken Ufer. Für den Landmann der rechten Seite ist die rheinbayrische heute noch
der beneidete und gepriesene „Überrhein". Daß sich das Verhältnis heute zugunsten
des rechten Ufers verschoben hat, liegt an dem kräftigen Aufblühen neuer Städte,
wie Mannhein und Karlsruhe, und an der Verlegung des Verkehrs auf diese Seite;
denn während schon längst eine wichtige rechtsrheinische Verbindung zwischen Frank-
fnrt und Basel bestand, konnte das linke Ufer infolge der politischen Verhältnisse
erst in der neueren Zeit in den durchgehenden Eisenbahnverkehr gezogen werden.
Am unteren Ende der Rheinebene, die im Norden durch den hier mächtig ins
Auge fallenden Taunus, auf dem liuken Rheinufer durch den Hunsrück begrenzt
wird, bilden das Main- und Nahetal den Schluß der Oberrheinischen Tiefebene.
Von Osten her zieht der weite Talbusen des unteren Main heran, und wo dieser bei
einer Breite von 275 in seine braungelben Gewässer in den grünlichen Rhein ergießt,
80
B. Zur Länderkunde.
nimmt der Hauptfluß selbst eiue westliche Richtung, bis er an seinem herrlichen Felsen-
tore bei Bingen nordwärts in eine ganz andere Landschaft gezwungen wird. An
derselben Stelle fließt ihm die Nahe nach einem 120 km langen, sich mehrfach durch
anziehende Felsentäler hindurchwindenden Laufe zu uud setzt die Ebene nach Westen
bis Kreuznach, bis zur Porphyrnadel des Rheingrafensteins fort.
Ein überaus bevorzugter Landstrich! Man denke nur an die fruchtbaren Auen
der Nidda und Wetter im Osten, an die offene, lacheude Weinlandschast der unteren
Nahe im Westen, an die fruchtbaren Ebeneu, die gegeu den Donnersberg hin zu
Hügelu sanft anschwellen, an die vielen und vielbesuchten Heilquellen am Taunus
(Wiesbaden, Sodeu, Homburg, Langenschwalbach, Schlangenbad, Nauheim u. a.)
und endlich an die von diesem Gebirge gegen rauhes Klima geschützten, von zauberisch
mildem Lufthauche berührten Gefilde am rechten Rheinufer, wo, der ganzen Wärme
der Mittagssonne preisgegeben und von ihren Strahlen senkrecht getroffen, neben
den üppigsten Saaten die edelsten Trauben gedeihen. Über ihre lichten Fluren
werfen die waldigen Häupter der den Gesichtskreis begrenzenden Berge ein ge-
wisses feierliches Dunkel, aus dem erust und hehr die Germania vom Niederwalde
herniederschaut. Hier liegt das gelobte Land des heiteren Rheingaues, „des Rheins
gestreckte Hügel, hochgesegnete Gebreiten, Auen, die den Fluß bespiegeln, wein-
geschmückte Landesweiten" (Goethe im Motto zu einer Reise am Rhein), mit seinem
lustigeu, leicht erregbaren, eigenartigen Volksleben, das trotz der oft herben Prosa
der gegenwärtigen Überkultur in der Erwerbsweise immer noch durch deu göttlichen
Humor des Weius von dem Goldfaden der Poesie durchwebt ist.
„Seit tausend Jahren", bemerkt W. H. Riehl, dessen Heimat diese Gegenden
sind, „ist das Rheinganer Leben gleichsam in Wein getränkt, es ist ,weingrün' ge-
worden wie die gnten alten Fässer. Ties schafft ihm feine Eigeuart. Denn es gibt
vielerlei Weinland in Deutschland, aber keines, wo der Wein so eins und alles wäre
wie im Rheingau. Hier zeigt sich's, wie ,Land und Leute' zusammenhängen. Der
Wein ist allerwege das Glaubensbekenntnis des Rheingauers. Wie man zu Crom-
wells Zeit in England die Royalisten an der Fleischpastete, die Papisten an der Ro-
sinensnppe, die Atheisten am Roastbeef erkannte, so erkennt man seit nnvordenk-
licher Zeit den Rheinganer an der Weinflasche. Man erzählt sich im Rheingau von
Müttern, die ihren neugeborenen Kindern als erste Nahrung ein Löffelchen guten
alten Weines einschütteten, um ihr Blut gleich in der Wiege zum rechten Pulsschlag
der Heimat zu befeuern. Ein tüchtiger ,Brenner', wie man am Rhein den voll-
endeten Zecher nennt, trinkt alltäglich seine sieben Flaschen, wird steinalt dabei, ist
sehr selten betrunken und höchstens durch eine rote Nase ausgezeichnet. Die Cha-
rakterköpfe der gepichteu Trinker, der haarspaltenden Weingelehrten und Weinkenner,
die übrigens doch gemeinhin mit verbundenen Augen durch die bloße Zunge noch
nicht den roten Wein vom weißen unterscheiden können, der Weinpropheten, der Pro-
bensahrer, die von einer Weinversteigerung zur anderen bummeln, um sich an den
Proben gratis satt zu trinken, finden sich wohl nirgends anders in so frischer Eigenart
als im Rheingau".
„Das Zeitbuch des Rheingauers teilt sich nicht ab nach gewöhnlichen Kalender-
jähren, sondern nach Weinjahren. Leider fällt die übliche Zeitrechnung, welche von
einem ausgezeichneten Jahrgang zum anderen zählt, so ziemlich mit der griechischen
nach Olympiaden zusammen."
„Die ganze Redeweise des Rheingauers ist gespickt mit ursprünglichen Worten,
die auf deu Weinbau zurückweisen. Man könnte ein kleines Lexikon mit ihnen füllen.
81
Mehrere der landesüblichen schmückenden Beiwörter des Weins sind ein Gedicht
aus dem Volksmunde, in ein einziges Wort zusammengedrängt. So sagt man gar
schön von einem recht harmonisch edlen sirnen Trank: ,es ist Musik in dem Wein';
ein guter alter Wein ist ein ,Ehrisam', ein geweihtes Salböl. Die ,Blume', das
.Bukett' des Weines sind aus ursprünglich örtlichen Ausdrücken bereits allgemein
deutsche geworden. An solch prächtigem, poetischem Wortschmuck für seinen Wein
ist der Rheingauer so reich wie der Araber an dichterischen Beiwörtern für sein
edles Roß. Aber uicht minderen Überfluß hat des Rheiugauers Wortschatz für
den schlechten, aus der Art geschlagenen Wein, in denen sich der rheinische Humor
gar lustig spiegelt. . . Obgleich fast alle die früheren sozialen Charakterzüge des
rheingauischeu Volkes erloschen sind, so war doch ein einziger nicht zu vertilgeu:
der Rheingauer ist der Mann des deutschen Weinlandes, des Weinbaues und des
Weintrinkens als solcher. Das ist die wunderbare natürliche Wahlverwandt-
schast zwischen ,Land und Leuten', die durch keine politische Umwälzung zerstört
werden kann."
„Der oberste Kanon der alten rheinganischen Landesrechte heißt: ,Jm Rheingau
macht die Luft frei.' Dieses große Privileg des salischen freien Landstrichs hat längst
seinen politischen Sinn verloren. Aber ein tiefer poetischer Sinn ist dem wunder-
lich klingenden mittelalterlichen Rechtsgrundsatze geblieben. Die Luft ist es iu der
Tat, die das moderne, in den Banden einer ebenso unreifen als überreifen Zivili-
fation gefangene rheinganifche Volksleben einzig noch frei macht, die milde, Hespe-
rische Lust, in ganz Deutschland sondergleichen, welche die Traube des Steinbergs
und Johannisbergs reift, damit der Wein wenigstens das arme Volk im reichsten Gau
mit einem Strahl der Poesie verkläre und ihm das Köstlichste nicht ganz verloren sein
lasse, was deu einzelnen Menschen wie Volksgruppen und Nationen auszeichnet:
eigenartige Persönlichkeit." —
Tie geographische Stellung des Rheingaubeckens ist durch die von allen Seiten
sich öffnenden Gebirgspforten bedingt. Außer den Talwegen des Rheins und
der Nahe, des Neckar und Main sind noch zwei Völkertore hervorzuheben. Im Nord-
osten bildet zwischen dem Taunus uud dem Vogelsberge die schöue uud fruchtbare
Wetterau, aus der die Flüsse Wetter, Nidda und Nidder Herabkommen, einen Über-
gang zu dem Gebiete der Weser, und durch das Tal der Kinzig nebst einigen anderen
Tälern und niedrigen Einsattlungen zwischen dem Vogelsberge, dem Spessart und
der Rhön wird in nordöstlicher Richtung eine Verbindung mit Thüringen und
Sachsen angebahnt.
Diese Naturwege finden wir schon in sehr alten Zeiten bei kriegerischen und sried-
lichen Unternehmungen häufig betreten. Hier zogen bereits germanische Stämme
der Wesergegenden, z. B. die Chatten, bei ihren Einfällen in die römische Rhein ebene;
hier zogen römische Feldherren mit ihren Legionen, besonders der für die Bezwin-
gung Jnnergermaniens am ernstlichsten tätige Drusus, in das mitteldeutsche Gebirgs-
laud und bis an die Ufer der Elbe; und hier suchten die Römer durch Befestignngs-
werke ihre zahlreichen Niederlassungen am unteren Main zu schützen. Beide Bahnen
erhielten später steigende Wichtigkeit und gehören in neuerer Zeit zu den wichtigsten
Straßen Deutschlands. Die Richtung der einen ist heute durch die große Straße
und Eisenbahn von Straßburg und Frankfurt über Gießen und Marburg nach Kassel,
Berlin und Hamburg, die Richtung der anderen durch die große Straße uud Eisen-
bahn von Frankfurt über Hanau, Gelnhausen, Fulda nach Eisenach und Leipzig be-
zeichnet. Welch wandelndes Leben, welche Warenzüge, welche Heeresmassen haben
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 6
82
B. Zur Länderkunde.
sich auf ihnen während der Kämpfe Deutschlands mit Frankreich in den Zeiten des
ersten und dritten Napoleon bewegt!
Da, wo diese von der Natur vorgezeichneten, von den Menschen vervollkomm-
neten Bahnen aus den Mittelgebirgen heraus in die offene, langgestreckte Rheinebene
ihren Einlaß finden, liegt an sanften Hügelgeländen und vor einer weiten, frncht-
baren Ebene Frankfurt a m Main. Alle wandernden Volker, Heereszüge, Handels-
karawanen, die zwischen dem Rhein und Mitteldeutschland verkehrten, betrachteten
Frankfurt als einen willkommenen Zielpunkt.
Dazu tritt uoch folgender Umstand: Etwas südlich vou der Einmündung der
großen Leipzig-Eisenach-Frankfurter Straße wälzt der Main seine Gewässer in die
Ebene. Auf seinem ganzen unteren Laufe, von Aschaffenburg ab, treten keine natür-
lichen Hindernisse seiner Ausbreitung entgegen, und wo er sich zu sehr in die Breite
dehnt und daher das Wasser seicht wird, sind Buhnen oder Krippen, d. h. Querdämme,
in den Fluß hineingebaut, um der Schiffahrt das ganze Jahr hindurch gutes Fahr-
Wasser zu erhalten. Daher können bis Frankfurt die gewöhnlichen Rheinschiffe ohne
Umladung fahren, und Frankfurt ist dadurch der Mündung des Main, also seinem
Berührungspunkte mit dem Rhein, in unmittelbare Nähe gerückt. An den Um-
l adeplatz schlössen sich nun die beiden bei Hanau sich verewigenden Mainuferbahnen
und ferner die nach Homburg, Limburg, Wiesbadeu und Darmstadt führenden
Bahnen an.
Durch diese Kreuzung der Wasser- und Landstraßen von Main, Elbe, Weser,
Ober- uud Unterrhein wurde Frankfurt frühzeitig die Gunst zu teil, eine wichtige
Vermittlerin zwischen dem Süden und Norden Deutschlands zu werden,
wie quer durch Deutschland kauni ein anderer Platz zu finden ist. Dazu kommt, daß
dieser Ort, fast in der Mitte des ganzen Rheingebietes liegend, durch eiue solche Lage
berufen war, ein Mittelpunkt des ganzen Rheingebiethandels zu werden. Erwägt
man ferner, daß es in ganz Deutschland keine zweite Gegend gibt, in der zwei so
schöne und große Flußebenen, wie das Rhein- und Mainbecken sind, ineinander-
greifen und so bedeutende Wasserlänse und Straßenzüge zueinander führen, so ist
die öfters ausgesprochene Behauptuug, Deutschland habe nirgend anderswo einen
natürlicheren Mittel- und Herzpunkt seines Lebens gehabt als bei Frankfurt, keines-
wegs ohne Grund. Jedenfalls war sie wohlbegründet für die Zeiten, in denen Frank-
fnrt auch räumlich uoch mehr in Deutschlauds Mitte lag, in denen Deutschland auf
der linken Rheinseite sich noch bis an die Champagne und Langnedoc ausdehnte
und die Schweiz und die Niederlande mit unserem Vaterlande in enger Verbindung
standen.
Solcher Gunst der Lage entsprachen das Emporkommen und die geschicht-
liche Wichtigkeit Frankfurts. Als königliche Pfalz vermutlich schon seit der mero-
wingischen Zeit vorhanden, erscheint es unter Karl dem Großen als Villa Fran-
conofurt, wurde durch Ludwig den Frommen mit Mauern umgeben und nach der
Teilung des Karolingischen Reiches die Hauptstadt von Ostfranken. Spätere deutsche
Kaiser erteilten der aufblühenden Stadt wichtige Rechte und Reichsfreiheit, und
Kaiser Karl IV. endlich erhob sie nach den Bestimmungen der Goldenen Bulle (1356)
zum Wahlorte des deutschen Reichsoberhauptes. Im achtzehnten Jahrhundert, als
die Wahltage ohnehin nur noch eine sehr geringe Bedeutung hatten, wurde weuigstens
die Krönung der deutschen Kaiser daselbst vollzogen (zehn deutsche Kaiser emp-
fingen in Frankfurt die Krone); und als das Deutsche Reich aufgelöst und wenige Jahre
später, nach Napoleons Sturz, in einen Staatenbund umgewandelt war, erhielt die
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
83
Stadt ihre Selbständigkeit als freie Reichsstadt zurück und wurde als Sitz des Bundes-
tages wiederum ein politischer Mittelpunkt. Und diese anziehende Kraft bewährte
sich noch in den Jahren 1848 und 1849, als das Vor- und Reichsparlament, und im
Jahre 1863, als der Fürsteukongreß hier tagte. Hat auch der Krieg vou 1866 der
Stadt ihre Selbständigkeit geraubt, ist auch der glänzende Strahlenfranz, den der alte
Bundestag um sich verbreitete, von dort gewichen, so ist ihr doch ihre treffliche Lage
für Handel und Verkehr geblieben, die der tätige Handelsgeist der Frankfurter ganz
besonders in unserer Zeit des Verkehrs wohl zu benutzen verstand.
Schon im eisten Jahrhundert war hier ein Meßplatz entstanden, dessen Rechte
Kaiser Friedrich II. bestätigt, und zu dessen Gunsten Ludwig der Bayer die Stadt
von allen Reichszöllen befreit hatte. Wie Leipzig, wie Beaucaire in Frankreich,
wie Nowgorod in Rußland, ungefähr in der Mittelachse des europäischen Festlandes,
gleichweit von den nördlichen und südlichen Meeren gelegen, konnte sich auch Frank-
surt zu einem der bedeutendsten Binnenmärkte Europas erheben; alle Hauptzüge
der Waren folgten jenen hier sich vereinigenden Naturkanälen, an deren Endpunkten
die blühendsten Märkte und Häfen lagen. Hat nun auch die Frankfurter Messe ebenso
wie die vieler anderen Meßplätze unseres Vaterlandes seit der Beseitigung aller den
Handel uud die Gewerbe drückenden Schranken und seit der Erleichterung des Ver-
kehrs ihre einstige Bedeutung verloren, so hat doch das altbewährte Geld-, Wechsel-
und Bankgeschäft alle politischen Wandlungen der Stadt glücklich überdauert und
Frankfurt zu einem der ersten Börsenplätze Europas gemacht. Selbst die Befürch-
tungen eines Verfalls, wie sie wohl nach der Einverleibung der Stadt in Preußen
laut wurden, haben sich nicht bestätigt. Im Gegenteil! Mit der Aufhebung der
Partikularistischen Abgeschlossenheit und mit der Eingliederung in ein großes Staats-
wesen sind Gewerbtätigkeit und Industrie dort eingezogen, nach allen Seiten hin
dehnt sich die Stadt mit ihren Baulichkeiten und herrlichen Anlagen mehr und mehr
aus, die Bevölkerung hat sich seit 1866 vervierfacht (1866 noch nicht 70 966, 1875
103 066, 1965 296 666 Einwohner), und der rege Eisenbahnverkehr führt täglich
Scharen von Fremden der Stadt zu. Frankfurt ist eine Weltstadt geworden, die
würdige Wiege eines unserer größten und umfassendsten Geister, Wolfgang Goethes.
Die Lage ist nicht gerade malerisch schön, namentlich wenn man sie mit den
Rheinstädten vergleicht, aber sie weckt doch den Sinn für Naturschönheit. Der stille
ansehnliche Fluß zwischen grünen Ufern, der schöne hohe Wald mit seinen geheimnis-
vollen Schauern, die ganze bunt und reich wie ein Garten angebaute Landschaft —
das alles übt seineu Reiz aus, uud das eigentlich Mächtige und Ergreifende lockt um
so mehr, weil es sich in einiger Ferne zeigt, statt in der Nähe zur täglichen Gewöh-
nnng zu werden. Wir mögen ins Freie treten, wo wir wollen, überall zeigt sich die
schön geschwungene blaue Linie des Taunus, nicht zu nahe und nicht zu fern, um
lebhafte Sehnsucht einzuflößen — Sehnsucht nach der Ferne, und in der Ferne Sehn-
sucht nach der Heimat. »
Gewissermaßen der Vorgänger Frankfurts als Hauptplatz von Westdeutschland
ist Mainz. Gegenüber der Mainmündung am Knie des Rheins gelegen, knüpfte
es an diesen Dreiweg von Wasserstraßen eine Reihe von Verkehrswegen rheinanf
und rheinab, zum Main und nach Darmstadt zur Bergstraße, in die Psalz und nach
Lothringen.
Dieser Lage in der Rheinebene an vielen Straßenzügen verdankt Mainz seinen
Ursprung uud sein Emporkommen. Schon die Römer erkannten sie als Vorzugs-
weise geeignet zur Verteidigung und Erweiterung ihrer Herrschaft gegen die
6*
84
B. Zur Länderkunde.
Germanen. Unter Drusus wurde es ein Hauptstützpunkt für ihre Kriegszüge gegen die
streitbaren und tapferen Stämme der Kelten und seitdem überhaupt einer ihrer vor-
nehmsten befestigten Waffenplätze am Rhein, der Hauptschlüssel zu Germanien und
die Metropole des römischen Obergermanien; von hier erstreckten sich am Rhein
hinab bis zum batavischeu Deltalande Kastelle, die zum Teil die Gruudlage der späteren
deutschen Rheinstädte wurden.
Nachher, als am Rhein die römische Herrschast zusammenbrach, als die Germanen
ihre Eroberungen auf das linke Ufer ausdehnten, als dadurch das Tal des Rheins
selbst mehr in die Mitte von Deutschland zu liegen kam, konnte Mainz natürlich nicht
die frühere Wichtigkeit als Festung haben und tritt in dieser Eigenschaft für lauge
Zeit in der Geschichte zurück. Dagegen ersah man mehr und mehr die Vorteile der
Lage für Verkehr, Haudel und bequeme Verbindung mit dem inneren Deutschland.
Mainz erhob sich allmählich zu eiuer freien Reichsstadt, bereit Bürgerschaft lebhafte
Schiffahrt und Handel trieb; früher noch wurde es, ebeuso wie die anderen Haupt-
orte der Römer, zu einer kirchlichen Hauptstadt, deren Sprengel beinahe halb Deutsch-
laud umfaßte. Es bezeichnete die Mitte des klassischen Bodens von Deutschland im
Mittelalter und wurde damals das „goldene Mainz", gerade wie die Stadt Rom
mit diesen: ehrenden Titel als Haupt der Christenheit und erste Stadt Italiens aus-
gezeichuet wurde.
In neuerer Zeit, als die Franzosen auch in jenen Gegenden die Grenzen ihres
Reiches dem Rhein näherten, mußte Mainz für sie eine erhöhte Wichtigkeit als fester
Platz erhalten, denn von hier aus konnte der Übergang in die Mitte Deutschlands
gesichert werden, von hier ans zogen Heerstraßen nach allen Richtungen in das Land
hinein. Daher tat besonders Napoleon I. viel für die Befestigung von Mainz und
beabsichtigte noch Größeres. Nach seinen: Sturze wurde denn auch eine noch stärkere
Befestigung durch die deutschen Regierungen begonnen und nach den Kriegen 1866
und 1876 bedeutend erweitert, da die außerordentliche Wichtigkeit der militärischen
Lage der Stadt, die im Jahre 1814 deutsche Bundessestuug geworden war, bei den
wiederholten Erörterungen drüber anerkannt wurde.
Ist nun auch Mainz seit der Zurückeroberung Lothringens von der deutschen
Grenze weit weggerückt uud in die zweite Linie der unseren Westen verteidigenden
Bollwerke eingetreten, so hat es doch keineswegs von seiner Bedeutung als Festung
und Waffenplatz eingebüßt. Es bietet gegenwärtig, nachdem ebenso wie in Metz,
Koblenz uud anderen Orten die Stadtwälle gefallen sind, außer seinem militärischen
Treiben den Anblick einer von lebhaftem Schiffs-, Handels- und gewerblichem Ver-
kehre belebten Stadt.
Solche Unterstützung durch ihre Lage erhielt diese haudel- uud wandelreiche
Stadt, der Sitz des gewaltigen Winsried-Bonisatius, in der einst Arnold Walpod im
Rate saß, Frauenlob sang, und von der Gutenbergs große Erfindung ausging. In
ihr, kann man sagen, reden noch Mauern und Steine von der Lieblingsstadt des
großen Drusus, von den römischen Legionen und deu heranstürmenden Barbaren,
von den kaiserkürenden geistlichen Fürsten und dem Aussteigen und Sinken städtischer
Freiheit, von den republikanischen Ohnehosen, als hier die Marseillaise und das Qa ira
der Freiheitskrieger Eustiues erscholl, endlich von den stürmischen Zeiten, als hier das
Rhein- und das Heckerlied in Begeisterung erklang. Welchen Wandel der Tinge hat
dies bedeutungsvolle Stück deutscher Erde erlebt, wo läugs des breitsluteuden Stromes
die vieltürmige Stadt mit ihrem majestätischen Dome uud mit ihren weit vorge-
schobenen Festungswerken emporsteigt, eingesaßt ringsum vou saftgrüner Landschaft!
9. Die Oberrheinische Tiefebene und ihre Randgebirge.
85
In ethnographischer Beziehung umfaßt die Oberrheinische Tiefebene einen
Teil der schwäbisch-fränkischen Gaue des alten deutschen Landes und in politischer
Teile des Schweizer Kantons Basel und in Deutschland Teile vom Elsaß, oon Bayern,
Baden, Hessen und Preußen. Durch die Größe und Regelmäßigkeit ihrer Form,
die Fruchtbarkeit des Bodens, die frische Rührigkeit ihrer Bevölkerung und durch die
Menge altehrwürdiger und zu neuer Blüte sich entwickelnder Städte ist sie die schönste
uud anziehendste aller Beckengestaltungen des alten Deutschland, und durch ihre
geschichtlichen Erinnerungen behauptet sie vor den meisten anderen Abschnitten nn-
seres Vaterlandes, ja vor den meisten Flußtälern unseres ganzen Erdteils den Vor-
rang. Diese großen Erinnerungen umfassen nahe an zwei Jahrtausende, innerhalb
deren sie ein Hauptschauplatz weltgeschichtlicher Ereignisse und insbesondere auch
der Entwicklung des deutschen Volkes war. Gerade hier tummelten sich von jeher die
Eroberer und Völker, vou deu Zeiten Ariovists und Cäsars bis zu dem Cäsar der Neu--
franken uud seinen Gegnern; Kelten uud Germanen, Römer und Hunnen, Schweden
und Spanier, Russen und Franzosen versuchten sich hier gegeneinander und düugteu
mit ihrem Blute das Land, das, oft verwüstet, immer wieder zu neuer Blüte sich erhob.
Hier gingen die großen weltgeschichtlichen Völkerzüge über den Rhein und ließen
ihre Spuren zurück, wie denn das herrliche Land selbst stets ein Zankapfel der Völker
war. An diesen Rheinufern blühten die Reiche der Burgunder und Nibelungen auf
und später Deutschlands schöne Pfalzgrasschaft. An ihnen erwuchsen jene Städte
des Reichs, die Blüte deutschen Lebens, in deren Mauern entscheidende Reichs- und
Kirchenversammlungen gehalten, Kaiser gewählt, gekrönt und in die Gruft gesenkt,
Künste und Wissenschuften gepflegt, bedeutsame, die ganze Zivilisation umgestaltende
Erfindungen (z. B. die Buchdruckerkunst in Straßburg uud Mainz) gemacht und
Handelsgeschäfte im großartigsten Maßstabe betrieben wurden. Noch ragen als Zeugen
einer gewaltigeu Vergangenheit die hohen Dome mit ihren Türmen und Zinnen
ehrfnrchtgebietend ins weite Land hinein; vou deu Berghöhen schauen ernste Ruinen
zur Erde herab und reden von dunklen Sagen uralter, kaum zu ergründender Tage
oder vou jener großen Zeit, wo diese Gaue uoch der Mittelpunkt des Deutschen
Reiches waren, wo sich alle Macht und Kraft, aller Reichtum, alle Kuust des deut-
schen Volkes hier verdichtet hatte. Das alles ist anders geworden, aber das schöne
Land ist geblieben uud erlebt, mit Stolz können wir es sagen, zu unserer Zeit im
neuen Reich eine neue, herrliche Blüte.
86
B. Zur Länderkunde.
10. Die Fjorde, Strandebenen und Inseln Norwegens.
Von Sophus Rüge. („Norwegen", Bielefeld und Leipzig 1899,
Velhagen & Klasing.)
Der Steilabfall der Hochlande nach dem Ozean zu ist furchtbar zerklüftet, wie
wir es an keiner anderen Küste wiederfinden. Und auch der felsige Festlaudssaum
ist noch umlagert von zahllosen hohen uud uiedrigeu Felsinseln, wie sie in der Art
an keiner europäischen Küste wiederkehren. Hier liegen die besonders augenfälligen
Landfchaftsformen Norwegens, die dem Beschauer immer neuen Reiz gewähren.
Beide, Fjorde und Inseln, verdienen eine eingehende Betrachtung.
Güßseldt charakterisiert die Fjorde mit den Worten: „Fjord ist ein Mittelding
zwischen Fluß, Alpensee uud Meeresbucht. Vom Fluß haben sie die Längenaus-
dehnung, gewundeneu Lauf und Nebenarme." Wir wollen hier einschalten, daß z. B.
der Sognesjord so lang wie die Ems oder wie die Themse ist. „Vom Alpensee haben
die Fjorde den Landschaftscharakter, Blicke auf Schnee und Gletscher, vou der Meeres-
bucht das Salzwasser, die Ebbe uud Flut." An der See erheben sich meistens nur
nackte, kahle Felsen, an denen das Meer brandet; im Inneren der Fjorde wird die
Luft immer milder, frischgrüne Wiesen und Wald schmücken die sanfteren Gehänge.
Aber wenn man vom Fjelde her sich einem Fjorde nähert, sieht man wohl den
blauen Wasserspiegel in der Tiefe wie einen Alpensee; allein einen Ausblick aufs
offene Meer gewinnt man nicht, denn es liegt zu fern, und die Ausgänge der Fjvrde
sind von unzähligen Inseln besetzt.
Die Frage nach der Entstehung der Fjorde ist vielfach erörtert. Ein Vergleich
mit ähnlich zersprengten Küsten hat gezeigt, daß die Fjorde fast nur an Längsküsten
vorkommen, das heißt an solchen Küsten, an denen Gebirge entlang ziehen, im Gegen-
satz zu solchen Küsten, an denen Gebirgsketten nur iu Vorgebirgen auslaufen und
Täler oder Ebenen zwischen sich frei lassen. Solche Längsküsten finden sich zwar iu
alleu Erdteilen und in allen Zonen, aber Fjordbildungen gibt es nur au der West-
küste Grönlands, an den nördlichsten und an den südlichsten Strichen der Westseite
Amerikas und an der Westseite der südlichen Insel von Neuseeland. Man könnte
auch noch die Westseite Großbritanniens dazu rechueu. Man findet demnach die
Fjorde nur in dem kühleren Teil der gemäßigten Zone, nie in dem
heißen Erdgürtel, uud ferner stets auf der Westseite. Die Westseite ist aber
iu allen genannten Gegenden die Regenseite. Man weiß aber auch, daß die Fjord-
küsteu ehemals vergletschert waren. Auch sind diese schmalen Meeresarme stets in
sehr hartes Gestein eingeschnitten. Also werden die fließenden Gewässer und die
Gletscher an der Aushöhlung der steilwandigen Täler mitgearbeitet haben. Aber da
man nur die inneren Teile großer Fjorde als reine Erosionstäler ansehen kann, so
müssen auch noch andere Ursachen für die Entstehung dieser merkwürdigen Tal-
bildnngen gesucht werdeu. Die größeren Täler sind schon im Aufbau des Gebirges,
also tektonifch, vorgezeichnet oder durch einen Wechsel der Gesteine oder durch Risse
uud Spaltungen bediugt. Hier sammelten sich die Wasseradern zu Flüssen und
schufen die Flußtäler schon vor der Eiszeit oder zwischen den Eiszeiten. Aber in
den Eiszeiten wurden durch die stärkere Gewalt der Eisströme die Täler noch be-
deutend vertieft und erhielten im Querschnitt ein Profil, das dem II gleicht, während
das Profil der Alpentäler dem V ähnelt. So sind die Fjorde, bei denen auch noch
eine Senkung der ganzen Gesteinsmasse angenommen werden muß, um den unteren
10. Die Fjorde, Strandebenen und Inseln Norwegens.
87
Teil der Täler unter das Meeresniveau zu versenken, aus dem Zusammenwirken
verschiedener Kräfte entstanden und treten überall in großer Zahl, gewissermaßen
gesellig auf.
Ein anderes Merkmal von den Wirkungen des Eises und der brandenden See
sind die Strandlinien, die an den Steilküsten der Fjorde und der offenen See sich
bis über 100 in in das Gestein eingegraben finden. So fand der bekannte norwe-
gifche Meteorologe Mohn am Warangerfjord sieben Terrassen oder Strandlinien
übereinander bis zu 91 m über Meer, bei Tromsö ebensoviel bis 94 in Höhe, bei Dront-
heim viel mehr als sieben bis zu einer Höhe von 176 in und bei Bergen sechs Linien
bis 87 in hoch. Über die Entstehung dieser Linien, die offenbar eingegraben sind, als
der Wasserspiegel vorzeiten einmal längere Zeit in den angegebenen Höhen stand,
haben sich die Meinungen in dem letzten Jahrzehnt geändert. Früher lehrte man,
eine auf ein Küstenland aufgesetzte mächtige Eiskappe übe eine gewaltige Wirkung,
indem sie das Wasser heraufziehe. Auf das Abschmelzen der Eiskappe müsse dann ein
Zurückweichen des Meeres folgen, und so seien dann in den entsprechenden Höhen
des verschiedenen Meeresniveaus die Strandlinien entstanden. Allein dem ist ent-
gegengehalten, daß diese Linien ganz unregelmäßig verlaufen, wie sie bei gleichmäßiger
Anziehung des Wasserspiegels nicht entstehen können, und daß die Mächtigkeit der
Eiskappe zu mindestens 10 000 m angenommen werden müsse, um eine Hebung des
Seespiegels um 200 in zu erzielen. Eine solche Annahme sei aber unter allen Um-
ständen unstatthaft. Es bliebe nur übrig, statt der Schwankungen des Meeresniveaus
Schwankungen oder Bewegungen der festen Erdrinde anzunehmen. Später hat sich
aus genaueren Untersuchungen ergeben, daß die Strandlinien nach dem Inneren der
Fjorde zu höher werden, und daß die Linien in nahe beieinander liegenden Fjor-
den in ganz verschiedener Höhe sich zeigen. Danach finden diese Linien wohl am ein-
sachsten ihre Erklärung, wenn man sie für Wirkungen von Eisseen erklärt, die gegen
das Ende einer Eiszeit ihren Wasserspiegel je nach dem weiteren Rückgange des Eises
stufenweise senkten. Dadurch verlieren allerdings diese Linien ihre ihnen sonst zuge-
sprocheue Bedeutung für allgemeine physikalische Fragen uud behalten nur lokales
Interesse.
An ihre Stelle ist in der neuesten Zeit die Bedeutung der früher noch nicht ge-
würdigten Strandebenen getreten. Dieselben bestehen aus festem Felsgrunde uud
sind durch die Brandung des Meeres geschaffen. Diese Strandebenen, wenig über
dem Meeresspiegel gelegen, wo der Boden nicht gehoben ist, sind über die ganze
Küstenregion bis nach Tromsö verbreitet und haben volkswirtschaftlich darin ihre
hohe Bedeutung, daß ein großer Teil der Bevölkerung auf ihnen lebt. Fast alle
Häfen der Westküste, wie Stavanger, Bergen, Aalesund und Kristianfund liegen
auf solchen Strandebenen, nur Molde und Drontheim nicht, von denen jenes auf
einer nach Süden abfallenden Berglehne, dieses auf Schwemmland steht. Nördlich
vom Droutheimer Fjord und im Losotgebiet liegen alle Küstenplätze so; Lofot wäre
ohne solche Strandebenen gar nicht bewohnbar. Aber auch der dichte Schwärm der
Schären, in dessen Schutze der ganze Verkehr stattfindet, ist daraus geschaffen.
Größere, einige hundert Quadratkilometer umfassende Küstenebenen gibt es nur
in Jäderen (d. h. Küstenebene) südlich von Stavanger und in Orland (d. h. Jnsel-
land) an der Nordseite des Drontheimer Fjords. Flachere Ufer oder sanft ansteigen-
des Gelände findet man fast nur in der Umgebung des Kristianiafjords. Dagegen
fällt von Lindesnäs an die nach Norden verlaufende Küste bereits bergig ins Meer,
wird im Stifte Bergen schroff und steigt bereits über 1000 in empor. Wasserfälle
88
B. Zur Länderkunde.
stürzen sich frei durch die Luft von oben in den Fjord, so daß man unbenetzt unter
dem Falle mit dem Boote durchfahren kann. „Ich bin selbst", sagte Vibe. „in einem
Boote zwischen einem solchen Wasserfall uud der überhängenden Klippe hingerudert,
ohne vom herabstürzenden Wasser benetzt zu werden."
So läuft die Küste nordwärts bis zum Vorgebirge Stad auf öer Halbinsel Stad-
land, die sich wie ein gewaltiger Unterarm mit Hand ins Meer erstreckt und aus dem
die Küste begleitenden Jnselschwarm frei in den Ozean vortritt, so daß hier die
Küstendampfer oft von der Gewalt der Wogen erfaßt werden. Bon hier wendet
sich die Küste mehr nach Nordosten und bietet an den Fjorden, so namentlich am
Jörundfjord in den jäh abstürzenden Gebirgsmasfen oft die phantastischsten Fels-
formen. Am wildesten erscheinen die Felszinnen und Türme in Romsdal. Jenseits
Drontheim werden dann die Höhen wieder niedriger bis etwa zum 65. Grad n. Br.
Von da an nehmen die Felsgestade an Wildheit wieder zu und erreichen das höchste
Maß im Gebiet von Lofot. Den norländischen Küsten sind die zahlreichen Berghöhlen
eigentümlich, sowohl auf dem festen Lande, als auf den Inseln. Von den merkwür-
digen Gestalten der Inseln wird noch weiterhin die Rede sein. In Finmarken Herr-
schen auch noch die schroffen Küstenformen vor, doch erscheinen daneben auch Küsten-
kundschaften von milderem Charakter. Die Inseln werden größer, und die breiten
und tiefen Meeresbuchten fiud oft nur durch Laudengen (Eide) voneinander ge-
trennt, über die man im Mittelalter häufig die Fahrzeuge schleppte, um deu Seeweg
abzukürzen oder um die offene See zu vermeiden.
Endlich gehöreu zu den besonderen Landschaftsformen Skandinaviens die zahl-
losen großen und kleinen Inseln und Felstrümmer im Meere, die alle Küsten bis
auf sehr wenige Stellen vollständig und in dichtem Schwärm umsäumen. Schären
nennt sie der Norweger, ein Ausdruck, der mit unserem deutschen Worte Schere sich
deckt und auf das Zerschneiden des Wasserspiegels durch hohe oder niedrige Klippen
hindeutet. Wichtig für den Küstenverkehr wird dieser Schärenhof, Skjaergaard
(eigentlich Schärengarten), das heißt die See hinter den Klippen, dadurch, daß die
Schiffe, darunter auch die Dampfer für den Post- und Reiseverkehr, stets in ruhigem
Fahrwasser dahinfahren und selten den Gefahren des offenen Meeres ausgesetzt sind.
In Schweden und Rußlaud (Finnland) wird sogar zum Schutze der Küsten eine
Schärenflotte unterhalten, die aus flachgehenden, gepanzerten Kanonenbooten be-
steht. Alle norwegischen Inseln zusammen haben einen Flächenraum vou 22228 qkrn,
sind also größer als das Königreich Sachsen und umfassen siebeu von: Hundert der
Landfläche von Norwegen. Mehr als 1109 von diesen Inseln sind bewohnt, vielfach
allerdings nur von einer Familie. Eine sehr anschauliche Schilderung der Schären
gibt G. Wegener: „Ein einziges, wild grandioses Granitgetrümmer und dazwischen,
alles umsließeud uud umbraudend, das unendliche Meer. Wer nie eine Schären-
landschaft gesehen hat, dem wird es kanm möglich sein, sich eine rechte Vorstellung
von diesem Panorama zu macheu. Man hat das Gefühl, als sei hier der Schauplatz
jenes ungeheuren Kampfes der Titanen gegen die Götter, und die vom eherueu
Himmel zurückgeprallten Felsenbrocken seien zu Tausenden in die aufkochende See
hinabgestürzt, um uuu in allen möglichen Zacken und Wölbungen daraus hervor-
zuragen. Bald liegen sie flach im Meere wie Schildkrötenschalen, glatt geschlissen
von den Gletschern der Vorzeit und den brandenden Wellen der Gegenwart; bald
ziehen sie in langen, rundlichen Hügelreihen dahin, anzusehen wie die ans der Meeres-
fläche auftauchenden Ringe einer riesigen Midgardschlange. Bald wieder ragen sie in
steilen, starreu Wändeu gleich Riesenmauern aus der Flut empor, oben in Spitzen und
10. Die Fjorde, Strandebenen und Inseln Norwegens.
89
Fransen zerfressen, oder sie steigen kegelförmig, Vulkanen gleich, in den Äther. Alle
Größen sind vertreten, von der noch unter der See verborgenen Klippe, die man nur
an der violett-rötlichen Färbung und der stärkereu Bewegung des Wassers über ihr
bemerkt, bis zu Hunderten von Metern aufsteigenden Kolossen. In der Nähe sieht
man das frischgrüne Moos, welches die geschützten Vertiefungen zwischen den kahlen
Granitbuckelu ausfüllt, oder Wäldcheu uiederer Birkenbüsche, die hier und da über
niedere Schären sich ausbreiten; weiterhin schafft die Luftabtönung immer blauere
Farben, und in den weitesten Fernen erblickt das Auge uur noch matte, tiefblaue
Inseln, die ohne Einzelgliederung in scharser Silhouette am Himmel schweben. An
den letzten Klippenreihen in der Ferne sehen wir kleine weiße Lichtpünktchen auf-
tauchen und verschwinden: es ist die Gischt der äußersten Brandung."
Der Glanzpunkt des norwegischen Schärenhofs wird ohne Zweifel im Lofot-
gebiet erreicht. Bis dahin steigert sich der Eindruck der Landschaft unablässig an Größe
und auch an nordischem Aussehen. Die Welt der Lofoten mit ihren engen Sunden,
ihren tausend Meter hohen Felsabstürzen, ihren Gletschern und Zacken, vereinigt die
Schönheit und Größe eines Hochgebirges mit den Reizen des Ozeans zu einem wunder-
baren Ganzen.
Um nun die Schiffahrt hinter diesen Inseln zu sichern, ist die ganze Küste genau
vermessen uud das Fahrwasser sorgfältig gekeuuzeichuet. Da erheben sich auf den
Klippen kleine weiße Wachthäuscheu, die bei Tage weithin sichtbar sind und nachts
Feuersiguale geben. Oder es sind auf uiedrigeu Felfeu Steinmale aufgemauert
oder durch Stangen gefährliche Untiefen kenntlich gemacht. „So wird der Schären-
Hof, der früher durch seine Gefährlichkeit einen vortrefflichen Schlupfwinkel für die
Räuberkönige abgab, heute in friedlicher Zeit ganz umgekehrt zu einem unschätzbaren
Hilfsmittel für die einheimische wie fremde Schiffahrt, die sich hier sicher vor den
Stürmen des Ozeans im Schutze der Inseln vollziehen kann."
Es möge nun auf diese lebendige Darstellung eines begeisterten Naturfreundes,
der als Fremder die Küstenfahrt durch die Schären gemacht hat, ein Norweger selbst,
der kühne Polarfahrer Nansen, uns ein tiefempfundenes Stimmungsbild des Schären-
Hofes geben, wie er es bei seiner Ausfahrt gegeu den Nordpol in sich aufgenommen
hat. „So fuhren wir denn", schreibt Nansen, „meistens bei schönem Wetter, seltener
in Regen und Nebel, zwischen Sunden und Inseln hindurch längs der norwegischen
Küste nach Norden. Welch herrliches Land! Ich möchte wissen, ob es in der ganzen
Welt ein Fahrwasser gibt wie hier. Unvergeßlich sind diese Morgenstunden, wenn
die Natur aus ihrem Schlummer erwacht, Nebelheim weiß und silberglänzend auf den
Bergen liegt, deren Gipfel wie Meeresinseln darüber emporragen. Dieser strah-
lende Tag über den weißen, schimmernden Schneebergen! Und dann die Abende mit
ihrem Sonnenuntergänge und dem bleichen Monde, Berge und Juselu schweigend und
träumend wie ein Sehnen der Jugend. Hin und wieder geht es vorüber an freund-
licheu Gärtcheu und Häusern, von grünen Bäumen lachend umgeben. Mau mag über
Naturschönheiten die Achselu zucken; es ist doch herrlich für ein Volk, ein schönes Land
zu besitzen, wenn es auch arm ist. Nie ist mir dies klarer geworden als in dem Augen-
blicke, da ich es verlassen sollte."
Das Meer selbst ist fast allenthalben tief; zwischen den Schären aber oft flach
und dann unfahrbar. Daher wird es dann Stiefelmeer (Stövlehav) genannt.
Um den Schiffeu einen Halt zu gewähren, sind da, wo das Meer zu tief ist, oder wo
der Anker nicht hält, schon in alter Zeit eiserne Ringe mit Blei in die Felsen eingegossen,
um Schiffstaue daran zu befestigen. So namentlich in der Umgebung von Bergen.
90
B. Zur Länderkunde,
11. Italien, eine länderkundliche Skizze.
Von Theobald Fischer. („Italien", Hamburg 1893, Verlagsanstalt und
Druckerei A.-G. vorm. I. F. Richter.)
Die Lage und Weltstellung Italiens ist eine sehr günstige, schon als die mittlere
der drei südeuropäischen Halbinseln erscheint sie den beiden anderen gegenüber be-
vorzugt. Mitten im Mittelmeere gelegen, das Nordwestbecken desselben vom Süd-
ostbecken trennend, beherrscht es zugleich die eiue der Verbindungslinien beider und
nimmt teil an der Beherrschung der großen Welthandelsstraße, welche der großen
Achse des Mittelmeeres solgt. Eiue lange schmale Landbrücke vom Rumpfe Europas
hinüber zur Festlandsmasse von Afrika, erscheint Italien als das Herzland des ganzen
Mittelmeergebiets und zur Beherrschung desselben bestimmt. Italien scheint nach
Westen, ist aber imstande, von den vortrefflichen Häfen von Venedig, Brindisi und
Tarent, welche mit dem nahen Gegengestade die Ungunst der adriatischen Küste aus-
zugleichen streben, auch zum Osten in Beziehungen zu treten. Mit einer Landgrenze
von uur 1400 km Länge verbindet Italien eine Küstenlänge von 6341 km und ist so
ein durchaus maritimes Land, denn selbst seine meerfernsten Großstädte Turiu uud
Mailand haben nur eiue Meerferue vou 105 bzw. 120 km, d. h. gleich Hamburg.
Die Küstengliederung Italiens ist namentlich im Westen eine reiche; küstennahe
Inselgruppen, wie die toskauischen und kampanischen, erhöhen den Wert derselben;
die großen, nach der Gesamtheit ihrer Verhältnisse italienischen Inseln Sizilien, Sar-
dinien und Korsika, teils küstennah, teils in Seeweite gelegen, bilden als Jnsel-Jtalien
eine wesentliche Ergänzung des eigentlichen Halbinsellandes, beide zusammen eine
solche des mehr festländischen Charakter tragenden Po-Landes. Der Reichtum Italiens
an natürlichen Häfen ist ein verhältnismäßig großer; wo dieselben den Anforderungen
der Neuzeit nicht mehr genügten, wie in Genua, Neapel, Palermo, konnten sie durch
Kunst verbessert werden; wo sie ganz fehlten, waren sie unschwer zu schaffeu, wie bei
Livorno, oder man vermißte sie weniger als in irgendeinem der Mittelmeerländer,
weil Italien, wohl im wesentlichen dank seiner Oberflächengestalt, weit seltener von
Stürmen heimgesucht ist als Griechenland, Südfrankreich, Spanien oder gar Al-
gerien. Ein sehr großer Teil auch des inneren Verkehrs vollzieht sich so stets zur See,
und selbst mit den Nachbargebieten verkehren Küstenfahrer, da die Meerenge von
Otranto nur 72,8, die vou Pantellaria nur 150 km breit ist, fo daß man bei hellem
Wetter von Sizilien aus wohl das hohe Kap Bon drüben in Tunesien erblicken kann.
Es erscheint so dieses Land wie zum Ausgangs- uud Brennpunkte des Seever-
kehrs im ganzen Mittelmeere geschaffen, wie es nahezu zwei Jahrhunderte in der
engeren Welt des Altertums und Mittelalters der Hauptsitz des Verkehrs gewesen
ist. Und gleiche Bedeutung vermöchte es wohl wieder zu erlangen, wenn sich seine
Gegengestade im Osten und im Süden einmal wieder beleben werden. Der
Straße von Gibraltar und dem Suez-Kanal gleich nahe, vermag es auch am
Weltverkehr der Neuzeit mit Erfolg teilzunehmen. Aber noch mehr, auch von
wichtigen festländischen Straßen wird Italien gekreuzt; in meridionaler Richtung von
denen, die in Genua, Venedig, Neapel und Brindisi endigen, in äquatorialer von denen,
welche über Mailaud und Turin geheu. Mailand ist der eigentliche Kreuzungspunkt
dieser Straßen, der Mittelpunkt aller Alpeustraßen, die dort vom Simplonpasse im
Westen bis zum Stilsser Joch im Osten radienförmig zusammenlaufen. Infolgedessen
11. Italien, eine länderkundliche Skizze.
91
ist es heute auch einer der wichtigsten Sitze des festländischen Handels von Europa.
Und nicht, wie Spanien, nur zu einem Lande, nein, zu deren einer ganzen Reihe, zu
Frankreich, der Schweiz, dem Deutscheu Reiche, Osterreich uud Ungarn, unterhält
Italien unmittelbare Beziehungen zu Lande. Vielseitigkeit der Beziehungen
zur See wie zu Lande ist demnach der hervorstechendste Charakterzug Italiens.
Und wenn die Handelssprache fast aller Völker Europas noch heute die Spuren der
beherrschenden Stellung erkennen läßt, welche Italien bis ins sechzehnte Jahrhundert
im Welthandel hatte, so sind die Bedingungen, daß dies Land in Znknnst wieder ein-
mal diese Stellung zurückerobert, zwar nicht mehr gleich günstig, aber immerhin keine
durchaus ungünstigen.
Entwickelungsgeschichte.
Der Satz, daß man einen Gegenstand erst völlig kennt, wenn man weiß, wie er
entstanden ist, sindet vor allem in der wissenschaftlichen Geographie Anwendung.
Wenn wir daher, nachdem wir uns in großen Zügen mit dem zu betrachtenden Lande
vertraut gemacht haben, in die Geschichte desselben einzudringen suchen, so möchte
ich zunächst die Tatsache feststellen, daß Italien, wie es politisch ein Neubau ist, auch
erdgeschichtlich ein sehr junges Land, in seiner Gesamtheit wohl das jüngste
Europas ist. Man kann gewissermaßen sein Alter noch aus seinen Zügen herausleseu.
Wohl nirgends vollziehen sich die Veränderungen des wagerechten Umrisses uud des
seukrechteu Aufrisses so rasch wie hier. Nirgends kann man wie hier sozusagen mit Augen
sehen und mit Händen greifen, wie an der einen Stelle ein Berg aufgetürmt, an einer
anderen eiu Gebirge abgetragen und eingeebnet wird. In Italien sind in der Tat,
um uns einer Wendung unseres unvergeßlichen Meisters Oskar Peschel zu bedienen,
unsere besten Karten Bilder von vergänglicher Wahrheit. Von jeher hat daher Italien
die besondere Aufmerksamkeit der Geologen wachgernsen, von denen wohl jeder
einmal den Drang gesuhlt hat, in diesem Lande sein Wissen zu bereichern.
Nur geringe Trümmer eines älteren Stückes der aufgetauchten festen Erdkruste
siud iu den Neubau Italien verarbeitet, und die Inschriften dieser alten Werkstücke
sind so verwischt, daß wir nur mühsam zu entziffern vermögen, wie der alte Bau
ausgesehen haben mag, dessen Reststücke sie sind. Derselbe dehnte sich von Korsika-
Sardinien, vielleicht vom äußersten Südwestende unserer heutigen Alpen bis nach
Kalabrien und Sizilien, nach Osten bis aufs Festland des heutigen Toskana aus.
Längst bis auf jene stehengebliebenen Trümmer in den tiefen Einbruchskessel des
Tyrrhenischen Meeres versenkt, bezeichnen wir dieses demnach etwas westlicher ge-
legene Ur-Jtalien mit dem Namen Tyrrhenis. Nur im Bereich der alten Tyrrhenis
kommen in Italien, von den Alpen abgesehen, überhaupt alte Gesteine vor, Gneise,
kristallinische Schiefer, alte Granite, in noch geringerer Ausdehnung ihnen mantel-
förmig angelagert auch paläozoische Schichtgesteine. Ans sie fast alleiü ist, wenn wir
von der Schwefelgewinnung Siziliens absehen, in Italien Bergbau beschränkt. Mit
dem fast völligen Fehlen der Steinkohlensormation hängt der völlige Mangel an
Steinkohlen zusammen, welcher die neuzeitlich großgewerbliche Entwicklung Italiens
so außerordentlich erschwert. Gegen Ende des mesozoischen Zeitalters begann der
Niederbruch und die Zertrümmerung der alten Tyrrhenis und entstand in einer langen
wechselvollen Bauperiode, wo zeitweilig der Bau unterbrochen, ja wieder nieder-
gerissen wurde, der Neubau Italien, der, seiner Gesamtanlage nach erst mit dem
Ende der Tertiärzeit vollendet, noch in der Quartärzeit wesentliche Zu- uud Umbauten
92
B. Zur Länderkunde,
erfahren hat. In der zweiten Hälfte der Tertiärzeit wurde mit energischsten durch
seitlichen, von Südwesten kommenden Druck das Apenninengebirge zusammen-
gefaltet, zum Teil aber auch bald wieder durch Einbrüche zertrümmert, so daß
nur noch, ähnlich wie beim größeren Teil der Karpaten, der äußere geschichtete
Mantel erhalten ist. Kesselförmig griffen diese Einbrüche an der Westseite ein, und
auf ihnen entwickelte sich gegen das Ende der Tertiärzeit jene großartige, noch heute
nicht erloschene vulkanische Tätigkeit, die vou dem Jnselchen Capraja im
Norden, am Eingang in das Lignrische Meer, bis zum Etna ganze Reihen und
Gruppen vulkanischer Kegel aufgetürmt hat. Ganze Meerbusen, wie in Latium
und in Kompanien, wurden von den vulkanischen Auswurfstoffen ausgefüllt, ganze
Gebirge, wie das Albaner, und so gewaltige Kegel, wie der Etna, aufgetürmt.
Besteht doch iu der Umgebung von Rom ein Gebiet von 6000 qkm, gleich mehr als
einem Drittel des Königreichs Sachsen, nur aus vulkanischen Ablagerungen. Und
noch sind die Grundlagen des Neubaus nicht in sich verfestigt, noch unterliegen die
Schollen der festen Erdkruste Bewegungen, welche Italien zu einem der erd-
bebenreichsten Länder der Erde machen. Gibt es hier doch Gegenden, in
welchen im Durchschnitt einmal im Jahrhundert alle Siedlungen vou Gruud aus,
dazwischen noch oftmals teilweise zerstört werden. Vulkanische Ausbrüche veruichteu
so periodisch Lebeu und Eigentum örtlich, Erdbebeu iu großer Ausdehuuug, beide
hemmen den Unternehmungsgeist, verlangsamen die Volksvermehrung uud die An-
Häufung von Wohlstand, sie gehören so zu den Landplagen Italiens, haben aber
auch Italien zur hohen Schule für das Studium dieser beiden so furchtbaren Natur-
erscheiuungen gemacht. Zu beiden in engen Beziehungen steht auch der Reichtum
Italiens an Thermen uud Mineralquellen, Schätze, die man noch kanm auszubeuten
begonnen hat.
Die faltenden Bewegungen, welche dem Apenninengebirge den Ursprung gaben,
scheinen nach Süden an Intensität abgenommen zu haben, während die Bildung von
Bruchlinien und darauf erfolgende Vertikalbewegnngen dort nnter den gebirgs-
bildenden Vorgängen mehr in den Vordergrnnd treten. Jedenfalls scheint schon im
Abruzzen-Apennin mir mehr leichte Fältelung vorzuliegen, welche Hochflächen schns.
Wir denken hier namentlich an die bedeutendste Maffenanschwellnng der ganzen
Halbinsel, die den eigentlichen Abrnzzen im SSW vorgelagert ist und die wir
Abrnzzen-Hochland nennen möchten. Brüche nnd Vertikalbewegnngen treten
hier neben der Faltnng bereits bedeutnngsvoll hervor, sie gaben der Kalkmasse
der Abruzzen die bedentende Höhe von noch hente 3000 m und scheinen im neapolita-
nischen Apennin geradezn zn überwiegen. Eine Hebung des ganzen Apenninengebietes
zu Ausaug der Quartärzeit hat hier im Südeu erst wieder ein orographisch einheit-
liches Gebirge geschaffen, indem dadnrch erst wieder die Trümmer der alten Tyrrhenis
nnd die Schollen und Klötze jurassischer und kretazeischer Apenninengesteine mitein-
ander verbunden wurden. Erst jetzt verwuchsen der Monte Gargano und die apulische
Kreidetafel durch Schließung pliozäner Meerengen mit dem Apenninenlande und
kam durch Anschweißung von Sporn und Absatz die bekannte Stiefelgestalt zur Aus-
bildung. Diese Hebung schuf zwar auch die Kalabrische Meerenge zu einer niederen
Landenge um, die auf einer tiefgreifenden Bruchspalte liegende Meerenge von Messina
vermochte sie aber nur schmäler und seichter zu machen. Sizilien blieb dauernd vom
Festlande getrenut und verlor auch iu der Diluvialzeit seine Verbindung mit Tunesien,
indem sich auch dort schou seit der Tertiärzeit ein Bruchgürtel auszubilden begonnen
hatte, der am Nordrande Klein-Afrikas nach 0 nnd SO verläuft, uud auf welchem
11. Italien, eine länderkundliche Skizze.
sich ebenfalls noch heute nicht erloschene vulkanische Tätigkeit zu regen begann. Die
durch Bruchlinien und Grabenversenkungen zerstückte Malta-Grnppe und Lampedusa,
flache tertiäre Tafeln, sind Reste des hier zertrümmerten Festlandes, für dessen bis
in die geologische Gegenwart fortgesetztes Untertauchen die sorgsamen hydrographischen
Forschungen der Franzosen in der Kleinen Syrte so wunderbare Belege geliefert haben.
Dagegen begann im Norden gegen Ende der Tertiärzeit durch Hebung und Zu-
schüttung die Verlandnng des großen Senkungsfeldes an der Innenseite der Alpen,
das im Laufe der Quartärzeit zur großen, noch immer auf Kosten der Adria wachsenden
Po-Ebene ausgestaltet wurde. Ebenso sind an der Westseite der Halbinsel erst seit
der Quartär-, ja zum Teil iu geschichtlicher Zeit der Meerbusen, in welchen der Aruo
mündete, und einige kleinere verlandet. Italien ist so, bis auf jene wenig ausgedehn-
ten Trümmer der Tyrrhenis, ein junges Land, die Apenninen von allen größeren
Gebirgen Europas das jüngste, denn erst in quartärer Zeit ist ihr Bau vollendet worden.
Mindestens zwei Drittel Italiens, von Sizilien sogar vier Fünftel besteht aus Gesteinen,
welche sich erst im Laufe der Tertiärzeit auf dem Grunde des Meeres oder noch später
durch Anlagerung gebildet haben. Und unter diesen Gesteinen überwiegen tonige
und mergelige, also leicht zerstörbare Felsarten.
Auf der weiteu Verbreitung leicht zerstörbarer Felsarten im Bunde mit den
klimatischen Verhältnissen und der weit fortgeschrittenen Entwaldung des alten
Kulturlandes beruhen die erstaunlich rasch vor sich gehenden Veränderungen der
Oberflächengestalt und der Küstenlinien ganzer Landschaften. Ganze Gebirge,
wie das peloritanifche Gneisgebirge bei Messina, sind in sichtbarer Abtragung begriffen,
immer tiefer greifen die Täler und Regenschluchten in das Gebirge ein, immer größere
Geröllmassen schieben sich in den für gewöhnlich fast ganz trocken liegenden Fiumaren
ins Meer. In dem Mergellande von Toskana werden durch erhalten gebliebenen
Baumwuchs verfestigte Stellen in wenigen Jahren zu inselartigen Hügeln heraus-
präpariert, alle 10—20 Jahre muß man die Grenzsteine neu setzen, da sich die ganze
Oberfläche unter den Winterregen in eine gleitende Breimasse verwandelt, und die
Flüsse zu Schlammströmen werden, welche Meerbusen füllen und die Küste vorrücken.
Neuerdings verwertet man in Italien vielfach diese Schlammströme, welche dem Lande
große Mengen kostbarer Düngstoffe entführen — hat man doch in Frankreich den
Wert der alljährlich dem Lande in den Sedimenten der Flüsse entzogenen Feststoffe
auf 30 Mill. Frcs. geschätzt —, zu künstlicher Anfüllung von Fieberdünste aussendenden
Sümpsen und bekämpft damit die Malaria am wirkungsvollsten. Das berüchtigte
Chiana-Tal zwischen Florenz und Rom ist dadurch fieberfrei geworden, daß man
durch solche künstliche Ablagerung eine Fläche von 200 qkm um 2—5 m erhöht und
damit den Gewässern Gefäll verschafft hat.
Bergschlipfe, welche nicht selten große Flächen angebauter Felder, ganze Ort-
schaften und Menschenleben vernichten, sind in diesen tonigen Gebieten Italiens
außerordentlich häusig. Im Juni 1881 geriet, um nur einen Fall unter vielen
hervorzuheben, eiu Teil des zwischen zwei Flußtälern gelegenen, 5000 Einwohner
zählenden Städtchens Castelsrentano (bei Chieti) ins Gleiten und sank in Trümmer,
der Rest war schwer bedroht. Selbst die Lage der Siedeluugeu wird von diesen Fels-
arten bedingt. Dieselben schließen sich nicht, wie in Mitteleuropa, den Flüssen und
Tälern an, denn diese sind von Geröllen und Schlammassen erfüllt, versumpft und
fieberschwanger, auch uicht den Talgehängen, denn diese sind beweglich; hoch oben
aus deu meist von festen wagerechten Kalktafeln gebildeten Bergrücken, Adlernestern
gleich, tronen fast im ganzen Apenninenlande die Heimstätten Oer Menschen. Daß
94
B. Zur Länderkunde.
sich die Malaria in solchen Tongebieten ganz besonders entwickeln kann, liegt klar zutage.
Auch den Verkehrswegen bieten sie besondere Schwierigkeiten, besonders den Eisen-
bahnbauten. Diese sind in denselben stets überaus kostspielig, da sie unablässig Aus-
besserungen, Verlegungen n. dgl. erfordern und dennoch der Verkehr oft unterbrochen
ist. In der winterlichen Regenzeit fließen die Dämme auseinander, die Einschnitte
zusammen, an den Hängen kommen die Linien ins Gleiten. Nachdem man, namentlich
in Sizilien, wo nicht weniger als 40% der Oberfläche aus diesen gleitenden und nur
30% aus mäßig sesteu Bodenarten bestehen, die schlimmsten Erfahrungen in dieser
Hinsicht gemacht hat, hat heute bei Feststellung der Linien in solchen Gebieten der
Geologe das entscheidende Wort zu sagen, man umgeht dieselben soviel wie möglich.
In solchen Gegenden kostet nicht selten ein Kilometer 500—600 000 Lire und bei
Tunnelbauten, oft die letzte Zuflucht, der laufende Meter 4—5000 Lire! Auch die
weitverbreiteten Tongesteine, namentlich da sie häusig auch noch salzig und unfrucht-
bar sind, gehören so zu den Landplagen des Gartens der Hesperiden.
Bodenplastik.
Das so jugendliche Faltengebirge der Apenninen beherrscht die Oberflüchengestdt
in solchem Maße, daß man oftmals geradezu von der Apeuuinen-Halbinsel spricht.
In der Tat ist Italien überwiegend Apenninenland. Doch sind die Höhen,
da eben nur der äußere geschichtete Mantel des Faltengebirges erhalten ist, überall
nur mäßige. Die höchste Erhebung, der Gran Sasso d'Jtalia, erreicht noch nicht voll
3000 in und steht somit dem Kegel des Etna mit 3312 in noch beträchtlich nach, aber
zahlreiche Gipfel, selbst bis nach Sizilien, erreichen oder übersteigen 2000 m. Die
Paßhöhe ist überall gering, sie beträgt im Mittel der 17 von Fahrstraßen benützten
Pässe nur 900 in. Die Eisenbahnen durchfahren die Kämme meist in noch geringerer
Höhe in Tunnels. Es bieten so die Apenninen, besonders wenn man auch ihre geriuge
Breite und die südliche Lage in Betracht zieht, dem Verkehr nur geriuge Schwierig-
keiten. Als Klima- und Wetterscheide wird man ihre Bedeutung aber nicht leicht
überschätzen. Der Charakter des Berg- und Hügellandes wird daher in Italien über-
wiegen, nur 38,5% der Oberfläche ist als Ebene anzusehen.
Die kennzeichnenden Züge des Faltenlandes sind im Apenninenlande vielfach
verwischt und überhaupt nur in der Nordhälfte schärfer ausgeprägt. Parallelismus
der Ketten kennzeichnet nur den Nord- und zum großen Teil noch den Mittel-Apennin.
Dabei ist die Länge der einzelnen, meist den Faltenzügen genau entsprechenden Ketten
stets eine geringe, immer nimmt eine innere, südostwärts streichende an Höhe ab und
verschwindet schließlich uuter dem tyrrhenischen Senkungsfelde, das bei Florenz am
tiefsten in das Gebirge eingreift. Die Wasserscheide springt nach Osten auf die uächste
Parallelkette über, die dann dasselbe Schicksal erleidet. Die Gewässer folgen den
Faltentälern und brechen so schließlich, sich zu größeren Rinnen vereinigend, zu dem
breiten Vorlande durch, das sich hier in dem Senkungsfelde noch über den Meeresspiegel
erhebt, um das tyrrhenische Tiefbecken zu erreichen. Alle Flüsse habeu daher hier den
gleichen Bau. Nur dieser kulissenartige Bau der Apenninen bewirkt das südöst-
liche Streichen des Gebirges zwischen Genua uud Ancona.
Ganz anderen Bau besitzt der neapolitauische Apennin. Hier fehlen parallele
Ketten fast ganz; wir haben ein unregelmäßiges Berg- uud Hügelland vou geringer
Höhe vor uns, in welchem die Wasserscheide sich bald mehr dem Adriatischen, bald mehr
dem Tyrrhenischen Meere nähert und über vielen Hochflächen (von Ariano, Eampo-
basso usw.), welche nur das rinnende Wasser gegliedert hat, nur mächtige Jura- oder
95
Kreidekalk-Schollen und -Klötze (der Matese z. 23.), die lebhaft an die ähnlichen, nur
großartigeren Gebilde der Ostalpen, Dachstein, Totes Gebirge usw., erinnern, sich mit
prallen, weißlich schimmernden Wänden erheben.
Wiederum verschieden ist der Bau des kalabrischen Apennin. Er besteht ledig-
lich aus zwei großen Trümmerstücken der alten Tyrrhenis, den Gneismassivs der Sila
und des Aspromonte. Der kalabrische Apennin bietet daher in seinen Oberslächen-
sormen ausfallende Gegensätze zum neapolitanischen, die man in dem Bruchgürtel des
Crati-Tales, etwa auf der geröllüberschütteten Stätte des alten Sybaris stehend, mit
einen: Blick überschauen kann. Gen Norden der Monte Pollino (2271 m) mit kahlen
Steilgehängen zu seinen kühnen, bald weißlich schimmernden, bald intensiv gefärbten
Kalkzinnen von doppelter Brockenhöhe emporgefurcht von engen kanonartigen
Schluchten, in welchen geröllarme, aber ausdauernde, weil von starken Capi d'Acqua
des Kalkgebirges genährte Flüsse zum Crati eilen. Im Süden dagegen erhebt sich die
unserem Harz ähnliche Gneismasse der Sila, die mit sanfter, von üppiger, aber keines-
wegs südlichen Charakter tragender Vegetation bedeckter Böschung zu gerundeten
Hochgipfeln von nicht ganz doppelter Brockenhöhe ansteigt. Wasserarme, aber geröll-
reiche Flüsse durchirren die breiten, slachen Täler.
Wenn wir so das Apenninengebirge auch als ein einheitliches auffassen, so bildet
dasselbe doch mehr das Rückgrat der Halbinsel, es füllt dieselbe nicht ganz aus. Zu
beiden Seiten lagern sich aus weite Strecken noch Landschaften an, welche nur in
loseren Beziehungen zu deu Apenninen stehen und in Italien meist als snb-
apenninische bezeichnet werden. Sie sind dem Apenninenlande erst zu Ende
der Tertiärzeit und noch später angegliedert, bzw. angelagert worden. Wir sprechen
so von einem tyrrhenischen und einem adriatischen Apenninen-Vorlande. Letzteres
umfaßt die auf weite Strecken von Terra rossa bedeckte und daher sehr srucht-
bare apnlische Kreidetafel und die mit ihr durch die apulifche Ebene verbundene
Scholle des Gargano. Die kampanische und die latinische Ebene sind ausgefüllte Ein-
bruchskeffel, während das Hochland von Toskana und vielleicht auch die apuanifchen
Alpen im wesentlichen als Teile der alten Tyrrhenis aufzufassen sind. Die große
Ausdehnung, welche das tyrrhenische Alpenvorland vom Horst von Sorrent bis zum
Golf von Spezia durch Ausfüllung der Einbruchskessel, durch Bildung jungeruptiver
Berge und Berggruppeu und durch Analiedernng von Trümmern der Tyrrhenis er-
erlangt hat, hat hier weite, offene, dichter Befiedeluug zugängliche Landschaften und
namentlich größere hydrographische Becken geschaffen, wie das des Tiber, des Arno,
Garigliano n. a., welche teils dem apenninischen Faltenlande, teils dem Vorlande
angehören, in diesem aber erst ihre volle Entwicklung und Bedeutung erlangen. Hier
liegen daher die größten und geschichtlich wichtigsten Siedelungen der Halbinsel:
Neapel, Eapua, Rom, Florenz, Siena, Pisa, Livorno u. a. nahe beieinander.
Die Trümmer der Tyrrhenis bilden überwiegend Jnsel-Jtalien, das Apenninen-
land entspricht Halbinsel-Italien. Zu diesem, wenn auch berg- und hügelerfüllten,
doch vorzugsweise maritimen Italien steht in vielfachem Gegensatze die Po-Ebene,
Festland-Italien. Dieselbe läßt sich einem zwischen Alpen und Apenninen eingesenkten,
namentlich an der Westseite von den Alpen noch umwallten, sich nach Osten sanft neigen-
den und verbreiternden Troge vergleichen. Doch weist auch die Sohle des Troges
nur selten jene Einförmigkeit auf, welche sonst Ebenen zu kennzeichnen pflegt. Zunächst
erheben sich kleine vulkanische Hügelgruppen, wie die Euganeen, oder abgeschnittene
äußerste Randstücke der Apenninen, wie der Hügel von St. Eolombano, mitten aus
dem Schwemmlande. Aber auch sonst läßt der Baumreichtum und die ganze Art der
96
B. Zur Länderkunde.
Bodenverwertung nirgends den Eindruck des Einförmigen aufkommen, und fast
überall bieten die hohen, zackigen, weiß leuchtenden Kämme und Hochgipfel der Alpen
im Westen zugleich auch die Rücken der Apenninen dem Auge willkommene Rastpunkte.
Ein großes Senkungsfeld, in welchem die Gletscher der Eiszeit und die Flüsse der
Alpen und Llpenninen, namentlich in diluvialer Zeit, ungeheure Geröllmassen ab-
gelagert haben, deren Mächtigkeit im Innern noch nirgends durch Bohrungen hat
festgestellt werden können, zerfällt die Po-Ebene nach den Oberflächenformen, welche
diese Ablagerungen hervorrufen, den Bodenarten und der Art der Bebauung in mehrere
parallele Gürtel. Ein Gürtel hügeliger, an kleinen Seen, Mooren und auch Wirt-
schaftlich ins Gewicht fallenden Torfstichen reicher Moränenablagerungen bildet den
Übergang vom Alpenland zur Ebene. An ihn schließt sich der Gürtel der groben
diluvialen Flnßgerölle und des umgelagerten Moränenschutts au, unter welchem
allmählich die feinen, vorwiegend tonigen, undurchlässigen Schwemmgebilde der
inneren Ebene hervortreten, auf ihnen die in den Gürteln der gröberen Ablagerungen
in die Tiefe gesunkenen Meteorwasser. So bildet sich hier ein besonders wasserreicher
Gürtel, der sog. Gürtel der Fontanili, in welchem teils von selbst, teils künstlich ge-
sammelt große Wassermengen, Quellen und Flüssen Ursprung gebend oder die Flüsse
verstärkend, zutage treten und, zu künstlicher Berieselung verwertet, den Ertrag des
Bodens außerordentlich steigern. Hier liegen die Reisfelder und jeue üppigen Riesel-
wiesen, auf welchen die bedeuteude Viehzucht der Lombardei beruht, die so große
Mengen Butter uud Käse in den Handel liefert. Bei der Fruchtbarkeit des Bodeus
drängte sich wohl sehr früh das Bedürfnis anf, die meist den Charakter von Wildwasser
tragenden Flüsse zu bändigen oder durch künstliche, die dann wirklich dem Verkehr,
zugleich aber auch der Bewässerung des Landes dienten, zu ersetzen. Diese Wild-
Wasser, die noch heute mit ihren breiten, geröllreichen, veränderlichen Betten wichtige
strategische Linien bilden, scheuchen den Menschen von ihren Usern, während die künst-
lichen Wasseradern ihn anziehen. So ist Mailand heute, ähnlich Berlin, der Mittel-
pnnkt eines bewundernswerten Kanalnetzes.
Klima und Pflanzenwelt. Bevölkerung.
Zu deu am meisten anziehenden Eigenschaften und zu den Schätzen Italiens
gehört seiu orographisch ausfällig bedingtes Klima. Doch sind gerade über dieses
unter den Nordländern sehr irrige Vorstellungen verbreitet, die bei praktischer Erpro-
bnng zu bitteren Enttäuschungen und falschen Urteilen über das Land führen. Italien
ist durch feine Lage sozusagen im Mittelmeer, durch den Schutz, welchen Alpen- und
Apenninenwall, einem großen Teile des Landes sonnige Südlage verleihend, bieten,
auch durch die Einflüsse, welche das heiße Nordafrika ausübt, klimatisch in hohem
Grade bevorzugt uud besitzt, örtlich durch die Oberflächengestalt hervorgerufen, wahre
klimatische Oasen. Die Umgebung der oberitalischen Seen und das ligurische Küsten-
land sind nur die bekanntesten und größten. Das Ausmaß der Wärme ist überall ein
bedeutendes, die Menge der Niederschläge überall für das Pflanzenleben ausreichend
und wenigstens in der Nordhälfte des Landes fast gleichmäßig über die Jahreszeiten
verteilt. Freilich, der große Trog der Po-Ebene, der nur im Osten, aber auch nur
in geringem Maße dem Meere zugänglich ist, trägt auch in klimatischer Hinsicht fest-
ländischen Charakter. Im Sommer steigt dort die Wärme in dem Maße, daß
sie derjenigen Siziliens gleichkommt und lange genug andauert, daß selbst einjährige
Erzeugnisse der Tropen, wie der Reis, hier gezogen werden können; im Winter da-
gegen, wo das Mittelmeer, das ja auch in seinen Tiefen niemals weniger als 12—13"' C
11. Italien, eine länderkundliche Skizze. 97
hat, im übrigen Italien wärmeerhaltend wirkt, sammeln sich hier auf der Sohle des
Troges die kühlen, schweren Lnstmassen, die nur langsam zur Adria absließen können,
und namentlich bei Schneebedeckung bilden sich gar nicht selten sehr niedere Tempera-
tnren durch Wärmestrahlung aus, zumal der Winter hier auch die niederschlagsärmste,
heiterste Jahreszeit ist. Es kommen hier Perioden bis zu 30 Tagen vor, in welchen
das Thermometer unter Null bleibt, uud in Mailand bietet sich oft genug^Gelegenheit
zum Schlittschuhlaufen. Nur hat die kalte Jahreszeit im allgemeinen kürzere Dauer.
Infolge seiner kalten Winter, die nur an den Seen wesentlich gemildert sind, besitzt
die Po-Ebene nur wenige Vertreter der mittelländischen Pflanzenwelt, selbst der Ol-
bäum ist ihr fremd; sie kann höchstens als eine Vorhalle des Südens angesehen werden.
Aber auch in dem natürlichen Treibhause an der ligurischen Küste, so groß und un-
vermittelt auch der Gegensatz gegen die Po-Ebene ist, kommen Fröste und Schneefälle
oft in recht empfindlicher Weife vor, so mild im allgemeinen die Winter auch sind. Man
sindet dort in der Mitte des Winters diejenige Wärme, die zu dem Gefühl des Behagens
vollends beim Sitzen im Freien gehört, keineswegs, namentlich ist die Temperatur
bei der reichlichen Besonnung — meist ist im Winter jeder dritte Tag ein ganz heiterer
— sehr veränderlich, die Gegensätze zwischen Sonne und Schatten, zwischen wind-
stillen und windigen Punkten, zwischen Tag und Nacht sehr groß. Es bietet sich da
allenthalben Gelegenheit zur Erhitzung uud Abkühlung in der im allgemeinen ziem-
lich trockenen Luft, uud uachgerade bricht sich die Überzeugung Bahn, daß wenigstens
für Lungenleidende dies Klima nicht vorteilhaft ist. Und ähnlich ist es in ganz Mittel-
Italien, namentlich an der Ostseite. Erst in Kampanien beginnt wirklich der Süden,
und in Sizilien erst findet man eine Wärme des kühlsten Monats, die unserm Mai
entspricht. Auch der Umstand, daß dort gerade der Winter die eigentliche Regenzeit
ist, während der Sommer völlig regenlos bleibt, vermag die Annehmlichkeiten des
sizilischen Winterklimas nicht zu vermindern, denn die Gleichmäßigkeit der Wärme
wird dadurch noch erhöht, und da die Regen fast nur in einzelnen heftigen Güssen
erfolgen, so konnte schon Cicero mit geringer Übertreibung sagen, daß in Sizilien nie
so schlechtes Wetter herrsche, daß man nicht jeden Tag die Sonne sehe. Freilich, der
Nordländer, der durch überheizte Zimmer verwöhnt zu sein Pflegt, muß sich erst
daran gewöhnen, eine Zimmertemperatur von 15° C, zu welcher im Januar wohl
öfter das Thermometer sinkt, behaglich zu finden.
Erst in Süditalien gelangt die Mittelmeerflora mit ihren immergrünen Holz-
gewächfen zur vollen Herrschaft, und ist wenigstens eine Zwergform der tropischen
Familie der Palmen einheimisch, erst dort werden andere Erzeugnisse niederer Breiten
so im großen gezogen, daß sie landschaftlich ins Gewicht fallen, wie die tropischen
Anrantiazeen. Freilich, die Dattelpalme, ein so malerischer Schmuck der Gärten sie
auch ist, selbst schon in Ligurien, vermag auch in Sizilien, wenn auch sortpslauzungs-
sähige, so doch keine eßbaren Früchte zu zeitigen. Dazu ist die Lufttrockenheit im
Sommer nicht groß genug. Tie Verbreitung der auffälligsten Mediterrangewächse,
des Ölbaums, der Jmmergrüneiche, des Erdbeerbaums, des Lorbeers, der Myrten,
Pistazien, Pinien usw., ist aber eine weit geringere als man gewöhnlich annimmt,
nur etwa die Hälfte Italiens hat vorwiegend mediterrane Flora, in der anderen
Hälfte begegnen wir überall unseren mitteleuropäischen Gewächsen, noch in Sizilien
bestehen die Gebirgswälder aus unseren Buchen, Eichen und Kastanien. Nur die von
der uuserigen grundverschiedene Art der Bodenverwertung, der Anbau von Mais und
Reis, die langen Reihen von Maulbeerbäumen oder rebennmrankten Ulmen u. dgl.
macht auch schon in der Lombardei auf den Deutschen einen südländischen, jedenfalls
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 7
98
B. Zur Länderkunde.
fremdartigen Eindruck. Im Süden tritt, wo nicht künstliche Bewässerung möglich
ist, die dort aber fast nur den Fruchthainen gilt, an Stelle des Winterschlafes eine
sommerliche Ruhepause der Gewächse; der berühmte Mische Weizen wird zu Beginn
der winterlichen Regenzeit gesäet, wächst ohne Unterbrechung und wird zu Beginn
der heißen und trockenen Zeit geerntet. Die kostbarsten Früchte reifen dort im Winter,
die Kirsche in einer Zeit, wo sie in Mitteldeutschland kaum zu blühen beginnt.
So vielfach ethnisch gemischt auch die Bevölkerung Italiens ist, und so be-
deutende Abweichungen sie in ihrem physischen Typus, namentlich im Schädelbau,
auch aufweist, so zeichnet sich das Land doch von beinahe allen Ländern Europas
durch eine erstaunliche Einheitlichkeit in kultureller und sprachlicher Hinsicht aus.
Was heute uoch an Franzosen, etwa 120 000, in den Tälern der piemontesischen
Alpen, an Deutschen, an Slawen, Griechen und Albanesen innerhalb der Grenzen des
Königreichs wohnt, unterliegt rascher Aufsaugung. Die italienische Nation genießt
außerdem den großen Vorzug, daß bei einer Kopfzahl von 33 Millionen nur etwa
2 Millionen, also nicht ganz 7%, außerhalb der Grenzen des nationalen Staats woh-
neu, der einerseits nur 0,8% italienische Staatsbürger nicht italienischer Nationalität
umfaßt. Wie glücklich müssen wir Deutschen die Italiener schätzen, die wir in unserem
nationalen Staate 8% Angehörige fremder Völker beherbergen, während volle 25%
unfers Volkstums — die Deutscheu in überseeischen Ländern, die Niederdeutsch auch
als Schriftsprache gebrauchenden Vlamen und Holländer nicht eingerechnet — anßer-
halb der Reichsgrenzen wohnen und in ihrem nationalen Dasein bedroht sind!
Wirtschaftliche Verhältnisse.
Wir deuteten bereits an, daß sich die italienische Nation vorzugsweise, wohl
zur Hälfte, von Boden und Klima angeregt und begünstigt, dem Ackerbau widmet,
der freilich wesentlich andere Züge aufweist als bei uns. Unabsehbare, baumlose
Flächen, mit Getreide, Kartoffeln oder Zuckerrüben bestellt, sucht man in Italien ver-
gebens. Im Innern Siziliens finden wir zwar diese einförmige Art der Bodenver-
Wertung wieder, aber es ist ein uuentwirrbares Chaos geruudeter baumloser Hügel,
welche hier unabsehbar mit Weizenfeldern bestellt sind, so daß das Land nach der Ernte
im Sommer öder Steppe gleicht. Sonst aber ist selbst bei Großgrundbesitz, der leider
im Übermaß vorhanden ist, wie in den östlichen Provinzen Preußens, der Anbau ein
mannigfaltiger, das Land in viele kleine Pachtstücke zerlegt und hat durch die allent-
halben zahlreich eingestreuten oder in Reihen gepflanzten Fruchtbäume mehr einen
gartenartigen Anstrich. Vielfach ist die Hacke wichtiger als der Pflug. In den Küsten-
landschaften mit ihren ungeheuren Hainen von Ä- und anderen Fruchtbäumen, dort,
wo die Hänge in Terrassen ausgelegt sind oder künstliche Bewässerung angewendet
wird, Kanäle und Feldgrenzen durch Baumreihen bezeichnet werden, da erhält die
italienische Landwirtschaft und die Landschaft selbst ein besonders eigenartiges Ge-
präge. Wie ungeheuer muß z. B. die Zahl der Maulbeerbäume sein, obwohl Seiden-
zncht eigentlich mehr als Nebenbeschäftigung und meist nur im kleinen getrieben
wird, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Italien jährlich für 320 Mill. Lire Roh-
feide, wovon 250 Millionen allein aus der Lombardei, zur Ausfuhr gewinnt.
Es mag die künstlich bewässerte Fläche jetzt ca. 20 000 qkm betragen, am meisten
in der Po-Ebene für Reis- und Futterbau. Je weiter nach Süden, um so kostbarer
und ertragreicher ist künstliche Bewässerung. Konnte doch schon Martial in Ravenna
wünschen, lieber eine Zisterne mit Wasser, das er teurer verkaufen könne, als einen
Weingarten zu besitzen. Die ältesten und sorgsamsten, zum Teil unterirdisch geführteu
11. Italien, eine länderkundliche Skizze.
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Wasserleitungen und Wassersänge zu Berieselungszwecken besitzt die Conca d'Oro von
Palermo. Dieselbeu geheu wohl auf die Araber zurück. Dort gibt eiue Zur Be-
wässeruug eiues Apfelsinenhaines verwendete Quelle, die nur 1 Liter Wasser in der
Sekunde zu liefern vermag, doch eine jährliche Rente von 3990 Lire, eine Summe,
von welcher wohl eine einfache bürgerliche Familie zu leben vermag. Welch be-
qnemer Besitz! In Oberitalien gibt bewässertes Land den doppelten, ja vierfachen,
in Sizilien bis 29fachen Ertrag, und rechnete man in den 79er Jahren, wo die Erträge
wohl am höchsten waren, vom Hektar Apfelsinengarten 3699 Lire Rohgewinn. Auch
insofern weicht die italienische Art, den Boden auszunützen, von der nnsrigen ab, als
das Klima dort erlaubt, nicht nur mehrere Ernten im Jahre nacheinander zu erzielen,
bei Rieselwiesen in der Lombardei bis zu acht Schnitten, sondern zwei, ja drei Ge-
wüchse zu gleicher Zeit, wie etwa Ölbäume, Reben und Weizen. Es lohnt der Acker-
bau, in dieser Weise mehr als Gartenbau betrieben, so reichlich, daß selbst Berghünge,
die bei uns nur Wald hervorzubringen vermöchten, bis hoch hinauf in gemauerten
Terrassen ausgelegt siud. Die Küsten- und Hügellandschaften sind fast überall der
Baumzucht gewidmet uud bieten dadurch besondere Reize. Die Fruchtbäume lassen
den Waldmangel weniger schwer empfinden. Die Mannigfaltigkeit der gezogenen
Gewächse kennzeichnet ebenfalls die italienische Landwirtschaft. Namentlich gilt dies
von den Fruchtbäumen. Unter unsere mitteleuropäischen mischeu sich tropisch-iudische,
tropisch-amerikanische, japanische n. dgl. Der Ölbaum allein, der im westlichen Lign-
rien und anderwärts ganze Landschaften wie bewaldet erscheinen läßt, bedeckt eine
Fläche so groß wie das ehemalige Kurhessen; Apfelsinen-, Limonen- und Mandarinen-
bäume zählt man etwa sechzehn Millionen Stück, wovon zwei Drittel allein in Sizilien.
Die Rebe, deren Anbau beständig gestiegen ist, nimmt eine Fläche von 29 999 qkm
in Anspruch und liefert im Mittel etwa 35 Millionen Hektoliter Wein. Italien kommt
so unmittelbar hinter Frankreich und macht jetzt auch in der Behandlung des Weines
Fortschritte. Und welche Fülle von Gartensrüchten, Gemüse u. dgl. bringt das Land
zum Teil im Winter hervor, Schätze, deren Verwertung für Mittel- und Nordeuropa
noch in den Anfängen steht! Überhaupt könnte Italien aus seinen Bodenerzeugnissen,
die heute noch zum Teil wegen schlechter Behandlung minderwertig oder nicht aus-
fuhrfähig sind, weit, weit größeren Nutzeu ziehen; wie die italienische Landwirtschaft,
wenn auch Italien das klassische Land des Ackerbaues genannt werden kann, heute
meist nicht auf der Höhe steht, ja örtlich im Rückgang ist, Ackerbau durch Weidewirt-
schaft verdrängt wird. Am schlimmsten ist es in dieser Hinsicht in der römischen Eam-
pagna, die heute menschenleerer daliegt als jemals, so daß tatsächlich die Hauptstadt
Italiens mitten in einer entvölkerten Steppe liegt. Erst 29—25 km von Rom findet
man am Albaner Gebirge, das aber ebenfalls sich wie eine Insel aus menschenleerem
Gebiet erhebt, die nächsten bewohnten Orte. Dort, wie in anderen ähnlichen Eam-
pagnas Italiens, ist es der Großgrundbesitz, welcher noch immer ohne Verständnis
für seine sozialen Ausgaben und Pflichten das Land entvölkert, indem er sich am
besten zu stehen meint bei Pacht und Weidewirtschaft; zählte man doch 1881 — und
seitdem ist es nicht besser geworden — in der ganzen römischen Campagna an dauern-
den Bewohnern nur 764, also nur 9,264 aus 1 qkm, während die Volksdichte von ganz
Italien 198 beträgt! Güter von 29 qkm Größe sind nur von zwei Personen dauernd
bewohnt! Dafür steigen alljährlich 19 999 Lohnarbeiter, wahre Sklaven der Unter-
nehmer, aus den Abruzzen herab, um anzubauen, was noch angebaut wird, und nach
harter, entbehrungsreicher Arbeit, meist mit malariasiechem Körper und kärglichen
Ersparnissen in die heimischen übervölkerten Berge zurückzukehren. Ähnlich traurig
100
B. Zur Länderkunde.
ist die Lage der den Boden bebauenden Bevölkerungskreise fast überall in Italien,
einer der Krebsschäden des schönen Landes. Während so die Weidewirtschaft und
der Großgrundbesitz an und für sich sehr fruchtbare Laudschasteu entvölkern, sind ge-
wisse Gebirgslandschaften bei geteiltem Besitz übervölkert.
Wenn auch örtlich Viehzucht vorherrscht, so ist Italien doch ein vieharmes Land,
wie das seinem Klima und seiner Pflanzenwelt entspricht. Denn dem Süden fehlen
die saftigen Wiesen, welche das Rind liebt, nur Schafe und Ziegeu finden dort die
ihnen zusagende Nahrung. Nur im Po-Lande wird bedeutende Rinderzucht betrieben
und Butter, namentlich aber die berühmten Käse, Parmesan, Gorgonzola usw., in
Menge gewonnen und von Mailand aus iu den Handel gebracht. Aber selbst die Schaf-
zncht deckt nicht den eigenen Bedarf Italiens an Wolle.
Daß Italien an inneren Schätzen arm sein muß, suchten wir schon früher zu er-
klären. In der Tat ernährt der Bergbau uur einen geringen Prozentsatz der Be-
wohner. Obenan steht die Schwefelgewinnung im Tertiär Siziliens, die, noch immer
eine Art Raubbau, etwa 35 000 Arbeiter beschäftigt und kärglich entlohnt. Ihr Wert
erreicht 40 Millionen Lire jährlich. Die volle Verwertung des altberühmten, in nn-
erschöpflichen Mengen dicht am Meeresufer anstehenden Eisens von Elba leidet unter
dem völligen Mangel an Steinkohlen im Lande selbst. Die Gewinnung von Silber
und Kupfer im toskanischen Erzgebirge, auf welcher die berühmten Metallarbeiten
der alten Etrnsker beruhten, von Blei, Zink uud anderen Erzen, namentlich im füd-
lichen Sardinien, wo jetzt der Bergbau durch fremden Unternehmungsgeist im Auf-
blüheu ist, erreicht noch nicht den Wert des sizilischen Schwefels. Doch ist der Berg-
bau Italiens in aufsteigender Bewegung. Dazu kommt der Reichtum au Steinen,
welcher den Steinban im ganzen Lande so wesentlich gefördert und italienische Stein-
arbeiter zu überall geschätzten uud gesuchten gemacht hat. Die Marmorgewinnung
von Massa, Carrara und Serravezza beschäftigt allein 8000 Arbeiter und gibt einen
jährlichen Ertrag vou 20 Millionen Lire. > I
Dafür, daß Italien Steinkohlen entbehrt, ist seine immer mehr aufblühende
Gewerbtätigkeit schou heute bedeutend. Ihr Hauptsitz ist das Po-Land, wo sie
sich durchaus bodenständig besonders durch Verwertuug der Triebkräfte der Alpen-
gewässer entwickelt hat. Vielfach drängen sich in den Alpentälern die großgewerb-
lichen Anlagen, uud die elektrische Kraftübertragung verheißt hier noch eine große
Zukunft. Seiden- und Wollenspinnerei und -Weberei, also durchaus bodenständige
Erwerbszweige, stehen obenan, erstere allein beschäftigt etwa 200 000 Menschen.
Ihnen reiht sich die Verarbeitung der Baumwolle au, die während des amerikanischen
Bürgerkrieges im Süden im großen gezogen wurde uud iu Sizilien heute wieder Boden
Zugewinnen scheint. Die Gegenwart des italienischen Handels-und Seeverkehrs,
die italienische Handelsflotte von heute, obwohl sie zu den ersten Europas gehört,
bleibt weit hinter der Vergangenheit zurück. Wichtig ist aber die Fischerei. Die auf
Edelkorallen liegt ganz in italienischen Händen und liefert einem eigenartigen Zweige
des vaterländischen Kunstgewerbes den Rohstoff. Doch hat die Entwicklung des
Verkehrs in Italien rafche Fortschritte gemacht durch Schaffung von Verkehrswegen,
an denen es dem Süden fast ganz fehlte. Was die Kulturstaaten Europas im Laufe von
Jahrhunderten geschaffen haben, das mußte, wenigstens im ehemaligen Kirchenstaate
und im Königreich Neapel, wo man geflissentlich bemüht gewesen war, den Verkehr
zu unterbinden, in Jahrzehnten nachgeholt werden. Besaß doch Sizilien 1863 erst
9 km Straßen, und besuchte ich dort noch 1875 eine Stadt von 20 000 Einwohnern,
die noch von keiner fahrbaren Straße erreicht wurde!
11. Italien, eine länderkundliche Skizze.
101
Volksdichte und Siedelungskunde.
Für ein vorwiegend ackerbauendes Land ist Italien mit 108 Köpfen auf das
Quadratkilometer sehr dicht bevölkert, einzelne Gegenden um so dichter als andere,
kaum minder fruchtbare, die völlig menschenleer sind. Das nur ackerbauende Sizilien
hat 127 Köpfe auf 1 qkm, Kompanien 183 und die zugleich gewerbtätige Provinz Mai-
land gar 390. Menschenleere Einöden schafft in Italien Großgrundbesitz im Bunde
mit Malaria. Letztere verlangsamt die natürliche Volksvermehrung und erschwert
den Anbau und selbst den Verkehr ganzer Landschaften. Sind doch von den 69 Pro-
vinzen Italiens nur 6 malariafrei! Auf gewissen Eisenbahnlinien in Sardinien, Sizi-
lien, Kalabrien und Toskana müssen alle Beamten besser genährt, höher besoldet und
für die Nacht nach gesunden Stationen gebracht werden. Aber auch damit wird die
Sterblichkeit unter denselben nur auf 12-|-% herabgedrückt. In dem unglücklichen
Cofenza, das im Durchschnitt einmal im Jahrhundert von Gruud aus durch Erdbeben
zerstört wird, kommen auf 1000 Mann Besatzung jährlich 1500 Erkrankungen! Viele,
viele Millionen kostet die Malaria dem Staat alljährlich. Dennoch ist die natürliche
Volksvermehrung eine günstige und die Zunahme der Bevölkerung trotz der stetig
wachsenden Auswanderung eine beträchtliche.
Die Art zu wohueu weicht in Italien von derjenigen aller Länder Europas, bis
auf einen Teil von Spanien, insofern ab, als kleine Siedelungen, Dörfer in deutschem
Sinne, in größeren Teilen Italiens unbekannt sind. Selbst in rein ackerbauenden
Gegenden bilden Anhäufungen der Menschen nach Tausenden, wo man also in Deutsch-
land von Städten sprechen würde, die Regel. Nur einige Landschaften des Nordens,
Venetien, die Emilia, Toskana, wo nur 50—55% der Einwohner in geschlossenen
Ortschaften beisammen wohnen, machen eine Ausnahme. Aber auch dort gibt es
weniger Dörfer als verstreute Einzelhäuser oder Einzelhöfe. Im größten Teile
Siziliens sind Dörfer in nnferm Sinne unbekannt. Die mehr als 3 Millionen Bewohner
der Insel verteilen sich, von einer sehr geringen Zahl von Bergwerken und Meier-
Höfen abgesehen, auf rund 500 Ortschaften, die demnach im Durchschnitt 6000 Ein-
wohner haben müßten. In der Provinz Girgenti wohnen von ihren 312 000 Be-
loohnem nur 4000 außerhalb großer geschlossener Ortschaften, wohl meist auf den
Schwefelbergwerken, und es zählt diese Provinz 16 Städte von 8—20000 Einwohnern.
Die rein ackerbauende apnlische Provinz Bari hat bei 679 000 Einwohnern 15 Städte
von 15—58000 Bewohnern. Es ist klar, daß dieses gedrängte Wohnen, weit weg
von den zu bebauenden Feldern, große Nachteile hat, auch seheu wir allenthalben, daß
sich in den letzten Jahrzehnten in Süditalien, seit die öffentliche Sicherheit eine
bessere geworden ist und der Verkehr sich belebt, mehr und mehr die Neigung geltend
macht, sich wieder inmitten der Felder, an den Verkehrswegen, namentlich den Eisen-
bahnen, an der Küste, niederzulassen. Es entwickeln sich wieder kleine, verstreute
Siedelungen, und die ungünstig gelegenen größeren Mittelpunkte beginnen zu ver-
öden. Es wäre eben durchaus irrig, dieses gedrängte Wohnen der Menschen in
wenigen, weit voneinander entfernten großen Ortschaften überall und durchaus aus
der Landesnatur herzuleiten. Natürlich feste Lage, gute Häsen, Quellen, Freiheit der
Ortlichkeit vom Fieber und ähnliche Ursachen kommen gewiß in Betracht, in erster
Linie geben aber geschichtliche Vorgänge die Erklärung dieser Erscheinung. In den
endlosen Fehden und Kriegen, welche Italien im Mittelalter und bis in die neueste
Zeit heimgesucht haben, drängten sich die Menschen an den natürlich festen Punkten
zu gemeinsamer Abwehr zusammen, namentlich konnten sich an den Küsten Süd-
102
B. Zur Länderkunde,
Italiens gegenüber den unablässigen Überfällen der kleinafrikanischen Seeräuber —
wir haben selbst noch in Sizilien alte Leute gekannt, welche in die Sklaverei nach
Tunis geschleppt worden waren — nur solche Küstenplätze halten, welche mit einem
Hafen natürliche Festigkeit verbanden; wo solche Punkte fehlen, da wurde die Be-
völkerung, wie namentlich in Kalabrien, von de,: Küsten weg aus die steilen Höhen
in Angesichte des Meeres gedrängt. Andrerseits aber hat sich auch die Feudalzeit in
diesen großen Siedelungen verewigt, indem die zahlreichen kleinen Herren Mittel-
und Oberitaliens ihren Herrschersitzen mit allen Mitteln Glanz zu verleihen suchten,
in Unteritalien in der spanischen Zeit die Feudalherren bemüht waren, durch Schaf-
fuug großer Güter mit namhaften Mittelpunkten ihr Ansehen zu heben, neue Ehren
und Titel zu erlangen. Fast die Hälfte aller fizilischen Städte besteht aus derartigen
geschichtslosen Neugrüudungen aus der Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die andere
Hälfte dagegen geht auf Phöniker, Karthager, Griechen, wohl auch noch weiter zurück
und umfaßt, durch ausgezeichnete Lagenverhältnisse bedingt, hervorragend geschicht-
liche Stätten.
Sehr bezeichnend ist es, daß in Insel- uud Halbiusel-Jtalieu alle größereu, ge-
schichtlich wichtigen Städte am Meere liegen, meist mit einem Hafen natürliche
Festigkeit der Lage verbindend: Messina, Catania, Agosta, Syrakus, Trapaui, Palermo,
Milazzo, Tarent, Brindisi, Ancona, Neapel, Pozznoli, Gaeta, Cagliari usw. Nur
Rom uud Floreuz machen eine Ausnahme, obwohl auch sie beide dem Meere ucihe
liegen und sehr wichtige Seeverbiuduugeu, Florenz namentlich im späteren Mittelalter,
wo es sich zur Erbiu des vom Meere abgedrängten Pisa machte, unterhielten. Beide
liegen auch bereits, wie die Städte Oberitaliens, an Flüssen, während in Süditalien
die Flüsse von größeren Siedelungen durchaus gemieden werden. Bei beiden fallen
besonders die geographisch bedingten Beziehungen zum Apenninenlande, zur adria-
tischen Küste und zum Norden ins Gewicht. In Oberitalien liegen nur zwei Groß-
städte am Meere, Venedig und Genua, beide mit natürlichen Häsen Festigkeit der
Lage verbindend; ersteres spiegelt mehr die große Vergangenheit wider, während
letzteres die Gegenwart Italiens zur See veranschaulicht. Venedig lag bis zur Bah-
uuug guter Alpenstraßen und bis zur Durchbohrung des St. Gotthard für die Be-
ziehuitgeit zu Deutschland und zum Orient günstiger, wie dies noch heute nahe bei-
einander am Canale grande das deutsche und das türkische Kaufhaus veranschaulichen.
Selbst wenn es gelingt, die Naturkräfte, welche Venedig bedrohen, dauernd abzn-
halten, wird diese Stadt doch kaum wieder mit Genua zu wetteifern vermögen, denn
die Beziehungen zum Osten, auch zu dem fernsten, für welchen Genua kaum minder
günstig liegt, werden in absehbarer Zeit nicht die Bedeutung erlangen, wie diejenige
zur Neuen Welt, der sich Genna zuwendet, dem in der Lombardei und Piemont,
weiterhin in Südwestdeutschland ein reiches Hinterland erwachsen ist, während es
zugleich der natürliche Mittelpunkt der dicht besiedelten, rührigen ligurischeu Küste
von Spezia bis Ventimiglia ist. Venedig dagegen thront einsam mitten in einem
Sumpf- und Haffgebiet am Außenrande eines 15 bis 20 km breiten unwirtlichen
Gürtels, der das besiedelte Innere vom Meere scheidet. Neben diesen beiden einzigen
Seestädten besitzt aber Festlands-Jtalien noch ein Mailand, Turin und Bologna,
neben vielen anderen bedeutenden Brennpunkten geschichtlichen Lebens: Verona,
Bergamo, Brescia, Como, Alessaudria, Piacenza, Cremona, Mantna, Ferrara, Mo-
dena, Parma usw. Bologna ist der Schlüssel Halbinsel-Jtaliens von Norden her und
der Knotenpunkt aller dorthin, sei es längs dem Meere, sei es über den Apennin,
gehenden ^Straßen; Turin, der natürliche Mittelpunkt Piemonts, vereinigt in sich
11. Italien, eine länderkundliche Skizze.
103
-alle Straßen über die Westalpen; Mailand dagegen ist die Hauptstadt des ganzen
Festlands-Jtalien, der Sitz und Knotenpunkt aller Beziehungen desselben nach West
und Ost, uach Süd und Nord, namentlich aber nach Norden, wie sich dies in der sehr
bedeutenden deutscheu Kolonie Mailands schon ausprägt. Der Handel und die Ge-
Werbtätigkeit, welche die reiche Umgebung schon nährt, haben Mailand zugleich zum
großen Geldplatz Italiens, in mancher Hinsicht, wie schon in spätrömischer Zeit zu
dessen Hauptstadt gemacht. Mailand hat seiner Lage nach viel Ähnlichkeit mit Berlin;
wie dieses liegt es im Flachland als Knotenpunkt zahlreicher, meist künstlicher Wasser-
straßen und noch zahlreicherer Landstraßen, die Beziehungen nach Ost und West, aber
auch nach Nord und Süd vermitteln, mitten zwischen zwei größeren meridionalen
Flüssen und zwischen zwei natürlichen Grenzlinien, Apennin uud Alpen, die den:
Mittelgebirgsrande und der Ostseeküste entsprechen. Doch sind alle Verhältnisse
bei Mailand räumlich beschränktere. Der gewaltige Aufschwung von Mailand prägt
sich am besten darin aus, daß sich seine Bevölkerung in den letzten 30 Jahren, also eben-
falls ähnlich Berlin, verdoppelt hat und jetzt 400 000 beträgt. Und Mailand verdankt
diesen Aufschwung nur sich selbst, während Rom, das seit 20 Jahren seinen Charakter
sehr wesentlich geändert und seiner Bevölkerung nach sich bereits Mailand nähert,
dies nur seiner Eigenschaft als Hauptstadt verdankt.
Schon in dem raschen Wiederaufblühen dieser und fast aller Städte Italiens, in der
Vermehrung der Bevölkerung erkennen wir, daß dies Land, wenn wir es noch einen
Augenblick als Staat betrachten, in fortschreitender EntWickelung begriffen ist. Der
Staat Italien ist heute trotz aller Schwierigkeiten, die sich zeitweilig namentlich in der
üblen Finanzlage auftürmen, als völlig in sich gefestigt, als selbst einen starken Stoß
von außen zu ertragen befähigt anzusehen. Die Schwierigkeiten, mit welchen man
heute ringt, gehen alle auf die Art und Weise zurück, wie der Einheitsstaat geschaffen
worden ist. An den so kleinen Kern des sardinischen Königreichs hat sich das ganze
übrige Italien ankristallisiert, durch den Willen des Volks, nicht durch Eroberuug.
Damit mußte eiue Menge veralteter Einrichtungen, ein ungeheures Heer schlecht-
bezahlter und vielfach unfähiger Beamter übernommen, Empfindlichkeiten jeder Art
geschont werden. In der Hälfte des Landes mußten alle Kulturaufgaben, die dort
geflissentlich vernachlässigt worden waren, Straßen, Eisenbahnen, Häfen usw., so rasch
wie möglich, selbst unter den ungünstigsten Bedingungen und dem schwersten Lehr-
geld geschaffen werden. Schulen waren im Süden so gut wie gar uicht vorhanden.
Das fluchwürdige bourbonifche System hatte eine ungeheure Korruption, geheime
Gesellschaften, Räuberwesen und dergleichen großgezogen. So stieg die Schuldeulast
von Staat und Gemeinden ins Ungeheure! Weun dennoch heute eiu großer Teil
jener Aufgaben gelöst ist — in der kurzen Spanne Zeit vou kaum 30 Jahren —, der
Staatskredit befestigt, die Fehlbeträge gemindert, fo ist das eine Leistung, auf welche
Italiens Herrscher und Volk stolz sein können. Das italienische Volk arbeitet heute
rastlos auf allen Gebieten des materiellen und des geistigen Lebens, die schmarotzenden
Müßiggänger der höchsten wie der niedrigsten Schichten früherer Zeiten sterben aus,
ein neues Geschlecht wächst heran und ist zum Teil schon herangewachsen. Man
wandle nur eine Stunde offenen Auges durch die Straßen von Mailand, Genua oder
selbst Palermo, und man wird sich, natürlich der Landesnatur entsprechend Rechnung
tragend, von der Richtigkeit dieser Beobachtung überzeugen. Überall herrscht Leben
und Vorwärtsschreitet!. Die italienische Nation steht heute mitten in einer Wandlung
ihres ganzen nationalen Daseins. Die Zeit der übergroßen Abhängigkeit von Frank-
reich, mehr noch in: gesamten Geistesleben als im wirtschaftlichen, der blinden Be-
104
B. Zur Länderkunde.
wunderung der romanischen Vormacht ist vorüber, das italienische Volk hat angefangen,
sich aus sich selbst zu besinnen, sein Kulturleben auch mit den Erzeugnissen deutscheu
Geistes zu befruchten, dem germauischeu Volkstum Aufmerksamkeit zu schenken,
zunächst in den Wissenschaften, voran den Natur- und exakten Wissenschaften, weiter-
hin aber auch bereits im wirtschaftlichen Leben. Man ist erstaunt, heute so viele
Italiener kennen zu lernen, die unsere Sprache, so schwierig sie ihnen ist, verstehen und
selbst sprechen, die damit ihre Hochachtung für uns uud unser Vaterland greifbar dar-
legen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein großer Teil der italienischen Nation uns
heute aufrichtige Teilnahme entgegenbringt, es wird nur zum Wohle des deutschen
Volks und des deutschen Vaterlandes sein, wenn wir unsererseits uns noch mehr cils
bisher bemühen, durch Reisen im Lande selbst die uns sremde Landesnatur verstehen,
dem uns fremden Volfstume gerecht zu werden und damit die geistigen und Wirtschaft-
lichen Bande zwischen beiden Völkern, welche auch nicht der leiseste Interessenten-
satz scheidet, deren Geschicke vielmehr eng miteinander verbunden sind, um so fester
zu knüpfen.
Über den Kamm des Kara-korum. —
Die Entdeckung der Jndusquelle,
105
12. Über den Kamm des Kara-korum. — Die Entdeckung
der Indusquelle.
Von Sven Hedin. („Transhimalaja", 2. Aufl., Leipzig 1910,
F. A. Brockhaus.)
Am 1. September hatten wir einen schweren Tag. Die Erde lag weiß da, und
der Hinimel sah drohend aus, aber ein schmaler blauer Streifen im Süden ließ uns
auf schönes Wetter hoffen. Wir brachen früh auf, und als ich in den Sattel stieg,
sah ich die ganze enge Talrinne vor mir schon von den verschiedenen Abteilungen der
Karawane angefüllt. Als ich mein Zelt seinem Schicksal, nämlich Tsering^) und den
Indern überließ, rauchten unsere verlassenen Lagerfeuer noch, und das neue Steinmal
hob sich schwarz gegen den Schnee ab. Mit einiger Spannung verließen wir das
Lager Nr. 1, denn jetzt näherten wir uns im Ernst wilden Gegenden und sollten
einen erstklassigen Paß überschreiten, den keiner meiner Leute kannte uud von dem
sie nur wußten, daß er Tschang-lung-jogma hieß; er liegt ein wenig östlich von
dem Paß, den man auf der großen englischen Karte von Nordostladak angegeben
findet; meines Wissens hat ihn noch nie ein Reisender benutzt.
Die Uferterrassen hören nach und nach im Tale auf, und da, wo sie sich noch ge-
legentlich zeigen, sind sie nur eiu paar Meter hoch und durch beständige Erdrutsche
entstellt. Unser Weg geht nach Nordosten. Vor uns zeichnet sich ein kreideweißer
Sattel ab, den jetzt die Sonne überflutet; wir halteu ihn für den Paß — aber nein,
die Maulesel sind, wie man aus ihren Spuren im Schnee sieht, nach einer anderen
Richtung hin abgebogen.
Die Gehänge bestehen auf beideu Seiten aus lauter losem, außerordentlich
feinem Material, das feucht und von fußtiefen Spalten durchzogen ist. Am Rand
einiger Ausläufer verlaufen diese Spalten ebenso wie die Randspalten einer Glet-
scherzuuge. Es ist fließender Boden: die Gehänge geraten ins Gleiten und ver-
schieben sich durch ihre eigene Schwere, weil sie durch und durch uaß sind und keine
Wurzeln das feine Material festhalten; sie sind in Bewegung begriffen, und die flach
abgerundeten Oberflächenformen, die nun in der Landschaft vorherrschen, sind das
Resultat dieses Phäuomens.
Das Schweigen der Einöde herrscht in diesen Gegenden, wohin sich nie eines
Menschen Fuß verirrt; nur dann und wann hört man die Warn- und Mahnrufe der
Karawanenleute. Noch ist keines der Tiere zurückgeblieben, alles geht normal;
möchten sie doch alle diese schwere Tagereise glücklich überstehen! Das Tal wird ganz
schmal; aus seinem Kiesboden sickert Wasser, das kaum einen Bach zu bilden ver-
mag. Aber auch in diesen Kies, auf dem uicht einmal Moos wächst, sinken die Tiere
wie in Schlamm ein.
Am Fuß des muldenförmigen Aufganges zu einem Nebenpasse, der uns wieder
irreführte und betrog, hatte die Karawane haltgemacht, und man suchte uun einen
gangbaren Weg.
Ich ritt in unzähligen Zickzackwindungen voraus und hielt an jeder Winkelecke
einen Augenblick an, um Atem zu schöpfen. Muhamed Jsa^) meldete, der wirkliche
Paß sei gefunden, doch ritt ich, um zu rekognoszieren, mit Robert 3) aus eine Anhöhe
hinauf, die höher lag als die ganze Umgegend.
i) Der Koch Hedins. [H.] — 2) Hedins Karawanenführer. [H.]
3) Hedins Gehilfe, ein Eurasier (Sohn eines Europäers und einer Jndierin). [H.]
106
B. Zur Länderkunde.
Die Aussicht von hier aus war viel zu überwältigend, um orientierend genannt
zu werden. Über uud hinter den näherliegenden, teilweise rabenschwarzen Bergen
sah man einen weißen Horizont, eine sägezähnige Linie mächtiger Himalajagipfel.
Eine geradezu erhabene Landschaft! Der Himmel war fast klar; nur hier und dort
schwebten weiße Wölkchen. In der Tiefe unter uns lag das kleine Tal, durch das
wir uns eben mit so vieler Mühe emporgearbeitet hatten; von hier aus sah es jämmer-
lich kleiu aus, eiue unbedeutende Abflußrinne innerhalb einer Welt gigantischer
Berge. Einige Abteilungen der Karawane mühten sich noch in dem engen Gang
mit dem Hinaufklimmen ab, und aus der Tiefe drangen die Rufe uud Pfiffe der
Männer zu uns heraus. Der Horizont war klar, nicht in Duust gehüllt wie sonst so
oft; seine Konturen waren außerordentlich scharf gezogeu; silberweiße, sonnende-
glänzte Gipfel türmten sich übereinander uud hintereinander empor; gewöhnlich
schimmern die ewigen Schneefelder in blauen Schattierungen von wechselnder In-
tensität, bald matt, bald dunkel, je nach dem Winkel der Gehänge in: Verhältnis zur
Sonnenhöhe; bald gehen Schatten und Lichter weich und allmählich ineinander über,
bald sind sie scharf abgegrenzt; es ist ein verwickeltes Spiel physischer Gesetze, die in
unbedingtem Gehorsam zu Steiu erstarrt siud. Auf einem Absatz unter uns stand
ein Teil der Karawane und verschnaufte sich; die Tiere saheu wie schwarze Punkte
auf dem Schnee aus. Hier oben auf unserer Anhöhe aber hüllte uns der Südwest-
wind in schnell weiterziehende kleine Wolken wirbelnder Schneeflocken.
Dieses ganze aufgeregte Meer der höchsten Gebirgswogen der Erde sieht
seltsam gleichmäßig und eben aus, wenn der Blick ungehindert über feine Kämme
hinschweift. Man ahnt, daß sich kein Berggipfel über eine gewisse Maximalhöhe
erhebt; denn ehe er sein Haupt über die Menge emporzurecken vermag, haben Wetter
und Winde, die Denudatiou, ihn von oben abgefeilt. Darin gleichen die Berge den
Meereswellen; auch wenn diese sich in schäumender Wut erheben, nimmt sich ihr Ge-
tümmel, vom Schiffsdeck gesehen, gleich hoch aus, und der Horizont ist eine gerade
Linie; es ist ebenso wie bei den kleinen Erdwellen zwischen den Furchen, die der
Pflug im Acker aufreißt: sie haben alle dieselbe Höhe und, aus der Ferne betrachtet,
erscheint das Feld völlig eben.
Ter Horizont schien unendlich weit entfernt; nur im Norden und Nordosten unter-
brachen ihn naheliegende Höhen, die das Dahinterliegende verdeckten, und in dieser
Richtuug schwebten auch dichtere Wolkeu, die, oben weiß uud auf der Unterseite
bläulich duukel, weichen Kissen vergleichbar über der Erde lagen. Man erhielt daher
von dem Plateaulande kein rechtes Bild, ahnte aber fern im Norden eine Bergkette
von himmelstürmender Höhe. Im Nordwesten sah man sehr deutlich einen Haupt-
kämm; er geht von unserem Aussichtspunkt, d.h. von der Anhöhe, wo wir standen,
aus. Es ist das Kara-korum-Gebirge. Der ganze Kamm tritt hier als ein flach
abgerundeter Landrücken auf, ohne anstehendes Gestein, aber von unzähligen kleinen
Tälern durchfurcht, die samt und sonders oben auf dem Kamm beginnen und sich dann
allmählich immer tiefer in seine Seiten einschneiden. Der Hauptkamm windet sich
wie eine Schlange über das Hochland hin, und die Erosionstäler gehen nach allen
Richtungen wie die Äste eines Baumes. Hier herrschen die horizontalen Linien in
der Landschaft vor, aber weiter unten, in den peripherischen Gebieten, fällt der Blick
auf vertikale Linien, wie in den Quertälern von Tschang-tschenmo. Dort unten sind
die Landschaftsbilder imposanter und pittoresker, hier oben aber ist das Antlitz der
Erde eher flach; hier haben die Stürme ihre Wohnungen und ihre unbegrenzten
Tummelplätze in langen dunkeln Wmternächten.
Über den Kamm des Kara-korum. —
Die Entdeckung der Jndusquelle.
107
Bis ins Mark durchkältet gingen luir zu Fuß nach der Paßschwelle hinunter, wo
sich die ganze Karawane angesammelt hatte; die Höhe betrug 5780 Meter, und es
war 1 Grad Wärme. Die Leute saugen nicht, sie waren zu müde, aber wir hatten
doch allen Gruud, froh zu sein, denn alle Tiere waren mit ihren Lasten glücklich herauf-
gekommen. Nach Norden hin zieht sich ein kleines Tal, dem wir langsam bergab
folgten. Sein Boden besteht aus lauter (Schlamm, in den die Tiere bei jedem Schritt
einsanken, und in den Gruben, die ihre Hufe hinterließen, sammelte sich sofort trüb-
graues Wasser an. Um uns herum dehnte sich ein Gewirr von relativ niedrigen,
flachen Hügeln aus, die stets von jenen Spalten, die fließenden Boden ankündigen,
durchfurcht waren. In der Mitte des Tales schlängelte sich lautlos ein Wässerlein
ohne Stromschnellen hin; im übrigen war die ganze Gegend überschwemmt, und
Wassermangel hatten wir also zunächst nicht zu befürchten.
Da, wo wir lagerten, war kein Grashalm zu sehen; es hatte daher gar keinen
Zweck, die Tiere frei umherlaufen zu lassen, sie wurden paarweise zusammengebunden
und mußten so stehend warten, bis die Sonne unterging. Tann setzte Gnffarn^) sich
auf eine Filzmatte, ließ einen Sack Mais vor sich hinstellen, füllte eine Holzschale
mit diesem Futter und leerte sie in einen dargereichten Beutel aus, den ein Ladaki
dann einem Pferd vor das Maul hängte. Und so liefen die Männer hin und her,
bis alle Tiere ihren Anteil erhalten hatten und die trocknen, harten Maiskörner an-
genehm zwischen den Zähnen der hungrigen Tiere krachten. Die Ladakipserde wei-
gerten sich energisch, Mais zu fressen, und erhielten statt dessen Gerste; sie wieherten
so freundlich, wenn die Beutel gebracht wurden, aber lange hielt die Freude nicht vor;
das Knabbern hörte nach uud nach auf, uud mit hängendem Kopf erwarteten sie blin-
zelnd uud müde die neue lange Nacht.
Einige überflüssige Pferde waren mit trocknen Japkakpflanzen beladen; beim Lager
Nr. 2 gab es keine Spur von Feuerungsmaterial. Wir waren jetzt 5552 Meter hoch.
Am Morgen nahm ich von Tfchenmo, dem Kotidar von Tanlfe, und von Sambnl,
dem Nnmberdar Pobrang, die hier umkehrten, Abschied. Sie konnten sich bald wieder
an warmen Winden und dem Sonnenschein heller Tage erfreuen. Außer reich-
licher Bezahlung für ihre guten Dienste erhielten sie jeder ein Zeugnis in rühmenden
Ausdrücken. Sie nahmen meine Post mit und sollten den Boten aus Leh, falls sie
ihnen begegueteu, über den Weg Bescheid sagen. Unsere Gesellschaft verkleinerte
sich dadurch um sechs Mann, drei Pferde und sieben Mks. In meiner Abteilung
waren wir nun bloß noch zu drei Manu, uämlich ich selbst, Robert zu Pferd und Rehim
Ali 2) zu Fuß.
Wir machten nun mit dem Bach einen Bogen nach Norden nnd hatten dabei
auf beiden Seiten hügelige Berge. Das Land war wie tot, man sah keinen Grashalm,
nicht einmal die Spur einer verirrten Antilope; alles organische Leben schien von
hier verbannt zu sein. Aber als wir ein wenig weitergekommen waren, tauchten
Spuren von Menschenbesuchen aus. Man sah im Boden einen schwachen, hellen
Streifen, der wie ein lange nicht begangener Pfad aussah, und neben ihm ein zylinder-
förmiges Steinmal mit einer Steinplatte obenauf. Und an einer Stelle lagen mehrere
Pferde- und Mkfchädel. Doch sollen sich Jäger, wie man mir sagte, nie hierher ver-
irren; vielleicht war es ein Erinnerungszeichen an die Kartenansnahmearbeiten der
Survey of India oder stammte von einem der europäischen Pioniere her, die vor vielen
Jahren zwischen Osttnrkestan und Indien hin und her gereist sind.
1) Mohammedaner, 62 Jahr alt, Begleiter Hedms. ■ [H ]
2) Mohammedaner, Hedms Handlanger, [H.]
108
B. Zur Länderkunde.
Das Wetter war echt tibetisch. Eine Hagelbö nach der anderen durchkältete uns
und jagte uns ihre kühlen Schauer ins Gesicht, aber die Sonne schien doch immer
irgendwo innerhalb unseres Gesichtskreises. Von den Wolken, die ganz unbedeutend
aussahen, hingen lange Hagelfransen herab, aber diese vermochten den Boden nicht
weiß zu färben; er blieb so trocken wie Zunder, im Gegensatz zu den feuchten Ge-
hängen auf beiden Seiten des Kara-kornm-Kammes. Es staubte sogar ab uud zu
hinter den Pferden. Weit vor mir sah ich zwei schwarze Punkte auf dem gelblich-
grauen Gelände — es waren ein Pferd und sein Führer, die hinter den anderen
zurückgeblieben waren.
Man sah deu großen Zug der Karawane sich ungeheuer langsam einen Abhang
entlang bewegen. Sie machten halt, sie hatten also Weide gefunden! Ach, nein —
der Boden war hier ebenso unfruchtbar wie überall während der 19 Kilometer, die
wir an diesem Tage zurückgelegt hatten. So wie gestern mußten die Tiere zusammen-
gebunden stehenbleiben, und die Riemen ihrer Gersten- und Maisbeutel wurden ihnen
wieder um den Hals gehängt.
In der Dämmerung berief ich Muhamed Jsa zum Kriegsrat.
„Wie lauge können die Tiere noch aushalten, wenn wir keine Weide finden?"
„Zwei Monate, Herr, aber wir finden schon eher Gras."
„Wenn wir keine längeren Tagemärsche machen wie heute, brauchen wir bis an
den Lake Lighten, den Wellby Sahib vor zehn Jahren entdeckt hat, zehn Tage, uud
der Weg führt durch Ling-fchi-tang und Aksai-tschin, die zu den ödesten Gegenden
ganz Tibets gehören."
„Tann wollen wir versuchen, doppelte Tagemärsche zu machen, um möglichst
schnell durch das böse Land zu kommen; in der Gegend des Jeschil-köl ist die Weide
gut, wie Sonam Tsering, der dort gewesen ist, sagt."
„Wie steht es mit den Tieren?"
„Die halten sich gut, nur eiu Pferd und ein Maulesel sind milde, aber die lassen
wir einstweilen ohne Last gehen. Für die übrigen ist die Last ein wenig schwerer
geworden, seit wir die sieben Daks nicht mehr haben. Aber das gleicht sich bald aus."
„Wie machen sich die gemieteten Pferde?"
„Die machen sich auch gut, bis auf zwei, mit denen es zu Eude geht und die wir
wohl bald verlieren werden."
„Achte ja darauf, daß die Tiere möglichst geschont und gut gepflegt werden."
„Sie können sich aus mich verlassen, es wird nichts versäumt. In solchen Lagern
wie diesem hier bekommen sie mehr Mais und Gerste als gewöhnlich, aber da, wo
es Weide gibt, gehen wir mit uuseren Vorräten sparsam um."
Am 3. September lag das flache Plateau in Schneerauch und Nebel verborgen,
und es war schwer zu entscheiden, nach welcher Seite man ziehen mußte; wir ver-
abredeten jedoch, daß keiner den Fluß aus deu Augen verlieren dürfe, denn anderes
Wasser schien nicht zu finden zu seiu. Wir waren noch nicht weit gelangt, als der
Schneefall begann, ein scharfer Südwestwind sich erhob uud die wirbelnden Flocken
uus sogar die allernächsten Hügel verbargen. Es schneite jetzt so dicht, daß wir sürch-
teten, die Spur der Karawane, die schon weit voraus war, zu verlieren. Der englischen
Karte uach konnten wir von einem kleinen Salzsee nicht mehr weit entfernt sein, aber
in diesem Wetter war man nicht imstande, sich von dem Aussehen des Landes einen
Begriff zu machen, und es hatte keinen Zweck, des Umschauens wegen einen der Hügel
zu besteigen. Wir saßen eingeschneit im Sattel, aber der Schnee taute auf unseren
Kleidern, und man wurde von einem unangenehmen Feuchtigkeitsgeruch verfolgt.
Über den Kamm des Kara-korum. —
Die Entdeckung der Jndusquelle.
109
Doch lange dauerte dieses Wetter nicht; die schweren, dunkelblauen und vio-
letten Wolkenmassen zogen sich wie Vorhänge auseinander und setzten ihre schnelle
Flucht nach Osten hin fort; die Aussicht wurde wieder frei. Einige Kundschafter,
die vorausgegangen waren, entdeckten am linken Ufer des Flusses üppige Japkak-
pflanzen, mit denen unsere hungrigen Tiere gern vorlieb nahmen. Drei Antilopen-
Pfade, die wir gekreuzt hatteu, wurden für ein gutes Zeichen gehalten; es mußte
also irgendwo in der Gegend Weide geben, aber wo?
Der nächste Tagemarsch führte uns über eine dem Auge ganz gleichmäßig er-
scheinende Ebene, die ein Kranz von Bergen nmgab; unsere Richtung war im all-
gemeinen nordöstlich. Wir brachen gleichzeitig auf; ich ritt an der ganzen Karawane
entlang, die sich imposant ausnahm. Die Tiere gehen nicht in der Reihe, sondern in
zerstreuten Gruppen, und ihre gesamten Fährten gleichen einer ungeheuren Laud-
straße. Die Maulesel halten sich tapfer und sind immer voran. Mehrere Pferde sind
angegriffen und legen sich von Zeit zu Zeit nieder, aber nur, um sofort von einem der
Ladakis wieder auf die Beiue gebracht zu werden. Vorn an der Spitze geht Mnhamed
Jfa zu Fuß; er ist der sichere Magnet, der die ganze Gesellschaft nachzieht.
Nun versuchten wir, das breite, sumpfige Bett des Flusses zu überschreiten.
Mnhamed Jsa bestieg sein Pferd, aber das Tier sank bald bis an den Bauch ein; wir
mußten das Unternehmen aufgeben und statt dessen längs des Ufers weiterziehen.
Bisweilen mußten wir über Nebenflüsse mit ebenso tückischem Boden hinüber. Wenn
der Lotse den Weg gezeigt hatte, folgten einige bepackte Maulesel; dann kamen die
anderen Tiere alle miteinander. Sie sanken bis ans Knie in die klatschende Schlamm-
snppe ein, und hinter ihnen sah der Boden wie ein schwedischer Brotsladen aus.
Um 10 Uhr stellte sich der tägliche Sturm wieder ein. Im Nordwesten sah man
seine äußerste Greuze mit ungeheurer Schürfe gezogen. Es war, als ob etwas großes,
schweres Schwarzes über das Plateau hinrolle. Jetzt ist der Sturm über uns mit
seinen ersten schwarzen Fransen, zwischen denen das blaue Himmelsseld verschwindet.
Zwei Raben, die uns während der letzten Tage treu begleitet haben, krächzen heiser;
einige kleine Vögel streichen zwitschernd über den Boden hin. Ter Schneehagel
peitscht uus mit ungeheuerer Wut; er kommt von der Seite, die Tiere wollen ihm
ausweichen und drehen dem Sturme den Schwanz zu, geraten dabei aber ans dem
Kurs und werden wieder auf die richtige Straße getrieben. Wir wissen nicht, wohin
wir gehen. Auf einem Hügel halte ich einen Augenblick mit Muhamed Jsa.
„Falls wir den Fluß aus dem Gesicht verlieren sollten, wäre es wohl besser,
wenn wir einige Ziegenlederschlänche mit Wasser füllten", schlägt er mir vor.
„Nein, laß uns weitergehen; es wird sich schon aufklären, und nachher finden wir
schon Rat."
Und der Zug schreitet weiter, trotz des Schneetreibens und des winterlichen
Dunkels. Es wird hell, uud wieder schweift der Blick ungehindert über das öde,
hügelige, verschneite Land hin; im Westen dehnen sich die Ebenen von Ling-schi-
tang aus, nach Südosten erstreckt sich die gewaltige Kette des Kara-korum mit
ihren ewigen Schneegipfeln, wo der Donner rollt zwischen bleischweren, blauschwarzen
Wolken. Bald erreicht uns auch dieses Unwetter, und uun werden wir in mehlfeine,
trockne, dichte Schneeflocken eingehüllt, während es um uns her dunkle Nacht wird.
Ich reite als der Letzte im Zuge. Die Karawane ist in vier Kolonnen geteilt. Die
nächste, in deren Kielwasser ich ziehe, sieht im Nebel beinahe schwarz aus; ihre Vor-
gängerin erscheint wie ein schmutzig-grauer Knäuel, die dritte Kolonne ist nur schwach
zu erkennen, und die vorderste sieht man fast gar nicht mehr. Mnhamed Jsa ist
110
B. Zur Länderkunde,
verschwunden. Ter Schnee geht bald in große federleichte Flocken über, die wie feine,
weiße Striche horizontal am Boden hinjagen. In unserer Gesellschaft ist es still;
keiner spricht; die Männer marschieren vornübergebeugt mit gekreuzten Armen und
über die Ohren gezogenen Pelzmützen. Die ganze Gesellschaft sieht jetzt wie Schnee-
männer aus, und der Schnee macht den Tieren die Lasten noch schwerer, als sie eigent-
lich sein sollten.
Schließlich schimmerte wieder unser alter Fluß aus der Dämmerung hervor,
und wir schlugen an seinem User Lager. Tsering entdeckte reichliche Japkakmengen
in der Nachbarschaft, die teils grün waren, so daß wir die Tiere dorthin führen konnten,
teils verdorrt uns als Brennholz sehr willkommen waren. Abends hatten wir drei
Grad Kälte. Das Mondlicht verteilte sich in Strahlenbündeln in einer Atmosphäre
von umherfliegenden feinen Schneekristallen. Grabesstille! Man hört das eigene
Ohrenklingen, man hört den Herzschlag der kleinen Hunde und das Ticken der Chro-
nometer, man hört die niedersinkende Nachtkälte sich in der Erde festbeißen.
Am 5. September marschierten wir über ein Gelände, das gut und eben war,
besonders in der Nähe des kleinen Sees, dessen blauer Spiegel sich jetzt im Südosten
zeigte. Wie alle anderen Salzseen Tibets scheint er sich in einem Stadium der Aus-
trocknnng zu befinden; denn wir legten eine längere Strecke auf seinem trocknen
Schlammboden zurück uud sahen dabei höher oben deutlich ausgeprägte frühere
Uferterrassen. Muhamed Jfa meldete, eiu erschöpfter Maulesel werde wahrschein-
lich uicht mehr imstande sein, ben heutigen kleinen Paß zu überschreiten, der innerhalb
einer kleineren Kette unseren Weg versperrte. Das Tier kam aber doch noch über
den Paß hinüber und langte auch abends im Lager an, sah aber mager und ausge-
mergelt aus. Zwei Pautholops-Antilopen, die man leicht an ihren hohen, leier-
förmigen Gehörnen erkennt, entflohen nach Süden hin, und wir stießen auch auf
eine Wolfsfährte. An einigen Stellen war die Weide so gut, daß wir ein paar Mi-
nuten anhielten und die Tiere fressen ließen. Manchmal war man in Versuchung,
schon das Lager aufzuschlagen, aber wir zogen dennoch weiter. Schließlich lagerten
wir in einer Talerweiterung mit eiuem stillstehenden Wasserarm, Japkak und spür-
Itchein Graswuchs. Diese drei Diuge, die uns notwendig waren, Weide, Brenn-
stoff und Wasser, hatten wir so bald uud so uahe am Kara-korum kaum zu siudeu ge-
hosft. In diesem Lager Nr. 6 beschlossen wir, den Tieren nach all den Anstrengungen
der letzten Zeit einen Ruhetag zu gewähren.
Am 7. September wurden bei Tagesanbruch sechs erbärmliche Gäule von den
gemieteten ausgesondert, und da ihre Lasten bereits verzehrt waren, dursten sie
nebst zwei Führern umkehreu. Der kranke Maulesel lag tot in der Lagerstadt. Der
Himmel war völlig wolkenlos, und der Tag wurde glutheiß. Doch auch in anderer
Hinsicht traten wir in neue Verhältnisse ein; denn obgleich wir 30 Kilometer zurück-
legten, sahen wir keinen Tropfen Wasser, bevor wir an den Punkt gelangten, wo wir
das Lager aufschlugen. Es hatte den Anschein, als könnten die Monsunwolken uicht
mehr über den Kara-korum kommen, und dauu konnte unsere Lage vielleicht durch
Wassermangel recht kritisch werden!
Die Marschrichtung des Tages ergab sich von selbst, da sich offenes Gelände
zwischen niedrigen, runden, rötlichen Hügeln nach Norden hinzog. Der Boden
wäre ebenfalls vorzüglich gewesen, hätten ihn nicht die Feldmäuse unterwühlt ge-
habt, so daß die Pferde unaufhörlich in die Löcher hineintraten nnd dabei fast auf
die Nase fieleu. Die Mäuse selbst ließen sich zwar nicht sehen, aber für ihren tiefen
Winterschlaf war es noch zu früh im Jahr. Das breite Tal mündet in einen kolossalen
Über den Kamm des Kara-korum. —
Die Entdeckung der Jndusquelle.
III
Kessel, den auf allen Seiten prächtige Berge umgeben, ein echter „Meidan", wie die
Turkestaner ein solches Tal nennen. Im Norden erheben die Berge zwischen Kara-
kasch nnd Jurnn-kasch ihre hohen Zacken, und im Süden zieht sich der Kara-korum
immer weiter von unserer Bahn hin.
Über die Ebene eilen Antilopen in leichten, flüchtigen Sprüngen; sie stehen
regungslos da, um uns zu betrachten, aber sobald wir uns nähern, springen sie fort,
wie vou einer Stahlfeder emporgeschnellt, und verschwinden bald in der Ferne.
Ein vor uns liegender Bergvorsprung erschien uns als ein passendes Ziel, wo
Wasser zu finden sein mußte. Aber die Stunden vergingen, und er schien noch ebenso
fern. Ein sterbendes Pferd hielt mich auf; es war unbepackt, aber dennoch zusammen-
gebrochen. Ich empfand großes Mitleid mit ihm und bedauerte, daß es uns nicht
weiter begleiten konnte. So blieb ich denn bei ihn:, um ihm noch eine Weile Ge-
sellschast zu leisten, aber der Tag ging hin, und die beiden Männer, die sich mit ihm
beschäftigten, erhielten Befehl, es zu erstechen, wenn es nicht mehr mitkommen könne.
Meine Ladakis fanden es ebenfalls grausam, ein noch lebendes Pferd zu verlassen;
sein Todeskampf konnte ja noch stundenlang dauern und seine letzten Augenblicke
entsetzlich werden, wenn Wölfe es aufspürten. Es war ein großes, schwarzes Jarkent-
pferd und erhielt abends sein Kreuz auf der Liste.
In der Ferne sah man die schwarze Linie der Karawane sich nach einer Schlucht
zwischen den Hügeln hinbewegen, wo ein schwacher grünlicher Schimmer auf Gras
schließen ließ. Eine Weile darauf zog sie aber wieder hinunter und verschwand im
Gelände; augenscheinlich hatte es auch dort kein Wasser gegeben. Wieder verfloß
eine ziemliche Weile, bis wir weit draußen auf der Ebene im Westen kleine schwarze
Punkte und Linien erblickten, ohne entscheiden zu können, ob es Wildesel oder unsere
eigenen seien. Der Feldstecher reichte dazu nicht aus. Am Fuß eiues Bergstockes
im Westen glänzte ein Bach wie Silber, aber bis dorthin war es weit, und alle Ent-
fernungen waren so groß, daß die Luftspiegelung irreführte und das, was man für
eine Karawaue hielt, ebensogut der auf einer Erosionsterrasse liegende Schatten
sein konnte.
Die guten Augen Roberts aber entdeckten am Fuß des Berges deu Rauch eiues
Signalfeuers. Die Karawane war also angelangt und hatte Lager geschlagen, nnd
nach einem Ritt von noch einer Stunde quer über die Ebene waren wir wieder mit
ihr vereinigt.
Wir befanden uns hier in einer Gegend, die zu dem herrenlosen Gebiete Aksai-
tschin in Nordwesttibet gehört. Oder sage mir einer, welcher Macht dieses Land
gehorcht? Erhebt der Maharadscha von Kaschmir Anspruch darauf oder der Dalai-
Lama, oder ist es ein Teil von Chinesisch-Tnrkestan? Ans den Karten sind keine
Grenzen angegeben nnd nach Steinmalen sucht man vergebens. Die Wildesel, die
Mks und die schnellfüßigen Antilopen sind keinen: Herrn Untertan und die Winde
des Himmels kümmern sich nicht um irdische Grenzsteine. Von hier aus konnte ich
also ostwärts ziehen, ohne den Wünschen der englischen Regierung zuuahezutreteu,
uud die Chinesen verzeihen es mir gewiß, daß ich von ihrem Passe gar keinen Ge-
brauch machte.
Die fernen Gebirge im Norden, die sich eben noch in rosigen Farben wie die
Häuserreihen einer Riesenstadt am Himmel abzeichneten, erblaßten im grauen Licht
der Dämmerung, und das großartige Relief wurde zerstört, als eiue neue Nacht ihre
duukleu Schwingen über die Erde senkte. Eine Flöte klang leise und melodisch zwischen
den Zelten, und ihre Töne lockten unsere müden Wanderer zur Ruhe.
112
B. Zur Länderkunde.
Am folgenden Morgen sah das Lager außergewöhnlich klein aus, denn die ge-
mieteten Pferde und Maulesel waren mitten auf der Ebene geblieben, wo ihre Führer
durch Grabeu Wasser gefuudeu hatten. Sie ersparten sich dadurch einen bedeutenden
Umweg. Ter Sicherheit halber nahmen wir nun ein paar Ziegenlederschlänche
voll Wasser mit, und alle Flaschen und Kannen wurden gefüllt. Noch unmittelbar
vor den: Aufbrechen sahen wir unsere Ladakis lang ausgestreckt am Rinnsal der Quelle
liegen und ihren Durst gründlich stillen, und auch die Pserde erhielten so viel, wie sie
nur wollteu.
Die heutige Marschstrecke war vortrefflich, fest und eben; ,,tüe great trunk road"
in Indien konnte nicht besser sein, kaum eine Landstraße in Schweden. Von Osten
über Süden nach Südwesten zeigten sich Wolken in Masse; es stürmte wohl int Kara-
kornm, aber uns erreichten nicht einmal die Ausläufer des Unwetters. Hier war
der Boden trocken, und der von der Karawane aufgewirbelte, überaus feine Stanb
zog wie eine Dampfwolke längs der Erde hin. Tie anderen Kolonnen steuerten
gleich mir einem verabredeten Ziel, einem Bergvorspruug im Nordosten zu. Wir
näherten uus ihm und zerbrachen uns den Kops darüber, ob wir auf seiner anderen
Seite den Aksai-tschin-See, den Crosby 1903 passiert hat, erblicken würden.
Im Norden des Bergvorsprungs dehnt sich die große, flache Ebene aus, und
hier zeigte sich eine geradezu verwirrende Lustspiegelung. Die Gebirge schienen sich
in einer vollkommen ruhigen Seesläche zu spiegeln, aber diese Oberfläche glich nicht
dem Wasser; sie war hell, leicht und luftig, sie war flüchtig wie ein Farbenspiel zwi-
schen Wolken, es sah aus als habe sie eiue Unterlage von durchsichtigen! Glas. Auch
die Mauleselkarawane, die wir jetzt vor uns hatten, war ein Spielzeug der Luft-
spiegelung; man sah sie doppelt, als ob sie zugleich auch am Rand eines Sees hinzöge.
Endlich erreichten wir den hartnäckigen Vorsprang und rasteten dort eine Weile.
Robert erkletterte den Abhang, um nach dem erwarteten See auszuschauen; als er
wieder herunterkam, geriet der Schutt ins Rutschen, unsere Pferde wurden scheu
und gingen ini tollsten Lauf nach Osten hin durch. Glücklicherweise folgten sie dabei
dem Weg der Karawane, die gerade im Begriff war, Lager zu schlagen. Die Weide
beim Lager Nr. 8 war die beste, die wir seit Pobrang gesehen hatten, und Wasser
fanden wir beim Graben schon in 55 Zentimeter Tiefe. Für Brennmaterial hatten
die Kulane gesorgt, denn ihr Dung war hier reichlich vertreten. Der Platz war so
behaglich, daß wir den nächsten Tag noch hier blieben und an diesem Tage einen
Ausflug uach der fast wie eiue umgekehrte Schüssel geformten Erhebung von Sand-
stein und Konglomerat machten, die im Süden der Ebene steht und ihren scharf ab-
geschnittenen Rand nach Norden kehrt. Oben auf ihrem Gipfel errichtete Muhamed
Jfa ein Steinmal. Er hatte eine Art Steinmal-Raptus; damals aHute ich uicht, daß
ich dieses Merkzeichen anderthalb Jahre später noch einmal wiedersehen sollte!
Beim Grauen des nächsten Tages taten wir einen Schritt in das verbotene Land
hinein. Die Luft war uicht ganz klar, und man sah sie über dem Erdboden zittern;
aber höher oben wurde sie durchsichtiger, denn die Kämme der Berge waren schärfer
abgezeichnet als ihr Fuß. Es ging nach Osten hin; zur Rechten hatten wir die blnt-
rote Konglomeratmasse, die wie ein Schutzdach über grünem Schiefer lag. Zur
Linken zeigte sich jetzt der Aktsai-tschin-See, dessen intensiv blauer Spiegel grell
abstach gegen die matten Töne, die sonst vorherrschten. Der Anblick eines Sees wirkt
belebend, er verleiht der Landschaft erst den richtigen Reiz. Nach Osten hin war das
Land bis an den Rand des Horizontes offen; nur in der Ferne sah man ans dieser
Seite ein Sclmeegebirge, aber wahrscheinlich setzte sich unser Längstal aus der Nord-
12. Über den Kamm des Kara-korum. —
Die Entdeckung der Jndusquelle. HZ
oder der Südseite dieses Bergstockes fort. Kurz, das Terrain war so günstig wie nur
möglich, es blieb auch mehrere Tage so, und ich mutmaßte, daß der Lake Lighten,
der Jeschil-köl und der Pnl-tso, bekannt von Wellbys, Deasys und Rawlings
Reisen, in diesem Längstal liegen dürften, das in jeder Hinsicht für das tibetische
Hochland charakteristisch ist.
Der Boden erinnerte an eine völlig wurmstichige Diele; die Löcher der Feld-
mause lagen so dicht nebeneinander, daß jeder Versuch, ihnen auszuweichen, nutzlos
war. Selbst auf den Zwischenräumen war man nicht sicher. Oft barst die Decke
von trockuer, mit Kies gemischter lockerer Erde über einem unterirdischen Gang.
Robert überschlug sich einmal mit seinem Pferd. Diese lüstigen Nagetiere, die von
den Wurzeln der Japkakpslanzen und des Grases leben, sind höchst ärgerlich.
Ganz nahe am User hatte sich die Karawane an reichlich fließenden Quellen mit
herrlichstem Wasser, das als kleiner Bach in den scharfsalzigen See hineingeht, gelagert.
Spät am Abend sahen wir in weiter Ferne ein Feuer brennen. War noch ein Reisen-
der ain See oder hatten sich Jäger hierher verirrt? O nein, es waren einige unserer
eigenen Leute, die die Karawanentiere hüteten und ein Feuer augezündet hatten,
um sich warm zu halten. Außer uns gab es keine Menschen in diesen öden Gegenden.
Gleich bei meiner Ankunft in Chaleb sagte ich dem alten Gova, der den hoff-
nnngslos undankbaren Auftrag hatte, meine Schritte zu überwachen, daß ich jetzt
über Singi-kabab, über die Jndusquelle ziehen würde.
„Wenn ihr euch dorthin begebt, Bombo," antwortete er, „so schicke ich augeu-
blicklich einen Kurier an die Garpnns, die beiden Häuptlinge in Gartok."
„Ich glaube nicht, daß die Garpnns etwas dagegen haben, daß ich einen nörd-
licheren Weg einschlage."
„O doch, vor fünf Tagen haben die Garpnns den Befehl aus Lhasa erhalten,
genau aufzupassen, daß ihr keinen anderen Weg zieht als die große Heerstraße nach
Gartok! Die Garpnns schickten sofort Kuriere nach zwölf verschiedenen Orten, Parka,
Misser, Pnrang, Singtod uud anderen, und meldeten, daß euch nicht erlaubt sei,
Seitenwege zu benutzen. Wenn dieser Brief nicht gekommen wäre, hättet ihr gern
nordwärts ziehen können; jetzt aber kann ich es meines Kopfes wegen nicht erlauben."
„Was gedenkt ihr zu tun, wenn ich eines Nachts einfach verschwinde? Ich kann
in Tartschen Paks kaufen und bin dann nicht mehr auf die von euch gemieteten an-
gewiesen."
„Ja freilich, in Tartschen lebt ein Mann, der 60 Aaks hat, und sobald der Silber-
geld sieht, verkauft er sie. Aber ich benachrichtige sofort die Garpuns, und sie werden
euch Leute nachschicken uud euch zwingen, wieder umzukehren. Der Mkkans wäre
daher unnötiges Geldwegwerfen. Wenn ihr aber die Hauptmasse eurer Karawane
der großen Straße folgen laßt und selbst einen Abstecher ein paar Tage nordwärts
nach Singi-kabab macht und euch dann wieder mit der Karawane vereinigt, werde
ich euch keine Hindernisse in den Weg legen. Aber ihr tut es auf eure eigene Gefahr,
und werdet ganz gewiß angehalten, ehe ihr nach der Jndusquelle kommt!"
Ebenso erstaunt wie erfreut über diesen plötzlichen Umschlag im Verhalten des
Govas, verabredete ich mit Robert, daß er die Hauptkarawane in ganz kurzen Tage-
Märschen nach Gartok führen solle, während ich mich so schnell als möglich nach der
Jndusquelle begeben würde. Ich nahm nur mit, was in einem kleinen ledernen
Handkoffer Pfatz- hatte, und ließ mich nur vou fünf Leuteu, darunter Rabsang als
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 8
114
B. Zur Länderkunde.
Dolmetscher und Adul als Koch, unseren sechs eigenen Tiereu und drei Hunden, von
denen einer, ein neuangeschaffter, uns aber am ersten Tag schon fortlief, begleiten.
Ich hatte Roberts kleines Zelt; unser Arsenal bestand aus zwei Muten und einem
Revolver, weil Räuber die Gegend sehr unsicher machen sollten. Einen Führer
konnte ich nicht auftreiben. Aber auf dem Weg nach Diri-pu, wo ich wieder lagerte,
stieß ich auf eiueu älteren Mann aus Tok-dfchaluug, der deu Kailas dreizehnmal um-
wandern wollte und der mir mancherlei wertvolle Auskunft erteilte. Er ließ sich aber
um keinen Preis bewegen, uns weiter zu begleiteu.
Am 8. setzteu wir unseren Weg durch das Tal fort, das von Diri-pu nach Nord-
Nordost geht und nach dem Tseti-la hinaufführt. Der in viele Arme gespaltene
Fluß war über Nacht mit einer dünnen Eishaut überfroren, die, wo das Wasser sich
verlausen hatte, wie Glas aussah. Sie verschwand jedoch bald in der neuen Tagesflut.
Das Tal ist breit, uud der Weg trägt Spureu lebhaften Verkehrs, obgleich uns kein
Mensch begegnete. Die Murmeltiere Pfiffen vor ihren Höhlen, für sie ist der Sommer
auch bald zu Ende. Von vielen Punkten aus sieht man den Kang-rinpotsche empor-
ragen; an solchen Stellen haben die von Norden kommenden Pilger stets Steinmale
angehäuft. Überall herrscht Granit vor, gelegentlich kommt aber auch kristallinischer
Schiefer vor. Wir folgen den frischen Spuren dreier Reiter. Tie Steigung nimmt
zu, und die Landschaft wird immer hochalpiner. Zwischen gewaltigen Geröllkegeln
mit rieselnden Schmelzbächen steigen wir aus abschüssigem Pfade nach den: Paß
hinauf, dessen Höhe 5628 Meter beträgt. Sein Plateau ist außerordentlich flach.
Auf seiuer Nordseite wurde das Lager Nr. 234 ausgeschlagen.
Am Abend meldete Rabsang, daß unsere Brennstosssammler Pfiffe und Sig-
nale, die von anderer Seite beantwortet wurden, gehört hätten; die Leute glaubten
fest, daß hier Räuber seien, und wagten nicht draußen am Feuer zu sitzen, um nicht
gute Zielscheiben für Schüsse aus dem Hinterhalt abzugeben. Ich beruhigte sie mit
der Versicherung, daß kein Räuber es wagen werde, einen Europäer zu überfallen,
gab aber doch dem Nachtwächter Befehl, auf unsere Tiere gut achtzugeben.
Die Nacht verlief ruhig; die Minimumtemperatur ging auf 8,8 Grad Kälte hin-
unter; der Herbst war schon wieder in das öde Tibet eingezogen! Ich hatte ange-
nommen, daß der Tseti-la der entscheidende Paß sei, aber wir waren noch nicht weit
gelangt, als wir seinen nach Norden strömenden Bach eine Biegung nach Westen
machen und durch ein scharf ausgeprägtes Tal nach dem Dunglung hinunterfließen
sahen. Er gehört also zum Flußgebiet des Satledsch und nicht zu dem des Indus;
der Tseti-la ist also nur ein Paß zweiter Ordnung. Aber den wirklichen Paß, eine
außerordentlich slache Talschwelle, erreichten wir bald. Hier liegt ein kleiner, trüber
See, aus dessen östlichem Teil der Bach, an dem wir nun den ganzen Tag entlang-
ziehen, austritt. Dieser Paß ist der Tseti-latschen-la, er bildet die Wasserscheide
zwischen dem Satledsch und dem Indus. Seine Höhe bleibt hinter der des Tseti-la
zurück, da sie nur 5466 Meter beträgt; er liegt im Hauptkamm des Transhima-
laja. Der Kailas liegt also eine starke Tagereise südwärts der Wasserscheide der
beiden Ströme und gehört ganz znm Flußgebiet des Satledsch.
Vou dem See an folgten wir diesem kleinen Nebenfluß des Indus nach Norden.
Der Talboden war sumpfig und höckerig. Hier und dort sah man drei Kochsteine.
In dem vorzüglichen Gras lag ein totes Pferd. Seltsam, daß sich hier keine No-
maden aufhielten! Endlich erblickten wir in weiter Ferne ganz unten im Tal berg-
abziehende Männer mit großen Schafherden. Tnndup Souam uud Ische müsseu
ihnen uachlausen, allmählich holen auch wir anderen die Gesellschaft ein. Es sind
12. Über den Kamm des Kara-korum. —
Die Entdeckung der Jndnsquelle. 115
Nomaden aus Gertse, die^Salz nach Gyanima gebracht haben und nun auf ihren
500 Schafeu Gerste befördern. Das ganze Tal sieht weiß getüpfelt aus von den
Schafen, die flott trippeln und im Gehen Gras abrupfen. Vor uns im Norden
erhebt sich eine violette, schroffe Bergkette, auf deren uns zugekehrter Seite der Indus
fließen soll. Wir einigten uns mit den Leuten der Schafkarawane dahin, am selben
Ort zu lagern. Sie waren ihrer fünf, alle mit Flinten bewaffnet, und sagten, daß
die Gegend ost von Rnuberu heimgesucht werde; manchmal seien diese freilich auch
wie fortgeweht, dann aber wieder führen sie herab wie ein Wirbelwind, von dm man
nicht wisse, woher er komme.
Unser Lager am Ufer des Indus (5079 Meter) nannten sie Singi-bnk. Nach
Osten erscheint das Flußtal breit und offen, aber der Indus selbst ist hier eiu sehr
unbedeutender Fluß. Es setzte mich daher nicht in Erstaunen, als ich hörte, daß es nur
eine kurze Tagereise nach der Quelle sei, von der mir gesagt wurde, daß sie weder von
Schnee noch von einem Gletscher herrühre, sondern direkt aus der Erde entspringe. Den
Fluß nannten sie Singi-tsangpo und Singi-kamba und die Quelle selbst Siugi-
kabab, obgleich wir das Wort später oft mehr Sängä als Singi aussprechen hörten.
Es stellte sich heraus , daß einer der fünf Männer ganz genau über uns unter-
richtet war. Er war nämlich ein Bruder des Lobsang Tsering am Dnngtse-tso, der
uns im vorigen Winter drei Mks verkauft hatte. Es war ein eigentümlicher
Glückszufall, daß ich gerade auf ihn stieß! Er sagte, daß er gehört habe, wie
nett wir gegen seinen Bruder gewesen, und bot uns auch seine Dienste an — gegen
gute Bezahlung natürlich. Da er diese, Europäern völlig uubekauuten Gegenden
viele Male durchreist hatte und über alle Pässe, Wege und Täler genau orientiert
war, erschien er mir hohen Preises wert, und ich bewilligte ihm täglich 7 Rupien —
also täglich etwa den halben Monatslohn meiner Ladakis! Er trat natürlich sofort in
meinen Dienst und wurde bald unser ganz besonderer Freund.
Damit aber waren unsere geschäftlichen Abmachungen noch nicht zu Ende. Ter
Mann hatte ja auch eiue Masse Schafe und Gerste! Er ließ sich darauf ein, mir acht
Schafe zu vermieten und deren Lasten, die für unsere Tiere eine Woche ausreichen
mußten, zu verkaufen. Für jedes Schaf sollte ich eine Rnpie Miete zahlen, was viel
war, da ein Schaf nur 2 bis 3 Rupien wert ist. Der Alte wollte also, solange er bei
mir war, allabendlich 18 Rupien erhalten — es war aber immer noch wohlfeil, da es
sich ja um die Entdeckung der Jndusquelle handelte!
Die große Schafkarawane war schon aufgebrochen, als wir am 10. September
mit unserem neuen Führer, der sein eigenes Tsamba auf einem neunten Schafe trans-
portierte, ihrer Spur folgten. Nach einstündigem Marsch überschritten wir den
Nebenfluß Luugdep-tschu, der von Südosten aus einem Tal kommt, in dessen
Hintergrund sich flache Berge erhoben.
Ein wenig weiter aufwärts hatte sich der Singi-kamba zu einem Bassin erweitert,
in dem es viel mittelgroße Fische gab. Als wir heranzogen, schössen die Fische in
dichten Schwärmen flußaufwärts, wobei sie eine sehr seichte, schwach wirbelnde
Stelle passierten. Hier wurden sie von Rabsang bombardiert, aber seine ganze Beute
bestand nur aus einem kleinen jämmerlichen Fisch. Nun machten wir am Ufer durch
einen aufgeworfenen Damm einen an einer Seite offenen Teich, und in diesen trieben
die Männer die Fische hinein, indem sie ins Wasser gingen, schrien und plätscherten.
Und dann wurde auch die Öffnung verbaut. Nachdem wir diesen Scherz dreimal
wiederholt hatten, waren wir im Besitz von 37 herrlichen Fischen, und ich sehnte
mich förmlich uach dem Mittagessen, dem ich sonst mit einem gewissen Grauen
8*
116
B. Zur Länderkunde.
entgegenzusehen Pflegte, da mir das harte, trockne Schaffleisch nachgerade gründlich
zuwider geworden war. Unser Alter, der uns sitzeud zuschaute, glaubte, daß wir
total verrückt geworden seien. Weiter oben standen in eiuem ruhigen Bassin die
Fische so dicht, daß das Wasser von ihren dunkeln Rücken beinahe schwarz erschien.
Wir ritten talanswärts weiter und ließen eine rote, semmelförmige Berg-
Partie, die Luugdep-uingri hieß, rechts liegen. Gegenüber sahen wir an der nörd-
lichen Talseite zwei stattliche Ammonschafe auf einer kegelförmigen Anhöhe äsen.
Sie trugen prachtvolles Gehörn und hatten eine königliche Kopfhaltung. Sie be-
merkten uns aber bald und wechselten langsam die Abhänge hinauf. Aber sie inter-
essierten sich zu sehr für unsere Bewegungen und merkten nicht, daß Tuudup Sonam,
die Fliute aus dem Rücken, einen Umweg machte, um sie von der anderen Seite des
Berges aus zu beschleichen. Nach einer Weile hörten wir einen Schuß krachen, und
eine gute Stunde, nachdem wir das Lager aufgeschlagen hatten, erschien Tundup
beladen mit so vielem Fleisch seines Opfers, als er nur hatte trageu können. Wir
erhielten also neuen Zuschuß zu unserem ziemlich knappen Proviant, und Tundnps
Heldentat erhöhte den Glanz dieses unvergeßlichen Tages. Am Abend ging er Wieder-
aus, um mehr Fleisch zu holen, und brachte mir auch den Kopf des Wildschafes mit,
den ich als ein Andenken an den Tag an der Jndnsqnelle aufheben wollte.
Das Gelände hebt sich außerordentlich laugsam. Singi-jyra ist eine rauhe
Felspartie im Norden, durch deren Kamm ein großes Loch geht; Singi-tschava
heißt eine dominierendere Partie im Süden. Tann durchwaten wir den von Süd-
osten kommenden Abfluß des Mundschamtals. Nun ist vom Indus nur noch ein
unbedeutender Bach übrig, und ein Teil seiner Wassermenge stammt obendrein
aus einem südöstlichen Tal, dem Bokar. Nach einer kleinen Weile lagern wir am
Auge der Quelle, das so gut verdeckt ist, daß mau es leicht übersehen könnte, wenn man
keinen Führer hätte.
Vom Gebirge der nördlichen Seite fällt ein flacher Schuttkegel oder richtiger
ein mit Schutt bestreuter Abhaug nach dem ebenen, offenen Talboden ab. An seinem
Fuß tritt eine Felsplatte von einer weißen, beinahe horizontal geschichteten Gesteins-
art hervor, unter der eine Reihe kleiner Quellen aus der Erde tritt, um algenreiche
Tümpel und den Quellbach zu bilden, an dem entlang wir aufwärts gezogen sind
und der das Alleroberste und Erste des nachher so gewaltigen Indus ist.
Die vier größten Quellen hatten an der Stelle, wo sie aus der Erde traten, eine Tem-
peratur von 9,2, 9,5, 9,8 und 10,2 Grad. Sie sollen im Winter und im Sommer
gleich viel Wasser geben, nach Regenzeiten aber ein wenig anschwellen. Im Winter
gefriert ihr Wasser ein wenig unterhalb des Quellauges uud bildet dann Eisschollen.
Oben aus der Felsplatte sind drei hohe Steinmale und ein kleiner würfelförmiger
„Lhato", der tönerne Opferpyramiden enthält. Und unterhalb des „Lhato" steht
ein viereckiges Mani mit zierlicher Schrift auf Hunderten roter Sandsteinplatten,
die teils mit feiner, dichter Schrift bedeckt waren, teils nur eine 50 Zentimeter hohe
Silbe enthielten. Auf zweien war das Lebensrad ausgemeißelt und auf einer anderen
ein Götterbild, das ich mir als Andenken an die Jndusquelle mitnahm!
Unser Führer sagte, daß der Quelle Singi-kabab ihres göttlichen Ursprunges
wegen gehuldigt werde. Wenn Wanderer an diese Stelle oder einen anderen Teil
des oberen Jnduslauses gelangten, schöpften sie mit den Händen Wasser, tränken
davon und benetzten sich damit das Gesicht und den Scheitel.
Durch die Rekognoszierungen, die Montgomeries Pnnditen im Jahre 1867 aus-
führten, wurde bekannt, daß der östliche Arm des Indus der eigentliche Qnellflnß
12. Über den Kamm des Kara-korum. —
ist, und ich hatte später Gelegenheit, durch genaue Messungen nachzuweisen, daß der
westliche, der Gartoksluß, sogar bedeutend kleiner ist. Bis an die Quelle gelang es
aber keinem der Pnnditen vorzudringen, und derjenige, der am nächsten an sie heran-
kam, nämlich bis an einen 50 Kilometer entfernten Punkt, wurde dort von Räubern
überfallen, die ihn zur Umkehr zwangen. Infolgedessen hat bis zu unserer Zeit die
irrtümliche Ansicht allgemein bestanden, daß der Indus seine Quelle auf der Nord-
seite des Kailas habe. Und dank jenen vortrefflichen Räubern blieb die Entdeckung
der Jndusqnelle mir und meinen fünf Ladakis vorbehalten!
Einen unvergeßlichen Abend und eine unvergeßliche Nacht brachten wir an diesem
geographisch so wichtigen Punkt zu, der sich 5165 Meter über dem Meere befindet.
Hier stand ich und sah den Indus aus dem Schoß der Felswand hervorquellen. Hier
stand ich und sah diesen unansehnlichen Bach sich das Tal hinabschlängeln und dachte
an alle die Schicksale, die ihm bevorstehen, ehe er zwischen Felswänden bis ans Meer
hinunter in tönendem Kreszendo sein rauschendes Lied ausgesungen hat, in Karatschi,
wo die Dampfer ihre Waren einnehmen oder Löschen. Ich dachte seines rastlosen
Zugs durch Westtibet, durch Ladak und Baltistan, an Skardu vorbei, wo die Apri-
kosenbäume am Ufer über seinen Fluten nicken, durch Dardistan und Kuhistan, an
Peschawar vorüber und durch die Ebenen des westlichen Pandfchab, bis sie schließlich
in den warmen Wellen des salzigen Meeres, dem Nirwana und dem Hasen ewiger
Ruhe aller müden Flüsse ertrinken. Hier stand ich und fragte mich, ob wohl der
mazedonische Alexander, als er vor 2200 Jahren über den Indus gegangen, geahnt
hat, wo die Quelle liegt, und ich freute mich in dem Bewußtsein, daß außer den Ti-
betern kein anderer als ich bis an diesen Punkt vorgedrungen war. Große Hinder-
nisse waren mir in den Weg gelegt worden, aber höhere Mächte hatten mir den Tri-
umph beschert, an die wirklichen Quellen sowohl des Brahmaputra wie
des Indus zu gelangen und den Ursprung dieser beiden weltgeschichtlichen Ströme
feststellen zu können, die wie die Doppelschere eines Taschenkrebses das höchste aller
Gebirgssysteme der Erde, den Himalaja, umklammern. Aus Himmelsfässern wird
ihr erstes Wasser geboren, und sie wälzen ihre Wassermassen nach dem Tiefland hin-
uuter, um 50 Millionen Menschen Leben und Nahrung zu geben. Hier oben stehen
Klöster still und weiß an ihren Ufern, in Indien spiegeln sich Pagoden und Moscheen
in ihren Fluten; hier oben schweifen Wölfe, wilde Mks und Wildschafe in ihren Tälern
umher, dort unten im Hinduland funkeln ans den Dschungeln, die ihre Ufer umsäumen,
Tiger- und Leopardenaugen wie glühende Kohlen, und giftige Schlangen ringeln
sich durch das dichte Gebüsch der Uferbänke. Hier im öden Tibet peitschen eisige
Stürme und kalter Treibschnee ihre Wellen, dort unten int Flachland flüstern laue
Winde in den Kronen der Palmen und der Mangobäume. Mir war zumute, als
lauschte ich hier dem Klopfen der Lebenspulse dieser beiden berühmten Flüsse, als
sähe ich den Fleiß und den Wetteifer, der seit unzähligen Generationen unzählige
Menschenleben erfüllte, die so flüchtig uud kurz gewesen sind wie das Leben der Mücke
und des Grases; all jene Wanderer auf Erden und Gäste der Zeit, die an dem dahin-
flutenden Lauf dieser Flüsse geboren wurden, von ihrem Wasser getrunken, ihren
Feldern damit Leben und Kraft gegeben, an den Ufern gelebt haben und gestorben
sind und aus dem schattigen Frieden der Täler dieser Flüsse sich nach den geahnten
Regionen ewiger Hoffnung emporgeschwungen haben. Nicht ohne Stolz, aber auch
mit dem Gefühl demütiger Dankbarkeit stand ich da oben in dem Bewußtsein, daß
ich der erste weiße Mann war, der je bis an die Quellen des Indus und
des Brahmaputra vorgedrungen ist.
118
B. Zur Länderkunde.
13. Die Weltlage des Kiautschougebietes.
Von Georg Wegener. (Aus Hans Meyer, Das Deutsche Kolonialreich.
II. Band, Leipzig und Wien 1910, Bibliographisches Institut.)
Mehr als für irgendeine andere deutsche Kolonie ist für das Kiautschougebiet
ein Hinausschauen über die politischen Grenzen auf die Umgebung zum Verständnis
der Bedeutung seines Besitzes für Deutschland erforderlich.
Das Kiautschougebiet hat mit den Schutzgebieten unserer deutschen Südsee-
Inseln gemeinsam, daß es im Bereich des Stillen Ozeans gelegen ist, den man nach
seiner Ausdehnung geradezu als die Wasserhalbkugel des Globus der Landhalbkugel
gegenüberstellen kauu. Von dem Zentrum der Halbkugel überwiegenden Landes,
von Europa, aus hat sich nach allen Seiten, mit Ausnahme der unzugänglichen Polar-
gegenden, gewissermaßen konzentrisch fortwachsend, die heute herrschende und den
Erdball immer inniger umspannende Weltkultur der weißen Rasse ausgebreitet.
Ganz den Raumverhältnissen entsprechend, hat sie dabei am spätesten die Außen-
ränder dieser Landhalbkugel, eben die Ufer des Pacific, erreicht und sich zu unter-
Wersen begonnen, gleichzeitig von Osten und von Westen her. Erst in den letzten
Jahrhunderten sind die Männer der weißen Rasse überhaupt dort erschienen, erst in
den letzten Menschenaltern haben sie begonneil, an diesen Ufern bedeutsame Kultur-
gebilde ihrer Wesensart zu schaffen. In diesen: Sinne ist der Stille Ozean das
jugendlichste unter den drei großen, für die Entwicklung der Menschheit in Betracht
kommenden Weltmeeren.
Mit dieser Tatsache der Jugendlichkeit sind auch die inneren Charakterzeichen
einer Jugend verbunden: ein Kranz junger politischer Gebilde umgibt dies Meer,
deren kommende Entwicklung die größte Aufmerksamkeit iu Anspruch nehmen darf:
im Nordosten Kanada uud die gewaltige Nordamerikanische Union; im Südosten
einer der tüchtigsten der Staaten Südamerikas, Chile; im Südwesten die immer
selbständiger werdenden englischen Kolonien von Neuseeland und Australien; im Nord-
westen so kraftvolle Strahlungspunkte von Leben wie Singapore, Hongkong, Schanghai;
und endlich auch die pazifischen Besitzungen Rußlands, das zwar augenblicklich schwer
daniederliegt, aber zweifellos wieder erstarken uud sich au dem Ringen, friedlicher
und kriegerischer Art, nnt den Stillen Ozean auch fernerhin mit beteiligen wird. Unter
dem mächtigen Anhauch der Energie der weißen Rasse sind auch die einzigen nicht
unter ihrer politischen Herrschast stehenden Gebiete der pazifischen Küsten, die noch
unabhängigen Reiche Ostasiens, aus ihrem Kulturschlummer erwacht uud begiuueu
mit in jenes Ringen einzutreten. So kommt es, daß der Politiker, der Kaufmann,
der Weltwirtschaftler, der Kulturhistoriker u. a. m. heute mit immer wachsendem
Interesse auf diesen Ozean blicken müssen, den man mit der Übertragung eiues be-
kannten Wortes als „das Meer der unbegrenzten Möglichkeiten" bezeichnen möchte.
Gegenüber den anderen pazisischen Besitzungen Teutschlands hat das Kiautschou-
gebiet den unschätzbaren Vorteil voraus, daß es uicht wie die meisten von ihnen in
verkehrsfernen Meeresteilen verloren liegt, entweder ganz ohne nennenswertes Hinter-
land oder, wie Dentsch-Neuguiuea, doch nur mit einem solchen von verhältnismäßig
begrenztem Wert. Es liegt vielmehr uumittelbar in der Gegend des Stillen Ozeans,
die ohne Frage für dessen oben angedeutete Entwicklung die bedeutsamste ist, am
Ostrande von Asien, mitten zwischen den gewaltigen Produktions- und Konsumtious-
gebieten der japanischen und der chinesischen Welt und den bedeutendsten Ansatz-
13. Die Weltlage des Kiautschougebietes,
119
punkten des enropäisch-amerikanischen Einflusses in diesen Gegenden. Gerade an
diesen Küsten, in diesen Gewässern ist jenes lebenschaffende Ringen nm den Stillen
Ozean heute am mächtigsten, und noch mächtiger wird es in der Zukunft sein, wenn
erst die in ihrer Tragweite noch völlig unübersehbaren Kräfte und Schätze der oft-
asiatischen Welt in diesen Wettbewerb richtig mit eingetreten sind. Verkehr, Austausch,
gegenseitige Kraststeigeruug, kurz überhaupt Leben entsteht ja nicht aus der Gleich-
artigkeit, sondern entzündet sich wie der elektische Funke an den Unterschieden und
Gegensätzen, wenn sie in Berührung miteinander kommen. Nirgends auf der Erde
gibt es aber heute grundlegendere, tiefer reichende Unterschiede und Gegensätze zwischen
ungefähr gleichwertigen Rassen und Gesittungen als hier in Ostasien, wo die weiße Rasse
erst in allerjüngster Zeit zu ihrem Erstaunen erfahren mußte, daß die Frage, ob sie von
der Natur zur Beherrscherin des Globus bestimmt sei, tatsächlich noch gar nicht zu ihren
Gunsten entschieden ist, sondern daß eben erst der entscheidende Kampf darum beginnt.
Hier, inmitten dieses Erdraums bedeutendster und zukunftsschwerster Weltinter-
essen, hat Deutschland mit der Besetzung des Kiautschougebietes Fuß gefaßt.
Die Bucht von Kiantschon liegt, nicht ganz genau, doch nur wenig ostwärts ver-
schoben, an der Spitze des Winkels, mit dem das äußere Gelbe Meer in die Küste
Chinas hineingreist. Sie ist daher nicht unmittelbar an der großen Weltverkehrs-
straße gelegen, die von Singapore nach Nagasaki und Yokohama und weiterhin nach
Nordamerika führt. Man hat das bei der Beurteilung der Verkehrslage Tsingtaus
oft als einen bedenklichen Mangel hervorgehoben, und in der Tat macht sich bis zum
heutigen Tage dieser Umstand als ein Mangel fühlbar: bis heute laufen z. B. die
deutschen Reichspostdampfer des Norddeutschen Lloyd nach Ostasien Tsingtan fahr-
planmäßig nicht an; der Anschluß erfolgt im wesentlichen durch die Lokallinien Schang-
Hai—Tsingtau und Schanghai—Tientsin der Hambnrg-Amerika-Linie. Allein man
vergegenwärtige sich, daß Tsingtan in Wahrheit nicht so sehr viel weiter außerhalb
der Linie Schanghai—Nagasaki liegt als Marseille und Genua außerhalb der un-
mittelbaren Route Gibraltar—Port Said. Die letztere beträgt 1917 Seemeilen;
über Marseille jedoch ist die Entfernung 2210 Sm., also 293 Sm. oder etwa 24 Fahrt-
stunden der mäßigen Dampfergeschwindigkeit von 12 Knoten in der Stunde mehr,
über Genua 2276 Sm., also 359 Sm. oder 30 Fahrtstunden mehr; und doch laufen
die großen englischen und japanischen Durchgangslinien zwischen Ostasien und der
Nordsee Marseille, die Reichspostdampfer des Norddeutschen Lloyd Genua an. Die
unmittelbare Fahrt Schanghai—Nagasaki ist 474 Sm. lang, über Tsingtan betrüge
sie 904 Sm., d. h. 430 Sm. oder 36 Fahrtstunden mehr, eine nur 137 Sm. oder etwa
12 Fahrtstunden größere Abweichung vom geraden Wege als bei Marseille und nur
71 Sm. oder 6 Fahrtstunden mehr als bei Genua.
Gewiß macht die abseitige Lage Tsingtaus immerhin etwas aus, aber sie ist nach
obigem gewiß nicht von solcher Bedeutung, daß nicht, falls nur andere Eigenschaften
diesem Hafen eine hinreichende Anziehungskraft geben, der große ostasiatische Welt-
verkehr ihn nicht später ganz wie Hongkong und Schanghai mit in seinen unmittel-
baren Bereich ziehen sollte. Zur Zeit der Drucklegung dieses Bandes hat in der Tat
die große englisch-ostasiatische Peninsular and Oriental Steam Navigation Co. bereits
begonnen, Tsingtan regelmäßig anznlansen, und auch mit dem Norddeutschen Lloyd
sind Verhandlnngen im Gange über das gleiche.
Noch geringer ist der Umweg für die Verkehrslinien, die von Schanghai nach
dem Norden des Gelben Meeres, nach Port Arthur, Niutschwaug, Tschinwangtan,
Tientsin oder Tschifu gehe::, und die alle un: denselben Punkt, das Ostkap Von
120
B. Zur Länderkunde,
Schantung, biegen müssen. Der unmittelbare Abstand zwischen Schanghai und Port
Arthur beträgt 534 Sm, über Tsingtau dagegen 661 Sm., also nur 108 Sm. oder
10 Fahrtstunden mehr. Ties ist eine fast nur halb so große Abweichung vom geraden
Wege als für den der Distanz Schanghai—Nintschwang (684 Sm.) gleichen Weg von
London nach Christiania der Besuch von Hamburg ist, der 221 Sm. mehr ausmacht.
Für den Verkehr von Japan zum Golf von Tschili endlich liegt es ähnlich, das Plus
von Nagasaki über Tsingtau nach Port Arthur über die direkte Entfernung dorthin
beträgt nur 207 Sm. Das sind alles Strecken, die für die schnelle Schiffahrt von
heute keine grundlegende Bedeutung haben.
Ziehen wir dies in Rechnung, so tritt hervor, daß Tsingtau für die gesamten
Uferländer des Gelben Meeres eine überraschend zentrale Verkehrslage
hat. Nehmen wir eine Strecke von etwa 550 Km in den Zirkel, so berührt ein damit um
Tsingtau beschriebener Kreis fast genau zugleich Schanghai, Tschemnlpo, Nintschwang
und Peking, d. h. die großen marinen Eingangspforten in das mittlere China, Korea
und die Mandschurei, sowie das alte Macht-und Kulturzentrum des chinesischen Reiches.
Somit ist die geographische Lage unserer Kolonie in der Nähe der ostasiatischen
Weltverkehrsstraße und zwischen dem alten Riesenreich China, der neuen Großmacht
Japan und den unter dem Einfluß von letzterem neuerdiugs sich entwickelnden Ge-
bieten von Korea, Liautnng und der Mandschurei, soweit die rein maritime Position
in Betracht kommt, entschieden bedeutungsvoll.
Doch solche Position und solche Abstände allein haben zunächst nur einen be-
schränkten Wert. Sind sie auch für einen Stützpunkt der deutschen Kriegsmarine in
diesen Gegenden schon an sich von Wichtigkeit, so muß für den Handel, um die durch
diese Lage gegebenen Möglichkeiten wirklich zur Entfaltung gelangen zu lassen, erst
noch hinzutreten, daß der Hafen jene Anziehungskräfte besitzt oder zu gewinnen ver-
mag, die, wie die erwähnten Welthäfen Marseille und Genua, den Verkehr auf sich
lenken. Das aber hängt von seinen besonderen geographischen Beziehungen
zu dem Hinterland, zu China, ab. Diese sind für die Beurteilung der Weltlage
unseres Gebietes am allerwichtigsten.
Niemand hat die geographische Lage der Kiantschoubucht in bezug auf China
in kühneren und klareren Zügen hervorgehoben als der geistige Urheber unserer dorti-
gen Besitzergreifung, F. v. Richthofen; schon 1881 in seinem großen Werke „China",
hier aber noch im wesentlichen mit Beschränkung auf die Beziehungen zu Schantnng;
weit umfassender in der kleinen, unmittelbar nach der Besetzung durch die Deutschen
erschienenen Schrift „Kiautschou. Seine Weltstellung und voraussichtliche Bedeutung"
und endlich in dem nach der Besitzergreifung geschriebenen Buche „Schantung und
Kiautschou".
Es ist davou auszugehen, daß das Land, an dessen Rande unser Besitz liegt, China,
die dichteste Menschenansammlung in sich schließt, die der Erdball kennt, eine Bevöl-
kerung dazu von uralter, hoher Kultur und höchst entwicklungsfähigen Eigenschaften
und einen Boden, der noch uuermeffeue natürliche Schätze birgt. Dieses Land ist
durch die Formation Jnnerasiens darauf angewiesen, seinen wesentlichsten Anteil am
Weltverkehr seewärts zu suchen, so daß also günstig gelegene Häfen an seiner Küste
eine natürliche Anwartschaft auf eine bedeutende Entwicklung haben.
Mehrere Jahrhunderte hindurch war das im äußersten Süden gelegene Kanton
für das Ausland das einzige Seetor Chinas; seit dem „Opiumkriege" und der Er-
ösfnnng der ersten Vertragshäfen im Jahre 1842 ist auch die übrige Küste damit in
Wettbewerb getreten. Diese Seeküste Chinas läßt sich in zwei Abschnitte von sehr
13. Die Weltlage des Kiautschaugebietes.
121
verschiedener Natur zerlegen. Der eine, südliche, der größere, reicht nordwärts bis
zum 30. Parallelgrad, der Bucht von Hangtschou. Er ist felsig und in reichstem Maße
mit geräumigen und vortrefflich geschützten Buchten ausgestattet, doch eignen sich
diese durchgängig nur wenig zur Vermittlung eines weitreichenden Verkehrs ins
Innere; sie sind entweder in starker Versandung begriffen, oder es fehlt ihnen ein
guter Zugang ins Innere: Gebirge umschränken sie im Hintergrunde, deren Ge-
staltung es mit sich bringt, daß jeder dieser Häfen nur ein engbegrenztes Hinterland
beherrscht. Die einzige Ausnahme bildet eben die Bucht von Kanton, da hier das
weitverzweigte Wassersystem des Sikiang, des bedeutendsten Flusses von Südchina,
einmündet und den Verkehr vom Meere her tief ins Innere tragen kann.
Der zweite Abschnitt der chinesischen Meeresküste, nördlich vom 30. Parallel bis
zum Golf von Liautung, ist überwiegend eine sandige Flachküste; einzig die Ufer der
gegen Nordosten vorspringenden Halbinsel Schantuug sind felsig. Gleich im südlich-
sten Bereich dieses zweiten Küstenabschnittes össnet sich das glänzendste aller Seetore
Chinas, die Mündung des Mngtsekiang, der mit dem großartig entwickelten System
seiner Nebenflüsse das ganze mittlere chinesische Reich erschließt. Nördlich von der
Mngtsemünduug aber ändert sich die Sachlage völlig: der Flachstrand Nordchinas
gehört zu den verschlossensten Küsten der Erde, die eine Verbindung mit dem Meere
so gut wie ganz ausschließen. Zwar mündet innerhalb ihrer Erstreckung der zweit-
größte Strom Chinas, der Hwangho, allein auch sein Ausfluß ist so stark verschlammt,
daß nur unbedeutende Barken über die Barre hinweg verkehren können. Auch
weiter auswärts ist er für die Schiffahrt nur in sehr geringem Maße brauchbar. Etwas
besser ist die Mündung des Paiho, des Flusses von Tientsin. Auch hier liegt zwar eiue
Barre vor, die zur Ebbezeit uur 3—4 Fuß, zuweilen noch weniger, tief ist; zur Flut-
zeit aber hat sie 2—3 in und mehr Masser, und oberhalb davon bietet der Fluß dann
eine Fahrtrinne von mindestens 6 in Tiefe bis nach Tientsin. Allein dieser Ort liegt
doch nur 50 km vom Meere entfernt, oberhalb davon wird die Schiffahrt sehr bald
völlig unbedeutend. Überdies ist diese Flußstraße jeden Winter für mehrere Monate
durch Eis verschlossen. Somit gibt es nördlich des Mngtsekiang kein marines Ein-
gangstor, das mit einem großen, allezeit schiffbaren Strom ins Innere in Verbindung
steht. Ein solches würde ja stets den Vorzug haben: der Haupteingang für Südchina
wird stets die Bucht von Kanton sein, und diese Stadt sowie das vorgelagerte Hong-
kong werden dessen Handel zusammenfassen; der Haupteingang sür Mittelchina
wird die Dangtsemündung bleiben, und hier werden Schanghai und andere Orte
dieses Stromes, wie Tschingkiang und Hankon, nie aus dem Felde geschlagen werden
können. Anders jedoch nördlich davon. Hier kann auch ein nicht mit einem großen
Strom in Verbindung stehender Hafen ein wichtiges Eingangstor werden, da jener
Wettbewerb fehlt.
Die einzige Küstenstrecke nun, wo sich nördlich vom Mngtse allen Schiffen zu-
gängliche, geräumige und geschützte Hafenbuchten finden, ist die Halbinsel Schantnng.
Sie erscheinen hier sogleich, wo wiederum Gebirge an das Meer tritt, d. h. sast rings
um die ganze Uferentwicklung herum, bis in die Gegend von Laitfchonfn, wo das
Schwemmland der Großen Ebene beginnt. Es gibt ihrer eine ganze Anzahl; unter
diesen ist aber die Kiautschoubucht weitaus geographisch am günstigsten ansge-
stattet. Sie liegt am weitesten südwärts und damit dem Weltverkehr am nächsten,
sie ist bei weitem die geräumigste, ist den größten Schiffen zu alleu Jahreszeiten zu-
gänglich und vorzüglich zur Anlage eines Hafens ersten Ranges geeignet. Ferner
liegt sie unter allen Buchten Schantnngs räumlich dem inneren China am nächsten, und
122
B. Zur Länderkunde,
ein besonderer Vorzug der Bodengestaltung ihres Hinterlandes vor dem der übrigen
besteht darin, daß gerade hier das Gebirge Schantnngs durch eine breite Flachland-
senke, die einen bequemen Zugang zur Großen Ebene Chinas vermittelt, in zwei
Teile gesondert wird. Jene Senke war der geographisch gegebene Weg für die Anlage
einer Eisenbahn, des Verkehrsmittels, das bis zu einem gewissen Grade den Mangel
eines Stromes ersetzen kann. Diese Bahn ist heute fertig bis zur Hauptstadt von
Schantnng, Tsinanfn, einem der Vororte der Großen Ebene, wird sich aber rasch
noch weiter entwickeln. Schon jetzt ist ein Bahnbau im Werke, der später den Verkehr
einerseits südwärts zum Mugtse bei Pukou, anderseits nördlich zum Paiho bei
Tientsin vermitteln wird. Eine andere, westwärts bis zu der großen Bahnlinie
Peking—Hankon, wird sich daran anschließen, sicher auch später eine noch weitere
Verlängerung bis zu den großartigen Kohlengebieten der Provinz Schansi. Die
Kiantschoubucht ist daher geographisch wohl geeignet, an der Vermittlung des Verkehrs
der Großen Ebene, dieses Hauptsitzes der chinesischen Bevölkerung und politischen
Macht, Anteil zu nehmen. Während des Winters ist sie sogar für den nördlichen Teil
der Großen Ebene und damit auch für die Landeshauptstadt Peking derjenige Hafen,
der ihr den raschesten Anschluß an den Weltverkehr gewähren wird.
Dies alles berechtigt vollkommen zu dem Schlüsse, daß, wie die Kantonbucht der
beste Hasen des südlichen China, wie die Mngtsemünduug der des mittleren, so die
Kiantschoubucht von Natur der beste des nördlichen China ist. Die Zukunftshoffnungen
Deutschlands dürfen unzweifelhaft mit dieser geographischen Tatsache rechnen.
Natürlich ist hiermit noch nicht ausgesprochen, daß der absolute Wert der Kiau-
tschoubucht dem der beiden anderen Eingangspforten gleich sei, und daß infolgedessen
für Tfingtan eine gleiche Entwicklung gewährleistet wäre wie für Hongkong oder
Schanghai. Dies ist nicht der Fall. Den nnausgleichbaren Nachteil der Kiantschou-
bucht jenen beiden gegenüber, das Fehlen der Wasserwege ins Innere, wird eine
Eisenbahn immer nur in beschränktem Maße ersetzen können. Trotz jener oben ge-
schilderten günstigen Bedingungen wird daher Tsingtau uiemals in so großartigem
Maße Beherrscherin des nordchinesischen Verkehrs werden können wie Hongkong
für Süd-, Schanghai für Mittelchina. Ter Verkehr wird stets den kürzesten Weg
zu Wasser aufsuchen, der ihm möglich ist, und so wird Tsingtau auch nach Vollendung
des Eisenbahnnetzes die Nebenbuhlerschaft der Paihomündung für die nördlichen
Teile der Großen Ebene nicht völlig aus dem Felde schlagen können. Die südlichsten
Teile der Großen Ebene werden voraussichtlich vom Verkehr des nähergelegenen
Mngtsekiang erobert werden: dies werden, soweit Eisenbahnen dabei in Betracht
kommen, Linien wie die schon bestehende Peking—Hankon, die in Ausführung be-
griffene Tientsin—Pukou oder die Zukunftsbahn von Singanfu zur Daugtsemün-
duug bewirken, und noch mehr der Wasserweg des Kaiserkanals, der noch heute trotz
seiner Verwahrlosung Ein- und Ausfuhr des Südostens der Großen Ebene völlig be-
herrscht. Ja selbst für die Mitte der Großen Ebene wird man keine unbestrittene
Herrschaft der Kiantschoubucht voraussagen dürfen, da es sehr wahrscheinlich ist, daß
China, sobald es wirtschaftlich erstarkt, auch den Kaiserkanal wiederherstellen wird,
der alsdann auch in diesen Teilen den Gütermassenverkehr abfangen und zum Paiho
einerseits, zum Mngtse anderseits ablenken wird.
Dasjenige Hinterland aber, für dessen überwiegenden Teil die Kiantschoubucht
unter allen Umständen das geographisch günstigste Eingangstor bildet, ist die chine-
sische Provinz Schautuug, die mit Recht deshalb auch in der internationalen An-
schauung als das besondere Interessengebiet Deutschlands in China gilt.
14. Upolu.
123
14. Upolu.
Von Georg Wegener. („Deutschland im Stillen Ozean", Bielefeld und
Leipzig 1903, Velhagen & Klasing.)
Upolu ist ein langgestrecktes Eiland von lanzettlicher Form, etwa 75 km lang und
5—20 km breit. Denken wir uns seine Westspitze in Berlin, so würde das Ostkap
bei Frankfurt a. O. liegen. Der Flächeninhalt der Insel (881 qkm) kommt dem des
Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen nahe. Der größte Teil dieses Areals
freilich ist auch in Upolu steil aussteigendes, zerklüftetes Gebirgsland.
Dem Ansegelnden bietet dies Gebirgsland den Anblick einer lang hingezogenen
Kette mit einzelnen Einsattelungen, das die Insel in ihrer ganzen Länge durchzieht
und ihr die Grundform eines aus dem Meere aufragenden Dackes gibt. Die First-
linie dieses Daches liegt der Südküste etwas näher, die steileren Hänge finden sich also
im allgemeinen auf der Südseite. Ein wirkliches Kettengebirge etwa wie die Falten
des Jura habeu wir aber in diesem Langzuge nicht zu sehen, sondern die zusammen-
gewachsenen Auswuchsmassen einer Anzahl nebeneinanderstehender Vulkane. Im
Ostteil der Insel, wo die Zerstörung am weitesten vor sich gegangen ist, erkennt man
schon vom Schiff aus eiu romantisch zerrissenes und zerklüftetes Haufwerk von Berg-
trümmern, dessen Einzelheiten im Innern noch wenig bekannt sind. Hier erscheint die
Hauptfirstlinie in mehrere Erhebnngsstreifen aufgelöst oder von solchen begleitet. Im
Krater Olemanga wird 600 m Höhe erreicht. Tiefe Pässe satteln sich ein und gewähren
einen verhältnismäßig leichten Übergang von Küste zu Küste. Ein solcher zwischen
Falisa und der Südküste bei Salaui geht auf 250 m hinab. Geschlossener dagegen ist
die westliche Hälste, die sehr regelmäßig die Form eines zweiseitigen Daches hat. Wie
auf einen: solchen die Essen, so stehen hier auf der Firstlinie die noch deutlich erkenn-
baren Vulkankrater nebeneinander. Der höchste Punkt ist der ziemlich genau in der
Längs- und Quermitte liegende Berg Lepue (ca. 1000 m). Dann folgt eine flache
Paßsattelung von etwa 700 m und hierauf ein neuer Anstieg bis zum Mangafiamoe
(ca. 930 m), der nebst dem ostnordöstlich ihm vorgelagerten niedrigeren, aber schön
geformten Vulkankegel des Apiaberges als Ansegelnngsmarke dient. Westlich davon,
int Südwesteu von Apia, liegt, als Ziel eines der schönsten Ausflüge, die man in der
Südsee machen kann, der Gipfel des Lanntoo (783 m). Ist man auf den urwald-
beschatteten Kraterpfaden zu der Rückenfläche des Gebirges emporgedrungen, dann
findet man dort — freilich nur dem Kundigen im Walddickicht bekannt — nicht weniger
als drei regelmäßige Krateröffnungen wenige hundert Meter voneinander. Der
eine von diesen war bei meinem Besuch trocken, und der mit feinblättrigen Sumpf-
pflanzen bedeckte Boden hatte die Form einer außerordentlich regelmäßig ruudeu
flachen Schale; die beiden anderen waren mit Wasser gefüllt. Ter größte von ihnen,
der den Nanien Lanutoo insbesondere führt und der die höchste Stelle des Berges
einnimmt, ist von wunderbarer Schönheit. Das tiefgrüne Wasser des kreisrunden,
etwa 200 m breiten Beckens war von dichtem Schilf und Pandanus umkränzt, und
die ringsum weich emporsteigenden Berghänge mit einem überaus dichten Polster
herrlich grünen Urwalös überzogen, in dessen geschlossene Laubmassen zartgefiederte
Paudauuswipfel und die graziösen Fiedern einzelner wilder Kokospalmen eine
äußerst reizvolle, alle unsere Blicke bezaubernde Abwechslung brachten.
124
B. Zur Länderkunde.
An zwei gegenüberliegenden Stellen des höchsten, ziemlich schmalen Krater-
landes hatte die Hand eines verständnisvollen, in Apia wohnenden Europäers, des
Arztes Dr. Funk, den mächtigen Urwald niederlegen und so einen freien Ausblick
schassen lassen, von einem Reiz, wie er auf der Erde selten sein wird. Nach beiden
Seiten der Insel schaut man hernieder. Nach Norden gleiten die grünen, urwald-
gekleideten Gehänge hinab bis zu der Bucht von Apia, deren Schiffe wie winziges
Spielzeug in der Ferne auf deni sonnenblitzenden Wasser liegen; nach Süden zu der
Bucht von Sasata. Hier bleiben die Ansiedelungen unter dem Schutze des Wald-
teppichs dem Auge verborgen. Tas Meer scheint unmittelbar den Urwald zu be-
grenzen. Rings um beide Küsten aber, soweit das Auge reicht, zieht sich wie ein
ferner silberner Streifen die Schaumlinie der Brandungswellen am Korallenriff
und scheidet das lichte grüne Wasser der inneren Rissläche von dem tieferen Blau des
freien Ozeans, der in weiter Ferne, fast ganz ohne sichtbare Grenze sür das Auge,
mit den: gleichfarbigen Himmel verwächst. Vom Lanutoo ab zieht der Bergkamm sich
allmählich senkend weiter nach Westen, um endlich mit dem bereits erwähnten, wunder-
bar regelmäßigen Vulkan Tosua wie mit einem Eckpfeiler zu endigen. Auch der
Tofua (650 in) trägt noch einen 112 m tiefen Kraterkessel mit scharfem, kaum 5 m
breitem Rande, der aber im Innern keinen See birgt, sondern bis in die Tiefe mit
dichtem Urwald ausgepolstert ist.
Der westlichste Teil Upolus wird von einer breiten Verslächuug gebildet, der
geräumigsten Ebene, die wir im Bereich der samoanischen Inseln kennen.
Tiese Ebenen spielen für den Haushalt der Insel die bedeutendste Rolle, denn
hier allein kann sich eine nennenswerte Bodenkultur entwickeln. Hier liegen auch die
Ansiedelungen der Bevölkerung. Tie eigentlichen Bergpartien sind dazu zu steil
und unwegsam.
Nebeu der großen Ebene von Aana — so ist der Name der westlichsten Landschaft
von Upoln — nmkränzt znm Glück noch eine ganze Reihe anderer fruchtbarer Ver-
ebnungen deu Fuß der geschilderten Gebirgskette. Besonders wertvoll darunter ist
der slache Landesstreifen, der sich von der Westspitze längs des nördlichen Strandes
bis ostwärts von Apia hinzieht. Hier findet sich die dichteste Eingeborenenbesiedelnng,
und unter anderen auch Leulumoeuga, diejenige Torfschaft, die in den Augen der
Samoaner bisher als ihr eigentlicher politischer Vorort, soweit sie einen solchen über-
Haupt gelten ließen, angesehen wurde. Weitere Verebnnngen nach Osten haben wir
um die kleiue Bucht von Salnafata, ferner im Hintergrund der Bucht von Falifa die
weit ins Innere hineinziehende Ebene gleichen Namens; am Ostende die Ebene von
Aleipata, auf der Südseite die Ebenen von Falealili, Sasata und Lesanga. Aber
auch wo steiles Gelände an die Küste herantritt, ist doch überall eine nicht allzu schwere
Verbindung zu Fuß möglich. Taher umgürteu die Ansiedelungen die ganze Insel
Upoln wie eine zusammenhängende Kette ineinandergreifender Glieder, die in um
so innigerer Beziehung miteinander stehen, als die bequeme Schiffahrt hinter dem
Schutze der Korallenriffe längs des Ufers nur au wenigen Stellen unterbrochen ist.
Tas Juuere Upolus dagegen ist unbewohnt und wird nur von wenigen schmalen
Fußpfaden durchzogen. Ter erste fahrbare Weg quer durch das Eiland wird gegen-
wärtig durch die deutsche Regierung angelegt. Er wird von Apia aus den Rücken der
Insel auf der erwähnten flachen Einsattelung im Südosten dieses Ortes überschreiten
und die Südküste bei Falealili erreichen.
Die Bewässerung Upolus ist reich und schön. Zahlreiche Flüsse stürzen zu beiden
Seiten von der Gebirgskette herunter, die, da auch in der sogenannten Trockenzeit
14. Upolu.
125
der Regen niemals ganz mangelt, meist das ganze Jahr hindurch Wasser haben.
Kartographisch sicher festgelegt sind irr den meisten Fällen nur erst ihre Mündungen
am Ufer; der ganze Urwald ist aber durchzogen von großen und kleinen Wasseradern,
die einen der höchsten Reize dieses mit so wunderbarer Schönheit geschmückten Eilands
bilden. Nah und fern hört man es bei einer Wandemng durch die Bergwälder rauschen;
bald ist es das Murmeln eines Baches, der in der Nähe unter dichtem Gebüsch dahin-
zieht, bald ist es das ferne Tosen eines Wasserfalls, der in der Tiefe einer mächtigen,
walderfüllten Bergschlucht zu Tal stürzt; und wandert man auf dem Sand und Block-
geröll der Meeresküste, unter den Kokospalmen des Strandes entlang, so hat man
wieder und wieder mit dem Verkehrshindernis einer der klaren, breiten Flußmfmdnn-
gen zu rechnen, die hier in das Meer hinaustreten. Der Samoaner pflegt ihre flache,
über feinen weißen Sand dahinströmende Flut mit seinen nackten Füßen einfach zu
durchschreiten. Brückenanlagen finden sich daher außerhalb 'APias nur bei einigen
wenigen größeren Flüssen, hergestellt ans Baumstämmen, die entweder unmittelbar
auf die aus den: Bett aufragenden Lavablöcke oder einfach aus Steinpackungen her-
gestellten Pfeiler gelegt sind. Bei dem Ort Lnfi-Lufi, etwa 20 km östlich von Apia,
tritt eine Quelle unterirdisch in die See hinaus, indem sie in den Hintergrund einer
Grotte mündet, die wohl als der Hohlraum eines alten Lavastromes anzusehen ist
und sich nach dem Meere zu öffnet. Die Eingeborenen haben vor ihren Eingang
einen kleinen Damm gegen die See aufgeführt, so daß ein kleines Süßwasserbecken
entstanden ist, das zu einem Teil, hart an: Meere, noch unter freiem Himmel liegt,
zum anderen weit in den tiefen Schatten der Grotte hineinreicht. So ist das ent-
zückendste Badebassin geschaffen, das sich denken läßt; man kann das Bad nach Be-
lieben in dem strahlenden Tropenlicht unter Kokospalmen angesichts der rauschenden
See oder im geheimnisvoll kühlen Dämmerschatten des Berginnern nehmen.
Der Fluß Waisingauo, der in einer bezaubernden Landschaftsszenerie bei Apia
mündet, bildet den berühmten Wasserfall Papaseea. Er fällt hier über einen ganz
glatten Felsen hinab zu einem 7 m tiefer gelegenen Bassin, und es ist eine der be-
liebtesten Vergnügungen in diesem paradiesisch harmlosen Lande, daß man mit den
jungen eingeborenen Voll- oder Halbblnt-Samoanerinnen sich hierher zum Picknick
begibt und sich gemeinsam mit dem Baden und Herunterrutschen über diesen Felsen
belustigt.
In der Bucht von Fangaloa sieht man einen Wasserfall aus großer Höhe direkt
zum Meere hinunterstürzen, und Wilkes hat im Innern der Insel einen Fall bis zu
200 m Höhe gesehen.
Keiner dieser Flüsse freilich, voll denen die Langhansfche Karte etwa 30 angibt,
ist schiffbar. Am ungünstigsten in bezng auf die Bewässerung steht die flache West-
spitze der Insel, wo zur Trockenzeit in dem durchlässigen Boden aus Lavageröll ge-
legentlich ein empfindlicher Wassermangel entsteht.
Mit den Häsen Upolus ist es freilich schlecht bestellt. Die vielgenannte Bucht
von Apia bietet zwar während der größten Zeit des Jahres, wo der Südostpassat
weht, einen genügenden Schutz; gerade in der gefährlichen Jahreszeit aber, wenn
Nordost-, Nord- und Westwinde wehen, und besonders bei ben um diese Zeit häufigen
Orkanen, ist sie durchaus ungenügend. Durch die etwa | km breite Einfahrt zwischen
den umsäumenden Korallenriffen wälzt sich dann die Dünung des Ozeans mit furcht-
barer Gewalt herein, und die Schiffe laufen Gefahr, auf das im Hintergrund der
Bucht gelegene und sie in zwei Teile teilende innere Korallenriff, von den Seeleuten
dort mit dem Namen Kap Horn bezeichnet, geschleudert zu werden. Bekanntlich
126
B. Zur Länderkunde.
trat das im Jahre 1889 in einer für unsere Marine höchst verhängnisvollen Weise ein.
Neben einigen amerikanischen und englischen Schiffen wurden zwei schöne Kriegs-
schiffe, „Adler" und „Eber", dort auf das Riff geworfen, und noch heutigen Tages
liegt der Eisenrumpf des „Adler" wie das Gerippe eines ungeheuren Tiergebildes
der Vorzeit auf den Klippen, einen Steinwurf vom Lande. Ter Kapitän Emsmann
vom „Cormoran", der zur Zeit meiner Anwesenheit seit einem Jahre dort das deutsche
Stationsschiff befehligte, erzählte mir, daß er während der ganzen kritischen Zeit im
Monat März Tag und Nacht unter Dampf gelegen, uud nicht weniger als viermal
hatte er den genannten Hafen eilig verlassen, um auf der hohen See Sicherheit
zu gewinnen.
Auch die übrigen Buchten Upolus sind nicht günstiger. Etwas geschützter ist die
kleine Bucht von Saluafata, 17 km östlich von Apia, da sie von hohen, dicht an das
Ufer herantretenden Bergen umgeben ist. Hier soll auch künftig in der gefährlichen
Jahreszeit das deutsche Stationsschiff liegen, und eine Heerstraße ist bereits im Bau,
die diesen Platz mit Apia in Verbindung setzt. Für eine größere Entwicklung als
Hafen aber ist die Bucht doch zu klein uud die Einfahrt durch das Riff auch zu schwierig.
Einen fjordartigen, tiefen Einschnitt mit steilen Wänden bildet die Bucht von Fan-
galoa, die auf der Karte als ein glänzender Hafen erscheinen könnte; allein sie ist den
Nordostwinden vollkommen frei ausgesetzt, mit unbequemen Küstenriffen gespickt
und entbehrt auch eiues geeigneten Hinterlandes.
Auf der Südseite Upolus ist die Gestaltung uoch ungünstiger, zumal hier der
Südostpassat während des größten Teils des Jahres scharf auf die Küste steht. Bei
Falealili schafft die kleine vorgelagerte Insel Mnsafee mit ihren Riffkränzen einiger-
maßen Schutz. Wir haben mit zwei Kriegsschiffen dort hinter dem Korallenriff ge-
legen; allein die Anfahrt war infolge der unterseeischen Riffe doch schon bei dem
normalen Seegang sehr bedenklich, und bei stürmischem Wetter würde der Platz
jedenfalls zu vermeiden sein. Nicht anders steht es mit dem Hafen von Safata.
15. Zum Gipfel des Kibo.
Von Hans Meyer. („Ostafrikanische Gletscherfahrten", Leipzig 1890,
Duncker & Humblot.)
Auf dem sanft ansteigenden Terrain, auf welchem schattige, kühle Bananen-
Haine mit kleinen, offenen Grasflecken uud murmelnde Bäche mit künstlichen Be-
wäsferungsgräben abwechseln, stiegen wir in gemessenem Schritt bergauf. Wo der
Moudjobach im offenen Gelände über eine kleine Basaltstufe herabschäumt, öffnet
sich der Ausblick bachauswärts auf eine am hohen Uferrand gelegene Hüttengruppe,
die im Jahr vorher dem amerikanischen Naturforscher Dr. Abbott mit seiner Kara-
wane monatelang als Behausung gedient hat und jetzt, verlassen, von Wind und Wetter
zerzaust wird. Weiter oben gewannen wir von einer Hügelgruppe Unischan über
das ganze Land. Ta sind nirgends schroffe Formen, überall leichte Wellenlinien,
und soweit der Blick nach unten und nach den Seiten reicht, allerorts saftiggrüne
Bananenhaine und kleine, blumige, buschige Grasmatten. Fern aus der dunstigen
Ebene schillert silbern der schmale Tschipesee herauf, überragt von der bläulichen Sil-
honette der Uguenoberge, an die sich östlich die ferneren duftigen Parehberge an-
schließen, während im Westen der Blick in die Steppen durch den langgestreckten.
15. Zum Gipfel des Kibo,
127
waldigen Lassohügelzug beschränkt wird, von dessen Höhe aus wir*), von Modschi
kommend, der ersten Überschau über dieses gelobte Land teilhaftig geworden waren.
Bergauf zum oberen Kilimandscharo solgt den Lassohügeln das Auge, bis es im nebel-
durchwehten Urwald uud der darüberliegenden dunkelgrauen Wolkenhülle auch dort
eine Grenze findet.
Der Zeiger des Aneroidbarometers senkte sich zu immer tieferen Luftdruckzahlen
uud wies auf ca. 1700 in, als wir nach dreistündiger Wanderung die letzten Bananen-
Pflanzungen hinter uns ließen, um in das nun beginnende Dickicht von Farnen und
Sträuchern einzudringen, welches weiter oben allmählich in den Urwald überführt.
Wie im Jahr 1887, so versnchte auch diesmal wieder der Marangnführer, uns
zum Lagern an diesem für die Verpflegung der Leute sehr bequem gelegenen Platz
zu bestimmen, obwohl es noch ziemlich früh am Tage war; aber wie damals, so trieb
ich nach kurzer Rast auch diesmal wieder zum Weitermarsch, um das erste Lager am
Unterrand des Urwaldes aufzuschlagen. Nach großem Geschrei und vergeblichem
Herumtanzen folgte uns der Führer.
Der Pfad war von nun ab vollständig verwachsen und verursachte den müden
Trägern schwere Mühe. Mehrere splitternackte Marangnlente begegneten uns,
keuchend unter riesengroßen Bunden von gesammeltem Brennholz, und erzählten uus
erregt, daß sie in nächster Nähe eine Begegnung mit vier Elefanten gehabt hätten.
Wir wurden der Tiere jedoch nicht ansichtig, weil wir unsere schärfste Aufmerksamkeit
dem Erdboden zu widmen hatten, wo uns die zahlreichen, unter einer Farnendecke
versteckten und bis zu 6 m tiefen Fanggruben für Elefanten ernstlich gefährdeten. Ich
selbst entging nur mit knapper Not dem verderblichen Sturz in die morastige Tiefe.
Die Busch- und Farnenzone unterhalb des Urwaldes hat schwerlich etwas
mit den klimatischen Verhältnissen dieser Bergregion zu tun. Diese Vegetations-
sormation scheint vielmehr das Ergebnis der periodischen Brände zu sein, durch welche
die Wadschagga offenes Land für ihre sich ausdehnenden Kulturen zu gewinnen suchen.
Es spricht für diese Annahme, daß da, wo solche Kulturenbrände nicht angelegt werden,
der Urwald bergabwärts mit abnehmender Feuchtigkeit allmählich lichter wird und
mehr und mehr Vertreter der Steppenflora in sich aufnimmt, bis er von der reinen
Baumsteppe ganz verdrängt ist. Auch in der Farnenzone ist echte Urwaldflora mit
Steppenflora vielfach vergesellschaftet. Soweit die Farnenzone in die Höhe reicht,
soweit wird auch die breitere Bananenkultur möglich sein; darüber hinaus setzt die
große und beständige Feuchtigkeit des Waldes, der ja gerade den reichen und an-
dauernden Niederschlägen dieser Höhenzone sein Dasein verdankt, der Feuerwirkung
und damit der Anlage tropischer Kulturen eine Grenze, wenn eine solche nicht schon
durch das Klima dieser Höhe gezogen wäre, was sehr wahrscheinlich ist.
Unsere Ansstiegroute vom Jahr 1887 lag ein gutes Stück westlicher als die jetzige.
Aber auch diesmal traten wir bei 1960 m in den unteren Urwald ein, der uns seine
Vorläufer in Gestalt vereinzelter moos- und flechtenbehangener und Verwetterter
Baumgreise schon weithin entgegengesandt hatte. Hier wurde unser Psädchen, so-
bald das Farnendickicht aushörte, osfener und führte uns in kurzem zwischen den
triefenden graugrünen Baumriesen hindurch auf eine kleine, hochgrasige Kampine
am Rande des plätschernden, von Kraut und Stauden überwucherten Rnabächleins,
wo ich unser erstes Berglager aufschlagen ließ.
i) Hans Meyer war von dem ausgezeichneten Bergsteiger Ludwig Purtscheller be-
gleitet. [H.]
128
B. Zur Länderkunde,
Als Achmed später am prasselnden Feuer eine beruhigende Probe seiner Koch-
kunst lieferte, wurde es uns in unserer Einsamkeit trotz Nebel und Nässe ganz gemütlich,
obwohl ich vorher den Führer unter Muini Amauis Aufsicht uach Marangn zurück-
gesandt hatte mit dem Befehl, am nächsten Morgen uuter alleu Umstäuden mit dem
ausgebliebenen zweiten Führer zurückzukehren. Nach einer kühlen Nacht, in der wir
mehrmals durch Elefantengetöse erweckt wurden, hatten wir in der Frühe vollauf
Zeit, unsere orchideenreiche Waldwiese abzusammeln, bis die beiden Führer, mit
Lebensmitteln beladen, eintrafen und der Einstieg in den Urwald begann.
Wie gestern, so heute, wie Anfang Juli 1887, so jetzt Ende September 1889,
jahrein, jahraus ist diese Region der mittleren Wolkenhöhe die Zone größter Feuchtig-
keit. Wo stete Befeuchtung und doch regelmäßiger Abfluß des Wassers gegeben ist,
da entwickelt sich überall in der Welt der Urwald innerhalb seiner Wärmegrenzen
zur großartigsten Üppigkeit. Beide Bedingungen sind am mittleren Kilimandscharo
in hohem Maße erfüllt, denn die Niederschläge erfahren in dieser Höhe keine nennens-
werte Unterbrechung, und die sanften Formen des vulkauischeu Bergkörpers sorgen
für die gleichmäßigste Entwässerung des Bodens. Warum die Nordseite des Gebirges
in dieser Beziehung weniger begünstigt ist, werden wir später zu erörteru haben.
Da es für den Kilimandfcharowald keinen ausgesprochenen Wechsel der Jahres-
zeiten, keine regenlose Periode gibt, müssen seine Bäume, um uicht in den Nieder-
schlagen zu ersticken, in ihren Blättern so organisiert sein, daß sie fortwährend tran-
spirieren können. Der Kilimandscharowald hat deshalb nur immergrüne Banm-
formen; periodische Belaubung ist allein der kleinen Stauden- und Krautvegetatiou
eigen. Wenn in den trockenen Steppenebenen Schutz gegeu übermäßige Trauspiratiou
das Orgauisationsprinzip der Bäume war, so ist es hier Schutz gegen Beschränkung
der Trauspiratiou. Durch Glätte und Wachsüberzug der Blattoberfläche halten die
Pandanus-, die Dracäuen- und ähnliche Formen die Spaltöffnungen für die Ver-
dunstung frei, durch feinen Haarbezug die Clavijaformen, Essigbäume und andere mehr.
An den Stellen größter Nässe, wie in den Bachläufen, streben die nach Lnft ringen-
den Pflanzen, die Farne uud andere, nach möglichst ausgedehnten Verdunstuugs-
flächen durch möglichst große Blattentwicklung. Formen und Arten, die an trockenen
Plätzen ziemlich lleinblätterig sind, treiben hier Blätter von erstaunlichem Umfang.
Die triefende staudige Uutervegetatiou schlägt uns anfänglich auf unferm Marsch
über dem Kops zusammen und durchnäßt uns bis auf die Haut. Weiterhin werden
die Baumbestände noch dichter, Lianen winden sich in unendlichen Verschlingungen
von Stamm zu Stamm, und den Boden überzieht ein dichter, sattgrüner Polster-
teppich von niedlichen Farnen, auf den das braune Band unseres morastigen Pfades
das einzige Ornament zeichnet. Stämme, Äste und Lianen sind überzogen mit
tausendfältigen Schmarotzern und Scheinschmarotzern, unter welchen ein langes,
gelbbraunes Hängemoos alle anderen in Zahl und Größe überwiegt. Vom Regen
find sie vollgesogen wie Badeschwämme und setzen unbarmherzig das Geschäft der
Durchnässung an uns fort. Die Träger haben obendrein sehr schwere Arbeit bei dem
unaufhörlichen Wenden, Bücken, Kriechen und Steigen zwischen den Wurzeln uud über
die stehenden und gestürzten Stämme. Glücklicherweise ist das Terrain nirgends steil.
Von Zeit zu Zeit treteu wir aus dem Waldesdunkel auf eine lichte Kampine
hinaus, wo wieder mit vollen Lungen Lust geschöpft werden kann. Es ist seltsam,
wie scharf diese dem Wald eingesprengten kleinen Grasfluren gegen den Wald hin
Ein Somalineger, Diener Hans Meyers. [H.]
15. Zum Gipfel des Kibo.
129
abgegrenzt sind. Der Übergang von ihrem Gras zum hohen Baumwuchs ist ebeuso
schroff wie jener der Steppe gegen den Wasserwald eines Flusses, und doch scheinen
sie mehr durch künstliche Rodung als durch natürliche Bedingungen entstanden zn
sein und weiter zu bestehen. Essig- und Erikaceenbänme bilden vorwiegend die äußere
Waldmauer, und auf den Kampinen selbst unterbrechen zwei grüne und eine rote
Erdorchideenart, in höheren Berglagen eine rote Iris, rote und gelbe Strohblumen
die graugrüne Grasfläche.
Überall im Wald sind die Spuren und Losung von Elefanten außerordentlich
zahlreich. In dem lehmigen Morastboden hinterläßt jeder der Riesenstapfen einen
fußtiefen Pfuhl, den wir vorsichtig umgehen müssen, und die geknickten Stämme
und aufgerissenen Wurzeln versperren uns häufig den Weg. Auch Büffelfährten
sind nicht selten. Dann und wann erklingt einmal das Schnalzen eines Affen oder
das klägliche Geschrei eines Hornvogels, aber im ganzen ist vom Tierleben auffallend
wenig in diesen Regenwäldern zu bemerken. Nie bietet sich ein weiterer Ausblick
hinab in die Ebene oder hinauf zur Bergeshöhe.
So wanderten wir langsam bergan, stumm im stillen Urwald, bis wir am Nach-
mittag auf eine Graszunge hinaustraten, die aus der oberhalb des Urwaldes sich aus-
dehnenden Grasflur sich hier bis ties in den Wald hinab erstreckt und durch allmäh-
liches Vordringen von Grasbränden aus der oberen Grasflur entstauben sein mag.
Auf ihr führte uns der Pfad steiler bergauf, rechts und links begleitete uns der Wald,
in dem mit zunehmender Bergeshöhe die Erikaceen alle anderen Formen über-
wiegen. Bei 2600 m Höhe wird eine Terrainstufe erreicht, wo die Bodenneigung
viel geringer wird, und dort erweiterte sich unsere Graszunge zu einer offenen Gras-
flnr, in der noch einzelne größere Waldparzellen höher zum Berg hinanziehen; aber
der geschlossene Urwald liegt nun hinter uns.
Wir stehen an der Südostseite des Mawensi, von dem aus ferner Höhe zeitweilig
ein dunkler Felszacken durch die wogenden Wolken herabschaut. Eine größere Anzahl
ansehnlicher Parasitenkegel zieht sich von seinen Südostflanken zu uns herunter, und
zwischen ihnen hindurch schlängelt sich der Pfad, dem wir bisher gefolgt, zur Nord-
ostseite des Berges hinüber, am oberen Urwaldrand entlang, nach den Dschaggaland-
schasten Rombo und Useri. Wir aber verließen nun den Pfad und schlugen westliche
Richtung ein, uns in der Grasflur immer in derselben Bergeshöhe oberhalb des Ur-
Waldes am Südabhang des Mawensi hinbewegend, bis wir mit fallendem Nebel
am Fuß des westlichsten der vulkanischen Mawensiparasiten auf den kleinen, kalten
Kifinikabach trafen und dort wieder am oberen Waldesrand in 2655 m Höhe uns
für die Nacht einrichten konnten.
Gespenstig wehte der Abendwind die langen grauen Flechten an den Ästen im
Nebel hin und her. Die Leute kauerten aneinandergedrängt um die vor Nässe schlecht
brennenden Feuer und froren, und als auch mir bei 5° C die Finger den Dienst ver-
sagten, kroch ich in meinen Pelzsack und segnete die Seelen der braven Wiederkäuer,
welche mir ihr warmes Fell geliefert hatten.
Bei Reif und nur + 2° C war es den Leuten nicht zu verdenken, wenn sie nicht,
wie bisher, bald nach Tagesanbruch unter ihren Grasschutzdächern hervor wollten.
Als sich aber nach 8 Uhr die Luft klärte, stampften sie wohlgemut den Führern nach
in den Urwald hinein, der sich hier wieder höher am Berg hinauf erstreckt. Einen
Pfad müssen wir uns erst in dem dichten Unterkraut treten, ein schwieriges Beginnen,
obschon die Bäume in diesen hochgelegenen Waldesteilen nicht mehr dicht stehen
und uns keine Lianen mehr am Vordringen hindern. Kolossale Rhododendren,
Lerche, Erdlundl. Lesebuch. 0
130
B. Zur Länderkunde.
Dracäuen und Erikaceen herrschen im Wald vor, nicht mehr von braunen Moosen über-
zogen, sondern nur mir grauen Bartflechten behangen, und in der Bodenvegetation
sind halbmannshohe Doldenblütler und Schilfgräser die Leitformen. Ter Boden
selbst, der im unteren Urwald rotbraun uud lehmig gewesen, ist in diesen oberen
Waldpartien ein schwarzer Humus. Das anstehende Lavagestein hat nicht mehr die
dicht basaltische Struktur wie unten, sondern ist gröber kristallisiert. Unsere Träger
marschieren vorzüglich; da bedarf es keines Antreibens mehr: es ist die Creme unserer
Karawane. Nachdem sie beim Gehen wieder warm geworden, scherzen sie über
das Elend ihres verlassenen Nachtlagers, und als dann einer der Führer ein kleines
ahnungsloses Nagetier, das an einem Baumstamm zu schlafen schien, am Kragen
erwischte und es trotz allen Sträubens zum Transport in eine Astgabel band, daß es
jammervoll quiekte, war die alte Fröhlichkeit wieder in vollem Schwange.
Eine Stunde lang waren wir im Wald langsam westwärts bergan gestiegen,
als wir an ein offenes Bächlein, Ngona md ogo, heraustraten, das in seinem mulden-
sörmig ausgewaschenen Lavabett vom Mawensi herabrieselt. Von hier war uns
1887 der erste Anblick des im Neuschnee damals so nahe scheinenden Mawensi zuteil
geworden. Heute waren seine Felsen in Nebel gehüllt. Nachdem wir bald darauf
auch durch die steile und von seltsamen Vegetationsformen überwucherte Bachschlucht
des Ngona mkubahindurchgeklettert wareu, den wir früher, von Modschi kommend,
in seinem Unterlauf als Grenzbach zwischen Marangn uud Kilema überschritten hatten,
trafen wir in der Grasflur auf den neutralen Pfad des oberen Kilimandscharo, der, von
Useri herüber, am oberen Urwaldrand entlang in fast immer gleicher Bergeshöhe bis
nach Madschame im Westen des Berges hinführt, und folgten ihm eiuige Stunden lang.
Gelegentlich passierten wir noch eine Waldzunge, die, einem Bachlauf oder auderen
günstigen Terrainverhältnissen folgend, von unten in die obere Grasflur hineinreicht.
Im Mittel liegt die obere Grenze des geschlossenen Urwaldes ungefähr bei
2990 m Höhe, die obere Grenze des Baumwuchses überhaupt, d. h. die uutere Höhen-
grenze der den Baumwuchs vernichtenden thermischen Minimalextreme, ist aber
noch 290 m höher zu zieheu. Diese Regiou ist recht eigentlich das Reich der Erikaceeu.
Von baumhohem Wuchs, zerzaust und geknickt durch den Bergwind und mit wehenden
grauen Flechtenmänteln behangen, trotzen sie als äußerste Grenzmauer des Urwaldes
dem Wetter des Hochgebirges. In niederer Strauchform aber sind sie über die ganze
Grasslnr hin verstreut uud dringen weit über die Baumgrenze vor bis hiuaus zum
Raud des Sattelplateaus bei 4999 m. Solche Zähigkeit ist vor allem begründet in
der Bildung ihrer Blätter, dereu Oberseite glatt uud lückenlos geschlossen ist, während
ihre Unterseite stark eingerollt und durch zahllose Spaltöffnungen gelockert ist, so daß
hier der Weg für den Wasserdampf uud die auszuscheidenden Gase immer freigehalten
wird, wie lange und dicht auch die Nebel um sie wehen mögen, uud daß die für die
Pflanze so wichtige Ausdünstung stattfinden kann, sobald nur für kurze Minuten ein
trockener Luftzug oder Sonnenschein die Blättchen trifft.
Gemeinsam mit den Eriken bewohnen mehrere Proteaceen, 9ldlerfarne, Rauten,
Strohblumen, niedere Heidelbeerformen die Grasflur. Viele vou ihnen standen in
voller Blüte und waren beflogen von wilden Bienen, für deren Honig von den Wa-
dschagga hier und da an den Bäumen die in Ostafrika allgemein üblichen kanonen-
rohrartigen hölzernen Sammelröhren aufgehängt waren. Gegen Mittag ließ uns
die Sonne fühlen, daß sie es hier oben ebensogut meinen kann wie unten in Dschagga,
wenn sie will. Aber die von den Höhen herabwehenden Winde kühlten uns Brust
und Stirn und weckten mit ihrem Hauch fast heimatliche, freundliche Empfindungen
15. Zum Gipfel des Kibo,
131
und heitere Gedanken inmitten dieser den gemäßigten Zonen so ähnlichen Vege-
tationsformen.
Aus dem Wolkenmeer, das, die Ebene verbergend, auf dem Urwald lag, wogten
jedoch bald wieder die Nebel herauf und ließen uns nicht mehr frei. Nach Über-
springen des klaren Muebächleins, das wir alsMuebach ebenfalls früher in seinem
Unterlauf zwischen Kilema und Kirua überschritten hatten, zweigten wir vom Pfad
bergwärts ab und standen nach wenigen Minuten an jener Stelle der Grasflur, wo
ich 1887 mit Herrn von Eberstein nach dem Vorgang des Engländers Johnston mein
Standquartier für die Kibobesteiguug errichtet hatte. Diesmal folgten wir dem Lauf
des Mnebaches, den ich damals wegen der ersten hier vorkommenden Senecio John-
stoni „Seneciobach" benannt hatte, aufwärts, ließen auch die Grashütten, die 1889
Dr. Abbott und Ehlers gebaut, hinter uns und schlugen in einem windgeschützten
Kessel am Rand des Muebächleins, dessen steile Uferwände noch dichtes Strauchwerk
vou Eriken und Essigbäumen tragen, unser großes Zelt auf. Die Eisfelder des Kibo
fuukelten lockend über den Bachrand herüber. Da wir mehr horizontal westwärts
als bergauf gewandert waren, waren wir nur wenig über den UrWaldrand hinaus-
gekommen. Unsere Meereshöhe betrug 2890 in. Hier am Muebach sollte das beab-
sichtigte „Mittellager" zwischen Marangn und dem Sattelplatean mit dem großen
Zelt für Wochen eingerichtet werden.
Der spätere Nachmittag wurde durch die Vorbereituugeu zur ersten Kibo-
besteiguug in Anspruch genommen, zu der wir uns in früher Morgenstunde auf-
machen wollten. Der Kibokegel lag etwa 2f km von nnserm Lager entfernt, auf
seiner ca. 6 km breiten Basis 1680 m hoch über nnserm 4330 m hohen Standpunkt
aufgetürmt. Auf seiner rechten Hälfte liegt nur eiu schmaler, blau geränderter Eis-
kränz oben auf seinem horizontalen Oberrand, die steilen Felswände und Lavarücken
sind dort ganz schuee- und eisfrei, auf der linken Hälfte aber reicht der Eismantel
in eiuzelueu Zungen fast bis zur Kegelbasis herab, uuten überall zerrissen und steil
abstürzend, und in der Mitte, uns zugekehrt, streckt sich eine breite Eiszunge zwischen
zwei hohen, weitauslaufenden Felsmauern in das von diesen eingefaßte Tal hinein,
deren Zerrissenheit ebenfalls wenig einladend aussah. Wo aber der liuke Felsrücken
in zwei Drittel der Bergeshöhe an das Eis ansetzt, schien die Neigung des Eismantels
weniger schroff, das Eis weniger zerrissen zu fein als anderwärts, und von dort war
allem Anschein nach die höchste Schneekuppe auf dem Südrand des Berges anf dem
kürzesten Weg zu erreichen.
Unsere Absicht ging infolgedessen dahin, auf der genannten, nach Südosten aus-
laufenden Bergrippe zur Schneelinie aufzusteigen und von ihrer Grenze aus das
Klettern aus dem Eismantel zu beginnen. Der Weg war weit, die Arbeit voraus-
sichtlich sehr schwer. Und die bange Ungewißheit, was der nächste Tag bringen werde,
ließ uns beide in der Nacht nur wenig zu der doch so nötigen Ruhe kommen.
Von 1 Uhr ab schauten wir alle Viertelstunden bei Streichholzflackern nach der
Uhr; um |-3 Uhr krochen wir aus dem Zelt. Die Nacht war kalt und stockfinster, von
dem erhofften Mondlicht keine Spur. Rasch waren die Rucksäcke übergeworfen, die
Eispickel erfaßt und die Laterne angezündet. „Kuaheri" („Lebwohl"), rief ich nnserm
in seinem Felsspalt schlafenden Mnmi1 zu; „Kuaheri, bwana, na rudi salama"
1 Muini Amani, ein Neger aus Pangani, der als einziger Eingeborener bei den beiden
Europäern in 4500 m Höhe 3 Wochen lang ausharrte. [ET]
9*
132
B. Zur Länderkunde,
(„Lebwohl, Herr, und kehre heil zurück"), klaug es aus dem Loch zurück. „Inschallah"
(„So Gott will"), bestätigte ich meinerseits, uud fort ging es in die kalte Nacht hinein.
Solange wir uns aus slachem Terrain bewegten, hatten wir nur die herum-
liegenden Trümmer zu meiden. Bald aber kamen wir an einen tief eingeschnittenen
Kessel am Fuß des Berges, an dessen schroffer Innenwand wir mit größter Vorsicht
entlangklommen, bis wir die Trümmerhalde im Grund des Kessels betraten, die
uns laugsam über ein Chaos von Blöcken bergan führte. Es war eine verzweifelte
Kletterei in dunkler Nacht. Mehrmals kamen wir zu Fall und rissen uns die Glieder
wund, aber das Marienglaslaternchen nahm keinen Schaden, wenn es auch jedesmal
verlöschte und durch das Wiederanstecken im Nachtwind unsere Geduld anf eine
harte Probe stellte. Purtscheller, welcher die Führuug hatte, hielt sich meines Er-
achtens zu weit rechts, nach Norden, ich drang auf mehr westliche Richtung, weiter
bergauf zur Mitte des Kibo; als aber der Morgen des 3. Oktober dämmerte, öffnete
sich plötzlich in schwindelnder Tiese zu unseren Füßen das Tal, dessen südlicher Be-
grenzuugswall unser Ziel gewesen war. Es blieb nichts anderes übrig, als an den
schroffen Wänden hinabzukletteru in die schuttbedeckte Mulde und jenseits an den
Felsklippen wieder emporzusteigen. Das unerwartete Hindernis kostete uns fast
eine Stunde der besten Tageszeit.
Nach kurzer Rast traversierten wir die steilen Schutthalden des Tales, ließen
dabei die letzten Spuren von Blütenvegetation in etwa 4700 m Höhe hinter uns,
passierten um |7 Uhr einen massigen Lavaquerriegel in der Talmitte und trafen
an der erstrebten südlichen Talwand gegen 7 Uhr auf die ersten Schneeflecken unter
dem Schutz der Felsen in 5000 m Höhe. An der nördlichen Talwand ziehen sich im
Leeschutz des AntiPassates gesellige Schneefelder von hier ab bis zu der von oben
drohend ins Tal herabhängenden Eiszunge (5360 m) hinauf. Dort fließt das Schmelz-
wasser in zwei kleinen Bächen ab, die schnell im Geröll verrinnen. Der Blick über
die von mächtigen Blöcken übersäeten Schuttkegel zur Eiswand hinauf und hinab ins
Tal, das weit unten nach Süden abbiegt, und an den jäh sich hebenden Talwänden
entlang, an denen die Erosion wunderliche Lavawindungen und Höhlenformen hat
zutage treten lassen und stellenweise Schrammen und Glätten auf Gletscherschliff
hindeuten, während von Zeit zu Zeit das Rauschen des Windes uud das Prasseln
von rutschendem Schutt die nimmer ruhende Tätigkeit der Naturkräfte verrät, ist von
ganz eigenartigem Reiz.
7 Uhr 20 Minuten standen wir endlich auf dem Rücken der Bergrippe, die wir
uns gestern als geeignete Aufstiegroute ausersehen hatten, und begannen nun keuchend
über festen Fels und losen Schutt hinweg der steilen Erhebung des Kammes zum Eis
hinan zu folgen. Alle 10 Minuten mußten wir jedoch ein paar -Augenblicke stehen-
bleiben, um den Lungen und dem Herzschlag eine kurze Beruhigung zu gönnen,
denn wir befanden uns längst über Montblanc-Höhe, und die zunehmende Luft-
dünne machte sich allmählich fühlbar. 8 Uhr 15 Minuten hatten wir über Schotter und
Blöcke hinweg eine Höhe von 5200 in erreicht und ruhten sitzend eine halbe Stunde lang.
Ein Schluck des mit Zitronensäure versetzten Schneewassers netzte den in der
überaus trockenen Luft schmerzhaft gewordenen Gaumeu; Appetit hatte ich uicht
im mindesten. Den Blick zurückwendend, erkannten wir, daß wir die Höhe des im
vollen Sonnenlicht rotbraun herüberleuchtenden Mawensi bereits überstiegen hatten.
Wie Maulwurfshaufen lagen die zentralen Hügel des Sattelplateaus unter uns in
der Tiefe, zu welcher von Süden her langsam Nebel wallten. Uber der Zone des
Urwaldes drängte sich eine dichte, silbergraue Wolkenmasse, während weit draußen
15. Zum Gipfel des Kibo.
133
über der Ebene einzelne Kumuluswolken in der dunstigen Atmosphäre schwammen,
vom Widerschein des ziegelroten Steppenbodens an der Unterseite rötlich gefärbt.
Das Unterland selbst aber war im Schleier der aufsteigenden Wasserdämpfe nur in
undeutlichen Konturen erkennbar. Dagegen blinkte uud blitzte über uns der Eishelm
des Kibo in scheinbar greisbarer Nähe.
Weiter kletternd, trafen wir kurz vor 9 Uhr an einen Absturz zur Linken, der uns
einen großartigen Niederblick in das benachbarte, an 900 m tiefe Felstal eröffnete,
und folgten seinem Rand, bis wir endlich um 9 Uhr 50 Minuten an der unteren Grenze
des geschlossenen Kibo-Eises in 5480m Höhe anlangten.
Der Fels setzt an dieser Stelle nicht in die sonst fast allerwärts an der Eisgrenze
sichtbaren hellblauen Mauern und Wände von 20 bis 30 in Höhe ab, sondern geht
in etwa 20 in Breite ganz allmählich zur Eiskuppe über. Diese aber steigt sofort
unter 35° Neigung empor, so daß ihr ohne Eispickel absolut nicht beizukommen ist.
Daß die Besteigung des Kibo von hier aus unternommen werden könne, war nun
keiue Frage mehr; daß aber weiter oben kein nnbezwingliches Hindernis auftreten
würde, und daß unsere Kräfte ausdauern würden, war keineswegs fraglos. Es ist
ein großer Unterschied, ob man zu einer solchen Hochgebirgstour von einem Alpen-
Hotel auszieht, oder von einem kleinen Zelt ausgeht, nachdem man vorher einen zwei-
wöchigen Gewaltmarsch durch ostafrikanische Steppenwildnisse gemacht hat; ob man
mit Brot, Schinken, Eiern und Wein verproviantiert ist, oder ob man nur schlechtes
Dörrfleisch, kalten Reis und Zitronensänre mit sich führen kann. Von letzter
Proviantart versuchten wir mehrmals etwas zu uns zu nehmen, aber die Appetit-
losigkeit gebot rasch Einhalt.
So suchten wir bald die Schneebrillen hervor, zogen den Schleier über das Ge-
sicht und banden uns das Gletscherseil um den Leib. Herr Purtscheller schnürte sich
außerdem noch seine Steigeisen an die Füße, während ich mich auf meine gut ver-
nagelten und verklammerten Schuhe verlassen mußte. Um -^-11 Uhr begann mit
einem ermunternden „Los!" die schwierige Arbeit des Stnfenhauens. In dem glas-
harten, im Bruch wasserhell glänzenden Eis erforderte jede Stufe an zwanzig Pickel-
hiebe. Langsam ging es an der glatten Wand aufwärts, anfänglich wegen ihrer
fürchterlichen Steilheit schräg nach rechts hinauf, dann gerade auf den Gipfel zu.
Hier aber senkt sich das Eis in eine breite Mulde ein, welche weiter bergab in jenes
Steiltal ausläuft, das wir am Morgen traverfiert hatten, und legte sich eine so be-
drohliche Reihe von Schründen und Klüften vor unseren Weg, daß wir befürchteten,
von unferm Ziel abgeschnitten zu sein. Purtscheller versuchte die alten Schneebrücken
und Eisstege mit dem Pickel; sie hielten, und nach vorsichtigen: Darübergleiten standen
wir 12 Uhr 20 Minuten unter der letzten steileren Erhebung des Eishanges in 5700 in
Höhe. Hier benannte ich in dankbarer Erinnerung an einen verehrten Freund den
überschrittenen ersten Gletscher des Kilimandscharo „Ratzel-Gletscher". Dann wurde
sitzend gerastet und wieder ein Eßversnch gemacht, der diesmal besser gelang.
Die Wölbung der Eiskuppe, welche vom Plateau aus als die höchste erscheint,
hatten wir nun unter uns; vom Tiefland mit seinem Wolkenmeer war nichts mehr
zu sehen. Ich spreche immer nur von „Eis", weil der Kibo in diesen Tagen gar keinen
Schnee hatte. Was von unten als eine weißglänzende Schneedecke erschienen war,
ist die von Wind und Sonne zersetzte Oberfläche des Eismantels, der, durchschnittlich
60—70 in dick, als eiue kompakte Masse den Felshängen des alten Vulkans aufliegt
und überall echten Gletschercharakter annimmt, wo er in Bodensenkuugeu sich zungen-
förmig talwärts erstreckt. Obwohl die Temperatur nur wenig über 0° C schwankte,
134
B. Zur Länderkunde.
wirkte doch der Sonnenreflex, der in dem geringen Wafserdamps der dünnen Luft-
schichten nur wenig abgeschwächt wird, vom Eis durch Brille und Schleier so schmerz-
Haft intensiv hindurch, daß sich uns später die Haut vou Hals und Gesicht ablöste und
meine Augen tagelang der dunkelblauen Schutzbrille bedurften.
► ■ Das Erscheinen einiger kleiner Nebelwölkchen in unserer Höhe schreckte uns auf.
Beim Weitersteigen empfanden wir aber die Atemnot so stark, daß wir alle 50 Schritt
ein paar Sekunden stehenbleiben mußten, um weit vornübergebeugt nach Lust zu
röcheln. Der Sauerstossgehalt der Luft beträgt nach den Beobachtungen anderer
in 5800 m Höhe nur 48 Prozent, der Feuchtigkeitsgehalt sogar nur 15 Prozent von
jenem im Meeresniveau. Kein Wunder, daß uusere Lungen so schwer arbeiteten;
Sauerstoff- und Feuchtigkeitsmangel, übergroße körperliche Anstrengung und nament-
lich die hochgradige psychische Spaunuug vereinigten sich, um den Organismus zu
erschöpfen.
Die Eisobersläche wird mm zusehends zerfressener. Mehr und mehr nimmt
sie jene Beschaffenheit an, wie sie Dr. Güßseldt vom Aconcagua in Chile als „nieve
penitente" beschreibt. In Rillen und Furchen, in Schneiden und Spitzen bis zu
2 m Tiefe verwittert, bietet das Eisfeld dem steigenden Fuß Hindernisse dar wie ein
Karrenfeld. Da wir oft bis an die Brust einbrachen, nahmen unsere Kräfte in be-
sorgniserregender Schnelligkeit ab. Und immer noch dehnte sich die Wand unab-
sehbar, und der oberste Eisgrat wollte nicht näherkommen. „Vorwärts!" rief ich
zur Selbstaueiserung aus, „der Berg muß doch einmal ein Ende haben!" ii
Endlich, gegen 2 Uhr, näherten wir uns dem höchsten Rand. Noch ein halbes
Hundert mühevoller Schritte in äußerst gespannter Erwartung, da tat sich vor uns
die Erde auf, das Geheimuis des Kibo lag entschleiert vor uns: den ganzen oberen
Kibo einnehmend öffnete sich in jähen Abstürzen ein riesiger Krater.
Diese längst erhoffte uud mit allen Kräften erstrebte Entdeckung war mit so
elementarer Plötzlichkeit eingetreten, daß sie tief erschütternd auf mich wirkte. Ich
bedurfte der Sammlung. Wir setzten uns an: Rand des Ringwalles auf das Eis
nieder und ließen den Blick über deu Kraterkessel, seine Eismassen, seinen Auswurfs-
kegel, seine Umwallung schweifen. Da war es aber auch sofort klar, daß unser Punkt
(5870 m) nicht der höchste war, sondern daß die höchste Erhebung des Kibo links von
uns, auf der Südseite des Kraterrandes, lag, wo drei Felsspitzen aus dem nach Süden
abfallenden Eismantel noch einige Meter hoch hervorragen. Die Marschentfernung
bis dorthin schätzten wir auf \\ Stunden. Dazu aber reichten unsere Kräfte nicht
mehr hin; wir hätten denn riskieren wollen, am Endziel ohne jeglichen Schutz gegen
die Nachtkälte zu biwakieren, was uns sehr wahrscheinlich verhängnisvoll geworden
wäre. Wir hatten eine elsstündige, außerordentlich anstrengende Steigarbeit auf
unbekanntem Terrain zwischen ruud 4400 und 5900 m hinter uns und mußten für
den Abstieg noch mit dem Nebel rechnen, der nun über die Eiswände heraufzuwallen
begann.
In der Frage „umkehren oder biwakieren" war schließlich der Entschluß ent-
scheidend, die Besteigung in drei Tagen zu wiederholen und dann die höchste Spitze
zu forcieren. Vorläufig durften wir uns mit den Erfolgen der ersten Besteigung
zufriedengeben: die von vielen Seiten angezweifelte Existenz eines Kraters auf
dem Kibogipfel war nachgewiesen; über seine räumlichen Verhältnisse, seine Eis-
und Felsbildungen, seinen Auswurfskegel hatten wir Aufschluß gewonnen; das Wesen
des Kibo-Eismantels war erkannt; der Weg zum Oberrand des Berges war gefunden,
die Höhe von 5870in erklommen. .......
16. Ruanda.
135
16. Ruanda.
Von Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg. („Ins innerste Afrika",
Leipzig 1909, Klinkhardt & Biermann.)
Der Anfang des Monats August führte uns endlich in das Sagenland Ruanda.
Seit Wochen hatten wir diesem Erlebnis mit Spannung entgegengesehen.
Ruanda ist wohl das interessanteste Land des dentsch-ostasrikanischen Schutz-
gebietes und ganz Zentralafrikas überhaupt, wohin es nach seiner ethnographischen
und geographischen Lage gehört. Besonders interessant auch deshalb, weil es eins
der letzten Negerreiche ist, das noch in absoluter Autorität vou einem souveränen
Sultan beherrscht wird und zur deutschen Oberhoheit in nur sehr loser und bedingter
Abhängigkeit steht. Dabei ein Land, „wo Milch und Honig fließt", wo Vieh- und
Bienenzucht blüht und der kultivierte Boden reiche Erträge bringt. Ein Bergland,
dicht bewohnt, von hoher landschaftlicher Schönheit, mit unvergleichlich frischen: und
gesundem Klima. Ein Gebiet mit fruchtbarem Boden und vielen, nie versiegenden
Wasserläufen, das dem weißen Ansiedler die glänzendsten Aussichten eröffnet.
Die erste Kunde, die wir aus Ruanda erhielten, verdanken wir dem Bericht des
früheren Gouverueurs Deutsch-Ostafrikas, Grafen von Götzen, jetzigem preußischen
Gesandten in Hamburgs. Seitdem Graf Götzen im Jahre 1894 auf seinem Zug zum
Kiwu hier durchkam, hat sich, wie es scheint, nur weniges verändert. Bloß der nn-
freundliche Charakter der Bevölkerung ist unter dem ständig weiter um sich greifen-
den Europäereiufluß einer ruhigeren Haltung gewichen. Später erhielten wir dann
genaue Nachrichten über dies merkwürdige Land von Dr. Kandt, der seine Erlebnisse
mit unvergleichlichem Erzählertalent in seinem bekannten, trefflichen Werke „Caput
Nili" niedergelegt hat.
Kandt gilt mit Recht als einer der besten Kenner Ruandas. Zwei kleine Be-
sitznngen, Kagira am Mashiga-Bach und Bergfrieden am Südende des Kiwu, legen
von seiner Liebe für diesen Gebietsstrich Zeugnis ab. Neben ihn stellt sich würdig
die Persönlichkeit des Hauptmanns von Grawert, der in zehnjähriger Tätigkeit die
Residentur geführt hat, bis die Trennung von Urnndi und Ruanda eine Neu-
eiuteiluug in der Verwaltung erforderte. Grawert hat mit diplomatischem Geschick
und großer Umsicht sein schwieriges Amt verwaltet und es meisterlich verstanden, die
anfangs renitente Bevölkerung allmählich und unmerklich der deutschen Herrschaft
näherzubringen.
Ruanda ist neben Urnndi wohl das letzte Sultauat oder „Königreich" Zentral-
afrikas,das heute noch, wie vor Jahrhunderten, von einem Fürsten in unumschränkter
Autokratie beherrscht wird. Hier gelten noch die Grundsätze von ehedem. Ein Wille
regiert, und Nebensultane werden nicht geduldet.
Die Verwaltuug Ruandas weicht in ihrer äußeren Betätigung von der des
Bukoba-Bezirkes sehr erheblich ab. Wir haben gesehen, daß der Bnkoba-Bezirk eine
große Anzahl mehr oder minder gleichberechtigter Sultane beherbergt. Da für die
Verwaltung Zentralisation erwünscht ist, eine geringere Zahl von Sultanen (im Bu-
koba-Bezirk „Mukama"^ genannt) sich leichter beaufsichtigen und in der Hand behalten
läßt, so ist der dortige Resident bestrebt, allmählich, sei es durch Erbgang oder Vertrag,
1 Graf Götzen f Dez. 1910. [H.]
2 Mukama = Fürst.
136
B. Zur Länderkunde.
ihre Zahl zu verringern. Die vorhandenen Sultane beugen sich willig unter die Ober-
Hoheit der Regierung und rufen häufig, selbst bei Kleinigkeiten, die Entscheidung des
Residenten an. Durch seine Hand gehen alle persönlichen Angelegenheiten der Snl-
tane; kenne ich doch einen Fall, in dem der Ankauf eines Sultansesels durch einen
Weißen vom Residenten dem Sultan gegenüber scharf gerügt wurde, da seine Er-
lanbnis hierzu vorher nicht eingeholt worden war. — Die niedere Gerichtsbarkeit
liegt bei den Sultanen, Todesurteile uud andere schwere Strafen werden aber vom
Residenten verhäugt, dem natürlich auch freisteht, in leichteren Fällen einzugreifen.
Anders in Ruanda bzw. Urnndi, von denen uns hier nur ersteres Land inter-
essiert. Hier fand man deutscherseits fast ein Jahrzehnt nach Gründung Bukobas viel
unberührtere, viel dichter bevölkerte Gegenden vor, regiert von einen: Sultan, der
Herrscher über etwa 1^ Millionen Menschen ist. Einen so mächtigen Herrscher, der
bis dahin sein ausgedehntes Reich nach fest eingewurzelten Sitten und in absoluter
Autokratie regiert hatte, nun plötzlich zu zwingen, nichts mehr ohne Erlaubnis des
fremden Eroberers, der europäischen Residenten, zu unternehmen, erschien für jeden,
der mit afrikanischen Verhältnissen vertraut ist, unmöglich. Er hätte sich niemals
freiwillig dem neuen Regime unterworfen. Blutige Kämpfe, die eine große Zahl
Menschenleben gekostet hätten, wären die unausbleibliche Folge gewesen. Auch hätte
die plötzliche Veränderung der bestehenden Verhältnisse schwere pekuniäre Opfer ge-
fordert, da das Gouvernement genötigt gewesen wäre, an Stelle der Sultansorgane
eine bei der großen Kopfzahl der Bevölkerung notwendige entsprechende Anzahl
weißer Beamten zu setzen. Da diese Maßnahme sich als unausführbar heraus-
gestellt hätte, so wäre völlige Anarchie die Folge gewesen. Man ließ daher dem
Lande seine bewährte Organisation und dem Sultan die volle Gerichtsbarkeit über
die Stammesgenossen unter Aufsicht des Residenten, der Grausamkeiten nach Mög-
lichkeit verhindert. Mit einem Wort, die Regierung erkeunt den Sultan nicht als
Landes-, wohl aber als Stammesherrn an. Angehörige nicht in Ruanda ange-
sessener Stämme unterstehen deshalb auch nicht der Sultansgerichtsbarkeit, sondern
der des Residenten.
Der Grundgedanke ist aber bei allen Residenturen der gleiche. Man will den
Sultan und die maßgebenden Persönlichkeiten stärken und reich machen, um sie durch
Anerkennung uud Gewährung der ihnen aus ihrer Stellung erwachsenden Einnahmen
und Ehrenrechte materiell so stark am Fortbestehen der deutschen Herrschaft zu inter-
efsieren, daß Aufstandsgelüste nicht aufkommen können, da sich ihre Lage dann durch
Fortfall der jetzt sicheren, festen Einnahmen nur verschlechtern könnte. Daneben
will man durch stete Beaufsichtigung und Leituug des Sultans uud Ausnutzung seiner
Gewalt zivilisatorisch wirken. So soll allmählich, ihm selbst und der Bevölkerung
fast unmerklich, der Sultan nur ausführendes Organ des Residenten werden.
Hieraus erklärt sich die scheinbare Verletzung des so gern zitierten Grundsatzes:
divide et impera; scheinbar nur, denn der Resident wie der Sultan spielen die ver-
schiedenen Unterhäuptlinge gegeneinander aus uud haben alle Vorteile, die eine
straffe Zentralisation gewährt. Das erklärt auch, was von Uneingeweihten stets als
Fehler bezeichnet wird, daß der Resident den Sultan im eigensten Interesse gegen
etwa rebellisch werdende Unterhäuptlinge schützt und nicht etwa diese gegen den
Sultan unterstützt.
Ein Umstand ferner, der dm Residenten in Bnkoba seine Aufgabe wesentlich
erleichtert, ist, daß durch den Dampferverkehr auf den: See und den infolge der Er-
öffnnng der Uganda-Bahn eingetretenen wirtschaftlichen Aufschwung dort den Leuten
16. Ruanda.
137
tagtäglich die Macht der Europäer und der Nutzen ihrer Freundschaft vor Augen
geführt wird, während in Ruanda noch auf Jahre hinaus mit derartigen Eindrücken
nicht zu rechnen ist.
Der Respekt vor dem „Mann", wie der offizielle Titel des Sultans heißt, ist aber
ein gewaltiger. Selten nur wird es jemand wagen, sich gegen seinen Willen auf-
zulehnen, und das mit gutem Grunde, denn der Sultan ist Besitzer des Landes mit
allem Inventar, mit den Shamben und allen Rind- und Kleinviehherden. Tie
Nutznießung kommt zwar der Bevölkerung zugute, der Sultan ist aber jederzeit be-
rechtigt, sein Eigentum nach Belieben von seinen Untertanen zurückzufordern.
Die Bevölkerung des Landes setzt sich aus drei großen Klassen zusammen, den
Watnssi, den Mahutu und dem kleinen Volk der Batwa, das hauptsächlich in den
Bambuswäldern von Bugoie, in den Sümpfen am Bolero-See und auf der Insel
Kwidschwi des Kiwn heimisch ist.
Die Urbevölkerung bilden die Mahutu, ein ackerbautreibender Bautu-Stamm,
der, man könnte sagen, die wirtschaftliche Erdausnntzuug des Landes besorgt. Ein
mittelgroßer Menschenschlag, dessen unschöne Formen harte Arbeit verraten und der
sich geduldig in völliger Knechtschaft der Ruanda beherrschenden, spärer eingewander-
ten Rasse der Matussi beugt.
Tie Einwanderung der Matussi hängt zweifellos mit der großen Völkerbeweguug
zusammen, die Ostafrika den Stamm der Maffai gebracht hat. Dieselben Argumente,
die Merker1 bewogen haben, die Massai als einst von Norden her, aus Ägypten oder
gar Arabien eingewandert zu erklären, werden wohl auch auf die Matussi Anwendung
finden können. Mir sinden in der Tat viele verwandte Züge bei beiden Völker-
stammen, die hier aufzuzählen zu weit führen würde. Die Matussi sind ein hoch-
gewachsener Stamm von geradezu idealem Körperbau. Längen von 1,80 in, 2,00 rn,
ja sogar 2,20 ni sind keine Seltenheiten, durch die die Gestalt aber keine Einbuße er-
leidet. Während die Schultern meist krästig gebaut sind, zeigt die Taille oft eine fast
beängstigende Dünne. Tie Hände sind vornehm und überaus fein gebaut, die Hand-
gelenke von fast weiblicher Zierlichkeit. Wie bei den orientalischen Völkerschaften
finden wir auch hier den graziösen, lässigstolzen Gang, und an den hohen Norden
Afrikas erinnert auch der bronzesarbeue Ton der Haut, der neben der dunklen häufiger
zu finden ist. Überaus charakteristisch ist der Kopf. Unverkennbare Merkmale des
fremden Einschlages verraten die hohe Stirn, der Schwung der Nase, das edle Oval
des Gesichtes.
Unter dem Herrscher, der dem alten Matussi-Geschlecht der Bega^ entstammt,
verwaltet eine Reihe Unterhäuptlinge (Matuales), ebenfalls Matussi oder Mahima,
die „Interessen" des Landes als Vorsteher großer Distrikte. Häufige Besprechungen
mit dem „Mami" bedingen manchen Gang zu seiner Residenz, und es scheinen bei
solchen Gelegenheiten stets größere Quantitäten von „Nsoga", wie das aus Bananen
mit gemälztem roten Sorghunt durchsetzte Gebräu auf Kinjaruanda heißt, verbraucht
zu werden, um die Klärung schwieriger Fragen und Beschlußfasfungen herbeizuführen.
Das Gehöft des Sultans mag dann Schauplatz mancher wüster Orgien sein, denn
Lärm und Trommelschlag ist oft die ganze Nacht hindurch bemerkbar.
Wie der Herrscher, so entstammen die Watnales einzelnen großen Familienver-
bänden oder Elans. Diese Verbände besitzen Grund und Boden, zahlen dem Sultan
_ 1 Hauptmann Merker (f) hat in seinem sehr interessanten und lesenswerten Buche
„Die Masai" den semitischen Rassencharakter der Massai nachzuweisen gesucht. [H.]
" Erwähnt sei, daß ein Stamm namens Bedja in Nubien heimisch ist.
138
B. Zur Länderkunde.
Steuern, üben vor allem Blutrache und besitzen ein Totem, ein Verehrungsobjekt,
das meist ein Tier oder eine Pflanze ist.
Die Blutrache ist nach Czekauowski^ der eigeutliche Faktor, der deu Verband
zusammenhält. Mit ihrer Beseitigung fällt der „Clan" zusammen. In Gebieteu,
wo die Clans gemischt untereinander wohnen, die Verbandsmitglieder sich also nicht,
ohne Aussehen zu erregeu, zusammenrotten können, wird die Blutrache meist in Ge-
stalt eines Geheimmordes ausgeübt. Dort aber, wo die einzelnen Clans unter ihrem
Senior getrennt voneinander wohnen, ninunt sie oftmals den Charakter eines Krieges
an. Eine gewisse Anzahl solcher „Clans" vereinigt sich nach Czekanowskis Uuterfu-
chuugen zu einem Stamm, der meist einen gemeinsamen Namen hat und durch eiue
unter seinen Mitgliedern allgemein verstandene Sprache charakterisiert ist, der aber
einen sehr verschiedenen Grad von Solidaritätsgefühl aufweist. Während zum Bei-
spiel Czekauowski dieses in sehr ausgesprochenem Maße später bei deu Azaude saud,
waren sich andere Stämme, wie die Baknmn-Babira, ihres Zusammenhanges kaum
bewußt. Czekanowski konstatierte, daß die Zahl der Clans, ans der sich ein Stamm
zusammensetzt, zwischen 12 (bei den Bakondjo) und 70 (z. B. bei den Banjoro, die mit
den Waujaruauda eugverwaudt sind) schwanken kann.
Jeder Clan verehrt, wie erwähnt, ein Totem, das auf Kiujoro „Umnzimn" heißt.
Das Totem, weun es ein Tier ist, zu töten oder zu essen, ist verboten. Dieses Eß-
verbot wird „Hmnzirn" genannt. Es steht in engem Zusammenhange mit dm weit-
verbreiteten Glauben an eine Seeleuwauderuug, denu man glaubt, daß der Geist
verstorbener Verwandter im Verehrungsobjekt wohnt. Die Unsicherheit, nicht zu
wissen, welcher Verstorbene in dem Einzelobjekt der Totemsgattung, das man vor
sich hat, steckt, ließ es gerateuer erscheinen, dasselbe in Frieden zu lassen. Aus dieser
Vorsicht heraus entwickelte sich offenbar mit der Zeit das Verbot.
In Ruanda herrscht der Glaube vor, daß der Geist der verstorbenen Herrscher in
den Leoparden fahre, die ihr Volk als solche dann plagen.
Nachstehend einige Verbandsnamen der Wanjaruanda und deren Totem:
Der verbreiterte und gefürchtetste Clan ist der der Bega; sie haben die Kröte
als „Umuzimu". Ein anderer Familienverband, die Wanjiginga, verehren den Kronen-
kranich, die Bagessera die Bachstelze.
Weiterhin finden wir den Clan der Wankono, deren Totem, wie ich hörte, das
Schaf und die Ziege sind. Der Bakora-Umuzimu ist das Chamäleon, die Wasinga
halten eiue gewisse Art Rinder mit schmutzigbraun gemustertem Fell als heilig, die
Batwa im Bugoie-Walde den Impnndu, den Menschenaffen, usw.
Der höheren Kultur, die wir bei den Watussi finden, kommen die klimatischen
Verhältnisse zu Hilfe. Diese siud für ein äquatoriales Laud geradezu ideale. Die
durchschnittliche Höhenlage von etwa 1600 rn schließt wirkliche Hitze aus. Die Tem-
peratur gleicht vielmehr einem warmen Sommertage bei uns. Abends und während
der Nacht tritt eine erfrischende Kühle ein, die aus den Schlaf einen wohltuenden
Einfluß ausübt. Fiebererscheiuuugen gehören, da der die Malaria übertragende
Moskito (Anopheles) fast ganz fehlt, zu den Seltenheiten. Man findet wohl ver-
einzelt Malariaparasiten im Blute der Ruanda-Bewohner, doch dürften diese meist
aus weniger gesunden Gegenden, wo der Anopheles vorkommt, eingeschleppt sein.
Auch nach Ravens Untersuchungen scheint die Malaria in Ruauda im Verhältnis zur
Bevölkerungsdichte keine große Rolle zu spielen. Die dem Menschen und Vieh ver-
1 Wissenschaftlicher Begleiter des Herzogs Adolf Friedrich. [H.]
16. Ruanda.
139
Verblichen Tsetsefliegen fehlen ganz, und dies sichert diese Gegend vorläufig auch vor
der verheerenden Schlafkrankheit, deren Überträgerin bekanntlich eine Tsetsefliege,
die Gleina palpalis, ist.
Diese günstigen klimatischen Verhältnisse werden von den Watnssi uach Kräften
ausgenutzt, denn das Land besitzt einen unglaublichen Reichtum an Vieh, dessen Zucht
sich dieses Hirteuvolk besonders widmet. Ungeheure Herden des großhörnigen Rindes
und des Kleinviehs sieht man täglich ans den Berglehnen weiden, für deren Nahrung
durch ständiges Abbrennen des trockenen Grases gesorgt wird. Die auf diesen Ab-
brandflächen hervorsprießenden jungen Triebe bilden eine besondere Delikatesse. Die
Viehzucht und die landwirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Laudes überhaupt wird
erleichtert durch eine außerordentliche Anzahl kleiuer, zum größten Teil auch in der
Trockenzeit nicht versiegender kühler Masserläufe.
Aus allem diesem ergibt sich, daß Ruanda iu seiuem weitaus größten Teile in
hervorragender Weise zur Besiedlung durch Weiße geeignet erscheint, daß hier Viehzucht
iu großem Stile und auch Ackerbau lohnend getrieben werden könnte; denn die Qualität
des Viehes ist ebenso vorzüglich wie seine Milch. Und da auch die Beschaffenheit des
Erdbodens nichts zu wünschen übrigläßt, so steht es fest, daß hierein ein ganz neues,
großes Absatzgebiet geschaffen werden könnte. — Dies Gesamtterritorium ist aber
dem Gouvernement ein ganz unbekanntes, und es wäre daher sehr zu wünschen, daß
die Regierung oder das Gonvernenlent sich entschlösse, eine aus landwirtschaftlichen
Sachverständigen sich zusammensetzende Kommission zur Begutachtung dort hinauf-
zufeudeu. Da die Landschaft llrundi im Süden Ruandas ganz gleiche und Uha West-
lieh des Nord-Süd-Laufes des Malagarassi ganz ähnliche Verhältnisse aufweisen soll,
so würde auch die Vereisung dieser Länder durch die vorgeschlagene Kommission zu
empfehlen seiu. Dieser müßte aber auch ein Forstmann beigegeben werden, denn
die Waldfrage in Ruanda ist eine brennende.
Ruanda ist neben Uruudi wohl das am dichtesten bevölkerte Gebiet Zentral-
afrikas. Man schätzt seine Einwohnerzahl auf 1^ Millionen. Dieser mit der Zeit
zu solcher Höhe augewachseuen Bevölkerung hat aber naturgemäß der Waldbestand
allmählich weichen müssen, nm dem Ackerbau der Wahutu und der bedeutenden Vieh-
zucht der Watussi zum Weidegang Raum zu gebeu. Heute verfügt Ruanda nur noch
über zwei größere Waldkomplexe an seinen Grenzen, den Rngege-Wald am südöst-
lichen Kiwu und den Waldbestand der Landschaft Bugoie, die sich vom nördlichen
Teile des Sees nach Osten hin erstreckt; außerdem sieht man auf den Bergkuppen
hin und wieder alte Hainreste, die als geheiligt gelten und darum geschont werden.
Sie bezeichnen die Stätten alter Häuptlingssitze. Meist findet man da oben Pracht-
exemplare von Fikns. Kleinere Bestände von Acacia abyssinica, die aber recht
selten sind, dürften nach Mildbraed^ als Reste ursprünglicher Vegetation anzusehen
sein. Das große Zentrum des Laudes ist dagegen völlig kahl. Da aber die Frage
des Brennholzes eine der wichtigsten für die Besiedlung ist, so sollte man schon jetzt
sein Augenmerk aus diesen Punkt lenken, um durch Aufforstung geeignet erscheinender
Gebiete dem Mangel abzuhelfen und vorausblickeud kommenden Jahrzehnten vorzn-
arbeiten. Denn es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß wir mit den jetzt endlich
in schnellerem Tempo betriebenen Bahnbauten am Viktoria-See nicht haltmachen,
sondern durch Weiterführung des Schienenstranges dermaleinst die reichen Gebiets-
stricke westlich des Sees der Nutzbarmachung nicht entziehen werden.
1 Wissenschaftlicher Begleiter der Expedition. [H.]
140
B. Zur Länderkunde,
Je mehr wir uns der Residenz des Sultans näherten, desto größer wurde die
Zahl der der Expedition voranmarschierenden Watnssi. Wir wurden gewahr, daß
sich der Sultan zu einem großen Empfange vorbereitete. In allen Dörfern fehlten
die Watnales, und auf die Frage nach ihrem Aufenthalt nannte man Nianfa. Ver-
pflegnngskarawanen und Kleinviehherden, von Watnssi geführt, die man überall das
Land durchstreifen sah, hatten dasselbe Ziel. Der Sultan schien also alle Großen
seines Reiches in seine Residenz berufen zu haben. Viele näherten sich uns nnd
setzten sich an die Spitze unserer Karawane. Wenn sie sich dort trafen, so begrüßten
sie sich, indem einer den Arm leicht um die Taille des auderu legte oder den Ellbogen
des Bekannten erfaßte, was dieser erwiderte. In dieser Stellung pflegten sie dann
einige Augenblicke zu verharren: „Amasho", grüßte der eine, „ich wünsche dir Vieh";
„amasho ngnrre", „ich wünsche dir weibliches", antwortete der Angeredete. So
wuchs begreiflicherweise die Spannung in unserer Karawane mit jedem Tage, jeder
versprach sich höchst merkwürdige Erlebnisse nnd wünschte den Augenblick herbei,
den Mann von Angesicht zu seheu, dessen Name jeder in Ruanda kennt, dessen Wort
Evangelium bedeutet, außer dessen Willen es keinen anderen im weiten Reiche
Ruanda gibt.
Endlich näherten wir uns der hochgelegenen Residenz. Hunderte von Watnssi
schritten uns vorauf, die ohnehin stattliche Karawane noch vergrößernd. — Einige
Vornehme waren von einer Anzahl Trüger begleitet, die die Kleidung und Lebens-
bedürfnisse des „Herrn" in großen Körben aus dem Kopse trugen. Andere führten
gar eine Kuh mit, damit ihnen die tägliche frische Milch nicht fehle.
Kurz vor dem Einmarsch hatten wir die Freude, Hauptmann von Grawert,
welcher zu uuserem Empfang den weiten Weg aus Vlfumbura nicht gescheut und der
schon mehrere Tage beim Sultan kampiert hatte, zu begrüßen. Tausende von Men-
schen beobachteten von ferne, von den Kuppen der Hügel uud Anhöhen, in ruhiger
Haltung unseren Anmarsch; kein Lärmen, kein Schreien, kein Volksgedränge, wie
sonst üblich, begleitete den Einzug. Die Haltung der Bevölkerung unterschied sich auf
das vorteilhafteste von der ihrer Genossen an der Küste.
Tie gespannte Aufmerksamkeit, mit welcher die Bewohner von Niansa uns be-
obachteteu, hatte aber auch uoch einen besonderen Grund. Denn die ungeheuren
Mengen Lebensmittel, die großen Herden von Vieh, die als Geschenk des Sultaus
hier aufgestapelt lagen, nicht zum wenigsten die Anwesenheit des Residenten von
Grawert selbst, der in voller Uniform uns einholte, hatten die Vorstellung ganz be-
sonderer Machtentfaltung, die sich hauptsächlich um meine Person drehte, in der
Phantasie der Leute erweckt. Erzählungen unglaublichster Art schwirrten in der Luft
umher und bildeten das Gesprächsthema.
„Ter große Stier kommt mit seinen Kälbern", slog es von Kuppe zu Kuppe,
„er hat vier Arme und sechs Beine", womit weniger ein Porträt meiner Persönlich-
keit gezeichnet, als vielmehr, der Denkuugsart des Hirtenvolkes entsprechend, meine
Macht nnd Stärke augedeutet werden sollte.
Ans einem weiten Platz nnweit der Sultanshütte, der dank Hauptmann von
Grawerts Bemühuugen vortrefflich vorbereitet worden war, wurde diesmal das
Lager mit ganz besonderer Sorgfalt hergerichtet. Denn wir erwarteten den Besuch
des „Mami".
Ehe der Allmächtige erschien, wurden wir aber noch Zeugeu eiues höchst erheitern-
den Vorganges. Rings um das Lager standen große Mengen von Mahntu. Neu-
gierig hatten sie sich um das Lager geschart und starrten uns Ankömmlinge an. Aber
16. Ruanda.
141
offenbar [törten diese Volksmassen nach Msingas Ansicht die Wirkung seines Au-
Marsches, denn plötzlich erschienen zwei in rote Toga gehüllte Gestalten und wirbelten
in nicht mißzuverstehender Absicht ihre langen Stäbe imt den Kopf, starr auf das
Menschenknäuel blickend. Dann sausteu die Stäbe mit voller Gewalt krachend und
rücksichtslos in das Menschengewühl hinein. Aber der Volkshaufe kannte äugen-
scheinlich dies Manöver schon, denn in dem Augenblick, als die Stockträger schwnng-
holend ihre Waffe über die Köpfe erhoben, stob der ganze Haufe in wilder Flucht
davon, so daß nur noch einige Nachzügler gesoffen wurden. Augenblicklich war der
Platz leer. Einige wiederkehrende Neugierige wurden mit Steinwürfen verscheucht.
Gleich darauf ertönten Trommelwirbel aus dem Palast. Und nun erlebten wir
ein Schauspiel so voll echter Ursprünglichkeit und Originalität, wie man es nur noch
hier, fernab vom allgemeinen Pfad der Reisenden, erleben konnte. Paarweise, in
feierlicher Ruhe schritten die Prachtgestalten der Ruandafürsten mit ihren Söhnen
voran. Die Sänfte Msingas, die eben das Tor der Residenz verließ, folgte langsam.
Alle trugen Festtracht, dieselbe, in der Nanturu und Bnssifsi sich gezeigt hatten. Der
Körper ist nackt. Nur die Hüsten umschlingt ein schmaler, in zwei Querfalten gelegter
Schurz aus gegerbter Rindshaut, von der viele Schnüre aus Otter- oder Rinderfell
bis zu den mit vielen Drahtringen geschmückten Knöcheln herabhängen. Über den
Kopf läuft ein Haarkamm von Ohr zu Ohr, in dem eine dünne Perlenkette glänzt.
Um den Hals hängt bis auf die Brust herab eine Fülle gelber Schnüre aus Bananen-
bast, an denen Perlenschmuck verschiedenster Größe, Mitako genannt, befestigt ist.
Armbänder aus Kupferdraht und bunten Perlen umschließen die Handgelenke. So
bewegte sich der Zug gemessenen Schrittes in vornehmer Ruhe auf mein Zelt zu.
Die dem Sultan zustehende Wache der Expeditionstruppe, ein Schauschi und zwei
Mann, trat ins Gewehr. Des Sultans Sänfte, ein langer, einfacher Korb, dessen
Bambusstangen aus den Schultern von Batwaleuten ruhten, wurde vorsichtig herab-
gelassen und mit den deutschen Worten: „Guten Morgen, Euer Hoheit", reichte mir
Msiuga die Hand.
Die Gestalt des Sultans, die infolge seiner bequemen Lebensweise etwas rund-
liche Formen zeigt, überragt ebenfalls die Höhe von 2 m. Man sucht zuerst in seinem
Gesicht vergebens den Ausdruck seiner gepriesenen Intelligenz, auch stören ein Augen-
fehler und stark vorspringende Oberzähne den sonst sympathischen Eindruck. Aber
seine Fragen, die er neben mir im langen Stuhle sitzend an mich und die Umstehenden
richtete, streiften die verschiedensten Interessensphären und gaben Zeugnis von schar-
fem, logischem Denkvermögen.
Nachdem die Unterhaltung in der Sprache der Suaheli sich eine Zeitlang auf
den verschiedensten Gebieten bewegt hatte, bat mich Msinga, seine Geschenke über-
bringen zu dürfen. Dieser Augenblick bedeutete sür den Sultan, seine Freunde so-
wohl wie seine Gegner einen hochpolitischen Akt voll peinlichster Spannung, freilich,
ohne daß ich selbst etwas davon ahnte. Denn es hatte sich das Gerücht verbreitet,
daß die Ablehnung eines Teils der Geschenke meinerseits ein Zeichen sein würde,
daß ich dem Kronprätendenten, einem Verwandten Msingas, zum Throne verhelfen
und den jetzigen „Mann" stürzen wolle.
Eine ungeheure Volksmenge hatte sich daher hinter den Stühlen, auf denen wir
mit dem Sultan Platz genommen hatten, sowie diesen gegenüber aufgestellt, eine
Gasse bildend, und erwartete mit mühsam unterdrückter Erregung das Erscheinen der
1 Schausch — Unteroffizier.
142
B. Zur Länderkunde.
Liebesgaben. Und sie kamen; kamen in endlosen Reihen. Voran wandelte eine
Milchkuh, deren Kalb nebenher getragen wurde. Sie bedeutete die größte Ehrung,
die mir widerfahren konnte. Dieser folgten zehn Rinder mit kapitalen Hörnern als
Schlachtvieh und dann eine nicht endenwollende Herde von Ziegen. Trupp folgte
auf Trupp, immer ueue Mengen wälzten sich heran und überschwemmten das
Lager. Es folgte eine endlos lange Kette schwer tragender Wahntn, die Hunderte
von Lasten, bestehend aus Mehl, Milch und Honig, Butter, Bohnen und Bananen,
schleppten. Ihnen folgten andere Züge mit dem hier seltenen und daher besonders
wertvollen Brennholz. Alle diese Schätze wurden im Lager ausgestapelt, das Vieh
aber in eine Umzäunung getrieben und von einer Askaripatronille bewacht. Die
Dauer des Vorbeizuges währte fast eine Stunde. Selbst Grawert erklärte, trotz seines
langen Aufenthaltes hier niemals ein ähnlich imposantes Schauspiel erlebt zu haben.
Nachdem also der große Moment ohne die gefürchtete Ablehnung vorüberge-
gangen war, atmete man auf im Parteilager des Mfinga. Dann hatte der Besuch
seiu Ende erreicht, und nach feierlicher Verabschiedung bestieg der Herrscher wieder
seine Sänfte und schwebte davon. Ein Wald von 5000 Speeren folgte ihm. Ein
unvergeßlicher Eindruck.
17. Die physikalischen Grundbedingungen südwestafrikanischen
Lebens.
Von Leonhard Schultze. („H.Meyer, Das Deutsche Kolonialreich". II. Band.
Leipzig und Wien 1910, Bibliographisches Institut.)
......1. Das Relief Südwestafrikas läßt sich nur als Glied im Gesamt-
bau der südafrikanischen Landmassen verstehen. Die Wasserscheide des Kongo-
und des Sambesi-Systems, die ostwestlich über das Hochland von Angola läuft, bildet
die Nordgrenze Südafrikas; sie zieht westwärts in regellosem Zickzack zum Altan-
tischen Ozean; ostwärts mag die Grenze von den Mafnlwebergen (uuweit des äußer-
steu Südzipfels des Kongostaates) zur Mündung des Loangwe in den Sambesi uud
von da dem Unterlauf des Stromes entlang zum Judischen Ozean geführt werdeu.
In dieser Begrenzung stellt Südafrika ein annähernd dreieckiges Plateau, ein hoch
aufstrebendes Tafelland dar. Die beiden im Nadelkap konvergierenden Flanken steigen
steil aus dem Meer; die Oberfläche des Plateaus ist nicht eben: seine Randpartien
sind erhöht, das zentrale Gebiet beckensörmig eingesenkt.
a) Diese Rohform der Gesamtübersicht gliedert sich im einzelnen mannigfach.
Uber die Steilflanken führt der Aufstieg hier über Stufen uud Brüche Verhältnis-
mäßig wenig verworfener Schichten (Natal, Kassraria), dort über wirre Gebügs-
falten (Südkapland) hinweg; bald lagert sich ein ansehnliches Küstenflachland vor
(Portugiesisch-Ostafrika südlich des Sambesi), bald hebt sich das Land direkt aus dem
Meer (Cape point). Dem Aufstieg schließt sich das Hochgebiet an, in einzelne Hoch-
länder gegliedert, wechselnd breit, gegen die oberen Partien des Aufstiegs oft nur
willkürlich oder nach rein lokalen Gesichtspunkten abzugrenzen. Diese Hochländer,
die zu den höchsten Erhebungen ansteigen (Malutiberge im Basutolaud 3600 m),
treten uns bald als große endlose Hochflächen (so die des ehemaligen Oranje-Frei-
staats), bald in der charakteristischen Form des Tafelgebirges (Groß-Namaland und
17. Die physikalischen Grundbedingungen südwestafrikanischen Lebens. 143
nördlichstes Damaraland), bald in zerklüfteten Urgesteinsmassiven (südliches Herero-
land) entgegen. Sie alle aber sinken gegen ein weites Feld in ihrer Mitte ab, gegen
das Sandbecken, das in der Sprache der Betschnnnen die Kalachari genannt wird.
Um diese Riesensenke Zentralsüdafrikas bilden die eben genannten Hochgebiete einen
Kranz, den im Westen der Knnene und Orangestrom, im Osten der Limpopo und
Sambesi durchbrechen.
Deutsch-Südwestasrika stellt einen Ausschnitt des eben skizzierten südafrikanischen
Sockels dar, aber nur auf zwei Strecken sind seine Grenzen von der Natur selbst
gezogen: im Norden bezeichnet das Bett des Knnene (Nonrfe River), im Süden mit
tiefem Einschnitt das Oranjetal einen natürlichen Abschluß. Die Nordgrenze, im
portugiesisch - deutschen Grenzvertrag vom 30. Dezember 1886 festgelegt, folgt
dem Kunene nur bis zu den Katarakten, mit denen er südwestlich von Humbe die
Sierra Cauna durchbricht; läuft von da an dem Parallelkreis entlang ostwärts zum
Okawaugo, folgt ihm bis Andara (unterhalb von Libebe), das noch zur deutschen
Interessensphäre gehört, und führt dann in gerader Linie zu den Katima-Molilo-
Schnellen des Sambesi.
Die Südgrenze bildet das Nordufer des Oranje-Unterlaufes bis zum 20. Längen-
grad östlich von Greenwich.
Die Ostgrenze unseres Schutzgebietes (deutsch-englischer Grenzvertrag vom
1. Juli 1890) knüpft weder an Landschaftsmarken, noch an reale Wirtschaftsinteressen-
sphären an, sondern ist in den Jahren, da man Afrika zwischen die rivalisierenden
Nationen am Diplomatentisch aufteilte, mit Lineal und Winkelmaß schnurstracks durch
die Kalahari gezogen: vom Oranje zieht sie den 20. Längenkreis entlang bis zum
22. Parallelkreis; hier springt sie nach Osten bis zum 21. Längenkreis vor, nähert
sich, ihm nordwärts folgend, bis auf 35 ton Luftlinie dem Okawango, biegt dann
wiederum rechtwinklig nach Osten bis zu den Tschobesümpfen ab, deren Südrand
bis zum Sambesi begleitend.
So sind die Grenzen unseres Schutzgebietes weit genug gezogen, daß die Cha--
rakterzüge im Gesamtbau Südafrikas hier in Ausschnitten wiederzuerkennen sind.
Dem Bilde Südwestafrikas aber prägen Klima- und Reliefzonen, der Wechsel von
Völker-, Tier- und Vegetationsprovinzen so wechselvolle individuelle Züge ein, daß
eine weitere Gliederung in natürliche Landschaften, die hier zunächst nur kurz genannt
seien, sich ergibt. So grenzen klimatische Kräfte über dem Meere und dem nächst-
angrenzenden Festland eine Zone des Aufstiegs zum Hochgebiet als Wüste ab, den
Küstenstreifen der Namib; und ihr vorgelagert zeigen uns Inseln eine Tierwelt,
wie sie in dieser Eigenart der Ozean sonst nirgends an einer afrikanischen Küste nährt.
Im Hochgebiet hat das schwarzbraune Bantuvolk der Herero oder Viehdamara dem
Damaralande, das gelbhäutige Volk der Hottentotten dem Groß-Namalande
Namen und eingeborenen Wirtschaftscharakter gegeben. Fast unbekannt ist noch
das Kaokofeld mit seinen Volkstrümmern, die hier Zuflucht fanden. Im Ambo-
lande endlich, das noch immer der Erschließung harrt, ist uns ein fruchtbares Aus-
läufergebiet der Kalahari-Senke gegeben. Die Kalahari selbst führt uns am Ostrand
unseres Schutzgebietes aus der extremen Steppentrockenheit ihres Südens im Bon-
delzwartlande mit dem „Caprivizipsel" in die Fiebersümpfe ihres äußersten Nord-
ostens. Zwischen das Damaraland im Süden, das Kaokofeld im Westen und die Kala-
hari mit dem Ambolande im Osten und Norden ist eine Landschaft eingekeilt, die wir
der zahlreichen Einsturz- und Höhlenbildungen ihres Kalkbodens wegen das Karst-
feld Südwestafrikas nennen wollen.
144
B. Zur Länderkunde.
b) Über die Grenzen der genannten Landschaften hinweg bahnen sich nun, fast
ausschließlich in „Rivieren", d. h. periodisch abflutenden und trockenliegenden Rinn-
salen, die Wasser ihren Weg und gliedern Südwestafrika in drei Hanptentwässe-
rungsgebiete.
Ein Gebiet sui generis ist der Caprivizipfel, dessen Niederschläge vom Kwaudo
(Tschobe) direkt dem Sambesi, also dem Indischen Ozean, zugeführt werden.
Die ganze breite Ostzone Dentsch-Südwestafrikas aber stellt ein Feld abflußlos im
Sande sich verlierender Riviere dar: es sei kurz das Gebiet der Kalahari-Ver-
rieselnng genannt. Die Nordhälfte dieses Gebietes umfaßt im Ambolaude die
Zu- und Abflußrinnen der Etofapfanne, dann in weitem Umkreis von Grootfontein
die tief ins Land der Herero reichenden Zuflüsse zum Okawangostrom und Ngamisee
mit dem Omnramba Uamatako als der Hauptader, umfaßt endlich im Grenzgebiet
gegen das Namalaud die Betten des Epnkiro-Lutyahau und Eifeb, die dem Botletle
zustreben. Dieses ganze Rinnensystem der nördlichen Kalahari-Verrieselnng war
wohl einst dem Indischen Ozean angeschlossen. Heute freilich erreichen die Wasser-
laufe nur zuweilen und lokal auf dem Umweg durch den Sambesi die Küste: wenn
die Sommerregen im Hochland von Angola gefallen sind, dann strömt aus dem
Okawango nordostwärts im Selinda Wasser zu den Kwando-Sümpsen und in deren
Bahnen weiter zum Sambesi ab. Aber mag die Hochflut auch zuweilen, wie im Jahre
1899, kräftig südwärts über das Okawango-Sumpslaud selbst hinaus zum Ngami sich
ergießen, so füllt sie doch kaum je den See, wie zu Zeiten Andersons*, der mit dem
Boot von hier in die Okawango-Sümpfe fuhr. Und wenn auch das Wasser gelegentlich
über den Ngami hinaus so reißend im Botletle zum fernen Makarrikarribecken seinen
Weg findet, daß es Gut und Leben der überraschten Eingebornen gefährdet, so hat
es doch sein Grab in diesem großen Salzbecken, aus dem ihm dann die Sonnenglut
zu schneller Auferstehung uud Himmelfahrt verHilst. Es sprechen Anzeichen dafür,
daß das Makarrikarribecken einst Abfluß zum Sambesi und vom Epukiro Zufluß hatte.
Diesem großen Austrocknungsgebiete des südafrikanischen Innern gehört also der
ganze Nordosten Deutsch-Südwestafrikas an.
Den Südosten unserer Kolonie nimmt die andere Hälfte des Gebietes der Kala-
hariverriefelung ein: das System des Nosob und Anob, das Teile des Damara- sowohl
wie des Namalandes durchsetzt. Während im vorhergenannten nördlichen Ver-
rieselungsfeld die Riviere nach Osten dem Indischen Ozean zustrebten, sind die zuletzt-
genannten Rinnen in vorwiegend südwärts gerichtetem Verlauf einst dem Atlan-
tischen Meer tribntär gewesen. Der Molopo aber, der ihre Gewässer einst dem Oranje
zuführte, verliert sich heute iu der Trockuis des nördlichsten Kaplandes.
Die Riviere westlich des Molopo stellen in ihrer Gesamtheit ein drittes, tätigeres
Hauptentwässerungssystem Deutsch-Südwestafrikas dar, das Feld der wegsamen
Oranjeznflüfse, wie es kurz genannt sei. Seine größte Ader, der Große Fischfluß
mit dem Koankip als stärkstem Parallellauf, dräniert das Groß-Namaland von der
Windhuker Gegend ab südwärts in seiner ganzen Länge zwischen dem 16. und 18.
Längenkreis.
Der ganze Westen des Schutzgebietes endlich ist ein Feld direkten Abflusses
zum Atlantischen Ozean. Im Namaland ist dieser küstenparallele Landstreifen
schmal, im äußersten Süden nur etwa 190 km breit und derart trocken, daß auf der
Strecke zwischen der Oranjemündung und dem Wendekreis (angenähert) zu keiner
1 Engl. Forschungsreisender, der in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts in das Gebiet des Ngamisees und des Okawango vordrang [H.]
17. Die physikalischen Grundbedingungen südwestafrikanischen Lebens. 145
Jahreszeit Wasser oberirmsch die Namib passiert. Alte Betten mögen im Wilsten-
schntt vielleicht ausfindig zu machen sein, aber deutlich sind die Riviere des direkten
Abflusses zum Atlantischen Ozean nur in das Hereroland und Kaokofeld eingeschnitten.
Die beiden größten von ihnen, der Swakop und der Kuiseb, bilden zwischen Oranje
und Kunene die einzigen größeren Lebensadern. Sie führen uns hoch hinauf in die
Rivierheimat Südwestafrikas, in die Gebirge des Hererolandes, in die sich von allen
Richtungen her mit Ausnahme des Nordens die Endverzweigungen der Hauptwasser-
aderu zurückverfolgen lassen.
Der äußerste Norden des Schutzgebietes nimmt insofern eine isolierte Stellung
ein, als er einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Wassers nicht aus den Niederschlägen
des eigenen Gebietes, sondern aus dem Überschuß bezieht, den ihm der Kunene in
zahlreichen Abflußrinnen seines linken Ufers ans übervollem Bett in die südwärts
geneigte Ebene schickt.
c) Wenn wir die Hauptlaudschasten Deutsch-Südwestaftrikas durchwandern,
werden wir sehen, wie im einzelnen, von der Veränderung des Klimacharakters ab-
gesehen, für den Wechsel in der Reliefgestaltung des Bodens der geologische Aufbau
des Laudes verantwortlich ist. Wir stehen hier noch ganz im Anfang der Forschung.
Noch ist es unmöglich, das Alter der Gesteine Südwestafrikas in das System der uns
geläufigen Schichtenfolgen einzudatieren. Einstweilen strebt man mit Recht das nähere
Ziel an, unser Gebiet in die Formationen des benachbarten Südafrika einzugliedern.
Aber auch hier ist noch zu viel Dunkel, als daß eine generelle Übersicht möglich wäre;
wo wir klarer sehen, wird das bei der einzelnen Formation bemerkt werden.
Wichtiger als alle diese erdgeschichtlichen Streitsragen sind für das Verständnis
unseres Gebietes, als des Schauplatzes der Lebewesen von heute, die Faktoren,
die vor unseren Augen das Relief des Landes ausgestalten. Grundlegend ist die
Trockenheit und die aus ihr resultierende Vegetationsarmut des Laudes. Es fehlt also
dem Boden auf weite Strecken der Wolkenschleier sowohl als die lebendige Pflanzen-
decke, die ihu vor der erbarmungslosen Einstrahlung der steil herabscheinenden Sonne
schützen könnte. Der nächtlichen Ausstrahlung ist er ebenso schutzlos preisgegeben.
Die Kanteten, die der Meteorolog wahren muß, um einwandfreie Temperatur-
ablefungen zu erhalten, würden das Bild der großen Temperaturgegensätze von Tag
und Nacht in ihrer Wirkung auf das anstehende Gestein trüben: gerade die strahlende
Wärme hilft den Fels zermürben. Aus einem Himmel so kristallklar auf den Höhen
des Damarälandes, daß im grellen Tageslicht die Venus mit unbewaffnetem Auge
sichtbar ist, fallen die Sonnenstrahlen ungeschwächt auf den Fels; selbst das geschwnn-
gene Thermometer zeigte zwischen Karibik, und Okougava im September bei starkem
Westwind 42,9°, und in der Windstille der folgenden Nacht gefror das Wasser.
Zu dieser gesteinszerstörenden Wirkung der Temperaturgegensätze kommt, daß
die Niederschläge fast ausschließlich in Gewittern und in der heißen Jahreszeit nieder-
gehen, daß also der Gegensatz extremer Trockenheit und Hitze mit plötzlicher Be-
netzuug und Abkühlung im Regenguß oder Hagelschauer häufig genug unvermittelt
einsetzt. Bei dem geringen Verlust, den ihre Strahlen selbst bei schrägem Durchgang
durch die Atmosphäre erleiden, erwärmt die aufgehende Sonne sehr schnell das Ge-
stein, und schnell strahlt es am Abend die Waime wieder aus. Bald leise knisternd,
bald laut knallend birst es dann.
Der Schutt häuft fich, da die Regen bei weitem nicht ausreichen, ihn zu Tal zu
fördern, allenthalben an; oft ragt nur eine Spitze, Koppje, oder eine runde Kuppe,
Platte klip, aus den Trümmern.
Lerche, Erdkundl, Lesebuch. IQ
146
B. Zur Länderkunde,
Die Kraft der Wassermassen, die nach starkem Regen im Oberlauf der Riviere
gewaltiger mechanischer Leistungen fähig sind, im Lauf der Jahrzehnte bis 16 m
tiefe Strudellöcher in den harten Fels bohren, erlahmt in kleinen Riviereu schnell.
Als kotig-schlammige Masse wälzt sich die Flut heran und versiegt lange, ehe sie das
Meer erreicht. Größere Riviere, wie der Omaruru, ergießen ihr Wasser wohl all-
jährlich ins Meer; der Swakop schaltet mehrjährige Pausen ein, ehe er als stattlicher
Fluß zur Küste kommt. Vom Kuiseb wird dieses Ereignis aus den Jahren 1837,
1848, 1849, 1852, 1864, 1880, 1885 und 1893 berichtet.
Die starke Austrocknung macht es dem Rivierboden oft unmöglich, den plötzlich
hereinbrechenden Reichtum auszunutzen und sich genügend schnell vollzusaugeu:
nicht einmal einen Meter tief hatte sich der Sand im unteren Swakop an den Stellen
durchfeuchtet, über die das Wasser 69 Stunden geflossen war. Mit überwältigender
Vehemenz stürzt es zuweilen in seine Bahn. Der abkommende Swakop der Regen-
periode 1896/97 zertrümmerte 12 km vor der Mündung einen vollbeladenen Ochsen-
wagen. In einem Nebenrivier des Huab im Kaokofeld fanden bei Franzfontein am
18. Februar 1898 42 Pferde und 4 Mann den Tod. Daß Wasserläufe solcher Gewalt
im Oberlauf, wo sie iu enges Bett sich zwängen, tiefe Rinnen in die Landschaft graben,
würde kaum gesagt zu werden brauchen, wenn nicht der Anblick jahrelang trocken-
liegender Riviere den Gedanken an heute noch wirkende Erosionsarbeit unwillkürlich
zurückdrängte.
Für die Reliefbildung bedeutungslos, aber wirtschaftlich ungleich wertvoller
als die oberirdische Rivierflut ist das Wasser, das in der Tiefe des Bettes unter Sand
und Kies verborgen zum Meere sickert und in wechselnder Tiefe zu graben ist, wo es
nicht, vor einem Felsriegel gestaut, freiwillig zutage tritt.
. Direkter und zwingender als das Relief des Landes normiert
2. das Klima die Bedingungen südwestafrikanischen Lebens. Niemand ist im
Zweifel darüber, daß in Südwestafrika die^Grnndbedingungen alles pflanzlichen uud
tierischen Lebens und damit auch alle Fragen der Siedelung und der wirtschaftlichen
Erschließung des Landes peinlicher als in irgendeiner anderen deutschen Kolonie in
erster Linie von den wechselvollen Zuständen der Atmosphäre abhängen. Denn sie
entscheiden nirgends wieder in so großer Ausdehnung nicht bloß über Wohl und Wehe,
sondern ohne weiteres über Sein oder Nichtsein des Menschen in diesen Trocken-
ländern. Um so beklagenswerter ist es, daß ein gründliches Studium dieser Ver-
Hältnisse bis heute iu Südwestafrika hintangehalten worden ist. So nützliche Resul-
täte wir auch schon den Wetterauszeichnungen wissenschaftlich interessierter Laien
verdanken, so bedarf das Land doch eines weit ausgedehnteren und systematischer
geregelten Wetterdienstes. Wie in anderen Kolonien das Mikroskop im scheinbar so
abseits liegenden Studium der Urtierparasiten in Mücken, Fliegen und Zecken über
die Hauptfeiude tropisch-afrikanischer Kolonisierung, über Malaria, Schlafkrankheit
und Viehseuchen uns segensreich aufgeklärt hat, so wird mau hoffentlich bald einsehen,
was Barograph, Aneroid und Thermometer in sachkundiger Hand dem Lande leisten
können. Nicht daß wir wie dort den Gang der Natur selbst lenken wollten, — es wäre
schon reicher Gewinn, wenn wir hier lernten, uns überlegt in die Natur zu schicken:
wenn wir, statt auf blindes Probieren angewiesen zn sein, aus lückenlosen Tempe-
ratnr- und Regenbeobachtungsreihen die Aussichten für den Anbau bestimmter Kultur-
pflanzen klar herauslesen könnten, oder könnten wir uns über den mutmaßlichen
Ablauf der Regenzeit eines Jahres mit Hilfe von Barometerbeobachtungen aus den
vorhergehenden Monaten ein angenähertes Urteil im voraus bilden, oder ließe sich
17. Die physikalischen Grundbedingungen südwestafrikanischen Lebens. 147
eine Gesetzmäßigkeit in der Wiederkehr mehrere Jahre umfassender guter Regen-
Perioden, wenn auch nur als Wahrscheinlichkeitsrechnung, in unsere Wirtschaftspläne
einbeziehen; darauf haben Praktiker wie Theoretiker hingewiesen. Aber dazu fehlt
uns noch ganz die empirische Grundlage, und solange lückenlose Beobachtungsreihen
fehlen, ist eine Witterungsknnde Südwestafrikas nur in grobem Umriß zu entwerfen.
a) Die Temperaturen der unteren Luftschichten weichen in zwiefach ent-
gegengesetztem Sinn von den Wärmebeträgen ab, die ans der Stellung der Erde zur
Sonne für ein Land zwischen dem 17. und 29. südlichen Breitenkreis zu berechnen
sind. Im ganzen Schutzgebiet sind die Temperaturen des Südwinters (Juli) med-
riger, als man nach den steilen Einfallswinkeln der Sonnenstrahlen erwarten sollte.
Dasselbe gilt im Südsommer (Januar) für den ganzen Westen des Schutzgebietes.
Umgekehrt sind die östlichen, in die Kalahari übergehenden Landschaften wie die ge-
samten Ost- und Binnenländer Südafrikas sommerheißer, als es ihrer geographischen
Breite an sich entspricht. Diese sommerlich überhitzten Gebiete ragen aber nur in
so geringer Ausdehnung westwärts über die deutsche Grenze, daß sie den Gesamt-
charakter Deutsch-Südwestafrikas als eines Landes relativ herabgesetzter Tempe-
raturen („negative Anomalie") nicht nennenswert beeinträchtigen.
So kommt es, daß unser Schutzgebiet, obwohl es in denselben Breiten liegt wie
auf der Nordhalbkugel die Libysche und Nnbische Wüste, in seinen mittleren Jahres-
temperatnren doch nur mit nördlichen Mittelmeerländern zu vergleichen ist.
Die Ursachen dieser kolonisatorisch eminent bedeutsamen Herabminderung
der Luftwärme, die dem Nordländer dauernde Ansiedelung und Arbeitsfähigkeit
in tropennahem und tropischem Gebiet ermöglicht, sind zweierlei Art:
a) Die atlantische Seite Südafrikas wird von einer kühlen Meeresströmung
bespült, die, weit im Süden von der Westwindtrift abgezweigt, als Benguelaströ-
muug vom Kap der Guten Hoffnung nordwärts bis über die Kongomündung hinaus
die südafrikanische Westküste entlangstreicht. Klimatisch entscheidend ist weniger die
mittlere Eigentemperatur dieser Meeresströmung selbst als der Umstand, daß der
Südostpassatwind in einiger Entfernung von der Küste die oberflächlichen Wasser-
schichten der Benguelaströmuug vom Lande weg westwärts abtreibt. Zum Ersatz
steigt dann, wie an der Leeseite ozeanischer Inseln, längs der Küste aus der Tiefe
kaltes Wasser auf und bedingt einen bemerkenswerten Gegensatz der Meerestempe-
raturen in Küstennähe und Küstenferne: während z. B. in etwa 30 km Küstenabstand
die Benguelaströmung im Mai, in der Nähe des 27. Breitenkreises gemessen, 18° zeigt,
weist das Wasser unter sonst annähernd gleichen Umständen in unmittelbarer Küsten-
nähe im Durchschnitt noch nicht 12° auf; in südlicher und nördlicher als der heran-
gezogene Punkt gelegenen Strichen ist Entsprechendes beobachtet worden. Die süd-
westafrikanische Küste ist also von einer Zone kalten Auftriebwassers umgürtet mit
periodisch wechselnder Ausdehnung: im Südfrühling liegt die Nordgrenze des Kalt-
Wassergürtels nahe der Walfischbai, im Südwinter aber reicht sie bis St. Paolo de
Loanda im portugiesischen Gebiet.
Die kühlende Wirkung der Meeresströmung auf den ganzen Westen Südafrikas
findet in dem Verlauf der Isothermen charakteristischen Ausdruck. Diese Linien,
die Orte gleicher mittlerer Temperatur (einheitlich auf Meeresniveau reduziert)
miteinander verbinden, steigen besonders im Südsommer steil nach Norden an. Sie
zeigen damit, wie z. B. Gebiete im tropennahen Hererolande im Januar oder Fe-
bruar nur die Temperatur des tropenfernen mittleren Klein-Namalandes besitzen,
obgleich sie um zehn Breitengrade dem Äquator näher als dieses liegen.
10*
.148
B. Zur Länderkunvc,
b) Ein zweiter, die Temperatur des Schutzgebietes Herabmiuderuder Faktor
ist die Erhebung des Landes zu durchschnittlich 1300m Meereshöhe. Das beein-
flnßt nicht nur die Mittelwerte, sondern auch den täglichen Gaug der Temperaturen
Tagsüber sichert zwar die dünne Höhenluft dem Boden selbst uud alleu Organismen
auf ihm eiue intensive, durch keiue Wolke gehinderte Sonnenstrahlung; des Nachts
aber gehen die so gewonnenen Wärmewerte ebenso ungehindert aus der absorptions-
schwachen Luft iu deu Erdboden und in den Weltraum zurück. Die Luft ist dem-
entsprechend, soweit sie den Kontrastwirkungen der Tageswärme uud der Nacht-
kälte des Bodens unterliegt, großen Wärmeschwankungen mit jahreszeitlicher
und täglicher Periode unterworfen. Wir werden ihre Beträge bei Betrachtung der
einzelnen Landschaften kennen lernen, jetzt feien nnr knrz noch die Kräfte genannt,
die sie in bestimmte Grenzen schließen.
Ausgleichend ans die Temperatnrschwanknngen wirkt die Annäherung an
den Äquator, so daß im Ambolande die mittleren Jahresschwankuugeu, vou der
geringeren Meereshöhe abgesehen, schon beträchtlich schwächer als im Namalande sind.
Ausgleichend wirken ferner die Meere, die Südafrika von drei Seiten nmfluteu.
Sie geben nicht nur den Küstenländern eiu gleichmäßiges Seeklima, sondern lassen ihre
Wirkung auch weit ius Binnenland verspüren. Wollen wir dem Seeklima eiue
jährliche mittlere Schwankuugsbreite der Temperatur bis zu 15° zugestehen, so würde
unser ganzes Schutzgebiet mit Ausnahme des äußersten Ostens iu seiuem Bereich liegen.
Dieser Oststreifen unseres Schutzgebietes liegt iu der Übergangszone zu einem
ausgeprägten Landklima mit jährlichen mittleren Temperatnrschwanknngen vou
über 20°, wie sie in ganz Südafrika nur im Herzeu der Südkalahari ein zusammen-
hängendes Landgebiet zn beherrschen scheinen.
Die ungleiche Erwärmung des Festlandes einerseits, der nmgebenden Wasser-
massen anderseits, wie wir sie eben kennen gelernt haben, entscheidet auch über
b) Luftdruck und Winde im Bereich unseres Schutzgebietes. Im Süd-
winter (Juli) lagert über dem Kontinent, der sich zwar schnell erwärmt, aber auch
schnell und jetzt ergiebiger abkühlt, eiue verhältnismäßig kühle Atmosphäre mit ent-
sprechend hohem Lnstdrncki ein Lnftdrnck von 768 mm liegt im Jnli über der Hoch-
region Südafrikas, die im Bereich des Oranje-Oberlanfs und der Vaalzuslüsse liegt,
also das Basutolaud, einen Teil der ehemaligen Burenstaaten und das südöstliche
Betfchuauenland umfaßt. Uber den benachbarten Gebieten des Sndatlantischen
und Südindischen Ozeans dagegen, soweit sie außerhalb des Bereichs der Ausgleichs-
Wirkungen polarer und äquatorialer Temperaturunterschiede liegen, herrscht um diese
Zeit ein Luftdruck, der iu der Breite des Nadelkaps bis auf 764 mm heruntergeht.
Denn das Meer gibt die langsam aufgespeicherte Sommerwärme auch langsam ab,
so daß sich die überliegende Atmosphäre jetzt länger warm hält, als es die über dem
schneller erkaltenden Kontinent vermag; so wird also eine relativ wärmere Luft mit
entsprechend geringerein Druck im Südwinter über den Ozean geschichtet. Von den
Orten höheren Druckes sließt nun die Luft iu die niederen Druckes ab, und so ent-
stehen Winterwinde, die vom Land zum Meere wehen.
Im Südsommer (Januar) ist umgekehrt über dem ganzen Jnnem Afrikas,
nördlich bis fast in die Breite von Sansibar, der Luftdruck auf 756 mm gesunken; er
nimmt nach den Küsten hin zn und geht westwärts über dem Atlantischen Ozean in
ein Hochdruckgebiet mit 764 mm Barometerstand und ostwärts in ein gleichhohes,
aber ferneres über dem Indischen Ozean über. Aus diesen Feldern strömt die Lust
in Sommer-Seewinden in die verdünnte Atmosphäre über dem Kontinent ein.
17. Die physikalischen Grundbedingungen südwestafrikanischen Lebens. 149
So einfach auch auf diese Weise aus den großen jahreszeitlichen Luftdruckschwan-
knngen über Festland und Meer die herrschenden Winde sich konstruieren lassen, so
schwierig ist es bei dem Mangel methodischer Luftdruck- und Windbeobachtungen
für die südafrikanischen Einzellandschaften, also auch für unser Schutzgebiet, den
Kausalzusammenhang selbst nur der wichtigsten lebenbestimmenden atmosphärischen
Erscheinungen zu erkennen. Von Lolalwiuden abgesehen (heiße Föhne in der Namib,
kalte Talgehängewinde im Bergland), greift der große Südostpassat längs der West-
käste und die Ausbildung eigener Lustdruckminima über besonders erhitzten Regionen
(Namib), wie wir sehen werden, stark umgestaltend in das hier entworfene Gesamt-
wetterbild eiu.
Was wir aus spärlichen Beobachtungen Tatsächliches über die Hauptwinde
Südwestafrikas bis jetzt wissen, ist folgendes: Über dem Küstenstrich weht das
ganze Jahr hindurch fast reiner Südwind, von nördlichen Winden wird er vorwiegend
im Herbst abgelöst. Das Binnenland dagegen beherrschen nur im Winter Winde aus
dem Südquadrauteu, bald mehr aus westlicher, bald mehr aus östlicher Richtung;
im Sommer aber wehen hier hauptsächlich östliche Winde, von Nordwinden mit voi>
wiegend und wechselnd starker östlicher Komponente abgelöst.
Es wird hoffentlich bald gelingen, diese Erscheinungen mit der allgemeinen
Luftzirkulation, wie sie über Südafrika im großen vor sich geht, in ursachlichen Zu-
sammenhang zu bringen. Das würde auch über die Entstehung der
e) Niederschläge in unserem Schutzgebiet Licht verbreiten. Einstweilen be-
gnügt mau sich hier damit, daß man summarisch die Luftdruckverteilung über Fest-
land und Ozean im Sommer und im Winter zugrunde legt, die Windbahnen danach
schematisch konstruiert und nun je nach der Ausdehnung der Wasserfläche, über die
der Wind zu wehen hat, den Regenreichtum ableitet. Wieviel Willkür dabei unter-
läuft, zeigen die Widersprüche der so gewonnenen Resultate untereinander und mit
den Tatsachen: der eine läßt die Hauptwinterregen Kapstadts von südwestlichen, der
andere vou nordwestlichen Winden gebracht werden! Der Südostpassat wird für das
östliche und zentrale Südafrika als Regenbringer gepriesen, und niemand kümmert
sich darum, daß die Regeu in Kimberley tatsächlich weit überwiegend mit Winden
aus Norden und Nordosten kommen, — dahin weist schon jeder Hottentott, wem: man
ihn nach dem Regenwind fragt.
Als sicher feststehend ist nur das eiue zu betrachten, daß der Indische Ozean
den Hauptkessel darstellt für die Wasserdämpfe, die über Südafrika zu Regeu sich kon-
densieren. Doch erst ein genaues Studium der sommerlichen Lustdruckminima, ihrer
Verteilung auf lokale Erhitzungsherde und ihrer Wanderungen über den Kontinent
kann uns Klarheit bringen, von woher ein gegebener Landstrich seine Regenwinde
ansaugt; neben dem Südostpassat werden auch die äquatorialen Windgebiete in Be-
tracht zu ziehen sein. Erst dann werden wir die Ablenkungen, die die Winde erfahren
haben, ehe sie mit Gewitterwolken über dem Horizont auftauchen, übersehen können.
Besonderer Aufmerksamkeit ist auch die Frage wert, ob in der Tat das Zusammen-
prallen kalter trockener Südwest- und warmer feuchter Nordostwinde, wie es für das
Groß-Namaland vermutet wird, Niederschläge uud elektrische Entladungen im Som-
mer herbeiführt.
Klarer als die Ursachen, die ben Regenwinden die Wege weisen, sind die der
Regenarmut Deutsch-Südwestasrikas. West- und Zentralsüdafrika sind ein Stück
des Trockengürtels, der auf der Südhalbkugel (wie entsprechend aus der Nordhalb-
kugel) in der Nähe des Wendekreises rings um die Erde zieht und in den Küstelistrichen
150 B. Zur Länderkunde.
Chiles und Perus, in den Hochgebieten der Kordilleren und in den australischen Wüsten
seine Hauptglieder hat. Die Luftmassen, die über dm erhitzten Boden der Äquator-
länder in höchste Höhen getrieben wurden, steigen, nachdem sie einen großen Teil ihres
Wassergehalts als Regen den Tropen gespendet haben, wasserarm in der Nähe der
Wendekreise wieder zur Erde; absteigend erwärmen sie sich, entfernen sich damit
immer weiter vom Sättigungspunkt ihres Wasserdampfes und machen auf diese
Weise die Läuder ihres Bereiches zu Trockeugebieteu.
Auch Südwestafrika hat dieses Los der Regenarmut getrosseu. Betrachten wir,
wie es im einzelnen ausgefallen ist, zu welchem Jahresmaß die spärlich zugemessenen
Niederschläge iu deu verschiedenen Landschaften sich summieren und wie sie nach
Jahreszeiten verteilt sind.
a) In der Gesamtübersicht läßt die räumliche Verteilung der Niederschlüge
im Schutzgebiet zweierlei erkennen. Erstens ist in der Breite von Swakopmnnd so-
wohl wie in der von Lüderitzbucht eiue Zunahme der Regenhöhe in der Richtung von
Westen nach Osten vorhanden:
Station Geogr. Länge Meereshöhe Jährliche Regenmenge (in Millimetern)
östl. v. Greenw, in Metern Normalmittel Höchster beob- Niedrigst.beob-
achteter Betrag achteter Betraa
Swakopmund. 14"33'30" ?,■> 29,6 20,5
Jakalswater . 15 19 772 30,5 58,9 17,7
Tsaobis .... 15 54 1055 117,2 285,5 55,3
Otjimbingwe . 16 10 940 136,6 386,7 59,0
Otjisewa. . . . 16 58 1550 356,6 502,8 —
Groß-Windhuk 17 05 1680 357,3 673, l 184,9
Hohe Warle. . 17 27 — 366,6 520,5 151,5
Gobabis. . . . 19 01 1417 470,6 649,i 315,0
Oas...... 19 27 1370 474,8 457,2 304,s
und entsprechend im Süden:
Station Geogr. Länge östl. v. Greenw. Meereshöhe in Metern Jährliche Regenmenge (in Millimetern) m 1 ^ , Höchster beob- Niedrigst.beob- orma mi e acj^eter Betrag achteter Betraa
Lüderchbucht . 15"15' 4 13,8 36,6 9,2
Kubub..... 16 10 1430 72,s 220,6 80,3
Bethanien. . . 16 52 935 114,7 (240,6) 44,7
Keelmanshoop 18 02 1028 148,7 259,i 39,5
Kanas..... 18 20 — 159,2 — 107,7
Hasür..... 19 51 ca. 900 230,o (348,6) 77,6
Entscheidend für die westöstliche Zunahme der Niederschläge ist einmal das steile
Ansteigen des Landes in dieser Richtung, das mit fortschreitender Abkühlung den
Feuchtigkeitsgehalt der Luft immer mehr der Sättigung nähert; und dann bedeutet
auf der Höhe des Plateaus jedes Fortschreiten nach Osten eine Annäherung an die
Regenquelle des Indischen Ozeans. Nicht nur in der Menge des jährlich fallenden
Regens selbst, sondern auch iu der Zahl der Regentage im Jahr steht der Osten des
Schutzgebietes dem Westen voran.
Nicht minder ausgeprägt, nur durch Erhebungen wie die Karasberge erklärlich
unterbrochen, ist im Binnenland eine Zunahme der Regenhöhe in der Richtung von
17. Die physikalischen Grundbedingungen südwestafrikanischen Lebens. 151
Süden nach Norden: In dem Maße, als wir uns dem Äquator nähern, in Zonen
stärkerer Erwärmung, also höheren Auftriebs und entsprechend ergiebigerer Konden-
sation der Luft kommen, wachsen die Niederschläge. So erhält das tropenfernste
Gebiet, das südliche Groß-Namaland (in der Zone von 28-—26° südl. Br.), als Normal-
mittel jährlich nur 120 mm Niederschlag. Im Groß-Namalande von 26—24° südl.
Br. steigt der jährliche Niederschlag auf 180 mm, im Mischgebiet des Nama- und Da-
maralandes (von 24—22° südl. Br.) auf 294 mm. Daun folgt das nördlich angren-
zende Damaralaud (von 22—20° südl. Br.) mit 340 mm. Das Amboland endlich
(von 20—17-1° südl. Br.) bietet mit einem Normaljahresmittel von 585 mm Nieder-
schlag das nördliche Extrem, mit ihm greifen die echten tropischen Sommerregen in
unser Schutzgebiet hinein.
Werfen wir nun zur Vervollständigung des Bildes einen Blick auf das Land
südlich des Orauje, so sehen wir hier die Regen in dem Maße wieder ergiebiger werden,
als wir uns dem Optimum des kapländischen Winterregengebietes nähern. Diese
Regenzone ragt aber nur mit ebenso schwachen Ausläufern wie die Tropenregen-
zone von Norden, so in den äußersten Süden unseres Schutzgebietes.
Daß die genannte Gesetzmäßigkeit in der Zunahme der Regenmenge von Westen
nach Osten und von Süden nach Norden durch örtliche Verhältnisse im einzelnen
modifiziert wird, ist selbstverständlich. Doch hüte man sich vor dem im Lande altein-
gesessenen Irrtum, die südwestafrikanischen Regen fielen „strichweife" in dem Sinne,
daß überhaupt die Bedingungen ihres Eintritts lokal engbegrenzt seien. Die Sta-
tistik der Regeubeobachtungen hat vielmehr mit Sicherheit ergeben, daß diese Be-
dingungen über weite Gebiete hinweg gleich, also von gewisser Gewähr sind. Gerade
ergiebigere Regengüsse wurden auf weit entfernt liegenden Stationen, wie Otjim-
bingwe, Wiudhuk, Rehoboth, Waterberg und Ontjo, als zeitlich zusammenfallend
verzeichnet und sind deshalb hier mit Recht als ursachlich gleichbedingt anzusehen.
ß) Die zeitliche Verteilung der Niederschläge im Schutzgebiet läßt sowohl
in der Richtung vou Westen nach Osten wie in der Richtung von Süden nach Norden
eine (a) Verschiebung der Hauptniederschläge vom Herbst-Winter auf
den Frühliug-Sommer erkennen.......
Grundlegend im großen für das Verständnis der räumlichen wie der jahres-
zeitlichen Verteilung der Niederschläge in Deutsch-Süd westafrika ist die Einkeilung
des Landes zwischen zwei Regenzonen grundverschiedener Art. Die eine, südliche,
vom Kap der Guten Hoffnung her übergreifende, hat ihre Regen in der kühlen Jahres-
zeit und nimmt vorwiegend die Küste ein; die andere, nördliche, für unser Schutz-
gebiet bei weitem ergiebigere Zone, ragt aus den Tropen herein, mit Niederschlägen
in der heißen Zeit vorwiegend das Binnenland befruchtend. Die Regen beider
Zonen überschreiten bisweilen weit ihre normalen Grenzen: Sommergewitter können
die Küste erreichen, und Winterregen kommen mit Südwestwinden, wie es scheint,
regelmäßig alle Monate (Mai bis Juli) einmal tief in die Kalahari.
Neben der Verteilung der Niederschläge (d) auf die einzelnen Jahreszeiten ist
es für das Wirtschaftsleben gerade der Trockengebiete Südafrikas von größter Be-
deutuug, wie sich die Niederschläge auf Perioden ganzer Jahrgänge verteilen.
Bei Betrachtung der räumlichen Regenverteilung hatten wir schon gesehen
(rechte Kolonnen der Tabellen auf S. 150), wie großen Schwankungen die Regen-
mengen der verschiedenen Jahre unterworfen sind. Die dort mitgeteilten Extreme
liegen keineswegs zeitlich weit auseinander, sind nur in Windhnk und Bethanien
durch 9 Jahre, in Gobabis durch 5, in Otjimbingwe und Hohe Warte durch 4, in
152
B. Zur Länderkunde.
Tsaobis, Keetmanshoop und Hasür durch 2, iu Kanas, Oas, Jakalswater uud Lüderitz-
bucht sogar nur durch 1 Jahr getreuut. Ob derartige Schwankungen bei völlig lücken-
losem, genügend weit zurückreichendem und ausgedehntem Beobachtungsmaterial
vielleicht eine Gesetzmäßigkeit in der Wiederkehr zeigen, muß abgewartet werdeu.
Für die Beurteilung der fernsten Zukunft unseres Laudes ist uoch wichtiger als
die Frage einer solchen Periodizität eine Klärung des vielerörterten Problems der
Austrocknung Südafrikas. Die Niederschläge sollen nach der Auffassung vieler
stetig abnehmen, das Klima des Landes stetig sich verschlechtern. Man hat dieses
Urteil auf eine große Anzahl verschiedenartiger Beobachtungen gegründet, hat nn-
zweifelhaft nachweisen können, daß an diesem oder jenem Ort ehemals mehr Wasser
stand oder lief als heute. Aber wenn die Ursache aller dieser Erscheinungen tatsächlich
in einer Klimaänderung großen Stiles läge, dann müßten sie sich auch iu dem bereits
vorliegenden statistischen Beobachtungsmaterial der jährlichen Regenmengen irgend-
wie, wenn auch so noch lückenhaft, widerspiegeln. Doch keine der vorliegenden
Beobachtungsreihen, selbst die auf über 60 Jahre sich zurückerstreckende des Kap-
landes, läßt eine Abnahme der jährlichen Regenmengen erkennen.
Jene wenig tröstlichen Vorstellungen einer fortschreitenden Austrocknung des
Landes auf Grund einer Verminderung der Niederschläge stehen also auf schwachen
Füßen, soweit sie für historische Zeiten Geltung beauspruchen. Für frühere Erdepochen,
auf die unsere ephemere Zeitrechnung nicht anwendbar ist, sind mehrfache tiefgreifende
Umwälzungen aller Existenzbedingungen auf klimatischer Grundlage, begleitet ab-
wechselnd von Zu- uud Rückzug der Gewässer, erschlossen worden. Aber wieweit
und in welchem Sinne diese Schwankungen, die sich im Takte ungezählter Jahrtausende
bewegt haben, in unsere Tage herüberreichen, sieht die Forschung heute noch nicht.
Die Gegenwart stellt uns vor klarer liegende Aufgaben. Es gilt, mit den klima-
tischen Faktoren, wie sie vor unseren Augen tätig sind, zu rechnen, in den verschiedenen
Zonen unseres Gebietes ihrer verschiedenen Wirkung auf die heute lebenden Orga-
nismen mit Einschluß des Menschen nachzugehen.
18. Das Leben einer Buschmannfannlie.
Von Professor Dr. S. Passarge. („Die Buschmänner der Kalahari."
Berlin 1907, Dietrich Reimer [(Ernst Vohsen^.)
Die ersten starken Regen sind gefallen, die Trockenzeit hat ein Ende, der Dezember
steht vor der Tür. Da rüsten sich die Buschmänner zur Reise ins Sandfeld. Die Män-
ner in vollem Waffenschmuck, die Frauen beladen mit Bündeln, die ihre Hausgeräte,
Mörser, Stößel, Schalen und sonstigen Gebrauchsgegenstände und Habseligkeiten, in
Felle eingeschnürt, enthalten. Einzelne und mehrere Familien in einer Stärke von
hundert uud mehr Köpsen ziehen nun hinaus iu die Steppe und streben ihren Be-
zirken zu. Der Weg ist weit, mehrere Tage, ja Wochen lang. Hier schwenkt diese,
dort jene Familie ab. Man lebt unterwegs von der Jagd und dem, was mau auf
den: Marsch an eßbaren Gegenständen findet. Endlich ist das Ziel erreicht, das Jagd-
gebiet, in dem man sich den größten Teil des kommenden Jahres aufhalten will.
Ein Lagerplatz wird bezogen und ein Feuer angezündet. Hat man kein bren-
nendes Holzscheit mitgenommen, so macht eine Frau oder ein Mann Feuer mit den
18. Das Leben einer Buschmannfamilie.
153
Feuerstöcken. Die Stöcke bestehen aus dem Holz des Kaibaumes, und zwar angeblich
beide von den: gleichen Baum, aber anscheinend von verschiedenen Teilen, da sie ver-
schiedene Härte besitzen. Der weichere liegt auf der Erde, uud man setzt einen Fuß auf
ihn; der andere, harte, wird senkrecht auf das eine Ende des vorigen gesetzt und mit
den flachen Enden gequirlt. Die Hände gleiten dabei hinab uud müssen fortwährend
wieder hinaufgeschoben werden. Dabei tritt eine kleine Pause im Drehen ein. Es
entsteht ein feines Bobrmehl, das zu kohlen und zu schwelen beginnt. Durch AnPusten
sucht ein zweiter Mann Glut zu entfachen und trockenes Gras in Brand zu setzen. In
1 bis 3 Minuten hat man Feuer.
Während man auf der Reise ohne jede Hütte schläft oder höchstens einige Äste
eines Busches zusammenbindet, Felle oder Grasbüschel herüberlegt und so ein Schutz-
dach gegen Regen schafft, baut man in den ständigen Lagerplätzen Windschirme.
Dieses Gerüst, das aus gebogenen, in die Erde gesteckten Stöcken besteht, wird mit
Gras gedeckt und Dorngestrüpp zum Schutz hernmgelegt. Vor dem Schirm liegt
eine Feuerstelle. Die Schirme stehen meist einander parallel, der Hauptwindseite
— Osten — abgewendet, sosern sie nicht durch dichtes Gebüsch geschützt sind.
Ein solches aus einem Dutzend Schirme bestehendes Lager wird also wieder be-
zogen, die Schirme ausgebessert oder ueu gebaut. Es liegt im Busch des Sandfeldes,
abseits von jedem Wasser. In der Nähe dieses findet man es selten. Die Gründe
dafür find heutzutage größere Sicherheit vor ihren Unterdrückern, den Negern, Hotten-
totten usw., früher die Furcht, das Wild zu verscheuchen, bzw. Furcht vor den
die Wasserplätze nächtlich besuchenden wilden Tieren, Elefanten, Rhinozerossen,
Löwen usw.
Die ausgehende Sonne findet das Lager schon in voller Tätigkeit. Fröstelnd
hocken die Männer um das Feuer, in die Ledermäntel gehüllt. Einer hält eine auf
einen Stock gespießte Keule eines Dückers* — eine Beute des vorigen Tages — ins
Feuer, schweigend sehen die übrigen zu. Außen schwarz verbrannt, im Innern aber
noch halbroh und blutend, wird das Fleisch mit Fingern und Messern in Stücke zer-
rissen und gierig verschlungen. Der Knochen wird ausgeschlagen, das Mark verzehrt.
Jetzt noch ein Schluck Wasser aus einem Straußenei, die Tasche mit Bogen und Köcher
wird umgehäugt, uud fertig ist mau zum Aufbruch.
Jedem ist vom Häuptling sein Pensum für den Tag zuerteilt. Diese Frauen
holen Wasser, jene Holz, jene sammeln Wurzeln, Früchte und was ihnen sonst in den
Weg kommt. Wir wollen den Häuptling begleiten, der mit einigen Leuten sein Ge-
biet nach der langen Abwesenheit überschauen will.
Wir brechen aus. Die kleinen, dünnen, gelbbraunen, schmutzigen Kerlchen
schwärmen aus wie Schützen. Schnellen Schritts, halb lausend, mit ihren einwärts
gestellten Füßen watschelnd, gleiten sie dahin, Grasstauden und Büsche umgehend.
Rastlos schweift das Auge umher, unablässig suchend, beobachtend. Daher kommt
wohl der unstete, scheue Blick des Buschmanns, der so vielen Beobachtern ausgefallen
ist. Der finstere Gesichtsausdruck dagegen ist wohl die Folge von dem Zusammen-
kneisen der Augen wegen des blendenden Lichts.
In einem Busch windet sich eine kleine schmalblättrige Pflanze mit gelblichen
Blüten, eine Asklepiadee. Schnell kniet ein Buschmann nieder, gräbt mit Hand und
Spatenstock ein handtiefes Loch uud holt eine der Kartoffel gleiche Knolle hervor.
Sie wandert in die Ledertasche, und weiter geht's. Hier bückt sich einer nach einem
fußhohen Büschel aus lanzettlichen Blättern. Grinsend lockert er den Boden mit
dem Spatenstock auf, vorsichtig räumt er mit der Hand den Sand fort. Da kommt
154
B. Zur Länderkunde,
eine schwarze, kindskopfgroße Knolle zum Vorschein, mit den Händen wird sie aus-
gegraben, eiu Ruf lockt die Gefährten herbei. Mit dem Spatenstock zerteilt man sie
in Stücke, weißer, milchiger Saft quillt heraus, und mit Schmatzen und Schnalzen
verzehrt jeder die saftige, kühle, erfrischende Kost. Wer diese Knolle hat, braucht keiu
Wasser, sie erquickt mehr als ein Truuk. Die Sonne brennt schon heiß herab, und un-
seru Freunden ist der Fund zu gönnen.
' Unsre Buschmänner halten sich aber nicht auf, rastlos geht es weiter. Hier kriecht
eine Schildkröte. Zappelnd sucht sie zu entkommen. Ein Schlag auf den Kopf, und
sie verschwindet im Sack. Prüfend mustert man die Pflanzen am Boden. Da kriechen
sie, die langen Ranken mit Kürbisblättern und großen gelben Blüten. Das sind die
Melonen, auf die der Buschmann seine ganze Hoffnung fetzt. Mißraten sie, so kommt
er in Not und Elend, dann muß er frühzeitig zum Wasser zurück oder bei Nachbaru
betteln gehen, die mehr Glück gehabt als er.
Das Aussehen der Steppe ändert sich. Der rote Sand mit seinem einförmigen
Busch wird von grauem Sand mit Vleybusch verdrängt. Statt des Steppengrases
ist der Boden mit Kräutern bedeckt, die einen dichten Rasen bilden. Eine unserem
Schaumkraut ähnliche Pflanze fällt besonders auf, und ferner über mannshohe, ein-
jährige Pflanzen mit großen roten Blütenkelchen. Das ist ein wichtiges Gewächs.
Blätter und Stengel, zerrieben zu einem sastigen Brei, werden als Gegemnittel gegen
das Schlangengift auf die Bißwunden gelegt. Hier bildet eiue Windenpflanze mit
herzförmigen Blättern, wie sie unsre Bohnen besitzen, und weißen und roten Konvol-
vulosblüten einen dichten Rasen. Das ist channi, eine Pflanze, auf der eiue Raupe
lebt, ein Leckerbissen besonderer Art. Richtig, da kriechen sie umher, singerlange,
bräunlichgelbe, gehörnte Schwärmerraupen. Weiße Wülste haben sie über den Bei<
nen, darüber eiu dreieckiges weißes Feld mit rotem Puukt im Zentrum. Eisrig werden
sie gesammelt und der Kopf zerquetscht. Wie aber soll man das weiche, saftige Tier
transportieren? Der Buschmann ist nicht in Verlegenheit. Eine dicke Graslage
bildet eine Platte, auf diese legt man die Raupen, bedeckt sie mit einer zweiten Gras-
läge, wickelt Baststreifen, die man von der nächsten Akazie abgezogen hat, um das
Grasbündel. Damit sind die Raupen transportfähig und verschwinden im Ledersack.
Der Busch wird dicht. Manganagestrüpp (Acacia detinens) wehrt den Eindring-
ling ab. Dort steht ein hoher, weißer Termitenbau aus Kalkerde, die die Tiere aus
der Tiefe geholt habeu. Ein hoher Mopipabaum mit undurchdringlichem schwarz-
grünen Laubdach beschattet ihn. An seinem Fuß, aber uoch auf dem Haufen selbst,
stehen große weiße Hutpilze. Die Termiten züchten bekanntlich das Pilzmyzel in
der Erde der Baue, und aus ihm sind die Pilze aufgeschossen. Diese sind eßbar,
selbst in rohem Zustand, und so sehen wir denn die Buschmänner, jeden mit einem
weißen Pilz in der Hand, eifrig beschäftigt, den bis einen Fuß großen Hut am Rande
entlang abzuknabbern — ein höchst komisches Bild.
Der dichte Vleybusch wird durchquert, wir stehen an einer Vley, einer runden,
etwa 100 m Durchmesser besitzenden, kahlen, psannensörmigen Vertiefung im Sande,
die einen kleinen Teich enthält. Einige blaugraue Wildtauben fliegen mit klatschen-
dem Flügelschlag aus, schlanke, langgeschwänzte Namakwatäubchen laufen am Ufer-
raud hin und her, und mit ungeschickten Sprüngen entweicht ein Nashornvogel ins
Gebüsch. Die Buschmänner eilen zum Wasser herab, Ledersack mit Köcher und Bogen
werden abgelegt, man stillt den Durst. Es ist gerade die heißeste Zeit am Tage, und
glühend breuut die Sonne. Der Buschmann trinkt stehend. Halb gebückt wirft er
mit der rechten Hand in schnellen Schlägen das Wasser in den Mund hinein. Die
18. Das Leben einer Buschmannfamilie.
155
Vley hier ist durch Regen frisch gefüllt, das Wasser süß und rein. Oft genug steht
aber auch der Buschmaun vor einer auftrocknenden Schlammpfütze, die von Kaul-
qnappen, Wasserkäfern, Fliegen- und Mückenlarven wimmelt. Ein solcher Trunk ist
selbst ihm zu ekelig. Aber er weiß sich zu helfen. Er macht sich ein Polster aus gitter-
förmig sich kreuzenden Grashalmen, legt dasselbe anss Wasser, drückt es etwas nieder und
trinkt das durchquellende, siltrierte Wasser, das nun von Larven und Käfern frei ist.
Der Marsch geht nun weiter durch eine Niederung mit Vleybusch. Mehrere
Regenwasserpfannen werden passiert; aus jeder wird gewissenhaft, auch ohne Durst,
getrunken. Anscheinend liegt ein Aberglaube vor. Vielleicht will man seinen Dank
den Geistern ausdrücken, die das so oft entbehrte Naß gespendet haben. Während
des Marsches werdeil inzwischen beständig Wurzeln und Früchte gesammelt, bald
bückte sich dieser, bald jener nieder. Diese Frucht wird gleich gegessen, jene Knolle
im Sack verwahrt. Plötzlich ertönen dumpfe Laute, ähnlich dem Brüllen einer Kuh.
Sie scheinen aus der Ferne zu kommen, und doch sind sie nahe. Die Buschmänner
geraten in Bewegung. Dichter Busch, wie er die Vleys zu umgeben pflegt, liegt vor
ihnen. Im Busch werden die Sachen abgelegt, dann geht's zur Pfanne, von der die
Laute herkommen. Dort ragt etwas aus dem Wasser heraus, dort noch mehr, dunkle
Körper, die hin und her schwimmen, eine Schar verliebter Ochsenfrösche. Blitzschnell
eilen die Männer hinab, und nun entsteht ein wildes Getümmel. Hinab tauchen die
Frösche und suchen sich im Schlamm zu verstecken, doch die Buschmänner stürzen hinein
in das Wasser, das vielleicht knietief ist, greifen und tasten umher. Da hilft kein Zap-
peln und Beißen, der gepackte Frosch muß heraus. Ein Hieb mit dem Spatenstock
über den Kopf, und das betäubte Tier fliegt auf den Sand. So geht die Jagd weiter.
Ein spaßhafter Anblick, diese nackten, braunen dünnen Kerlchen, wie sie schreiend
hemmspringen und hopsen, sich bücken und greifen. Der Eifer erlahmt, die Jagd ist
aus. Elf der unschuldigen Tiere liegen da, der Rest hat sich in die Tiese des Schlam-
mes gerettet.
Betrachten wir die Frösche näher. Die plumpen, dicken, etwa einen halben Fuß
langen Tiere sind schmutzig grau auf dem Rücken, der Bauch ist goldgelb, über die
Beine läuft ein roter Streif. Während der Trockenzeit liegt der Ochsenfrosch im
starren Zustand in Erdhöhlen. Sobald die ersten starken Regen fallen, erwacht er,
und dann erscheinen plötzlich Scharen von Fröschen, „wie vom Himmel gefallen".
Wie Livingstone erzählt, glauben die Betschuanen in der Tat, sie fielen vom Himmel.
Die Tiere treiben sich nun im Dezember und Januar in den Vleys und Pfützen mit
lauten: Brüllen — anders kann man kaum sagen — umher. Dann verschwinden sie,
und die Vleys bevölkern sich später mit Kaulquappen.
Unsre Buschmänner sind nun eifrig beschäftigt, die Ochsenfrösche weidgerecht
auszunehmen. Mit dem Finger wird der Darm herausgezerrt, abgerissen und wieder
reponiert. Nun setzt der Buschmann den After an den Mund und bläst mit voller
Kraft hinein. Die Bauchhöhle füllt sich mit Luft, der Frosch schwillt auf, die Kehl-
blase tritt aus dem sperrweit geöffneten Maul heraus. Diese wird gefaßt und nun
der ganze Inhalt der Leibeshöhle, Speiseröhre, Magen, Darm, herausgerissen. Dann
wird der Frosch auf einen zugespitzten Stock gesteckt, der durch die Haut des Unter-
kiefers gestoßen wird, und so hängen sie bald da, einer hinter dem andern, mit auf-
gerissenem Mnnd und langgestreckten Beinen, die Vorderbeine — Arme möchte man
unwillkürlich sagen — über der Brust gekreuzt.
Mit dieser wunderlichen Last aus der Schulter geht's weiter. Der Vleybusch
wird verlassen, tiefer, roter Sand mit Mochononobufch beginnt, eine niedrige Berg-
156
B. Zur Länderkunde,
kuppe liegt vor unfern Buschmännern — das nächste Ziel, Eine grasige Lichtung
folgt. Alles hält. Dort, was ist das, auf der andern Seite der Grasfläche hinter
einem Baum? Es bewegt sich! Ein Kopf? Ein Kopf mit Hörnern? Giraffen!
Da kommen sie schon hervor, sie haben die Nähe ihrer Feinde gewittert. Mit langen,
schwankenden Sätzen, den Hals pendelartig nach vorwärts bewegend, lausen sie davon,
schwerfällig und scheinbar langsam, in Wirklichkeit aber sehr schnell. Sie verschwinden
im Buschwald, fort sind sie. Aber kaum haben sich die Buschmänner wieder in Be-
weguug gesetzt, da erschallt plötzlich lautes Bellen. Trapp, trapp, trapp! Dumps
erdröhnt die Erde ganz in unsrer Nähe. Pfeilschnell schießt ein Steinböckchen an uns
vorbei, kaum hundert Schritt entfernt, und gleich darauf erscheint eine bellende Meute
wilder Hyänenhunde. Mit langen Sätzen rasen sie hinter dem gehetzten Tier her.
Ein Ruck, und die Sachen liegen unten. Mit lautem Geschrei, wie Besesseue, stürzen
die nackten dunklen Gestalten unbewaffnet hinterdrein. Was ist los? Was wollen
sie? Abermals folgen wir. Das Bellen ist verstummt, dort stehen keucheud die Busch-
mäuner, ein fleischloser Lauf des Steinböckchens ist der ganze Rest. Sie kamen trotz
aller Eile zu spät, die Beute war bereits geteilt uud die Räuber mit ihr eutsloheu.
Lachend kehrt man zurück und eilt den blauen Kuppen zu. Es ist früher Nach-
mittag, als sie erreicht werden. Von dort oben hat man einen großartigen Blick über
die endlose, grüne Ebene. Hier ist die Grenze des Familieugebiets, weiter dürfen sie
nicht gehen. Aber nicht die uueudliche Fernsicht ist es, die unsre Freunde fesselt, sie
ruft in dem Herzen dieser rauhen Wilden kein Echo hervor. Nach Wasser suchen sie.
Es hat ja hier vor einigen Tagen geregnet. Sie finden es bald in einer Felsspalte,
aber unerreichbar für die Hand oder Schöpfgefäße. Hat man ein Rohr, so sangt man
natürlich ohue Schwierigkeit das Wasser auf, wie Zitroueulimouade, aber es ist keius
da. Sollen sie nnverrichteter Sache umkehren? L ueiu! Nichts einfacher als das.
Der Buschmann macht aus parallelen Grashalmen einen stark daumendicken Kegel
und umwickelt ihu mit einem Baststreifen. Diesen Kegel steckt er mit der Spitze in
die Spalte, läßt ihu sich mit Wasser vollsaugen, dann zieht er ihn schnell heraus uud
säugt den aus der Spitze auslaufenden Wasserstrahl mit dem Munde ans. So weiß
man sich aus die einfachste Weise zu Helsen.
Von dem Gipfel des Berges blickt man nach Südosten über dichten Buschwald,
nach Nordwesten aber über eiue Grasebene. Diese fesselt das Interesse der Busch-
mäuner. Was gibt's? Sie zeigen mit ihren Stöcken hinab: dort, dort, eins, zwei,
fünf, acht! Was denn? Gemsböcke. Vergeblich strengen wir unser Auge au, es ist
nichts zu sehen, auch mit dem Feldstecher nichts. Und doch haben die Buschmänner
unbedingt recht, sie irreu sich uie.
Könntet ihr euch uicht anschleichen? Kopfschütteln. Nein, das ist nicht mehr
unser Gebiet.
Ei, ei, alter Freund, warum plötzlich so moralisch angehaucht. Wilderst ja sonst
so gern!
Ja, aber dort, und der Stock weist nach einer andern Seite hin.
Was ist dort?
Ein Buschmann.
Diesmal haben wir mehr Glück. Mit dem Feldstecher erkennen wir einen kleinen
dunklen Gegenstand, der sich über die Grasfläche auf die uns unsichtbaren Gemsböcke
zu bewegt. Gespannt verfolgen wir die Jagd. Allein jene haben den Feind gewittert,
geraten in Bewegung, und nun sehen wir sie auch aus einem Gebüsch hervorbrechen,
ein Stück über die Lichtung laufen und im dichten Busch verschwiudeu.
18. Das Leben einer Bnschmannfamilic.
157
Die Sonne sinkt, der Rückweg ist lang, und so eilen wir denn den Hügel hinab
heimwärts. Allein bald hält die Schar von neuem. Ter Busch besteht hier aus Sträu-
chern mit dunkelgrünen, dreilappigen Blättern. Es ist dieses ein Strauch, auf dem
die Larve lebt, deren Körpersaft als Pfeilgift benutzt wird. Da fitzen wirklich einige
dieser Larven, anscheinend einem Käser angehörend. Sie sind 1 bis 1V2 cm lang,
dick, schleimig, fleischfarben, haben einen grauen Mittelstrich auf dem Rücken und
ein dunkelbraunes, hartes Kopf- und Nackenschild mit drei Fußpaaren. Wenn die
Larve sich am Ende der Trockenzeit in der Erde verpuppt hat, gräbt sie der Buschmann
aus. Indes ist auch vor der Verpuppung das Gift wirksam, und so sammeln die
Buschmänner einige Larven und bergen sie in einem Duckerhorn, das mit Gras ver-
schlössen wird.
Schnelleren Schrittes geht's nun nach Hause. Ohne zu halten, passiert man
eine gewaltige Schar hüpfender Footganger, d. h. junger Heuschrecken. Aber man
merkt sich die Stelle, am nächsten Tage sollen die Kinder ausziehen, sie zu fangen.
Die Taufende von Kotballen, die zurückbleiben, zeigen unfehlbar die Marschrichtung
dieser Tiere an. Das Fangen ist nicht ganz so leicht, wie man es sich vielleicht denkt,
d. h. das Fangen en masse. Man schlügt mit belaubten Ästen in die dicksten Massen
und liest schnell die getroffenen, zappelnden Tiere auf.
Plötzlich öffnet sich der Busch. Man steht vor einer einige hundert Meter großen
rundlichen, weißen Fläche, einer Brackpsanne. Der fast vegetationslose, hellgraue
Boden ist ganz mit weißen Essloreszenzen von Salzen bedeckt, die das Wild leiden-
schaftlich gern ableckt. Daher sind denn die Brackpsannen der Lieblingsaufenthalt
zahlreicher Tiere. Unsre Pfanne ist leer, das Wild weidet jetzt wohl im Feld, wird
aber in der Nacht „bracken" kommen. Es muß zahlreich sein, denn Taufende von
Spuren sind in den weichen Schlammboden eingedrückt. Leicht kenntlich sind die
langen, breiten, vorn abgerundeten gewaltigen Hufe der Giraffen und auch die selt-
fame Spur des zweizehigen Straußes, der mit drei Meter langen Sätzen vor kurzem
erst die Pfanne paffiert hat. Schwer auseinanderzuhalten find dagegen die Fährten
vom Gemsbock, Hartebeest und Gnu, während die auffallend spitzen und langen
Spuren des Kudu wiederum unverkennbar sind. Braune Hyänen sind zahlreich, aber
auch die große gefleckte Hyäne fehlt nicht, die vom Flußgebiet während der Regenzeit
in die Sandsteppe wandert. Ihre Fährte gleicht der eines großen Hundes, während die
Zebrafpuren nach Aussehen uud Größe zwischen denen des Pferdes und des Esels stehen.
Die Buschmänner interessiert nur der flüchtige Strauß. Seiner Spur folgen sie,
obwohl die Sonne schon recht tief steht uud der Buschmann nur ungern in der Nacht
marschiert. Sie haben dieses Mal Glück. Bald hinter der Pfanne wird der Vogel
sichtbar. Ein Männchen ist's, erkennbar an dem schwarzen Gefieder mit den weißen
Schwanz- und Flügelfedern. Aufmerksam lugt er mit gestrecktem Hals hinter einem
Busch hervor. Er entflieht, man folgt ihm, er bleibt stehen, läuft weiter, aber nicht
auf und davon, sondern im Bogen zurück, kurz, er bleibt trotz der folgenden Busch-
männer in der Nähe. Diese wissen nun genug. Ein Nest mit Eiern ist sicher nicht
weit. Am nächsten Tage soll es gesucht werden. Das ist indes keine Kleinigkeit.
Man muß die Strauße ungesehen beobachten, um die Stelle zu finden, wo das ge-
schickt verborgene Nest liegt.
Nun eilen unsre Buschmänner direkt dem Lager zu, das sie bereits nach Sonnen-
Untergang, in voller Dunkelheit, erreichen. Ungern nur wandert der Buschmann
nachts. Auch ohne Gespensterglauben ist das jedem verständlich, der einmal in voller
Dunkelheit durch die Steppe gelaufen ist. Die kleinen, niedrigen Dornbüsche sind im
158
B. Zur Länderkunde,
Dunkeln unsichtbar. Fortwährend läuft man in sie hinein und reißt sich die Beine
blutig. An flottes Ausschreiten ist nicht zu denken.
Das Lager gerät bei der Ankunft unserer Freunde in Bewegung. Die Säcke
werden abgelegt und entleert. Da kommt nun die Ernte des Tages zum Vorschein:
Wurzeln, Knollen, Früchte, Raupen, Ochsenfrösche, Schildkröten, Heuschrecken, selbst
Schlangen und Leguane.
Holz und Wasser sowie zahlreiche Knollen und Früchte haben die Fraueu besorgt.
Das Wasser stammt aus einer zwei Stunden entfernten Vley. Man holt es in Siran-
ßeneierschalen, die auf einer Seite ein Loch haben, so groß, daß man eineil Finger
hineinstecken kann. Diese Eier trägt man in ledernen Tüchern, die zwei Tragriemen
haben. Ein Tragriemen ruht auf der rechten Schulter, der andre ist an einem Zipfel
des Tuches fest angebracht, wird von hinten her über den Kopf gelegt und vorn an
einem andern Zipfel des Tuches befestigt. Man trägt also mit der rechten Schulter,
mit dem Kopf und außerdem mit der linken Hüfte, aus der der Sack ruht. Mit der
linken Hand hält man beim Tragen das über den Kopf gezogene Tragband, mit der
rechten greift man in den Sack hinein über der rechten Brust und verhindert ein Schwan-
ken desselben beim Gehen. Häufig sieht man auch tierische Blasen, z. B. den Magen
vom Gemsbock, Gnu usw., als Wasserbehälter, die etwa acht Liter fassen. Da diese
Blasen so gut wie nichts wiegen, hat man kein totes Gewicht zu schleppen, aber sie
sind leicht zerreißlich. Man trägt sie an Stöcken über der Schulter.
Die Beute ist verteilt, man geht an die Zubereitung des Mahles. Kochen ist
ungewöhnlich, da es meist an Töpfen fehlt, Kohlen und heiße Asche werden zum Bra-
ten benutzt. Hier wird ein Ochsenfrosch mit der Haut auf heißen Kohlen geröstet.
Er schmeckt wirklich delikat, wie Hühnerfleisch. Daneben liegen in heißer Asche, die
man unter den Kohlen herausgeholt hat, die Raupen zusammen mit Heuschrecken,
verschiedenen Knollen und Wurzeln. Alle werden geröstet und dann verzehrt oder erst
noch im Mörser zerstoßen und mit Wasser angerührt genossen. Saftiges Fleisch wird aber
teils auch auf glühenden Kohlen, teils am Spieß über der lodernden Flamme gebraten.
Diese Art der Kochkunst ist sicher die ältste gewesen; gebratenes Fleisch uud ge-
röstetes Mehl opferten die Griechen ihren Göttern. Später erst kam das Kochen
mit Wasser, allgemein wohl erst nach Erfindung feuerfester Gefäße. Interessant ist
es zu sehen, daß die Neger uud Buschmänner unbewußt das Kochen als eine höhere
Kuust einschätzen. Wenn irgend möglich, selbst auf Durststrecken gegen unser Verbot,
kochten sie das Fleisch lieber, als daß sie es rösteten. Es war die „vornehmere" Art
der Zubereitung.
Das Mahl ist fertig. Schmatzend, die Finger leckend wie Affen, sitzen sie um das
Feuer hemm, gierig schlingend, und was für Quantitäten! Nach dem Essen bleiben
die Houoratioren noch beisammen, sich von den Erlebnissen des Tages unterhaltend,
während das junge Volk singend und tanzend, lachend und mit den Händen klatschend
einen betäubenden Lärm verübt. Zur Vergrößerung desselben dienen Tanzrasseln
aus Jnsektenkokons. Bis spät in die Nacht hinein dauert die Lustbarkeit. Unermüd-
lich ist der Buschmann, trotz der Strapazen des heutigen Tages, und über dem Gesang
und Tanz vergißt er alle Leiden. Aber ein wilder Tumult, lautes Schreien, Lachen,
Schimpfen uuterbricht plötzlich das Vergnügen. Ein Buschmannweib in höheren
Semestern hat einen Buschmaunjüngling am Arm gepackt und sucht ihn fortzureißen.
Wie ein Wasserfall rauscht der Wortschwall, eiu Wort überstürzt das andre. Ist das
ein Klixen und Klaxen, Schmatzen uud Schnalzen! An und für sich schon klingt die
Bnschmannsprache drollig, ein keifendes Buschmaunweib ist aber überwältigend komisch.
18. Das Leben einer Buschmannfamilie.
159
Was ist geschehen? Warum der Aufruhr? Natürlich, das alte Lied: Eisersucht.
„Du willst jetzt wohl nur uoch mit jungen Mädchen tanzen? Ich bin dir wohl schon zu
häßlich und zu alt? Wirst du sofort kommen! Na warte, komm du mir nach Hanse!"
Geknickt, unter dem schallenden Gelächter der andern, zieht der Jüngling von dannen.
Weiter geht das Singen und Tanzen, aber der Himmel selbst bereitet dem Sviel
ein jähes Ende. Er überzieht sich schwarz, plötzlich setzt ein furchtbarer Sturm ein,
und gleich darauf prasselt der Regen hernieder. Und was für ein Regen! Alles stiebt
auseinander und sucht hinter deu Windschirmeu Schutz. Das Feuer facht man noch
schnell durch aufgeworfenes Holz an, dann kriecht man unter den Ledermantel und
läßt Sturm und Regen über sich ergehen. Meist ist in einer halben Stunde alles
überstanden, allein dieses Mal hat der Himmel keine Gnade. Zwar weicht der Sturm,
allein der Regeu strömt stundenlang hernieder. Ihm kann kein Feuer widerstehen,
der letzte Funke von Glut erlöscht, und zitternd vor Frost liegen alle zusammengedrängt
auf nasser Erde unter nassem Mantel, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge — sie,
die eben noch in ausgelassenem Übermut herumsprangen, lachten und scherzten. Wohl
ihnen, wenn am nächsten Morgen die Sonne wieder scheint und unter ihren wär-
menden Strahlen neues Lebeu in die erstarrten Glieder strömt. Aber oft genug hält
der Regen noch am nächsten Morgen an. Welche Mühe, welche Arbeit, neues Feuer
anzuzünden, wo alles, alles durchnäßt ist! Ja, das Buschmannleben ist furchtbar hart
und entbehrungsreich. Ein eiserner Körper nur, eine von Grund aus heitere, kiud-
liche, leichtsinnige Naturanlage kann ein solches Leben ertragen. Und doch bezieht
sich die hier gegebene Schilderung aus die beste Zeit im Jahre, die Zeit des Überflusses
an Nahrung und Wasser, man könnte sagen, die Tage der Rosen.
Der Buschmann ist heutzutage in erster Linie Sammler, nicht mehr Jäger,
uud zwar ist das systematische Einsammeln von Vegetabilien, wie z. B. Früchten,
Wurzeln, Knollen u. a., sowie von kleineren Tieren, Sache der Frauen. Sie habeu
die Horde mit solchen Vorräten zu versorgen, die Kinder helfen dabei. Auch der
Mann bringt wohl manches mit, was er zufällig antrifft, allein das Sammeln ist bei
ihm ganz Nebensache. Ich halte den Gedanken, den Schurz (Urgeschichte der Kultur,
Leipzig u. Wien 1909, S. 249f.) zuerst ausgesprochen, und Dr. Ed. Hahn (Das
Alter der menschlichen Kultur, Heidelberg 1995, S. 52) entwickelt hat, nämlich daß die
ersten Versuche, etwas anzupflanzen, von der Frau ausgingen, und daß deshalb der Hack-
bau, die primitivste Stuse des Feldbaues, in den Händen der Frau liegt, für sehr glück-
lich. Die Verhältnisse bei den Buschmännern sprechen wenigstens für solche Auffassung.
Sache der Frauen ist auch das Holen von Holz und Wasser. Wo aber letzteres mit
Rohren aus nassen: Sand gezogen werden muß — eine sehr mühsame und anstren-
gende Arbeit —, da besorgt dieses Geschäft oft der Mann — wenigstens das Aussau-
gen —, während die Frau die Last zum Lager tragen muß.
Die Ausgabe des Mannes ist vor allem die Jagd, daneben der Krieg. Ist erstere
auch nicht mehr so ertragreich wie früher, so würden wir doch nichtsdestoweniger fehl-
gehen, wollten wir annehmen, daß sie ganz gleichgültig wäre. Nicht unbedeutend
sind die Erfolge der kleinen Jagd. Fallen stellt man den Perlhühnern und Frankolinen,
den Schakalen und Hasen, ja selbst dem Strauß uud Leoparden. Das Prinzip ist
durchweg dasselbe. Ein in die Erde gesteckter, biegsamer Stock wird umgebogen, und
die ihn niederziehende Schnur mit Schlinge auf verschiedene, ebenso sinnreiche wie
einfache Art und Weise in labilem Gleichgewicht befestigt. Dieses Gleichgewicht wird
durch das zu fangende Tier gestört, der Stock schnellt zurück, die Schlinge zieht sich um
Hals oder Bein des Tieres, und dieses baumelt hilflos in der Luft.
160
B. Zur Länderkunde,
Kleine Antilopen, wie den Ducker und Steinbock, erlegt der Buschmann, indem
er sich möglichst nahe heranschleicht und mit seiner Wurfkeule ein Bein zu zerschmettern
sucht. Dann holt er das Tier int Lauf nach längerem Hetzen ein und stößt es nieder.
Auch anderes kleines Wild, wie Hasen, Perlhühner, Frankoline, Narnakwaseldhühner
u. a., tötet er auf diese Weise.
Von größtem Interesse ist aber naturgemäß die Jagd auf größere Tiere, wie
Antilopen, Zebras u. a., die heutzutage immer noch ausgeübt wird. Wir wollen ein-
mal versuchen, die Jagdmethoden zu schildern auf Grund lebendiger Darstellungen
aus dem Munde von Buschmännern und auf Grund eigener Beobachtungen. Kehren
wir also zu unserm Buschmannlager zurück. Heute soll eine Jagd auf Gemsböcke
gemacht werden, die gestern in der Nähe einer Brackpfanne gesehen worden sind.
Mit Sonnenaufgang brechen die Jäger auf, die Lanze in der Hand, die Köcher
wohlgefüllt. Der Bogen ist höchstens einen Meter lang und besteht aus einem ge-
glätteten, an den Enden zugespitzten, runden Stab. Die Pfeile bestehen aus Rohr,
das am unteren Ende eingekerbt ist. Die Spitze besteht aus Knochen von der Giraffe
oder vom Strauß und zerfällt in zwei Teile. Ein dickeres, stumpferes, unvergiftetes
Stück ist mit einem dünneren, spitzeren, vergifteten Stück verbunden durch eine
Grashülse, die mit Sehnenfäden umwickelt uud mit Harz zusammengeklebt ist.
Beim Nichtgebrauch steckt die vergiftete Spitze im Rohr, vor dem Gebrauch wird
sie umgedreht.
Unfre Jäger haben die Brackpfanne erreicht. Die Gemsböcke haben in einer
Stärke von etwa 20 Stück nachts „gebrackt" und sind nach Osten abgezogen. Die
Spuren zeigen das deutlich. Ein Kriegsrat wird abgehalten. Einige Lente sollen
in der Richtung der Greuze des Familiengebiets Posto fassen und die Gemsböcke
gegebenenfalls zunickscheucheu. Andre sind dazu bestimmt, anzuschleichen und zu
schießen. Diesen schließen wir uns an.
Der kräftige Ostwind ist günstig, denn wir gehen gegen den Wind. Vorsichtig
der Spur der Tiere folgend, geht's vorwärts durch den dichten Busch. Bei jeder
Biegung macht man halt und blickt um das Gebüsch herum. Kein Wort fällt, kein
Ast knackt. Dort steht ein hoher Termitenbau, einer steigt vorsichtig hinauf und
hält Umschau. Nichts ist zu sehen. Eine halbe, eine ganze Stnnde ist verstrichen, da
öffnet sich der Busch. Eine Grasfläche von einigen hundert Metern dehnt sich aus,
und dort stehen auch die Gemsböcke und weiden arglos das Gras ab. Ein prächtiger
Anblick, solch eine Herde! Von dem rötlichgrauen Fell hebeu sich die schwarzen
Streifen der Flanken und des Kopses ab. Die langen, geraden, schwarzen Hörner
ragen hoch in die Lust, wenn das Tier frißt, schmiegen sich aber dem Rücken an, wenn
es die Nase hebt und wittert.
Jetzt heißt es sich heranschleichen. Tie Buschmänner verteilen sich, nm von
verschiedenen Seiten vorzugehen, und um, wenn sich die Tiere fortbewegen sollten,
mehr Chancen zu haben, zum Schuß zu kommen. Wir folgen einem der Jäger.
Anfangs schleicht er dnrch das dichte Gebüsch, ungefähr nm die Lichtung herum, bis
ein Gesträuch, das einsam in der Grasfläche steht, zwischen ihm und der Herde liegt.
Nun bückt er sich tief, tief hinab, so daß sein Rücken von dem über kniehohen Gras
bedeckt wird, und läuft, die Tiere unausgesetzt beobachtend, auf den Busch zu. Sobald
diese aufsehen, fällt er nieder. Wenn sie fressen, läuft er, so schnell er kann, vorwärts.
Dieser Lauf ist gauz eigentümlich. Beim gewöhnlichen Laufen wippt der gebeugte
Oberkörper bekanntlich auf und nieder, er würde beim Beschleichen des Wildes, im
Grase auf-- und niedertaucheud, die Aufmerksamkeit erregeu. Uni dieses zu vermei-
18. Das Leben einer Buschmannfamilie.
161
den, läuft der Buschmann wie ein Schlittschuhläufer, die Beine seitwärts nach außen
hin abstoßend. Infolgedessen gleitet der Oberkörper in gerader Linie durch das Gras.
Drei, vier Sprünge hat der Buschmann gemacht, der bergende Busch ist erreicht,
er liegt still da und ruht sich aus, etwa 200 Meter von den Tieren entfernt, dabei
beobachtet er unausgesetzt die grasenden Gemsböcke. Sie stehen noch so ziemlich aus
derselben Stelle. Wenig nur haben sie sich weiter fortbewegt, aber sie stehen sehr
ungünstig, kein Busch, kein Strauch, der dem anschleichenden Buschmann Deckung
bringen könnte, nur niedriges Knäuelgras. Geduldig wartet er in seinem Versteck.
Seinen Genossen ist's nicht viel besser gegangen. Im Gegenteil, sie sind noch weiter ab.
Es mag 10 Uhr morgens sein. Über eine Stunde bereits liegt der Buschmann
reguugslos im Gebüsch, die Sonne brennt glühend heiß, die Fliegen sind unaussteh-
lich, aber er rührt sich nicht. Die Gemsböcke nähern sich grasend einigen breitästigen
Schirmakazien, in deren Schatten sie anscheinend die Mittagshitze überstehen wollen.
Einige niedrige Büsche stehen in der Nähe, zehn Schritte von den Akazien, für unser::
Buschmann günstig. Er legt sich den Feldzugsplan zurecht, im Liegen greift er nach
dem Köcher auf seinem Rücken, zieht einige Pfeile heraus, steckt die Knochenspitzen
um, faßt die Schäfte mit der Liuken, den Bogen mit der Rechten; Affagai und Fell-
tasche sind schon längst abgelegt worden. Nun beginnt er zu kriechen. Flach liegt er
aus dem Boden, langsam schiebt er die beiden Arme vor, der Körper folgt unter Be-
wegung des Beckens, während die Beine passiv nachgezogen werden. So erreicht es
der Buschmann, daß er dauernd platt auf der Erde liegt und doch vorwärts kommt.
Vorwärts wohl, aber wie langsam! Stundenlang windet er sich durch die Grasbüschel
hin. Dabei beobachtet er scharf die Tiere. Sobald eiues nach der Richtung hinblickt,
aus der er kommt, liegt er still, sehen sie fort, kriecht er weiter. Jeder trockene Zweig
wird sorgfältig fortgelegt. Läßt sich das nicht machen, so muß er ihn im Bogen um-
gehen. Zahlreich sind derartige Hindernisse, sowie Löcher von Erdferkeln, Nester
bissiger Ameisen, eine Schlange n. a. Heiß brennt die Mittagssonne hernieder, der
Boden ist erhitzt, aber das alles bekümmert nicht das „unglückselige Kind des Augen-
blicks", das mit bewunderungswürdiger Beharrlichkeit und Energie sein Ziel versolgt.
Endlich, endlich, nach mehreren Stunden, ist er am Ziel, an dem Busch, zehn Schritte
von den ahnungslosen Tieren entsernt. Da liegen einige im Schatten und schlafen,
andre schauen aber aufmerksam und unruhig in die Ferne. Es muß sich irgend etwas
geregt haben. Hat ein Ast geknackt, oder wittern sie einen Feind? Der Moment ist
kritisch. So nahe der Beute und doch zur Untätigkeit verdammt, kauert sich unser
Freund, platt auf die Erde gestreckt, nieder. Es war wohl nichts. Zwei Männchen
geraten in Streit, die langen, spitzen Hörner sind furchtbare Waffen. Diesen Moment
benutzt unser Buschmann. Langsam, ganz, ganz langsam, schiebt er den linken Arm
mit dem Bogen vor, die Rechte setzt langsam den Pfeil in die Kerbe, zieht langsam an
und läßt los. Leise schwirrt die Sehne, der Pfeil ist einem nur wenige Schritte ent-
fernten, trächtigen Weibchen in die Weichen gefahren, dieses springt in die Höhe,
alles gerät in Bewegung, blickt um sich und trabt davon. Die verscheuchte Herde, die
ihren Gegner immer noch nicht gesehen hat, naht sich dem Versteck eines andern
Buschmanns. Ein zweiter Pfeil fliegt, ein dritter folgt auf vierzig Schritt Entfernung,
richtig, er sitzt, gerade in der Keule. Das Tier schüttelt sich, als würde es von einer
Nadel gestochen, nnd nun sind alle im Gebüsch verschwunden.
Man sollte erwarten, daß der glückliche Schütze nach der stundenlangen Anspan-
nnng seiner Nerven in lautes Siegesgeschrei ausbricht, wie das Publikum im Theater
am Ende eines spannenden Aktes in Klatschen. Aber nein, die Grenze des Jagdreviers
Lerche, Erdkundl, Lesebuch.
162
B. Zur Länderkunde.
ist nahe. Entflieht die Herde hinüber, so ist das verwundete Tier oft verloren, weil
es zu weit läuft, oder man bekommt leicht Streit mit den Nachbarn. Es gehört zwar
dem Schützen, allein glückliche Finder sind selten gewissenhaft, und die Familiensehde
ist fertig. So bleiben denn alle ruhig liegen.
Die Tiere sind fort. Hier hebt sich ein Kopf, dort solgt ein zweiter. Die Busch-
mäuuer kehren zu ihren abgelegten Sachen zurück und begeben sich aus den Heimweg.
Sie übernachten im Lager, mit Morgengrauen sind sie bereits unterwegs und gehen
direkt nach der Stelle, wo sie die Tiere gestern angeschossen haben. Man folgt ihren
Spuren. Gleich am Eingang in das Gebüsch liegt ein Pfeil, dessen Spitze Programm-
mäßig an der Einkerbung abgebrochen ist. Er gehört dem leichter verwundeten Gems-
bockmännchen au. Der zweite Pfeil, der getroffen hat, wird ebenfalls bald gefunden.
Weiter solgt man den Spuren, scharf ausschauend, etwa eine Stunde lang. Da zeigt
einer der Buschmänner auf einige ferne Vögel, die mit breit ausgespannten Flügeln
durch die Luft gleiten. Nnn vorwärts! Die Schar setzt sich in Trab, alle Vorsicht
außer acht lassend. Es gilt, den Aasgeiern die Beute zu entreißen. Schon längst hat
eine Spur die Aufmerksamkeit erregt, die eines Tieres, das anscheinend wiederholt
zurückgeblieben war und wieder nachgelaufen ist. Hier ist eine Lichtung. Da gehen
die Spuren durcheinander. Es ist der Futterplatz des letzteu Abends. Die Bnsch-
männer suchen. Dort gehen die Spuren weiter. Aber die eine zweigt sich bald allein
ab, und bereits nach wenigen Minuten schwirren plötzlich Dutzende von Aasvögeln
auf. Zu spät! Nachts bereits ist das schwerverwundete Weibcben gestorben. Hyänen
haben es zerrissen, Schakale und Aasvögel den Rest geholt. Die spärlichen Fleisch-
fetzen werden gesammel, uud nun geht's zur Hauptspur zurück.
Das also ist der Lohn für so viel Ausdauer und Geschicklichkeit! Der Schuß saß
zu gut für die vorgerückte Tagesstunde, das Tier hat die Nacht daher nicht überlebt.
Jetzt setzt man noch die Hoffnung auf das leichtverwundete Tier. Tie Spuren schlagen
die Richtung auf die Brackpfanne eiu, sicher haben die Tiere dort nachts gebrackt.
Die Pfanne wird erreicht und von einem Versteck aus gemustert. Dort lecken einige
Zebras, dort verschwinden mit langen Sprüngen einige Strauße im Gebüsch, dort
stehen aber auch die Gemsböcke. Richtig, da sind sie, nahe dem Rande der Pfanne,
nur eines steht abgesondert, noch auf der helleu Kalkfläche, ganz still. Näher darf
man nicht heran, der Wind steht ungünstig. Einer bleibt als Beobachter liegen, die
andern gehen zurück und nähern sich im Bogen der Herde. Diese ist inzwischen im
Busch verschwunden, das einzelne Tier ist langsam gefolgt. Das scharfe Auge des
Buschmanns hat längst gesehen, daß es das verwundete Tier ist, hat sogar bemerkt,
daß es bereits recht steifbeinig geht, also an spastischen Krämpfen zu leiden beginnt.
Vorderhand weiß er genug. Man muß noch warten. Es ist Mittagszeit. Man
liegt im Schatten, sucht einige Knollen, einige Früchte, spürt nach dem Nest der Strauße,
das in der Nähe sein muß, und kümmert sich vor allen Dingen nicht um die Gemsböcke.
Diese müssen inzwischen auch ihr Mittagslager bezogen haben. Die Sonne beginnt
sich stärker zu senken, da brechen die Buschmänner auf und folgen schnell der Spur.
Dort im Schatten jener hohen Motsiarabäume war die Rast der jetzt bereits wieder
wandernden Gemsböcke. Wenige Minuten hinter denselben steht aber ein einzelnes
Tier, das verwundete Männchen, ein Anblick zum Erbarmen. Die Beine sind steif
gestreckt, der Hals nach vorn lang ausgereckt, ebenso der Schwanz. Die Haare stehen
wie Borsten ab. Es stöhnt laut auf, schreit und will entfliehen, allein eine Verstärkung
der spastischen Krämpfe ist die Folge. Mit Jubelgeschrei stürzt sich die hungrige Meute
ans ihr Opfer und stößt es mit den Speeren nieder. Nun wird es abgezogen,
18. Das Leben einer Buschmannfamilic.
163
geschlachtet, zerlegt. Einer hat inzwischen ein Feuer angezündet, wirft grünes Laub
und feuchtes Holz in die prasselnden Flammen; ein dicker, schwarzer Rauch steigt hoch
gen Himmel auf, als Signal für die wartenden Gefährten im Lager, daß die Beute
geborgen ist. Leber, Herz und Eingeweide werden sofort auf Kohlen geröstet, und die
Ankommenden finden bereits ein Mahl vor. Auch einige wandernde Buschmänner,
die das Feuer bemerkt habeu und befreundeten Horden angehören, sind willkommen.
Das Tier wird zerteilt, die Stücke zum Lager gebracht, und nun geht's die ganze Nacht
hindurch festlich zu.
Hier braten über den lodernden Feuern große, an Stangen gespießte Fleischstücke,
dort hocken einige umher und verschlingen ungeheure Portionen des halbrohen, heißen
Fleisches, nagen schmatzend mit den Zähnen die Knochen ab, selbst mit Blut und Fett
besudelt. Ist man gesättigt, so beginnt erst recht die Lustbarkeit unter Singen, Tauzen
nnd Händeklatschen. So wechseln die ganze Nacht hindurch Tanz und Schmauserei
ab, bis alles verzehrt ist und der Körper vor Müdigkeit nicht weiter kann.
Am nächsten Morgen beginnt der Kampf ums Daseiu von neuem.
In solcher Weise verlaufen die Jagden des Buschmanns. Eine unendliche Be-
harrlichkeit gehört dazu, mit seinen primitiven Massen, bei dem heutzutage herrschenden
Wildmangel, ein größeres Tier zu schießen. Gelegentlich stößt er wohl zufällig auf
eine ins Fressen vertiefte Herde und kaun aus nächster Nähe ein Tier schießen, im
allgemeinen ist die Jagd aber furchtbar mühsam. Weiter als 60 bis 100 Schritt trägt
der Pfeil nicht, von 30 bis 40 Schritt ab schießt der Buschmann bereits herzlich schlecht.
Auf ganz offenen Grasflächen kriecht er bis auf 30 Schritt heran, nnter dem Schutz
vereinzelter Büsche auf 10 Schritte. Im Busch selbst kriecht er dicht an die Tiere
heran, auf fünf, selbst drei Schritte, sozusagen dem Tier unter den Bauch. Bei der
ganzen Jagd kommt es darauf an, daß der Jäger nicht gesehen wird, auch nach dem
glücklichen Schuß. Die Tiere sollen nicht weit laufeu, vor allem sollen sie im Bereich
des Familiendistrikts bleiben. Wie oft geht aber ein verwundetes Tier trotz aller
Vorsicht verloren! Bald ist die Wunde zu leicht, d. h. es stirbt überhaupt nicht, bald
zu schwer für die betreffende Tageszeit. Am besten ist es, ein Tier am frühen Morgen
schwer zu verwunden in die Brust- oder Unterleibsorgane. Dann bekommt man
Gemsbock, Gnu, Hartebeest, Eland und andre große Antilopen im Laufe desselben
Tages. Kleinere, wie Steinbock und Ducker, sterben im Laufe eines halben Tages.
Dagegen bekommt man die Giraffe selten vor dem dritten, manchmal erst am vierten
Tage. Ein sehr gefährliches Unternehmen ist das Speeren der kranken Tiere. Um
diese noch vor Einbruch der Duukelheit zu töten uud sich dadurch zu sichern, muß der
Buschmann oft mit dem Speer noch verteidigungsfähige Tiere erlegen. Er schleicht
also an das stehende oder liegende kranke Tier von hinten heran und stößt ihm den
Speer in den Leib. Es springt auf und läuft davon, um sich bald wieder hinzulegen.
Dieses Manöver wird unter Umständen mehrmals wiederholt. Oft aber wendet sich
das geängstigte Tier in seiner Verzweiflung gegen seinen Gegner. Da heißt es auf
feiner Hut sein und blitzschnell springen. Der Gemsbock ist weitaus der gefährlichste
Bursche. Manchen glücklichen Schützen fand man auf die langen, spitzen Hörner ge-
spießt neben seiner Beute. Böse ist auch das Gnu, am ungefährlichsten das schwer-
fällige Eland. Bei der Giraffe heißt es aber, die wuchtigen Hufschläge zu vermeiden,
die unfehlbar das getroffene Glied zerschmettern.
Man wird es verstehen, daß bei einer so schwierigen Methode zu jagen, heutzutage
nicht mehr viel Wild erlegt wird. Jm Chanseseld soll eine Familie sehr froh sein, wenn
sie ini Laufe eiues Jahres ein Eland oder Gnu und mehrere kleine Gazellen schießt.
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B. Zur Länderkunde.
In solcher Weise verläuft das Leben einer Buschmannfamilie. Hauptsächlich
wird gesammelt, die Jagd spielt heutzutage nicht mehr die Hauptrolle wie früher. Ist
ein Gebiet abgesucht, so wird ein neues Standlager bezogen, bis der manchmal mehrere
deutsche Quadratmeilen umfassende Familiendistrikt abgesucht ist.
Das Leben des Buschmanns ist hart genug, aber er ist froh, wenn er immerhin
imstande ist, unter Entbehrungen, hungernd und durstend, sein Leben zn fristen. Es
gibt aber auch viel schlimmere Zeiten für ihn. Nehmen wir einmal an — und das ist
nicht so selten der Fall —, daß die Regen am Ende des Jahres ausbleiben. Die
Melonen sind zu Ende, die Knollen geschrumpft, saftlos, der Saugbrunnen versagt.
Was tuu? Drei, vier, fünf stramme Marschtage trennen die Familie von jedem
Wasser. Aber selbst der Buschmann kann nicht mehr aushalten. Schon sind sie alle
erschöpft, abgemagert, der Magen knurrt, die Kehle brennt. Es gibt nur die eine Mög-
lichkeit, Tod oder Durchbruch zum nächsten Wasser. Man läßt alles irgendwie Ent-
behrliche zurück, Hausgeräte, Felle, uud vorwärts geht's, so schnell jeder kann. Nackts
wird gerastet, am Tage marschiert. Zuweilen findet man noch eine Knolle, eine
Wurzel, eine letzte, saftlose Melone. Man sammelt die Kerne der reifen Melonen
und röstet sie abends im Feuer. Man röstet die Sandalen, klopft sie, röstet sie und
klopft sie von neuem, bis sie mürbe genug sind, dann werden sie gegessen. Ebenso
behandelt man die alten, stinkenden Häute, und selbst die Ledermäntel folgen stückweise
nach. Vielleicht rettet der Fund eines Nestes mit Straußeueiern der Familie das
Leben. Wehe dem Kind, wehe dem Greis, wehe dem Kranken, die ans Hunger,
Durst und Schwäche zurückbleiben! Niemand kümmert sich um sie, rettungslos sind
sie verloren, verschollen, aber nicht vergessen. Im Bogen umgeht der Überlebende
in Zukunft die Stätte des Jammers. Er fürchtet die Geister der nnbestatteten Toten.
Am dritten, vierten, fünften Tage wird endlich das Wasser erreicht. Man muß
sie gesehen haben, diese abgezehrten, schwankenden Gestalten, hohläugig, mit ein-
gefallenen Gesichtern, fleischlosen Gliedern und skeleltartigem Brustkorb, der aus-
fallend absticht gegen den dicken, runzligen, schlaffen und doch aufgetriebenen Bauch,
der in der Not mit unverdaulicher Kost gefüllt wurde. Sie steigen in das Brunnenloch
hinab, sie trinken und trinken. Andre schleppen sich hinterher.
Mit dem Verlust einiger, unter Umständen zahlreicher Köpfe erreicht die Horde
das Wasser. Das Leben ist zunächst gerettet, aber Not und Elend enden nicht. Das
Feld ist vielleicht arm an Nahrung, abgesucht von zahlreichen Familien, wildarm,
obwohl sich das Wild in dieser Jahreszeit, wie die Menschen, ans Wasser drängt. An
den Sumpf- und Flußgebieten geraten die Buschmänner aber in die Hände der Neger,
werden ihrer Habseligkeiten beraubt uud zu Frondiensten herangezogen. Kurz, das
Ende der Trockenzeit ist die schlimmste Zeit im Jahre. Die Regen erst bringen Er-
lösung. Jubelnd zieht man wieder hinaus ins Sandfeld.
Allein, oft genug bleiben die Regen aus. Statt Ende Noveniber fallen sie viel-
leicht erst im Februar oder gar im März, wie z. B. im Jahre 1892/93. Tann
erreicht die Not erst den Gipfel und lichtet in erschreckender Weise die Reihen der
bereits durch Hunger ermatteten, verkommenden Häuflein. Man begreift kaum,
wovon dann überhaupt die Bufchmäuner leben, wie sie es fertigbekommen, ihr
elendes Dasein zu fristen.
19, Die Bevölkerung Kameruns,
19. Die Bevölkerung Kameruns.
Von Prof. Or. Kurt Hassert. („Deutschlands Kolonien." 2. Auflage.
Leipzig 1910, Verlag von Dr. Seele & Co.)
Die Bevölkerung des Schutzgebietes wird, freilich zum Teil nur auf Grund sehr
zweifelhafter Schätzungen, auf insgesamt 3£- Millionen Köpfe veranschlagt^. Am
dichtesten ist die Küste, am dünnsten der Urwald bewohnt, worauf sich mit der An-
Näherung an das Grasland die Siedelungen wieder mehren und vergrößern. Da
Kamerun ethnographisch ein Grenz- und Übergangsgebiet ist, so lassen seine Ein-
geborenen in ihrer Zusammensetzung zwei Hauptgruppen, die Bantn- und Sudan-
neger, erkennen, zu denen als fremde, im Laufe der Zeit aber mehr oder minder stark
vernegerte Elemente, die Hauffa und Fulbe, hinzukommen^, während als ein spärlicher
Rest der braunen, zwerghaften Urbevölkerung Afrikas im Urwalde der scheue, klein-
wüchsige Stamm der gelbbraunen Bagielle (Bagelli, Bojelli, Bekwelle) lebt. Die
durchschnittlich nur 1,54 in großen Bagielle sind auf niedriger Kulturstufe stehenge-
blieben. Sie treiben keinen Feldbau, sondern streifen als Jäger familienweise unstet
umher, ihre primitiven, nur aus einem Blätterschirm bestehenden Hütten öfters
wechselnd, und tauschen von den Umwohnern Salz und Feldfrüchte gegen die Erträg-
nisse der Jagd ein. Der Begegnung mit Fremden gehen die Bagielle meist sorgfältig
aus dem Wege, so daß man ihr Gebiet durchstreifen kann, ohne einen Vertreter jenes
merkwürdigen Jägervolkes zu Gesicht zu bekommeu, das auch feine eigene, von den
in Kamerun gesprochenen Negerdialekten durchaus abweichende Sprache redet. Im
übrigen ist der Ackerbau die Hauptbeschäftigung der seßhaften Bantu- und Sudanneger.
Er wird in der Form des Hackbaues mit einer kurzstieligeu Hacke und einem kurzen
Handspaten ausgeführt, die im Lande selbst angefertigt sind. Düngung ist unbekannt.
Ist ein Feld erschöpft, so bleibt es mehrere Jahre brach liegen. Dann wird das in-
zwischen gewachsene hohe Elefantengras niedergebrannt, das als Dünger dient.
Angebaut werden hauptsächlich Planten oder Kochbananen (Nusa paradisiaca),
Mms (Dioscorea sativa), Maniok (Manihot utilissima), Bataten oder Süßkartoffeln,
Kassada, Mais, Negerhirse, Makabo (Koko, Minde, der Taro der Südsee, Arum escu-
lentum) und Erdnüsse, und zwar ist das Hauptnahrungsmittel der Urwaldbewohner,
der Bantu, die Plante, die auf dem Graslande mehr und mehr vor Negerhirse und
Mais zurücktritt3. Ter Feldbau findet seine Ergänzung in der Viehzucht, die nament-
lich im Graslande sehr bedeutend ist, während sie im Urwaldstiefland nur wenig ge-
trieben wird. Daher ist im Küstengebiet frisches Fleisch so selten, daß große Mengen
von Fleischkonserven für die Europäer eingeführt werden müssen. In Buea befindet
sich eine von bayrischen Sennen geleitete Viehzuchtstation, die gute Erfolge mit
1 Einigermaßen genaue Zählungen und Schätzungen ergeben für die Bezirke Victoria
7500. Rio del Rey 32 000, Johann Atbrechts-Höhe 55 000, Ossidinge 20 000, Duala 60—66 000,
Lolodorf 40 000, Lomie 93 000, Buea 10 000, Kribi 34 000, Edea 120 000, Jabafsi und Ebo-
lowa je 180 000.
2 Außer den Fulbe und Haussa sind auch Araber und das Mischvolk der gewerbtätigen
und handelseifrigen Kanuri ins Kameruner Hinterland eingewandert. Die letzteren setzten
sich im 13, und 14. Jahrhundert im heutigen Deutsch-Bornu fest und bilden dessen vorHerr-
schenden Bevölkerungsauteil,
3 Eine ganze Reihe wichtiger Nahrungs- und Genußmittel des Negers ist erst aus
Amerika nach Afrika eingeführt worden, z. B. Mais, Maniok, Erdnuß, Süßkartoffeln und Tabak.
166
B. Zur Länderkunde,
Alaauer Vieh aufzuweisen hal^. Geflügel wird überall in stattlicher Zahl gehalten,
namentlich das Huhn, das jedoch ziemlich klein bleibt. Die einheimische Gewerb«
tätigfeit endlich steht auf keiner hohen Stufe. Die Küfteustämme erhalteu alles, was
sie brauchen, iu reichlicher Fülle aus Europa und haben daher mit Ausnahme des
Bootbaues und einer primitiven Art der Palmölbereitnug fast alle Kunstfertigkeiten
eingebüßt. Dagegen blüht bei den geistig höher stehenden Bewohnern des Binnen-
landes vielerorts die Töpferei und Flechterei, die Baumwollweberei und Färberei,
während die Gewinnung und Verarbeitung des Eisens die höchsten Leistungen Heimat-
licher Kunst nnü Gewerbtätigkeit bedeutet.
Die Bantustämme Kameruns bilden die nordwestlichste Gruppe dieses über das
ganze tropische Afrika ausgebreiteten Sprachstammes uud haben vornehmlich die
Küste und das Urwaldstiefland inne. Weniger in Sitte und Brauch, als vielmehr iu
der Mundart voneinander abweichend, zeigen sie den reinen Negertypns, sind Heid-
nische Fetischanbeter und wohnen in rechteckigen Schrägdachhütten, die nicht selten
zu eiu- oder zweizeiligen Dorfstraßen aneinandergereiht werden. Auf eiuer sehr ver-
schiedenen Höhe der Kulturentwicklung stehend, leben sie teils noch in sehr urwüchsigen
Verhältnissen und huldigen barbarischen Bräuchen, ja sogar noch der Menschenfresse-
rei2, während andre Bautustämme kulturlich schou ziemlich weit fortgeschritten sind.
Das gilt vor allem von den Jaunde und Bulis, die einen guteu Teil der Pslanzungs-
arbeiter und der schwarzen Soldaten der Kameruner Schutztruppe stelleu, und noch
mehr von den Duala, die wohl das am meisten genannte Bantuvolk unserer Kolonie
sinv. Erst vor etwa 200 Jahren in sein jetziges Wohngebiet eingewandert, ist der
ruud 26 000 Köpfe zähleude Stamm heute das herrschende Küstenvolk, das auch kör-
perlich und geistig gegenüber den andern Küstenbewohnern, den Bantanga, Malimba,
Bakoko usw., dem rauhen Gebirgsvolk der Jagd und Viehzucht treibenden Bakwiri
am Südosthange des Kamerunstockes und den ihnen nahe verwandten Bambnko auf
der Nordwestabdachuug jenes Gebirges eine hervorragende Sonderstellung einnimmt.
Als Anwohner des handelswichtigen Kamerunbeckens uud als ein echtes Kaufmanns-
Volk, das zur Plautageuarbeit nicht zu gebrauchen ist, haben sich die Duala lange Zeit
hindurch im Handelsleben des Schutzgebietes eine einflußreiche Stellung zu sichern
gewußt und sind durch die Monopolisierung des mühelosen, gewinnbringenden Zwi-
schenhandels, dessen Hauptvertreter sie waren, wohlhabend, aber auch jeder ernsten
Arbeit entfremdet worden. Infolgedessen sind sie faul und unverschämt, lügnerisch
und unzuverlässig, uud ihr moralischer Wert ist geriug, da sie eher die schlechten als
die guten Seiten der europäischen Zivilisation angenommen haben. Die Haupt-
arbeiten, namentlich der sehr vernachlässigte Feldbau uud die wenig entwickelte Vieh-
zucht, werden von den Sklaven und den als gute Kapitalanlage und als Arbeitstiere
geltenden Frauen nur so weit betrieben, als es zur Bestreitung des Haushaltes not-
wendig ist. Die Frauen nehmen eine untergeordnete Stellung ein. Sie werden
gekauft, und zwar erwirbt ein Mann um so mehr Weiber, je reicher er ist, weil er da-
durch seine Arbeitskräfte und damit seine Einnahmen vermehrt. Die Frauen konnten
wie jede Ware auch an Geldes Statt verpfändet werden, um durch ihrer Hände Arbeit
die Schuld zu tilgen, wobei freilich Alte und Arbeitsunfähige nicht in Zahlung ge-
nommen wurden. Aus diesem Brauche ging die Einrichtung der sogenannten Pfand-
1 Die Station soll die Europäerkolouie in Buea mit frischem Fleisch versorgen und zur
Verbesserung der heimischen Rinderrassen beitragen.
2 Für den Kannibalismus der Maka macht man den Fleischmangel ihres nicht allzu
wildreichen Wohngebietes verantwortlich.
19. Die Bevölkerung Kameruns,
167
weiber hervor, die bei der Empörung gegen den Kanzler Leist eine Rolle spielte und
wegen ihrer vielen Unzuträglichkeiten von der deutschen Regierung abgeschafft ist.
Im übrigen sind die Duala ein wohlbeanlagtes Volk. Das beweist ihr Verständnis
für Schnitzarbeiten aller Art und der Gebrauch einer ebenso schwierigen als sinnreichen
Trommelsprache, die ein regelrechtes System der Telegraphie darstellt und eine
rasche und ausgedehnte Verständigung ermöglicht^. Da sie rasch und willig lernen,
so werden auch die Regiemugs- und Missionsschulen und die Gouveruemeuts-Werk-
statten sleißig von ihnen besucht, weshalb die im Berwaltuugs-, Post- und Zolldienst
verwendeten und in den Faktoreien angestellten schwarzen Kanzlisten, Dolmetscher
und Clarks meist Dnala sind. Der Einfluß der Mission und die langjährige Berührung
mit den weißen Kaufleuten haben es mit sich gebracht, daß sich die Dnala vielerlei von
den Äußerlichkeiten der europäischen Kultur angeeignet haben. Sie lieben es, ihre
Hütten behaglich einzurichten und sie nach europäischem Vorbild aus Planken, Ziegeln,
Wellblech und Beton zu bauen, wie auch die europäische Kleidung bei ihnen immer
mehr Eingang findet.
Bei den Küstenstämmen besteht die Sklaverei, allerdings mehr in der milden
Form der Leibeigenschaft, weil die Sklaven als Arbeitsmaschinen ihren Geldwert
haben. Sie bewohnen in der Nähe des Hauptdorfes oft dichtbevölkerte Ortschaften,
die sogenannten Ningadörfer, im Mungogebiet auch Batan genannt, erhalten mehrere
Wochentage für ihre eigenen Arbeiten frei und müssen vor allem die Farmen für die
Freien bebauen. Wegen ihrer großen Zahl sowie wegen ihrer körperlichen und
geistigen Überlegenheit haben die Sklaven — meist Grasländer, die als Kriegsgefan-
gene an die Küste verkauft wurden — nicht selten eine solche Macht, daß ihre Herren
geradezu auf ihren guten Willen angewiesen sind. Es gibt sogar Sklaven, die selbst
wieder Sklaven halten. Tritt daher die in Westafrika nicht allzu seltene Notwendigkeit
eines Menschenopfers ein, z. B. beim Tode eines Häuptlings oder wenn es gilt, bei
schwereren Vergehen statt des schuldigen Freien einen Sklaven auszuliefern, so muß
man sich des Opfers oft mit List versichern. Innerhalb des deutschen Machtbereiches
siud natürlich derartige Greuel verboten, und den Herren ist das Recht über Leben
und Tod ihrer Sklaven genommen. So gering aber werden sie geachtet, daß die
wegwerfende Bezeichnung „Nigger" auch von den Freien häufig auf ihre Sklaven
angewendet wird. Einen freien Neger so zu nennen, würde eine schwere Beleidi-
guug sein.
Der Verlauf der UrWaldgrenze und des Steilabfalles des Hochlandes bildet in
der Hauptsache auch die Scheidelinie zwischen den Bantn- und den Sndannegern^,
denen als Kindern der offenen Savanne das Leben im dunklen Urwald fremd ist.
So groß sind die Unterschiede in allen geographischen und ethnologischen Verhältnissen,
daß der aus dem Urwaldstiefland kommende Europäer sich plötzlich in eine ganz neue
1 Die Trommelsprache ist in Kamerun noch mehrfach verbreitet. Mehr oder weniger
ausgebildet findet sie sich bei fast allen Urwaldstämmen, um im verkehrsfeindlichen, jedem
Überblick unmöglich machenden Dickicht ein weithin vernehmbares Hilfsmittel mündlicher Ver-
ständigung zu haben. Ferner besitzen die Bakofsi eine ziemlich kunstvoll durchgeführte Trom-
melsprache, und auch den Mangu- und Gonjaleuten im Hinterlande von Togo ist dieses Ver-
ständigungsmittel wohlbekannt.
^ Die Völkergrenze fällt in Nordwest-Kamerun genau mit dem Croßflnß zusammen,
so daß die Bewohner von Ossidinge noch Bantu, die des gegenüberliegenden Ufers bereits
Sudanneger sind. In ähnlicher Weise trennt der Sanaga als eine große Völkerscheide die
an seinem linken Ufer sitzenden Bantu von den sofort an ihren Rundhütten erkennbaren Su--
d annegern.
168
B. Zur Länderkunde.
Welt versetzt sieht. Begegnet er doch auf der nach Oberflächenformen, Klima und
Pflanzenleben vom Waldgebiet grundverschiedenen Grasflur Leuten, die in Gestalt
und Lebensweise, in Waffen, Wohnung und Kleiduug und in vielen andern Dingen
des Kulturbefitzes durchaus von den Urwaldbewohnern abweichen. Schlank und
sehnig gebaut und meist mit wohlgebildeten Gesichtszügen, stehen die Sudanneger
auch geistig höher als die Bantu. Sie zeigen Verständnis für Kultur und Fortschritt,
treiben einen nicht unentwickelten Ackerbau und lassen in Tracht, Anschauung, Lebens-
weise und politischen Dingen bereits den Einfluß des Islam erkennen, der in Adamaua
und Deutfch-Bornn eine maßgebende Rolle spielt. Während die Vornehmen das
Haussagewaud angenommen haben, begnügt sich das gewöhnliche Volk mit einem
Lendenschurz, und bei den Frauen stellt die Einreibung mit Rotholz, ein Bastschurz,
eine Perlenschnur um die Hüften oder ein Grasbüschel am Kreuz die einzige Bekleidung
dar. Die Sudauneger wohnen in runden oder viereckigen Hütten mit hohem spitzen
oder pilzförmigem Kegeldach, die viel kleiner als die geräumigen Langhäuser der
Bantu sind und sich in regelloser Anordnung zu weitzerstreuten Dörfern zusammen-
schließen. Denn in demselben Maße, in welchem der Urwald zur Zusammendrängnng
zwingt, ladet die offene Grasflur zur Ausbreitung ein. Diese Bauart uud Siedlungs-
weise kann durch den ganzen Sudan hindurch bis nach Abessinien verfolgt werden.
Auch der Tabak, der im Waldlande der wichtigste Zahlungs-, Tausch- uud Geschenk-
artikel ist, hat seine beherrschende Stellung verloren. Statt seiner spielen Stoffe,
Perlen, Spiegel, Decken, Streichhölzer und Parfüms die Hauptrolle als Wertmesser.
Tie Trommelsprache hat hier ebenfalls das Ende ihrer Verbreitung gefunden. Statt
ihrer bedient man sich kleiner, hellklingender Flöten, oder man hallert, d. h. man ruft über
Berg und Tal hinweg mit lauter, gedehnter Stimme sich Nachrichten und Neuigkeiten zu.
Die an der Urwald- und Savannengrenze seßhaften Stämme, deren bedeutendste
die Bamums, Balis, Bafut, Bakossi uud Wute sind, sind Mischvölker zwischen Bantu-
und Sudannegern und sprechen die Sudansprachen. Sie haben es zum Teil schon
zu ansehnlichen Anfängen kräftiger Staatenbildungen gebracht. Die Banmms und
ihr intelligenter König Joja lassen auch in interessanter Weise erkennen, wie weit sich
eine selbständige Zivilisation bei den Binnenstämmen vor der Berührung mit den
Weißen zu entwickeln vermochte. Als Bamum im Jahre 1900 entdeckt wurde, stauute
man über die stattlichen Banten der ausgedehnten Landeshauptstadt Fumbau, die
von 18 000 Menschen bewohnt und von einem 23 km im Umfang messenden Wall
und Graben, stellenweise in doppelter und dreifacher Umgürtung, rings umzogen
wird. Josa hat sogar eine aus Silbenzeichen bestehende Schrift erfunden und aus-
gebildet, um sie für seine Regieruugstätigkeit zu benutzen.
Da der verkehrshemmende Urwald die Vereinigung seiner Bewohner zu größereu
staatlichen Verbänden erschwert, so zerfallen die einzelnen Waldstämme in weitgehen-
der politischer Zersplitterung in eine Unmenge kleiner Gemeinschaften, die, jede für
sich, selbständig nebeneinanderstehen und deren Häuptlinge den stolzen, aber inhalt-
losen Namen King führen. Umfaßt doch ihr Reich oft bloß ein unbedeutendes Dörf-
chen! Diese Kings sind also nicht etwa mit europäischen Fürsten oder den Sultanen
des Kameruner Hinterlandes zu vergleichen, und ebensowenig sollte man sie durch
hochklingende Titel oder durch Salutschüsse ehren, wie es mehr als einmal geschehen
ist. Denn solche unangebrachte Ehrenbezeugungen tragen nur dazu bei, die deu Negern
innewohnende Überhebung gegen die Weißen noch mehr zu steigern, ganz abgesehen
davon, daß das Ansehen dieser „Buschkönige" bei ihren Untertanen sehr gering ist
znm Unterschiede von der geachteten Stellung und dem würdevollen Auftreten der
19. Die Bevölkerung Kameruns. 169
Graslandhäuptlinge. Ihre Macht liegt lediglich in ihrem Reichtum an Weibern und
Sklaven, die ihnen teils als Arbeitstiere dienen, teils — durch Frauen kauf, d. h. durch
Heirat — durch die Erweiterung der verwandtschaftlichen Beziehungen die Handels-
Verbindungen auf möglichst viele Ortschaften ausdehnen. Demgemäß sind die Häupt-
Tinge gewöhnlich die Haupthändler, was aber ihre Untertanen nicht hindert, sie fort-
zusagen, wenn sie ihnen nicht mehr passen.
Die politische Auflösung verursacht natürlich eine politische Ohnmacht, die es mit
sich gebracht hat, daß die auch sprachlich in zahlreiche, einander fremd gegenüberstehende
Gruppen zerfallenden Neger dem Ansturm der geschloffen auftretenden Macht der
kriegerischen, durch den Islam zu verhältnismäßig fest organisierten Staaten geeinten
Fulde nicht standzuhalten vermochten. Die Sndanneger wichen vor ihnen zurück und
trieben ihrerseits die an Mut minderwertigen Bantu vor sich her*, so daß ein allgemei-
nes und unaufhaltsames Hindrängen der Binnenstämme gegen die Küste die Folge
dieses ethnographischen Verschiebungsprozesses war, deu erst die Ausbreitung der
europäischen Mächte im Hinterlande der Guineaküste zum Stillstand gebracht hat.
Auf ihreu Raub- und Eroberungszügen^ brachten die Fulde zwei den Negern West-
afrikas ganz unbekannte Haustiere, das Pferd und das Buckelrind, mit.
Neben den kriegerischen Fulde sind die friedlichen, handeltreibenden Haussa die
Träger der mohammedanischen Lehre und Halbkultur geworden. Die Haussa sind
ein stark mit berberischem Blute gemischtes Sudauuegervolk uud wanderten als sried-
liche Händler schon im Mittelalter in die noch heute von ihnen bewohnten Gebiete des
westlichen und mittleren Sudans ein, in denen mit der Ausbreitung ihres Handels-
einslusses auch ihre wohlklingende Sprache ganz allgemein die Handels- und Ver-
kehrssprache geworden ist. Denn wie in Togo, so liegt auch im Kameruner Hinter-
lande der Binnenhandel fast ausschließlich in der Hand der Haussa, die, obwohl in ihrem
Geschäftsgebaren nicht immer einwandfrei, bei den beschränkten Verkehrsmitteln der
Kolonie doch für den Binnenhandel unentbehrlich find und als geschickte Gewerb-
treibende^ und rührige Kansleute lebhafte Handelsverbindungen unterhalten^. Bis
tief hinein in den Zentral-Sudan und ins Kongogebiet, bis nach Togo und in die
Wüste Sahara, ja in vereinzelten Kolonien bis nach Nordafrika sind jene wander-
lustigeu Kaufleute vorgedrungen, und jeder größere Ort besitzt sein besonderes Haussa-
viertel, in dem die fremden Gäste unter ihrer eignen Obrigkeit wohnen. Die Haussa
1 Die Sudanneger sind erst in junger Vergangenheit in ihr heutiges Grenzgebiet in
Kamerun gelangt. Denn mit Sicherheit läßt sich behaupten, daß die meisten der längs des
Hochlandsrandes an der Grenze zwischen Wald- und Grasland zerstreuten Siedlungen nicht
älter als 6—7 Jahrzehnte sind.
2 In den von den Fulde unsicher gemachten Gebieten zeigen die Siedlungen fast durch-
weg den Schutztypus, indem sie entweder zwischen Sümpfen und im Walde versteckt liegen,
oder auf schwer zugänglichen, weit ins Land hineinlugenden Höhen errichtet sind und oft, wie
alle größeren Städte, von einem Wall und Graben umgeben werden.
3 Sie sind die Träger mancher immerhin hochentwickelter Industrien, insbesondere der
Eisen- und Flechtereiindustrie, der Töpferei, Gerberei und Lederverarbeitung, der Weberei
uud Färberei. Daher auch die weite Verbreitung des Baumwoll- und Jndigobaues in Ada-
maua.
4 Nach Durchbrechung des Zwischenhandelsgürtels haben die Haussa ihre Haudelsver-
bindnngen bis zur Kamerunküste ausgedehnt. Die Hanptgrundlagen des Haussahandels bil-
den Vieh und Kolanüsse. Die Landschaften Bansso und Basum in Nordkamerun gehören zu
den Hauptgewinnungsstätten jener im ganzen Sudan so lebhaft begehrten Frucht. Wie loh-
nend ihr Vertrieb ist, geht daraus hervor, daß in Bensso für 1000 Nüsse 5 Mark bezahlt werden,
während schon in Banjo 100 Nüsse 3 Mar! kosten und in den Tsadseeländern jede Nuß für
10 Pfennige verkauft wird.
170
B. Zur Länderkunde,
traten um 1540 zum Islam über und gründeten auch eine Reihe von Staaten, die aber
zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Fnlbebewegung zum Opfer fielen. Darum sind
die Fulbe die politischen Machthaber, die Haussa die Träger des Wirtschafts- und
Handelslebens, uud die Fulbefürsteu, denen sie reichliche Vorschüsse gewährten, sind
ihnen meist tief verschuldet.
Die Fulbe drangen vom 15. Jahrhundert ab in die Haussastaaten ein, zunächst
als friedliche Rinderhirten, wie sie noch heute uuter dem Namen Bororo im Käme-
rnner Hinterlande in zahlreichen, ziemlich rein gebliebenen Kolonien anzutreffen sind.
Als Hirtennomrden wandern sie dort zwischen sesten Wohnsitzen auf geuau bestimmten
Wegen umher, während sonst die Fulbe seßhaft geworden sind und als ein in der
Minderzahl befindlicher Hirtenadel über die große Masse der Ackerbau treibenden
Neger herrschen. Die Fulbe nahmeu ebenfalls begeistert die mohammedanische Reli-
gion an und gaben den Haussastaaten einen ganz neuen Aufschwung, indem sie die
politische Macht an sich rissen und dadurch das eigentliche Bindemittel der politischen
Gebilde des westlichen Sudans wurden. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts erweckte
nämlich der fanatische Fulbe-Jmam Othman Dan Fodio einen auf politifch-religioser
Grundlage ruheudeu großen Aufstand, der zur Beseitigung der morsch gewordenen
Haussaherrschast führte. Ein Unterführer namens Adama eroberte in den zwanziger
Jahren auch das Kameruner Hinterland, das nach ihm seine jetzige Bezeichnung
Adamaua erhielt. Er gründete dort das Emirat Jola, neben dem in Deutsch-Adamaua
zahlreiche Vasallenstaaten und wiederum von ihnen abhängige Gebiete entstanden,
z. B. die Sultanate oder Lamidate Ngaumdere, Tibati, Ngilla, Bubaudjidda, Ga-
schaka, Kontscha uud Banjo. Adamaua ist somit keiu geographischer, sondern ein
historisch-politischer Sammelbegriff uud umfaßt die infolge der Fnlbe-Eroberung im
Hoch- und Tiefland des oberen Benue uud seiner Zuflüsse eutstandenen Reiche, die
bis zur politischen Aufteilung des Hinterlandes nach Art der mittelalterlichen Lehens-
staaten, llllerdings nur iu ganz lockerem Gefüge, der Oberherrschaft des Emirs von
Jola Untertan waren, der seinerseits wieder dem Fnlbeklliser in Sokoto tributpflichtig
war*. Jetzt sind freilich die meisten Fulbestaaten, die ohnehin in einem uuaufhalt-
fameu Verfall begriffen waren, von den europäischen Kolonialmächten zertrümmert
worden, nachdem sie ebensowenig wie früher die Haussa das ganze von ihnen eroberte
Gebiet unumschränkt zu beherrschen vermochten. Vielmehr sitzen zwischen den srem-
den Einwanderern noch zahlreiche Heidenstämme unabhängiger Sudanneger, die sich
vor den Reiterscharen ihrer mohammedanischen Bedrücker in die schwer zugäuglicheu
Juselgebirge zurückgezogen haben und ihnen dort energischen uud erfolgreichen Wider-
stand leisteten. Das Mandaragebirge und seine Umgebung ist der Hauptsitz der frei
gebliebenen ursprünglichen Landesbewohner, zu denen in Deutsch-Boruu vor allem
die Mnsgu gehören. Die Heidenstämme lieferten den Fulbe hauptsächlich die Sklaven
zum eigenen Gebrauch uud zum Verkauf. Nachdem aber die deutsche Regierung die
zu diesem Zwecke systematisch unternommenen Raubzüge uuterdrückt hat, ist damit
eiue Hauptquelle des Wohlstandes für die Fulbe vernichtet worden, die als ein stolzes
Krieger- und Herrenvolk keinerlei Arbeit verrichten, sondern die Bewirtschaftung ihrer
1 Nach der Neuordnung der politischen Verhältnisse sind die ehemaligen Vasallen des
Emirs von Jola, die ohnehin fast unabhängig von ihm waren, unmittelbar unter deutschen
Einfluß getreten. Ebenso sind die Sultane von Gulfei, Kusseri, Logoue, Mandara und Dikoa,
die zusammen mit dem Lande der heidnischen Musgu Deutsch-Boruu bilden, von ihrem frühe-
ren Lehensherrn, dem Kaiser von Bornn, unabhängig gemacht und direkt der deutscheu Ver-
waltung unterstellt worden.
19. Die Bevölkerung Kameruns.
Felder und die Pflege ihrer Rinderherden ausschließlich durch Sklaven besorgen lassen.
Die Folge ist eiue zunehmende Verarmung der Fulbe, die zur Unzufriedenheit führt,
weshalb' das auch dem religiösen Fanatismus zugängliche Volk einer sorgfältigen
Überwachung bedarf. Sie ist um so notwendiger, als ganz Nordkamerun bereits iu
den politischen und wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Machtbereich des Islam
hineinragt und dadurch mit der übrigen mohammedanischen Welt Nordafrikas in eng-
stem Zusammenhange steht.
Der Rassenzugehörigkeit nach sind die Fulbe oder Fullah von den Haussa durchaus
verschieden, da sie ein berberischer, also ein hamitischer Volksstamm sind, der aller-
dings stark Vernegert ist und dadurch seine auffallend helle, gelbbraune Hautfarbe
zum Teil verloren hat. Die Fulbe sind magere, sehnige Gestalten von ungleich edlerem
Körperbau als die Neger, von denen sie auch durch ihren oft geradezu europäischen
Gesichtstypus und durch ihr schwarzes, aber nicht wolliges Haar in jeder Beziehung
abweichen. Gleich deu Haussa gehen die Fulbe ganz allgemein bekleidet, indem sie
den Leib in eine faltige Tobe und die Beine in faltige Pluderhosen hüllen. Das
Haupt bedeckt ein Turban, die Füße sind meist mit Sandalen bekleidet, und über die
Schulter hängt das in prächtig verzierter Lederscheide steckende gerade Schwert. Die
Frauen tragen fast ausnahmslos einen kleinen, oft mit Perlen verzierten Nasenpflock.
Die Fulbe haben endlich auch volkreiche, durch Lehmwall und Graben befestigte
Städte von meist e.'heblicher Ausdehnung gegründet, die wie das englische Jola und
die in Dentsch-Adam.ma liegenden Orte Nganmdere, Tibati, Garua, Dikoa usw. bis
zu 30 000 Einwohnern zählen. Dank den dort ansässigen Haussa sind sie die Sitze
einer nicht unentwickelten Gewerbtätigkeit und eines sehr lebhaften Verkehrs. Alle
Lebensbedürfnisse kann mm auf den großen Märkten des Kameruner Hinterlandes
befriedigen, von den Erzeugnissen des eigenen Landes bis zu den gangbarsten enro-
päischen Massenfabrikaten. Freilich darf man sich unter jenen Städten, von denen
die meisten wichtige Kreuzungspunkte vielbegangener Karawanenstraßen sind, nicht
Städte in uuserm Sinne vorstellen, sondern es handelt sich bei ihnen um die Zu-
sammeudrängung einer größeren Menschenzahl, die in regellos zerstreuten, von hohen
Mattenzäunen umgebenen Hütten und Gehöften wohnt. Innerhalb des umfang-
reichen Wallkranzes liegt auch viel Ackerland, das im Falle einer Belagerung die Ein-
geschlossenen vor Mangel schützen soll.
Die Zahl der Europäer in Kamerun, die 1891 erst 137 betrug, hat unter deutscher
Herrschaft eine stetige Zunahme erfahren und war 1903 auf 679 Köpfe, 1908 aber auf
1128 Seelen (987 männlich, 141 weiblich) gestiegen. Die große Mehrzahl der Weißen
besteht aus Deutschen, und dem Berufe nach stehen die Beamten und die Angehörigen
der Schutztruppe, die Kaufleute und Pflanzer, Missionare^ und Handwerker obenan.
i Unter den Eingeborenen sind vier Missionsgesellschaften tätig, die katholischen Pal-
lottiner (10 Stationen) und die protestantischen Missionsgesellschaften der Basler Mission, der
deutschen Baptistenmission (4 Stationen) und der amerikanischen Presbyterianer (4 Stationen).
Sie alle haben auf ihren Hauptstationen nebst den zugehörigen Außenstationen zahlreiche
Schulen errichtet, die meist mit landwirtschaftlicher Unterweisung und praktischem Handwerks-
Unterricht verbunden sind. Das Gouvernement unterhält vier Regierungsschulen für Farbige
in Dnala, Victoria, Jannde und Garua, dazu in Buea eine Handwerkerschule, deren einge-
borene Zöglinge vorzugsweise in der Bau- und Möbeltischlerei unterrichtet werden. — Tie seit
1828 an der Goldküste wirkende Basler Mission hat mit 12 Stationen, 1 Seminar zur Heran-
bildung farbiger Lehrer uud Prediger, 238 Schulen und 9200 Schülern in Kamerun das aus-
gedehnteste Wirkungsfeld und besitzt auch einige reich ausgestattete Faktoreien, die aber weder
Rum noch Pulver verkaufen.
172
B. Zur Länderkunde,
20. Gesamtbild der Wirtschaft der Union und ihrer Hauptteile.
Von A. Oppel. („Wirtschaftsgeographie der Vereinigten Staaten
von Nordamerika." Halle 1907, Gebauer-Schwetschke Druckerei und
Verlag m. b. H.)
Bei der Betrachtung des Erwerbslebens eines Gebietes kann mmt von verschie-
denen Gesichtspunkten ausgehen, unter denen für unseren Zweck naturgemäß der
geographische und der wirtschaftliche in erster Reihe stehen, während andere wie der
technische, der soziale und uational-politische nur gestreift werden können. Bei dem
geographischen Gesichtspunkt nimmt die Ortlichkeit, bei dem wirtschaftlichen der
Umkreis der das Erwerbsleben ausmachenden Tätigkeiten das Hauptinteresse in An-
spruch.
Vom geographischen Standpunkte aus zerfällt, wie aus den Darleguugen des
ersten Kapitels hervorgeht, der Staatskörper der Union (ohne Alaska) in zwei Haupt-
teile: den Osten und den Westen, denen vermöge ihrer voneinander abweichenden
Naturbeschaffenheit verschiedenartige wirtschaftliche Aufgaben zugewiesen sind.
Dazu gesellt sich als eiue Art Anhängsel das pazifische Küstenland.
Der Osten, der bis an den Fuß des Felsengebirges reicht, ist zwar hauptsächlich
für Waldausbeute, Fischerei, Pflanzenbau uud Tierzucht veranlagt, aber er gibt
vermöge seines Reichtums an Kohle und Eisen, an Kupfer uud Blei, au Zink und
Petroleum die beste Gelegenheit zu Bergbau und industrieller Tätigkeit. Dadurch,
daß er auf drei Seiteu voni Wasser begreuzt ist: im Osten vom Atlantischen Ozean,
nn Süden vom mexikanischen Golf, im Norden von den Großen Seen, ist er ausge-
zeichnet für Verkebrsentwickluug uach innen und außen begabt und wird darin
wiederum durch die großartigen Lager von Kohle uud Eisen, welche die für die Ver-
kehrsmittel nötigen Rohstoffe liefern, in hervorragendster Weise unterstützt. Der Osten
würde somit ein Wirtschaftsgebiet von idealer Vollenduug sein, wenn er mehr Edel-
metalle: Gold und Silber besäße als er hat.
Mit diesen wichtigen Naturschätzen ist der trockene gebirgige uud verkehrsschwierige
Westen ausgerüstet, deu wir vou dem Ostfuße des Felseugebirges bis an den Kamm
der pazifischen Hauptgebirgskette: Sierra Nevada von Kalifornien und Kaskaden-
gebirge rechnen, im übrigen aber fehlen fast alle Vorausfetzuugeu für eiue selbständige
Wirtschaftsentwickluug. Wertvoll wird er daher durch Angliederung an den Osten,
dem er anderseits eben durch seiueu Reichtum an Edelmetallen eine notwendige Er-
gänzung gewährt.
Das pazifische Küstenland, von der pazifischen Hauptgebirgskette bis zum
Stillen Ozean reichend, ist eine kleine Welt für sich, ein wirtschaftlicher Mikrokosmos
des Gesamtstaates, denn er vereinigt in sich alle wesentlichen Eigenschaften und läßt
kaum eiueu erustlicheu Wunsch unerfüllt. In seinen Gebirgen besitzt das pazifische
Küstenland fast alle überhaupt besteheudeu mineralischen Stoffe uud ungeheure,
höchst wertvolle Waldungen; in seinen Flüssen wimmelt es von Fischen. Tie Tal-
ebenen und Berglehnen tragen Wiesen und Weiden für Viehhaltung, eignen sich aber
auch zu verschiedenartigem Pflanzenban, namentlich zur Gewinnung von Edelobst
und Südfrüchten. Tie mannigfaltigen Rohstoffe aller drei Naturreiche bilden die
Voraussetzung für die zukünftige Entfaltung der Industrie, die Küste öffnet sich mehr-
fach für den Außenverkehr. Unter allen größeren Teilen der Union würde sich das
pazifische Küstenland am besten für die Organisation eines selbständigen Staates
20. Gesamtbild der Wirtschaft der Union und ihrer Hauptteile.
173
eignen, denn er ist tatsächlich nach allen Himmelsrichtungen durch scharfe Natur-
grenzen abgesondert und selbständig hingestellt: im Norden, Westen und Süden durch
das Meer, im Osten durch eiue großartige Folge von Wüstensteppen und hoheu Ge-
birgen, wie sie sich in potenzierter Form nur in Hochasien wiederfindet. Aber auch
als Teil des Gesamtstaates ist das Pazifische Küstenland von höchster Wichtigkeit und
setzt dem Ganzen erst die Krone auf, denn es bildet das idealste Abschlußstück nach Westen
hin und bietet zugleich die Möglichkeit, den Verkehr auf dem Stillen Ozean in be-
liebiger Richtung und Ausdehnung zu entfalten. Tie Opfer, welche gebracht worden
sind, um zur Anknüpfung dieser Perle die Eisenbahn über Gebirge und durch Wüsten-
steppen zu führen, haben sich tatsächlich schon jetzt glänzend gelohnt und werden in
Zukunft noch reichere Erträge liefern.
Im Verhältnis zu dem Westen und zu dem pazifischen Küstenland ist der Osten
zu groß und zu mannigfaltig, um ihn nicht in mehrere Unterabteilungen zu zerlegen.
Wir stellen deren drei aus: den Nordosten, den Süden und das Mississippiland, die neben
manchen gemeinsamen Eigenschaften wie Reichtum an Wald und Mineralien auch
eiue Reihe vou Besonderheiten aufweisen, allerdings ohne daß die Grenzen so haar-
schars gezogen werten könnten, wie dies bei den Hauptteilen der Fall ist, namentlich
wenn die Verschiedenheit ganz oder vorzugsweise durch das Klima hervorgerufen wird.
Der Nordosten, welcher mit den Gebieten von Neu-England und der Mittel-
atlantischen Staaten zusammenfällt, aber auch Abschnitte der beiden Virginien, Mary-
lands und des oberen Ohiobeckens mit umfaßt, ist wegen seiner Beschaffenheit für
Bodenanbau uud extensive Viehhaltung in größerem Maßstabe nicht geeignet, bietet
aber wegen seines enormen Reichtums an Kohlen und Petroleum und wegen seines
ansehnlichen Vorrates an Eisen eine vorzügliche Grundlage für die Entwicklung der
Fabrikindustrie und in Verbindung mit seiner hafenreichen Küste und der Nähe der
Großen Binnenseen die Veranlassung zur mannigfaltigsten Ausgestaltung des Ver-
kehrs. Tatsächlich liegen hier die großen Mittelpunkte für Industrie und Verkehr wie
Groß-New Dork, Philadelphia, Boston und Baltimore, welche den größeren Teil
der Beziehuugeu zum Auslände in sich vereinigen. An der Küste des Nordostens be-
finden sich auch die ergiebigsten Gewässer für Hochseefischerei.
Von unschätzbarem Werte für die rasche und wirksame Entfaltung des Binnen-
Verkehrs war die Anordnung der sogenannten „schwarzen Metalle" beieinander und
in großer Nähe der Ostküste, an der die Einwanderungswellen branden. Mit den
schwarzen Metallen konnten vor allem die Eisenbahnen gebaut werdeu, welche das
unerläßliche Menschenmaterial eiligst in das Innere schaffen und dadurch die in vielen
Beziehungen bedenkliche Aufstauung an der Küste zwar nicht ganz verhindern, aber
doch erheblich abschwächen können. Denkt man sich, daß die Lager von Eisen und Kohle
nicht an den Stellen gewesen wären, wo sie sind, so hätte die Binnenbewegung der
Einwanderer nach Westen nicht mit der Schnelligkeit vor sich gehen können, wie sie
geschehen ist und in: Interesse des allgemeinen wirtschaftlichen Fortschrittes unbe-
dingt nötig war. Wohl stand die Wasserstraße der Großen Seen zur Verfügung, aber
abgesehen davon, daß sie ursprünglich an manchen Stellen schwierig war, und daß
ihre Umgebungen nur zur Hälfte zum Staatskörper der Union gehören, sind ausge-
dehnte Flächen wie namentlich die Uferländereien des Oberen Sees wegen ihrer
felsigen Beschaffenheit zur Aufnahme einer größeren Menschenmenge nicht geeignet.
Der Zuzug in das ungemein fruchtbare Land am oberen Mississippi und am Red
River des Nordens wäre jedenfalls stark ins Stocken geraten oder vielleicht für längere
Zeit ganz ausgeblieben. Denkt man sich anderseits, daß der Znzng der Einwanderer
174
B. Zur Ländeikunde.
nicht von Osten, sondern von Westen hergekommen wäre, so wäre durch die uuge-
heure Folge von Wüstensteppen und Hochgebirgen seiner Verbreitung nach Osten
ein gebieterisches Halt zugerufen worden. Hinwiederum war es der ungeheure
Reichtum an leicht ausbeutbaren Edelmetallen, der die Menschen aus dem Osten in
den unwirtlichen Westen lockte und teilweise auch festhielt.
Durch einen Glncksumftand ersten Ranges, nämlich durch das Zusammentreffen
des Einwandererstroms mit den großen Eisen- und Kohlenlagern, wurde der Nord-
osten der Sitz der wirtschaftlichen Hochkultur und der bislang stärksten Volksverdich-
tung, zugleich aber auch der politischen Herrschaft uud der maßgebenden nationalen
Bestrebungen. Tatsächlich drängt sich hier der größte Teil der Gesamtbevölkerung
und des Nationalvermögens zusammen. In den führenden Staaten New Dork,
Pennfylvanien und Massachusetts steckt gewissermaßen die oberste Leitung der Volks-
Wirtschaft, der Kopf der Vereinigten Staaten. Von hier verbreiten sich nicht nur die
Eisenbahn- und Telegraphenlinien über die übrigen Teile der Union, sondern auch
die fruchtbaren Gedanken und die großen Unternehmungen.
Rechnet man zu dem Nordosten mit E. Teckert noch das obere Mississippigebiet
dazu, so erhält man ein Areal von 1614350 qkm (21%) mit 44MilI. Einwohner (58%)
und einer Volksdichte von 27 Personen. Von der Kohlenproduktion entfielen 1900
auf diesen Raum 73%, von der Roheifenproduktion 77%, von dem Petroleum 79,
vom Salz 82%, vom Mais 57%, vom Weizen 47%, vom Hafer 76%, von Farmrindern
40%, von Milchkühen 60%, von den Pferden 61%, von den Schweinen 54%, von den
Jndustrieerzeuguissen 81%, von den Maschinenkrästen 74%, von den Baumwoll--
spindeln 76%, von dem gesamten Steuerwerte 75%, von den Großstädten 74%.
Der Süden im historischen Sinne oder der geographische Südosten, der die
Staaten südlich des 37. Parallels (die alten Sklavenstaaten, den Baumwollgürtel)
umfaßt, steht zwar dem Nordosten an Alter seiner wirtschaftlichen Entwicklung nicht
nach, wohl aber an Intensität und Mannigfaltigkeit. 'Obfchon auf zwei Seiten vom
Meere umgeben und in der Mitte vom Mississippi mit seinen Tributären durchströmt,
hat der Außen- und Binnenverkehr ein gewisses Mittelmaß nicht überschritten und sich
im allgemeinen auf Spezialitäten beschränkt. Ein Verkehrsplatz ersten Ranges ist nicht
vorhanden. Vermöge seiner Oberflächen- und Bodenbildung und seines Klimas ist
der Süden in vorzüglichster Weise für Bodenanbau beaulagt, namentlich für Hervor-
bringung subtropischer Nutzgewächse, aber eine führende Stellung hat er doch nur
in dem Anbau von Baumwolle gewonnen und behauptet. Hervorragend ist in dem
nördlichen Grenzgebiete noch die Gewinnung von Tabak. Andere Kulturpflanzen
wärmerer Gegenden wie Zucker, Reis, Südfrüchte usw. kommen zwar vor, aber es
wird nach Menge nichts Hervorragendes geleistet.
Einen großen Teil der Schuld an der Tatsache, daß der Süden hinter dem Nord-
osten so weit zurücksteht, trägt die Zusammensetzung der Bevölkerung, welche im Grunde
auch den Gang seiner Geschichte, insbesondere die furchtbare Katastrophe in den sech-
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts herbeiführte. Ter Neger, der einen so be-
deutenden Anteil an der Bevölkerung des Südens ausmacht, besitzt im Vergleich zu
dem typischen Amerikaner kein wirtschaftliches Streben, und als er im I. 1862
durch den damaligen Präsidenten Abraham Lincoln persönliche Freiheit und po-
litische Gleichheit erhielt, geriet der Süden in eine wirtschaftliche Schwäche, die
etwa zwei Jahrzehnte anhielt, uud aus der er sich nur langsam erholen konnte. Wohl
ist seitdem der Fortschritt unverkennbar, namentlich seit den letzten fünfzehn Jahren,
aber mit dem des Nordostens und der Mississippilande verglichen, nimmt er sich noch
20. Gesamtbild der Wirtschaft der Union und ihrer Hanptteile.
175
bescheiden aus imb beschränkt sich im wesentlichen aus die Erweiterung des Baum-
wollbaues, die Ausbeute der Wälder und die Begründung oder Weiterbildung einiger
Industriezweige, namentlich der Eisen- und Baumwollverarbeitung. In der Ver-
spinnung von Baumwolle ist es letzthin so weit gekommen, daß der Süden ebensoviel
Rohstoss verbraucht wie der Nordosten, wenn er diesen an Spindelzahl auch noch
lauge nicht erreicht hat. Zu den Ursachen der langsamen Entwicklung des Südens
gehört natürlich auch der Umstand, daß ihm die Einwanderung nur iu geringem
Maße zugute kommt. Aus klimatischen und anderen Gründen meiden ihn nament-
lich die robusten und arbeitsamen Mittel- und Nordeuropäer, und auch die neuer-
dings in so großen Scharen erscheinenden Süd- und Osteuropäer siedeln sich mehr im
Norden an.
So kommt es, daß der Süden ans seinen 2155817 qkm (27% des Gesamt-
areäls) nur 23733138 Seelen (31% der Gesamtbevölkerung, etwa halb soviel wie der
Norden) und eine mittlere Dichte von 11 Personen aus dem Quadratkilometer aus-
weist. Von der Gesamtgewinnung an Tabak entfallen auf den Süden 80%, von
Mais 23%, von Weizen 18%, von Hafer 10%, von Maultieren 70%, von Rindern
28%, von Schweinen 28%, von Milchkühen 24%, von Pferden 21%, von der Kohlen-
förderung 18%, von Roheisen 19%, von Stahl 12%, von der Gesamtindustrie 13%,
von den Banmwollsabrikaten 28%, von t>en Wollfabrikaten 2%, von den Maschinen-
kräften 20%, von den Eisenbahnlinien 26%, von dem gesamten Steuerwert 16%,
vou den Großstädten 12% (5 von 39). Wenn oben die Veranlagung des Südens für
Bodenanbau als hervorragend bezeichnet wurde, so fehlt es doch uicht an ernstlichen
Einschränkungen. Dahin gehören die starke Wucherung des Unkrauts, scharfe Früh-
lingsfröste, anhaltende Sommerregen, verwüstende Überschwemmungen, endlich zahl-
reiche tierische Schädlinge wie die Baumwollmade (Aletia xylina), die Tabakmade
(Macrosila Carolina), der Getreiderost (Ustilago segetum), die Hessenfliege (Cecidomyia
destructor), der Koloradokäfer (Doryphora decemlineata), die Apfelfäule (Gloeo-
sporium fructigenum) u. a.
Die dritte Abteilung des Ostens, das Mississippiland, im Sinne des mittleren
imd oberen Stromgebietes, durch den vollständigen Mangel an höheren Gebirgen vor
den übrigen Hauptteilen der Union gekennzeichnet, bietet auf seinen teils ebenen,
teils hügeligen Flächen von gewaltiger Ausdehnung die ausgiebigste Gelegenheit zum
erfolgreiche:! Betriebe von Ackerbau und Viehzucht, und tatsächlich bilden diese
Tätigkeiten schon jetzt die Grundlage und das wesentliche Merkmal der Wirtschaft,
obwohl die Besiedelnng kaum älter als 50 Jahre ist. Hier gedeihen alljährlich
die ungeheuren Massen von Mais, Weizen und Hafer, welche weit über den Gesamt-
bedarf des Staates steigen, hier weiden jene großen Herden, die in den Mittelpunkten
der Großschlächterei mit rasender Schnelligkeit zu den verschiedensten Bedarfs-
gegenständen umgestaltet werdet:. Hier lagern auch riesige Massen von Eisenerz und
Kohle, aber ein sehr fühlbarer Mangel besteht darin, daß die beiden aufeinander an-
gewiesenen Minerale örtlich nicht eng vergesellschaftet sind wie im Nordosten, sondern
durch große Entfernungen voneinander getrennt: die Kohle am mittleren Mississippi
südlich des Michigansees, Eisen wie auch Kupfer in den Umgebungen des Oberen
Sees. Der Gang der Entwicklung hat es aber mit sich gebracht, daß die ungeheuren
Massen Eisenerz vom Oberen See meist nach Pennsylvanien gehen nnd dem eigenen
Wirtschaftsgebiete nicht unmittelbar zugute kommen. Daher kann auch das Mississippi-
laud auf dem Felde der Industrie hinsichtlich der Mannigfaltigkeit der Erzeugnisse
mit dem Nordosten nicht in Wettbewerb treten, sondern muß sich damit begütigen,
176
B. Zur Länderkunde,
seine eigenen Rohstoffe zu verarbeiten (Großschlächterei, Müllerei, Sägerei) sowie
die dazu nötigen Geräte uud Maschinen herzustellen. Aber wegen seiner gewaltigen
landwirtschaftlichen Produktion und wegen des durch die Lage bedingten sehr be-
deutenden Verkehrs gebührt dem Mississippilande doch der zweite Rang unter den
natürlichen Wirtschaftsgebieten der Union. Dieser kommt sowohl in der Bevölkerungs-
dichte als auch in der Gestaltung des Städtewesens zum Ausdruck. Während natür-
lich der Nordosten zwei Riesenstädte (über 1 Mill.: Groß-New Hork und Philadelphia)
uud zwei über 500 000 Seelen (Boston und Baltimore) enthält, besitzt das Mississippi-
land gerade die Hälste davon, je eine der beiden Klassen, die weder im Süden noch im
Westen vertreten sind. Tie wirtschaftliche Hauptstadt ist Chicago, dessen rasches Wachs-
tum in seinen Bürgern eine Zeitlang die Hoffnung nährte, sogar Groß-New Jork
überflügeln zu können. Wenn sich diese nun auch nicht erfüllt hat, so besitzt doch
Chicago deu zweiten Rang unter den Städten der Union und hat ältere Siedelungen,
wie Philadelphia, Boston, Baltimore, New Orleans usw., weit überholt.
Gegenüber den Leistungen der bisher betrachteten natürlichen Wirtschaftsgebiete
treten diejenigen des Westens ungemein zurück, selbst wenn man das fast ideal ver-
anlagte pazifische Küstenland mit einrechnet. Auf 4051446 qkm (52% der Gesamt-
heit) wohnen nur reichlich 8 Millionen Menschen (11%), also zwei Personen auf dem
Quadratkilometer. Von der Gesamtgewinnung an Gold, Silber uud Quecksilber
entfällt zwar alles auf den Westen, von Kupfer und Blei etwa ein Viertel, von den
Schafen drei Fünftel, aber in allen übrigen Tingen bleibt er hinter den übrigen
Wirtschaftsgebieten zurück. Von Kohle liefert er 9%, von Eisen 1%; von den Pferden
stellt er 34%, von den Rindern 32, von den Schweinen 18"%, von der Industrie 5%,
von dem gesamten Steuerwerte 10% und von den Großstädten ebensoviel.
Schon aus den bisherigen Betrachtungen geht hervor, daß sich die Wirtschaft
der Vereinigten Staaten durch Vollständigkeit und Mannigfaltigkeit auszeichnet. In
der Tat sind alle Hauptteile: Rohproduktion, Verarbeitung und Qrtsbewegnng
(Handel und Verkehr) mit allen ihren Verästelungen und Verzweigungen vertreten
und meist auch zu glänzender Höhe entfaltet. Tatsächlich ist das Nationalvermögen
beständig gestiegen und hat eine sehr beträchtliche Höhe erreicht. Nach den Angaben
der offiziellen Statistik gestaltete sich der Fortschritt des Volksreichtums uud die
Verteilung auf den Kopf der Bevölkerung seit 1850 wie folgt:
Mill. Toll, auf den Kopf Toll. Mark
1850 7 136 308 1293
1860 16160 514 2159
1870 30 068 780 3276
1880 42 642 850 3570
1890 65 037 1038 4360
1900 94 300 1236 5390
Legt man den mittleren Fortschritt der Jahrzehnte 1890 bis 1900 zugrunde, so
berechnet sich der Volksreichtum für 1905 auf mindestens 110 Milliarden Dollar oder
462 Milliarden Mark, auf den einzelnen entfällt somit ein Betrag von mindestens
5500 Mark.
Die Rohproduktiou des Mineralreich^ ist so vielseitig und reich, daß kein anderer
Erdteil, geschweige denn irgendein Einzelland den Vergleich mit der Union aushalten
könnte. In der Tat fehlen nur einige wenige Gegenstände, und einige wenige kommen
in nicht genügender Menge vor. Dagegen sind viele andere in ungeheurer Menge
20. Gesamtbild der Wirtschaft der Union und ihrer Hauptteile.
177
vorhanden und reichen weit über den Eigenbedarf hinaus. In der Gewinnung von
Kohlen und Eisen, Gold uud Kupfer behauptet die Union feit längerer Zeit den ersten
Rang, in Silber wetteifert es mit Mexiko, in Petroleum mit Rußland, in Zink mit
Deutschland, in Quecksilber mit Spanien. Wesentlicher Mangel herrscht eigentlich
nur in Zink und Edelsteinen, aber diesen teilt es mit vielen anderen mineralreichen
Ländern. Den Gesamtwert der Mineralprodukte bemißt man zu 6 Milliarden Mark.
Tie Rohproduktion des Pflanzenreichs ist nur durch klimatische Verhältnisse
eingeschränkt. Demnach fehlen nur die Gewächse der heißfeuchten Tropenzone, und
diese, wie Kassee und Tee, Rohseide, Kautschuk und Chinarinde sowie die edelsten
Holzarten, gehören zu deu ständigen Hauptgegeuständen der Einfuhr. Reis und Rohr-
zncker werden gebaut, aber nicht in genügenden Mengen. Besonders schmerzlich
berührt die Amerikaner der hohe Betrag der Zuckereinfuhr, und dieser Umstand hat
bei der vielumstrittenen Erwerbung der bekannten Zuckerländer Hawai, Portorico
und der Philippinen einet: beträchtlichen Einfluß gehabt. Im übrigen verfügte der
Staat ttrfprünglich über herrliche Wälder von gewaltiger Ausdehnung und mit zahl-
reichen Nutzhölzern fowie über große und ausgezeichnete Weideflächen. Der Anbau der
meisten klimagemäßen Kulturgewächse wird mit höchstem Erfolge betrieben. In
Baumwolle, Mais und Tabak übertrifft die Union alle Erdteile uud alle Einzelländer,
in Weizen und Hafer ringt es mit Rußland um die Siegespalme, in Südfrüchten mit
Italien und Spanien, in Hopfen mit Süddeutschland. In der Zucht der Obstarten
der kälteren gemäßigten Zone, namentlich von Äpfeln, hat sie neuerdings so beträcht-
liche Fortschritte gemacht, daß sie den europäischeil Markt damit zu beschicken vermag.
Gemüse baut man m größerer Vielseitigkeit als irgendwo anders. Die Gewinnung
von Kartoffeln, früher nicht sehr erheblich, greift mehr und mehr um sich, ebenso die
der Gerste, während die Roggenknltnr nicht in die Höhe kommen will und der Buch-
weizeu Neigung zum Rückgange zeigt. Den Gesamtwert einer Jahresernte an Feld-
früchten bewertet man zu 15 Milliarden Mark, und mit dieser Summe ragt die Union
weit über alle anderen Staaten der Erde hinaus.
Tie Rohproduktion des Tierreichs wies bis vor kurzem alle Hauptzweige in
großer und größter Ausdehnung aus. Von diesen ist die Jagd, die früher sehr an-
sehnliche Erträge abwarf, in neuerer Zeit mit dem Fortschreiten der Besiedeluug und
der in ihrem Gefolge auftretenden erbarmungslosen Ausrottung zahlreicher Wild-
tiere stark zurückgegangen, aber sie trägt doch noch mancherlei zur Ernährung der
Bevölkerung wie zur Gewinnung von Fellen und Pelzen bei. Von. großer Bedeutung
dagegen ist nach wie vor die Fischerei, ueuerdiugs teilweise gehoben durch eine plan-
mäßig betriebene Fischkultur. Die Fischerei erstreckt sich sowohl auf dw angrenzenden
Meeresteile als auch auf die Binnengewässer und liefert nach Menge und Güte hervor-
ragende Erträge, die teilweise, wie in Austern und Lachs, weit über den Bedarf des
Landes hinausgehen. Auch gehört die Union zu den wenigen Ländern der Erde,
die noch den Fang von Waltieren und Seerobbett betreiben. Die Viehzucht, em
alter Betrieb aus der Kolonialzeit, ist in neuerer Zeit zu einem staunenswerten Um-
sänge gedieheu. In der Zahl der Schweine und der Rinder, der Maultiere und des
Geflügels übertrifft die Union alle Länder der Erde, an Schafen steht sie nur hinter
Australien und Argentinien, an Pferden nur hinter Rußland zurück. Bei der Schaf-
zucht hat man aber mehr die Gewinnung von Fleisch als von Wolle im Auge, daher
gehört die Union nach Menge und Güte uicht zu den ersten Wolländern. Auch die
Edelzucht von Haustieren kann sich nicht mit der der fortgeschrittenen Länder Europas
messen; planmäßig betrieben wird sie nur mit Pserden in Kentucky. Ein bemerkens-
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 12
178
B. Zur Länderkunde.
werter Fortschritt ist neuerdings auch in der Erweiterung der Zucht von Milchkühen
zu erkennen. Daß keine irgendwie beträchtliche Seidenzucht besteht, ist um so auf-
fälliger, als der Maulbeerbaum einheimisch ist und sehr wohl gedeiht.
Ta es bei den bisher besprochenen Wirtschaftszweigen hauptsächlich auf Schnellig-
feit und Menge in der Gewinnung der Rohstoffe aus den drei Naturreichen ankommt,
so ist der Betrieb vielfach roh und extensiv und entspricht in nicht wenigen Fällen dein
Begriff des Raubbaues. Seltener geht man darauf aus, schonend, gründlich und
gewissenhaft zu arbeiten und dem Boden den höchstmöglichen Ertrag abzugewinnen.
Daher entsteht viel Abfall, weil man nur solche Betriebe weiter verfolgt, die sich
augenblicklich lohnen, und sie aufgibt, wenn dies nicht mehr der Fall ist. Am schlimm-
sten steht es in dieser Beziehung bei der Ausbeutung der Wälder, aber auch bei der
Mineralproduktion verführt man in der Weise, daß man Erze, die nicht ein gewisses
Ertragsmaß abwerfen, wie totes Gestein behandelt. Zweifellos ist diese extensive
Betriebsart für die Zukunft sehr bedenklich und wird nicht nur von Fremden, sondern
auch von einsichtigen Amerikanern als solche erkannt. Namentlich ist die Zentral-
regierung in Washington seit Jahrzehnten ernstlich bemüht, mit den ihr zur Ver-
fügung stehenden Mitteln dem Raubbau sowie andern Unarten und Mißständen des
Wirtschaftsbetriebes entgegenzutreten, aber sie hat bisher uoch keinen sichtlichen Er-
folg damit gehabt. Wenn es ihr in einzelnen Fällen gelungen ist, gesetzliche Maß-
regeln bei dem Kongreß durchzusetzen, so gestaltet sich doch deren Durchführung außer-
ordentlich schwierig. Im wesentlichen bleibt es bei Belehrungen und Ratschlägen.
Abgesehen von diesen und anderen Mängeln, die durch die Größe und den Reich-
tum des Landes wie durch den Charakter der Bevölkerung leicht erklärlich werden,
ruht aber die Gesamtwirtschaft der Union insofem auf einer durchaus gesunden und
überaus starken Grundlage, als die Rohproduktion aus deu drei Naturreichen nicht
nur sast alles liefert, was die Ernährung und der Genuß der Bevölkemng erheischt,
sondern auch enorme Mengen von Rohstoffen teils für die unmittelbare Ausfuhr,
teils für die Verarbeituug durch Gewerbe und Industrie darbietet. Auch in dieser
Beziehung ist der Staat erheblich günstiger gestellt als die meisten übrigen Länder der
Erde. Nur etwa Indien und besonders China stehen mit ihn: auf ungefähr gleicher
Stufe der Vollständigkeit und Mannigfaltigkeit der Naturstoffe. Abgesehen von
Kleinigkeiten fehlen eben der Union nur diejenigen industriellen Rohprodukte, welche
das Klima ausschließt. Für die Verarbeitung selbst dagegen stehen die wirksamsten
Hilfsmittel und Organisationen zur Verfügung. Der Eigenverbrauch des Landes
an Fabrikaten der verschiedensten Art ist bei den: verhältnismäßig sehr hohen Durch-
schnitt der Lebensführung größer als irgendwo anders, das Absatzgebiet im eigenen
Lande wie die Preisstellung durch gewaltige und rigorose Schutzzölle gesichert. Der
Gesamtverbrauch an industriellen Erzeugnissen hat daher eine enorme Höhe erreicht.
Ihren Jahreswert beziffert man neuerdings einschließlich der Rohstoffe auf 52 Milli-
arden, ohne diese aus 35 Milliarden Mark. Gegen solche Riesensummen kann kein
anderes Land in die Schranken treten.
Einerseits durch den Uberschuß der Eigenproduktion wie gewissen Mangel des-
selben, anderseits durch den Umstand, daß manche Landesteile bestimmte Erzeugnisse
hervorbringen, die in anderen fehlen oder nicht in ausreichender Menge oder Güte
vorhanden sind, ist Veranlassung zu einem sehr umfangreichen und vielseitigen Handel
gegeben. Der Außenhandel umfaßt zwar alle übrigen Länder der Erde, besitzt aber
noch nicht das volle Maß der Selbständigkeit, indem er großenteils mit fremdem
Kapital und mit fremden Hilfsmitteln sowie von fremden kaufmännischen Firmen
20. Gesamtbild der Wirtschaft der Union und ihrer Hauptteile.
179
betrieben wird. In dieser Beziehung haftet der Union noch etwas von dem Wesen
eines Koloniallandes an, und der Ertrag des gesamten Außenhandelswertes, in dem
es nur von Großbritannien überboten und nur vom Deutschen Reiche erreicht wird,
fällt ihr nicht ganz zu. Gewaltig sind die Mengen und Wertbeträge, die der Binnen-
Handel in Bewegung setzt. Wohl werden zahlreiche und massenhafte Rohstoffe an
oder in der Nähe ihrer Ursprungsstellen verbraucht und verarbeitet, aber es bleiben
immer noch viele und wichtige übrig, welche einen weiten Weg bis zu den Orten
ihres Verbrauchs und ihrer Verarbeiwng zurückzulegen haben. Die meisten Fabri-
kate, mancherlei Früchte des Feld-, Obst- und Gemüsebaues zerstreuen sich über das
ganze Land oder über größere Teile desselben und gehen durch viele Hände, ehe sie
zum Verbraucher kommen. Daher gibt es in den größeren Städten wie in den klein-
sten Siedelungen Kansläden (Stores) mit allen erforderlichen Gegenständen, in den
ersteren auch riesige Warenhäuser mit enormen Vorräten. Der dadurch bedingte
Geldverkehr ist nach den neuesten Grundsätzen organisiert und wird von ungewöhn-
lich zahlreichen Banken besorgt. Eine Bank hat jede Siedelnng, mag sie auch nur aus
wenigen Häusern oder Bretterhütten bestehen und den denkbar dürftigsten und flüch-
tigsten Eindruck machen.
Auf die Bedürfnisse der Ortsbewegung von Gütern und Personen sind auch die
Verkehrsmittel zugeschnitten, oder vielmehr sie sind, wenigstens was den Land-
verkehr anbelangt, so geschickt und zweckmäßig ausgewählt und angewendet, daß sich
jene auf dieser Grundlage ausgestalten konnte. Gegenüber der Größe der zu be-
wältigenden Entfernungen und bei der vielfach ungemein günstigen Beschaffenheit
des Geländes ist es begreiflich, daß man sich nicht erst aus die langwierige und kost-
fpielige Anlage von Landstraßen einließ, sondern in den älteren wie in den neu auf-
geschlossenen und neu aufzuschließenden Gebieten gleich das jüngste und wirksamste
Hilfsmittel: die Eisenbahn, in Anwendung brachte. Im Eisenbahnwesen hat denn
auch die Union den höchsten Gipfel ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erklommen,
und in keinem Wirtschaftszweige gleicher Art, gleichen Umfangs und gleicher Wert-
bedentuug überragt sie die andern Erdteile dermaßen, wie in den Eisenbahnen. Unter
den gleich großen Gebieten der Erde hat sie das dichteste und das tüchtigste Bahnnetz.
Alle Einzelländer, auch die fortgeschrittensten, stehen weit hinter ihr zurück. Im
Laude selbst ist der Einfluß und die Macht der Eisenbahnen und ihrer Besitzer so be-
deutend und tiefgreifend, daß sich viele Wirtschaftszweige in ihrer Betriebsform und
in ihrer Unternehmungsweise geradezu danach richten müssen, und daß sich als Gegen-
Wirkung die viel angefochtene Unternehmungsform der Trusts dagegen erhob. An
dem Eisenbahnwesen hat sich auch der Multimillionarismns in kräftigster Weise groß-
gezogen, und vor der Ausbreitung der Trusts waren die „Eisenbahnkönige" die reich-
sten Leute der Union. Unter der Allgewalt der Eisenbahnen hat namentlich die
Binnenschiffahrt auf den Flüssen schwer zu leiden gehabt und ist dadurch sehr zurück-
gegangen. Unberührt bleibt nur der Schiffsverkehr auf den Großen Seen, weil die
zu befördernden Frachten von der Art sind, daß die Eisenbahnen wegen der Fracht-
sätze damit nicht in Wettbewerb treten können.
In der Schiffsbewegung auf den Großen Seen und an den Küsten liegt über-
Haupt der Schwerpunkt des Wasserverkehrs der Union, nicht in der Hochseeschiffahrt.
Denn trotz aller Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, die großen europäischen
Seemächte, in erster Linie Großbritannien und Deutschland, aus dem Felde zu
schlagen und ihnen den Verkehr auf dem Atlantischen Ozeane, der weitaus der wichtigste
ist, zu entwinden. Das ist, wie bereits angedeutet wurde, der einzige Punkt, worin
12*
180
B. Zur Länderkunde.
sich die Union in wirtschaftlicher Hinsicht noch als ein Kolonialland kundgibt: die
Schwäche und Unselbständigkeit der Hochseeschiffahrt. Denn selbst auf dem Stillen
Ozean hat sie den Wettbewerb Großbritanniens und Japans zu ertragen. Während
nämlich, nach der Zahl der Registertonnen beurteilt, ihre Handelsflotte die zweit-
größte der Erde ist, erhält sie einen viel niedrigeren Platz, wenn man nur den Betrag
ins Auge faßt, der für die Hochseeschiffahrt in Betracht kommt. Tann steht die Union
etwa aus gleicher Stufe mit Frankreich.
Daß in der Wirtschaft der Union alle Formen der Unternehmung von dem Einzel-
geschäft bis zu großen Korporationen und Gesellschaften (Companies) vertreten, ist
selbstverständlich. Die Größe der Unternehmungen ist dem Umfange und der Trag-
weite der Aufgaben und Ziele angepaßt und ragt demgemäß in entsprechender Weise
über die gleichartigen Formen der Alten Welt vielfach hinaus. Dies galt z. B. gleich
von vomherein von den Eifenbahngesellschasten; unter diesen gibt es einige, die über
ein größeres Netz verfügen als die altweltlichen Gesellschaften, ja sogar als die wich-
tigeren Staaten, in denen die Eisenbahnen ganz oder teilweise in den Händen der
Regierung liegen. Tie eigenartigste und zugleich jüngste, echt amerikanische Form
der Großunternehmung ist der Trust, eiue Art wirtschaftlichen Monopoles auf gesell-
schaftlicher Grundlage mit einer persönlichen Spitze. Das Eigenartige besteht also
darin, daß der führende Einzelunternehmer dabei mehr zur Geltung kommt, als etwa
bei Aktiengesellschaften oder ähnlichen korporativen Organisationen. Als Begründer
der Trustform gilt der bekannte Petroleumkönig I. D. Rockefeller, ein Mann, der sich
aus den bescheidensten Anfängen zu gewaltiger Macht und fabelhaftem Reichtums
aufgeschwungen hat. Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wo der
Petroleumtrust geschaffen wurde, hat sich das Trustwesen mehr und mehr ausgebreitet
und umfaßte bereits im Jahre 1902 reichlich drei Fünftel aller industriellen Unter-
nehmungen.
21. Chile.
Von Dr. F. W. Paul Lehmann. („Länder- und Völkerkunde" Band II,
Neudamm, I. Neumann.)
Dem chilenischen Staate, welcher das peruanische Gebiet von Arica und Tacna
wohl kaum zurückgeben wird, gehört seit den 1881 und 1883 im Süden und Norden
erfolgten Gebietserweiterungen die ganze pazifische Küste vom 18. Grad südlicher
Breite bis zum Kap Hooru. Bei 4500 km Länge erreicht Chile nur selten eine über
150 km hinausgehende Breite. Diese Entfernungen entsprechen etwa den Abständen,
die der Tfadsee in Afrika und das Stettiner Haff von Berlin haben. Die Westgrenze
wird durch das Meer gebildet, die Ostgrenze im allgemeinen durch die Wasserscheide
zwischen den beiden Ozeanen. Sie folgt dem Kamme der Kordilleren, welche wir
als eine Fortsetzung der Westkordillere Perus bettachten. Mesozoische eruptive
Massen, Tusse und Konglomerate und mesozoische Sedimentärgesteine bilden die
Hauptmasse des Gebirges, auf dessen Rücken aus den zusammengefalteten Massen
fast drei Dutzend zum Teil noch tätiger Vulkane hervorragen. Es gibt Feuerberge,
welche die aus 4000 m tiefem Meere aufragenden Vulkanriesen Hawaiis um mehr
als 1500 m Meereshöhe überragen und dennoch als Aufschüttungsmassen neben
ihnen winzig sind, da sie einem vielleicht 4000 m über dem Meeresspiegel anfragenden-
21. Chile.
181
Walle aufgesetzt sind. Es liegt nahe, das Bild von einer Reihe von Schornsteinen
zu gebrauchen, die ans eiuem Dache stehen; dann muß aber betont werden, daß wir
den sehr verwickelten Bau der mächtigen Zusammenfaltung nicht etwa als eine ein-
fache, in der Mitte geborstene Antiklinale zu betrachten haben. Auch liegen die Vul-
kaue nicht immer genau aus der Wasserscheide, der Sajatna und der Aconcagua springen
etwas nach Osteu vor uud liegen aus bolivianischem und argentinischem Gebiete.
Vom Sajama ab bis in die Nähe des Wendekreises übersteigen nicht nur Vulkankegel,
sondern auch der Kamm der Kordilleren vielfach 6000 m, kurz vor dem Wendekreise
erweitert sich das chilenische Gebiet im Osten der Atacamawüste, es umfaßt zwischen
hohen Ketten zwei abflußlose, mit Salzsümpfen uud verwittertem Gesteinsmaterial
bedeckte Hochtäler. Die größere östliche, die sogenannte Pnna von Atacama, scheint
die Fortsetzung des westbolivianischen Hochtales zu bilden und wird im Osten be-
grenzt durch die Cordillera real, die Fortsetzung der bolivianischen Ketten im Osten
des Titicacasees und der Wasserscheide zwischen den bolivianischen Hochtälern. Mitten
aus der öden Puua steigt ein Vulkankegel über 6000 in empor, und aus der Haupt-
kette, die mit der Kette von Domeyko das kleinere, westliche Hochtal umschließt, ragt
der Llu Haillaco 6600 in auf.
Im Süden der Puna von Atacama, etwa vom Gipfel des Azufre oder Copiapo
ab, hört die Bildung breiter interandiner Hochländer auf. Die Cordillera real und
die mächtige archäische Zone im Osten Bolivias lösen sich auf in eine Menge nord-
südlicher, zum Teil isoliert aus breiten Gesilden aufragender Bergketten, auf die wir
bei der Besprechung Argentiniens zurückkommen.
An das breiteste Stück Chiles schließt sich südlich von Copiapo das schmälste; der
Kamm der Westkordillere liegt zum Teil nur 100 km von der Küste entfernt. Er
bleibt, abgesehen von einigen Portillos oder Paßeinschnitten, höher als 4000 in und
steigt mehrfach über 5000 empor, zeichnet sich aber keineswegs durch Höhe und Wild-
heit vor den höchsten argentinischen Ketten aus. Im Osteu von Valparaiso zwischen
dem Portillo de Azufre (3650 m) und dem Portillo von Cumbre (3760), über welchen
die Eisenbahn zwischen den Hauptstädten der beiden Nachbarrepubliken geführt wird,
steigt das Hochgebirge zu gewaltigen Höhen an. Der Aconcagua, dessen Höhen-
berechnnngen nahe bei 7000 in liegen, scheint den Ruhm des Fürsteu der Andenkette
zu behaupten. Wir befinden uns 10° im Süden des Wendekreises. Die Portillos/
über welche vor der Errichtung chilenischer Zollschranken viel Rindvieh aus eisen-
beschlagenen Hufen von den Pampas westwärts wanderte, sind während des Winters
bereits vier Monate (vom Juui bis Oktober) durch Schneemassen gesperrt. Etwa
uuter 34° südlicher Breite erhebt sich inmitten zackiger Berggipfel der stattliche Dom
des Maipo mit schneeerfüllten Kraterbecken zu 5400 in, dann folgt eine merkliche Sen-
kung in der Höhe der Kordillere. Der Portillo von Planchon hat nur noch 2700 m
Höhe, und die Paßhöhe, über welche die Eisenbahn zwischen Concepcion und Buenos
Aires das Gebirge übersteigen soll, etwa 2000 in. Kein Berggipfel erreicht mehr
4000 in, doch reicht der Charakter der von Vulkankegeln überragten Kette bis über
den 40. Grad südlicher Breite. Im Hinterlande der Bucht, mit welcher bei der Insel
Chiloe die Fjordküste Chiles beginnt, erreicht der Tronador noch mehr als 3000 in;
der benachbarte Calbuco war noch in den letzten Jahren tätig. Der Ehalten, der
2000 in hoch etwa unter 49° südlicher Breite über Schneegebirge hervorragt, scheint
der südliche Flügelmann der Andenvulkaue zu sein. Wir sind damit in Gebiete ge-
langt, die erst infolge der Grenzstreitigkeiten mit Argentinien durch I)r. Steffen
und andere näher untersucht sind. Das Gebirge war, wie schon die Fjordküste
182
B. Zur Länderkunde.
vermuten läßt, einst vereist. Jetzt mag die Schneegrenze in diesen Regionen bei 600 m
liegen. Gletscher reichen mit ihren Zungen bis in Seen hinein, die wenig über dem
Meeresspiegel liegen, und tauchen im Süden in die Fjorde. Bis zum Maipo hin macht
sich in großen Gebirgsseen und Moränenablagerungen die Eiszeit bemerkbar. Tie
Wasserscheide und die Kette der höchsten Erhebungen weichen oft voneinander ab.
Es ist vorläufig in den Tälern mit Bambusstreisen an den Bächen und mit Buchen-
grnppen, zwischen denen hie und da eine Hirschart in Rudeln weidet, nicht viel zu
holeu. Doch streiten die Kommissionen mit Erbitterung. Ein britischer Schieds-
sprnch wird hoffentlich der Spannung bald ein Ende machen.
Das chilenische Land ist keineswegs die einfache Abdachung der hohen Kordillere
gegen die Seeküste. Längs der Meeresküste zieht, von den Gebirgsbächen und weiter
im Süden von den Fjordtälern vielfach durchschnitten, eine Küsteukordillere aus
kristallinischen Massengesteinen. Schon in Nordamerika und in Peru begegueteu
wir dieser Erscheinung. Wir nennen die Küstenkette niedrig, und das ist sie im Ver-
gleich mit den Anden. Wir müssen uns aber vor Augen halten, daß sie vielfach unserem
deutschen Mittelgebirge an Höhe gleichkommt, ja vereinzelt sogar das Riesengebirge
überragt. Zwischen der hohen Kordillere und der Küstenkette erstreckt sich das chile-
nische Längstal. Im Norden kommt es zum Ausdruck hinter der Küsteukette von Jqui-
que in der Pampa de Tamarngal, in welcher inmitten der Salzsümpfe noch hier und
da Buschwälder stehen. Zum Teil sind sie verschüttet und werden in dem holzarmen
Gebiet als Brennmaterial ausgesucht, wenn sie nicht versteinert sind. Der Rio Loja
markiert durch den nach Norden gerichteten Teil seines Laufes das Tal sehr gut, dann
wird für eine längere Strecke die Ausbildung des Längstales weniger deutlich, be-
sonders an der schmälsten Stelle Chiles. Santiago liegt in nahezu 600 in Höhe in
einem Teile dieses Tales, durch dessen Ackerbaugefilde in eiuem allmählichen Auf
uud Ab die Eisenbahn nach Süden führt bis zum Puerto Moutt am Binnenmeer
hinter Chiloe. Die breiten Hochwasserbetten der Kordillerenbäche nötigen auch da,
wo sie, wie im Norden Chiles, oft nicht einmal das Meer erreichen, zu vielen kost-
spieligen Brückenbauten. Das verzweigte Binnenwasser längs der Küste des Fest-
landes gibt uns des weitern die Richtuug des Längstales, die durch größere und
kleinere unters Meer tauchende Quertäler gegliederten Inseln und Schären sind die
aus dem Meere ragenden Teile der Küstenkordillere. Ein Land, welches sich 4500 km
in die Länge dehnt und vom Meeresspiegel zu Höhen über 6000 in ansteigt, muß eine
Fülle der verschiedensten Landschaftsbilder innerhalb seiner Grenzen darbieten. Wir
beginnen, ohne Rücksicht auf die politischen Unterabteilungen zu nehmen, mit der
Darstellung des Mittellandes, der Umgebung der beiden wichtigsten Städte Val-
paraiso und Santiago. In ihnen leben fast 400 000 Menschen und davon zwei Drittel
in der Hauptstadt, welche mit dem Hafen Valparaiso durch eine 163 km lange Eisen-
bahn verknüpft ist. Valparaiso liegt an einer halbmondförmigen, gegen Südwesten
geschützten Bucht und steigt von dem schmalen Strande, auf welchem mit Ausnahme
einiger Villen vor wenigen Jahrzehnten die kleine Siedelung beschränkt blieb, amphi-
theatralisch an den Berglehnen empor. Wer die Bilder der kahlen Hafenplätze Perus
und Nordchiles noch in Erinnerung hat, freut sich über die Kokospalmen, welche der
im Sommer ziemlich öden Küstenlandschaft zur Zierde dienen. Einer grünenden
Oase gleicht Quillota, zwischen dessen Obstgärten, Weingärten und Feldern uns
zuerst die in der Umgebung Santiagos so reichlich vertretenen Pyramidenpappeln
entgegentreten. Ihre Reihen begleiten sogar die Eisenbahnstrecken. Über die Küsten-
kordillere gelangen wir ins Hochtal von Santiago. Inmitten der wegen der Erd-
21. Chile.
183
bebengesahr niedrigen und weithin schachbrettartig ausgebreiteten Häuser erhebt sich
ein mit Anlagen und ziemlich geschmacklosen Baulichkeiten bedeckter Höcker, von dem
man auf die Dächer, die Gärten mit Palmen und Araukarien, den von Kais und
Promenaden eingefaßten Fluß und bei gutem Wetter auf die hinter den: Hochtal
ansteigende Hochgebirgskette einen guten Überblick hat. Die nähere Umgebung San-
tiagos, in welcher der Ackerbau der Bewässerung bedarf, ist in der dürren Jahreszeit
sehr reizlos. Es gedeihen Mais und Weizen, die Rebe und noch über Los Andes
hinauf in den Vortälern des Hochgebirges die Melonen.
Wenden wir uns von Santiago nach Süden, so durchfahren wir bis hinunter
nach Puerto Montt die Ackerbaugefilde Chiles. Im Norden macht sich gelegentlich
Wassermangel geltend, nach Süden zu gelangen wir in Regionen, deren Regenfülle
gelegentlich die Ernten schädigt. An die Stelle von Mais und Weizen treten weiter
nach Süden mehr und mehr Gerste und Kartoffeln. Obstgärten unterbrechen die
Feldfluren. In der weiteren Umgebung von Concepcion werden Kohlenflöze ab-
gebaut, deren Ausbeute für Chiles Industrie von großer Wichtigkeit ist, obwohl sie
weder durch Quantität noch durch Qualität besonders ausgezeichnet sind. Wir sind
im Lande der Arankaner, des tapferen Jndianerstammes, welcher den Chilenen viel
zu schaffen gemacht hat und in seinen von Araukarienwäldern beschatteten Berg-
tälem lange mannhaften Widerstand leistete. Die Arankaner sind Ackerbauer und
Viehzüchter geworden, fleißige, tüchtige Leute, deren Zuverlässigkeit gerühmt wird
bis auf die tiefwurzelnde Neigung zum Viehstehlen und Saufen. In dem südlichen
Abschnitt des Längstales treten besonders die Deutschen hervor. Wir finden sie in
dem Hafenstädtchen Valdivia und in den von grünen Feldern, Wiesen und Wäldern
umrahmten Farmeu der Umgebung Osornos. Auf Chiloes Feldern wird der Weizen
schon gelegentlich grün geschnitten, doch gedeihen Tabak uud Kartoffeln, die Be-
wohner der Stranddörfer sammeln eßbare Algen und treiben Fischsang. Weiter
nach Süden ist für den Ackerbau weuig Platz. Holzfäller und Fischer leben hier und
da in kleineren Siedelungen. Puntas Arenas an der Magalhäesstraße hat als Schiffs-
station und Hafen für die Produkte der sich mehr und mehr ausbreitenden Viehzucht
im letzten Jahrzehnt einen bedeutenden Aufschwung genommen. Das Bild, welches
Reisende im vorletzten Dezennium des 19. Jahrhunderts entwarfen, gehört der
Vergangenheit an. Der Ostzipfel des Feuerlandes liegt schon in Argentinien; die
Falklandsinseln mit wenigen hundert Herden weidender uud Fischfang treibender
Bewohner sind britisches Gebiet.
Wenden wir uns von Santiago nach Norden, so Vierden die Bilder fruchttragen-
der Gefilde zwischen öden, von Kakteen bedeckten Abhängen immer seltener, und
schließlich verschwinden die bewässerten Streifen mit Mais, Weizen und Luzerne
völlig, um der Wüste Platz zu macheu. Die großen Andenbäche, die im Süden noch
zum Teil eine kurze Strecke schiffbar siud, erreichen zeitweise im geröllerfüllten Bette
das Meer nicht mehr. Die Gebiete im Norden von Copiapo würden wertlos sein
ohne die Bodenschätze an Salpeter, Knpser uud Silber. Salpeter ist Chiles wichtig-
ster Ausfuhrartikel geworden. Noch hinter den Erträgen für andere Bergwerks-
und Hüttenprodukte, wie Kupfererze, Borax, Jod, Silber, bleiben die Einnahmen
für Erzeugnisse des Ackerbaues und der Viehzucht zurück. Wir dürfen aber nicht
vergessen, daß das von den Spaniern wegen seines Mangels an Edelmetallen ver-
nachlässigte Chile gerade in seinen Ackerbandistrickten den Kern seiner Bevölkerung
hat. Die durch die Zerstörungen mächtiger Erdbebeu, von riesigen Meeressluten
heimgesuchten Häsen von Autosagasta, Jquique uud Arica sind mit beti Minen-
184
B. Zur Länderkunde.
distrikten des Hinterlandes durch Eisenbahnen verknüpft. Maultiere vermitteln den
Transport, wo die Lokomotive noch nicht in Tätigkeit getreten ist. An einigen Stellen
sind in der Nähe der Küstenkordillere Brunnen erbohrt, sehr selten sind brauchbare
Quellen; die Gärtchen neben den Häusern der Hafenstädte werden mit destilliertem
Seewasser benetzt.
Die Bevölkerung Chiles ist über 3 500 900 hinausgewachsen. Tie Hauptnrasse
der Bevölkerung ist eine spanische Mischrasse, neben der die 50- bis 70000 Arankaner ver-
verschwinden. Es fehlen im chilenischen Mittellande die Neger und Chinesen der
tropischen Westküste Südamerikas sast gänzlich. Unter den zahlreich angesiedelten
Europäern nehmen die Deutschen den ersten Platz ein. In Valparaiso und Santiago
gibt es große deutsche Kolonien, auf Valdivia uud seine Umgebung haben wir schon
hingewiesen. Ganz abgesehen von den Farmern und Handwerkern (Gerbern) des
Südens, bilden deutsche Kausleute einen einflußreichen Bestandteil der Städte Chiles.
In den Minendistrikten des Nordens überwiegt allerdings der Einfluß britischen
Kapitals. Ein Brite in Jquiqne führt den Namen des Salpeterkönigs. Obwohl
die Chilenen für Armee und Schule unsere Landsleute heranziehen, betrachten sie
doch die Deutschen mit Mißtrauen und zeigen sich, besonders seitdem der siegreiche
Krieg ihr Selbstbewußtsein übermäßig gesteigert hat, nichts weniger als freundlich.
Die Chilenen übertreffen alle anderen spanischen Mischvölker Südamerikas ent-
schieden an Energie. Dabei spielt gewiß der Einfluß des Klimas gegenüber den Be-
wohnern erschlaffender Tropenländer seine Rolle, auch wohl der Umstand, daß in
dieses nicht durch Gold und Edelmetalle anlockende Land vornehmlich Basken und
Katalonier, Angehörige der fleißigsten und rührigsten Stämme Spaniens, einwander-
ten. Die Chilenen haben ein stehendes Heer von etwa 9000, eine Marine von 4009
Mann und nennen sich gern die Preußen der Südsee. Seminare und Volksschulen
beweisen ihre Wertschätzung für Volksbildung. Eine Gefahr für ein durch Parteien
zerrissenes Chile würde ein erstarktes Argentinien bedeuten trotz der Höhe der Kor-
dilleren.
22. Auf dem antarktischen Inlandeis.
Von E. H. Shackleton. („21 Meilen vom Südpol", I. Band,
Berlin, Wilhelm Süsserott.)
26. November. Ein denkwürdiger Tag, denn heute haben wir den fernsten
südlichen Punkt, den jemals zuvor Menschenfuß betreten, überschritten. Heute abeud
befinden wir uns auf 82° 18^ südlicher Breite und 168° östlicher Länge1. Diese
Zone haben wir in bedeutend kürzerer Zeit als auf der letzten langen Reise mit Ka-
pitän Scott erreichen können, welche auf 82° 16^' zum Abschluß kam. Wir brachen
heute morgen in wundervollem Wetter auf, bei einer Temperatur von —5,8° R,
die während des Tages bis — 5,3° R stieg, so daß wir unsere Schlafsäcke aus-
trocknen konnten. Quan machte uns beim Aufbruch Sorgen; er litt an einen: ziemlich
starken Anfalle von Kolik, die klare Folge feiner krankhaften Sucht nach Taustücken
und allen möglichen Dingen, die er dem guten Futter vorzog. Er erholte sich jedoch
1 Ernest Shackleton war am 29. Oktober 1908 mit drei Gefährten (Marshall, Adams
And Wild) von der Mac Murdostraße, dem Winterquartier der Expedition, zu dem deuk-
würdigen Marsch nach dem Süden in der Richtung auf deu Südpol ausgebrochen. Zum
Ziehen der Schlitten wurden statt der Hunde vier mandschurische Ponys (Chinaman,
Grisi, Quan, Socks) verwendet. [H.]
22. Auf dem antarktischen Inlandeis.
185
schnell, und wir konnten um 7.40 a. m. aufbrechen. Tie Oberfläche war noch immer
sehr weich. Zahlreiche Auzeicheu deuten darauf hin, daß der Wind wahrend der
Wintermonate stark von Südsüdost weht, denn die Sastrugis laufen nach dieser Rich-
tung. Außerordenlich große kreisförmige Schneeballe liegen auf der Oberfläche
des Barrier; sie sind hart und spröde und fangen das Licht von der Sonne auf, so daß
jedes einzelne Kristall die Rolle eines Reflektors spielt, der die Auge:: blendet, sobald
man einen Blick auf diese Millionen Lichtzentren wirft. Jede neue Stunde brachte
int Westen in der Richtung des Landes neue Erscheinungen, die unser Interesse in
Anspruch nahmen. So konnten wir Shackleton-Jnlet in seiner ganzen Ausdehnung
fixieren und weiter feststellen, daß am Einlauf zu dieser Bucht eine große Bergkette
liegt und sich weiter tiefer im Jnlande nach Westen zu mehr Gipfel erheben. Westlich
von Cape Wilson scheint ein anderer, ungefähr 3000 Meter hoher Gebirgszug mit
scharfen Gipfeln zu laufen und sich nach Norden bis über Suow Cape hinweg zu er-
strecken, also eine Fortsetzung des Landes zu bilden, auf welchem der Mount A. Mark-
hani liegt. Fortwährend steigen im Südsüdost neue Gebirge empor. Hoffentlich
wird kein Hochland uusere Passage sperren. Den Bruch des bisherigen Südrekordes
feierten wir mit einer 4-Unzenflafche Cnracao, die uns Frenitde mit auf die Reise
gegeben hatten. Jeder erhielt zwei Teelöffel; dann rauchten wir und plauderten
lange, ehe wir zur Ruhe gingen. Was wird uns nun der nächste Monat bringen?
Wir müßten, wenn alles gut geht, Ende Dezember nahe an unserem Ziele sein.
Anmerkung. Dem Geschicke weniger Menschen ist es beschieden, Land zu sichten,
welches niemals zuvor menschliches Auge gesehen hat. Mit einem Gefühle heißer Wißbe-
gierde, die nur Ehrfurcht vor der Macht der Natur etwas zügeln kann, sahen wir die neuen
Berge aus den großen unbekannten Gefilden vor uns aussteigen. Mächtige Bergsäulen,
mit dem ewigen Schnee zu Füßen, ragen in ihren rohen Formen zum Firmament empor.
Niemand von uns vermochte zu sagen, was wir auf unserem Marsche nach Süden entdecken
würden, welche Wunderdinge sich vor uns verhüllen werden, doch die Einbildungskraft
verleiht uns Flügel, bis ein Straucheln im Schnee, die scharfen Klauen des Hungers oder
das herbe Weh physischer Erschlaffung unsere Gedanken auf die unmittelbare Gegenwart
mit all ihren dringenden Nöten zurückführen. Als so die Zeit dahineilte, Berge auf Berg
in ihrer finsteren Majestät vor uns emporstiegen, schien das Bewußtsein unserer Nichtigkeit
immer stärker auf uns einzudringen. Was waren wir denn anders als kleine sich mühsamst
über den weißen Plan dahinschleppende Fleckchen, deren winzige Kraft sich doch unter der
Aufgabe beugen muß, der Natur die seit Bestehen der Welt unverletzt gebliebenen Ge-
Heimnisse abzuringen! Unser Wissensdrang war indessen durch solche Betrachtungen nicht
zu zügeln. Von Eintönigkeit konnte bei diesem fortdauernden Erscheinen neuer Länder im
Südost auf unseren langen Tagesmärschen über den Barrieren nicht die Rede sein.
27. November. Aufbruch um 8 a, in. Die Ponys zogen gut über eine schlechte
Oberfläche sehr weichen Schnees. Das Wetter ist schön und klar, von einer starken
Luftspiegelung abgesehen, welche das ganze Gelände in höherer als der eigentlichen
Lage erscheinen läßt. Den ganzen Tag hindurch haben wir neue Berge aufsteigen
sehen, und es verursacht uns etwas Unbehagen, daß sich der Höhenzug mehr und mehr
ostwärts erstreckt, denn dies erheischt eine Abschweifung von unserem sast genau
südlichen Kurse. Doch wir sütd ja uoch weit vou dieser Stelle entfernt und können
vielleicht, sobald wir erst näher herankommen, einen Paß sinden, der uns hindurch
und weiter nach Süden läßt. Wir beschästigen uns ans dem Marsche mit folckjeit Mut-
maßungen, doch schließlich ist doch nichts weiter als Geduld, was wir benötigen. Die
Ponys scheinen die Plackerei tagein, tagaus nachgerade zu fühlen. Arme Tiere,
ihr könnt freilich nicht verstehen, wozu das alles ist, euch kümmert nicht das Wunder
der großen Berge, obwohl ihr so oft nach den: fernen Lande ausspäht! Mittags
photographierte ich unser Lager mit dem Mount Longstaff im Hintergrunde. Zur
186
B. Zur Länderkunde,
Feier des Südrekordes hatten wir unsere Schlittenfahnen gehißt. Das lange Schnee-
kap steht nicht mit dein Monnt Longstaff in Verbindung, wie auf der Karte angegeben.
Der nördlichste Gipfel des Mount Longstaff steigt kerzengrade vom Barrier empor;
an dieser ganzen Höhenkette entlang liegen sehr steile Gletscher, die stark gespalten
sind. Auf dem Marsche am Fuße der Berge entlang verschwinden die Landvorsprünge,
mit Ausnahme etlicher gut markierter Kaps, deren Winkelung wir ausgemessen haben.
Weitere Berge erscheinen während des Nachmittags am Horizonte. Sie traten,
viele, viele Meilen entfernt, ganz klar hervor, als wir zur Nacht kampierten. Die
Temperatur ist heute bis auf — 4,4° R gestiegen. Wir trocknen unsere mit der
Innenseite nach außen gekehrten Schlafsäcke auf den Schlitten. Nachts betrug die
Temperatur — 8,4° R. Wir fühlen, daß das gefrorene Ponyfleisch uns auf dem
Marsche kühlt. Während der 10 Minuten Rast nach einstündigem Marsche schnitten
wir alles Fleisch für Mittag* oder Abendessen auf und ließen es in der heißen Sonne
auftauen. Dies frische Fleisch müßte uns vor Skorbut schützen. Quan scheint sich
heute besser zu fühlen, doch Grisi ist ganz und gar nicht in Ordnung. Er scheint an
Schneeblindheit zu leiden. Wir legten heute 26-f Kilometer zurück.
28. November. Wir marschierten um 7.50 in schönem Wetter ab. Die Ober-
fläche war einfach schauderhaft; die Ponys sanken sehr tief ein. Die Schlitten liefen
leicht, denn die Temperatur war hoch, — 6,7°—5,3° R. Die Sonne schmolz fast
den Schuee auf der Oberfläche. Mittags machten wir halt und fanden uns bei
der vorgenommenen Messung aus 82° 38' südlicher Breite. Das Land liegt jetzt
mehr östlich und zieht sich von Süd nach Südost hin; einige sehr hohe Berge mit
niedrigen Abhängen liegen vor uns, ganz verschieden von dem Gelände zur Seite,
welches aus kolossalen scharfspitzigen Bergen mit gespaltenen Gletschermassen be-
steht, an deren Seiten lange Wasserfurchen heruntergleiten. Marshall nimmt eine
genaue Messung der hauptsächlichsten Höhenpunkte vor. Tagsüber marschierten wir
über eine wellenförmige Oberfläche; die Kämme lagen ungefähr 2| Kilometer von-
einander entfernt. Ter Anstieg betrug 1 : 500. Wir können, wenn wir bergabwärts
marschieren, leicht sehen, daß die Linie unserer Fährte mitunter scharf unterbrochen
wird, doch sie tritt wieder hervor, sobald wir auf dem Anstiege sind. Die ersten An-
zeichen dieser wellenförmigen Formation der Oberfläche gaben sich bereits morgens
zu erkennen, als wir unseren Wegweiser auswarfen, der hinter uns verschwand, ehe
wir 500 Meter zurückgelegt hatten. Nachmittags war es sehr heiß. Ein kühler Wind
half uns während des Morgens, doch er ließ bald nach. Marshall hatte einen Anfall
von Schneeblindheit, ebenso Grisi und Socks. Heute abeud beim Kampieren wurde
Grisi erschossen. Er war während der letzten Tage sehr schwach geworden, litt schein-
bar sehr unter der Schneeblindheit, und der Appetit ließ nach. So beschlossen wir,
ihn zur Verproviautieruug unseres heute anzulegenden Depots C zu benutzen. Wir
lassen auf diesem Depot Proviant für eine Woche und Ol zurück, ferner genug Pferde-
fleisch, um uns zum Depot B zurückzubringen. Wir marschieren morgen mit 545 Kilo-
gramm, d. h. neunwöchentlichem Proviant weiter und spannen uns, je zwei Mann
an jedem Schlitten, mit den Ponys ein. Es ist heute spät, 11 p. m., und wir sind eben
erst zur Ruhe gekommen. Wir stehen jeden Morgen um 5.30 a. m. auf. Tages-
distanz 25^ Kilometer.
29. November. Aufbruch um 8.45 nach Neubeladung der Schlitten mit je
285 Kilogramm. Wir schirrten uns selber an, doch die Ponys wollten nicht gleich-
zeitig mit uns anziehen. Da aber die Schlitten leicht in Schwung kamen, krochen
wir aus dem Geschirr heraus. Die Oberfläche war sehr weich, doch wir trasen während
22. Auf dem antarktischen Inlandeis.
187
des Morgens stellenweise harte Sastrugis, die alle nach Südsüdost wiesen. Wir
halten diesen Kurs inne, weil das Land sich in ungefährer Richwng von Südosten
nach Osten erstreckt. Im Lause des Tages erschienen noch mehr hohe Berge im
Südosten; in westlicher Richwng entdeckten wir etliche 3000—4800 Meter hohe
Bergspitzen. Das ganze Gelände scheint aus Massen auf Massen solcher Berge zu
bestehen^ einer hinter dem andern. Am schlimmsten war heute unser Kampf mit dem
schrecklich weichen Schnee, besonders in den Tiefen dieses wellenförmigen Plateaus.
Nachmittags passierten wir eine derart schlechte Stelle, daß die Ponys bis zum Bauch
in den Schnee sanken; es gelang uns nur mit äußersten Kräften, die Schlitten von
der Stelle zu bekommen. Beim Anstieg ging es besser, doch schon um 5.45 p. m.
hatten die Ponys ausgespielt, besonders der alte Qnan, der beinahe zusammenbrach,
nicht infolge des hohen Ladegewichts, sondern durch die fortwährenden Anstrengungen,
seine Gliedmaßen durch den Schnee zu arbeiten. Das Wetter ist ruhig und klar,
doch sehr heiß und strapaziös für Mann und Pferd. Wir gestatten uns nur kleine
Rationen, denn wir müssen sparen, was wir nur irgend können, um soweit als mög-
lich vorwärts zu kommen. Marshall hat heute das neuentdeckte Land abgemessen.
tut dies regelmäßig. Der Hypsometer zeigte um 1 p. m. sehr hoch, sofern man
sich auf ihn verlassen kann und die Resultate nicht vom Wetter abhängen. Wir müssen
ungefähr auf Meereshöhe sein. Die Wellenformen laufen ungefähr von Osten nach
Süden und von Westen wieder nach Westen herum; sie sind uns gegenwärtig ein
Rätsel. Ich kann mir nicht denken, daß die Speisung der Gletscher durch die an-
liegenden Berge irgend etwas mit dieser Wellenform der Oberfläche zu tun hat.
Wir sehen mehrere Gletscher, doch ihr Umfang steht in keinem Verhältnis zu der be-
deutenden Ausdehnung dieser Barrierformation. Die Gletscher sind stark gespalten.
Wir kommen an enormen Granitklippen am Fuße der Höhenkette vorbei; sie stehen
vertikal ungefähr 1500—2000 Meter hoch und zeigen nicht die geringsten Schnee-
spuren. Die nackten Hauptblöcke ähneln den Schist- (Schiefer-) Felsen des westlichen
Gebirges unserem Winterquartier gegenüber, doch wir sind natürlich noch zu weit
entfernt, um dies mit Bestimmtheit behaupten zu dürfen. Weiter nach Süden sind
die Berge gänzlich frei von Schnee, weil ihre Abhänge vertikal sind; sie sind minde-
stens 2500—3000 Meter hoch. Alles in allem ein zauberhaftes, wundervolles Land.
Bekannt ist uns nur die weite Ausdehnung des Barriergebietes nach Osten, wo wir
bis jetzt noch kein Land gesichtet haben. Wir legten heute 23|- Kilometer zurück
und sind müde. Der Schnee reichte bis über unsere Knöchel, und jeder Schritt kostete
Anstrengungen. Dennoch kommen wir gut nach Süden vorwärts und gewinnen
mit jeder Meile ein Stückchen neuer Welt. Bis jetzt sind wir über 475 Kilometer in
weniger als einem Monat marschiert.
30. November. Abmarsch um 8 p. m. Quau ist sehr wackelig uud pfeift schein-
bar auf dem letzten Loch. Armes Tier! Er und Socks sind schneeblind; wir hoffen,
daß die Augenschirme, die wir für sie hergerichtet haben, etwas helfen werden. Wir
wechselten uns stündlich an Qnans Schlitten ab, je einer von uns hals rechts und links.
Socks geht schneller, ist deswegen stets voraus und macht dann einen kurzen Halt,
wonach er sich beträchtlich leichter fühlt. Wir kamen heute nur langsam vorwärts,
denn die Oberfläche war heute nachmittag schlimmer als je zuvor. So legten wir
nur 19i Kilometer zurück. Quan war total erschöpft, uud so schlugen wir schon um
5.45 p. m. das Lager auf. Wir fütterten die Ponys reichlich, doch sie fressen nicht gut,
obwohl sonst Quan zu wimmern anfängt, sobald er nur das Futter wittert. Be-
sonders liebt er die Maujeeration und kümmert sich wenig um den Mais. Auch
188 B. Zur Länderkunde.
heute entdeckten wir neues Land gen Süden, doch zum Schaden eines schnellen
Vordringens nach dieser Richtung finden wir bett Lauf der Küste mehr ostwärts.
So sehe ich denn die Zeit nahen, daß wir das Gebirge erklimmen müssen, denn das
Land zieht sich immer mehr nach Osten. Wir dürfen jedoch nicht erwarten, die Dinge
nur zu unserer Bequemlichkeit vorzufinden. Wir werden uuserm Schöpfer danken,
wenn es uns gelingen wird, die Ponys bis zum nächsten Depot durchzubringen,
welches wir in der Nähe des 84. Breitengrades einrichten wollen. Momentan liegen
die Pferde in der warmen Sonne. Es herrscht wundervolle Stille, und der Abend
ist klar. Mit dem Wetter haben wir es wirklich glücklich getroffen; Marshall hat so
Gelegenheit, alle notwendigen Messungen für Festlegung der neuentdeckten Berge
und Küstenlinien vorzunehmen. In dieser Woche ist Wild Koch; mein Tumus ist
beendet und wohne ich deswegen im andern Zelt. Wir sind alle munter und wohl,
doch unser Appetit steigt in beängstigender Weise. Das fühlten wir so recht heute
abend nach schwerer Tagesarbeit. Ein großer Teil des Landes besteht aus kolossalen
Granitmassen mit vereinzelten, durchspaltenen Gletschern, die zwischen den Bergen
festsitzen, wahrscheinlich dort hinein von festländischen Eisschiebungen gedrängt
wurden, ähnlich wie im Norden des Victoria-Landes. In den Außenlinien zeigen die
Berge viel Gleichförmigkeit; vulkanische Einflüsse haben wir nirgends konstatieren
können. Die heutige Temperatur schwankte zwischen — 7,1°—8,9° R, doch die
heiße Sonne ließ das Wetter viel wärmer erscheinen.
1. Dezember. Ausbmch um 8 a. m. Qnan wird von Stuude zu Stunde
schwächer; er half nicht mehr, und so wurde seiu Schlitten eigentlich von uns gezogen.
Wir passierten drei Wellenkämme und kampierten um 1 p. m. Nachmittags legten
wir 6Jj- Kilometer zurück; Wild führte Quau mit der einen Hand; mit der andern
lenkte er Socks, während Adams, Marshall und ich die 272 Kilogramm auf den: an-
deren Schlitten über eine entsetzlich weiche Oberfläche zogen. Ter arme Ouan war
vollständig fertig, als wir um 6 p. m., nach einem Tagesmarsche von 19^ Kilometer,
das Nachtlager aufschlugen. So beförderten wir ihn ins Jenseits. Wir alle spürten
den Verlust, besonders aber ich, denn seit seiner Krankheit im März war er mein
Liebling gewesen. Ich Pflegte ihn damals, uud trotz aller feiuer ärgerlichen Manieren
war er allgemein beliebt. Er schien hochintelligent. Ter Tod war eine Erlösung
für ihn, und es versteht sich von selbst, daß er bis zum Ende seiner Karriere wie die
übrigen gut gefüttert wurde. Jetzt bleibt uns nur uoch ein Pony; wir befinden uns
auf 83° 16' südlicher Breite. Vor uns sehen wir Land, welches sich nach Osten er-
streckt, mit einer langen weißen Masse verbrämt, die wie ein gigantischer Barrier
uud im Aussehen sehr ineinandergeschoben erscheint, als ob große Eispressungen in
unserer Front stattfinden. Das Ende des Barriergebietes liegt wohl nun nicht mehr
fem. Es scheint jetzt eine radikale Veränderung in der Unermeßlichkeit dieser ganzen
Gegend bevorzustehen. Wir hoffen dringendst, daß diese unseren Marsch nach Süden
nicht verzögen: möge. Wir leben jetzt hauptsächlich von Pferdefleisch uud kauen
unterwegs rohes, gefrorenes Fleisch, um den Hals zu kühlen, wenn wir in heißer
Sonne zu ziehen haben. Zeitweise wehte heute eine leichte Brise, und wir fröstelten,
da wir in Hemdsärmeln arbeiteten. Wir trugen unsere Schutzbrillen, denn der Reflex
der Schneeobersläche ist intensiv und der Himmel unbewölkt. Kleine Flockenwolken
legen sich um die Spitzen der höchsten Berge — das ist alles! Die Oberfläche des
Barrier glitzert von den Millionen Kristallen, die sich von der eigentlichen Oberfläche
abheben. Ein bis zwei neue Gipfel kommen in Sicht und bilden neue Glieder an der
Kette dieses wundervollen Höhenzuges, den wir entdeckt haben. Zeitweise werden
22. Auf dem antarktischen Inlandeis.
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unsere Gedanken von der Grandenr der Szenerie gefangengehalten, doch nur einen
Augenblick; dann denkt man unwillkürlich, was wir wohl jetzt in einem guten Nestau-
rant bestellen würden. In diesen Tagen hungerten wir sehr und wissen, daß sich dies
wahrscheinlich in den nächsten drei Monaten nicht ändern wird. Eine Granitklippe,
der wir jetzt zusteuern, ist über 1800 Meter hoch; sie zeigt viel entblößtes Gestein,
wohl infolge der heißen Sonne, die viel Tauwasser in die Täler hinabschickt. Den
ganzen Tag hindurch war der Mond im Gewölk sichtbar, eiue bekannte, doch so ganz-
lich verschiedeue Erscheinung gegen die letzte Zeit nur heißen Sonnenscheins und
weiter, weißer Pfade. Die Temperatur beträgt jetzt 7,3° R über Null; es ist ganz
warm in den Zelteu.
2. Dezember. Wir marschierten um 8 a. m. los. Alle vier Mann zogen den
einen Schlitten, Socks folgte mit dem zweiten hinterher. Er schlug bald [ein gewöhn-
liches Tempo ein und hielt wirklich vorzüglich stand. Die Oberfläche während des
Morgeumarsches war sehr schlecht, und wir hatten harte Arbeit. Die Sonne brannte
auf unsere Köpfe, uud wir schwitzten stark, obwohl wir im Hemd und Nachthosen
arbeiteten, doch froren unsere Füße. Wir machten um 1 p. m. Rast und kochten etwas
Quan; das Fleisch war sehr zäh. Du armer, alter Kerl! Socks, der letzte uns ge-
bliebene Pony, ist nuu ganz allein. Er wimmerte die ganze Nacht nach seinem ver-
lorenen Kameraden. Um 1 p. m. waren wir nahe genug au die Erschütterungszone
herangekommen, um festzustellen, daß enorme Eispressungen und heftige Spaltungen
in der Richtung nach Osten stattfinden uud uns so der leisesten Chance beraubten,
unseren Kurs auf den: Barrier weiter verfolgen zu können. Deswegen schlugen wir
nach der Mittagsrast eiue gerade südliche Route nach dem Lande zu eiu, welches sich
jetzt klar uach Osten wendet. Um 6 p. m. waren wir in unmittelbarer Nähe der Eis-
Pressungen an der Küste. Wir finden uns vor einem ungefähr 900 Meter hohen
roten Felsen und hoffen, diesen morgen besteigen zu können, um einen Ausblick über
das herumliegende Geläude zu nehmen. Dann werden wir wohl, wenn möglich,
unseren Weg mit dem Pony den Gletscher hinauf nehmen, dem Landeise entgegen
und auf diesem, wenn alles gut geht, zum Pole gelangen. Uns ist etwas bange zu-
mute, denn die Zeit ist kostbar, noch kostbarer der Proviant. Wir werden uns leichter
fühlen, wenn wir erst eine gute Route durch die Berge gefunden haben. Näher am
Land können wir jetzt die Natur der Berge besser unterscheiden. In südöstlicher Rich-
tuug vom Mouut Longstaff ist das Land mit viel mehr Eis bedeckt, als weiter nach
Norden zu; seine Gletscher sind, da die Täler sehr steif einfallen, stark gespalten. Die
Gletscher laufeu in nordöstlicher Richtung in den Barrier hinein. Genau gegenüber
von unserem Lager scheint der Schnee von den steilen Bergabhängen weggeweht
worden zu sein. Das Land vor uns, welches wir morgen zu besteigen haben, besteht
zweifellos aus stark verwittertem Granit. Aus weiter Entfernung betrachtet sehen
diese Granitblöcke wie vulkanisches Gestein aus, doch jetzt, wie gesagt, sind wir über
ihre Natur nicht mehr länger im Zweifel. Augenscheinlich hat die große Eismasse
ihren Weg über diesen Teil des Landes genommen, denn die gerundeten Formen
können kaum vou normaler Verwitterung hervorgeruseu worden sein. Enorme
Eispressungen vom Süden des Berges her müssen von einem Gletscher herrühren,
der an Größe alle überragt, die wir bis jetzt angetroffen haben. Der vom Shackleton-
Jnlet auslaufende Gletscher rust Störungen im Barriereis hervor, die jedoch lange
nicht derart intensiv sind, wie augenblicklich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.
Der Gletscher am Shackleton-Jnlet ist kurz. Wir sind jetzt ganz in der Nähe des
Landes und können die runden Gipfel großer Höhenzüge im Südosten sehen. Wenn
Cteorg-Eckert-Institut
für internationale
Schulbuchforschung
Braunschweig
ßghulbuchbibliothele
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B. Zur Länderkunde.
wir Glück haben und den Gipfel des Berges morgen erreichen, werden wir die Rich-
tnng dieses Gebirgszuges nach Südosten klarer erkennen können. Interessant würde
es sein, den Barrier weiter nach Südosten zu verfolgen und die Richtung der Berge
festzustellen, doch gehört das nicht in uuser Programm. Unser Weg geht nach Süden.
Oh, hinge doch nichts von Zeit und Proviant ab! Dann könnten wir freilich in all
die Geheimnisse dieses großen einsamen Kontinentes dringen. Je nun — was dauert
uns dies? Jenseits der Berge liegt unser Ziel! Eine genauere Beobachtung jener
Berge müßte wichtige geologische Resultate ergeben. Vielleicht können wir Ver-
steinernngen finden oder andere Dinge nach Hause bringen, aus denen sich etwas über
die geologische Geschichte des Landes sagen läßt und die vielleicht eine Verbindung
zwischen dem Grauitgesteiu am Abhänge des Erebns uud Terror und diesen nach dem
weiten Süden sich erstreckenden Gebirgsmassen ergeben. Heute uacht befanden wir uns
auf 83° 28' südlicher Breite und 171° 30' östlicher Länge. Wenn wir morgen auf den
Berg kommen können, ist unser Weg nach Süden gebahnt. Wir legten heute 19 Kilo-
meter zurück5 bei 81^ Kilogramm Znggewicht pro Mann und der schlechten Oberfläche
eine befriedigende Leistung. Wir machten eine Aufnahme der wundervollen roten
Granitfelsen, denn wir sind jetzt nun noch ungefähr 12-f Kilometer vom Lande entfernt.
Die Temperatur beträgt — 5,3° R; der Barometerstand ist hoch. Das Wetter bleibt
unverändert schön, doch der Wind ist kalt, wenn wir um 5.30 a. m. frühstücken.
4. Dezember. Ich konnte gestern nicht schreiben, da ich sehr an einem Anfalle
von Schneeblindheit litt; viel besser ist es zwar heute auch nicht, doch muß ich die
Ereignisse zweier bedeutungsvoller Tage aufzeichnen, die wichtigsten Geschehnisse
seit Aufbruch von den Winterquartieren. Nach dem Frühstück um 5.30 a. m. rüsteten
wir uns gestern für den Aufbruch vom Lager, ohne dieses abzubrechen; Socks erhielt
eine volle Tagesration. Um 9 a. in. waren wir unterwegs; wir nahmen nur vier
Biskuits, vier Stückchen Zucker und Pfund Schokolade pro Mann mit. Wasser
hofften wir nach Landung am ersten Felsen zu finden. Noch keine 100 Meter mar-
schiert, trafen wir wieder eine Eisspalte an, konnten diese aber bei dem schlechten Lichte
uud der bewölkten Sonne nicht deutlich genug unterscheiden. Wir seilten uns deswegen
aneinander an und marschierten im Gänsemarsch, jeder mit einer Eispicke versehen.
Mir fiel es schwer, durch meine Schutzbrille klar zu sehen; ich nahm sie deswegen ab
und muß nun dafür büßen, denn später trat die Sonne aus dem Gewölk heraus.
Wir kreuzten verschiedene Eisspalten, die mit Schnee gefüllt waren (nur die Wände
lagen frei); die Offnungen zeigten eine Breite von zirka 2 Fuß; die Gesamtbreite
der Spalten schwankte zwischen 3| und 7 Meter. Vor einer enormen Schlucht,
ungefähr 25 Meter breit und 100 Meter tief, die mitteu auf unserem Wege lag, mußten
wir haltmachen. Diese Schlucht war ähnlich der nur etwas kleineren Spalte, welcher
wir auf 80° 30' südlicher Breite während der Discovery-Expedition begegneten.
Auf einem Umwege nach rechts fanden wir, daß sich die Schlucht allmählich verengt
und mit Schnee gefüllt war; wir konnten also hinüber und unsere Route dem Lande
entgegen weiter verfolgen, welches in trügerischer Nähe zu liegen schien, doch tatsäch-
lich noch etliche Meilen entfernt war.
Nach Überwindung weiterer Eispressungen und zahlreicher Spalten kamen wir
schließlich um 12.30 p. m. auf ein Areal blaues Eis, in dem etliche Granitblöcke einge-
bettet waren; hier nahmen wir einen erquickenden Trunk Wasser, denn die Sonne
brannte auf das Gestein und brachte die Eismassen am Fuß zum Schmelzen. Nach
einer weiteren Meile standen wir am Saum des Berges und hoffen, diesen ersteigen
uud eine Aussicht über das herumliegende Land gewinnen zu können. Der Berg
22. Auf dem antarktischen Inlandeis. 191
besteht aus Granit, dessen rote Farbe zweifellos auf Eisengehalt zurückzuführen ist.
Um 1 a. m. aßen wir einige Biskuits, tranken etwas Wasser und begannen dann unseren
Weg über die steile Vorderseite des Gesteins hinauf. Dies war der schlimmste Teil
der Kletterei, denn das Granitgeröll war verwittert und gab fortwährend nach;
große Blöcke schienen ans kleineren Stücken zu balancieren und brachen schon bei bloßem
Berühren ab. Mit bedeutenden Schwierigkeiten kamen wir endlich über dieses Gestein
hinweg und bestiegen dann einen sanften Schneeabhang, der zu einem anderen Felsen
führte. Dieser ließ sich besser besteigen. Von der Spitze des Kammes öffnete sich
unseren Augen ein klarer Weg nach Süden, denn zu unseren Füßen lag ein großer
Gletscher, der sich zwischen zwei hohen Gebirgsketten fast in gerader Richtung von
Süden nach Norden erstreckte. Soweit das Auge reichte, war die Fläche des Glet-
schers glatt. Frischen Mutes erkletterten wir die übrigen Kämme und Schneeab-
hänge uud fanden uns bald auf der Höhe des Berges, die wir mit Hilfe des Hypso-
meters und Aneroids mit 1020 Meter feststellten. Von hier konnten wir sehen, daß
sich der Gletscher weit nach Süden erstreckt und in ein hohes Jnlandeisplateau über-
zugehen scheint. An der Stelle, wo der Gletscher sich mit dem Barriereise verband,
im Nordosten, war der Eisdruck enorm und die Oberfläche des Barrier meilenweit
aufgebrochen. Dies hatten wir schon in den letzten Tagen bemerkt und verstehen nun
endlich die heftigen Verschiebungen auf der Barrieroberfläche. Südöstlich sehen wir
die hohen Gebirgsketten, denen wir zugesteuert waren, sich weiter nach derselben
Richtung ausstrecken und können nun mit Bestimmtheit behaupten, daß der Barrier
von einer Bergkette umgrenzt wird, die in südöstlicher Richtung bis zum 86. Breiten-
grad läuft. Im Westen zeigen die Berge größere Gletscherbildungen als im Osten.
Hohe Granitfelsen liegen an den südlichen Abhängen; bei der Verbindung dieser
Felsen mit den Klippen füllt eine sehr dunkle Farbe auf. Ostwärts, iu der Richtung
nach dem augenscheinlichen Kopfe des Gletschers, zeigen sich acht bis neun scharfe,
schwarze Felsenkegel. Uber diese hinaus ragen rote Granitflächen, mit scharfen,
nadelförmigen Spitzen versehen, die Strebepfeilern, also im Aussehen den „Cathe-
dral"-Felsen ähneln, welche Armitage gelegentlich der Discovery- Expedition in
die westlichen Bergregionen beschrieb. Weiter nach Süden nehmen die Berge plumpe
Formen au; lange Linien von Schichtungen laufen fast horizontal. Diese plumpen
Bergzüge scheinen nach einer Ausdehnung von zirka 95 Kilometer plötzlich abzubrechen;
hinter diesem Bruche lassen sich andere Berge, doch nur undeutlich, erkennen. Im
Osten haben die Berge runde Formen und sind mit enormen Eismassen bedeckt; die
Gletscher lassen deutlich die Linien der Spaltungen sehen. In weiter Entfernung
bietet sich uns eine Erscheinung, die einem aktiven Vulkane ähnelt. Es zeigt sich ein
hoher Berg mit einem bewölkten Gipfel; diese Wolken sehen wie Dampf aus, der
aus einem tätigen Kegel emporsteigt. Es wäre natürlich hochinteressant, so weit im
Süden einen tätigen Vnlkan zu sinden. Nachdem wir die Richtung der Berge, des
Barriers und des Gletschers sixiert hatten, nahmen wir unsere frugale Mahlzeit,
wünschten uns mehr zu essen und stiegen dann hinab. Adams brachte den Hypso-
meter auf den Siedepunkt und nahm die Temperaturen, während Marshall, der die
Kamera während des ganzen Aufstieges getragen hatte, etliche Ausnahmen machte.
Wir wünschten uns nur mehr Platten, um weitere Aufnahmen dieses wundervollen
Landes machen zu können, doch müssen wir mit unserem Vorrate sparsam um-
gehen. Der Abstieg begann um 4 p. in., und um 7 p. in. waren wir wieder bei
unserem Lager angelangt. Nach einer guten Mahlzeit unb einer Tasse Maujee als
Extragang begaben wir uns zur Ruhe.
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B. Zur Länderkunde.
Heute, am 4. Dezember, brachen wir um 8 a. m. auf und steuerten in das Land
hinein, denn wir waren uns nunmehr über unseren einzuschlagenden Kurs uicht länger
im unklaren. Obwohl wir auf dem Gletscher Spalten und anderen Schwierigkeiten
begegnen dürften, die auf dem Barrier nicht vorherrschen, könnten wir auf letzterem
doch nur bis zur 86. Parallele vordringen uud hätten uns dann dem Lande zuzu-
wenden, um über das Gebirge hinweg zum Pole gelangen zu können. Wir fühlten,
daß auf dieser Gletschertour Socks uns die größten Schwierigkeiten bereiten würde,
denn wir selbst konnten uns nicht länger ablösen. Adams, Marshall und ich zogen
310 Kilogramm, uud Wild folgte mit Socks direkt in unserer Fährte, um ihn beizeiten
bei Antreffen einer Gletscherspalte warnen zu können. Alles ging glatt vonstatten,
bis Marshall durch eine Schneebrücke brach und in die Spalte fiel. Es gelang ihm,
sich mit den Armen zu halten. Der Boden dieser Spalte war nicht sichtbar. Um
1 p. m. waren wir nahe an den Schneeabhang herangekommen, über welchen wir
in das Innere des Landes und von dort auf den Gletscher zu gelangen hofften. Wir
aßen unsere Mittagsration und marschierten dann weiter, fanden aber anstatt eines
steilen, kurzen Abhanges ein langes, ziemlich steiles Gefälle. Den ganzen Nach-
mittag hindurch mühten wir uns mit der Ladung ab, doch Socks zog verhältnismäßig
leicht, und wir erreichten schließlich um 5 p. m. die Höhe des Passes, welche zirka
700 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Von diesem Puukte aus war der Abstieg
zum Gletscher ziemlich sanft, und wir kampierten um 6 p. m. unmittelbar an einer
blauen Eismasse, in der Granitblöcke eingebettet waren, die kleine Teiche umsäumten.
Dieses Wasser spart uns einen bestimmten Alkonsum, weil wir keinen Schnee oder
Eis zu schmelzen brauchen. Um 8 p. m. gingen wir nach einem in jeder Hinsicht be-
sriedigenden Tageswerk in die Zelte. Das Wetter ist jetzt herrlich, kein Windhauch
zu verspüren, und eine warme Sonne brennt auf uns hernieder. Die Temperatur
war mittags —4,4° R und ist jetzt —6,2° E. Der Paß, durch den wir heute
kamen, ist in große Granitblöcke, welche bis zu einer Höhe von 700 Meter aufsteigen,
eingepackt und tatsächlich ein großartiger Eingang zur „Heerstraße nach Süden".
Es ist alles so interessant und jede Erscheinung von solch gigantischen Formen, daß
sich dies kaum beschreiben läßt.
Wir betrachten diese immensen Farbenspiele der Natur und haben das Gefühl,
als ob uiemals wieder Menschenaugen sich an diesem Anblick ergötzen werden. Mar-
shall — armer Kerl! — mußte heute abend einen Extramarsch von vier Meilen machen,
denn er hatte seine Jägerjacke vom Schlitten verloren. Er fand sie nach einem
Marsche von zwei Meilen bergan auf der Fährte. Socks frißt nicht gut; er fühlt sich
einsam ohne seine Kameraden. Wir gaben ihm heute abend einen Trunk Tauwasser,
doch schätzte er diese Wohltat nicht, sondern zog den Schnee an seinen Füßen vor.
Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig.